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German Pages 302 [316] Year 1981
de Gruyter Studienbuch
Gunter Gebauer
Der Einzelne und sein gesellschaftliches Wissen Untersuchungen zum Symbolischen Wissen
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Gebauer, Gunter i
Der Einzelne und sein gesellschaftliches Wissen : Unters, zum symbol. Wissen / Gunter Gebauer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1981. (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-008488-0
© Copyright 1981 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttenberg, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30. Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: H. Heenemann GmbH & Co, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
Dem Andenken meines Vaters Helmut Gebauer (1915—1981)
Vorwort Sind hermeneutische Verfahren wissenschaftstheoretisch zu rechtfertigen? Sind sie beim gegenwärtigen Stand methodologischer Kenntnisse noch verwendbar? Sie sind es nicht, wenn sie sich gegenüber der Kritik von seiten der analytischen Philosophie verschließen. Wenn man aber meint, sie seien durch analytische Verfahren ersetzbar, erliegt man einem analogen Irrtum: Es gibt keine formalen oder realwissenschaftlichen Verfahren, die den Forschungsgegenstand der Hermeneutik (gemeint ist die sog. „romantische" oder ältere Hermeneutik) aufzunehmen fähig wären. Eine Folgerung wäre, sich von diesem Forschungsgegenstand vollkommen abzukehren. Diese Konsequenz zu ziehen, hieße, das vorwissenschaftlich begründete und historisch gewachsene Interesse der hermeneutischen Disziplinen aufzugeben. Der Preis erscheint zu hoch: eine radikale Verarmung der an Interpretationen orientierten Wissenschaften. Eine andere Folgerung wird in dieser Arbeit gezogen: Öffnung der Hermeneutik gegenüber methodologischer Kritik, Aufgabe unhaltbarer Annahmen, methodologische Neuorientierung bei Erhaltung des Interesses, soweit dies begründet werden kann. Das Ergebnis der Umformulierung kann zweifellos nicht mit dem Merkmal ^ermeneutisch* versehen werden. Insofern hat es das Risiko aller Vermittler zu tragen: von beiden Seiten, der hermeneutischen und der analytischen, mit Argwohn angesehen zu werden. Ich hoffe, es ist stabil genug, dies auszuhalten. Die Arbeit wurde 1977/78 unter Verwendung einer Reihe von Vorarbeiten geschrieben. Die beiden ersten Kapitel nehmen Teile meiner Habilitationsschrift (1975) auf. Das fünfte und achte Kapitel sind ausgearbeitete Versionen meines Habilitationsvortrags (1975, inzwischen erschienen in Lenk 1978) und meiner Karlsruher Antrittsvorlesung (1976). Der Exkurs (siebtes Kapitel) ist die deutsche Fassung eines auf Englisch erschienenen Aufsatzes (in: Studies in Language 3, l, 1979). Die Fertigstellung der Arbeit wurde großzügig und unbürokratisch von der Thyssen-Stiftung (Köln) gefördert. Ich danke ihr dafür, daß sie mir für diese Zeit ein Forschungsstipendium gewährt hat.
Vorwon
Für viele Hilfen, im großen wie im kleinen, bin ich meinem Lehrer und Freund Hans Lenk (Karlsruhe) verpflichtet. Bei der Herstellung des Manuskripts war die Mitarbeit von Frau Wiltrud Ohlig (Karlsruhe) hilfreich und unverzichtbar. Frau Katharina Suärez und Herr Eugen König haben mir in Berlin tatkräftig geholfen, das Manuskript zu Ende zu bringen. Ihnen allen spreche ich Dank und Anerkennung aus. Berlin, im September 1980
Gunter Gebauer
Inhalt Vorwort Einleitung l .1 .1 .2 .3 .4 .5 1 .2 1.2.1 1.2.2 1.2.3
VII l
Das Grundproblem der Hermeneutik: Die Gewinnung Symbolischen Wissens 10 Der Entwurf des hermeneutischen Forschungsbereichs 10 Beispielfälle 11 Das hermeneutische Problem 13 Reduktion und Einzigartigkeit 16 Der dialogische Austausch von Wissen 18 Die hermeneutische Theorie des Verstehens und die analytische Philosophie 21 Das Ziel des hermeneutischen Verstehens: Sicheres Wissen . . 23 Biografie, Zirkel, Authentizität 23 Die Sinn-Semiosis als sekundärer Akt 26 Das Individuelle im Allgemeinen entdecken 28
l.3
Der Beginn der hermeneutischen Wissenschaft: Schleiermacher 30 1.3.1 Die frühe Version der Hermeneutik: „Alles was Aufgabe der Hermeneutik sein kann, ist Glied eines Sazes" 30 1.3.2 „Unendliche Approximation" — Boeckh 34 1.3.3 Der Weg in die Psychologisierung 35 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6
Dilthey: Verstehen als Methode Zwei Fundierungsversuche der Geisteswissenschaften Geisteswissenschaften — Naturwissenschaften Diltheys Idee der Geisteswissenschaften Die Theorie der unmittelbaren Erkenntnisgewinnung Der Wahrheitsgehalt der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis Die Handlungserklärung in den Geisteswissenschaften Die Theorie des Verstehens .
38 39 39 41 44 48 49 51
2.2 Überlegungen zur Kritik der Hermeneutik 2.2.1 Theaterdonner der analytischen Philosophie 2.2.2 Die Besonderheit der Hermeneutik
54 55 58
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Wissen über Subjektives Subjekt-Wissen und Subjekt-Zustände Entwicklungspsychologische Annahmen Subjektives Wissen — intersubjektives Wissen Einige Kommentare Welchen Wert haben Sätze über subjektives Wissen?
62 63 65 66 71 74
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Der gesellschaftliche Charakter des Subjektiven Tatsächliche psychische Zustände Wittgensteins Käfer-Beispiel und notwendige Korrekturen Die Entwicklung der Personen-Wahrnehmung Folgerungen
76 76 . . 78 83 85
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6
Subjektives Wissen 86 Die Verinnerlichung gesellschaftlicher Kontrolle 86 Führt Eigen-Kontrolle zu Beliebigkeit? 91 Historische und gesellschaftliche Ausdeutung 94 Strukturen des subjektiven Wissens 100 Kollektives subjektives Wissen 105 Exkurs: Mögliche Ansatzpunkte einer Erforschung kollektiven subjektiven Wissens 108 3.3.7 Probleme der Zuschreibung subjektiven Wissens 111 4 4.1
Wissen und Handeln Für Handlungserklärungen ist der Rückgang auf das Wissen des Handelnden unerläßlich 4.1.1 Vier Grundsätze 4.1.2 Handlungsaussagen 4.1.3 Handlungskennzeichnungen sind kein linguistisches Problem .
114 116 116 120 122
4.2 Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung von Tätigkeiten . . 125 4.2.1 Ursachen und Wirkungen von Handlungen 126 4.2.2 Kritik an Hempels Vorschlag 130 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
Die Struktur von Handlungsaussagen Probleme der Handlungskennzeichnung Symbolischer Ausdruck Klärung einiger Schwierigkeiten
131 133 136 140
4.4 Naive Theorien und gesellschaftliches Handeln 4.4.1 Beispiel: Einstellung zum Tod 4.4.2 Grenzen der perspektivischen Handlungstheorie
145 146 149
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3
Studie: Sprechen und kollektives subjektives Wissen 151 Ist die generative Grammatik eine empirische Theorie? . . . . 151 Abweichungen von der Grammatik 151 Sprachvariationen als wissenschaftstheoretisches Problem . . . 153 Schichtspezifische Codes — Sprachvariation aus psychologischen Gründen? 156 5.1.4 Die generative Grammatik — ein Kalkül 160 5.1.5 Die Bernsteinsche Theorie der Auswahlregeln und ihre Kritik . 163
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Sprechtheorie als Handlungstheorie Die Sprechintention Formrhetorik des Sprechens Formrhetorik und kollektives subjektives Wissen Präsentationstheorie
167 168 172 174 178
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4
Perspektiven Die Perspektivität von Dialogen Bewertung des ausgedrückten Wissens Unterschied zwischen dem Handelnden und den Teilnehmern Strukturen des Wissens Gewißheiten
183 183 183 186 189 194
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4
Intersubjektives Wissen — subjektives Wissen Transkriptionen Erzählungen Kunsterzählungen und Wissenswerte Literatur und Erkenntnistheorie
198 198 201 206 209
6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5
Syntaxstrukturen und implizites Wissen Aussagesätze im Indikativ Aktiv Zeitformen der Vergangenheit Passiv Rhetorische Frage Befehlssatz in Frageform
212 215 217 219 221 222
7 7.1
Literaturwissenschaftlicher Exkurs: Wahrheit oder Fiktion? . . . 225 Darstellung des Argumentationsgangs 225
7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3
Kritik Einzelkritik der Ausarbeitung Grundsätzliche Einwände Konklusion
227 227 228 230
8
Ich versus Er. Literarische Form und Erkenntnis in Prousts „ Suche nach der verlorenen Zeit" 232 8.1 Die beiden Erzählungen 232 8.1.1 Die Strukturgleichheit der Swann-und Marcel-Erzählung . . . 233 8.1.2 Wissensbasis und Informant 235 8.1.3 Das Wissen aus den beiden Erzählungen 237 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5
Die erkenntnistheoretische Struktur der beiden Erzählungen . 2 4 1 Beobachtbare Sachverhalte 242 Psychische Sachverhalte 244 Wissensveränderungen 246 Zeitstruktur 248 Syntaktische Formen als Erkenntnisgrenzen 251
8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3
Die beiden Erkenntnisweisen Bergsons Argument Bergsons Erkenntniskritik Zur Beziehung zwischen Proust und Bergson
8.4 Prousts Lösung des Erkenntnisproblems 8.4.1 Das Ende der Suche 8.4.2 Der neue Roman 9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7
252 252 255 258 260 260 262
Schluß: Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens . 267 Grundannahme der Theorie des Symbolischen Wissens . . . . 267 Strukturen von Interaktionen 271 Drei Annahmen über Dialoge 273 Unbestimmtheit von Handlungen 275 Unterschiede von Dialogpositionen 279 Bewertungsstrukturen 280 Für eine Theorie des Symbolischen Mißverstehens 281
Literatur
283
Personen- und Sachregister
293
Einleitung
Gesellschaftliche Handlungen sollen in dieser Arbeit unter zwei Aspekten betrachtet werden: unter dem Aspekt des Wissens, das sie ausdrücken, und unter dem Aspekt der Kontrolle, die das ausgedrückte Wissen überprüft. Inwiefern drückt Handeln Wissen aus und inwiefern wird dieses kontrolliert? Sehen wir den Handlungen eines Kunden in einem Selbstbedienungsladen zu: Der Kunde holt sich einen Warenkorb und geht auf die Reihen mit Lebensmitteln zu. Er nimmt sich je ein Paket Mehl, Zucker, Salz, läuft hinüber zu den Sonderangeboten an Waschmitteln und wählt ein Spülmittel, am Brotstand sucht er sorgfältig ein frisches Vollkornbrot aus, läuft achtlos am Fleischtisch vorbei, vergleicht die Preise zwischen zwei Arten von Konserven und nimmt schließlich eine Dose Ananas statt Birnen, dann geht er direkt auf die Kasse zu, greift noch einmal in einen Korb mit Schokolade zu herabgesetzten Preisen und reiht sich in die Schlange an der Kasse ein. Jede einzelne Handlung des Kunden kann als Ausdruck eines spezifischen Wissens angesehen werden: Der Kunde verhält sich in dieser Situation als vollkommen normaler Handelnder — er nimmt einen Korb, stellt sich in der Schlange an, wartet und zahlt. Er hat bestimmte Kaufabsichten; dies drückt der Kauf von Mehl, Zucker und Salz aus. Er wird von den Sonderangeboten an Waschmitteln angezogen. Am Brotstand zeigt er Interesse für frisches Vollkornbrot, am Fleischtisch hingegen Desinteresse. Bei den Obstkonserven wird er wählerisch; er vergleicht Preise, zögert und entscheidet sich schließlich. Der Schokoladenkauf wird von einer momenthaften Lust ausgelöst; er stand nicht auf dem Einkaufsplan. Die knappe Form meiner Beschreibung mag noch manches im Unklaren lassen; ich will aber annehmen, daß die konstatierten Tatbestände: daß der Kunde sich beim Einkauf normal verhält, daß er bestimmte Intentionen hat, daß er angezogen wird, Interesse hat, vergleicht und auswählt und daß sein Griff nach der Schokolade von Lust motiviert ist, von Beobachtern ohne jede Schwierigkeit bestätigt werden können. Der Kunde handelt in der Weise, daß er eine Reihe von intersubjektiv feststellbaren
2
Einleitung
Tatbeständen erfüllt. Die Tatbestände sind Gegenstände eines Wissens, das die Beobachter aufgrund des Handelns gewinnen können. Das Wissen, das einerseits der Kunde ausdrückt, das andererseits von Beobachtern erhalten werden kann, ist ein gesellschaftlich kontrolliertes. Nehmen wir an, wir befragten den Kunden über seinen Kauf und er sagte uns: „Ich war überhaupt nicht normal in dieser Situation; als ich den Korb nahm, fühlte ich mich als Jeanne d'Arc, und in der Schlange hatte ich kannibalische Anwandlungen. Mehl, Zucker und Salz habe ich genommen, weil ich große weiße Pakete so gern in die Hand nehme. Das Spülmittel wollte ich seit langem kaufen; ich hatte es nur vergessen, und es fiel mir wieder ein, als ich es sah. Brot interessiert mich überhaupt nicht; ich suchte nur einen Vorwand, einen Moment lang stehen zu bleiben. Bei den Konserven habe ich die Bilder auf den Dosen betrachtet. Die Schokolade habe ich genommen, weil sie in mir Ekel erregte." Angenommen, der Kunde ließe nicht die geringsten Zeichen davon erkennen, daß er die Unwahrheit spricht. Hat der Beobachter nicht Unrecht? Oder ist das Selbstzeugnis des Kunden nicht doch zurückzuweisen? Beide Fragen sind falsch gestellt; dies will ich in dieser Arbeit zeigen. Der Beobachter konstatiert Sachverhalte, über die intersubjektive Übereinstimmung erzielt werden kann. Sein gesellschaftlich kontrolliertes Wissen läßt sich nicht einfach zurückweisen: Es ist fest in den Deutungs- und Sprachkonventionen unserer Gesellschaft verankert. Bevor man intersubjektiv abgesicherte Interpretationen aufgibt, wird man eher versuchen, den Wert des Selbstzeugnisses in Zweifel zu ziehen. Sehen wir uns die Selbstaussage des Kunden an. Auch nach seinem Zeugnis drückt sein Handeln ein Wissen aus. Aber dieses ist kein gesellschaftlich kontrolliertes. Unter der Voraussetzung, daß der Kunde kein Täuschungsmanöver unternimmt, läßt sich feststellen, daß die Kontrollinstanz eine andere ist: er selbst1. Die Sachverhalte, die sein Handeln ausdrücken, bestehen ausschließlich für ihn selbst. Das subjektiv kontrollierte Wissen von der Art, daß er sich vorkam wie Jeanne d'Arc, ist intersubjektiv nicht kontrollierbar. Kann es aus diesem Grund als falsch bezeichnet werden? Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese Art Wissen durchaus mit Recht behauptet werden kann. Dabei werde ich noch einen Schritt weiter gehen, der angesichts des karikaturierenden Beispiels übertrieben erscheinen mag. Ich werde annehmen, daß das subjektiv kontrollierte 1
Inwiefern es möglich ist, daß eine Person sich selbst gegenüber Kontrolle ausübt, werde ich im Abschnitt 3.3 zeigen.
Einleitung
3
Wissen nicht notwendig willkürlich und irrational ist2. Es ist vielmehr ein spezifisches Wissen, das in vielen Fällen sehr ernst zu nehmen ist und dessen Kenntnis für Handlungserklärungen von großem Wert sein kann. Daß subjektiv kontrolliertes Wissen in Handlungserklärungen eingehen kann, ist eine Grundannahme der älteren Hermeneutik 3 . Ich werde in den ersten beiden Kapiteln eine möglichst genaue Darstellung davon geben. Interaktionen haben eine kognitive Seite: Sie lassen sich als Austäusche von Wissen darstellen. Handlungen erzeugen Symbole, und diese werden als Ausdruck von Wissen angesehen, von zwei Seiten: von Seiten des Rezipienten und von Seiten des Handelnden. Der Handelnde kann subjektiv kontrolliertes Wissen produzieren, der Rezipient nicht. Der Rezipient rekonstruiert anhand der vom Handelnden erzeugten Symbole intersubjektiv kontrolliertes Wissen und kann über das subjektiv kontrollierte Wissen des Handelnden nur Mutmaßungen anstellen. Der Handelnde hingegen beschränkt sich in vielen Fällen auf sein subjektiv kontrolliertes Wissen und bleibt über das intersubjektiv kontrollierte Wissen weitgehend im Unklaren 4 . Interaktionen, so will ich behaupten, haben eine erkennt2
3
4
Bereits Max "Weber wies darauf in seiner Kritik an Knies hin: Der „Glaube an die spezifische Irrationalität des menschlichen Handelns oder der menschlichen ,Persönlichkeit' " (64) ist eine Art Mystifizierung des individuellen Handelns. Es ist eine „romantisch-naturalistische Wendung des ,Persönlichkeits'gedankens" (132). Max Weber nimmt dagegen zu recht an, daß „individuelles Handeln ..., seiner sinnvollen Deutbarkeitwegen — soweit diese reicht —, prinzipiell weniger ,irrational' als der individuelle Naturvorgang" ist (67). „Die Deutbarkeit ergibt hier (bei der historischen Deutung des Handelns Friedrichs II. — meine Hinzufügung, G. G.) ein Plus von ,Berechenbarkeit', verglichen mit den nicht .deutbaren' Naturvorgängen" (69). Der Vergleich mit Naturereignissen wird uns heute weniger interessieren. Der Wert von Webers Argument liegt darin, daß die Deutbarkeit individueller Handlungen als Indiz für deren Regelhaftigkeit aufgefaßt werden kann. Es ist eine andere Frage, ob diese Regelhaftigkeit in jedem Fall Rationalität ausdrückt. Mit dem Ausdruck ,ältere Hermeneutik' bezeichne ich die Vertreter der Hermeneutik von ihrem Entstehen mit Ast und Schleiermacher bis hin zu Dilthey. H.-G. Gadamer verweist in seiner Einleitung zur Textsammlung, Seminar: Philosophische Hermeneutik (hg. v. H.-G. Gadamer und G. Boehme) auf die „Frühgeschichte" der Hermeneutik (29). Er folgt dabei der HermeneutikGeschichtsschreibung Diltheys (vgl.: Die Hermeneutik vor Schleiermacher. In: Leben Schleiermachers). Dilthey läßt die Hermeneutik mit M. Flacius Illyricus beginnen (vgl. die Einleitung von L. Geldsetzer in die Neudrucke von M. Flacius Illyricus und J. M. Chladenius). Es wird auch die Möglichkeit diskutiert werden, daß der Handelnde intersubjektiv kontrolliertes Wissen erzeugt. In diesem Fall, so werde ich argumentieren, nimmt der Handelnde seinen eigenen Handlungen gegenüber die Perspektive eines Beobachters ein.
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Einleitung
nistheoretische Struktur. Die Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft sind mit Hilfe dieser Struktur geregelt5. Interaktionen liegen erkenntnistheoretische Strukturen zugrunde. Diese legen fest, was die Gesellschaft in spezifischen Handlungssituationen über den Einzelnen und der Einzelne über die Gesellschaft weiß. Die Erzählliteratur stellt Modelle erkenntnistheoretischer Strukturen dar. Dies ist nicht ihre einzige Funktion, aber eine wesentliche, weil das jeweils gewählte Modell die Organisation des Erzählstoffs bestimmt6. In dieser Arbeit werde ich versuchen, die erkenntnistheoretische Struktur von Interaktionen unter sehr einfachen Gesichtspunkten zu klären7. Sie kann in dieser Hinsicht als eine Untersuchung zu grundlegenden Problemen des Symbolischen Interaktionismus angesehen werden, die von diesem selbst allerdings nicht in den Blick genommen worden sind. Ich gebe im folgenden einen knappen Überblick über die Überlegungen, die meine Arbeit leiten. Den Begriff des Symbols verwende ich in einem weiten und unspezifischen Sinn: als einen materiellen Gegenstand (z. B. Objekte, Ereignisse, Schallwellen, Markierungen, Schriftvorkommnisse, verbale Etikette), dem eine (oder mehrere) Bedeutung zugeordnet wird, dadurch daß er andere Gegenstände z. B. denotiert oder exemplifiziert8. Symbolsysteme fasse ich als Mengen von Symbolen und Regeln der Symbolorganisation (z. B. Syntaxregeln) auf. Ich werde in dieser Arbeit Symbolsysteme durchgehend unter dem Aspekt eines Problems untersuchen: 5
6 7
8
Grundlage von Handlungen ist das Wissen, das man über sich selbst und andere hat, und das Wissen, das man über sich selbst und andere nicht hat. Handelnde kennen die erkenntnistheoretische Struktur von Interaktionen und sind daher in der Lage, das Wissen, über das sie verfügen, und das Wissen, über das sie nicht verfügen, genau anzugeben. Die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft kann als eine Beziehung seines Wissens über die Gesellschaft zu dem Wissen der Gesellschaft gedeutet werden. In dieser Perspektive ist sie eine Erkenntnisbeziehung. Erzählliteratur kann unter diesem Aspekt mit den gleichen Verfahren untersucht werden wie Interaktionen des alltäglichen Handelns. Das Interesse, das Vorgehen und die Zielrichtung meiner Arbeit unterscheiden sich stark von den meisten bekannten Symboltheorien. Ich lehne mich hingegen eng an die Überlegungen L. Wittgensteins und an N. Goodmans, Sprachen der Kunst, an. Zum Begriff der Exemplifikation siehe N. Goodman, Sprachen der Kunst; vgl. Abschnitt 4.3.2 dieser Arbeit. Die Denotation und Exemplifikation sind die hauptsächlichen Gebrauchsweisen von Symbolen; andere werde ich in dieser Arbeit nicht in Betracht ziehen.
Einleitung
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Welche Struktur hat das Wissen, das mit Hilfe von Symbolgebräuchen gewonnen werden kann? Ein derartiges Wissen werde ich abgekürzt,Symbolisches Wissen'nennen. Meine Untersuchungen gehen von folgender Frage aus: Gegeben ist ein bestimmter Symbolgebrauch; welches Symbolische Wissen läßt sich aus ihm gewinnen und welches nicht? Die Antworten, die ich in den einzelnen Studien geben werde, beruhen auf vier grundsätzlichen Annahmen zum Problem des Symbolischen Wissens: 1. Zwischen dem Wissen des Verwenders von Symbolen und dem des Empfängers besteht eine grundsätzliche Asymmetrie. Während der Verwender über eine Menge von nicht-ausgedrücktem Wissen verfügt, ist das Wissen des Empfängers auf das beschränkt, was der Symbolgebrauch atsächlich ausdrückt. Symbolisches Wissen ist an die Standpunkte von Handelnden und Rezipienten9 gebunden. Die gebräuchlichen Modelle von Sender/Empfänger und Encodieren/Decodieren vernachlässigen diesen Sachverhalt. Sie setzen implizit voraus, daß die Kenntnis der Symbolsysteme, über die Sender und Empfänger verfügen, ausreicht, um in gleicher Weise Symbolisches Wissen zu bilden. Diese Arbeit richtet hingegen, z. B. bei der Untersuchung verbaler Interaktionen, die Aufmerksamkeit darauf, daß der Rezipient eine andere Syntaxform als der Handelnde verwendet, um den gleichen Sachverhalt auszudrücken. Dies ist immer der Fall, wenn der Handelnde eigenpsychische Zustände ausdrückt. Er verwendet dafür Sätze in der l. Person Singular. A sagt: „Ich bin müde". B, der Rezipient, muß in einem Satz über A's Zustand „Ich" durch „A" ersetzen. Läßt sich aus dem Satz, in dem „Ich" durch „A" ersetzt ist, das gleiche Symbolische Wissen gewinnen wie aus dem Ich-Satz? Meine Untersuchung wird zeigen, daß dies nicht immer der Fall ist. Intuitiv läßt sich der Unterschied sofort einsehen: Der Satz: „Ich bin müde", kann auf zwei Weisen verstanden werden — als Feststellung, daß A den allgemein anerkannten Tatbestand der Müdigkeit erfüllt oder als Behauptung, daß A sich seinem subjektiven Eindruck nach für müde hält. Der Rezipient kann nur das Zutreffen des ersten Tatbestandes mit Sicherheit feststellen, der Handelnde auch das Zutreffen des zweiten. Der Handelnde drückt mit seinem Satz in der Regel den zweiten Sachverhalt aus. Der Rezipient kann daraus jedoch nur ein Wissen über den ersten gewinnen. Er kann also zwangsläufig keine Sicherheit über den 9
Ich werde außerdem den Standpunkt des Rezipienten in den des Teilnehmers und den des Beobachters von Interaktionen unterscheiden.
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Einleitung
zweiten erhalten. Die Asymmetrie besteht in Bezug auf die Gegenstände und die Sicherheit des Symbolischen Wissens. 2. Durch Symbolgebrauch wird empirisches Wissen erzeugt. A sagt zu B: „Ihre Frau läuft in unserer Wohnung herum, sie schaut in alle Winkel, sie hat die Fußmatte hochgehoben, die Gardinen beiseite gezogen, das Tischtuch abgenommen ..." — B antwortet: „Sie sucht die Autoschlüssel." Es wird eine Ersetzung vorgenommen: die Ersetzung einer Beschreibung durch einen sprachlichen Ausdruck10. B erzeugt auf diese Weise ein empirisches Wissen. Im allgemeinen charakterisieren wir dieses, indem wir sagen: B gibt den Grund für die Handlungen seiner Frau an. In dem Beispiel bezieht sich der Gebrauch von „Suchen" auf situative Umstände, auf das vorhergehende Verhalten von Frau B und auf das allgemeine menschliche Handlungssystem von Gesellschaften, in denen ein derartiges Handeln als Suchen gilt. Er stellt einen hypothetischen Zusammenhang zwischen Handlungssystem, den Handlungen von Frau B, ihrer Vorgeschichte und dem Symbol „Suchen" her. Ich bezeichne ihn als „interpretativen Gebrauch". Sein wesentliches Merkmal ist, daß er die Anwendung von naiven Theorien involviert. Der interpretative Gebrauch hat eine ausgezeichnete Struktur, die genauer analysiert werden soll. Aber als Gebrauchsweise von Symbolen ist er eng mit den anderen Symbolgebräuchen verwandt. Die Besonderheit des interpretativen Wissens, das er erzeugt, hat die philosophische Tradition dazu verführt, dieses für Erkenntnisse besonderer Art zu halten. Dies ist die Auffassung der älteren Hermeneutik; sie wird zuerst von Schleiermacher ausgebildet und kulminiert in Diltheys Verstehens-Theorie. Die Hermeneutik deutet den interpretativen Gebrauch als Ausdruck eines Inneren (Absicht, Wille, Interesse etc.) in einem äußeren Medium (Handlungen, Sprache, menschliche Institutionen). Sie begeht den Fehler, daß sie das Ausgedrückte als tatsächlich vorhandene (psychische) Gegenstände deutet. Wittgenstein und Goodman haben uns in die Lage versetzt, diese Deutung zu kritisieren und einzusehen, daß das Ausgedrückte nichts anderes ist als symbolische Konstrukte. Der interpretative Gebrauch ist an den Interpretierenden gebunden. Dieser ist bis zu einem gewissen Grad frei in der Anwendung interpretativer Symbole. An folgendem Beispiel läßt sich dieser Gedanke darstellen: Eine Dame befindet sich am abgelegenen Ende einer großen Verkehrsstraße. Sie geht auf dem Bürgersteig auf und ab. Sobald ein Auto sich 10
Wie die Diskussion im Abschnitt 4.3 zeigen wird, handelt es sich nicht um eine einfache Substitution eines Symbols durch ein anderes. Der Symbolgebrauch stellt vielmehr eine Systematisierung von beobachtbaren Sachverhalten dar.
Einleitung
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nähert, eilt sie auf das Halteschild einer Busstation zu, sieht auf die Uhr, dreht den Kopf in die Richtung, aus der ein Bus kommen müßte (ein Goffmansches Beispiel). Das Beispiel läßt zweierlei erkennen: den möglichen Freiraum des Gebrauchs interpretativer Symbole und den Versuch, diesen einzuengen. Der Freiraum läßt sich dadurch angeben, daß die dargestellte Situation die Anwendung von zwei Symbolen zuläßt, deren Deutungen miteinander konkurrieren — die eine Deutung lädt den Autofahrer zum Anhalten ein, die andere hindert ihn strikt daran. Die Dame versucht durch ihr Handeln, die zweite Symboldeutung zu erwirken. Es gibt aber keine Konvention, die den Empfänger zu einer bestimmten Gebrauchsweise zwingen könnte. Der interpretative Gebrauch unterscheidet sich von den anderen Gebrauchsweisen durch seinen in letzter Hinsicht fakultativen Charakter. Der Interpretierende entscheidet von seinem Standpunkt aus, welche Symbole in der Situation gegeben sind und welche Deutung er dieser gibt. Wenn Personen interpretative Symbole verwenden, lassen sie dabei die Perspektive erkennen, in der sie die Handlungssituation wahrnehmen. Der interpretative Symbolgebrauch ermöglicht dem Beobachter, den Standpunkt handelnder Personen zu rekonstruieren. Für eine Handlungstheorie, die gesellschaftliches Handeln vom Standpunkt der Beteiligten aus untersucht, sind interpretative Symbolgebräuche bevorzugte Analyseobjekte. 3. Symbolsysteme haben Eigenschaften, die das Symbolische Wissen mitformen. Ein Symbolgebrauch kann nur Sachverhalte entweder des subjektiv oder intersubjektiv kontrollierten Wissens ausdrücken. Über nicht ausgedrückte Sachverhalte kann der Rezipient kein sicheres Wissen gewinnen, sondern ein mutmaßliches Wissen; ich werde es ,bezweifelbares Wissen'nennen11. Sein problematischer Charakter macht es nicht unbedingt wertlos; im Gegenteil, wir gehen ständig damit um. Was der Empfänger aufgrund eines gegebenen Symbolgebrauchs sicher wissen kann und was er nicht sicher wissen kann, wird durch Eigenschaften des verwendeten Symbolsystems mitbestimmt. Verschiedene Symbolsysteme können, wenn sie denselben Sachverhalt darstellen, unterschiedliches Wissen ausdrükken12. 1
' Es ist auch möglich, daß man über den ausgedrückten Sachverhalt nur bezweifelbares Wissen erhält. Ein Wissen gilt als „sicher", wenn es nach den Normen der Gesellschaft als fraglos gegeben angesehen wird. Zum Begriff des „sicheren Wissens" siehe den Abschnitt 3. 12 Dieser Gedanke wird in dieser Arbeit nur knapp behandelt. Er wird zum ersten Mal von Lessing im „Laokoon" vorgebracht.
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Einleitung
Ein Fall, in dem unterschiedliches Wissen durch die Anwendung verschiedener Syntaxregeln entsteht, ist bereits zur Sprache gekommen: Es hat Folgen für unser Symbolisches Wissen, wenn ein Satz in der l. Person Singular anstatt in der 3. Person Singular formuliert ist. Wir gewinnen aus beiden Sätzen ein unterschiedliches Wissen. Dies mag in der Mehrzahl der Fälle in der Umgangssprache unwichtig sein, aber es gibt Umstände, unter denen diese Differenz außerordentlich bedeutsam wird. Man findet sie vor allem in der Literatur: Es ist alles andere als belanglos, ob ein literarischer Text in der 1. oder in der 3. Person geschrieben ist. Ich werde dies in einer Untersuchung von Prousts Suche nach der verlorenen Zeit zeigen. Die Scheidung von sicherem und bezweifelbarem Wissen ist ein Grundproblem aller mit Symbolen befaßten Wissenschaften. Sie ist von vergleichbarer Bedeutung wie die Abgrenzung der wissenschaftlichen Sätze von metaphysischen in der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften. Sie ist kein Problem der Logik — bezweifelbares Wissen ist nicht in jedem Fall falsch —, auch kein Problem der Induktion oder des Bestätigungsgrads. Es handelt sich vielmehr um Festlegungen unseres Begriffssystems. Die ältere Hermeneutik hat die Bedeutsamkeit der Demarkation zwischen sicherem und problematischem Wissen bereits erkannt'3. Aber der einzige ausgearbeitete Vorschlag, den sie zur Lösung dieses Problems macht, die Konzeption des Hineinversetzens in den Symbol-Verwender, beruht auf einer unannehmbaren Theorie des menschlichen Geistes. Zwei Forderungen können für ein kritisches weiterführendes Vorgehen erhoben werden: (1) Der Psychologismus der Hermeneutik muß durch ein modernes GeistModell ersetzt werden. (2) Es muß eine Theorie entwickelt werden, nach der entschieden werden kann, welche Art von Wissen ein gegebener Symbolgebrauch ausdrückt. 13
Die neuere Hermeneutik, d. i. die Vertreter der Hermeneutik nach Dilthey, hat jedes Interesse an diesem Problem verloren. Während (der spätere) Schleiermacher, Boeckh und Dilthey an einer wissenschaftlichen Fundierung und Ausarbeitung einer Theorie des Symbolischen Wissens interessiert sind, müssen sie sich gerade wegen dieses Interesses Kritik von Seiten der modernen Hermeneutik gefallen lassen; vgl. z. B. Gadamers Dilthey-Kritik, insbesondere „Wahrheit und Methode", S. 226. Die moderne Hermeneutik äußert sich ausschließlich kritisch zur wissenschaftlichen Behandlung des Symbolischen Wissens. Daher wird sie in dieser Arbeit nur im Zusammenhang mit der Kritik der älteren Hermeneutik berücksichtigt.
Einleitung
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4. Die erkenntnistheoretische Leistung von Symbolgebräuchen ist in naiven Theorien, die diesen zugrunde liegen, begründet. Naive Theorien sind intelligente Konstruktionen, die eine Reihe von Zügen echter Theorien aurweisen: einen systematischen Charakter, logische Strukturen, Klassifizierungen, Generalisierungen, Deduktionen, Systematisierungen, Entwurf von Weltstrukturierungen. Die Annahme von naiven Theorien führt meine Konzeption des Symbolischen Wissens zu einer philosophischen Position, die sich kurz so kennzeichnen läßt: Die erkenntnistheoretischen Eigenschaften der Symbolsysteme und ihrer Gebrauchsweisen liegen nicht in diesen selbst begründet. Sie entstehen vielmehr aus naiven Theorien, die wir im Laufe unserer Entwicklung aufbauen. Symbolisches Wissen wird erzeugt, dadurch daß wir unsere Theorien anwenden; in dieser Hinsicht ist seine Struktur ein Produkt unseres Geistes. Welches Symbolische Wissen ein Individuum aus gegebenen Symbolgebräuchen bildet, hängt — abgesehen davon, daß in den meisten Fällen Wahlmöglichkeiten zwischen mehreren Theorien bestehen — davon ab, welche Theorien es herausgebildet hat. Es ist nicht so, daß alle Individuen über die gleichen Theorien verfügen. Ich nehme an, daß diese entwicklungsabhängig, kulturspezifisch und historisch sind. Was wir an Symbolischem Wissen gewinnen, was wir selbst, was die anderen für uns und wir für die anderen sind, welche Vergangenheit wir haben, wie wir unseren Körper und seine Umgebung auffassen, ist kulturell, gesellschaftlich und historisch bestimmt. Aber wie wir Symbolisches Wissen gewinnen, welche Strukturierung wir vornehmen, wie wir sicheres und problematisches Wissen voneinander unterscheiden, ist von der historischen Entwicklung, der kulturellen und gesellschaftlichen Prägung ausgenommen. Wir werden nicht annehmen können, daß die Strukturierungen apriorischen Charakter haben oder angeboren sind; sie entstehen vermutlich in der Intelligenz-Entwicklung von Individuen. Die ältere Hermeneutik hatte unrecht darin, daß sie das Verstehen als eine wissenschaftliche Methode postulierte. Aber sie hatte recht mit ihrer Annahme, daß die Verfahren der „endlichen Vernunft" (Dilthey)14 einen ausgezeichneten, spezifischen Forschungsbereich konstituieren. Jede Wissenschaft, die wesentlich mit Symbolen befaßt ist, arbeitet implizit an Rekonstruktionen und Präzisierungen von Symbolischem Wissen. 14
Siehe P. Kraussers Arbeit „Kritik der endlichen Vernunft"
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Das Grundproblem der Hermeneutik: Die Gewinnung Symbolischen Wissens.
1.1 Der Entwurf des hermeneutischen Forschungsbereichs Die Hermeneutik1 geht von zwei Überlegungen aus: 1. Für eine große Klasse menschlicher Handlungen ist die Konstitution von Sinn2 unerläßlich. In dieser allgemeinen Formulierung sind zwei Teilannahmen enthalten: Unerläßlich ist die Konstitution von Sinn für eine große Klasse von Fällen, um handeln zu können; und unerläßlich ist die Rekonstitution von Sinn für die Erklärung dieses Handelns3. 2. Konstitution und Rekonstruktion von Sinn wird in einem spezifischen Verfahren vorgenommen, im Verstehen. Beides kann weitgehend mit Mitteln der Symboltheorie beschrieben und erklärt werden. Das Verfahren des Verstehens ist Gegenstand der Symboltheorie. Es gilt nach beiden Annahmen für eine große Zahl menschlichen Handelns: Das Handeln selbst und die Erklärung dieses Handelns müssen implizit oder explizit auf symboltheoretische Annahmen zurückgreifen. Wie können die zentralen Begriffe der Hermeneutik, Sinn und SinnVersteben, expliziert werden? Diese Frage wirft eine methodische Schwierigkeit auf: Beide Begriffe werden, abhängig von der hermeneutischen Theorie, in deren Kontext sie auftreten, verschiedenartig ausgedeutet. 1
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Den Ausdruck ,Hermeneutik' schränke ich, soweit eine andere Verwendungsweise nicht ausdrücklich erwähnt wird, auf die ältere Hermeneutik ein. Vgl. Dilthey VII, 291: „Wie die Buchstaben eines Wortes, haben Leben und Geschichte einen Sinn." Der Sinn wird in der älteren Hermeneutik als eine nicht-sprachliche Bedeutung von Ereignissen aufgefaßt. Den Hermeneutiker interessiert an den Ereignissen, die er untersucht, einzig deren Sinn; vgl. E. Rothacker: „Die klassische Geschichtsphilosophie fragt immer nach dem Sinn dieses Werdens in seiner zeitlichen Wirklichkeit" (132). Der integrative Gesichtspunkt des Sinns ist nach der hermeneutischen Theorie in den untersuchten Gegenständen selbst aufzufinden. Die Hermeneutik beschreibt nach Gadamer „den Innenaspekt im Gebrauch dieser Zeichenwelt, oder besser den inneren Vorgang des Sprechens, der sich von außen gesehen als die In-Gebrauchnahme einer Zeichenwelt darstellt" (Gadamer 1972, 251).
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Eine genaue Begriffsexplikation muß aus diesem Grund wesentliche Teile der jeweiligen Theorie rekonstruieren; diese Aufgabe stelle ich mir im dritten Abschnitt und im folgenden Kapitel (1.3 und 2.1). In den Abschnitten 1.1 und 1.2 will ich nicht mehr geben als einen allgemeinen Begriffsrahmen, der in einer den hermeneutischen Theorien gegenüber neutralen Sprache angegeben werden soll. Ich wähle folgenden Weg: Zuerst gebe ich eine Reihe von Beispielen an, die eine intuitive Deutung der beiden Begriffe erlauben und ihren Wert einzusehen ermöglichen; auf die Beispiele werde ich in meiner Argumentation im Laufe der gesamten Arbeit zurückkommen. Daraufhin werde ich die allgemeine Struktur der Beispiele darstellen; dabei soll gezeigt werden, daß die Hermeneutik nichts anderes ist als eine eingeschränkte und beschränkte Version des Symbolischen Wissens. Schließlich werde ich die Frage aufwerfen, ob das hermeneutische Problem mit Instrumenten der analytischen Philosophie bearbeitet werden kann oder ob es sich aufgrund der Problemlage dagegen sperrt. 1.1.1
Beispielfälle
/. Fall: Absicht. Der junge Herr A befindet sich bei Familie Streng. Er wirft eine Stehlampe um, bei Tisch dann ein Glas, schüttet Zigarrenasche auf den Teppich, tippt mit der Hand auf die Ölgemälde etc. A ist von seinen Eltern veranlaßt worden, die Familie Streng zu besuchen. Er hat die Absicht, durch sein Verhalten zu erreichen, daß Strengs ihn nie wieder einladen, daß er sie also nie wieder besuchen muß. A gibt seinem Verhalten eine bestimmte Form, die für die beobachtenden Personen, insbesondere für Familie Streng, leicht erkennbar ist. Die Form ist so gewählt, daß die Beobachter darauf mutmaßlich reagieren werden. Selbst wenn sie nicht darauf reagieren, besteht A's Kalkül, und man kann sagen, daß er durch die Verhaltensform ausgedrückt wird. 2. Fall: Ausdrucksverhalten. Fräulein Nett erhält einen Brief von der Zentralstelle für Studienplatzvergabe. Sie öffnet ihn, liest den Bescheid, zerreißt ihn, stößt ein populäres Schimpfwort aus und verbirgt ihr Gesicht in den Händen ihres Verlobten, Herrn A. A erkennt, daß Fräulein Nett trotz ihres jahrelangen Kampfes um einen guten Abiturnotendurchschnitt nicht für das Medizinstudium zugelassen worden ist. Das Verhalten von Fräulein Nett ist kein unmittelbarer Ausdruck von Empfindungen. Es ist der Ausdruck einer Reaktion auf vielfältige soziale Werte, Verhaltenseinschätzungen, Erwartungen etc. Der Reaktion wird Ausdruck gegeben, weil der Verlobte in dieser Situation anwesend ist. Das
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Verhalten ist eine intime Demonstration eines Einschätzungswandels gegenüber bisher positiv eingeschätzter Institutionen (gegenüber ihrer Schule, dem Abiturnotendurchschnitt als Studienqualifikation, der Rolle der unabhängigen Frau [„Frau Doktor"]). 3. Fall: Codewechsel. Im nördlichen Norwegen werden zwei Sprachen, eine lokale Sondersprache, Ranamäl, und die Hochsprache, Bokmäl, nebeneinander gesprochen. Die Sprecher gehen nach Beobachtungen von Ethnologen (Blom und Gumperz), wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind, systematisch von einer Sprache zur anderen über. Der Codewechsel ist insbesondere abhängig von der gesellschaftlichen Bedeutung (social meaning), die der jeweilige Codewechsel zum Ausdruck bringt. Die Sprecher folgen in ihrem Handeln den Normen des Codewechsels ihrer Sprachgemeinschaft. Die Befolgung dieser Regeln läßt sie als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe erkennen. Die Verhaltensänderung beruht, wenigstens zum Teil, auf der Absicht, sich als Zugehöriger zu einer bestimmten sozialen Gruppe mit einer bestimmten Einschätzung von Sprechthema und -situation zu präsentieren. 4. Fall: Ritualverhalten. Ein Badegast stellt eine Sonnenölflasche auf einen bestimmten Platz am Beckenrand und springt in das Becken. Die anderen Badegäste meiden die unmittelbare Nähe der Ölflasche und lassen den Raum um diese herum unangetastet. Der Badegast markiert durch die Plazierung dieses wichtigen Utensils einen Platz am Beckenrand und erhebt auf diesen Anspruch. Seine Handlung beruht auf anerkannten, obwohl kaum gewußten, gesellschaftlichen Regeln. 5. Fall: Symbolisch vermitteltes Handeln. Hausbesitzer Fies möchte eine Wohnung in seinem Haus renovieren und zu einem höheren Mietpreis vermieten. Mieter A ist sehr geizig und will keinen Pfennig mehr bezahlen. A ist alt, hat ein Kreislaufleiden und eine panische Angst vor Ratten. Herr Fies schickt A ein Schreiben, in dem er berichtet, unter den Bodenbrettern seines Schlafzimmers befinde sich ein Rattennest. A stirbt beim Lesen des Briefs. Fies tötet A durch eine Nachricht: Er übermittelt eine sachliche Information, aber sein Text enthält zugleich eine zweite Nachricht, und diese hat Fies eigentlich im Auge. Er will letztlich keine Warnung vor Ratten aussprechen, sondern A auf der Ebene der Kreislaufphysiologie „informieren". Er entwirft eine quasi-medizinische Hypothese über einen Zusammenhang zwischen der ersten Information und der Reaktion von A's Kreislauf. Die tatsächliche Wirkung der zweiten Nachricht bestätigt die Richtigkeit der Hypothese.
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6. Fall: Hypothesen über fremdes Handeln. Frau Treu findet in der Jakkentasche ihres Mannes ein Papiertaschentuch. Es ist stark parfümiert, und zwar mit einem Parfüm, das sie nicht kennt. Frau Treu weiß, daß ihr Mann in geschäftlichem Kontakt mit Frau A steht und sie oft besucht. Frau Treu nimmt an, ihr Mann habe das Taschentuch mit dem Parfüm von Frau A benetzt, um eine Erinnerung an Frau A bei sich zu tragen. Frau Treu erklärt zunächst die Funktion des Parfüms. Sie kennt die Vorlieben und Abneigungen ihres Mannes, sein schwaches visuelles Gedächtnis, seine Vorurteile gegen Photos, seine Ansprechbarkeit über den Geruchsinn. Sie nimmt an, das parfümierte Papiertaschentuch sei ein intimes, unmittelbar wirksames Objekt, das Erinnerungen evoziere und mit geringem Risiko des Entdeckens bei sich getragen werden könne. Durch die Klärung der Existenz des parfümierten Papiertaschentuchs klärt Frau Treu zugleich eine Handlung, die ihr vorher gar nicht bekannt war: die Handlung, die ihr Mann vollzogen hat, als er das Taschentuch mit Parfüm benetzte und in seiner Tasche aufbewahrte. Die Hypothesen über die Funktion des Taschentuchs und Herrn Treus Handlung beruhen auf einer anderen, tieferliegenden und in den Augen von Frau Treu wohl begründeten Hypothese: daß Herr Treu Frau A liebt. Die Handlung des Herrn Treu und die Existenz des Taschentuches werden aufgeklärt aufgrund der — tatsächlich oder vermeintlich — genauen Kenntnis, die Frau Treu von ihrem Mann und von Teilen der Vorgeschichte hat, und durch eine Hypothese über ein Objekt. 7. Fall: Handeln aus mythologischen Motiven. Politiker A bewirbt sich, trotz finanzieller und gesundheitlicher Schwierigkeiten, um ein Mandat. Zweimal war er schon Abgeordneter; weitere Vorteile als die, die er schon früher wahrgenommen hat, kann er nicht mehr erwarten. Dennoch strebt er ein drittes Mandat an. Ein zweckrationales Handeln ist in diesem Fall ausgeschlossen. A handelt aber auch nicht vollkommen irrational, sondern aus einem mythologischen Motiv: Eine Leistung gleich dreimal hintereinander zu vollbringen, gibt dieser einen besonderen Wert. A handelt in der Weise, daß sein Handeln geeignete Ausgangsprodukte für die Herstellung einer Biografie zu ergeben vermag: Eine dreifache Wahl ermöglicht es, sein Leben in einer bestimmten Weise zu interpretieren. l. l .2 Das hermeneutische Problem Das hermeneutische Problem läßt sich in der einfachsten und allgemeinsten Form wie folgt angeben: Ein Beobachter erkennt Gegenstände, die sich verhalten. Gegenstände sind materielle Objekte, wie Artefakte,
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menschliche Körper, Tintenhügel, Lautketten. Der Beobachter deutet die Gegenstände und ihr Verhalten als Gegenstände und Verhalten einer besonderen Art. Das Verhalten der Gegenstände wird einem Autor zugeschrieben, der es hervorgerufen hat. Die Art der Gegenstände und ihres Verhaltens deutet der Beobachter aus der Person des Autors: daraus, welche Persönlichkeit er ist und in welcher Situation er sich gesellschaftlich, historisch, biografisch befand, als er das Verhalten der Gegenstände hervorrief. Der Beobachter verschafft sich eine Kenntnis über den Autor, die Situation, die historische Epoche, die Gruppe, der er angehört, die geltenden Normen und bestehenden Institutionen etc. Schließlich verfügt er über ein Gesamtwissen, d. i. das Maximum der verfügbaren Informationen über die Ereignisse. Aus seinem Gesamtwissen bildet der Beobachter eine Annahme über den Grund, warum der Autor das Verhalten der Gegenstände hervorgerufen hat. In einer gegenüber den hermeneutischen Theorien neutralen Sprache ist das hermeneutische Problem dies: Gegeben sind Ereignisse — was können wir durch sie wissen? Das Verhalten von Gegenständen ermöglicht es, ein bestimmtes Wissen zu gewinnen, das über das reine EreignisWissen hinausgeht. Welche Art Wissen wir gewinnen können, ist nicht beliebig. Ein Ereignis läßt ein bestimmtes sicheres Wissen gewinnen, ein anderes sicheres Wissen aber gerade nicht. Aus dem ersten Fall, so wie er dargestellt wird, wissen wir sicher, welche Einstellung Herr A gegenüber den Strengs hat — wir wissen aber nicht sicher, ob er seine Asche auf den Teppich fallen ließ, weil er auch diesen nicht mochte, ob er auf die Bilder tippte, weil er sie häßlich fand, ob er sein Essen stehen ließ, weil es ihm nicht schmeckte . . . Im Fall des rituellen Handelns wissen wir sicher, daß der Badegast seinen Platz markieren will, aber wir wissen nicht sicher, ob er das Sonnenöl auch deswegen niederstellte, weil er genug davon hatte, mit der Flasche in der Hand herumzulaufen. Beim Codewechsel wissen wir sicher, daß der Sprecher einer Norm folgt, wenn er von der einen in die andere Sprache überwechselt, aber wir wissen nicht sicher, ob er die zweite Sprache nicht auch bevorzugt. Kurz, wenn eine Art sicheren Wissens über Ereignisse gewonnen wird, schließt die gewählte Deutung die Sicherheit von anderem möglichen Wissen aus. Mit der Frage nach dem sicheren Wissen, das wir gewinnen können, wird zugleich die Frage nach der Abgrenzung des sicheren gegen bezweifelbares Wissen gestellt. In dieser knappen Darstellung wird eine Reihe von Annahmen sichtbar, deren gemeinsames Auftreten in der Hermeneutik zu einer ersten, wenn auch stark beschränkten, Theorie des Symbolischen Wissens führt:
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(l)Der Gegenstandsbereich der Hermeneutik ist in zwei Seiten unterschieden: in eine Ereignisseite und in eine Wissensseite. Gegeben ist die Ereignisseite; die Wissensseite muß von der Ereignisseite aus erschlossen werden. Die Ereignisse, die auf die Wissensseite bezogen werden, werden als Symbole aufgefaßt. (2) Ereignis- und Wissensseite sind miteinander koordiniert, dadurch daß eine symbolische Beziehung zwischen Ereignis und einem Wissen über das Ereignis besteht. Das Wissen, das aufgrund der symbolischen Beziehung über ein Ereignis gelegt wird, ist dessen Bedeutung. Wissen dieser Art wird im Beäeutungs-Verstehen gewonnen. Eine genaue Explikation von Bedeutung und Verstehen ist möglich, wenn die symbolische Beziehung zwischen Ereignis und zugeordnetem Wissen präzise angegeben wird. (3) Die wissenschaftstheoretische Aufgabe der Hermeneutik besteht in der Angabe des Verfahrens, durch das sicheres Wissen über Ereignisse gewonnen wird, und in der Abgrenzung des sicheren gegen bezweifelbares Wissen. (4) Eine Art von sicherem Wissen über Ereignisse erregt das ganze Interesse der Hermeneutik: das Wissen darüber, was der Autor über das Ereignis, das er hervorruft, weiß — über seine rationalen Annahmen, Glaubenssätze, Meinungen, Zielvorstellungen etc. Dieses Wissen gilt es für den Hermeneutiker in Erfahrung zu bringen. Dadurch daß der Hermeneutiker Wissen über Wissen erhält (dadurch daß er versteht), erklärt er in einem bestimmten Sinn Ereignisse. Die Annahme (4) kann eine überaus komplexe Form annehmen. Es scheint wenig einleuchtend zu sein, daß sie auch auf einen so einfachen Fall wie den des Schlüssel-Suchens zutrifft (das Beispiel aus der Einleitung). Aber wenn wir über die Ereignisse, die jene Dame hervorruft, das Wissen des Schlüssel-Suchens legen, müssen wir Grund zu der Annahme haben, daß sie weiß, 1. daß der Gegenstand vorhanden, aber für sie gegenwärtig nicht sichtbar ist; 2. daß sie über den Gegenstand vorher verfügt hat; 3. daß ihre Handlungen geeignet sind, den Gegenstand aufzufinden. Dieses dreifache Wissen muß der Dame zugeschrieben werden können, damit wir sicher wissen können, daß sie ihren Schlüssel sucht. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob ihr Wissen richtig oder falsch ist — sind in den Augen des Beobachters alle drei Annahmen falsch, dann ist ihr Wissen eingebildet, aber sie sucht trotzdem einen — imaginären — Schlüssel. Weiterhin braucht sie nicht einmal zu wissen, welchen Gegenstand sie sucht; sie kann dies beim Suchen selbst vergessen haben. Aber wir, als Beobachter, können in der Lage sein, aufgrund unseres sonstigen
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Wissens, die Wissenslücke aufzufüllen. Das Schlüssel-Suchen hat eine besondere Form. Insofern können wir in einigen Fällen mehr wissen als die handelnde Person selbst. Die komplexe Form der Annahme (4) tritt insbesondere in den Beispielen 5, 6 und 7 auf: Bei Hausbesitzer Fies nimmt das Wissen die Form einer ausgearbeiteten empirischen Hypothese an, die einer Bestätigung durch Experimente fähig ist. Frau Treus Wissen ist noch um einiges komplexer: Ihr Wissen umfaßt mutmaßliches Wissen einer dritten Person, nämlich Annahmen, die sie ihrem Mann zuschreibt. Eine der mutmaßlichen Annahmen ihres Mannes, diejenige, daß sein Souvenir verborgen gehalten werden muß, bezieht sich auf ihre eigenen Reaktionen: Frau A nimmt an, daß ihr Mann annimmt, daß sie normalerweise nie ein Papiertaschentuch verdächtigen würde. Mit der Verkettung des Wissens, daß ich weiß, daß er weiß, daß ich weiß, ist die einfachste Struktur des Verdachts angegeben4. Im Fall des Politikers kann das mythologische Wissen falsch sein: Vielleicht kümmert sich nie ein Biograf und auch sonst niemand um die mythische Dreizahl, weil kein Mensch außer Herrn A das magische Wissen über das dritte Mandat hat; es gehört in diesem Fall vielmehr seiner strikt individuellen Mythologie an. Aber der irrtümliche Bezug auf das Wissen anderer hat nicht zur Folge, daß seine Handlungsbegründung falsch ist. Das eingebildete Wissen über ein Wissen anderer Personen, das in Wirklichkeit nicht existiert, kann eine Handlung durchaus begründen. Nur die Wirkung der Handlung wird verfehlt.
1.1.3
Reduktion und Einzigartigkeit
Die Annahmen (1) bis (4) sind die Grundlage, auf der eine moderne Theorie des Symbolischen Wissens aufgebaut werden kann. Die (ältere) Hermeneutik ist nie so weit gelangt: Im Gegenzug zu ihrem hochentwikkelten Problembewußtsein hat sie sich, nach einer genialen Anfangsphase (dem frühen Schleiermacher), in einen Weg verrannt, der sie immer weiter von den empirischen Wissenschaften entfernte. Max Weber hat dies auf dem Höhepunkt der hermeneutischen Theorieentfaltung mit unvergleichlicher Schärfe erkannt und die Verstehens-Theorie einem kritischen 4
Vgl. zu den vielfältigen Perspektiven von Alltags-Kommunikation R. Laing, Self and Others.
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Examen unterzogen, in dem alle entscheidenden Schwächen schonungslos bloßgelegt werden5. Der Vorwurf gegen die Hermeneutik richtet sich insbesondere auf die Ausarbeitung der 4. Annahme, Symbolisches Wissen sei ein Wissen über Wissen. In einer gängigen Sprechweise kann man die Annahme so ausdrücken: Symbolisches Wissen ist ein Wissen auf der Metastufe über ein Wissen auf der Objektstufe. Das Wissen auf Objekt- und Metastufe kann eine analoge Struktur haben. Beide Wissensarten unterscheiden sich wesentlich nur in dem Grad ihrer Explizitheit: Wissen auf der Metastufe ist explizites, formuliertes und ausgearbeitetes Wissen; auf der Objektstufe ist es den Handelnden in den seltensten Fällen bewußt, es ist im Handeln implizit vorhanden, und es bleibt in vielen Fällen fragmentarisch. Die Hermeneutik, mit Ausnahme Schleiermachers und Boeckhs, unternimmt alles, um die Unterschiede zwischen den beiden analogen Wissensarten zu verwischen. Das Wissen auf der Objektstufe wird, soweit es möglich ist, als ein Amalgam von psychischen Zuständen des Handelnden aufgefaßt und das Wissen auf der Metastufe als dessen exakte Nacherzeugung. Zwei Bewegungen verschmelzen in dieser Entwicklung miteinander: die Rückführung von Ereignissen auf eine einzigartige Subjektivität und das Verlangen einer wissenschaftlichen Erforschung dieser individuellen Triebkräfte von Ereignissen — ein romantischer und ein positivistischer Zug. Den Höhepunkt erreicht diese Art positivistischer Romantik in Diltheys Zergliedernder Psychologie (Dilthey 1 ): Die romantische Idee der unausschöpfbaren Menschennatur geht eine turbulente Ehe mit dem positivistischen Reduktionismus-Gedanken ein — alle Menschennaturen sind nichts anderes als Systeme, aufgebaut aus denselben psychischen Elementen, aber jedes Elemente-System ist einzigartig. Die Verbindung hält nicht lange. Dilthey löst sie auf zugunsten einer nüchternen kognitiv orientierten Theorie des Wissens, die unter der von Hegel und Husserl beeindruckten Kruste seiner späteren Philosophie (Dilthey2) zum Vorschein kommt. Der Vorwurf, den die Hermeneutik seit Max Weber auf sich zieht, ist kurz dieser: Sie reduziert das Wissen auf der Objektstufe auf mentale Zustände, wie Wollen, Absichten, Volitionen, Dispositionen. Als mentale Zustände könnte man höchstens die Handlungsgründe in den beiden ersten Beispielfällen (in 1.1.1) ansehen. Anhand der anderen Beispiele M. Webers Kritik findet sich besonders in den Aufsätzen über Röscher und Knies sowie in der Abhandlung über Kategorien der verstehenden Soziologie; vgl. die Kernpunkte seiner Kritik S. 103 f., 123, 125 f. und S. 423.
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
können wir uns sofort vergewissern, daß handelnde Personen überpersönliches Wissen, das sich nicht mehr auf Subjekt-Zustähde zurückführen läßt, verwenden: Beim Codewechsel sind Einschätzungen der Sprechsituationen sowie sprachliche und gesellschaftliche Normensysteme beteiligt. Das rituelle Verhalten geht auf die Kenntnis von Konventionen der Platzreservierung zurück. Besondere Kenntnisse über die Person, die Psyche des Handelnden, würden wir für die Erklärung seines Handelns nur dann brauchen, wenn die Normalität des Autors in Frage stehen würde, wenn anstelle eines üblichen Gegenstandes z. B. ein intimes Objekt: ein Gebiß, auf dem Rasen liegen würde. Sie könnten auch dann notwendig sein, wenn das Verhalten des Gegenstandes nicht normal wäre, wenn aus der Sonnenölflasche zum Beispiel dicke Rauchschwaden dringen würden. — Hausbesitzer Fies verfügt über eine genaue Kenntnis seines Briefpartners; seine Handlung beruht aber ebenso auf populärem medizinischen Basiswissen. In Frau Treus Taschentuch-Hypothese geht eine naive Theorie amourösen Verhaltens außerehelicher Partner ein. Selbst die PrivatMythologie des Politikers ist nicht einzigartig; ihre Entstehung läßt sich aus literarischen Vorbildern (z. B. die epische Dreizahl) erklären. Sie geht insofern auf ein über-individuelles Wissen zurück. 1.1.4
Der dialogische Austausch von Wissen
Der frühe Schleiermacher erkennt als erster, daß Wissen auf der Metaund auf der Objektstufe eine analoge Struktur haben kann6. Er gewinnt damit eine wesentliche Einsicht in den wissenschaftstheoretischen Status der hermeneutischen Handlungserklärung. Seine Idee ist folgende: Der Handelnde, dessen Wissen die Hermeneutik zu rekonstruieren unternimmt, verwendet bei seinen Handlungen selbst ständig eine .natürliche Hermeneutik', konstituiert durch die Verfahren, Regeln, Annahmen, Generalisierungen, mit deren Hilfe der Handelnde sein Wissen über das Wissen von Personen, über Situationen und Institutionen gewinnt. Die Objektstufe der Hermeneutik (das Wissen der beobachteten Person) ist selbst wieder eine Metastufe im Verhältnis zur Objektstufe, die aus dem Wissen fremder Personen gebildet wird. Jeder gesellschaftliche Akteur besitzt ein Wissen über Wissen anderer Personen; jeder Handelnde baut eine mehr oder weniger entwickelte natürliche Hermeneutik auf. Diese ist an der Planung und Formung seines Handelns beteiligt. Herr A verweigert die Beziehung zur Familie Streng; er kennt die engen und verletzli6
Schleiermacher bedient sich noch nicht der modernen Terminologie, aber deren Verwendung ist eine gute Hilfe, um seine Überlegungen auszudrücken.
1.1 Der Entwurf des hermeneutischen Forschungsbereichs
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chen Vorstellungen der Strengs über gesellschaftliches Verhalten; seine Verweigerung nimmt die Form von Verletzungen des Höflichkeitskodex' an. Hausbesitzer Fies kennt die starre Haltung, mit der sein Mieter A jede Mieterhöhung verweigert, und er kennt dessen unkontrollierbare RattenPhantasien sowie dessen gesundheitliche Schwäche; seine Handlung, die das Ziel hat, seine Miete heraufzusetzen, kann er ausführen, indem er A's physische Existenz gefährdet; er gibt seiner Handlung sehr umsichtig die Form einer nicht nachweisbaren, aber genau gezielten Tötung. Ich werde annehmen: Handeln wird geplant und erhält eine Form in Hinsicht auf die Personen, die das darin ausgedrückte Wissen des Handelnden entschlüsseln. Menschliches Handeln ist in dieser Interpretation ein Zug in einem Wissens-Austausch7. Man kann diesen Austausch so beschreiben, daß er durch die Interaktion von zwei Dialogrollen aufgebaut ist, wobei eine Rolle vom Handelnden, die andere vom Beobachter eingenommen oder, wie man sagen könnte, gespielt wird8. Der Austausch oder Dialog kann eine unveränderliche Struktur haben und Rollenwechsel verbieten: Der Handelnde kann nicht zum Beobachter werden, der Beobachter nicht handeln. Dies ist der Fall zum Beispiel bei rein beobachtenden Dialogpartnern, wie im Fall des Suchens. Oder der Dialog schreibt die Rollenverteilung nicht starr vor, sondern erlaubt einen Rollenwechsel. In diesem Fall kann aus dem Handelnden im Verlauf des Dialogs ein Beobachter, aus dem Beobachter ein Handelnder werden, wie im Fall 6 aus dem Ehemann, der das Taschentuch parfümiert und einsteckt, der Beobachter und aus seiner Frau, die vorher den Vorgang erkannt und beobachtet hat, die handelnde Person wird, wenn Frau Treu abends ihren Ehemann zur Rede stellt. Es kann auch ausreichend sein, wie im Fall 7, daß der Beobachter nur der Möglichkeit nach angenommen wird. Der Dialog ist in diesem Fall nur hypothetisch; er ist z. B. in den Annahmen des Handelnden konzipiert, aber es kann vorkommen, daß der Dialogpartner anders reagiert, als der Handelnde angenommen hat. Gerade in diesem Fall kann uns die Rekonstruktion des hypothetischen Dialogs die wichtigsten Aufschlüsse über das Handeln geben, weil der Verlauf des tatsächlichen Geschehens keinen Anhaltspunkt für den Sinn der vorhergehenden Handlung enthält. 7
8
Diese Deutung menschlicher Handlungen läßt sich nicht auf alle Handlungsarten anwenden. Sie bezieht sich insbesondere auf partnerbezogenes Handeln, das in sozialen Interaktionen auftritt. Habermas entwirft in seiner Abhandlung über die Hermeneutik ein „Modell der Teilnahme an einer eingelebten Kommunikation" (226). Vgl. Habermas, S. 227.
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
Der Hermeneutiker tritt als Wissenschaftler in den Austausch des Wissens ein. Diese Rolle verlangt, daß er zwei Aufgaben erfüllt: (1) daß er den Platz eines potentiellen Handelnden einzunehmen in der Lage ist; (2) daß er weiterhin Wissenschaftler bleibt. Beide Aufgaben sind lösbar, dadurch daß der Hermeneutiker das Wissen des Handelnden und des Handlungspartners, in Hinsicht auf den die Handlung ihre Form erhält, erwirbt und dadurch daß der Wissens-Erwerb auf wissenschaftlich rekonstruierende Weise vor sich geht. Der Wissenschaftler hat die Aufgabe, zweierlei zu rekonstruieren. Einmal das Wissenssystem des Handelnden; es enthält neben vielen über-persönlichen Komponenten auch Wissen über das Wissen anderer Personen, und dieses kann stark persönlich geprägt sein. Zum ändern das Wissenssystem der Handlungspartner; diese treten nicht immer als individuelle Personen auf und dann auch nur als Personen von der Art, wie sie der Handelnde wahrnimmt und einschätzt. Das Wissen der Partner besteht in der Mehrzahl der Fälle aus Kenntnissen, die die umgebende Gesellschaft über das Handeln, den Handelnden, das Handlungsziel, die Mittel, die anderen Personen, Institutionen etc. ausgebildet hat. Es ist ein gesellschaftliches Wissen, über das die möglichen Partner des Handelnden (idealerweise) verfügen können. Das Wissen auf der Metaebene hat eine zu dem Wissen auf der Objektebene analoge Struktur aufgrund des dialogischen Charakters von Handlungen9. Der Hermeneutiker ist bei seiner Arbeit ein Teilnehmer am Dialog. Aber eine Einschränkung ist zu machen: Der Dialog, in dem sich der Hermeneutiker mit dem Handelnden befindet, ist ein hypothetischer. Der Handelnde bringt in den Austausch sein Wissen ein, indem er seinem Handeln eine bestimmte Form gibt. Aber nichts garantiert, daß sein Wissen mit dem Wissen der Gesellschaft übereinstimmt. So kann es geschehen, daß der Handelnde seine Mitteilung ausdrückt, der Hermeneutiker aber einen ganz anderen Gebrauch davon macht. Der Austausch von Handlungen findet tatsächlich statt; der Austausch von Wissen wird nur angenommen; die Identität des ausgetauschten Wissens bleibt ungewiß. Der Unterschied zwischen natürlicher und wissenschaftlicher Hermeneutik liegt darin, daß für den Handelnden das gewonnene Wissen über das Wissen seines Partners Auswirkungen auf sein Weiterhandeln hat. Der Wissenschaftler rekonstruiert hingegen ein Weiterhandeln nur der Möglichkeit nach. Gadamer führt den Begriff des „hermeneutischen Gesprächs" ein; vgl. Gadamer 1960,5.365.
1.1 Der Entwurf des hermeneutischen Forschungsbereichs
1.1.5
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Die hermeneutische Theorie des Verstehens und die analytische Philosophie
Das hermeneutische Problem des Verstehens deute ich unter dem Aspekt des Symbolischen Wissens in folgender Weise: Das Verstehen ist ein Verfahren, Symbolisches Wissen zu gewinnen. Es wird ständig verwendet, um Ereignisse zu erzeugen, zu modifizieren und zu erklären, zum einen von den handelnden Personen, zum ändern von den tatsächlichen oder hypothetischen Handlungspartnern. Auf der Ebene des Handelns ist es ein natürliches Verfahren. Der Hermeneutiker verwendet auf der wissenschaftlichen Ebene Verfahren der Rekonstruktion. Die Struktur und der wissenschaftstheoretische Status beider Verfahren, des natürlichen und des wissenschaftlichen, wird in der hermeneutischen Theorie des Verstehens dargestellt. Die Arbeiten zur Verstehens-Theorie sind die ersten umfassenden Untersuchungen über Symbolisches Wissen. Es gibt gegenwärtig ein merkwürdiges Junktim, das besagt: (1) Eine Theorie des Verstehens10 kann nur auf der Grundlage einer nichtanalytischen Philosophie aufgestellt werden, und (2) die analytische Philosophie hat das Verstehen durch andere Verfahren, insbesondere durch die nomologische Erklärung, zu ersetzen". Dieses Junktim ist durch historische Kontingenz zustande gekommen, durch die Entwicklung der Theorie der historischen Wissenschaften (insbesondere durch Dilthey und die historische Schule) auf der einen und der positivistischen Philosophie (Comte, J. St. Mill, Neupositivismus) auf der anderen Seite. Ich werde versuchen, dieses Junktim aufzulösen. Dabei nehme ich an: 1. daß die ältere Hermeneutik mehrere Grundsätze des Erklärens menschlicher Handlungen mit Hilfe des Verstehens aufgestellt hat, die für die Erklärung einer großen Zahl von Fällen menschlichen Handelns wichtig sind; 2. daß die analytische Philosophie, von seltenen Ausnahmen abgesehen, diesen Grundsätzen jede Berechtigung abspricht; 3. daß sich diese Grundsätze mit Hilfe von Annahmen, Verfahren und Resultaten der analytischen Philosophie und einzelwissenschaftlicher 10
Der Ausdruck „Theorie des Verstehens" bezieht sich hier auf die hermeneutische Theorie des Sinn-Verstehens. 1 ' Dieses Junktim wird insbesondere von H. Alben vertreten, vgl. dazu Albert, Hermeneutik und Realwissenschaft. Die Sinnproblematik und die Frage der theoretischen Erkenntnis.
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
Theorien rekonstruieren lassen, und zwar in der Weise, daß ihre Besonderheit weitgehend erhalten bleibt. Worin bestehen die Einwände der analytischen Philosophie gegen das Verfahren des Verstehens? Ich werde sie im folgenden am Beispiel eines Klassikers der Verstehens-Kritik, an Th. Abels, An Operation Called, Verstehen', herausarbeiten. Das hermeneutische Verstehen beruht nach Abel auf Verhaltensmaximen, die nichts anderes sind als „Generalisierungen direkter persönlicher Erfahrung, die aus Introspektion und Selbstbeobachtung hergeleitet sind" (684; ebenfalls 678, 680, 682). Das Verstehen ist letztlich in der Anwendung „persönlicher Erfahrung auf beobachtetes Verhalten" (684) begründet. Aus diesem Grund können wir durch das Verstehen eigentlich keine neuen Einsichten erhalten. Es kann bestenfalls bestätigen, was wir ohnehin schon wissen (684, 687). Dieser Kritik kann mit dem Argument entgegnet werden, daß in das Verstehen vor allem über-persönliche, sozial geformte und theorieartige Annahmen sowie gesellschaftliche Normen, Regeln, Glaubenssätze eingehen, daß die individuellen Elemente weitgehend aus gesellschaftlichen entwickelt werden und daß Verstehen notwendig ist, um den Kontext, in den Ereignisse eingebettet sind, rekonstruieren zu können, daß Verstehensverfahren also für empirische Wissenschaften von Belang sind. Aber folgende Einwände Abels gegenüber dem Verfahren des Verstehens bleiben bestehen: (l)Die einzige Gewißheit, die der Verstehende hat, liegt darin, daß seine Interpretation korrekt sein könnte (679). Die Sinn-Interpretation des Handelns einer anderen Person ist nur eine mögliche (685). (2)Das Verfahren des Verstehens „ist keine Methode der Verifikation" (685). Es „dient nicht als ein Mittel der Verifikation" (687). (3) Prognosen auf zukünftiges Verhalten aufgrund von Verstehen stoßen auf diese Schwierigkeit: „Um „die besondere Form, die die Reaktion annehmen wird", vorhersagen zu können, sind „Informationen erforderlich, welche das Verstehen nicht liefert" (686). (4) Das Verfahren des Verstehens setzt uns nicht instand, „Wahrscheinlichkeiten zu bewerten" (686). Abel schließt in Anbetracht dieser vier Argumente, daß das Verstehen höchstens als heuristische Methode verwendbar sei (685). Die vier Einwände Abels haben Gewicht; sie werden in der analytischen Philosophie allgemein geteilt. Sie zielen, über die Hermeneutik hinaus, allgemein auf die Kritik an der Annahme, die Gewinnung Symbolischen Wissens könnte wissenschaftlich nutzbar gemacht werden. Wenn
1.2 Das Ziel des hermeneutischen Verstehens
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man diese Annahme aufrecht erhalten will, muß man die Einwände entweder zurückweisen oder, wenn Abel Recht zu geben ist, zeigen, daß seine Kritik keine echten Mängel aufzeigt. Ich werde im folgenden die beiden wichtigsten hermeneutischen Verstehens-Theorien darstellen und auf ihre Verwendbarkeit für eine Theorie des Symbolischen Wissens hin überprüfen. Dabei gehe ich, nachdem ich die Grundbegriffe der Hermeneutik kurz expliziert habe, historisch vor. Ich beginne mit dem frühen Schleiermacher und verfolge die zunehmende Psychologisierung der Verstehens-Theorie und deren partielle Zurücknahme bei Dilthey. 1.2 Das Ziel des hermeneutischen Verstehens: Sicheres Wissen Nichts ist abwegiger, als sich vorzustellen, die Hermeneutiker seien leichtfertige Theoretiker gewesen, die sich sorglos dem Verfahren des Verstehens anvertraut hätten. Im Gegenteil; aus allen Texten Schleiermachers, Boeckhs, Diltheys spricht die Anstrengung, bei ihrem Vorgehen gerade die Schwächen zu vermeiden, die — viel später — Abel ihnen vorwirft (insbesondere mit den beiden ersten Vorwürfen). Das Wissen, das durch Verstehen gewonnen wird, darf nicht beliebig, nicht bezweifelbar sein — dies ist die Maxime der wissenschaftstheoretischen Überlegungen der älteren Hermeneutik. Wie kann die Beliebigkeit des Verstehens verhindert werden? — Der Irrweg der Hermeneutik beginnt mit dieser frage: Sie legt die Annahme zugrunde, daß wir uns bei der Rezeption von Symbolen in beliebiger Weise verhalten können, und setzt die zweite Annahme dagegen, daß die Beliebigkeit zu verhindern ist, wenn prinzipiell nur ein einziger Weg der Rezeption verfolgt wird, der Weg, der auf den Autor von Ereignissen zurückführt. Das Wissen, das auf diesem Weg gewonnen wird, ist nach hermeneutischer Meinung sicheres Wissen. Diese Konzeption formt die Grundannahmen der älteren Hermeneutik, die ich in 1.2.1, 1.2.2 und 1.2.3 darstellen werde. Zwei Ausnahmen sind zu erwähnen: der frühe Schleiermacher und Boeckh. Beide vermeiden die dargestellte Konzeption; sie stellen andere Annahmen auf, die sich dadurch besonders auszeichnen, daß sie nicht von der prinzipiellen Beliebigkeit des Verstehens ausgehen und auch nicht die Forderung nach sicherem Wissen erheben. 1.2.1
Biografie, Zirkel, Authentizität
Der Fall 6 unserer Beispiele ist von der Art, wie sich die Hermeneutiker die Anwendung des Verstehens-Verfahrens vorstellen. Frau Treu ist in der
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
Lage, aus der intimen Kenntnis ihres Mannes den Grund für dessen Handeln, ein Taschentuch parfümiert bei sich zu tragen, zu ermitteln. Sie hat eine genaue Kenntnis des Lebens ihres Mannes; sie kennt seine Vorlieben und Schwächen; sie weiß, wie ihre Ehe sich im Laufe der Zeit entwikkelt hat; sie ist über seine Bekanntschaften informiert; sie kann überprüfen, wie viele Stunden wöchentlich ihr Mann aus ihrem Beobachtungsfeld verschwindet. Kurz gesagt, es ist die genaue Kenntnis von biografischen Elementen des Herrn Treu, mit deren Hilfe der Fall 6 aufgeklärt wird. Dieses ist ein Modellfall für die hermeneutische Theorie des Ereignisverstehens. Das Ereignis ist fest eingebunden in die Biografie des Autors. Eine zweite Grundannahme der Hermeneutiker bezieht sich auf die Interdependenz von Deutungen und Wissen im Verstehen: Die Deutung des Taschentuchs und von dessen Verhalten sowie Frau Treus Wissen über den Handlungsgrund des Autors sind mehrfach aufeinander bezogen: Die Deutung des Taschentuchs und von dessen Verhalten sowie die Kenntnis des Handlungsgrundes von Herrn Treu werden in Abhängigkeit voneinander gewonnen. Ebenso ist ihre Geltung voneinander abhängig. 1. Die Deutung der Funktion des Taschentuchs, es sei eine intime Repräsentation einer dritten Person, geht aus von der Deutung des Verhaltens des Taschentuchs, daß es, in der Jackentasche mitgeführt, ein unauffälliges Geruchserlebnis ermöglicht, und von der vorläufigen Annahme über den Handlungsgrund, nämlich daß Herr Treu Frau A liebt und daß ein Parfüm ihn in Kontakt mit seiner Geliebten bringt. 2. Die Deutung des Verhaltens des Taschentuchs hängt davon ab, daß der Gegenstand als eine intime Repräsentation gedeutet wird, und weiterhin von der vorläufigen Annahme über den Handlungsgrund, über die Liebe von Herrn Treu und seinen Wunsch, Frau A wenigstens geruchlich nahe zu sein. 3. Die Annahme über den Handlungsgrund von Herrn Treu hängt von den Annahmen ab, daß das Taschentuch Frau A repräsentiert und daß es eine unauffällige Kommunikation mit Frau A über den Geruchssinn ermöglicht. Die Hermeneutiker nennen dieses Verhältnis der Interrelation von Deutungen und Annahmen „hermeneutischen Zirkel". In meiner Darstellung habe ich eben so getan, als handle es sich um einen echten Zirkel. Aber dies ist nicht der Fall, denn die beiden jeweils vorausgesetzten Annahmen, die man benötigt, um die Deutung oder Kenntnis einer Instanz zu erhalten, liegen nicht in ausgearbeiteter, klarer Form vor. Frau Treu beginnt ihre Deutung der Funktion des Taschentuchs mit Ahnungen, Vermutungen, Raten. Erst im Verlauf des Verstehens, beim sukzessiven
1.2 Das Ziel des hermeneutischen Verstehens
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Durchlaufen der einzelnen Instanzen unter dem Gesichtspunkt einer Deutungshypothese, kommt eine feste Gestalt der Annahmen und Deutungen zustande12. Das Wissen, das mit Hilfe des Zirkels zustande kommt, soll nach hermeneutischer Forderung sicheres Wissen sein. Zunächst ist dies eine Forderung, die von den pragmatischen Umständen her, aus denen heraus das Verstehen angewendet wird, erhoben wird. Im Beispielfall 6 kann der Grund, den Frau Treu für das Einstecken des parfümierten Taschentuchs ermittelt hat, Anlaß für eine neue Handlung sein: Frau Treu trennt sich von ihrem Mann. Ihr Trennungsentschluß beruht allein auf dem Ergebnis ihres Verstehens. Frau Treu muß also vollkommen sicher sein, daß sie richtig verstanden hat. Andererseits hat sie keine Möglichkeit, ihre Annahmen endgültig zu verifizieren. Ihr Mann streitet alles ab, aber genau das muß er auch tun, wenn die Annahmen seiner Frau richtig sind. Es gibt keine Person, die Herrn Treu mit Frau A zusammen gesehen hat. Auch das ist zu erwarten, da Herr Treu ein überaus vorsichtiger Mensch ist. Aber es gibt große Lücken im Zeitplan von Herrn Treu, über die er keine Rechenschaft abzulegen imstande ist. Zum Zeitpunkt der Handelsmesse, die er besucht hat, befand sich Frau A auf Reisen. Hinzu kommen Blicke, Vertraulichkeiten, überraschende Geschenke, Stimmungsumschwünge, geheimnisvolle Telefonate etc. Frau Treu häuft ein Gesamtwissen an, das ihr schließlich die Gewißheit gibt, daß sie sich in ihren Annahmen nicht mehr täuschen kann. Alle Annahmen, die in ihrem Verstehen der Handlung ihres Mannes enthalten sind, können vollständig aufeinander bezogen werden — wie wenn alle Steine eines Puzzles in die vorgesehenen Positionen fallen. Die Hermeneutiker meinen, es gäbe nur einen einzigen Fall, in dem dies möglich ist: wenn man den Autor ebenso gut, wenn nicht besser, kennt wie sich selbst. Wenn dies der Fall ist, führt das korrekte Verstehen zu sicherem Wissen. Zwei Annahmen sollen dem hermeneutischen Verstehen die Sicherheit des Wissens garantieren: die Zirkelkonstruktion des Verfahrens und der 12
Vgl. Dilthey V, 330 über die „zentrale Schwierigkeit aller Auslegungskunst": „Aus den einzelnen Worten und deren Verbindungen soll das Ganze eines Werkes verstanden werden, und doch setzt das volle Verständnis des einzelnen schon das des Ganzen voraus. Dieser Zirkel wiederholt sich in dem Verhältnis des einzelnen Werkes zu Geistesart und Entwicklung seines Urhebers, und er kehrt ebenso zurück im Verhältnis dieses Einzelwerks zu seiner Literaturgattung . . . Theoretisch trifft man hier auf die Grenzen aller Auslegung, sie vollzieht ihre Aufgabe immer nur bis zu einem bestimmten Grade: so bleibt alles Verstehen immer nur relativ und kann nie vollendet werden. Individuum est ineffabile."
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
Rückgang auf die Biografie des Autors. Die Überlegung der Hermeneutiker läßt sich am Beispiel des Puzzles plausibel machen. Nehmen wir an, die Gesamtheit der vor uns liegenden Puzzlesteine wird von einer Person A so angeordnet, daß alle Steine zusammenpassen und das Motiv MI ergeben. Von der Person B werden aber dieselben Steine in einer ganz anderen Weise angeordnet, auch bei ihm passen die Steine zusammen, ergeben aber ein ganz anderes Motiv, M2. Wer hat recht? Man kann bezweifeln, daß diese Frage sinnvoll ist. Nicht so die Hermeneutiker: Es gibt praktische Gründe, die in vielen Fällen eine einzige Interpretation verlangen, z. B. juristische und theologische Fragen. Die Hermeneutiker halten das Problem für sinnvoll und entscheidbar: Das Puzzle ist ein menschliches Produkt; es ist ursprünglich von einem Autor hergestellt worden. Das Problem läßt sich lösen, wenn wir nachforschen, welches der beiden Motive, M, oder M2, der Autor, wenn auch unbewußt, bei seiner Handlung herzustellen beabsichtigte. In hermeneutischer Terminologie ausgedrückt: Im Geiste des Autors können wir uns der Wahrheit des Verstehens versichern13. Eine Entscheidung über Wahrheit oder Falschheit des Verstehens ist möglich, weil dieses sich auf Produkte des menschlichen Geistes bezieht: Was wir selbst hergestellt haben, darüber ist Erkenntnissicherheit möglich — certum quod factum. Die Hermeneutiker identifizieren drei Sachverhalte miteinander: die Sicherheit, die Authentizität und die Wahrheit der Erkenntnis. Im Prinzip argumentieren sie in folgender Weise: Sie fordern: 1. der Verstehende müsse sichere Erkenntnis gewinnen. Sicherheit des Erkennens könne nur erreicht werden, wenn der Verstehende 2. den authentischen Handlungsgrund des Autors kenne, dann sei 3. die durch das Verstehen gewonnene Erkenntnis wahr. Authentizität und Wahrheit der Erkenntnis sind, nach Annahme der Hermeneutiker, nichts anderes als zwei Seiten des sicheren Wissens. 1.2.2
Die Sinn-Semiosis als sekundärer Akt
Nach der hermeneutischen Theorie sollen im Verstehen authentische Handlungsgründe ermittelt werden. Diese Forderung kann nur dann erfüllt werden, wenn man annimmt, daß die Gründe in der Psyche des 13
Das wissenschaftliche Verfahren soll den Hermeneutiker in die Lage versetzen, im Geist des Autors besser zu lesen als dieser selbst. Vgl. Dilthey V, 331: „Das Ziel des Hermeneutischen Verfahrens ist, den Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat. Ein Satz, welcher die notwendige Konsequenz der Lehre von dem unbewußten Schaffen ist."
1.2 Das Ziel des hermeneutischen Verstehens
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Autors vorhanden sind: Die Intentionen und Annahmen sind nach hermeneutischer Theorie in der Psyche des Autors bei seinem Handeln gegenwärtig, und zwar — so die Hermeneutik in ihrer psychologistischen Version — als ein identifizierbares, hervorhebbares, abgrenzbares Ereignis. Das Verstehen der authentischen Gründe ist vom Verstehen sprachlicher Ausdrücke scharf unterschieden. Es sind zwei vollkommen verschiedene Verfahren: Einmal handelt es sich um ein „Erfassen eines realen fremden Seelenverlaufs" (Ricken), „einer Persönlichkeit" (Lipps), zum ändern um die Zuordnung einer semantischen Interpretation zu überindividuellen syntaktischen Strukturen. Das erste kann man nach einer gängigen hermeneutischen Terminologie als ,Sinn-Verstehen', das zweite als ,Sprach-Verstehen' bezeichnen. Das Sinn-Verstehen baut, nach der hermeneutischen Theorie, auf dem Sprach-Verstehen auf: Wenn wir Lebenszeugnisse einer Person lesen, verstehen wir zunächst die einzelnen Ausdrücke und Sätze. Erst dann geben wir dem, was wir im Sprach-Verstehen erhalten haben, in einem zusätzlichen Verfahren, in einem sekundären Verstehen einen Sinn. Ganz analog gehen wir vor, wenn wir nichtsprachliche Handlungen verstehen: In einem ersten Verfahren, das dem Sprach-Verstehen analog ist, werden die über-individuellen Handlungsstrukturen erfaßt; in einem zweiten wird der individuelle Sinn der Handlungen rekonstruiert. Nennen wir den Vorgang des Sinn-Verstehens in Anlehnung an C. Morris Sinn-Semiosis^ und kennzeichnen wir ihn auf diese Weise als ein allgemeines semiotisches Problem. Das zweiteilige Schema eines doppelten Verfahrens, das die Hermeneutiker für die Sinn-Semiose vorschlagen, entspricht nicht den Einsichten von intuitiven Beobachtern. Anstelle einer vorläufigen Interpretation von überindividuellen Strukturen, die 14
C. Morris entwickelt den Begriff der „semiosis" in Bezug auf die Konstruktion von Bedeutungen; mit dem Problem einer spezifischen Sinn-Konstitution befaßt er sich nicht. Seine Konzeption der „semiosis" stellt er zuerst in Morris 1938 dar. 1964 nimmt er sie wieder auf: „Semiosis (or sign process) is regarded as a five-term-relation — v, w, x, y, z — in which v sets up in w the disposition to react in a certain kind of way, x, to a certain kind of object, y (not then acting as a stimulus), under certain conditions, z. The v's, in the cases where this relation obtains, are signs, the w's are interpreters, the x's are interpretants, the y's are significations, and the z's are the contexts in which the signs occur" (2). Nach Morris' Konzept sind „significations" keine Entitäten „in any objectionable sense, but certain describable aspects of complex behavioral processes in the natural world" (3). „Meaning" eines Zeichens „is both its signification and its interpretant, and neither alone" (9).
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
anschließend einer Sinn-Konstitution unterworfen wird, scheint die SinnSemiosis vielmehr ein einziger kreativer Akt zu sein. Als eindrucksvollster Zeuge läßt sich Proust zitieren. Die „Recherche du Temps Perdu" kann als eine monumentale Anstrengung interpretiert werden, die Konstitution des Sinns von Handlungen der Vergangenheit, die einer gesuchten und bewußt eingesetzten Sinn-Semiosis unterzogen wird, so scharf, wie es irgend möglich ist, zu beschreiben. Ein eminenter Fall der Sinn-Semiosis eröffnet Proust einen Zugang zu einer Sinn-Erforschung seiner Kindheit in Combray: die unerwartete und ungeheuer starke Erfahrung, daß der Geschmack der kleinen Madeleines, die er bei einer Gelegenheit zu sich nimmt, einen zunächst unbekannten, aber fest bestimmten Sinn für ihn hat. Es gelingt ihm, den genauen Sinn zu erfassen: Es ist der Geschmack des kleinen Stücks Madeleine, das ihm in seiner Kindheit sonntags seine Tante Leonie gab, wenn er sie in ihrem Zimmer besuchte. Eine Fülle von anderen Ereignissen und Erfahrungen nehmen im Erzähler Gestalt an. In einem kreativen Akt werden sie sinnhaft interpretiert und auf diese Weise konstituiert. Prosts Nachforschung in der Temps Perdu ist keine Suche auf dem Speicher der Erinnerung, wo bereits sinnhaft interpretierte Ereignisse und Erfahrungen abrufbereit vorliegen, sondern eine Neukonstitution von Ereignissen und Erfahrungen der Vergangenheit in der Sinn-Semiosis: „Chercher? pas seulement: creer « I S. Prousts Überlegungen lassen sich zu folgender These generalisieren: Wenn wir den Sinn von Handlungen verstehen, konstituieren wir in einer bestimmten Weise die Handlungen selbst. Auf das sprachliche Verstehen übertragen, heißt dies: Wenn wir den Sinn von Texten verstehen, konstituieren wir in einer bestimmten Weise die Texte selbst16. Die Annahme eines doppelten Verstehens läßt diese These nicht zu. Der Sinn ist daran beteiligt, syntaktische Strukturen zu konstituieren. Umgekehrt, dies ist eine weitere Einsicht Prousts, die ich im 8. Kapitel darstellen werde, können Nuancen der syntaktischen Struktur von Texten unmittelbar sinnkonstitutiv sein. 1.2.3 Das Individuelle im Allgemeinen entdecken Das hermeneutische Verstehen unterscheiden die Hermeneutiker vom Sprachverstehen darin, daß es die authentischen Handlungsgründe erfaßt. 15 16
„Suchen? nicht allein: erschaffen" (Editions de la Pleiade I, 45). Es wird noch zu klären sein, was es heißt, daß Handlungen und Texte ,konstituiert' werden.
1.2 Das Ziel des hermeneutischen Verstehens
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Es wird als ein Verfahren entworfen, das hinter die über-persönlichen Strukturen von Sprache und Handeln vordringt und die Subjektivität erschließt, die sich in den intersubjektiven Strukturen von Sprache und Handlungen ausdrückt. Für diese Annahme läßt sich folgendes typische Beispiel angeben: Ein Text aus dem Mittelalter wird gefunden. Er wird mit philologischen Hilfsmitteln lesbar gemacht; eine Abschrift kann angefertigt werden. Der Text spricht für sich selbst. Er ist in einer Sprache abgefaßt, die wir verstehen. Im Medium der Sprache, mit Hilfe der verwendeten Ausdrücke, werden Gedanken dargestellt. Wir verstehen sprachlich jedes einzelne Wort — aber verstehen wir auch den ausgedrückten Sinn? Nein, sagen die Hermeneutiker, aus folgenden Gründen ist das unmöglich: Der Text ist in einer anderen Epoche geschrieben worden; die Bedeutung der Wörter waren anders, die Ausdrücke wurden anders gebraucht. Auch jedes Individuum kann Ausdrücke in einer ganz bestimmten Weise verwenden, ihnen durch den Gebrauch eine spezifische Bedeutung geben. In den sprachlichen Ausdrücken des Textes finden wir nur den Abdruck des Denkens eines Subjekts vor, das sich in einer einzigartigen Entwicklungsgeschichte herausgebildet, das auf Traditionen aufgebaut, Zeiteinflüsse aufgenommen, besondere Beziehungen zu Zeitgenossen und Vorläufern unterhalten hat — das Denken ist einzigartig. Wenn das Denken in der Sprache mitgeteilt wird, muß es einen Teil seiner Individualität aufgeben. Ein Text ist für den Hermeneutiker nicht mehr als eine Ausgangsstation: die Öffnung eines Innenlebens nach außen. Das Allgemeine, Öffentliche der Sprache muß beiseite geräumt und die Hinweise auf das Individuelle, das durchscheint, müssen aufgenommen und verfolgt werden. Das Denken kann verstanden werden, wenn es über die Sprache hinaus auf das Leben des Autors zurückgeführt wird. Die hermeneutische Tätigkeit ist im Grunde eine Arbeit gegen die Sprache. Diese muß überwunden werden; hinter sie muß zurückgegangen werden, auf das Leben. So gibt es nach hermeneutischer Annahme die beiden Bereiche: den des Lebens und den der Symbolsysteme. Das Denken bildet sich im Bereich des Lebens und ist nur aus diesem heraus zu erfassen. Der Rückgang des hermeneutischen Verstehens auf das Leben wird von den Hermeneutikern aufgefaßt als eine Revolution des Weltbildes der Philologie: Die Textwissenschaft wird zu einer Lebenskenntnis. Der Hermeneutiker muß Texte nicht nur lesen, sondern auch leben können. Ist die Hermeneutik erst einmal ausgeweitet auf das Verstehen des aus dem Leben entspringenden Denkens, läßt sie sich auch nicht mehr streng auf
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
das Auslegen von Texten begrenzen. In zweifacher Hinsicht geht sie darüber hinaus: Einmal äußert sich das Leben nicht nur in Texten, sondern allgemein in Handlungen. Das Symbolsystem der Sprache ist nur eines der Vehikel, auf dem Residuen von Individuen transportiert werden. Nicht-sprachliche Lebensäußerungen werden in vergleichbaren Symbolsystemen gemacht. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich Alberts polemische Kennzeichnung dieser Ausweitung der Hermeneutik über die Philologie hinaus rechtfertigen: Die Welt wird als Text gelesen17. Die zweite Ausweitung besteht darin, daß der Autor in seinen Handlungen nicht nur sein Denken ausdrückt. Es gibt andere Gehalte, die im Leben des Individuums herausgebildet, in Zeichensystemen andeutungsweise ausgedrückt und auf andere, weniger intellektuelle und weniger bewußte Komponenten des Individuums zurückgeführt werden: auf seinen Willen, seine Gefühle, sein ästhetisches Empfinden etc. Was die Hermeneutik in der Welt „liest", sind Äußerungen der menschlichen Natur. Die Hermeneutik ist aufgrund der beiden Ausweitungen keine Textwissenschaft. Als Philologie ist sie eine Technik. Durch die zweifache Ausweitung wird sie eine Lehre der Kunst, das individuelle Leben im Allgemeinen des Ausdrucks zu erfassen. 1.3 Der Beginn der hermeneutischen Wissenschaft: Schleiermacher Die Hermeneutik entsteht bei Schleiermacher aus symboltheoretischen Überlegungen, interpretiert aber ihre Aufgabe im Laufe ihrer Geschichte zunehmend unter psychologischen Aspekten. Ich werde in einer kurzen Darstellung zeigen, wie sie zur Psychologisierung verführt wurde und welche Überlegungen sie dabei aufgab. 1.3.1
Die frühe Version der Hermeneutik: „Alles was Aufgabe der Hermeneutik sein kann ist Glied eines Sazes"
Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik sind, entgegen einem alten Vorurteil, keine Vorstufe zu einer Theorie des Verstehens „als eines psychologischen Nachkonstruierens beziehungsweise Nacherlebens" (Kimmerle, 5). Die Hermeneutik beginnt anders: mit der Forderung nach einer Theorie; dies ist der Ausgangspunkt der Überlegungen Schleiermachers (Kimmerle, 15). Die Forderung nach einer Theorie des Verstehens von Texten hat ihren Ursprung in der Möglichkeit des Mißverstehens. Sie 17
Vgl. diese Deutung des hermeneutischen Verstehens in: H. Albert 1972.
1.3 Der Beginn der hermeneutischen Wissenschaft
31
wird zunächst von dem Übersetzer und Interpreten Schleiermacher erhoben, um falsche Auslegungen zu vermeiden. Das Mißverstehen „ergiebt" sich in der Textauslegung „von selbst" (Schleiermacher, 82). Das Problem, Mißverstehen zu vermeiden, ist aber nicht auf Texte beschränkt; es stellt sich „überall wo es im Ausdruck der Gedanken durch die Rede für einen Vernehmenden etwas fremdes giebt" (128) 18 . Die Hermeneutik wird nicht länger als eine reine Textwissenschaft aufgefaßt. Schleiermacher hält „diese Ausübung der Hermeneutik im Gebiete der Muttersprache und im unmittelbaren Verkehr mit Menschen für einen sehr wesentlichen Theil des gebildeten Lebens" (130). Das Problem des richtigen Verstehens kann man „nur mit Hilfe unserer Theorie lösen" (128 f.); so weit ist für Schleiermacher das korrekte Verstehen zum Problem geworden. Es gilt ein Verfahren zu rekonstruieren, das wir als eines der wichtigsten Bestandteile unseres Alltagswissens ständig verwenden, von dem wir annehmen, daß jeder (normale) Mensch dazu fähig ist, dessen Erlernung keine besonders bemerkenswerten Anforderungen stellt und dessen Ausübung keine speziellen Kenntnisse verlangt. Dieses Alltagsverfahren, so meint Schleiermacher, ist keineswegs selbstverständlich, unanfechtbar, untheoretisch, sondern beruht auf einer, wie wir heute sagen würden, „natürlichen Theorie", die wir in Interaktionen ständig anwenden19. Die Idee einer Rekonstruktion von Alltagswissen ist der Ausgangspunkt von Schleiermachers Konzeption. Seine zweite Überlegung besteht darin, daß die hermeneutische Theorie notwendig sei, um die soziale Praxis der Alltags-Hermeneutik zu verbessern. Schleiermacher meint, die natürliche Theorie sei nicht ausreichend entwickelt, um falsches Verstehen zu vermeiden. Alltagswissen kann durch eine wissenschaftlich ausgearbeitete Theorie verläßlicher und sicherer gemacht werden. 18
19
Dieser Gedanke wird von der modernen Hermeneutik beibehalten: „Nur weil ein Text aus seiner Fremdheit ins Angeeignete versetzt werden muß, ist für den Verstehenwollenden überhaupt etwas zu sagen" (Gadamer 1960, S. 447), Vgl. Schleiermacher S. 130: „. . . denn ich ergreife mich sehr oft mitten im (Rdb.: vertraulichen) Gespräch auf hermeneutischen Operationen, wenn ich mich mit einem gewöhnlichen Grade des Verstehens nicht genüge sondern zu erforschen suche, wie sich wol in dem Freunde der Uebergang von einem Gedanken zum anderen gemacht habe, oder wenn ich nachspüre, mit welchen Ansichten, Urtheilen und Bestrebungen es wol zusammenhängt, daß er sich über einen besprochenen Gegenstand grade so und nicht anders ausdrückt." „Ja ich gestehe, daß ich diese Ausübung der Hermeneutik im unmittelbaren Verkehr mit Menschen für einen sehr wesentlichen Theil des gebildeten Lebens halte."
32
l Das Grundproblem der Hermeneutik
Die natürliche Hermeneutik ist eine notwendige Bedingung dafür, daß wir mit anderen Menschen in Kommunikation treten können. Sie umfaßt Fähigkeiten, die bereits im Kindesalter erworben sein müssen. Am Beginn der menschlichen Erfahrung ist sie am notwendigsten: „Kinder kommen nur durch Hermeneutik zur Sprachbedeutung". Ein besonderes Problem der wissenschaftlichen Hermeneutik besteht darin, den Ursprung der natürlichen Hermeneutik zu rekonstruieren. Das Verstehen, als autonomes Verfahren, emanzipiert von den Beschränkungen der Theologie und Jurisprudenz, unterliegt „eigenen allgemeinen Gesetzen" (16). Die Grundlage des Verstehens ist in dieser ersten Fassung der Schleiermacherschen Hermeneutik allein die Kenntnis der Sprache. Alles, was wir wissen können, was für das Verstehen erforderlich ist, ist in der Sprache enthalten: „Alles vorauszusezende in der Hermeneutik ist nur die Sprache und alles zu findende, wohin auch die anderen objectiven und subjectiven Voraussezungen gehören muß aus der Sprache gefunden werden" (38)2°. Viel später, bei Ludwig Wittgenstein im ,Tractatus', findet man den ganz ähnlichen Gedanken: „Alles wird in der Sprache ausgetragen". Schleiermacher sagt: „Alles was Aufgabe der Hermeneutik sein (kann) ist Glied eines Sazes" (64)21. Der erste Schritt, den Schleiermacher auf dem Wege zu einer Rekonstruktion der natürlichen Hermeneutik unternimmt, ist die Konzeption einer Bedeutungstheorie: Wörter haben Kernbedeutungen, „eine allgemeine Sphäre der Bedeutung, die aber ,niemals an sich vorkommt', sondern nur aus der unendlichen Fülle der Bedeutungsanwendungen dieses betreffenden Wortes zu erschließen ist" (Kimmerle, 17). Aber Schleiermacher wendet sich gegen die Annahme, Bedeutungen seien Wörtern fest zugeordnet. Was die Bedeutung eines Wortes ist, hängt davon ab, in wel20
21
Vgl. zum sprachlichen Interesse der Hermeneutik Habermas, S. 218. Nach Auffassung der modernen Hermeneutik „ist die Sprache das universale Medium, in dem sich das Verstehen vollzieht. Die Vollzugsweise des Verstehens ist die Auslegung . . . Damit erweist sich das hermeneutische Phänomen als Sonderfall des allgemeinen Verhältnisses von Denken und Sprechen" (Gadamer 1960, S. 366). Der frühere Schleiermacher nimmt an, daß die Sprache konstitutiv bei der Formung des Denkens mitwirkt. Über das Denken eines Autors können wir nur das wissen, was der Text uns mitteilt, was man also auch im Text belegen kann. Man kann Schleiermacher noch strikter interpretieren, in folgendem Sinn: Über den Text hinaus gibt es für den Interpreten kein Denken des Autors. Aber in seinen späteren Überlegungen (ab 1819) und in der weiteren Entwicklung der Hermeneutik wird die Leistung der Sprache auf eine Kommunikationsfunktion, auf den Ausdruck des Denkens, eingeschränkt.
1.3 Der Beginn der hermeneutischen Wissenschaft
33
ehern Kontext dieses gebraucht wird. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird aus dem Sprachgebrauch erschlossen. Daraus leitet Schleiermacher einen methodologischen Grundsatz der Auslegungslehre ab: Was wir an Bedeutungen eines Textes erfassen, muß sich im Sprachgebrauch nachweisen lassen — „rechte Grenze: die Ehrfurcht vor dem Sprachgebrauch" (Schleiermacher, 39). Für die Praxis des alltäglichen und wissenschaftlichen Verstehens gilt die Regel, unbekannte Bedeutungen aus dem Wortgebrauch zu erschließen: „Je weniger man noch der Bedeutung sicher ist desto strenger muß man sich im gegebenen Gebrauch halten" (47). Das Erschließen von Wortbedeutungen aus dem Sprachgebrauch ist der erste Schritt jeder Sinndeutung, die „grammatische Interpretation". Aber dadurch, daß die Bedeutungen der Ausdrücke eines Textes erschlossen sind, ist der Sinn des Textes noch nicht gewonnen. Der Gebrauch kommt durch einen Autor zustande, und zwar so, daß dieser die Ausdrücke eines Textes aufeinander bezieht. Die Bedeutungen der einzelnen Ausdrücke schließen sich zu einem einheitlichen Sinn des Gesamttextes zusammen: „Der Grundsatz der Einheit des Sinnes ist die Grenze der grammatischen Interpretation, und ist zugleich der Grundsatz der Bestimmtheit des Sinnes . . ." (47). Die Einheit wird vom Autor hergestellt; sie wird von ihm entworfen, in der Regel vorder Verwirklichung des Textes. Der Interpret hat die Aufgabe, aus den vorläufig erschlossenen Einzelbedeutungen einen einheitlichen Sinn herzustellen. Die grammatische Interpretation kann dieses Problem nicht lösen. Es muß ein andersartiges Verfahren angegeben werden, nach dem aus den Einzelbedeutungen ein einheitlicher und bestimmter Sinn hergestellt wird, der mit dem Sinn des Autors übereinstimmt. Diese Aufgabe erfüllt eine zweite Art der Interpretation, die Schleiermacher zuerst „technische", später „psychologische" Interpretation nennt. Die theoretische Schwierigkeit der technischen Interpretation erkennt Schleiermacher von Anfang an: „Die wesentliche Einheit... kommt an sich nicht vor" (61). Sie muß vom Interpreten mit Hilfe einer Konstruktion entworfen werden, die einerseits über das im Text Gesagte hinausgeht, die andererseits, wenn sie einmal erarbeitet worden ist, im Text nachgewiesen werden muß. In seiner früheren, wie in seiner späteren Konzeption, nimmt Schleiermacher an, die Einheit des Sinnes sei im Denken des Autors gegeben. Die frühere Konzeption unterscheidet sich von der späteren in den Annahmen über die Beziehungen von Sprechen und Denken: In der ersten Version ist Schleiermachers Grundannahme, daß Gedanke und Ausdruck „wesentlich und innerlich . . . ganz dasselbe sind"
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
(Kimmerle, 21). Das Denken läßt sich vollständig in der Sprache ausdrükken; und nur soweit das Denken sprachlich ausgedrückt wird, gibt es das Denken des Autors für den Verstehenden. Über die Sprache kann das Denken nicht hinausgehen, und ohne Sprache kann es kein Denken geben. Auch diese Annahme tritt in den zentralen Überlegungen der Wittgensteinschen Philosophie wieder auf. Aus der Annahme der wechselseitigen Bedingtheit von Sprache und Denken läßt sich eine weitere Annahme erschließen, und zwar über den Beginn des Denkens und Sprechens beim menschlichen Individuum: Das erste Denken fällt mit der Bildung erster Bedeutungen zusammen. „Wie bemächtigt man sich der Bedeutung, d. h. wie kommt man ursprünglich zu einem gegebenen Gebrauch, und dann weiter. Wie lernt man ursprünglich verstehen? Es ist die schwierigste Operation und die Grundlage aller anderen, und wir vollbringen sie in der Kindheit" (61). Diese Operation ist so schwierig, weil man beim ersten Verstehen nicht auf das ausgebildete Denken zurückgreifen kann. Die Sprache ist ebenso ungegliedert wie die Welt: „Unbestimmt muß dem Kinde allemal erscheinen worauf im Gegenstand der Name geht" (61). Das Kind kann also sprachliche Ausdrücke akustisch aufnehmen und phonetisch wiederholen, aber es kennt nicht die benannten Objekte, die Benennungskonventionen und die Bedeutungen. Ein Text für sich genommen rechtfertigt eine ganze Reihe von Interpretationen. Aber nur eine davon kann im Sinne des Autors die richtige sein. Diese zu finden, ist die Aufgabe der technischen Interpretation. Welches die richtige Interpretation ist, können wir wissen, wenn wir optimale Informationen über den Autor zusammengetragen haben: „Man muß die Totalität dessen was ihm zu Gebote steht kennen" (70). Wenn man über dieses Wissen verfügt, ist es möglich, „die individuelle Prägung eines Wortgebrauchs ,positiv' zu erfassen" (Kimmerle, 19). Die Richtigkeit der Interpretation kann aber niemals unmittelbar eingesehen werden, sondern beruht stets auf einer Rekonstruktion des Denkens des Autors. 1.3.2
„Unendliche Approximation" — Boeckh
Von den Hermeneutikern bleibt Boeckh, ein Schüler Schleiermachers, am nächsten bei der Konzeption, das Verstehen beruhe auf einem hypothetischen Rekonstruieren. Nach Boeckh ist die Aufgabe der Hermeneutik, „den Gegenstand... selbst, in seiner eigenen Natur zu verstehen" (Boeckh, 77). Aber damit meint er nicht, der Interpret könne des Denkens einer fremden Individualität selbst habhaft werden. Dies tritt nicht selbst
1.3 Der Beginn der hermeneutischen Wissenschaft
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in den Blick, sondern nur als Gegenstand der Rekonstruktion. Boeckh hält sich streng daran, daß wir von der fremden Individualität nichts anderes als gegebene Daten haben. Aus den Daten können wir mit Hilfe von Interpretationshypothesen die Individualität rekonstruieren. Die Hypothesen müssen anhand der ermittelten Daten überprüft werden. Das hypothetische Vorgehen kann nur Züge der fremden Person rekonstruieren, nie ihre Totalität: „Aber man kennt die Kraft der Individualität nicht vollständig, sondern kann sie nur annähernd nach ihrer Wirkung in den Werken ermessen; die Umstände dieser Wirkung, die bedingenden historischen Verhältnisse sind ebenfalls nie vollständig bekannt, und auch die Zwecke, welche der Individualität ihre Richtung geben, lassen sich nur annähernd aus dem Bruchstück des Lebens bestimmen, das in einem Werke vor uns liegt" (l40). Was wir über die fremde Individualität wissen können, hängt ab einerseits von unserer Interpretationshypothese, andererseits vom verwendeten Datenmaterial. Das Autor-Individuum, das in die hermeneutische Wissenschaft eingeht, ist ein Konstrukt. Die Einheit des Individuums ist die Einheit, die „in dem Zusammenhange des Ganzen, der Compositionsweise hervortritt" (127). Die Rekonstruktion kann die Individualität „nie vollständig" verstehen (86). Aber sie nähert sich „durch unendliche Approximation d. h. durch allmählich, Punkt für Punkt vorschreitende, aber nie vollendete Annäherung" (86) der tatsächlichen Individualität an. Nach dieser Annahme kann das Verstehen die Wahrheit prinzipiell nie erreichen, aber der Verstehende kann sich ihr fortschreitend annähern 22 . Boeckh ist der einzige Hermeneutiker, der sowohl das Verstehen auf hypothetischen Rekonstruktionen aufbaut als auch die Geltung der hermeneutischen Erkenntnisse einschränkt. Selbst Schleiermacher hält wahre Erkenntnisse durch die Rekonstruktion des Verstehens für möglich, indem er „den wahren Gebrauch den der Schriftsteller im Sinn hatte finden will" (64). l .3.3
Der Weg in die Psychologisierung
Die Psychologisierung der Hermeneutik entspringt dem Vorsatz, eine strenge wissenschaftliche hermeneutische Theorie aufzubauen. Schleiermacher erhebt die Forderung nach Wahrheit der hermeneutischen Aussa22
Die Boeckhsche Verstehenstheorie hat eine auffallende Ähnlichkeit mit Poppers Konvergenztheorie der Wahrheit. Wie Popper nimmt Boeckh einen Prozeß an, der auf dem Prinzip von trial and error beruht, der immer näher an die Wahrheit heranführt, aber prinzipiell nicht die Wahrheit zu erreichen vermag.
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l Das Grundproblem der Hermeneutik
gen. Nach seiner Geisttheorie kann Wahrheit des Verstehens dadurch erreicht werden, daß das authentische Denken des Autors erfaßt wird. Im Denken des Autors treten Akte auf, durch die Handlungen entworfen und ausgelöst werden. Diese Akte können als Ursachen des Handelns angesehen werden. Die Hermeneutik als Wissenschaft soll genau diese handlungsbestimmenden Akte erfassen. Die Kenntnis des Autors, die beim frühen Schleiermacher nicht mehr als ein methodisches Hilfsmittel ist, erhält in seinen Überlegungen ab 1819 immer mehr Gewicht. Während er in seinem Entwurf von 1809/10 in metaphorischem Sinn sagt: „Man könnte sagen die Individualität müßte unmittelbar angeschaut sein" (70), wird 1819 diese Forderung ganz wörtlich verstanden: „Die glückliche Ausübung der Kunst (der Hermeneutik — G. G.) beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntniß" (78). Der Interpret soll nicht länger allein auf der Sprache und den Informationen, die ihm über den Autor zur Verfügung stehen, aufbauen, sondern jetzt erhebt Schleiermacher die Forderung, „daß man sich auf der objectiven und subjectiven Seite dem Urheber gleichstellt" (84). Was hat Schleiermacher verändert? Denken und Sprechen unterscheiden sich nach seiner neuen Annahme „wie Idee und Erscheinung" (Kimmerle, 21). Das Denken ist nicht mehr auf die Umgangssprache angewiesen: Die Ausformung des Denkens wird als unabhängig von der Sprache angenommen. Der Gegenstand der Hermeneutik wird in Schleiermachers neuer Konzeption „der Prozeß des Heraustretens eines Gedankens in seine empirisch faßbare sprachliche Gestalt" (Kimmerle, 21). Der Text wird als Abbild eines ursprünglichen Denkens aufgefaßt. Das Heraustreten des „inneren" Denkens in die Sprache führt zu einer Verformung der Gedanken. Die Aufgabe der Hermeneutik wird nach dieser neuen Auffassung darin gesehen, hinter die Sprache zurückzugehen und das reine, ursprüngliche Denken jenseits der Verformung aufzufinden. Durch das Verstehen werden einerseits Handlungen aus mentalen Ursachen erklärt und andererseits die Verformung unseres Denkens durch das Mittel der Sprache aufgewiesen und rückgängig gemacht23. Die Hermeneutik ist Ursachenerklärung und sprachliche Ideologiekritik. Die Psychologisierung der Hermeneutik kommt durch die Annahme zustande, daß es ein reines, sprachunabhängiges Denken gibt und daß dieses auf unmittelbarem Wege erfaßt werden kann. „Diese Überzeugung 23
„Jeder Akt des Verstehens ist nach Schleiermacher Umkehrung eines Aktes des Redens, die Nachkonstruktion einer Konstruktion" (Gadamer 1960, S. 177).
1.3 Der Beginn der hermeneutischen Wissenschaft
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führt ihn (Schleiermacher — G. G.) dazu, die technische Auslegung nicht mehr von der Sprache her als das Verstehen einer technischen (individuellen) Bedeutungsnuance aufzufassen, sondern von der Psychologie des Sprechenden her als ein ,Moment' seiner Gedankenbildung und deren sprachlichen Äußerung" (Kimmerle, 23). Der Interpret vollzieht eine Art Nacherzeugung des Textes: „Auffindung des (Keim) Entschlusses ..., alsdann Verständniß der Composition als der objectiven Realisierung von jenem . .." (23). Für Schleiermacher ist in seinen späteren Entwürfen (ab 1819) das Ziel der Hermeneutik, zu dem Denken des Autors seihst zu gelangen. Das hermeneutische Verfahren, der Text und die verwendeten Informationen, die Boeckh als konstitutiv für die Resultate des Verstehens ansieht, sind für Schleiermacher nur Hilfsmittel, die man beiseite läßt, sobald man an das Ziel gekommen ist, ebenso wie die Leiter, von der Wittgenstein im Tractatus sagt, unser Denken würde sie fortwerfen, wenn es auf ihr emporgestiegen sei. Die Leiter der psychologischen Auslegung kann fallen, wenn der Hermeneutiker den „inneren Hergang" erreicht hat.
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Dilthey: Verstehen als Methode
Mit Dilthey tritt die Hermeneutik in ihre ehrgeizigste und eindrucksvollste Phase: Der Theorie des Symbolischen Wissens, die bei Schleiermacher und Boeckh noch weitgehend an ihre Herkunft aus der Philologie und der Textauslegung gebunden war, wird die Fähigkeit zugesprochen, sich zu einem eigenständigen Wissenschaftsbereich auszuwachsen1, zu den Geisteswissenschaften. Die Form der Erkenntnis und die Weise ihrer Gewinnung stellt die Wissenschaften des Symbolischen Wissens den Naturwissenschaften gegenüber2. Wilhelm Dilthey entwickelte zwei verschiedene Theorien der Gewinnung Symbolischen Wissens. Beide Entwürfe blieben aus verschiedenen Gründen Fragmente. Die erste Fassung enthält einen relativ ausgearbeiteten und geschlossenen Entwurf einer Theorie der Geisteswissenschaften, die auf einer Erkenntnistheorie der Selbst-Introspektion und der Annahme der Übertragbarkeit von Selbstbeobachtungen auf den fremden Fall beruht. Selbstbeobachtung und Übertragung der Ergebnisse auf andere Personen im Fremdverstehen werden zusammen als eine wissenschaftliche Methode aufgefaßt und in einer Grundlagentheorie, in einer geisteswissenschaftlichen Psychologie, begründet. In seinen späteren Arbeiten, ab 1905, ersetzt Dilthey Teile dieser Konzeption durch neue Überlegungen: Die Annahme der Selbst-Introspektion wird aufgegeben zugunsten einer an Husserl orientierten Theorie des „Inneseins", des Erfassens von dem, was im Erlebnis ohne Bewußtsein gegeben ist. Zum ändern wird das Selbst- und Fremdverstehen nicht auf die eigenen Erlebnisse reduziert. Es wird jetzt eine zweite Art des Verstehens angenommen, ein Verstehen von Symbolsystemen, die sich als Objektivationen von dem gelebten Leben der Individuen abgelöst und zu eigenständigen Gebilden 1
2
Nach Diltheys Idee soll die Hermeneutik „gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in dem Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruht" (Dilthey V, 331). Diltheys Hauptinteresse gilt weniger der Methodenlehre als der Erkenntnistheorie, vgl. dazu die instruktive Darstellung H. Ineichens.
2.1 Zwei Fundierungsversuche der Geisteswissenschaften
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entwickelt haben, und deren Strukturen nicht mehr vollständig auf das Leben und auf Erlebnisse zurückführbar sind. Ein Bruch ist in der Diltheyschen Philosophie zwischen der ersten und zweiten Konzeption nicht eingetreten; darin folge ich Riedels Interpretation. Dilthey verfolgt mit anderen Mitteln weiterhin dasselbe Ziel, eine philosophische Grundwissenschaft auszuzeichnen, „deren Fundamente . . . in der Wissenschaft des ,Geistesta liegen (Riedel, 54). Aber über die Kontinuität seines Denkens ist die starke Veränderung nicht zu übersehen, die Dilthey an seinem Begriff der Geisteswissenschaften vornimmt: Die auf dem psychischen Verfahren des Einfühlens in fremde Personen aufgebaute Wissenschaft wird in der zweiten Version zu einem Symbolverstehen von Objektivationen der Menschheit umgestaltet, die eine Erkenntnis der „mannigfachen Formen des objektiven Geistes" (VII, 208) zu erhalten sucht. 2.1 Zwei Fundierungsversuche der Geisteswissenschaften Diltheys Überlegungen bleiben zum großen Teil fragmentarisch; sie bilden kein geschlossenes theoretisches System. Er führt nicht einmal eine einheitliche Konzeption vollständig aus. Ich unternehme den Versuch, die wichtigsten Argumentationsschritte aus seinen Fragmenten herauszuarbeiten und in einer Folge von zusammenhängenden theoretischen Überlegungen anzuordnen. Seine beiden Konzeptionen des Verstehens sind in seine Fundierungsversuche der Geisteswissenschaften eingebettet, und nur in diesem Kontext lassen sie sich darstellen. 2.1.1
Geisteswissenschaften — Naturwissenschaften
Beide Fundierungsversuche werden als Gegenentwürfe zur Methodologie der Naturwissenschaften konzipiert. Dabei zieht Dilthey keine scharfe Grenze zwischen den Forschungsproblemen beider Wissenschaftsarten, vielmehr hält er eine Überschneidung der Forschungsbereiche für möglich und sogar durchaus üblich; eine gegenseitige Ergänzung und Ersetzung der Methoden beider Wissenschaftsarten erscheint ihm fruchtbar und in einzelnen Fällen sogar notwendig3. Die Geisteswissenschaften sind den 3
Die moderne Hermeneutik geht über Dilthey weit hinaus; vgl. Gadamers Einleitung zu „Wahrheit und Methode" (S. XVI): „Nicht, was wir tun, nicht, was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage. Insofern ist von den Methoden der Geisteswissenschaften hier überhaupt nicht die Rede."
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
Naturwissenschaften aufgrund ihres verschiedenen Gegenstandsbereichs entgegengesetzt: Die Naturwissenschaften zielen auf die Erkenntnis des „Gleichförmigen", die Geisteswissenschaften dagegen erforschen den Prozeß der Individualisierung — „die Besonderung bis zum Individuellen" (V, 236)4. Die Geisteswissenschaften entwickeln zwar Generalisierungen, aber diese sind an die Erkenntnis eines ganz bestimmten Objektbereichs gebunden: an „die menschlich geschichtliche Individuation" (V, 265). Der Unterschied der Gegenstandsbereiche begründet eine Verschiedenartigkeit der Forschungsmethoden (V, 259). Mit seiner Bestimmung, die Erkenntnis des „Gleichförmigen" bilde das Ziel der Naturwissenschaften, reduziert Dilthey die naturwissenschaftliche Forschung auf die eine Prozedur, einzelne Beobachtungen als Spezialfälle unter generelle Gesetzeshypothesen zu subsumieren. Dies ist jedoch keineswegs das einzige und auch nicht das letzte Ziel naturwissenschaftlicher Forschung. Dilthey übersieht, daß eine der wichtigsten Eigenschaften der Naturwissenschaften darin besteht, Erklärungen und Prognosen von Ereignissen zu bilden. Dies geschieht, indem ExplanandumSätze, die ein individuelles Ereignis beschreiben, aus dem Explanans abgeleitet werden. Es läßt sich weder annehmen, die Ereignisaussagen seien das ,eigentliche* Forschungsziel der Naturwissenschaften, noch läßt sich dies von den Generalisierungen behaupten. Insofern die Erkenntnis des singulären Ereignisses ohne Generalisierungen nicht möglich ist, die Generalisierungen, ohne auf singuläre Ereignisse angewendet zu werden, wertlos sind, läßt sich nicht eines von beiden zum „Erkenntnisziel" deklarieren. — Ebensowenig bedenkt Dilthey, daß die naturwissenschaftlichen Gesetze nicht immer als Verallgemeinerung einzelner Fälle aufzufassen sind, sondern auch als Spezialisierungen aus anderen, allgemeineren Gesetzen abgeleitet werden können. Die Konstruktion von theoretischen Gesetzen beruht keineswegs auf induktiven Generalisierungen einer Reihe von Einzelfällen, wie Dilthey offensichtlich annimmt, sondern auf Hypothesenbildungen, an der Einbildungskraft und Phantasie des Forschers entscheidend beteiligt sind. — Schließlich lassen sich Gesetzeshypothesen, auch ganze theoretische Systeme, wie die Ptolemäische oder Newtonsche Kosmologie, als geschichtliche Individuen verstehen, deren Entstehung und Ausarbeitung 4
An anderer Stelle formuliert Dilthey sein Programm der Geisteswissenschaften noch allgemeiner: „Das Ideal der Geisteswissenschaften ist das Verständnis der ganzen menschlich-geschichtlichen Individuation aus dem Zusammenhang und der Gemeinsamkeit in allem Seelenleben" (V, 265).
2.1 Zwei Fundierungsversuche der Geisteswissenschaften
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u. a. aus historischen Bedingungen, zum Beispiel aus religiösen und philosophischen Strömungen und Überzeugungen, erklärt werden können5. Unter diesem Aspekt lassen sich die Entwicklungen von naturwissenschaftlichen Theorien analog zur Entstehung zum Beispiel literarischer Werke betrachten; beide können wiederum von generalisierbaren sozialwissenschaftlichen Bedingungen abhängen. Diltheys Klassifikationsversuch scheitert, weil jede erfahrungswissenschaftliche Aussage mindestens zwei Komponenten enthält: eine generalisierende, die erforderlich ist, um überhaupt Tatsachen als unterschieden von Eindrücken hervorzuheben und zu bezeichnen, und eine individualisierende, um eine mögliche Tatsache als eine von anderen Tatsachen verschiedene auszuzeichnen. Zur Gewinnung von Symbolischem Wissen werden andersartige Generalisierungen und Systematisierungen verwendet als in den Naturwissenschaften. Aber rechtfertigt dieser Unterschied, eine prinzipielle Verschiedenheit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften anzunehmen? Beim Erklären und Verstehen handelt es sich keineswegs um vergleichbare oder um konkurrierende Methoden der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung: Die Erklärung ist eine Form erfahrungswissenschaftlicher Systematisierung; eine Ableitung der zu erklärenden Verhaltensweise aus allgemeinen Gesetzen und Randbedingungen. Das Verstehen ist ein Verfahren, bei dem wesentlich Regeln von Symbolsystemen angewendet werden. 2.1.2
Diltheys Idee der Geisteswissenschaften
Bei seinen Überlegungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften geht Dilthey von zwei Bereichen der menschlichen Erkenntnis aus, die er durch den Gegensatz von Innerem und Äußerem kennzeichnet6. Das Äußere ist der Forschungsbereich der Naturwissenschaften, den Dilthey mit der beobachtbaren Welt der Erscheinungen identifiziert. Für Dithley sieht dieser Bereich so aus: »Den Naturwissenschaften ist der Sinnenschein von Körpern verschiedener Größe, in welchen Veränderungen der Beschaffenheiten vorgehen, die sich ausdehnen, sich zusammenziehen, im Räume bewegen, als Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gegeben . .." (V, 45). 5
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Vgl. hierzu die Studien K. Hübners in seiner „Kritik der wissenschaftlichen Vernunft". Dilthey V, 249: „Im Unterschied von den Naturwissenschaften entstehen Geisteswissenschaften, weil wir genötigt sind, in tierische und menschliche Organismen ein seelisches Geschehen zu verlegen."
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
Den Naturwissenschaften ordnet er, ganz im Sinne seiner Ansicht über ihren Forschungsbereich, als Erkenntnismittel die Sinne zu; naturwissenschaftliche Erkenntnis wird seiner Ansicht nach durch Beobachtung der Phänomene gewonnen (169). Die Tatsachen der Naturwissenschaften beziehen sich auf beobachtbare Zustände der phänomenalen Welt der Körper. Der Rückgang auf reine Beobachtung ist im Fall des Erklärens von geisteswissenschaftlichen Ereignissen, insbesondere von Handlungen, nach Dilthey nicht möglich7; aber dieses Verfahren wäre auch unzureichend, weil die Forscher sicheres Wissen über deren Ursachen gewinnen können. Handlungen werden im Inneren, im innerpsychischen Bereich des Autors verursacht. Alles, was Ursache einer Handlung ist und was zur Entstehung dieser Ursache führt, ist zu einem bestimmten Zeitpunkt im Inneren, und zwar im Erleben des Autors gegenwärtig8. Der Autor kann die Ursachen seines Handelns, da sie in seinem Inneren liegen, unmittelbar erfassen9. Auch der Beobachter kann dazu fähig sein, weil er über ein prinzipiell gleichartiges Inneres verfügt, das er in derselben Weise wie der Autor zum Zeitpunkt seines Handelns strukturieren kann; er kann dieselben Erlebnisse haben wie der Handelnde. Dilthey V, 198: „Diese Nachteile (die daraus entstehen, daß das „Innen" nicht sinnlich wahrnehmbar ist — G. G.) werden aber mehr als aufgehoben durch den entscheidenden Vorzug, welchen die innere Wahrnehmung vor der äußeren voraus hat. In diesem Innewerden der eigenen Zustände fassen wir sie ohne Vermittlung äußerer Sinne in ihrer Realität auf, wie sie sind." R. Aron stellt diesen entscheidenden Grundgedanken Diltheys — die Idee einer Kausalerklärung geisteswissenschaftlicher Ereignisse aus den erzeugenden Vorgängen — in den Zusammenhang mit der Philosophie Bergsons: „Comme Bergson, mais d'une autre maniere, Dilthey remonte ä ['experience originelle de la connaissance et decouvre I'ensemble psychique" (22). Dilthey nimmt mit seinem Grundgedanken eine alte hermeneutische Überlegung auf, die Gadamer in Zusammenhang mit Schleiermachers Psychologismus bringt: „Schleiermacher meint, nur im Rückgang auf die Entstehung von Gedanken lassen sich diese wirklich verstehen" (Gadamer 1960, 174). „Die Hermeneutik umfaßt grammatische und psychologische Auslegekunst. Schleiermachers Eigenstes ist aber die psychologische Interpretation. Sie ist letzten Endes ein divinatorisches Verhalten, ein Sichversetzen in die ganze Verfassung des Schriftstellers..."(l 75). Vgl. Habermas über Dilthey: „Dem erlebenden Subjekt ist der Zugang zur Wirklichkeit freigegeben" (Habermas, 182). „Die Kategorie des .Erlebnisses' ist für Dilthey von Anbeginn ein Schlüssel für seine Theorie der Geisteswissenschaften gewesen" (185). „In dieser Psychologie des Verstehens als eines substituierten Erlebens wurzelt eine monadologische Auffassung der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, die Dilthey nie ganz überwindet" (186).
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Nach der ersten Konzeption Diltheys ist der Forschungsbereich der Geisteswissenschaften das Innere. Das Innere unterscheidet sich vom Äußeren vor allem dadurch, daß es nicht intersubjektiv zugänglich, nicht einmal durch eine andere Person als den Autor beobachtbar ist; die Beschreibungsprädikate der Sprache über das Innere lassen sich nicht in einer Beobachtungssprache einführen. Der zweite zentrale Gedanke ist folgender: Das Beobachtbare des Äußeren geht in die Geisteswissenschaften nur als die von Individuen rezipierte Außenwelt ein. Das Äußere erscheint in den Geisteswissenschaften nur insoweit, wie es vom Individuum rezipiert wird. Diese beiden Annahmen deute ich in folgender Weise: 1. Dilthey bestimmt den Erkenntnisbereich der Geisteswissenschaften als einen strikt privaten. Die Kennzeichnung „privat" verstehe ich im Sinne Wittgensteins: Von einem privaten Bereich wird angenommen, daß er prinzipiell nur der unmittelbaren Beobachtung einer Person zugänglich und der Einsicht anderer Personen vollkommen verschlossen ist. 2. Die Umwelt einer Person tritt in den Geisteswissenschaften insoweit und in der Form auf, wie sie sich im Inneren des Autors niederschlägt10. Die vom Individuum aufgefaßte Umwelt muß nicht mit der Umwelt übereinstimmen, über die Beobachter intersubjektiv übereinkommen würden. Selbst wenn für Beobachter ein vom Handelnden behauptetes Ereignis nicht geschehen und der Handelnde als Opfer seiner Halluzinationen aufzufassen ist, gibt es das Halluzinierte, und zwar für den Handelnden und für den geisteswissenschaftlichen Beobachter. Die Beschreibung der Welt in den Geisteswissenschaften ist die Beschreibung einer individuellen Innenwelt. Auch in der zweiten Konzeption werden diese beiden Annahmen aufrechterhalten, aber die Erkenntnis der Geisteswissenschaften wird nicht länger auf das Innere reduziert. Dilthey führt zusätzlich die Annahme einer symbolischen Erkenntnis der im Außen gegebenen „Objektivationen" oder des „objektiven Geistes" der Menschheit ein. „Das Verstehen dieses Geistes ist nicht psychologische Erkenntnis. Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit" (VII, 85). Ebenso wie Institutionen, Symbol- und Rechtssysteme lassen sich individuelle Texte nicht vollständig auf die Erlebnisse des Autors reduzieren: In die Literaturgeschichte und die Poetik geht auch der von 10
Dilthey entwirft die Geisteswissenschaften als „Wissenschaften der Innenwelt". Diese wird als Innenwelt „eines Einzelsubjekts" aufgefaßt (Ineichen, 50). Die Geisteswissenschaften sollen alles das untersuchen, was für uns „als Tatsache des Bewußtseins" existiert (72).
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
den Autoren „geschaffene, aber von ihnen ablösbare Zusammenhang" (85) der poetischen Symbol- und Regelsysteme ein. Die grundsätzlichen Annahmen Diltheys über die Geisteswissenschaften in seiner ersten und zweiten Version fasse ich im folgenden zu der These l (für die erste Fassung) und der These (für die zweite Fassung) zusammen: These l: Der besondere Erkenntnisbereich der Geisteswissenschaften, durch den diese sich von den Naturwissenschaften unterscheiden, ist das Innere, der Bereich der nicht sinnlich wahrnehmbaren psychischen Zustände,.im Gegensatz zum Äußeren, der phänomenalen Welt der Körper, auf die sich die Naturwissenschaften beschränken. Alles, was im Inneren auftritt, ist privat und kann nur in einem privaten Akt erkannt werden. These l': Zusätzlich zu den Annahmen von These l führt Dilthey ein Symbolerkennen ein, das von dem geisteswissenschaftlichen Erkennen der ersten Version dadurch unterschieden ist, daß es sich nicht vollständig auf das Innere zurückführen läßt; dieses ist die Erkenntnis von Formen des „objektiven Geistes". 2.1.3
Die Theorie der unmittelbaren Erkenntnisgewinnung
In einem bildlichen Vergleich kann man Diltheys Annahme, in die Geisteswissenschaften trete nur das ein, was im Erleben des Individuums gegeben ist, wie folgt darstellen: Es gibt für das Individuum eine Art Leinwand; darauf erscheinen im Erleben des Individuums Projektionen. Über die Projektionsmethoden brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, denn für den Handelnden existiert alles, was auf der Leinwand erscheint. Die Ereignisse auf der Leinwand sind autonom in dem Sinn, daß ihnen nicht Ereignisse im Äußeren entsprechen müssen. Der Erlebende erkennt die Projektionen auf der Leinwand als seine Welt an, die er in seinem Erleben erfährt". Nach Dilthey ist das Denken 11
Vgl. Dilthey V, 95: „Wir gewahren in uns eine Mannigfaltigkeit innerer Vorgänge, welche sich im Bewußtsein deutlich voneinander abheben: Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle, Triebe, Volitionen. Diese Vorgänge sind miteinander in einer Struktur des Seelenlebens verbunden, welche bei allen animalischen Wesen auf unserer Erde dieselbe ist und die psychologischen Grundgesetze dieser Lebewesen ausmacht."
2.1 Zwei Fundierungsversuche der Geisteswissenschaften
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des Individuums auf die Projektionen beschränkt: Es „kann nicht hinter sie greifen" (V, 136). So weit stimmen die erste und die zweite Version von Diltheys Theorie überein. Differenzen gibt es in der Konzeption, wie die Tatsachen ursprünglich im Erleben gegeben und wie sie erkannt werden. In der ersten Fassung erscheinen auf der Leinwand vom Bewußtsein projizierte Gestalten, Tatsachen über die Welt. Diese müssen nur noch wahrgenommen werden. Im Inneren kann die Erkenntnis nicht auf Sinneswahrnehmung beruhen; Dilthey postuliert eine andersartige Erkenntnisweise, bei der das Individuum nicht auf die Vermittlung der Sinneswahrnehmung angewiesen ist. Was wir erkennen, haben wir schon seihst hergestellt, in dem Sinn, daß wir die Projektionen selbst erzeugt haben. Die Tatsachen werden in einem spezifischen Akt des Bewußtseins wahrgenommen. Der handelnde Mensch, als Beobachter seiner eigenen Innenwelt, setzt sich der Welt „selber ohne Etikette vis a vis" (Dilthey 1861, zitiert nach Misch, V, LXXVII)12. Die „Welt" ist nichts anderes als die Erscheinungen auf der Leinwand im Inneren des Individuums. Dilthey behauptet, die Wahrnehmung dieser „Welt" geschehe in einem bewußten Akt des „Innewerdens", bei dem wir von einer Art inneren Sinn Gebrauch machten, dem die innerpsychischen Projektionen „unmittelbar gegeben" seien (V, 170). Die Tatsachen, die im Erleben erkannt werden, nennt Dilthey „geistige Tatsachen". Ein Irrtum ist bei der „inneren Wahrnehmung" ausgeschlossen: Alle Tatsachen, die erkannt werden, bestehen für den Handelnden. Sie werden in der inneren Wahrnehmung aufgefaßt, „wie sie sind" (V, 198; V, 263)13. Auch die Verknüpfungen von geistigen Tatsachen sind im Erleben gegeben: Wir „erleben .. . beständig Verbindungen, Zusammenhänge in u n s . . . " (V, 170). Die Erkenntnis der Verknüpfung von geistigen Tatsa-
12
13
Vgl. dagegen die Kritik Gadamers in Gadamer I960, insbesondere S. 220 f. und 227. Nach Diltheys Annahme „bewerten" die Gefühle „aktive und passive Zustandsveränderungen im System mit Bezug auf physiologische, psychologische oder auch geistige, bewußt als Ziel/Zweck gesetzte und verfolgte Sollzustände" (Krausser, 139). In der „Breslauer Abhandlung" schreibt Dilthey: „Jedes Gefühle . . . ist im Grunde eine Wertmessung der Veränderung des Zustands" (Breslauer Abhandlung, 170, zitiert nach Krausser, 234). G. Misch verweist in diesem Zusammenhang auf Husserls Diktum: „. . . wir (sind) die echten Positivsten" (LXXVII).
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
chen ist, wie jene der geistigen Tatsachen, unmittelbar 14 . Diese Annahme läßt sich als Lösungsvorschlag des Problems des hermeneutischen Zirkels interpretieren. Die Schwierigkeit, zu einem Verstehen der Teile zu gelangen, wenn nicht das Ganze bekannt ist, stellt sich nicht im Fall der geistigen Tatsachen. Denn nicht allein die Teile, sondern das Ganze des Erkenntnisinhalts ist im Erleben bereits gegeben: In der inneren Wahrnehmung werden das strukturierte Ganze und die vom Ganzen her interpretierten Teile erkannt 15 . These 2: Aufgrund der Besonderheit des Erkenntnisbereichs wird in den Geisteswissenschaften eine ausgezeichnete Art von Tatsachen, geistige Tatsachen, erkannt. Die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften ist das Innewerden in der inneren Erfahrung. Das Innewerden ist eine Art innerer "Wahrnehmung, in der das Individuum seine eigenen innerpsychischen 14
15
Vgl. Dilthey V, 170; ebenso V, 172: „In dem Erlebnis wirken die Vorgänge des ganzen Gemüts zusammen. In ihm ist Zusammenhang gegeben, während die Sinne nur ein Mannigfaltiges von Einzelheiten darbieten. Der einzelne Vorgang ist von der ganzen Totalität des Seelenlebens im Erlebnis getragen, und der Zusammenhang, in welchem er in sich und mit dem Ganzen des Seelenlebens steht, gehört der unmittelbaren Erfahrung an: Die bestimmt schon die Natur des Verstehens unserer selbst und anderer . . . wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der in uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne faßbar zu machen .. . Alles psychische Denken behält diesen Grundzug, daß das Auffassen des Ganzen die Interpretation des einzelnen ermöglicht und bestimmt." Der Zusammenhang der „inneren Tatsachen" stammt allerdings nicht von den „Sinneserregungen" her. „Also entsteht er erst aus der lebendigen, einheitlichen Tätigkeit in uns, welche ja selber Zusammenhang i s t . . . Es ist also aller Zusammenhang, den unser Wahrnehmen sieht und unser Denken setzt, der eigenen inneren Lebendigkeit entnommen" (V, 194). Wie problematisch dieser Gedanke ist, erkennt man an folgendem Zitat: „Hiermit steht in Zusammenhang, daß das von innen Erlebte nicht unter Begriffe gebracht werden kann, welche an der in den Sinnen gegebenen Außenwelt entwickelt worden sind" (V, 196). „Das Erfahrene ist als primäre Tatsache aufzuzeigen und das Denken als die sekundäre" (V, 86). „Der Strukturzusammenhang wird erlebt" (V, 206). Gadamer faßt Diltheys Gedanken in folgender Weise zusammen: „Der Zusammenhang von Leben und Wissen ist also nach Dilthey eine ursprüngliche Gegebenheit" (1960, 223). R. Aron bringt die „ursprüngliche Gegebenheit" in Zusammenhang mit der Inhärenz des Sinns in der Realität: „Certes, l'ensemble significatif d'une vie ne conserve pas tous les details des experiences vecues, l'accidentel, l'accessoire tombent: seuls les evenements qui ont joue un role dans Pevolution ou qui expriment i'essence de la personne sont conserves. Mais cette selection est faite dans et par la vie: la science prolonge le choix de la memoire, la signification n'est pas une criation de l'intelligence, eile est immanente ä la realiteelle-memeu(77).
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Projektionen mit Hilfe spezifischer Bewußtseinsakte unmittelbar und unverfälscht erkennt. In der zweiten Konzeption geht Dilthey wie zuvor von der Annahme aus, alles Wissen von psychischen Zuständen sei im Erleben gegeben. Im Unterschied zur früheren Annahme sind die Sachverhalte keine „Bewußtseinstatsachen, sondern sie treten als vom Bewußtsein unabhängige Wirklichkeiten auf" (VII, 42). Das Bild von der inneren Leinwand wird stark verändert: Auf der Leinwand erscheinen nicht gleich fertige Gestalten, sondern das Individuum muß aus dem vorgegebenen ,Erlebnisstoff' Formen gewinnen. Das Ausgangsmaterial dafür ist keine Bewußtseinsprojektion; es kann auch nicht wahrgenommen werden, weil es noch keine Form hat. „Das Erlebnis steht nicht als ein Objekt dem Auffassenden gegenüber, sondern sein Dasein für mich ist ununterschieden von dem, was in ihm für mich da ist" (VII, 139). Die Sachverhalte existieren für das Individuum in „dem ursprünglichen Modus" des Gegebenseins: im „Innesein". Mit „Innesein" wählt Dilthey anstelle von „Innewerden" einen „Ausdruck, der jede Annahme über eine Trennung von Akt (Gedacht-) und Inhalt (Gegebensein), die in der älteren Charakterisierung des Erlebnisvorgangs als »Innewerden* noch gemeint worden war, vermeiden soll" (Riedel, 60). Die im Erlebnis gegebenen Sachverhalte müssen nach der zweiten Konzeption erst zu „distinktem Bewußtsein" erhoben werden, „ohne daß an der Form der Gegebenheit eine Änderung stattfände" (VII, 122). Diese Aufgabe wird durch eine primäre Leistung, durch die „gegenständliche Auffassung" erfüllt: Es gibt „keine einfachere Leistung" als diese (122). Sie liegt vor dem diskursiven Denken und der Sprache. Denkleistungen werden dabei schon angewendet; es sind elementare logische Operationen, wie „Gleichfinden, Unterscheiden, Bestimmen von Graden, Verbinden, Trennen, Teil und Ganzes nach dem Verhältnis von Zusammenvorkommen und als Verbindung, Trennbar-Sein von der Umgebung, endlich Auffassen tatsächlicher Verhältnisse" (VII, 42). Die elementaren Operationen sind unabhängig von sozialen Lernprozessen. Mit der Annahme des Inneseins macht Dilthey die Psychologisierung des Innewerdens rückgängig. Das Erlebnis „enthält nichts in sich als jene Beziehung auf einen Gegenstand oder Sachverhalt" (Riedel, 59). Die „Denkformen" und „Denkleistungen", die im Erlebnis zur Herausarbeitung der Sachverhalte verwendet werden, sind dieselben wie die in den Naturwissenschaften (VII, 121). Alles, was durch die Arbeit des Geistes „herausgehoben" und Gegenstand des Denkens wird, ist bereits „im Erlebnis selbst enthalten" (VII,
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140). Was durch die elementaren Operationen herausgearbeitet worden ist, wird „in den Vorstellungen abgebildet, und es wird im diskursiven Denken vertreten" (VII, 127). Dilthey spitzt diesen Gedanken weiter zu: Alles, was in unserem diskursiven Denken auftritt, ist einmal durch elementare Operationen im Erlebnis herausgearbeitet worden. Das Urteil ist „seinem Inhalt nach" im Erlebnis „enthalten" (VII, 125). Die Ordnung der Begriffe und die Urteile des diskursiven Denkens lassen sich nach dieser Annahme in „einer direkten Linie" (VII, 139) auf Erlebnisse zurückführen. „Aufgrund des Gegebenen (entsteht) ein allgemeines Wissen" (VII, 120). Was wir denken können, das haben wir auch erlebt. These 2': Im Innesein sind vom Bewußtsein unabhängige Tatsachen gegeben, die im Erlebnis ihren Ursprung haben und die durch elementare logische Operationen zum Bewußtsein gebracht werden. Die primären Denkleistungen heben unabhängig von sprachlichem Wissen hervor, was im Erlebnis unmittelbar gegeben ist. Auf dem im Erlebnis Gegebenen baut sich allgemeines Wissen auf bis hin zu den Begriffssystemen und dem diskursiven Denken. 2.1.4
Der Wahrheitsgehalt der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis
In seinen beiden Konzeptionen verfolgt Dilthey einen Gedanken, der für seine Unterscheidung der Geistes- von den Naturwissenschaften konstitutiv ist: Geisteswissenschaftliches Wissen ist nicht wie naturwissenschaftliches auf Hypothesen aufgebaut. Nach der ersten Konzeption kann die Richtigkeit von Aussagen über die im Erleben wahrgenommenen geistigen Tatsachen nicht in Zweifel gezogen werden: Der Erkennende kann sich über die Beschaffenheit und Struktur der geistigen Tatsachen nicht täuschen. Die Selbst-Introspektion der geistigen Tatsachen wird in Sätzen ausgesprochen, die unkorrigierbar und von anderen Personen unbezweifelbar sind. Diese Sätze sind, bei korrekter sprachlicher Formulierung, wahre Sätze. Mit der Erkenntnis der geistigen Tatsachen meint Dilthey, ein unerschütterliches Fundament der Geisteswissenschaften aufgedeckt zu haben. Die geisteswissenschaftlichen Aussagen bleiben nicht hinter der Präzision und Stringenz jener der exakten Wissenschaften zurück. Im Gegenteil: Sie übertreffen die der Naturwissenschaften an Wahrheitsgehalt, denn der direkte Zugang zu den Tatsachen ermöglicht es, wahre Sätze aufzustellen. Hingegen können die Naturwissenschaften, da ihre Erkenntnisse immer nur mit Hilfe von Hypothesen zustande kommen, selbst bei noch so großer Annäherung die Wahrheit nie erreichen.
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Auch die zweite Konzeption ist so angelegt, daß geisteswissenschaftliche Aussagen als wahr angenommen werden, aber die Gründe dafür sind andere. Dilthey scheint eine Art Korrespondenztheorie der Wahrheit zu entwickeln: Geisteswissenschaftliche Aussagen vertreten die im Erlebnis gegebenen Tatsachen (VII, 125). Wahr sind diese Aussagen, wenn sie das Gegebene repräsentieren (VII, 139). Daß dies der Fall ist, garantieren die elementaren logischen Operationen und sonstigen primären Leistungen. Die Arbeit des Geisteswissenschaftlers ist eine Art Nachvollzug der Leistungen der Person, deren Handlungen er erklärt. Er führt dieselben Operationen aus wie der Handelnde in seinem eigenen psychischen System. Die Aussagen, die er dabei bildet, sind eine genaue Nachbildung der Aussagen, die der Handelnde hätte bilden können. Allgemein gesagt: Die Welt des Beobachters ist aufgrund der Gleichheit der Operationen, die zur Herausbildung der Welt dienen, die gleiche wie die des Handelnden. These 3 und3': Die Erkenntnisse über die Beschaffenheit des Inneren sind nicht hypothetisch, aufgrund der unmittelbaren Wahrnehmungen in der ersten Version, aufgrund der Gleichheit der Denkleistungen, mit der die Tatbestände des Innen herausgebildet werden, in der zweiten Version. Geisteswissenschaftliche Erkenntnisse sind, die Korrektheit ihrer sprachlichen Formulierung vorausgesetzt, wahre Sätze. 2.1.5
Die Handlungserklärung in den Geisteswissenschaften
Die zunehmende Psychologisierung der Hermeneutik drückt sich insbesondere in der Annahme aus, daß im Inneren, in der Psyche des Handelnden die Ursache seines Handelns gleichsam dingfest zu machen sei. Diese Tendenz erreicht ihren Höhepunkt in der ersten Version Diltheys. Nach G. Misch eröffnet sich für Dilthey „die ,hinreißende Aussicht' . .., die Kausalerklärung eines geistlich-geschichtlichen Ganzen aus den erzeugenden Vorgängen durchzuführen" (V, LII). Innere Tatsachen, wie Motive, Absichten, Wille, Zielsetzungen etc., werden in der ersten Fassung als Ursache für ein gleichzeitiges oder folgendes Handeln aufgefaßt und sollen eine Erklärung des Handelns ermöglichen16. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine logischstrukturell zu kennzeichnende Erklärung im Sinne naturwissenschaftli16
Vgl. Dilthey V, 337: „Da, wo bewußt und methodisch die allgemeinen Einsichten angewandt werden, um das Singulare zu allseitiger Erkenntnis zu bringen, erhält der Ausdruck Erklärung für die Art der Erkenntnis des Singularen seinen
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eher Systematisierungen, sondern um ein vollkommen andersartiges Verfahren. Eine Ableitung aus allgemeinen Gesetzen, die Dilthey letztlich doch nur als hypothetisch ansieht, ist für die Geisteswissenschaften nicht notwendig. Die Ursachen des Handelns sind im erlebnismäßigen Nachvollzug unmittelbar erkennbar17. Das geisteswissenschaftliche Erklären ist ein Erkennen der psychischen Zustände, die ein Handeln hervorrufen. Die psychischen Zustände erzeugen mit der Handlung deren subjektive Sinngebung durch den Handelnden. Der Sinn eines Handelns entsteht zusammen mit der Handlung als einer ihrer Bestandteile aus psychischen Ursachen. Die Ursachen erkennt der Beobachter im erlebnismäßigen Nachvollzug der psychischen Zustände, die für das Entstehen des Explanandum-Ereignisses verantwortlich sind. These 4: Menschliches Handeln wird von psychischen Zuständen (wie Absichten, Zielsetzungen, Motiven, Wille) verursacht. Das Erklären menschlichen Handelns aus psychischen Ursachen stellt das in den Geisteswissenschaften adäquate Erklärungsprinzip dar. Die Ursachen von Handlungen sind für den Geisteswissenschaftler im Nacherleben erkennbar. Nach der zweiten Konzeption sollen Handlungen ebenfalls aus dem Inneren erklärt werden, aber im Unterschied zur ersten gibt es zwei Differenzen : Einmal ist es zweifelhaft, ob Dilthey weiterhin eine Kausalerklärung in den Geisteswissenschaften für möglich hält. Zum ändern nimmt er die Erklärung aus dem Inneren nicht als die einzige Erklärungsart der
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Ort. Er ist aber nur berechtigt, sofern wir uns bewußt halten, daß von einer vollen Auflösung des Singularen in das Allgemeine nicht die Rede sein kann." Auch in neuerer Zeit wird das Verstehen, insbesondere von Betti, als spezifische Erkenntnisgewinnung der Geisteswissenschaften angenommen; das Verstehen wird danach als „ein Wiedererkennen und NacAkonstruieren des Sinns" verstanden (Betti, 12). „Es geht demnach eine Umkehrung (Inversion) des Schaffensprozesses vor sich: eine Umkehrung, derzufolge der Interpret auf dem hermeneutischen Wege den schöpferischen Weg in umgekehrter Richtung durchlaufen soll, dessen Nach-Denken er in seiner Innerlichkeit durchzuführen hat" (Betti, 13). Nach dieser Konzeption, so folgen Betti, „ist die Forderung, daß der Interpret seine Subjektivität auslöschen müsse, die denkbar widersinnigste ..." (23). Anläßlich dieser Überlegung ist es höchst aufschlußreich, Diltheys Argumentation zu verfolgen: „Die Auflösung dieser Aufgabe (eine Einsicht in die psychischen Ursachen von Handeln zu erhalten — G. G.) setzt zunächst voraus, daß wir innere Zustände wahrnehmen können. Der tatsächliche Beweis hiervon liegt in der Kenntnis, welche wir von seelischen Zuständen zweifellos besitzen .. . Da ein solches Wissen besteht, muß es auch möglich sein" (Dilthey V, 197).
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Geisteswissenschaften an. Das Grundproblem der zweiten Konzeption ist die Frage nach der Konstitution des Sinns von Ereignissen (VII, 198). Sinn entsteht auf zwei Weisen: Einmal wird Sinn von handelnden Individuen erzeugt. Zum ändern entsteht Sinn durch die symbolischen Objektivationen der Menschheit. Der erste Sinn ist, wie in der ersten Konzeption, in Erlebnissen erfahrbar, nacherzeugbar und erkennbar. Um den zweiten Sinn zu erhalten, „sind (es) neue Kategorien, Gestalten und Formen des Lebens, an die wir uns wenden müssen und die am Einzelleben selbst nicht aufgehen" (VII, 251). Der zweite Sinn muß aus Symbol- und Regelsystemen erschlossen werden. These 4': Die Geisteswissenschaften erklären die Entstehung des Sinns von Ereignissen. Sinn entsteht auf zwei Weisen: als Sinn, der von Individuen erzeugt wird, und als Sinn von symbolischen Manifestationen menschlichen Handelns, der nicht auf das einzelne Individuum reduzierbar ist. 2.1.6
Die Theorie des Verstehens
Die Thesen, die bisher wiedergegeben wurden, sind eine Begründung von Diltheys Annahme, daß in den Geisteswissenschaften ein besonderes Verfahren angewandt werden muß, mit dem menschliches Verhalten aus dem Inneren erklärt wird. Dieses Verfahren ist das Verstehen. Es wird nach Dilthey durch die Besonderheit des hermeneutischen Erkenntnisbereichs gerechtfertigt und vor der naturwissenschaftlichen Erklärung ausgezeichnet. In seiner ersten Konzeption entwickelt Dilthey ein Verfahren, das vor allem auf Selbst-Introspektion beruht und in der Psychologie fundiert werden soll: Die psychischen Zustände fremder Personen äußern sich in bestimmten Verhaltensweisen; die „inneren Vorgänge" treten „an den menschlichen Körpern" auf. Aufgrund des beobachteten Verhaltens fremder Personen kann der Geisteswissenschaftler in seinem eigenen Erleben bestimmte innere Erlebnisse nachvollziehen und innere Erfahrungen gewinnen. „Durch eine Art Analogieschluß" kann er diese Erfahrungen auf den fremden Fall übertragen. Dilthey nennt den gesamten Vorgang eine „Hineinverlegung des eigenen Selbst in ein Äußeres und damit verbundene Umformung dieses Selbst in dem Vorgang des Verstehens" (V, 262). Auf diesem Weg kann nach seiner Annahme das innere Erleben fremder Personen authentisch nachgebildet, die psychische Verursachung während der Hervorbringung von Verhaltensweisen fremder Personen
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
nacherlebt und auf dem Weg der Selbst-Introspektion erkannt werden. Nachbilden und Nacherleben von geistigen Tatsachen ermöglichen das Erklären des entsprechenden Verhaltens. Die inneren Erfahrungen des Geisteswissenschaftlers werden von Dilthey als intersubjektive Grundlage der verstehenden Wissenschaften angenommen. Dilthey gibt ihnen trotz ihrer Zufälligkeit und Personengebundenheit den Status der Intersubjektivität, weil er annimmt, daß sie bei allen erkennenden Subjekten gleichartig sind. Das Verbindungsglied zwischen individuellen Erlebnissen und intersubjektiver Erkenntnis wird von Dilthey mit einem Gedanken, der allerdings nur im Stadium einer Skizze geblieben ist, begründet: Gleichartig sind nicht nur die inneren Erfahrungen, sondern auch das, was in der inneren Erfahrung erkannt wird — die inneren Erlebnisse. Der Grund dafür ist die Strukturgleichheit der menschlichen Psyche. Das Verfahren des Verstehens besteht in einer Reproduktion psychischer Zustände historischer Personen in der Absicht, deren Akte zu erklären. Im Nacherleben wird zugleich eine Erkenntnis darüber gewonnen, welchen Sinn die handelnden Personen ihrem Verhalten geben. Der Vorgang des Verstehens ermöglicht eine Erkenntnis der authentischen Sinngebung handelnder Personen. Die wissenschaftliche Erkenntnis psychischer Zustände will Dilthey in einer psychologischen Methode fundieren: im „Zergliedern" des im Erleben gegebenen Zusammenhangs. Die zu entwerfende Wissenschaft, die „beschreibende oder zergliedernde Psychologie" soll eine „feste, allgemeingültige Grundlage" (146) der Geisteswissenschaften herstellen18. These 5: Das Verstehen ist ein Verfahren, das eine Erkenntnis der authentischen Handlungsgründe ermöglicht: Der Hermeneutiker reproduziert in seinem eigenen psychischen System die Zustände, die das Verhalten, das er bei der fremden Person beobachtet, verursacht hat. Durch „eine Art Analogieschluß" überträgt er, was er an sich selbst erkennt, auf den fremden Fall. Auf diese Weise wird ein „Hineinversetzen" in die Psyche fremder Personen möglich. Die Selbst-Introspektion wird in der „beschreibenden und zergliedernden Psychologie" fundiert, die die allgemeine Gültigkeit des Verstehens begründen soll. 18
Vgl. dazu Dilthey V, 191 f. und die Kritik Gadamers in Gadamer 1960, 226, Dilthey gäbe mit seinem Entwurf „die eigene, wesenhafte Geschichtlichkeit der Geisteswissenschaften" auf.
2.1 Zwei Fundierungsversuche der Geisteswissenschaften
53
In der zweiten Konzeption unterscheidet Dilthey zwischen zwei Formen des Verstehens: Soweit der Sinn auf Individuen zurückführbar ist, behält Dilthey die Annahme bei, daß seine Entstehung durch eine Reproduktion der Erlebnisse unmittelbar erkannt werden kann (Verstehen1). Das Verfahren des Verstehens1 besteht in einem „Zurückversetzen" der „menschlich-geschichtlich-gesellschaftlichen äußeren Wirklichkeit" „in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist" (VII, 119). Der „Zusammenhang der geistigen Welt" wird „lebendig" gemacht, indem er „erlebt und nachverstanden" wird (VII, 119). Auf die kürzeste Formel gebracht, ist die erste Form des Verstehens „ein Wiederfinden des Ich im Du" (VII, 191). Aber das Verstehen1 beruht nach der zweiten Konzeption nicht mehr auf einer Selbst-Introspektion. Dies liegt an Diltheys veränderter GeistTheorie: Dilthey hat die Annahme des Innewerdens von psychischen Zuständen in der inneren Wahrnehmung aufgegeben und durch die Konzeption des Inneseins von Gegebenheiten ersetzt, die der Verstehende mit Hilfe von elementaren Operationen erst zum Bewußtsein bringen muß. Anstatt auf die Selbst-Introspektion stützt sich das Verstehen in der zweiten Version auf die Arbeit des Geistes, der das in den Erlebnissen Gegebene zum Bewußtsein bringt. Ebenso wie in der ersten Konzeption nimmt Dilthey in der zweiten das Verstehen1 als „eine dem Wirkungsverlauf selber inverse Operation" an (VII, 214). Diese führt in seiner Neufassung, anstatt zu einem Erkennen von Ursachen, zu einer Zuordnung von erlebnismäßig Gegebenem, von „Lebendigkeit", zu symbolischen Formen. Aber diese Zuordnung kann nicht vollständig sein; z. B. können wir durch das Verstehen1 nicht einmal uns selbst erkennen. Denn wenn wir alle unsere Handlungen und ihre Ergebnisse auf unser Leben zurückgeführt haben, haben wir keine vollständige Einsicht in unsere Person und keine vollständige Kenntnis dessen, was wir sind. „Nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschen über sich selbst..." (VII, 87). Unsere Lebensäußerungen legen wir nieder in allgemeinen sozial verbindlichen Symbolsystemen: als „Gebärden, Minen und Worte" oder als „dauernde geistige Schöpfungen" oder als „beständige Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden" (VII, 86). Lösen sie sich von uns, den Autoren, ab und werden sie mit Hilfe der Ausdrucksmittel, in denen sie dargestellt werden, geformt, dann erhalten sie als Symbole einen eigenen Sinn. Diese zweite Art Sinn gewinnen wir durch die andere Art des Verstehens (Verstehen2), durch eine Art
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
Decodieren der Symbole, mit denen unsere Lebensäußerungen ausgedrückt werden19. Wir lernen uns „nur auf dem Umweg des Verstehens selber kennen" (VII, 87). In diesem Zitat spricht Dilthey von einer Verbindung der beiden Arten des Verstehens. „Was wir einmal waren, wie wir uns entwickelten und zu dem wurden, was wir sind, erfahren wir daraus, wie wir handelten, welche Lebenspläne wir einst faßten, wie wir in einem Beruf wirksam waren, aus alten verschollenen Briefen, aus Urteilen über uns, die vor langen Tagen ausgesprochen wurden" (VII, 87). Dieses Beispiel soll zeigen, wie eine gegenseitige Ergänzung beider Verstehensverfahren denkbar ist: Das Verstehen von Symbolen wird ergänzt durch ein Erlebnis-Verstehen, „indem wir unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens" (VII, 87). Das Verstehen insgesamt besteht in Diltheys zweiter Konzeption aus zwei Teilverfahren: Das Symbol-Verstehen erschließt den Sinn von symbolischen Ausdrucksformen; das Erlebnis-Verstehen ordnet den Ausdrucksformen ein spezifisches Erlebnis zu (wobei sich Dilthey klar darüber ist, daß dies nur partiell und auch nicht in allen Fällen geschehen kann). Es scheint, als ob Dilthey die ,Belegung* der symbolischen Ausdrucksformen mit Erlebnissen für notwendig hielte, um deren Entstehung aus dem Leben und damit deren Authentizität zu sichern. These 5': Das Verstehen besteht aus zwei Teilverfahren: einem Symbol-Verstehen, das den Sinn von Lebensäußerungen in Symbolsystemen erschließt, und einem Erlebnis-Verstehen, das den symbolischen Ausdrucksformen Erlebnisse zuordnet, die der Geisteswissenschaftler durch den Nachvollzug elementarer Operationen reproduziert. 2.2 Überlegungen zur Kritik der Hermeneutik Es ist leichter, die ältere Hermeneutik zu kritisieren als sie zu verteidigen. Kritik ist an ihr von allen Seiten geübt worden. Verteidigen werde ich, mit Ausnahme des frühen Schleiermacher und Boeckhs, die ältere Hermeneutik nicht; ihr Psychologismus läßt sie unrettbar der Kritik verfallen. Ich möchte das Augenmerk auf einige ihrer Annahmen richten, die für eine Theorie des Symbolischen Wissens Bedeutung gewinnen können. Eine 19
Vgl. Dilthey VII, 133 f. und 141. H. Göttner behauptet dagegen, daß die „einzige Modifikation" beim späteren Dilthey im Vergleich zum früheren „in einer Ersetzung der psychologischen Terminologie durch eine von Hegel beeinflußte Geist-Terminologie" bestehe (77).
2.2 Überlegungen zur Kritik der Hermeneutik
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unbeugsame Kritik hingegen, die auf den Buchstaben traditioneller Lehrmeinungen pocht, verbreitet die Gefahr, das Kritisierte unterschiedslos in ihrem Mörser zu zermahlen. Wie diese Gefahr die Hermeneutik bereits ereilt hat, soll im Abschnitt 2.2.1 gezeigt werden. Die wichtigen Annahmen der Hermeneutik, die ich für unbedingt erhaltenswert ansehe, werde ich im Abschnitt 2.2.2 darstellen. 2.2.1 Theaterdonner der analytischen Philosophie Die bei dem späteren Schleiermacher einsetzende Psychologisierung des Verstehens entfernt die Hermeneutik von ihren vielversprechenden Anfangsideen. Eine Kritik der Psychologisierung kann sich insbesondere gegen folgende vier Grundannahmen der älteren Hermeneutik richten: die Idee einer biografischen Erforschung von Handlungsumständen, die atheoretische Konzeption der hermeneutischen Wissenschaft, der Glaube an die Authentizität von Handlungsgründen, die anti-soziologische Einstellung. Auf die ersten beiden der vier kritischen Bestandteile der hermeneutischen Theorie reagiert die analytische Philosophie äußerst gereizt. Die Bekämpfung von biografisch orientierten Forschungsmethoden und atheoretischen Wissenschaftskonzeptionen steht ausdrücklich auf ihrem Programm. Kernpunkt der Kritik ist die Methode des Hineinversetzens und Nacherlebens; die Kritik bezieht sich damit im wesentlichen auf die Positionen des späteren Schleiermacher und des früheren Dilthey. Nach Meinung der Kritiker20 besteht die Methode des Verstehens in einer „merkwürdigen artistischen Prozedur", durch die sich der Geisteswissenschaftler in die Lage einer fremden Person versetzt und, nach Stegmüllers Interpretation, „zu jener Person wurde", indem er „in den Geist anderer Menschen" eindringt. Dieser Vorgang der „Identifizierung" verlangt außergewöhnliche höhere Fähigkeiten, die den Einblick in die fremde Psyche ermöglichen. Unter dem Blick des geisteswissenschaftlichen Forschers öffnet sich die Welt des Inneren, die auf bildhaften Vorstellungen beruht (367—375). Die Kritik richtet sich vor allem gegen die Konzeption des Geistes, die hinter der hermeneutischen Theorie des Verstehens vermutet wird: Die Annahme eines „Eindringens" in fremde Psychen — so die Kritik — setze ein Modell der Psyche voraus, das besonders von Ryle und Wittgenstein 20
Die folgende Kritik an Diltheys „Verstehens"-Theorie wird insbesondere von Th. Abel, P. Gardiner, W. Stegmüller, H. Göttner geäußert, ähnliche Argumente werden auch von Hempel vorgebracht.
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
als unhaltbare materielle-anthropomorphe Vorstellung entlarvt worden sei. Die Psyche werde von Dilthey in Analogie zu einem Zimmer verstanden, das nur der Besitzer, sonst kein Mensch betreten könne; nur der Geisteswissenschaftler sei, aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten, in der Lage, sich Zutritt zu verschaffen. Diese Annahme, die die Verhältnisse der phänomenalen Welt auf die Psyche übertrage, sei aber nach der Kritik von Ryle und Wittgenstein abzulehnen. Mit der Vorstellung vom „Geist in der Maschine" (Ryle) sei auch die Konzeption des Verstehens zurückzuweisen. Die Kritik stützt sich auf eine Interpretation, die die Ausdrücke „Nacherleben" und „Hineinversetzen" in einem wörtlichen Verständnis auffaßt. Zunächst ist festzustellen, daß in den Diltheyschen Fragmenten die beiden Begriffe keine festumrissenen Umfange haben, sondern merkwürdig offen bleiben. Dies gilt bei ihm für alle Ausdrücke, die sich auf den Bereich des Psychischen beziehen. Insbesondere die Beschreibungen der Verstehensvorgänge werden bei Dilthey durch Metaphern, Analogien und Bilder im Unbestimmten gehalten. Die psychologische Version der Hermeneutik läßt jede begriffliche Klarheit und Präzision vermissen. Sie verwendet alltagssprachliche Ausdrücke. Aber die vermeintlich umgangssprachlichen Ausdrücke mit den scheinbar bekannten Bedeutungen sind Fachbegriffe, die der Umgangssprache entnommen und dann umgedeutet worden sind. Die Hermeneutiker machen die begriffliche Neuprägung nicht explizit kenntlich; im Gegenteil, sie verschleiern diese. Nehmen Dilthey und Schleiermacher tatsächlich an, daß sich der Forscher an die Stelle der beobachteten Person setzt? Kann nach beider Annahme der Geisteswissenschaftler die psychischen Vorkommnisse erkennen, die ein anderer tatsächlich gehabt hat? Dilthey beschreibt, sowohl in der ersten als auch in der zweiten Version, auf welchem Wege Nacherleben und Hineinversetzen zustande kommen: Durch die Beobachtung des physischen Verhaltens fremder Personen wird vom Verhalten auf das Vorliegen bestimmter psychischer Zustände geschlossen21. Diltheys Theorie entspricht in diesem Punkt genau der Annahme, die Stegmüller in seiner Kritik der Theorie des Verstehens formuliert: Unser Wissen um Inneres stützt sich „auf empirisches Wissen um andere Gegebenheiten" (373). Nacherleben und Hineinversetzen beruhen nicht auf einer Introspektion der fremden Psyche, weil das Erkennen fremder psychischer Zustände wesentlich durch die Beobach21
Ineichen verweist auf „die erfahrungswissenschaftliche Einstellung Diltheys" (87).
2.2 Überlegungen zur Kritik der Hermeneutik
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tung des Verhaltens der Person ermöglicht wird. In Diltheys zweiter Version wird dieser Gedanke weiter ausgearbeitet: Dilthey nimmt an, daß fremdpsychische Zustände aufgrund der Decodierung von Symbolen erschlossen werden können. Im Nacherleben und Hineinversetzen wird Wissen über die fremde Psyche durch die Symbole gewonnen, die diese ausgibt. Es läßt sich tatsächlich eine Interpretation von Diltheys Verstehenskonzeption entwickeln22, die vom Text gestützt wird und nicht von der zitierten Kritik der analytischen Philosophie getroffen wird: Die inneren Erlebnisse werden in den psychischen Systemen der erlebenden Personen erzeugt. Die psychischen Systeme sind bei allen Individuen in gleicher Weise aufgebaut und funktionieren gleichartig. Die Unterschiede der inneren Erlebnisse bei verschiedenen Individuen ergeben sich aus der unterschiedlichen Ausprägung der gleichartigen Systeme23. Nach dieser Annahme läßt sich die Konzeption des Nacherlebens nicht mehr als Einblick in die psychischen Vorkommnisse „so, wie sie bei der anderen Person gewesen sind", auffassen. Sondern es handelt sich um eine Rekonstruktion fremdpsychischer Erlebnisse anhand gleichartiger Strukturzüge durch den Verstehenden24. Der Forscher dringt nicht in die fremde Psyche ein, sondern er rekonstruiert ausgehend vom beobachteten Verhalten in seiner eigenen Psyche strukturgleiche psychische Zustände. Dilthey stellt das Postulat der Gleichartigkeit der psychischen Systeme auf, um zu erklären, wie es möglich ist, daß ein Beobachter weiß, was in der beobachteten Person vorgeht, ohne ihm die Fähigkeit zuzuschreiben, 22 23
24
Vgl. dazu die Darstellung der sog. Strukturtheorie Diltheys bei Krausser; ebenso Ineichen, 130; siehe auch Dilthey V, 168 und 373. Vgl. Dilthey V, 225 f.; nach V, 229 sind die „qualitativen Verhältnisse" der psychischen Systeme bei allen Menschen gleich, während Unterschiede in den „quantitativen Verhältnissen" auftreten; dieser Gedanke wird in V, 230 f. ausgearbeitet. Vgl. Dilthey V, 264: „Dementsprechend beruht auch das Verständnis anderer auf einem Nachbilden des Zusammenhangs in ihnen, aus welchem dann die einzelne Äußerung erklärt wird . .. der Zusammenhang in der geistigen Welt ist erlebt, erfahren, nachverstanden." Siehe ebenso V, 318: „Erst durch einen Vorgang der Nachbildung .. . ergänzen wir dies Innere . . . Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen . . . Sonach nennen wir Verstehen den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen." Der Vorgang des Verstehens muß „gemeinsame Merkmale haben. Er ist in diesen Grundzügen derselbe" (V, 319). Vgl. ebenso V, 276: „Erleben eines eigenen Zustandes und Nachbilden eines fremden Zustandes oder einer fremden Individualität sind nun im Kern des Vorgangs einander gleichartig."
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
in fremde Psychen einzudringen. Wenn man das neue Postulat anerkennt, verliert Diltheys Verstehenskonzeption die Züge des Irrationalen und Unverantwortlichen, die ihm von Seiten der analytischen Philosophie gegeben werden. Denn seine Überlegung ist nun folgende: Wenn man vom Verhalten einer beobachteten Person auf deren psychische Zustände schließen kann und dieses Schließen wesentlicher Bestandteil des Verstehens ist, bestehen zwischen psychischen Ereignissen und dem Verhalten von Personen bestimmte standardisierte Korrelationen. Die Verbindung ist nicht zufällig und willkürlich, sondern regelhaft25. Diese Regeln sind allgemein bekannt, der Schluß vom Verhalten auf die Psyche kann prinzipiell von allen Personen vorgenommen werden26. In der zweiten Version der Diltheyschen Hermeneutiktheorie werden sie teilweise als Regeln der symbolischen Ausdruckssysteme expliziert. 2.2.2
Die Besonderheit der Hermeneutik
Es ist ein berechtigtes Unternehmen, daß die analytische Philosophie die Hermeneutik kritisiert — nur wie sie dabei vorgeht, ist unverständig. 25
26
Vgl. Dilthey V, 330: „. . . diese logische Seite des Verstehens (besteht) also im Zusammenwirken von Induktion, Anwendung allgemeinerer Wahrheiten auf den besonderen Fall und vergleichendem Verfahren." Auf die Wichtigkeit von Situations-Faktoren beim Erkennen psychischer Ereignisse macht Dilthey bereits aufmerksam, z. B. in V, 334: „So ist das Milieu für das Verständnis unentbehrlich"; ebenso in V, 244: „Immer ist hier ein Selbst, von Umständen umgeben." In V, 185 bemerkt er, „daß unsere Definitionen von Gemütszuständen nicht deren Inhalt zergliedern, sondern nur die Bedingungen angeben, unter denen der Gemütszustand auftritt". Eine kurze Bemerkung zum Regelbegriff: Es lassen sich mindestens zwei Kennzeichen dieser Regeln angeben, die den Diltheyschen Annahmen über die Theoriefreiheit und den Wahrheitsanspruch geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse zuwiderlaufen. Diese Regeln enthalten theoretische und konventionelle Bestandteile. Denn einmal muß das beobachtete Verhalten identifizierbar gemacht und klassifiziert werden. Zum anderen müssen Tatsachen des Äußeren, z. B. Verhaltensweisen, bestimmten Tatsachen des Inneren, z. B. psychischen Zuständen, zugeordnet werden. Das Klassifizieren und Zuordnen der geforderten Art kann selbst nicht mittels der elementaren logischen Operationen vorgenommen werden, sondern beruht auf allgemein anerkannten Konventionen und auf theorieartigen Konzeptionen. Schließlich besteht eine weitere Schwierigkeit darin, daß der Verstehende von seinen eigenen Erlebnissen im Nachvollzug auf psychische Zustände einer fremden Person (dazu noch zu einem anderen Zeitpunkt und in anderen situativen Umständen) schließen muß. Die Regeln dieses Schließens, die keinen logischen Schluß, sondern einen Analogieschluß konstituieren, sind nicht selbst im Erleben gegeben und gehören auch nicht zu den elementaren logischen Formen.
2.2 Überlegungen zur Kritik der Hermeneutik
59
Berechtigt ist es, weil alle vier Kritikpunkte Abels (vgl. S. 22) durchaus zutreffen können: Der Einwand, daß der Verstehende nur mögliche Handlungsgründe erhalten kann, läßt sich nur dann zurückweisen, wenn die psychologische Fassung des Verstehens, und zwar die Annahme, Handlungsgründe seien mit mentalen Akten identifizierbar, verteidigt werden kann. Trifft das erste Argument Abels zu, kann das gleiche, da die Einwände eng miteinander verbunden sind, auch für die anderen drei Argumente gelten. Welche Einsicht haben wir gewonnen, wenn die vier Einwände zu recht erhoben werden? Wir wissen dann im Grunde nicht mehr, als daß das Verstehen nicht mit einer nomologischen Erklärung zu vergleichen ist, weder in ihrer Struktur noch in ihrer Erklärungs- und Prognoseleistung. Aber ist es aus diesem Grund kein wissenschaftliches Verfahren? Dies kann man nur behaupten, wenn man das Prädikat der Wissenschaftlichkeit dogmatisch an die Verwendung nomologischer Erklärungen binden würde. Man kann sich vorstellen, daß diese in bestimmten Bereichen der Historic, Literaturwissenschaft, Linguistik usw. nicht angewendet werden können oder daß ihre Verwendung dort zu unwichtigen Resultaten führt. Es ist denkbar, daß in diesen Gebieten Verfahren der Gewinnung Symbolischen Wissens aufschlußreichere Forschungsergebnisse erbringen können. Dies ist der Gedanke, aus dem heraus die ersten Theorien des Symbolischen Wissens in der Hermeneutik entstehen, und dieser wird von der Kritik der analytischen Philosophie nicht berührt. Allerdings ist er in einer Reihe hermeneutischer Arbeiten zu einer geradezu surrealistischen Erscheinung ausstaffiert worden. Nicht zuletzt hat Diltheys Propaganda für das psychische Eigen-Experiment den Grundgedanken der Hermeneutik ruiniert. Welches ist der Kernpunkt der hermeneutischen Theorie des Symbolischen Wissens? Führen wir noch einmal die wichtigsten Thesen der älteren Hermeneutik auf (die spezifischen Thesen der psychologisierten Hermeneutik lasse ich dabei als besondere historische Erscheinungen beiseite); es lassen sich folgende fünf Sätze angeben: (1) Es gibt für jedes Handeln einen Grund, aus dem gehandelt wird; dieser kann von der Hermeneutik ermittelt werden (Einzigartigkeit des Handlungsgrundes). (2) Der Grund ist im Handelnden tatsächlich vorhanden (Authentizität des Handlungsgrundes). (3) Der Grund ist dem Handelnden psychisch unmittelbar gegeben (Unmittelbarkeit des Handlungsgrundes).
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2 Dilthey: Verstehen als Methode
(4) Der Handlungsgrund entsteht im Gesamtzusammenhang des Lebens und in Abhängigkeit von der Natur des Handelnden (Einbettung des Handlungsgrundes in die Biografie). (5) Die Reproduktion und Schau eines Handlungsgrundes ist ein wissenschaftliches Verstehen; daneben gibt es ein problemloses, prä-wissenschaftliches Verstehen der Umgangssprache (zwei Ventehensarten). Seitdem sich die Hermeneutik von Philologie und Auslegungslehre emanzipiert hatte, verfolgt sie mit unterschiedlichen Konzeptionen beständig das eine Ziel: aus den Ereignissen, die die beobachtbare Welt konstituieren, die subjektive Komponente zu gewinnen. Die Hermeneutik ist an Ereignissen nur insoweit interessiert, wie diese den Blick auf das Subjektive freigeben. Das Verfahren des Verstehens wird nur in eine Richtung geführt: von den Ereignissen auf die Autoren. Die umgekehrte Richtung ist jedoch auch möglich: von Annahmen, Meinungen, Beurteilungen etc. der Subjekte hin auf die Handlungen, die diese tatsächlich oder möglicherweise ausführen. Der Standpunkt der Hermeneutik ist reduktionistisch. Sie gibt vor, Ereignisse zu entschlüsseln, aber was sie aufschließt, ist das Subjekt des Autors. Die Reduktion von Ereignissen auf Subjektives kann nicht zu Handlungserklärungen führen. Daher ist die Hermeneutik nicht, wie sie sich gern selbst sieht, eine Handlungstheorie. Sie ist eine Theorie des Subjektiven. Ich habe soeben nur behauptet, die Hermeneutik könne auf ihrem Weg nicht zu Erklärungen von Handlungen kommen. Damit meine ich gerade nicht, sie sei mit der Einführung des Subjektiven in die Handlungstheorie im Irrtum. Im Gegenteil: Hierin liegt eine ihrer Einsichten — nur begnügt sie sich mit der Einbahnstraße der Erschließung von SubjektZuständen aus Ereignissen. Ich meine dagegen, eine Handlungserklärung mit Hilfe des Subjektiven tritt erst dann in den Bereich des Möglichen, wenn auch der umgekehrte Weg: vom Subjektiven in Richtung auf die vollzogenen Handlungen, gegangen wird. Diese Behauptung wird im nächsten Kapitel ausführlich begründet. Eine zweite Einsicht der Hermeneutik ist hervorzuheben: Das Subjektive, das bisher aus der Wissenschaft verbannt ist, soll zum Gegenstand der Wissenschaft selbst werden. Dabei ist sorgfältig zwischen Objekt- und Metastufe zu unterscheiden. Das Subjektive soll auf der Objektstufe als wissenschaftlicher Gegenstand untersucht werden, weil es für Handlungserklärungen unerläßlich ist. Es ist nämlich keineswegs beliebig, willkürlich und verunreinigend, sondern nach festen überindividuellen Strukturen aufgebaut, typisierbar und relativ stabil; es ist möglich, Symbolisches Wissen darüber zu erhalten. In die wissenschaftliche Analyse der Metastufe
2.2 Überlegungen zur Kritik der Hermeneutik
61
sollte das Subjektive allerdings nicht eindringen. Gegen diese Forderung verstößt Diltheys Konzeption des Nachvollziehens, indem sie Objekt- und Metastufe systematisch miteinander vermischt. Zwei Fragen müssen im Folgenden beantwortet werden: 1. Auf welche Weise erhalten wir Symbolisches Wissen über Subjektives? Wenn sich die hermeneutische Verstehens-Theorie nicht aufrecht erhalten läßt — was noch zu diskutieren ist —, dann muß ein anderer Weg angegeben werden. 2. Wie geht Subjektives in Handlungserklärungen ein? Es muß ein Modell der Handlungserklärung entworfen werden, in das Kennzeichen von Subjektivem wesentlich mit aufgenommen werden.
3 Wissen über Subjektives
Die Hermeneutik führt mit den Postulaten der Einzigartigkeit, Authentizität und Unmittelbarkeit des Handlungsgrunds die Untersuchung des Subjektiven in die Handlungstheorie ein. Ihr Forschungsproblem besteht in der Frage: Wie kommt der Beobachter in den Besitz von Wissen über die authentischen, einzigartigen und unmittelbar gegebenen Handlungsgründe des Autors? Die analytische Philosophie kritisiert diese Frage mit dem Argument, daß das Subjektive für Handlungserklärungen irrelevant sei. Das Subjektive hält sie für willkürlich, beliebig1. In der analytischen Handlungstheorie sollen echte Ursachen (möglichst Kausalursachen), mindestens aber vom Subjektiven unabhängige Gründe gefunden werden. Ich behaupte, beide Seiten täuschen sich, aus einem vergleichbaren Grund. Beide schätzen das Subjektive als Handlungsgrund falsch ein: die Hermeneutik, weil sie es für tatsächlich existierende psychische Zustände hält; die analytische Philosophie, weil sie annimmt, es sei strikt an die Person des Handelnden gebunden. Aber weder führt die Suche nach dinghaften Subjekt-Zuständen zu einem Ergebnis, noch wird das Subjektive als angemessen dargestellt, wenn es als launisches Dekor aufgefaßt wird. Es ist notwendig, eine Theorie des Subjektiven zu entwickeln, damit wir uns über die Rolle des Subjekts in Handlungserklärungen Klarheit verschaffen können. Meine Diskussion des Subjektiven wird diesen Weg nehmen: Ich gehe von der Annahme aus, daß es sinnlos ist zu fragen, was das Subjektive wirklich sei, wie es möglichst direkt beobachtet werden könne etc. Hingegen sind die Fragen: Was können wir über das Subjektive wissen? und: Wie erhalten wir Wissen über das Subjektive? ohne metaphysischen oder fachwissenschaftlichen Aufwand zu beantworten; sie schützen vor Irreführung, und sie führen in das Zentrum des Problems. 1
Mit einer gewissen Berechtigung läßt sich sagen, daß die analytische Philosophie darin eine Gemeinsamkeit mit der älteren Hermeneutik hat, daß sie den von Weber kritisierten Mythos der irrationalen Persönlichkeit, wenn auch mit entgegengesetzter Bewertung, übernommen hat.
3.1 Subjekt-Wissen und Subjekt-Zustände
63
Die Antworten werden zweierlei zeigen: 1. Das Subjektive ist eine öffentliche Angelegenheit. 2. Das Subjektive ist ein Bereich des Symbolischen Wissens. Die Hermeneutik-Diskussion zeigt, daß sich das Subjektive aus zwei Bereichen zusammensetzt: aus dem Bereich der mentalen Zustände (Gefühle, Wille, Intentionen etc., im folgenden: Subjekt-Zustände) und dem Bereich des Subjekt-Wissens (Kalküle, Glaubenssätze, natürliche Theorien, Annahmen zur Interpretation von Ich und Umwelt etc.). Beide Bereiche sollen durch eine analytische Trennung voneinander unterschieden werden. Generell werde ich annehmen, daß das Subjekt-Wissen, neben den anderen Funktionen, die es erfüllt, dazu verwendet wird, den Bereich der mentalen Zustände zu organisieren und zu interpretieren. Der Aspekt meiner Diskussion beschränkt diese auf eine Untersuchung des Subjektiven, soweit es Gegenstand des Wissens von Handelnden oder Beobachtern ist. Diese Einschränkung ist dadurch gerechtfertigt, daß für Teilnehmer an Interaktionen das eigene und das fremde Subjektive als geistiges Konstrukt auftritt2. Das Subjektive soll in dieser Arbeit allein unter dem Aspekt des Wissens, das wir darüber bilden, betrachtet werden. Beobachten läßt sich das Subjektive nicht, aber ein Wissen darüber können wir anhand von Beobachtungen und Eigen-Wahrnehmungen gewinnen3.
Ich beginne die Diskussion mit der Kritik der hermeneutischen Theorie des Subjektiven, deren Ungenügen ich bisher nur behauptet, aber nicht nachgewiesen habe.
3.1 Subjekt-Wissen und Subjekt-Zustände Eine Theorie des Subjektiven wird von der psychologistischen Fassung der Hermeneutik entwickelt. Ich stütze mich bei ihrer Darstellung insbesondere auf die ausgearbeitete Theorie bei Dilthey. In dieser kommt eine Das Subjektive kann auch in anderer Weise auftreten, z. B. affektiv oder emotional. Als Gegenstand des Wissens nimmt es für diese Untersuchung einen ausgezeichneten Platz ein, weil Handlungsmotive, -Intentionen, -gründe, -wünsche etc. immer einen kognitiven Aspekt haben (vgl. dazu die weitere Diskussion). Der Ausdruck „Wahrnehmung" wird hier in dem Sinn gebraucht, wie er gegenwärtig in der Psychologie verwendet wird, d. i. als Bezeichnung für Kognitionen. Eine direkte Wahrnehmung, wie eine Sinneswahrnehmung oder etwa eine Introspektion, wird damit nicht ausgedrückt.
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3 Wissen über Subjektives
merkwürdige Annahme vor: Ein psychischer Vorgang, wie z. B. Schmerz, Lust, Wille, kann durch einen simultan ablaufenden anderen psychischen Vorgang, durch die Wahrnehmung des psychischen Systems selbst, erkannt werden. Zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis sind keine weiteren Operationen und außerpsychische Instanzen dazwischengeschaltet. Die psychischen Zustände werden ohne Mitwirkung von Lernakten oder Kontrolle, also ohne Internalisierung sozialer Regeln, in privaten Akten aus ihrer Umgebung hervorgehoben, voneinander unterschieden, identifizierbar gemacht, geordnet und mit sprachlichen Ausdrücken bezeichnet. Alle Operationen dieser Art beziehen sich auf innerpsychische Vorgänge; sie sind selbst innerpsychische Vorgänge und werden vom Subjekt korrekt ausgeführt. Es gibt keine andere Zugangsweise zu unserer Psyche als durch diese Operationen. Unser Wissen über unsere eigene Psyche ist nicht-symbolisch4. Das Subjekt-Wissen wird auf den Bereich der mentalen Zustände direkt angewendet. Von einem Bereich kann ohne Umweg über die Außenwelt zum anderen übergegangen werden. SubjektZustände von fremden Personen können wir in der eigenen Psyche nacherzeugen. In meiner Kritik unterscheide ich zwischen drei Annahmen, die in dieser Theorie involviert sind: (a) die Annahme eines direkten Zugangs des Subjekt-Wissens zu den Subjekt-Zuständen; (b)die Annahme, daß es keine anderen Zugänge zu Subjekt-Zuständen geben kann als die unter (a) genannten; (c) die Annahme, daß wir eine Einsicht in mentale Zustände fremder Subjekte durch Übertragung unseres Wissens über die eigenen SubjektZustände auf den fremden Fall gewinnen. Diltheys Theorie setzt die Gültigkeit der Konjunktion von (a), (b) und (c) voraus. Ich werde in folgender Weise vorgehen: Zuerst werde ich mit Hilfe eines Arguments von Ludwig Wittgenstein zeigen, daß die Annahme (a) über den Zugang zur Psyche nicht aufrecht erhalten werden kann. Die Konsequenz dieses Arguments ist, daß es nach (b) und (c) überhaupt keinen Zugang zu mentalen Zuständen geben kann. Diese Folgerung ist offensichtlich falsch. Ich werde dagegen annehmen, daß wir eine andersartige Beziehung zwischen Subjekt-Wissen und Subjekt-Zuständen entwerfen müssen. 4
Hingegen ist unser Wissen über fremde Psychen nach hermeneutischer Auffassung durch Symbole vermittelt: Symbole zeigen dem Beobachter an, welche Subjekt-Zustände nachzuerzeugen sind.
3.1 Subjekt-Wissen und Subjekt-Zustände
3.1.1
65
Entwicklungspsychologische Annahmen
Ich beginne mit einem Hinweis auf die Entwicklungspsychologie5. Eine Kenntnis des Entwicklungsgangs, der bei der Herausbildung der Fähigkeit, Subjekt-Zustände zu erkennen, durchlaufen wird, kann wesentlich zur Klärung des Problems beitragen. Diese Fähigkeit ist konstitutiv für die Personen-Wahrnehmung (person perception — Flavell) oder die soziale Kognition (social cognition — Tagiuri)6. Die Entwicklungspsychologie kennzeichnet die Fähigkeiten, die der Personen-Wahrnehmung zugrunde liegen, in folgender Weise: (1) Diese Fähigkeiten scheinen bei der Geburt nicht vorhanden zu sein. (2) Sie können als Produkt eines Entwicklungsprozesses angenommen werden. (3) Sie entwickeln sich wahrscheinlich zu einem nicht trivialen Entwicklungsstand (level) bei allen biologisch intakten menschlichen Erwachsenen auf der ganzen Welt. (4) Sie haben sich in keiner anderen Spezies als der menschlichen zu einem signifikanten Grad entwickelt (Flavell, 70). Die Entwicklungspsychologie nimmt grundsätzlich an, daß die Regeln der Personen-Wahrnehmung sich im Laufe der kindlichen Entwicklung stufenweise herausbilden. Entwicklungspsychologische Arbeiten über die Personen-Wahrnehmung zeigen im wesentlichen, daß Diltheys drei Annahmen (a)—(c) sich durch die Empirie nicht bestätigen lassen. Die Untersuchungsergebnisse sprechen dafür, daß die Fähigkeit der Wahrnehmung von Eigenzuständen unter sozialem Einfluß erworben wird, daß sie abhängig von dem Stand der Intelligenz-Entwicklung des Wahrnehmenden und daß die Fremdwahrnehmung keine Übertragung der Eigenwahrnehmung auf andere Personen ist. Den Arbeiten über die Personen-Wahrnehmung läßt sich ein weiterer Hinweis entnehmen. Der Bereich der psychischen Wahrnehmung umfaßt über die psychischen Zustände („Intentionen, Einstellungen, Emotionen, Gedanken, Fähigkeiten, Ziele, Züge, Perzeptionen, Erinnerungen") hin5
6
Ich beziehe mich auf Arbeiten der amerikanischen Entwicklungspsychologie in der Richtung der Piagetschen Theorie, insbesondere auf den Überblicks-Artikel von Flavell. Forschungsgegenstand dieser Arbeiten ist „the child's cognitions about his social, human world" (Flavell, 67). Der Begriff der „social cognition" bezieht sich insbesondere auf „the observations or inferences we make . .. about intuitions, attitudes, emotions, ideas, abilities, purposes, traits, thoughts, perceptions, memories — events that are inside the person and strictly psychological" (Tagiuri, 396).
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3 Wissen über Subjektives
aus auch „bestimmte psychologische Eigenschaften von Beziehungen zwischen Personen, solche wie Freundschaft, Liebe, Macht und Einfluß". Tagiuri rechnet zur Personen-Wahrnehmung ebenfalls die Tatsache, daß „einer Person Eigenschaften des Bewußtseins und der Selbstbestimmung und die Fähigkeit (zugeschrieben wird), sich die Umgebung zu repräsentieren" (T^giuri 1969, 396). Die Erweiterung des Bereichs der innerpsychischen Wahrnehmung durch die Entwicklungspsychologie ist bedeutsam. Dies läßt sich an zwei Beispielen zeigen: (a) Durch innerpsychische Wahrnehmung erfährt das Individuum, daß eine fremde Person Objektwahrnehmungen macht, die es selbst nicht in derselben Weise oder überhaupt nicht hat7. Kleine Kinder sprechen über Gegenstände, die nicht in der Situation gegeben sind, in einer Weise, als ob diese präsent wären. Ihr Gesprächspartner muß herausbekommen, wovon die Rede ist. (b) Wenn wir mit fremden Personen in Interaktion treten, machen wir uns bestimmte Vorstellungen darüber, welche Art von Personen diese sind, welche Rollen und Eigenschaften sie sich zuschreiben etc. (Flavell). Auch über uns selbst müssen wir ein derartiges Wissen gewinnen. Probleme der Interpretation und Einschätzung von Personen (auch von uns selbst) werden durch innerpsychische Wahrnehmung gelöst. 3.1.2
Subjektives Wissen — intersubjektives Wissen
Die Entwicklungspsychologie stützt ihre Annahme, daß die Regeln der Personen-Wahrnehmung erworben werden müssen, auf eine empirische Theorie. Ludwig Wittgenstein weist mit philosophischen Argumenten nach, daß die hermeneutischen Annahmen über den Zugang des Beobachters zu eigenen und fremden Subjekt-Zuständen in unauflösbare Schwierigkeiten führen 8 . Wittgenstein beginnt seine Überlegungen mit dem Problem der Einführung einer privaten Regel (in PU 258): „Ich will über das Wiederkehren einer gewissen Empfindung ein Tagebuch führen. Dazu assoziiere ich sie mit dem Zeichen ,Ef und schreibe in einem Kalender zu jedem Tag, an 7 8
Vgl. Flavell, 73. Wittgenstein stellt seine Argumente in den „Philosophischen Untersuchungen", in der Diskussion der Sprache über Empfindungen und der Privatsprache dar. Ich verzichte im folgenden weitgehend auf eine Auseinandersetzung mit der Literatur, um die Aufmerksamkeit auf die Argumentstruktur zu konzentrieren. Die Flut der Literatur hat wieder eigene Probleme erzeugt, die den Blick in Richtungen, die hier nicht verfolgt werden sollen, lenken.
3.1 Subjekt-Wissen und Subjekt-Zustände
67
dem ich die Empfindung habe, dieses Zeichen." Niemand anders als ich kennt diese Empfindung, und niemand kann jemals die Bedeutung von ,E' kennen, denn diese bezieht sich auf einen Sachverhalt, den ich allein in meinem eigenen, für niemanden zugänglichen psychischen System erkenne: Der mit ,E* bezeichnete Empfindungskomplex ist einzigartig, originell und vollständig subjektiv; er kann nicht mit den üblichen umgangssprachlichen Instrumenten beschrieben werden. Er kann daher nicht in die — sprachlich formulierte — Prämisse einer Regel eingehen: „Ich will zuerst bemerken, daß sich eine Definition des Zeichens nicht aussprechen läßt." Eine private Regel kann nicht formuliert werden. Denn würden wir die Formulierbarkeit privater Regeln zugeben, dann müßten wir auch annehmen, daß diese anderen Personen bekannt gemacht werden könnten. Diese Annahme dürfen wir nach der Definition der privaten Regel nicht anerkennen (die Regel sowie ihr Anwendungsbereich dürfen nur uns selbst bekannt sein). Heißt dies aber auch, daß ich sie nicht einmal für mich selbst definieren kann? Die Möglichkeit, sie für mich allein zu definieren, kann doch vielleicht bestehen: Ich ersetze den nichtsprachlichen Teil der Definition durch den Hinweis auf das psychische Ereignis selbst: „Aber ich kann sie (die Definition des Zeichens — G. G.) doch mir selbst als eine Art hinweisende Definition geben!" Kann ich nicht selbst den Empfindungskomplex aus seiner Umgebung herausheben und gegen andere Sachverhalte abgrenzen? — Aber die harmlose Behauptung, die in der Frage implizit enthalten ist, stellt ein kapitales Problem: „Wie kann ich auf die Empfindung zeigen? — Nicht im gewöhnlichen Sinne. Aber ich spreche oder schreibe das Zeichen, und dabei konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf die Empfindung — zeige also gleichsam im Inneren auf sie. — Aber wozu diese Zeremonie? Denn nur eine solche scheint es zu sein! Eine Definition dient doch dazu, die Bedeutung eines Zeichens festzulegen. — Nun, das geschieht eben durch das Konzentrieren der Aufmerksamkeit; denn dadurch präge ich mir die Verbindung des Zeichens mit der Empfindung ein. — ,Ich präge sie mir ein* kann doch nur heißen: Dieser Vorgang bewirkt, daß ich mich in Zukunft richtig an die Verbindung erinnere." Das Problem ist folgendes: Wie gewährleiste ich, daß ich in einer Anwendungssituation diese neue Regel korrekt gebrauche? Korrekt muß eine Regel aber angewendet werden; dies ist eine notwendige Bedingung dafür, daß wir einem Satz Regeleigenschaften zusprechen. Der Regelverwender ist die einzige Person, die die Regel und den Sachverhalt, auf den diese angewendet wird, kennt. Man könnte meinen, dieser Sachverhalt sei
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nicht außergewöhnlich, weil er auch beim Erkennen der Außenwelt oft genug vorkommt. Aber dabei vergißt man, daß der Sachverhalt, auf den die Regel angewendet werden soll, keiner anderen Person als dem Regelverwender bekannt sein kann. Dieser Fall kann beim Erkennen der Außenwelt nie eintreten. Die Theorie des Subjektiven Diltheys beruht auf einer derartigen Annahme eines isolierten Erkenntnissubjekts, das Sachverhalte seines Inneren erfaßt. Die korrekte Regelverwendung soll bei Dilthey durch eine und dieselbe Person gewährleistet werden, die (a) die Regel einführt, (b) die Regel allein kennt und (c) die die Regel allein anwendet. Diese Person könnte die Korrektheit der Regelverwendung nur durch einen Vergleich überprüfen: dadurch, daß sie die Regelverwendung einem Standard des Gebrauchs dieser Regel gegenüberstellt. Die Person kann sich bei diesem Vergleich auf kein außerpsychisches Kriterium stützen; sie kann nur zwei psychische Zustände miteinander vergleichen. Dieser Vergleich ist allerdings eine merkwürdige Angelegenheit. Verglichen werden zwei Sachverhalte, die ausschließlich in der Psyche des Individuums bestehen: Auf den ersten Sachverhalt soll eine Regel angewendet werden, die in Form eines erinnerten Sachverhalts existiert. Die Erinnerung an einen psychischen Zustand ist selbst ein psychischer Zustand. Dilthey meint, gerade darin, daß zwei psychische Sachverhalte miteinander verglichen werden, läge der Vorteil der hermeneutischen Selbst-Introspektion: Wenn man glaubt, man habe einen bestimmten psychischen Zustand, dann hat man ihn tatsächlich — man hat ihn zumindest in Form eines geglaubten Zustands. Wenn ich also glaube, meine Erinnerung an den Standard des Regelgebrauchs sei richtig, dann ist sie auch tatsächlich richtig. Denn diese Erinnerung existiert gegenwärtig als ein bestimmter psychischer Zustand. „Man möchte hier sagen: Richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ,richtig' nicht geredet werden kann" (PU 258). Innerpsychisch kann nicht zwischen dem Fall unterschieden werden, in dem ein psychischer Sachverhalt besteht, und dem Fall, in dem man nur glaubt, daß er bestehe. Dilthey zieht daraus den Schluß, daß man sich bei der hermeneutischen Selbst-Introspektion unmöglich täuschen kann. Tatsächlich hat er nicht unrecht. Wenn jemand sagt: „Ich erinnere mich genau an diesen Sonnenuntergang, es war ganz warm, man hörte leise Walzermusik . . .", dann kann man dem Sprecher nicht bestreiten, daß er gegenwärtig Ereignisse der Erinnerung produziert, auf die seine Beschreibung zutrifft. Wenn er nicht willkürliche Sätze gebildet, sondern Erinnerungseindrücke wiedergegeben hat, ist seine innerpsychische Wahrneh-
3.1 Subjekt-Wissen und Subjekt-Zustände
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mung und seine Beschreibung korrekt. Dennoch kann seine Frau diese Aussage bestreiten und sagen: „Ich sehe die Szene vor mir: es war kalt und dunkel; wir hörten dem Lärm von Motorrädern nach." Es ist in diesem Fall möglich, daß sich beide Personen im Vergleich zu einer intersubjektiven Wiedergabe der Ereignisse falsch erinnern, aber beide Personen ihre Erinnerungsbilder korrekt wiedergeben. Beide Aussagen sind, wenn dies der Fall ist, in einem Sinn richtig: Sie beziehen sich beide nur indirekt auf die Ereignisse in der Vergangenheit, denn sie sind Sätze über das eigene Subjekt-Wissen der Sprecher („Ich erinnere mich, daß", „Ich sehe die Szene vor mir"). Allgemein gesagt kann man sich beim Erkennen psychischer Zustände einerseits nie täuschen, andererseits unterliegt man ständig der Möglichkeit des Irrtums. Einerseits täuscht man sich nicht, weil man eine Aussage über das eigene Subjekt-Wissen macht, und diese Aussage ist richtig, weil im innerpsychischen Bereich zwischen tatsächlich wissen' und ,zu wissen glauben* nicht unterschieden werden kann. Andererseits aber kann man sich — in einem anderen Sinn — doch täuschen, weil die vermeintliche Erinnerung ein Produkt der Einbildungskraft sein kann9. Der Zustand, der einen anderen Zustand in Strukturzügen genau reproduziert, und der Zustand, von dem man dies glaubt, können allein dadurch voneinander unterschieden werden, daß man auf außerpsychische Kriterien Bezug nimmt10. Innerpsychische Kriterien, nach denen der Beobachter die Sachverhalte, die tatsächlich bestehen, gegenüber den Sachverhalten, die er nur glaubt, auszeichnet, kann es nicht geben". Denn daß ich glaube, ein Sachverhalt bestehe, besagt gerade, daß für mich kein Kriterium existiert, das meine Annahme in Frage stellen könnte. Ein psychischer Zustand besteht für die Person, die ihn hat, oder er besteht nicht — die Psyche hat keine Modalitäten. Wenn ich glaube, Schmerzen zu haben, dann habe ich in einem bestimmten Sinn tatsächlich Schmerzen. (Man darf sich nicht irreführen lassen durch die Ausdrucksweise: „Ich glaube, mich zu erinnern, daß . ..". Durch diese Redeweise wird nur ausgedrückt, daß man seiner Sache zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sicher ist.) Man kann Diltheys Behauptung, das Wissen des Beobachters über Psychisches sei durch Erkenntnissicherheit ausgezeichnet, in einem Sinn 9
Die als authentisch, wirklich, geltende Erinnerung ist eine kollektive Angelegenheit; vgl. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la momoire. Paris 1952. 10 Zur Deutung des Kriterien-Begriffs bei Wittgenstein vgl. Verf., Wongebrauch — Sprachbedeutung, S. 31 — 36. 1 ' „Ein .innerer Vorgang' bedarf äußerer Kriterien" (Wittgenstein, PU 580).
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bestätigen, wenn man sie auf das Wissen des Sprechers über seine eigenen psychischen Zustände beschränkt. Die Sätze, in denen diese An von Wissen ausgedrückt wird, sind nicht, wie man vielleicht annehmen möchte, Glaubenssätze. Die Sprecher drücken ein Wissen über sich selbst aus, und dieses bezieht sich auf Tatbestände, die tatsächlich bestehen. Es verhält sich vielmehr so, daß dieses Wissen anderen Gesellschaftsmitgliedern in manchen Fällen nicht begreiflich sein mag, weil sie selbst über ein anderes Wissen verfügen12. Ich will das Wissen des Sprechers über seine eigenen Subjekt-Zustände und sein Subjekt-Wissen ,subjektive$ Wissen'nennen. Sätze über subjektives Wissen machen Aussagen darüber, was der Sprecher in bezug auf seine Subjekt-Zustände und sein Subjekt-Wissen für wahr hält. Man kann daher nicht sagen, sie seien wahr; sie können aber, wenn sie sich auf die eigene Psyche beziehen, als ,nicht-bezweifelbar' bezeichnet werden. Ebenso dürfen sie auch nicht wegen Falschheit zurückgewiesen werden, sondern nur aufgrund von Verdacht auf Verschleierung, Unaufrichtigkeit etc. Von den Sätzen über subjektives Wissen muß scharf eine andere Kategorie von Sätzen unterschieden werden: Es ist durchaus möglich, eine Erinnerung zu kontrollieren oder an den Schmerzäußerungen einer Person zu zweifeln, kurz, Aussagen über Subjekt-Wissen und SubjektZustände als unzutreffend nachzuweisen. Man sagt z. B.: „Du glaubst nur, daß du Schmerzen hast. Aber das ist nicht wahr, du täuschst dich." So spricht man mit einem Kind, das glaubt, sich mit einem Messer geschnitten zu haben, in Wirklichkeit aber sich nur mit einer Messerschneide leicht berührt hat; oder mit einem Erwachsenen, der auf der Straße ausgeglitten ist und glaubt, einen Schlag in den Rücken erhalten zu haben etc. Man überprüft, was die Personen über ihre psychischen Zustände sagen, anhand von Kriterien, die vom subjektiven Wissen der Personen unabhängig sind und daher nicht von diesem verändert werden können. Die Kriterien sind Merkmale von Verhalten und Situationen; sie sind intersubjektiv zugänglich13. Man kann über die zweite Art von Sätzen eine allgemeine Regel aufstellen: Sätze dieser Art können nur dann gebildet werden, wenn Kriterien zu ihrer Kontrolle vorliegen. Diese befinden sich außerhalb der Subjekt-Zustände und des Subjekt-Wissens von Einzelpersonen. Die Sätze, 12
13
Vgi. Hacker, der feststellt, daß es „strong disanalogies between ,1 am in pain' und ,He is in pain' " gibt (269). Hacker stellt die kriterienlose Selbst-Zuschreibung psychologischer Prädikate der begrifflichen Erfahrung mit Hilfe von Kriterien gegenüber (270).
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die anhand über-subjektiver Kriterien kontrollierbar sind, drücken ein , intersubjektives Wissen' aus. Subjektives und intersubjektives Wissen unterscheiden sich voneinander durch Kontrollinstanz und Geltungsbereich: Intersubjektives Wissen wird von der Gesellschaft kontrolliert, subjektives Wissen vom Einzelnen. Subjektives Wissen bezieht sich auf Sachverhalte, die Bestandteile des Subjektiven (Subjekt-Zustände und Subjekt-Wissen) sind. Intersubjektives Wissen bezieht sich auf Sachverhalte, die gesellschaftliche Geltung haben; es beschränkt sich also nicht auf innerpsychische Sachverhalte. Das Ergebnis meiner Überlegung ist folgendes: Die Annahme, eine Person könne in privaten Akten über ihre Subjekt-Zustände und ihr Subjekt-Wissen intersubjektiv anerkanntes Wissen gewinnen, führt zu einer Kontradiktion. Die Regeln, die für diese Erkenntnis notwendig sind, kann es nur dann geben, wenn ihre Verwendung anhand von Korrektheitskriterien kontrolliert wird. Wir müssen aber annehmen, daß es für Regeln dieser Art, da sie privat wären, prinzipiell keine Kriterien geben kann. Die Annahme von privaten Erkenntnissen über das eigene Subjektive ist aufgrund dieser Kontradiktion unmöglich. Unser intersubjektives Wissen über die eigene und fremde Psyche muß auf anderem Weg gewonnen werden als durch direkten Zugang zu Subjekt-Wissen und SubjektZuständen. Dieses Ergebnis bezieht sich auf intersubjektives Wissen, das in Sätzen der zweiten Art ausgesprochen wird. Aber auch die Gewinnung von subjektivem Wissen, das in Sätzen der ersten Art auftritt, wird von dem Argument betroffen. Auch vom subjektiven Wissen kann man nicht annehmen, daß es mit Hilfe von pnvaten Regeln erhalten wird. Andererseits ist die Bildung von subjektivem Wissen auch nicht regellos, insofern als es bestehende Sachverhalte darstellt. Die Besonderheit dieser Art des Wissens liegt darin, daß es nicht gesellschaftlich kontrolliert wird. Aus diesem Grund ist eine Unterscheidung von tatsächlichen und eingebildeten Sachverhalten unmöglich. Ich werde im folgenden behaupten, daß auch das subjektive Wissen mit Hilfe von Kriterien gebildet, daß aber dessen Kontrolle nicht mehr von der Gesellschaft ausgeübt wird. Es entsteht nicht aus einer inneren Schau, sondern aus einer Übertragung der Kontrollfunktion von der Gesellschaft auf den Einzelnen. 3.1.3
Einige Kommentare
Die Folgerungen aus meiner an Wittgenstein orientierten Argumentation müssen durch einige Kommentare ergänzt werden:
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3 Wissen über Subjektives
(1) Wir haben immer wieder das Gefühl, daß wir unnachahmliche, einzigartige psychische Zustände in uns verspüren und daß wir durchaus in der Lage sind, diese präzise zu erkennen, in Bestandteile zu zerlegen, genau zu beschreiben und mit Sicherheit wiederzuerkennen. Dieser Eindruck soll durch meine Argumentation nicht als fälschlich nachgewiesen werden. Er bildet keine Gegeninstanz zu dem Argument gegen die privaten Regeln. Es ist wichtig, zunächst festzustellen, daß eine Selbst-Introspektion, allerdings keine der direkten Wahrnehmung, und die Einzigartigkeit psychischer Zustände durchaus weiterhin angenommen werden können. Ich kritisiere die Annahme eines direkten Zugangs zu psychischen Ereignissen. Eine Selbst-Introspektion nicht-privater Art — das ist noch zu diskutieren — ist durch diesen Einwand nicht getroffen14. Mein Standpunkt läßt sich klarer darstellen, wenn er unter genetischem Gesichtspunkt ausgedrückt wird. Die Selbst-Introspektion kann nicht als Akt aufgefaßt werden, den das Individuum in seiner Entwicklung spontan, ohne jede äußere Anleitung vollziehen kann. Wir müssen, im Gegenteil, annehmen, daß sie eine komplexe Vorgehensweise ist, die vom Individuum in sozialen Lernprozessen erworben wird: Das Individuum muß eine Reihe notwendiger Regeln erlernen; es muß über außerpsychische Korrektheitskriterien verfügen; schließlich muß es die eigenen Regelanwendungen unter Einfluß der gesellschaftlichen Kontrolle korrigieren können. Ein Blick in die Entwicklungspsychologie wird uns später zeigen, ob diese drei Bedingungen in der Forschung tatsächlich vorgefunden werden. (2) Wenn die Beobachtung eigenpsychischer Zustände prinzipiell unmöglich ist, muß die Annahme, daß wir tatsächlich ablaufende SubjektEreignisse wahrnehmen, aufgegeben werden. Der Gegenstand unseres Denkens und Redens über psychische Zustände ist demnach etwas anderes als reale psychische Zustände. Welcher Art sind diese psychischen Zustände? Wir wissen, daß Herausbildung, Kenntnis und Kontrolle nicht im Subjekt-Bereich liegen, sondern intersubjektiv sind. Sie sind daher, selbst wenn sie als noch so persönlich, intim, an die eigene Person gebunden und unaussprechlich erscheinen, gesellschaftlich geprägt; sie sind durch überindividuelle Strukturen vorgeformt. (3) Subjektives Wissen über Eigenpsychisches beruht ebensowenig wie intersubjektives Wissen auf Introspektion realer Ereignisse. Zwei Forderungen können erhoben werden: Erstens, eine Theorie psychischer Ereig14
Eine nicht private Selbst-Introspektion hat allerdings mit der privaten nur gemeinsam, daß Bezug auf eigene Erfahrungen genommen wird.
3.1 Subjekt-Wissen und Subjekt-Zustände
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nisse muß erklären, wie einerseits die Wahrnehmung psychischer Ereignisse unter intersubjektivem Aspekt und andererseits die Erzeugung der psychischen Ereignisse des subjektiven Wissens möglich sind. Zweitens muß sie begründen, warum das subjektive Wissen über Eigenpsychisches trotz des Mangels an äußeren Kriterien nicht in vollkommene Willkür und Beliebigkeit verfällt. Denn dies ist unter dem Gesichtspunkt meiner Überlegungen ein bemerkenswerter Tatbestand: daß unser subjektives Wissen über eigenpsychische Ereignisse nur selten die Kontinuität und Regelmäßigkeit unseres Verhaltens und Denkens stört15. (4) Die Kontrollinstanz für Regelanwendungen, selbst wenn sie von der Gesellschaft an einzelne Individuen delegiert worden ist, muß im Prinzip intersubjektiv sein. Ist die Gesellschaft nicht auch nur eine Ansammlung von Individuen und wird nicht in der dargestellten Konzeption die Kontrolle nur aus einem Individuum in eine Vielzahl von Individuen verlegt? Welchen Vorteil hat die Gesellschaft vor dem Individuum? Die Gesellschaft hat eine Fähigkeit, mit der ein einzelnes Individuum nicht begabt ist. Sie schafft die Rahmenbedingungen dafür, daß eine Kommunikation ihrer Mitglieder möglich wird: durch gemeinsame Tätigkeit, kollektive Ziele, Regelungen für Handlungen, gesellschaftliche Institutionen etc. Die Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder innerhalb dieses Rahmens legt Sachverhalte fest, die für alle Mitglieder gelten. Das isolierte Individuum ist dazu nicht in der Lage, weil es ohne Kontrollinstanzen, die sich außerhalb der eigenen Psyche befinden, keine Regeln verwenden kann. Die Gesellschaft erkennt die Geltung intersubjektiv kontrollierbarer Sätze an, weil diese im Prinzip eine Übereinstimmung aller Mitglieder ermöglichen. Sätze, in denen Individuen subjektives Wissen vorbringen, können von der Mehrzahl der Mitglieder unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlichen Wissens zurückgewiesen werden16. Sie werden dann gesellschaftlich als bezweifelbar behandelt oder in einen Freiraum von subjektiven Gewißhei15
16
Es läßt sich, im Gegenteil, behaupten, daß das öffentliche Leben dem subjektiven Wissen über eigenpsychische Ereignisse einen festen Platz einräumt, von dem die Gesellschaft erwartet, daß er ausgefüllt wird. Fälle, in denen die Gesellschaft eine Ausnutzung dieses Freiraums erwartet, sind z. B. Anlässe großer Emotionen: Freude über ein Wiedersehen nach langer Trennung, Schmerz über Verlust etc. Es ist bezeichnend, daß auf der Bühne große Emotionen in einer unvergleichlichen Vielfalt und in geradezu sich konträr zueinander verhaltenden Formen ausgedrückt werden können. Subjektives Wissen wird dann anerkannt, wenn es ein intersubjektives Wissen gibt, das — allerdings unter intersubjektivem Aspekt — zu gleichen Resultaten kommt. Es gibt auch einen zweiten, wahrscheinlich bedeutenderen Fall der
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ten eingewiesen, der den Charakter einer Isolierzelle hat: Das überindividuelle Wissen der Gesellschaft wird vor abweichendem subjektiven Wissen geschützt; andererseits werden die Träger des abweichenden Wissens vor gesellschaftlichen Sanktionen (z. B. als verrückt, unzuverlässig und ähnliches zu gelten) bewahrt. Der Freiraum, der subjektivem Wissen eingeräumt wird, hat eine wichtige Funktion dafür, daß die Gesellschaftsmitglieder ihre Normalität erhalten können17. 3.1.4
Welchen Wert haben Sätze über subjektives Wissen?
Dilthey meint, mit der Selbst-Introspektion eine unerschütterliche Beobachtungsbasis ausgezeichnet zu haben. Inwieweit hat Dilthey unrecht? Sätze über subjektives Wissen sind tatsächlich nicht bezweifelbar, weil sie Aussagen über Subjekt-Zustände und Subjekt-Wissen desjenigen machen, der sie behauptet. Sie sagen aus, daß in der Psyche des Beobachters ein bestimmter Sachverhalt besteht. Ob dieser nur geglaubt wird oder ,wirklich besteht' ist nicht entscheidbar, weil es in der Psyche keine derartige Differenz gibt. Der Beobachter handelt daher vollkommen den Regeln der innerpsychischen Wahrnehmung entsprechend, wenn er den geglaubten psychischen Sachverhalt als bestehend ausgibt. Aber aus diesem Grund können Sätze über subjektives Wissen auch keine größere ErkenntnisSicherheit als Sätze über intersubjektiv kontrolliertes Wissen für sich in Anspruch nehmen. Im Gegenteil: Die Erkenntnisse, die sie vermitteln, verfehlen eine grundsätzliche Forderung, die an intersubjektiv geltende Sätze gestellt wird: zwischen eingebildeten und bestehenden Sachverhalten zu unterscheiden. Der Standpunkt des Handelnden ist wesentlich in seinem subjektiven Wissen begründet. Wenn er unter einwandfreien Forschungsbedingungen rekonstruiert worden ist, kann er als ein Ausgangsdatum hermeneutischer Forschungen, das nicht weiter in Frage gestellt werden kann, angesehen werden. Zweifel am Standpunkt des Handelnden sind nur unter dem Aspekt einer anderen Art von Wissen möglich. Unter dem Gesichtspunkt des Handelnden läßt sich der Teilnehmerstandpunkt nicht in Zweifel ziehen.
17
Anerkennung: wenn die Mitglieder einer Gruppe oder einer Gemeinschaft in ihrem subjektiven Wissen übereinstimmen. Vgl, dazu den Abschnitt über das kollektive subjektive Wissen (3.3.5). Es kann allerdings auch vorkommen, daß dieser Freiraum zu häufig und in zu starker Abweichung vom intersubjektiven Wissen in Anspruch genommen wird. Personen, bei denen dies in auffallender Weise geschieht, stehen in Gefahr, den Status der normalen Person zu verlieren.
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In den Naturwissenschaften, die vollständig vom Standpunkt eines empirischen Individuums abstrahieren, ist die Unbezweifelbarkeit von Aussagen unzulässig. Diese Annahme ist am schärfsten in der Falsifikationstheorie ausgeformt18. Nach deren Forderung sind alle nicht-falsifizierbaren Aussagen aus den empirischen Wissenschaften zu eliminieren. Man könnte unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftstheorie die hermeneutische Werthierarchie von Aussagen umkehren: Die unbezweifelbaren Aussagen wären danach, weil sie gegen Falsifikationen immun sind, die niedrigsten in bezug auf ihren wissenschaftlichen Wert, die bezweifelbaren die höheren. Für diese Umkehrung spräche auch, daß unbezweifelbare Sätze zugunsten von bezweifelbaren aufgegeben werden können (z. B. wenn das Individuum aus äußeren Gründen einsieht, daß es sich getäuscht hat). Aber es ist sinnvoller, jede Hierarchisierung von Sätzen zu unterlassen19. Es kommt auf den Aspekt an, unter dem Sätze über Wissen verwendet werden. In psychologischen, ethnologischen, soziologischen und linguistischen Feldforschungen, in politischen Erhebungen, in der Beobachtung von Alltagsverhalten, in der Literaturwissenschaft, kurz, überall, wo die Einschätzung, die Individuen über bestimmte Sachverhalte haben, sich handlungsbestimmend auswirkt, ist die Kenntnis von subjektivem Wissen unerläßlich20. Den Standpunkt des Handelnden, der unter dem Aspekt der analytischen Wissenschaftstheorie gern als subjektiv-irrationale Festsetzung von Individuen angesehen wird, zu kennen, ist für die Handlungswissenschaften eine notwendige Voraussetzung. Soweit handlungswissenschaftliche Forschungen auf Selbstdarstellungen, -beobachtungen, -Zeugnisse, -aussagen zurückgreifen, ist Diltheys Beobachtung richtig, daß sie sich in einer Hinsicht auf unbezweifelbares Datenmaterial stützen können. Darin liegt allerdings kein Vorzug der Handlungswissenschaften, wohl aber ein wichtiger Unterschied zu den 18 19
20
Vgl. K. R. Popper, I. Lakatos, J. Agassi, H. Albert. Nach Auffassung der Falsifikationstheorie haben unbezweifelbare Aussagen als metaphysische zu gelten. In bezug auf Aussagen des subjektiven Wissens kann dies aber gerade nicht angenommen werden. Es handelt sich eindeutig um empirische Aussagen. Eher ist anzunehmen, daß die Falsifikationstheorie auf Aussagen, die nicht-bezweifelbares subjektives Wissen ausdrücken, nicht anzuwenden ist. Vgl. Harre und Secord: „The things that people say about themselves and other people should be taken seriously as reports of data relevant to phenomena that really exist and which are relevant to the explanation of behaviour .. . Traditional arguments against taking self reports seriously overlook the fact that at least some statements are not a sign of a state of mind, but themselves constitute that state of mind (e.g., to complain is to be discontented)" (7).
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3 Wissen über Subjektives
Naturwissenschaften. Die Handlungswissenschaften haben mit der enormen methodischen Schwierigkeit zu kämpfen, daß über Sachverhalte zugleich subjektives und intersubjektives Wissen vorhanden ist und beide Wissensarten miteinander verglichen oder sogar verbunden werden müssen. 3.2 Der gesellschaftliche Charakter des Subjektiven In diesem Abschnitt werde ich das Geist-Modell der Hermeneutik durch ein andersartiges ersetzen. Eine wichtige Forderung, die an die neue Konzeption gestellt werden muß, besteht darin, daß sie unsere intuitiven Einsichten in unsere Psyche und Vorstellungen über die psychischen Prozesse, die wir wahrnehmen, nicht einfach unterdrückt, indem sie diese rundweg für falsch ausgibt. Diese sollten vielmehr ständig berücksichtigt und Abweichungen von unseren Intuitionen einsichtig gemacht werden. 3.2.1 Tatsächliche psychische Zustände Gleich die Grundannahme, auf der das neue Modell aufgebaut wird, scheint unsere Intuitionen kräftig zu verletzen: Über tatsächliche psychische Zustände, deren Existenz von der hermeneutischen Geist-Theorie postuliert wird, können wir nichts wissen. Mit seiner Vorliebe für paradoxale Formulierungen sagt Wittgenstein, sie seien „irrelevant": es könne durch sie „gekürzt werden" (PU 293). — Aber sind denn meine Kopfschmerzen nicht meine Schmerzen, sondern eine gesellschaftliche Erscheinung? — Diese Überlegung ist vollkommen berechtigt, aber sie ist kein Einwand gegen Wittgensteins Argumentation. Dies läßt sich in folgender Weise zeigen: Wenn wir sagen: „Ich habe einen stechenden, durchdringenden Kopfschmerz", dann können wir uns nicht auf tatsächliche Schmerzereignisse beziehen, weil wir darüber nichts wissen. Diese Behauptung gilt sowohl für das subjektive als auch für das intersubjektive Wissen. Subjektives Wissen: Man könnte meinen, daß sich die Schmerz-Aussage auf physiologische Ereignisse, die man als Grundlage von Schmerzempfindungen auffassen könnte, beziehen würde. Aber wenn wir Schmerzen haben, nehmen wir keine physiologischen Prozesse wahr. Unseren Wahrnehmungen einer bestimmten Schmerzart müssen nicht notwendig gleichartige physiologische Ereignisse zugrunde liegen. Ein eingebildeter Schmerz, dem bestimmte physiologische Prozesse zugrunde liegen, ist in der innerpsychischen Wahrnehmung von echtem Schmerz, dem ganz
3.2 Der gesellschaftliche Charakter des Subjektiven
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andersartige physiologische Prozesse zugrunde liegen, nicht zu unterscheiden. Umgekehrt ist es aber auch möglich, daß in meinem Körper physiologische Prozesse ablaufen, die den Medizinern als Erreger von Schmerzempfindungen bekannt sind, und daß ich dennoch keine Schmerzen fühle. Die Existenz physiologischer Prozesse einer bestimmten Art ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung dafür, daß eine Person Schmerzempfindungen hat21. Intersubjektives Wissen: Meine Kopfschmerzen gehören durchaus mir selbst, aber der Sachverhalt, , Kopf schmerzen zu haben', ist intersubjektiv festgelegt. Diesen Umstand kann man daran erkennen, daß jemand, damit wir ihm .Kopfschmerzen' zuschreiben, eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllen muß. Eine Bedingung kann man nicht erfüllen, nämlich daß man Kopfschmerzen tatsächlich hat. Das Possesivpronomen in dem Ausdruck ,meine Kopfschmerzen' zeigt keinen dinglichen Besitz an, sondern eine Attribuierung von gesellschaftlich geschaffenen Konstrukten. Es gibt weder unter dem Aspekt subjektiven noch unter dem intersubjektiven Wissens eine Ursache-Wirkungs-Beziehung, eine Übersetzung oder eine andere Relation zwischen physiologischen Prozessen und Subjekt-Zuständen. Physiologische Prozesse sind wissenschaftliche, Subjekt-Zustände alltagssprachliche Konstrukte22. Es gibt Übereinstimmungen im Definitionsbereich beider Arten von Konstrukten, aber vor allem ist die Verschiedenheit hervorzuheben: Die umgangssprachlichen Konstrukte werden anders festgelegt als die wissenschaftlichen; in ihre »Definitionen' gehen z. B. Bestandteile der Vorgeschichte, Vorstellungen und Projektionen von Individuen ein. Es ist z. B. für einen Schmerzzustand, der unter dem Aspekt intersubjektiv kontrollierbaren Wissens wahrgenommen wird, bedeutsam, daß er sich in bestimmten Folgewirkungen, die in allen Fällen gleichartig sein müssen, äußert. Denn Schmerzzustände werden weitgehend mit Hilfe von mutmaßlichen Folgewirkungen festgelegt und erkannt. 21 22
Siehe Hacker, S. 241. Schmerzen-Haben ist in meiner an Wittgenstein orientierten Interpretation ein Wissen. Dieses Wissen unterscheidet sich grundsätzlich von wissenschaftlichem, z. B. physiologischem Wissen, obwohl es in vielen Fällen zu gleichartigen Tatsachenfeststellungen kommen kann. Die hier vertretene Annahme scheint in einem Gegensatz zu der von Darwin ausgehenden Erforschung des Gefühlsverhaltens (vgl. z. B. Darwin, 24 und 26) zu stehen. Es ist aber nicht aus dem Auge zu verlieren, daß es bei meinen Überlegungen um die Wahrnehmung von Empfindungen desjenigen, der diese hat, und seiner Beobachter geht. Der an Darwin orientierte Ansatz legt hingegen die wissenschaftliche Beobachtung zugrunde. Es müßte möglich sein zu zeigen, in welchem Verhältnis die wissenschaftliche und die nicht-wissenschaftliche Beobachtung zueinander stehen.
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Diese können aber durch Ursachen ganz unterschiedlicher Art bewirkt werden. Wie wird der Sachverhalt, ,Kopfschmerzen haben', intersubjektiv festgelegt? Bestimmte Merkmale des Verhaltens werden von der Gesellschaft aus dem Verhaltensablauf hervorgehoben, wie z. B. erhöhte Temperatur, Schweißausbrüche, Übergeben, an den Kopf fassen, klagende Laute, langsame Bewegung etc. Weiterhin werden aus dem Fluß der Ereignisse besondere Vorkommnisse, die die Vorgeschichte ausmachen, isoliert und herausgelöst, wie z. B. die Tatsache, daß die leidende Person von einem Kollegen bei offenem Fenster empfangen wurde, daß sie nachts kein Auge zugetan hat, daß ihr ein Stein auf den Kopf gefallen ist etc. Die hervorgehobenen Verhaltensmerkmale sind „Kriterien" für das Bestehen eines Schmerz-Zustandes23. Weiterhin kommen Kenntnisse und Erfahrungen über die Eigenarten, Gewohnheiten und den Charakter der leidenden Person hinzu, die einer feststehenden Schematisierung zugeordnet, z. B. einem sensiblen, harten, wehleidigen Charakter, oder zu allgemeinen Sätzen generalisiert werden, z. B. daß die Person unter bestimmten Umständen immer gleichartig reagiert. Aufgrund der hervorgehobenen Merkmale, der Kenntnisse und Erfahrungen wird eine Annahme über den Subjekt-Zustand der beobachteten Person gebildet, die deren Verhalten vereinheitlicht: Eine Reihe von Verhaltensmerkmalen werden zu einer festen Merkmalsstruktur miteinander verbunden. 3.2.2 Wittgensteins Käfer-Beispiel und notwendige Korrekturen Wittgenstein stellt seine Annahmen über psychische Zustände in Form eines Gleichnisses dar, im „Käfer-Beispiel"24: Nehmen wir an, in unserem Besitz befinde sich eine Schachtel, die unmöglich geöffnet werden könne. Die Schachtel zeige in bestimmten Umständen charakteristisches regelhaftes Verhalten: Wenn wir ihre Lage verändern, hören wir aus dem Innern ein leise schlagendes Geräusch; wenn wir eine ihrer Seiten über eine Flamme halten, verändert sich ihr Gleichgewicht zu einer der Flamme entfernt liegenden Seite; weiterhin stellen wir in bestimmten Perioden des Jahres Gewichtszunahmen fest und zu bestimmten Tageszeiten Summtöne. Wir werden niemals wissen, was sich in der Schachtel befindet — nicht einmal, ob sie überhaupt etwas enthält. (Diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen: Eine Schachtel, die nie geöffnet werden kann und die zudem ein außergewöhnliches Verhalten 23 24
Siehe zu Wittgensteins Kriterien-Begriff die interessante Arbeit von Birnbacher. Philosophische Untersuchungen, 293.
3.2 Der gesellschaftliche Charakter des Subjektiven
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zeigt, könnte schließlich alle festgestellten Verhaltensweisen aufgrund von Materialveränderungen selbst produzieren.) Wir entschließen uns, alle an der Schachtel beobachteten Verhaltensweisen einer einzigen Instanz zuzuschreiben: Alle Verhaltensweisen, die wir an der Schachtel erkennen, werden wir als Handlungen einer imaginären Instanz ansehen, die wir ,Käfer* nennen. Der Ausdruck ,Käfer' bezeichnet in diesem Fall nicht die tierischen Lebewesen, die mit ihm assoziiert werden, sondern ist ein Kunstterm. ,Käfer* ist eine konstruierte Instanz, die wir für Verhaltensweisen, welche wir den ,Käfern' zuschreiben, verantwortlich machen25. Wir bilden eine naive Theorie, die einen Zusammenhang zwischen den Verhaltensformen der Schachtel und den ,Käfern' herstellt. Den Begriff der ,Käfer' können wir nur in bezug auf diese Theorie sinnvoll verwenden. Dies läßt sich daran sehen, daß man von den ,Käfern' nicht sprechen könnte, wenn sich die Schachtel nicht in einer bestimmten Weise verhalten würde. Denn nur aufgrund des Verhaltens der Schachtel haben wir den Begriff ,Käfer' einführen können. Im Rahmen der naiven Theorie sind die Verhaltensweisen der Schachtel Indizien für das Vorkommen von »Käfern'. Psychische Zustände sind nach Wittgensteins Annahme konstruierte Einheiten, die wir mit Hilfe von naiven Theorien, die wir bilden, für Verhaltensweisen von Personen verantwortlich machen. Die naiven Theorien erfüllen drei Funktionen: l. Sie wirken bei der Konstruktion von SubjektZuständen mit. 2. Sie bilden wesentliche Bestandteile des Subjekt-Wissens; sie dienen z. B. der Identifizierung spezifischer Subjekt-Zustände. 3. Sie sind in den Sprachregeln der Ausdrücke über Subjektives involviert. Wittgenstein meint, daß von bestimmten festgelegten Kriterien auf einen spezifischen psychischen Zustand geschlossen werden kann. Aber nach unserer Darstellung ist diese Annahme viel zu grob. In den Schluß müssen Ereignisse aus der Vorgeschichte, Erfahrungswerte und Personenkenntnis mit eingehen. In vielen Fällen wird nicht einmal dies genügen, z. B. bei der Wahrnehmung von Enttäuschung, Überraschung, Motivation etc. In allen diesen Fällen muß man zusätzlich zur Vorgeschichte Zukunftsprojektionen der Personen selbst kennen. 25
Dadurch daß wir zur Bezeichnung der hypothetischen Ursache des SchachtelVerhaltens den Namen bestimmter tierischer Lebewesen gewählt haben, stellen wir allerdings auch eine enge Analogiebeziehung zwischen beidem her. Im normalen Umgangssprachverhalten würde kurze Zeit nach Einführung dieser Verwendungsweise von ,Käfer' der Analogiecharakter vergessen und die hypothetische Ursache ganz genauso wie Käfer behandelt werden. Wittgensteins Vergleich abstrahiert hingegen weitgehend von der Analogiebeziehung.
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3 Wissen über Subjektives
Ich lege Nachdruck auf das Ungenügen der Wittgensteinschen Annahme, weil diese in ihrer attraktiven Einfachheit vorgibt, die eigenpsychische Wahrnehmung verwende genau dieselben Regeln wie die fremdpsychische, aber dies kann nach meinen Hinzufügungen bezweifelt werden: (1) Die Vorgeschichte kann so weit unbemerkt und verborgen bleiben oder geheim gehalten werden, daß sie nur dem Handelnden selbst bekannt ist. Noch deutlicher ist dies bei Projektionen: Handlungsintentionen, Zielsetzungen, Zukunftshoffnungen, -Visionen etc. werden häufig verschwiegen. Niemand kann sie besser kennen als der Handelnde selbst26. Mit den Erfahrungswerten und der Personenkenntnis verhält es sich ebenso: Der Handelnde erlebt sich selbst in derart verschiedenen Situationen und hat die Möglichkeit, seinen Charakter bei so unterschiedlichen Gelegenheiten zu testen und kennenzulernen, daß es sinnlos ist zu sagen, ein äußerer Beobachter könne ihn ebensogut kennen wie er sich selbst. Man darf sich nicht irreführen lassen durch den Fall, daß jemand eine andere Person besser beurteilen kann als diese sich selbst. Die Beurteilung bezieht sich auf eine Reihe psychischer Zustände, die den Handelnden an einer normalen Selbst-Orientierung hindern — wie z. B. bei Feststellungen von der Art: „Du bist ja verliebt", „Die Enttäuschung steht dir im Gesicht geschrieben", „Du mußt aber gelitten haben". Es gibt Fälle, in denen es der betroffenen Person nicht gelingt, eine Selbst-Interpretation zustandezubringen, die die wichtigsten wahrgenommenen Subjekt-Zustände der eigenen Psyche zusammenzufassen fähig ist. Der Grund dafür kann sein: ein Überangebot an Daten, das die Person verwirrt; eine Faktenblindheit gegenüber bestimmten Zuständen, z. B. aus einer dogmatischen Verengung heraus; das Fehlen von Interpretationskategorien, wie kleine Kinder beispielsweise einen melancholischen Zustand zu erkennen nicht in der Lage sind. Aber Fälle dieser Art sind Ausnahmen. Handelnde interpretieren sich bei ihrem Handeln ständig selbst, und sie sind des Erfolgs ihres Handelns 26
Jeder einzelne Zug der Vergangenheit, jede Intention, jede Zukunftsprojektion mag gesellschaftlich rekonstruierbar sein. Aber Beobachter rekonstruieren immer nur einen winzigen Ausschnitt aus der Vergangenheit, eine oder wenige Intentionen und Zukunftsprojektionen. Sie kennen also immer nur einen Bruchteil von dem, was der Handelnde kennt. Der Wissensunterschied ist so groß, daß er die Annahme eines unterschiedlichen Wissens von Handelndem und Beobachter rechtfertigt. Mein Argument ist dies: Aus der Tatsache, daß Erinnerungen, Intentionen, Zukunftsprojektionen etc. gesellschaftlich konstituiert sind, läßt sich nicht die Annahme rechtfertigen, daß die Gesellschaft prinzipiell ebensoviel wie der Handelnde darüber wissen kann. Dies Argument betrifft das intersubjektive Wissen.
3.2 Der gesellschaftliche Charakter des Subjektiven
81
wegen ständig darauf angewiesen, sich richtig zu interpretieren. Bei der eigenpsychischen Wahrnehmung verfügt man nicht nur über relativ mehr und bessere Daten, sondern man verfügt über eine Wissensmenge, die eine andere Person sowohl aus praktischen wie aus prinzipiellen Gründen nie anhäufen kann (vgl. aber die Bemerkung (3) weiter unten). (2) In bezug auf die Kriterien kann man gleichartig, wie unter (1), argumentieren: Es gibt eine Fülle von Kriterien, die der Handelnde kennt, aber ein Beobachter nie zu kennen in der Lage ist, z. B. in Fällen von leichtem Schwindel, Abschwächung der Wahrnehmung, Flimmern vor den Augen etc. Die Verwendung des Kriterienbegriffs bei Wittgenstein erweckt den Eindruck, als könnten alle psychischen Zustände von Personen mittels beobachtbarer Kriterien im Verhalten erschlossen werden. Aber sehr häufig schließen wir von beobachtbaren Kriterien auf einen psychischen Zustand und dann noch einmal von den psychischen Zuständen, die wir erschlossen haben, auf einen höherstufigen psychischen Zustand. So schließen wir von bestimmten Bewegungsmerkmalen einer Person A darauf, daß A unruhig ist, dann darauf, daß A unzufrieden ist und sich gehen läßt, und schließlich darauf, daß A eine Krise durchlebt. In Fällen komplexer Deutungen von beobachtetem Verhalten durchlaufen wir eine Folge von immer höherstufigen Schlüssen, und nur auf den untersten Stufen sind die Kriterien, von denen auf psychische Zustände geschlossen werden kann, beobachtbar. Dieser Zusatz zu Wittgensteins Konzeption ist wiederum wichtig für die Unterscheidung von eigen- und fremdpsychischer Wahrnehmung. Bei der eigenpsychischen Wahrnehmung, in intersubjektiver Perspektive, sind wir fähig, in viel höhere Stufen vorzudringen als bei der fremdpsychischen Wahrnehmung. Denn wenn ein Beobachter schon in vielen Fällen Schwierigkeiten hat, von Beobachtungen auf psychische Zustände zu schließen, wird er auf unüberwindliche Schwierigkeiten treffen, wenn er in höherstufige Bereiche gelangt. Unsere Personenwahrnehmung bleibt in diesen Fällen profillos und flach. (3) Die Gesellschaft beharrt auf einer Art Interpretationsmonopol gegenüber den Individuen: Sie ist es, die über die Existenz eines psychischen Zustands entscheidet, nicht die betroffene Person selbst. Ein psychischer Zustand, den eine Person von sich behauptet, muß gesellschaftlich bestätigbar sein. Ist er dies nicht, riskiert die Person, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Intersubjektives Wissen wird im Zweifelsfall subjektivem Wissen vorgezogen. (4) Die Sprechweise, daß wir von den Kriterien auf Subjekt-Zustände »schließen*, kann leicht zu Irrtümern Anlaß geben. Es ist absurd anzuneh-
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3 Wissen über Subjektives
men, daß wir von einem starken Gefühl, z. B. einem brennenden Schmerzgefühl, mit Hilfe eines logischen Verfahrens darauf schließen sollten, daß wir die Schmerzen einer Verbrennung fühlen. Eben diese Vorstellung, wir könnten uns der eigenen Person gegenüber wie ein Arzt zu einem Kranken verhalten, erscheint den Gegnern der Wittgensteinschen Konzeption verdächtig. Mit Recht; ich will sie in der Ablehnung dieser Vorstellung bestärken. Die Sprechweise des ,Schlüsse-Ziehens' soll nichts anderes ausdrücken, als daß die Wahrnehmung eigener SubjektZustände keine direkte Wahrnehmung ist, bei der die wahrgenommenen Gegenstände selbst erkannt würden, sondern ein Erkenntnisvorgang, der das Erkenntnisobjekt wesentlich mitkonstituiert27. (5) Bei der gesellschaftlichen Formung von Subjekt-Zuständen und Subjekt-Wissen lassen sich zwei verschiedene Aktivitäten unterscheiden: Einerseits wirkt die Gesellschaft auf das Subjektive ihrer Mitglieder ein, indem sie diese ausformt und vereinheitlicht28. Andererseits bringen die Individuen auch ein artspezifisches Empfindungsverhalten hervor, das in manchen Fällen nur noch oberflächlich sozial überformt werden kann29. In diesen Fällen sind eine Reihe von Verhaltensmerkmalen bereits vorgeformt und werden von den Mitgliedern der Gesellschaft instinktmäßig aus der Situation hervorgehoben. Die gesellschaftliche Formung konzentriert sich auf die kulturspezifische Ausarbeitung des entsprechenden Empfindungsverhaltens und Subjekt-Zustands. Sie weist diesen z. B. einen Platz in ihrem System des Verhaltens und der Subjekt-Zustände zu, bewertet sie, entwickelt allgemeine Erfahrungssätze über sie (z. B. darüber, wie sie zu bekämpfen oder zu verfeinern seien) und vereinheitlicht die Beziehung zwischen Subjekt-Zuständen und zugeordnetem Verhalten30. Die genaue Beziehung von instinktmäßigem Verhalten und gesellschaftlicher Formung interessiert an dieser Stelle nicht. Es kommt nur darauf an, den
27 28 29 30
In der Wahrnehmung von Subjekt-Zuständen liegt eine kognitive Leistung: die Anwendung einer (naiven) Theorie. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel handelt N. Elias mit seiner Darstellung der gesellschaftlichen Züchtung von Scham und Ekel ab. Siehe hierzu insbesondere die Arbeiten von Darwin und Eibl-Eibesfeld. Es ist aber auch möglich, daß die Gesellschaft — manchmal mit Erfolg — versucht, artspezifisches Empfindungsverhalten zu unterdrücken, und daß andererseits Individuen bestimmte Merkmale von anspezifischem Empfindungsverhalten produzieren, ohne daß der entsprechende Auslösmechanismus in Tätigkeit tritt. Daß beides möglich ist, liegt in der Wittgensteinschen Annahme begründet.
3.2 Der gesellschaftliche Charakter des Subjektiven
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gesellschaftlichen Charakter von Subjekt-Zuständen, Subjekt-Wissen und den zugeordneten Verhaltensweisen hervorzuheben31. 3.2.3
Die Entwicklung der Personen-Wahrnehmung
Der entwicklungspsychologische Standort wird in Flavells Übersicht über die Arbeiten zur Personen-Wahrnehmung referiert. Ich gebe ihn in groben Zügen wieder: Das erste Problem im Erwerb der Personen-Wahrnehmung ist folgendes: Das Kind muß zuerst gewahr werden, daß es „psychologische Basisereignisse und -prozesse, die wir Perzeptionen, Emotionen, Intentionen, Gedanken, Erinnerungen etc." nennen, überhaupt gibt, und zwar in der eigenen wie in der fremden Psyche (Flavell, 73). Die Erkenntnis dieses Sachverhalts wird ermöglicht, dadurch daß die Fähigkeit erworben wird, vom Verhalten und von situativen Umständen Schlußfolgerungen auf psychische Zustände zu ziehen. Nach Flavell besteht diese Fähigkeit aus drei Komponenten: Das Individuum muß ein Basiswissen in Form von naiven Theonen über psychische Zustände zusammenstellen (Existence-Component). Es muß fähig sein, Schlußfolgerungen zu ziehen (Inference-Component). Es muß erkennen, daß die gegebene Situation Anwendungen des Basiswissens und Schlußfolgerungen verlangt (Need-Component) (Flavell, 111). Flavell unterscheidet verschiedene Stufen in der Entwicklung der Fähigkeit der Personen-Wahrnehmung. Auf der ersten Stufe haben Kinder noch kein Wissen davon, daß die inneren Ereignisse und Prozesse fremder Personen nicht dieselben wie die eigenen sein müssen. Erst auf den höheren Entwicklungsstufen werden Kinder gewahr, daß ihre eigenen psychischen Zustände potentiell von denen anderer Personen verschieden sind32. Die Kinder beginnen, von ihren eigenen Standpunkten und Erlebnissen zu abstrahieren. Das frühkindliche ichbezogene Denken und Wahrnehmen wird „dezentriert"33. Die dabei erworbene Unterscheidungsfähigkeit führt zu einem erhöhten Selbstbewußtsein und einem verstärkten Begriff der eigenen Person (self concept, 74). 31
32
33
Der gesellschaftliche Charakter ist zu einem bedeutenden Anteil in der Sprache niedergelegt; vgl. Hacker, 245. Das Kind bemerkt, daß „O's inner events and processes (...) need not be the same as those of S himself currently or chronically experiences" (Flavell, 73). Der Begriff der „Dezentrierung" wird insbesondere im Werk Piagets ausgearbeitet.
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3 Wissen über Subjektives
Der Entwicklungsgesichtspunkt ist in den sprachanalytischen Überlegungen nicht aufgetreten. Nach Flavells Darstellung entwickelt sich die Fähigkeit der Personen-Wahrnehmung in Abhängigkeit zur allgemeinen Intelligenz-Entwicklung (79). Entwickelt wird vor allem die TheorieKomponente dieser Fähigkeit: „a great deal of highly structured but unusually inexplicit knowledge or ,naive theory' . . . about how various sorts of people are likely to react, internally and externally, in various situations . . . this knowledge is more specifically interpersonal in its application, and also undoubtedly more specifically interpersonal in its developmental origins" (80). Mit der Erkenntnis eines Unterschieds zwischen eigen- und fremdpsychischen Zuständen ist die erste Stufe der Personen-Wahrnehmung (im Vorschulalter) erreicht. Kinder sind in diesem Stadium fähig, visuelle Perzepte und Emotionen anderer Personen wahrzunehmen. Dies ist eine wesentliche Errungenschaft, denn zum ersten Mal bilden die Kinder nicht mehr allein kognitive, sondern „metakognitive" Fähigkeiten aus: „die Fähigkeit (ability), Kognitionen über Kognitionen zu bilden" (74)34. Man kann nachweisen, daß Kinder auf dieser Stufe „wenigstens einige emotionale Zustände (z. B. ,froh', ,traurig') vom Gesichtsausdruck „anderer Personen korrekt erschließen (infer) können" (79). Sie können weiterhin vorhersagen, welche visuellen Erfahrungen andere Personen machen werden. Aber ihre Personen-Wahrnehmung ist auf dieser Stufe noch unvollständig. Sie sind, wenn sie Informationen geben, noch nicht in der Lage, die Antwortfähigkeit (responsive capabilities) des Hörers aufmerksam zu beobachten (wenn sie z. B. über Ereignisse reden, die der Hörer nicht kennt)35. In den Grundschuljahren tritt nach Miller, Kesseil & Flavell ein deutliches Anwachsen des Gewahrwerdens (awareness) der potentiellen rekursiven, in sich selbst eingebetteten (self-embedded) Natur des menschlichen Denkens auf, z. B. „A denkt, daß B denkt, daß C denkt..." (75). Das Basiswissen und die Fähigkeit des Schlußfolgere steigen während der späteren mittleren Kindheit und im Jugendalter stark an. Das Anwachsen der Fähigkeiten erkennt man an der zunehmenden Komplexität von Personenbeschreibungen (77). Die Kinder bilden auf dieser Stufe die Einsicht aus, daß sie von den Gegenständen, die sie wahrnehmen, einen besonderen positionsbestimmten Gesichtspunkt haben, der von dem anderer Personen abweicht (96). 34
35
Man findet diese Fähigkeit im frühen Vorschulalter und z. T. noch früher (Flavell, 79). Flavell, 78.
3.2 Der gesellschaftliche Charakter des Subjektiven
85
Die allgemeine Tendenz, die sich in der Entwicklung ausdrückt, charakterisiert Flavell wie folgt: „ . . . each level seems to reflect a more abstract, internal-percept-orientated versus external-objekt-orientated, form of knowledge than its predecessors. The higher the level, in other words, the more clearly and unambiguously one is dealing with inferences about percepts rather than about objects" (100). 3.2.4
Folgerungen
Vier Folgerungen lassen sich aus der sprachanalytischen und entwicklungspsychologischen Diskussion ziehen: (1) Die Kenntnis fremder und eigener Subjektivität beruht auf (intersubjektiven) Regeln und Annahmen: auf naiven Theorien, Schlußregeln und Kenntnissen über Anwendbarkeit von naiven Theorien und Schlußregeln. Auch die eigenen Subjekt-Zustände werden unter Kontrolle der Gesellschaft herausgebildet, dann weitgehend vom Individuum selbst ausgearbeitet. Der Entwicklungsverlauf scheint bei allen Individuen gleichartig zu sein. (2) Der von der Hermeneutik postulierte Unterschied zwischen der Wahrnehmung eigener und fremder psychischer Zustände fällt fön. Denn dieser besteht nach Annahme der Hermeneutik darin, daß die eigenen psychischen Zustände unmittelbar, diejenigen fremder Personen hingegen durch Vermittlung von Verhaltensbeobachtung erkennbar sind. An die Stelle dieser Unterscheidung tritt die Differenzierung zwischen subjektivem und intersubjektivem Wissen. (3) Unter dem Aspekt intersubjektiven Wissens ist jedes Individuum, das eigene psychische Zustände erkennt, ein Beobachter seines eigenen Verhaltens, wie er Beobachter psychischer Zustände fremder Personen ist. Eine Art Schluß findet in beiden Fällen statt. Auch in der Selbst-Beobachtung kann eine Person nur mit Hilfe institutionalisierter Regeln Zustände der eigenen Psyche erkennen, wenn auch sehr viel feiner und präziser wegen der ungleich schärferen und detailreicheren Kenntnis der Situation, der Projektionen und der eigenen Vorstellungen36. (4) Unter dem Aspekt subjektiven Wissens schafft sich das Individuum einen Spielraum, der eigenständige Regelverwendungen und neuartige Regelschöpfungen ermöglicht. Das subjektive Wissen bezieht sich auf 36
Meine Argumentation oben, S. 81, hat zeigen sollen, daß intersubjektives Wissen über die eigene Person vor demjenigen über fremde Personen besonders ausgezeichnet ist. Der Grund für die Auszeichnung liegt aber eben nicht, wie Dilthey behauptet, in einem besonderen Erkenntnisverfahren.
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3 Wissen über Subjektives
einen Erkenntnisbereich, in dem tatsächliche und eingebildete Sachverhalte nicht unterscheidbar sind. Die Entstehung von intersubjektivem Wissen über Subjektives ist anhand der Wittgensteinschen Konzeption diskutiert worden. Wie subjektives Wissen entsteht, ist bisher noch nicht geklärt worden. Wittgenstein stellt sich dieses Problem nicht: Bei seiner scharf ablehnenden Argumentation gegen die Idee einer privaten Regelverwendung lehnt er jede nichtgesellschaftliche Regelverwendung ab. Ich behaupte hingegen, eine von der Gesellschaft eingeführte und gelehrte Regel wird noch nicht durch eine individuelle, nicht gesellschaftlich kontrollierte Verwendung privat. Im folgenden Abschnitt werde ich angeben, aus welchem Grund und auf welche Weise subjektives Wissen entstehen kann. 3.3
Subjektives Wissen
Meine Diskussion des Symbolischen Wissens über Subjektives ist von Wittgensteins Argument ausgegangen, daß der Gegenstandsbereich dieses Wissens gesellschaftlich geformt ist. In meiner Argumentation bin ich zu dem Schluß gekommen, daß der Bereich als zweigespalten aufgenommen werden muß: Je nachdem, von wem er wahrgenommen wird — vom Beobachter oder vom Akteur selbst —, kann er ein unterschiedliches Ansehen haben. Und dies nicht nur in dem, was seinen Umfang angeht, sondern prinzipiell auch in dem, was wahrnehmbar ist37. In intersubjektiver Perspektive existiert, was wahrnehmbar ist, dadurch daß die Gesellschaft darüber übereinstimmt. In subjektiver Perspektive existiert, was eine Person wahrnimmt, weil diese es wahrnimmt. Wenn ich weiß, daß ich Magenschmerzen empfinde, dann habe ich Magenschmerzen. 3.3.1
Die Verinnerlichung gesellschaftlicher Kontrolle
Ist meine Annahme eines zweigespaltenen Bereichs des Wissens ein Rückfall hinter Wittgensteins Überlegungen in den PU? Sie wäre ein Rückfall, wenn ich folgendes annehmen würde: Jede Person bildet für sich selbst nach eigenem Belieben ein Wissen über ihre eigene Subjektivität. Außerdem gibt es ein intersubjektives Wissen über Fremdpsychisches, das als Folge subjektiven Wissens zustande kommt. — Dieses ist nicht meine Annahme: Ich gehe vielmehr von der Wittgensteinschen These aus, daß 37
Wittgenstein faßt eine Differenzierung dieses Bereiches nicht ins Auge. Ich meine allerdings nicht, daß seine Argumentation eine solche ausschließt.
3.3 Subjektives Wissen
87
alles Wissen über Psychisches gesellschaftliche Fundamente hat (These 1). Aber ich bleibe dabei nicht stehen; ich verbinde mit dieser These die andere These Wittgensteins, daß ein Subjekt im Innerpsychischen zwischen geglaubtem und bestehendem Zustand nicht unterscheiden kann. In meiner Sprechweise ausgedrückt lautet das Prinzip, das in der zweiten These behauptet wird: Ein Subjekt kann nicht unterscheiden zwischen: A's Wissen, daß Glaube von p, und: A's Wissen, daß Wissen von p, wenn p in den Bereich von A's Subjekt-Zuständen oder A's Subjekt-Wissen fällt (These 2). Dieses Prinzip gibt die wesentliche Ursache der Dynamik der Subjektivität an. Subjektives Wissen entsteht aus intersubjektivem Wissen. Ich werde im folgenden den Weg zur Entstehung einer autonomen Eigen-Kontrolle des Einzelnen angeben. Die beständige, über lange Zeit der Entwicklung eines Individuums ausgeübte gesellschaftliche Kontrolle über seine Regelanwendungen führt dazu, daß das Individuum lernt, Regeln allein korrekt zu verwenden. Das Individuum wird fähig, seine psychischen Zustände auch ohne effektive Kontrolle durch die Gesellschaft zu erkennen. Es hat die Kontrollfunktion seiner Umgebung weitgehend verinnerlicht und übt diese gegenüber seinen eigenen Regelanwendungen aus38. Gesellschaftliche Kontrolle braucht in diesem Stadium nur noch die Funktionsfähigkeit der Eigen-Kontrolle zu überprüfen. In einem weiteren Stadium gelangt das Individuum so weit, daß es auch die Eigen-Kontrolle selbst überprüft: Es übt, so will ich sagen, die Funktion einer Kontroll-Kontrolle aus. Die Entwicklung, die zur vollständigen Verinnerlichung der Kontrollfunktion führt, ist ein außerordentlich wichtiger Prozeß. Dieser stellt den Ausgangspunkt für vielfältige höchst differenzierte und individuell geformte Regelverwendungen dar39. Wenn die Verinnerlichung der Kontrollfunktion weit genug fortgeschritten ist, wird das Individuum in die Lage versetzt, Regeln über Psychisches zu verfeinern und sogar zu verändern. Durch die Verringerung der effektiv ausgeübten gesellschaftlichen Kontrolle wird dem Individuum 38
39
Die Verinnerlichung der Kontrollfunktion findet sich auch bei der Wahrnehmung äußerer Objekte: Kinder lernen sehr früh, z. B. Objektbezeichnungen ohne soziale Kontrolle korrekt zu verwenden. Dabei kann es sich sogar um selbsterfundene Ausdrücke handeln, die Kinder regelmäßig für sich allein verwenden. Im folgenden werde ich zuerst eine systematische Darstellung der Folgen der erworbenen Eigen-Kontrolle geben. Daran anschließend werde ich eine Theorie (von N. Elias) vorstellen, die dem Prozeß der Verinnerlichung gesellschaftlicher Kontrolle eine historische Deutung gibt.
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3 Wissen über Subjektives
ein großer Freiheitsspielraum eingeräumt, der aber immer wieder von neuem an die ursprünglich von der Gesellschaft ausgehende soziale Kontrolle und an die Fundamente der erlernten Regeln gebunden wird, dadurch daß sich die individuelle Regelverwendung im Verhalten äußert und auf diese Weise gesellschaftlicher Kritik ausgesetzt wird. Die Gesellschaft beschränkt sich darauf, die Normalität des Verhaltens zu kontrollieren. Solange das Individuum als „normal" gilt, kann es den Bereich, innerhalb dessen seine Normalität aufrecht erhalten wird, auf seine eigene Weise organisieren und ausfüllen. Das Individuum erhält von der Gesellschaft die Freiheit, an das Vorhandensein von mentalen Zuständen in seiner Psyche zu glauben, soweit dieser Glaube seine Normalität nicht beeinträchtigt. Sein subjektives Wissen darf nicht offen mit dem intersubjektiven Wissen seiner Umgebung kollidieren. Diese Forderung läßt dem Subjekt einen großen Spielraum40. Die Verwendung von subjektivem Wissen ist in vielen Fällen für das Individuum unumgänglich, denn die gesellschaftlichen Regeln der innerpsychischen Wahrnehmung sind sehr grob. Man kann vielleicht nicht einmal sagen, daß es sich um echte Regeln handelt. Wahrscheinlich sind sie nicht viel mehr als Regelschemata. Dies läßt sich aus dem Grund vermuten, daß sie ausschließlich den gesellschaftlichen Aspekt der Regelverwendung angeben, insbesondere den Aspekt des Verhaltens. Sprecher beziehen aber bei ihren Regelverwendungen oft wesentlich Psychisches mit ein. Ein Beispiel: Wenn wir uns am Bein verletzen, sagen wir: „Das Bein schmerzt", und stellen eine Beziehung her zwischen unserem Verhalten — der Verletzung — und psychischen Zuständen — den Schmerzen. Wenn wir hingegen enttäuscht über einen Freund sind und uns still aus der Gesellschaft zurückziehen, sagen wir ebenfalls, daß wir über das Verhalten unseres Freundes „Schmerzen empfinden". In diesem Fall wird eine Beziehung hergestellt zwischen unseren Erwartungen und Gefühlen gegenüber einer Person, einem Verhalten, einem mentalen Zustand (der Enttäuschung) und dessen Effekt auf unser Empfinden (dem Schmerz). Das Beispiel zeigt, daß in den Prämissen der Regeln in vielen Fällen nicht nur beobachtbare und kontrollierbare Verhaltensweisen auftreten können, sondern auch eine Reihe mentaler Zustände. Unsere Gefühle gegenüber dem Freund und unsere Erwartungen sind gesellschaftlich nur 40
Eigen-Komrolle ist nicht vollständig frei; die Gesellschaft kontrolliert die manifesten Folgen der Wahrnehmungen unter Eigen-Kontrolle. Dennoch ist es bedeutsam, daß der Einzelne innerhalb eines Bereichs unkontrolliert von außen bleibt. Inwieweit er den Freiraum zu nutzen versteht, ist eine andere Frage. Elias ist über diese Möglichkeit ziemlich skeptisch.
3.3 Subjektives Wissen
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mittelbar zu kontrollieren, unsere Enttäuschung noch weniger, und schließlich läßt sich unser Schmerz nur noch geringfügig von der Gesellschaft unter Kontrolle halten. Unser Verhalten aus diesem Schmerz heraus kann von unserer Umgebung nur noch sehr schwer unter dem Gesichtspunkt der Normalität beurteilt werden. Kurz, die gesellschaftlich festgelegte und intersubjektiv kontrollierte Regel kann den subjektiven Aspekt nur höchst indirekt und schematisch angeben. Subjekt-Zustände stehen in einem systematischen Zusammenhang. Sie sind, wenigstens teilweise, in Hierarchien angeordnet in dem Sinn, daß ein Subjekt-Zustand das Bestehen eines anderen und dieser wiederum das Bestehen eines dritten voraussetzt. Die Hierarchien sind auf ihren untersten Stufen im Verhalten fundiert. Aber Bezug auf einen höherstufigen Subjekt-Zustand impliziert einen höchst indirekten Bezug auf die Verhaltensweisen, in denen die Hierarchie fundiert ist. Die hierarchisch angeordnete Kette von Subjekt-Zuständen und Subjekt-Wissen: Gefühl der Freundschaft — Erwartung gegenüber dem Freund — Enttäuschung — Schmerz, läßt sich an Verhaltensweisen, die im Umgang mit unserem Freund auftreten, kontrollieren. Aber eine strenge Kontrolle ist nicht möglich: Welche Verhaltenserwartungen wir gegenüber dem Freund haben, läßt sich nur schwer feststellen. Wir haben einen weiten Spielraum zur Verfügung, innerhalb dessen wir den Umfang der Leistungen, die wir dem Freund aufgrund unserer Gefühle zumuten, zum großen Teil selbst bestimmen können. Erwartungen, die das normale Maß übersteigen oder darunter bleiben, können entdeckt werden, aber zum einen ist die Kontrolle der Erwartungen wegen der Schwierigkeit einer genauen Beurteilung großzügig, zum ändern führt das Aufspüren von nicht-normalen Erwartungen wegen der delikaten Natur des Sachverhalts nicht automatisch zur Korrektur. Eine effiziente Kontrolle von Erwartungen gibt es vermutlich nur in den Bereichen, in denen die gesellschaftlichen Austäusche durch nicht-normale Erwartungen gestört zu werden drohen, insbesondere bei kommerziellen und erotischen Beziehungen41. Die nächste Stufe in der Hierarchie, die Enttäuschung, läßt sich noch weniger unter Kontrolle bringen als die vorhergehende, die Verhaltenserwartung. Dafür lassen sich drei Gründe anführen: l. Die Komplexität des Sachverhalts erschwert die Beurteilung. 41
Ein Beispiel von Kontrolle der Erwartungen in erotischen Beziehungen zitieren Watzlawick, Beavin und Jackson nach einer Untersuchung M. Mead in der Einleitung.
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3 Wissen über Subjektives
2. Der Subjekt-Zustand äußert sich nicht notwendig. Nur selten wird seiner tatsächlichen Stärke Ausdruck gegeben. 3. Subjekt-Zustände dieser Art können jedem Einfluß von außen wie auch der Steuerung durch die eigene Person so weit entzogen sein, daß sie sich überhaupt nicht korrigieren lassen und der Kontrolle einen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzen. Alle drei Gründe gelten in noch stärkerem Maße für die höchste Stufe der Hierarchie, den Schmerz. Der moralische Schmerz ist noch schwerer zu kontrollieren als der physische, weil in unserer Gesellschaft moralischen Empfindungen ein größerer Spielraum gegeben wird als physischen: Schmerz aus Enttäuschung zu empfinden, gilt als Zeichen einer eindrucksfähigen Seele; er kann auch noch in den feinsten Spielarten auf Anerkennung rechnen. Schmerz, der entsteht, weil wir gegen eine Wand gerannt sind, hat hingegen nur eine begrenzte Existenzberechtigung. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß subjektive Auslegungen, Weiterbildungen und Modifikationen der Regeln innerpsychischer Wahrnehmung nicht nur — wegen der Verinnerlichung der Kontrollfunktion — möglich, sondern auch notwendig sind, wegen der Unvollständigkeit, Grobheit, Vieldeutigkeit der Regeln und wegen der Notwendigkeit, die Regeln auf spezielle Fälle anzuwenden, die von den gesellschaftlichen Vorschriften nicht erfaßt werden. Dieser Gedanke eröffnet eine interessante Perspektive: Man kann vermuten, daß die persönlich ausgearbeiteten Regeln der innerpsychischen Wahrnehmung bei jedem Individuum Formen annehmen, die dieses von anderen Individuen unterscheidet. Dem von der Gesellschaft vereinheitlichten Regelsystem, das zur Gewinnung von intersubjektivem Wissen über die fremde Psyche dient, steht die Vielzahl individueller Formen von Regeln subjektiven Wissens gegenüber, die ihren Ursprung selbst wieder im intersubjektiven Wissen haben. Die Abweichungen des subjektiven vom intersubjektiven Wissen können unterschiedlich groß sein; sie dürfen nie so groß werden, daß die Person ihre Normalität und ihr subjektives Wissen die gesellschaftliche Anerkennung verlieren. Das Subjektive, das sich im Verhalten von Personen äußert, ist eine sekundäre, aber in der Folge höchst eigenständige Entwicklung aus dem intersubjektiven Wissen, die das Individuum vornimmt. Drei verschiedene Freiheitsstufen der Eigen-Kontrolle lassen sich unterscheiden: l.die gesellschaftliche Kontrolle der Eigen-Kontrolle am Verhalten des Individuums; 2. die weitgehend eigenverantwortliche Kontrolle des Individuums (Kontroll-Kontrolle); 3. die selbständige und gesellschaftlich nicht mehr kontrollierbare Erzeugung von subjektivem Wissen durch das Individuum.
3.3 Subjektives Wissen
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Der entscheidende Durchbruch zu selbständigen Regelausformungen läßt sich auf der zweiten Stufe annehmen: Das Individuum nimmt neben der Kontrolle von Regelverwendungen die ursprünglich gesellschaftliche Kontrolle dieser Kontrolle vor. Ich will behaupten: Mit der Übernahme der Kontroll-Kontrolle beginnt das Individuum, ein eigenes subjektives Wissen herauszubilden. 3.3.2
Führt Eigen-Kontrolle zu Beliebigkeit?
Der Verdacht liegt nahe, der Einzelne erzeuge unter Eigen-Kontrolle spontan, ohne jede Zurückhaltung und Beachtung von Regeln ein subjektives Wissen, wobei das Prädikat ,subjektiv' endlich die negative Kennzeichnung sei, die die analytische Philosophie diesem Wissen vorbehält. Aber es gibt zwei Gründe, diese Annahme zu bezweifeln; der Einzelne ist in seinem Glauben nicht frei: Einmal bleibt er durch sein gesellschaftliches Handeln weitgehend an gesellschaftliche Verhaltensstrukturen gebunden. Zum anderen erwirbt jedes Individuum in der Sozialisation die Fähigkeit, gesellschaftlichen Regeln konform zu handeln und vor allem die Unfähigkeit, ohne Regeln zu handeln. Beides, die Fähigkeit und die Unfähigkeit, entstehen daraus, daß Individuen seit ihrer frühesten Kindheit auf ihre soziale Umgebung hin gerichtet und gezwungen sind, ihr eigenes Verhalten ständig an gesellschaftlichen Normen zu orientieren42. Es wäre eine Fiktion, wenn man annehmen würde, das Individuum sei fähig, willkürlich subjektives Wissen zu erzeugen, indem es ohne Rücksicht auf die vorhandenen Regeln, Normen und Standards aus eigenem Antrieb heraus an das Vorhandensein besonderer mentaler Zustände glaubt. Was eine Person glauben kann, ist in groben Zügen von der Gesellschaft festgelegt. Es ist das Prinzip der Normalität, das dem Glauben von Personen eine Grenze zieht. Dieses hält einen breiten Toleranz-Bereich offen, in dem Fälle geduldet werden, die nicht schwerwiegend, regelmäßig wiederkehrend oder offenkundig sind. Ich kann z. B. von einem fröhlichen Mahl aufstehen und sagen, ich hätte während des ganzen Essens Magenschmerzen gehabt. Diese Behauptung würde Befremden auslösen, aber keine Sanktionen nach sich ziehen. Würde ich dies hingegen nach jedem Essen behaupten oder würde ich den ernsthaften Glauben ausdrükken, ich hätte den Geschmack von Spanferkel auf der Zunge, obwohl ich 42
Diese Annahme der grundsätzlich gesellschaftlichen Verfaßtheit menschlicher Organismen, die mit der Geburt wirksam wird, ist einer der Hauptgedanken des Entwicklungspsychologen Henri Wallon.
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3 Wissen über Subjektives
gerade Hummer gegessen habe, wäre die Grenze der Normalität eindeutig überschritten, und ich hätte mit ernsthaften Sanktionen zu rechnen. Eine Folge von Grenzverletzungen wird von der Gesellschaft als Zeichen der Unfähigkeit, Eigen-Kontrolle auszuüben, angesehen. Sie kann dazu führen, daß dem Individuum die Fähigkeit abgesprochen wird, subjektives Wissen zu erzeugen. Das kreative Prinzip der Subjektivität wird nur bei Personen wirksam, denen die Gesellschaft Normalität zuspricht oder dieses zumindest einmal getan hat43. Es ist kein natürliches (z. B. biologisches oder anthropologisches) Prinzip, sondern ein gesellschaftliches. In diesem Sinne ist das subjektive Wissen ein Produkt der Gesellschaft. Das Subjektive entzieht sich zwar zum großen Teil unmittelbarer gesellschaftlicher Kontrolle. Dennoch ist das Individuum bei seinen Erzeugungen nicht frei. Die Ersetzung der direkt wirksamen sozialen Kontrolle durch die Eigen-Kontrolle hat gerade nicht zur Folge, daß willkürliche individuelle Regelverwendungen möglich werden, da der lange Einfluß der Gesellschaft im Einzelnen den Zwang zum Regelfolgen geformt hat. Was das Individuum als eigene Entwürfe vorbringt, sind spezifische Ausprägungen innerhalb gesellschaftlich vorgegebener Regelschemata, eigenständige Weiterbildungen oder Neuinterpretationen von bestehenden Regeln, die mit der Intention des Regelgebers verträglich sind. Dieser Vorgang ist vergleichbar, wenn nicht sogar partiell identisch, mit dem von Wygotski beschriebenen Prozeß der Entwicklung der „inneren Sprache" aus der „äußeren Sprache"44. Die Eigen-Kontrolle ist eine 43
44
Ich lege bei meiner Diskussion den üblichen, traditionellen, Normalitätsbegriff zugrunde. Meine Argumentation zeigt, wie dieser beschaffen ist: Er ist ebenso willkürlich wie andere Konventionen der Gesellschaft auch. Die Tatsache, daß man seit einiger Zeit auch Geisteskranken Kreativität zuschreibt, zeigt, daß es einen Sinn haben kann, auch das in der Wissenschaftstheorie üblicherweise abgelehnte subjektive Wissen anzuerkennen. In: Wygotski, Denken und Sprechen. Es ist in diesem Zusammenhang auf Ernst Tugendhats Diskussion des Selbstbewußtseins zu verweisen. Tugendhat analysiert die Struktur des „unmittelbaren Wissens", das der Einzelne von „seinen bewußten Zuständen" hat. Er stützt sich dabei wesentlich auf Wittgensteins Diskussion des Problems der Privatsprache und der Sprache über Empfindungen, kommt aber zu anderen Resultaten als die vorliegende Arbeit. Tugendhats Untersuchung verdient eine ausführliche Auseinandersetzung; diese kann hier nicht geleistet werden, weil das Manuskript dieser Arbeit zum Zeitpunkt des Erscheinens von Tugendhats „Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung" bereits abgeschlossen war. Tugendhat kritisiert die Verwendung des Begriffs .Selbstbewußtsein' in der traditionellen oder der Tradition verpflichteten Philosophie. Das Selbstbewußtsein hat „die Struktur Bewußtsein daß p" (21). „Das bedeutet für das unmittelbare
3.3 Subjektives Wissen
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Befreiung im Sinne einer Umschichtung von äußerem Zwang auf inneren, selbst ausgeübten Zwang; sie führt nicht zu einer Emanzipation des Einzelnen von der Gesellschaft. Im Unterschied zu Wittgenstein nehme ich an, daß mehrere Phasen in der Ausübung der gesellschaftlichen Kontrolle Individuen gegenüber Wissen von den bewußten Zuständen, daß dieses die Form haben muß: ,er weiß, daß er sich in dem und dem Zustand befindet'. Der Betreffende bringt das natürlich zum Ausdruck, indem er das Won ,ich' verwendet. Sein unmittelbares Wissen von seinen bewußten Zuständen äußert sich in Sätzen der Form ,ich weiß, daß ich —', und nun folgt irgendein Prädikat, in dem das Haben eines Bewußtseinszustandes zum Ausdruck kommt. .." (22). Den Begriff des Selbstbewußtseins schränkt Tugendhat auf „das unmittelbare Wissen, das man von sich, von seinen eigenen bewußten Zuständen hat", ein; er nennt dieses: „unmittelbares epistemisch.es Selbstbewußtsein". „Das Selbstbewußtsein ist hier nicht ein Wissen im strengen Sinne, sondern besteht in Meinungen, die ein Wissen höchstens approximieren. Das Wissen ist hier nur eine regulative Idee, die Idee des Sichdurchsichtigseins darin, wer (was für ein Mensch) man ist" (28). Die von Tugendhat in diesem Zitat eingeführte Gebrauchsweise von .Wissen' scheint mir mit der in dieser Arbeit verwendeten gleich zu sein. Eine weitere Übereinstimmung liegt darin, daß auch Tugendhat zwischen zwei Perspektiven unterscheidet. Es besteht „eine formale Entsprechung zwischen dem unmittelbaren Selbstbewußtsein und dem praktischen Sichzusichverhalten: in beiden Fällen handelt es sich um etwas, was nur aus der Perspektive des Betreffenden ist, was es ist — und d. h. daß die Sätze in 1. Person nicht symmetrisch sind mit den entsprechenden Sätzen in 3. Person —, während das mittelbare epistemische Selbstbewußtsein ein Kennen ist, das sich nicht unterscheidet von einem gleichartigen Kennen aus der Perspektive der 3. Person. Das mittelbare epistemische Wissen von sich ist nur ein Fall des Wissens einer Person von einer Persony (der Fall, wo x = y) und stellt daher — außer in der Art, wie es in das reflektierte Selbstverhältnis eingeht — keine spezifische Selbstbewußtseinsproblematik dar" (33). Prädikate, die ich mir aufgrund von äußerer Selbstbeobachtung zuspreche, „spreche ich mir nicht aus der Perspektive des ,ich'-Sagens, sondern aus der Perspektive des ,dies'-Sagens zu" (86). Tugendhat räumt ein, daß eigenpsychische Zustände „anders vom Betroffenen und von anderen gewußt" werden. Insofern besteht eine „epistemische Asymmetrie" zwischen er- und ich-Perspektive. Tugendhat hält an der Behauptung einer „veritativen Symmetrie" der beiden Perspektiven fest (89); die Möglichkeit einer Weiterentwicklung des Wittgensteinschen Arguments in Richtung auf die Konzeption des subjektiven Wissens wird damit ausgeschlossen. „Es i s t . . . klar geworden, daß alle -Prädikate eine einheitliche Bedeutung in Sätzen der 1. und 3. Person haben. Sie werden aus beiden Perspektiven mit Bezug auf Verhaltensweisen gelernt, nämlich so, daß die Verhaltensweisen aus der Perspektive des Beobachters als Kriterien für die Zuordnung des Prädikats fungieren, während aus der Perspektive des ,ich'-Sagenden die Verwendung des ,ich '-Satzes eine Modifikation dieser Verhaltensweisen selbst ist" (136).
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3 Wissen über Subjektives
unterschieden werden müssen, von einer starken Einflußnahme der Gesellschaft ausgehend bis hin zu einer späteren Phase, in der direkte Kontrolle nur noch sporadisch ausgeübt wird. Ohne diese Unterscheidung bliebe es unverständlich, daß jedes Individuum ein hochentwickeltes System von Annahmen über seine eigene Psyche herausbildet, das zu Recht als eine Art eigener innerer Welt empfunden wird. Es ist eine interessante Frage, ob sich der von mir postulierte Übergang von der ausdrücklichen gesellschaftlichen Kontrolle zur Eigen-Kontrolle in einer Phase der kindlichen Entwicklung auffinden läßt. Aus Wygotskis Arbeiten lassen sich einige Hinweise zum spekulativen Weiterdenken gewinnen. 3.3.3
Historische und gesellschaftliche Ausdeutung
Die vorangehende Argumentation weist, von Wittgenstein ausgehend, die Möglichkeit auf, daß es einen Entwicklungsprozeß von intersubjektiv kontrollierten zu subjektiv verwendeten Regeln hin geben kann, wobei subjektive Regelverwendungen einer vom Individuum verinnerlichten, ursprünglich von der Gesellschaft ausgehenden Kontrolle unterliegen. Das Ergebnis meiner philosophischen Diskussion läßt sich fachwissenschaftlich interpretieren. Mich interessiert im folgenden insbesondere die historische und soziologische Ausdeutung, Die historische Interpretation kann in den folgenden sechs Annahmen ausgesprochen werden: (l)Das Innere von Individuen ist an einen historischen Entwicklungsstand gebunden. Neue Gefühle können entstehen, andere veralten oder ganz verschwinden. Psychisches bildet keine historische Konstante, sondern ist historisch wandelbar. (2) Historische Wandlungen des Inneren haben ihren Ursprung in der Gesellschaft. Diese wirkt auf die Individuen ein und formt die Struktur von deren Psyche. (3) Die Einwirkung der Gesellschaft auf die Psyche von Individuen kann verschiedene Formen annehmen, die sich zu einer historischen Abfolge anordnen lassen: Während in der ersten Phase die Gesellschaft den Gebrauch von neu eingeführten Regeln selbst unmittelbar überwacht, übernehmen die Individuen, wenn der unbedingte Respekt und die korrekte Regelverwendung gesichert ist, in der zweiten Phase — die der Interiorisierung — sich selbst gegenüber die Kontrollfunktion. In der dritten Phase, die nach der vollkommenen Konsolidierung der Eigen-Kontrolle einsetzen kann, erhalten die Individuen für eigene Regelausdeutungen einen Raum, dessen Ausdehnung und Ausnutzung
3.3 Subjektives Wissen
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gesellschaftlicher Zustimmung bedarf. Am Ende der Entwicklung sind Individuen herausgebildet worden, deren Eigen-Kontrolle das Maß jeder gesellschaftlichen Kontrolle übersteigt — selbst Gedanken sind so kontrollierbar —, weil diese als individuelle Leistung des Individuums empfunden wird. Es liegt auf der Hand, daß sich Gesellschaften, die sich auf der ersten Stufe befinden, von denen der dritten Stufe unterscheiden. Dieser Gedanke und die weiter unten folgende Darstellung der Eliasschen Zivilisations-Deutung sind nicht in dem Sinn zu verstehen, daß die Aufeinanderfolge der verschiedenen Kontrollformen bestimmten Stadien der historischen Entwicklung entspricht, daß also frühere Gesellschaften (z. B. die mittelalterliche) ausschließlich direkte, neuere Gesellschaften hingegen komplexe Formen der Kontrolle verwendet haben. Ich verfolge indes die Annahme — die von Elias mit eindrucksvollem Material bestätigt wird —, daß sich in der Geschichte der europäischen Neuzeit seit dem Mittelalter die komplexen und indirekten Kontrollformen, die dem Einzelnen einen größeren Spielraum geben, zunehmend herausgebildet haben. Die an Stärke und Umfang anwachsende Eigen-Kontrolle ist ein wesentliches Merkmal des europäischen Zivilisationsprozesses. (4) Das Subjektive, also das Besondere, das ein historisches Individuum von allen anderen unterscheidet, ist nichts anderes als eine Ausformung der in der jeweiligen Gesellschaft geltenden Regelgebräuche, die selbst wieder gesellschaftlich abgesichert sein muß. Das Individuum steht insofern nie im Gegensatz zu seiner Gesellschaft. (5) Die historische Entwicklung von Gesellschaften kann von der ersten zur dritten Phase (vgl. Punkt 3) verlaufen, aber nicht umgekehrt. Die Entwicklungsrichtung geht von direkter gesellschaftlicher Kontrolle zum freiwillig ausgeführten Selbstzwang. (6) Die unter (5) dargestellte Möglichkeit historischer Entwicklungen kann dahin führen, daß Individuen sich als freier empfinden, während sie zugleich in höherem Maß kontrollierbar werden. Die Freiheit besteht in diesem Fall in der Ablösung von äußerer und fühlbarer, erlebbarer Kontrolle; sie findet ihre Bedrohung darin, daß die eigene Kontrolle effizienter sein kann als die gesellschaftliche. Die soziologische Interpretation läßt sich in drei Annahmen aussprechen: (l)Das Subjektive ist in seinem Ursprung gesellschaftlich. Es gehört daher zum Gegenstandsbereich gesellschaftswissenschaftlicher Forschung.
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3 Wissen über Subjektives
(2) Das Subjektive kann, wenn es eine kollektive Ausbreitung findet, auf die Gesellschaft insgesamt zurückwirken. In diesem Falle ist kollektives subjektives Wissen sogar ein zu bevorzugender Gegenstand gesellschaftswissenschaftlicher Forschung. (3) Es gibt eine ständige Interaktion zwischen Gesellschaft und Individuen, die sowohl die Individuen als auch die Gesellschaft verändern kann. Die Soziologie hat eine wesentliche Aufgabe darin, die Formen dieser Interaktion zu untersuchen. Die historische und soziologische Ausdeutung meiner Argumentation wird von N. Elias' historisch-soziologischen Untersuchungen in wesentlichen Teilen belegt und in Richtung auf eine neue Form sozialwissenschaftlicher Forschung erweitert45. Elias erforscht den geschichtlichen Prozeß, der am Ausgang des Mittelalters mit beginnender Renaissance einsetzt und der dahin führt, daß gesellschaftliche Verhaltensweisen in ,zivilisierte* und ,unzivilisierte' unterschieden werden. Die Bedeutung dieses Prozesses läßt sich daran schärfer erkennen, daß ,unzivilisiertes' Benehmen Unlust-, Peinlichkeits-, Ekel-, Angst- oder Schamgefühle hervorrufen kann. Gesellschaftliches Benehmen, und zwar von der Norm abweichendes Handeln, ist fähig, Gefühle zu erzeugen, die es in diesem Sinn im Mittelalter nicht gegeben hat46. Der Generator der neuartigen Gefühle ist eine neue Form gesellschaftlicher Kontrolle, der bestimmte Handlungsweisen mit Beginn der Neuzeit unterworfen werden. Elias unterscheidet mehrere Stadien der Entwicklung, die er jeweils einer historischen Periode zuordnet. Die Stadien lassen sich mit den drei Phasen vergleichen, die ich oben (S. 90) unterschieden habe. Das wesentliche Vergleichsmoment, auf das es hier ankommt, ist die Richtung der Entwicklung, die von einem als Einschränkung empfundenen Fremdzwang zu einem als Freiheit empfundenen Selbstzwang verläuft. Ich werde die Darstellung von Elias' Untersuchung auf meine Unterscheidung der drei Entwicklungsphasen beziehen47. Die Gesellschaft erlegt mit beginnender Neuzeit den Individuen Verhaltensnormen auf, die das ehemals unbekümmerte, weitgehend unregulierte Benehmen auf eine kleine Anzahl zugelassener Verhaltensweisen einschränken: Sie erzwingt Verzicht, z. B. Verzicht darauf, sich beim 45 46
47
In: N. Elias, Der Prozeß der Zivilisation, Einleitung. Elias' historische These ist, daß es Verhaltensweisen gibt, „die im Mittelalter nicht im mindesten als peinlich empfunden wurden", und die in der Neuzeit „mehr und mehr mit Unlustempfindungen belegt" werden (I, 171). Elias selbst unterscheidet nicht explizit zwischen den von mir angegebenen drei Stufen.
3.3 Subjektives Wissen
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Essen zu kratzen, unter den Tisch zu spucken, sich die Finger abzulecken, in Zimmerecken zu urinieren, sich im Beisein anderer zu entblößen, und sie regelt durch genaue Vorschriften, wie man sich in der Öffentlichkeit zu benehmen hat, wie zu essen ist, wo die Bedürfnisse zu verrichten sind, wie man sich im Bett verhalten soll. Im ersten Stadium des Prozesses werden Ge- und Verbote aufgestellt, die in einer später nie wieder vorkommenden Offenheit und Explizitheit gesellschaftliches Benehmen bis in die letzten Einzelheiten regeln und deren Einhaltung von der Gesellschaft — von den Höfen — kontrolliert wird48. Das zweite Stadium wird dadurch vorbereitet, daß die Individuen zur Beobachtung des Benehmens von anderen und von sich selbst angehalten werden: Beobachtung von anderen, damit man deren mögliche Blamagen abmildert oder sogar vermeidet; Selbstbeobachtung, damit man sich immer wieder bewußt wird, wie die anderen das eigene Verhalten beurteilen können49. Es wird wichtig zu wissen, was der andere denkt, und was der andere darüber denkt, was man selbst denkt — ein System gesellschaftlicher Perspektiven wird installiert. Verstöße werden als ,unzivilisiert', ,unhöflich' gebrandmarkt und der Normverletzer als eine Person dargestellt, die sich blamiert hat. Erziehung der Heranwachsenden und Vorbild der Erwachsenengesellschaft führen im Lauf der Jahrhunderte seit der Renaissance dazu, daß die Individuen den Fremdzwang verinnerlichen und sich selbst gegenüber ausüben. Der Selbstzwang, der den gesellschaftlichen Standard „mehr oder weniger reibungslos" reproduziert, kennzeichnet das zweite Stadium des Prozesses. Der Stand der Zivilisation wird durch die Menge der selbsttätig funktionierenden Selbstzwang-Mechanismen gesichert; diese arbeiten auch dann, wenn der Einzelne „es in seinem Bewußtsein nicht wünscht" (1,174). Der Übergang vom ersten zum zweiten Stadium fällt historisch mit der Transformation der Gesellschaft von der ritterlich-höfischen in die absolutistisch-höfische zusammen. Das Innere, das „Seelenleben" der Individuen, wie Elias sagt, wird dabei folgenreich umstrukturiert: Während im ersten Stadium Triebverzicht, Zurückhaltung und Überwindung von Unlust von außen durch Sanktionen erzwungen werden (z. B. durch negative Bewertung), bestraft sich im zweiten Stadium der Einzelne selbst. Der ganze Vorgang von Normensetzung, Verhaltens-Beobachtung, Bewertung, Bestrafung und Empfinden der Strafe, der sich im ersten Stadium in 48 49
Vgl. die Episode des Galateo, Elias I, 105 f. Elias I, 173 f.
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3 Wissen über Subjektives
der Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft abspielt, wird in das Innere des Einzelnen verlegt. Der Vorgang wird dadurch verändert: Normen, Beobachtung, Bewertung und Sanktion werden nicht mehr ausgesprochen oder auf andere Weise explizit gemacht; sie werden beim Handeln oder in der Erinnerung daran empfunden — der Einzelne erlebt sie. Die Sanktion wird auch nicht länger als eine solche aufgefaßt, sondern als eine ,natürliche' Empfindung, die vom Erleben der Normverletzung ausgelöst wird. Gefühle dieser Art werden durch die Internalisierung der Kontrollfunktion „gewissermaßen zur ,zweiten Natur* gemacht" (I, 186)50. Erst viel später, im Nachhinein, werden ihnen rationale Begründungen gegeben, z. B. Vermeidung von Mikrobenübertragung. Gerade die Tatsache, daß man heute von der Geltung derartiger Begründungen überzeugt ist und den gesellschaftlichen Ursprung dieser Gefühle vollkommen vergessen hat, zeigt die nachhaltige Wirksamkeit der Eigen-Kontrolle. Das Ekelgefühl erscheint danach als das „Persönlichste", „als etwas ,Inneres'" (I, 173), das auf gleichsam naturgesetzlichem Weg hervorgerufen wird. Der grundsätzlich konventionelle Charakter von Ekel wird durch diese Vorstellung verschleiert. Das Subjektive allgemein erscheint als rein persönlich, individuell und dem Gesellschaftlichen entgegengesetzt. Das dritte Stadium bildet sich in den modernen demokratisch-industriellen Gesellschaften heraus, die durch ein dichtes Beziehungsgeflecht gegenseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet sind. „Die Gesellschaft beginnt, an bestimmten Funktionen die positive Lustkomponente durch die Erzeugung von Angst allmählich immer stärker zu unterdrücken oder, genauer gesagt, zu privatisieren', nämlich ins ,Innere* des Einzelnen, in die ,Heimlichkeit' abzudrängen und die negativ geladenen Affekte, Unlust, Abscheu, Peinlichkeit allein als die gesellschaftlichen Empfindungen in der Konditionierung herauszuarbeiten" (I, 194). .„Verdrängung' von der Oberfläche" findet statt, von der Oberfläche „sowohl des gesellschaftlichen Lebens, wie des Bewußtseins". Die Formen, die die Verdrängung annimmt, sucht und entwickelt der Einzelne allein oder kollektiv. Der Entwurf, die Entdeckung und Ausgestaltung persönlicher Räume jUnterhalb* der gesellschaftlichen Oberfläche wird als Freiheit empfunden, die Räume als Freiräume. Das dritte Stadium des von Elias entworfenen Entwicklungsgangs kann man, wie schon die beiden vorhergehenden, im Sinne meiner 50
Vgl. Elias I, 215: Die Fremdzwänge verwandeln sich „mehr oder weniger vollkommen in Selbstzwänge". Vgl. insbesondere das Beispiel des Spuckens, I, 215 ff.
3.3 Subjektives Wissen
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Annahme von den drei Phasen gesellschaftlicher Kontrolle deuten: Der von Außen-Kontrolle entlastete Einzelne zieht sich in Bereiche zurück, die er teils selbst ,entdeckt', teils individuell ausgestaltet, die aber nicht mehr gesellschaftlich kontrollierbar sind. Die letzte Kontrolle seines Handelns wird vom Individuum selbst ausgeübt. Die totale Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen durch den Einzelnen wird indes die größte Garantie dafür, daß dieser von seinem Freiraum letztlich nur im Sinne der Gesellschaft Gebrauch macht 51 . Elias' geschichtssoziologische These ist folgende: Die Modifikation der Kontrolle gesellschaftlicher Verhaltensweisen verändert die Beziehungen der Einzelnen untereinander und bildet auf diese Weise die Gesellschaft als ganze um. Der Motor der Veränderung liegt in der Umformung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft. „Die gesellschaftliche Abhängigkeit und ihr Aufbau (sind) für Aufbau und Schema der Affektrestriktionen von entscheidender Bedeutung" (I, 205). Die Tendenz der Entwicklung seit der Renaissance geht nach Elias dahin, daß sich die Einzelnen näher rücken und die gegenseitige Abhängigkeit zunimmt. Besonders aufschlußreich für diese Entwicklung ist die zunehmende Einbindung der Oberschicht in das Geflecht von Abhängigkeitsbeziehungen. Während die Oberschicht zu Beginn der Entwicklung von dem Zwang der Verhaltensnormen ausgenommen war und vielmehr Kontrolle gegenüber Abhängigen ausübte52, ist sie in der Gegenwart als „arbeitende Oberschicht" diesem Zwang, „obgleich sie doch, wie man zuweilen sagt, ,herrscht' und also kein Übergeordneter es von ihr verlangt" (I, 206), unterworfen. Was sagen uns Elias' Untersuchungen in bezug auf den Aufbau der Soziologie? Sie zeigen vor allem, daß zwei Dichotomien für die Soziologie vollkommen ungeeignet sind. Einmal die Gegenüberstellung von Natur- und Geschichtsprozeß; zum anderen die Entgegensetzung von Einzelnem und Gesellschaft. „Natur- und Geschichtsprozeß (wirken) kaum trennbar ineinander" (I, 218). Psychische Funktionen des Menschen sind in Form und Wirksamkeit an den Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaft gebunden. Die Gebundenheit kann darauf beschränkt sein, daß psychische Funktionen von der Gesellschaft modelliert werden. Sie kann aber auch so weit reichen, daß Gefühle und Bedürfnisse gesellschaftlich konstituiert werden. Die von der Gesellschaft vorgenommenen 51
52
Beispiele im Sinne Elias' sind die Ehe (I, 230 ff.), moderne Freizeitmenschen (I, 257) und die Freikörperkultur. Vgl. die Anekdote von Voltaires Freundin, die unbekümmert vor ihrem Kammerdiener nackt ins Bad steigt (I, 188).
100
3 Wissen über Subjektives
„Gestaltungen der Menschennatur" „wirken ihrerseits als ein Element in den geschichtlich-gesellschaftlichen Prozeß zurück" (I, 218). Die Vorstellung vom Einzelmenschen, der „von allem, was außerhalb seiner existiert, abgekapselt" (I, LXII) und mit einem gegenüber der Gesellschaft scharf abgegrenzten Inneren ausgestattet ist, läßt sich aufgrund von Elias' Untersuchungen zur Soziogenese der modernen Gesellschaft zurückweisen. Wie konnte überhaupt die Annahme eines „homo clausus" entstehen und die Soziologie — gesellschaftliches Denken überhaupt — so nachhaltig beeinflussen? Elias sucht eine Antwort in der Selbsterfahrung des Individuums: Die „verstärkten Selbstzwänge" werden „als Kapsel, als unsichtbare Mauer erlebt..., die die .Innenwelt' des Individuums von der ,Außenwelt* oder je nachdem auch . . . das ,Ego' von dem ^Anderen', das ,Individuum' von der ,Gesellschaft' trennt. . ." (I, LXII). In gesellschaftswissenschaftliches Denken übertragen führt diese Vorstellung zu der Annahme „von den absolut unabhängig voneinander entscheidenden, agierenden und existierenden' Einzelmenschen" und von der „Gesellschaft" als einem „Haufen fensterloser Monaden" (I, LXV). In der Erfahrung des Individuums muß die Gesellschaft etwas Fremdes, ein Kunstprodukt des Soziologen bleiben. Für soziologische Untersuchungen muß das Innere der Einzelmenschen als ein irrelevanter Faktor, als Irrationales oder Privates, erscheinen, das in den Erlebnisbereich fällt. Eine neue Vorstellung tritt an die Stelle des „Bildes vom Menschen als einer geschlossenen Persönlichkeit'": „das Bild des Menschen als einer ,offenen Persönlichkeit', die im Verhältnis zu anderen Menschen einen höheren oder geringeren Grad von relativer Autonomie, aber niemals absolute und totale Autonomie besitzt, die in der Tat von Grund auf Zeit ihres Lebens auf andere Menschen ausgerichtet und angewiesen, von anderen Menschen abhängig ist" (I, LXVII). Eine neue Form soziologischer Theorie kann von dieser Vorstellung ausgehen. Elias' Entwurf einer Theorie der Zivilisation ist ein erster Versuch, die dichten Beziehungen zwischen Subjektivem und Gesellschaft darzustellen". 3.3.4
Strukturen des subjektiven Wissens
Subjektives Wissen ist bei allen Individuen verschieden, aber Differenzen sind nur innerhalb einer bestimmten Marge zugelassen. Das Subjektive 53
Elias arbeitet einen Entwurf zu einer zugleich historischen, politischen, soziologischen und psychologischen Theorie der Zivilisation in seinem II. Band aus.
3.3 Subjektives Wissen
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eines Individuums läßt sich nicht vollständig erforschen. Hingegen kann der intersubjektive Rahmen, innerhalb dessen die Mitglieder einer Gesellschaft subjektives Wissen aufbauen, rekonstruiert werden. Der Rahmen begrenzt den Bereich des möglichen subjektiven Wissens von Gesellschaftsmitgliedern. Für die Erklärung von kollektiven Handlungen und Handlungstypen ist die Kenntnis des geltenden Rahmens des Subjektiven unerläßlich. Auch für die Erklärung von Handlungsunterlassungen kann die Kenntnis des Rahmens wichtig sein. Denn Handlungen, die aufgrund eines subjektiven Wissens, das sich außerhalb des jeweiligen Rahmens befindet, vollzogen werden, können zu gesellschaftlichen Sanktionen führen und aus diesem Grund gemieden werden. Eine zweite Möglichkeit, subjektives Wissen zu erforschen, ist wahrscheinlich die wichtigere: Das subjektive Wissen von Individuen einer gesellschaftlichen Gruppe hat typische Strukturen, die sich in verschiedener Weise ausdrücken können. Strukturen dieser Art lassen sich an Äußerungen von Gruppenmitgliedern mehr oder weniger stark ausgeprägt vorfinden. Sie sind Formen des Subjektiven und zugleich w£er-individuell. Über-individuelles subjektives Wissen kann in sehr unterschiedlicher Verbreitung auftreten. Bestimmte Strukturen können auf eine winzige Gruppe mit kurzer Lebensdauer (z. B. eine während eines kurzen Zeitraums bestehende anarchistische Vereinigung) beschränkt sein, andere wiederum können z. B. für Angehörige einer Religionsgemeinschaft jahrhundertelang Geltung haben. Sie sind, unabhängig von Verbreitung und Geltungsdauer, durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: 1. Sie sind Formen des Wissens, das Individuen über ihr eigenes Subjektives haben. 2. Wissensformen dieser Art werden von allen einzelnen Mitgliedern der sozialen Gruppe herausgebildet. 3. Sie werden nicht aufgrund sozialer Regeln konstituiert. Sie gehen vielmehr auf Weiterbildungen oder Modifikationen bestehender Regeln durch einzelne Individuen zurück. 4. Was die Wissensformen für bestehend ausgeben, besteht für das Individuum tatsächlich. 5. Wenn sie zu Bestandteilen intersubjektiven Wissens werden, verlieren sie ihre ,erzeugende Kraft*. Sie lassen sich also nicht vollständig in intersubjektives Wissen überführen. 6. Sie werden in Symbolsystemen ausgedrückt.
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3 Wissen über Subjektives
7. Sie werden von der Gesamtgesellschaft nur innerhalb eines bestimmten Rahmens der Normalität zugelassen54. Die Liste gibt wichtige, aber nicht alle Eigenschaften von Strukturen subjektiven Wissens an. Was aus ihr hervorgeht, ist folgendes: Es gibt neben dem intersubjektiv festgelegten und kontrollierten System von naiven Theorien, Annahmen, Überzeugungen, Glaubenssätzen, stillschweigenden Voraussetzungen etc., das zur Konvention geworden und einen offiziellen Charakter erhalten hat, eine Reihe andersartiger gruppenspezifischer Wissenssysteme, die von den einzelnen Individuen einer Gruppe selbständig erzeugt worden sind: ohne feste Vorschriften, ohne Korrektur, den gesamten Spielraum der Normalität ausnutzend. Ein Beispielfall: Eine Abteilung einer Bank wird als besondere Einheit aus der Bankorganisation ausgegliedert. Sie wird in einem besonderen Gebäude untergebracht, erhält einen neuen Direktor und wird nach neuen Arbeitsmethoden organisiert. Das Personal ist, mit Ausnahme des Direktors, weiblich. Die Bankangestellten der neuen Abteilung sind in der Mehrzahl Damen, die eine klassische Berufsausbildung und -praxis hinter sich haben, in denen sie von Grund auf besondere Vorsicht im Umgang mit Chefs erlernt haben. Dies hat bei ihnen zu der Überzeugung geführt, daß Vorgesetzte autoritäre Persönlichkeiten sind. Als Reaktion auf diesen vermeintlichen Tatbestand haben sie eine Reihe vorsichtiger Anpassungsstrategien entwickelt. Der neue Chef, ein forscher junger Mann mit neuen Ideen, kennt diese Überzeugung und hat die Absicht, sie zu verändern. Er stößt dabei auf unüberwindliche Schwierigkeiten: Jede seiner Handlungen wird von den Angestellten im Sinne autoritären Verhaltens gedeutet — seine lockeren Umgangsformen als ein Sich-gehen-Lassen gegenüber Personen, die sich keine nachlässigen Handlungen erlauben dürfen; seine Freundlichkeit als Anbiederung; sein persönliches Interesse als Indiskretion; seine Hilfsangebote bei Fragen der neuartigen Organisation als Einschleichen etc. In meinem Beispiel unterstelle ich, daß die besonderen Arbeitsbedingungen: ein neues Gebäude, die Isolierung der Abteilung und neue Arbeitsmethoden, auf die Überzeugungen der Angestellten einwirken. Am Ausgangspunkt der Entwicklung lassen sich diese noch als intersubjektives Wissen auffassen; es gibt sozial eingeführte und verbreitete Annahmen, nach denen bestimmte Verhaltensweisen von Vorgesetzten als typisches 54
Wird die Normalitätstoleranz der jeweiligen Gesellschaft überschritten, gelten die Mitglieder der betreffenden Gruppe als Wahnsinnige, Geisteskranke. Beispiele dieser Art sind religiöse Sekten, Fanclubs, politische Splitterparteien, Vereinigungen von körperbesessenen Athleten u. ä.
3.3 Subjektives Wissen
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autoritäres Chef-Verhalten gedeutet wird. Aber unter dem Eindruck der neuen Arbeit werden die überindividuellen Überzeugungen abgewandelt: Sie werden ausgestaltet, spezifiziert und zugespitzt. Schwierigkeiten mit der Umstellung und Unzufriedenheit über die neue Situation werden auf den Direktor projiziert. Als Folge davon verschärft sich die Überzeugung von dem autoritären Verhalten des neuen Direktors. Die Veränderungen der Beurteilungs-Konventionen gehen von einigen Angestellten aus und breiten sich durch Gespräche, Unzufriedenheits-Verhalten, stumme Opposition aus. Die Angestellten handeln nicht in einer abgestimmten Weise; es verhält sich vielmehr so, daß eine vage Überzeugungsveränderung auf die Mehrzahl der Angestellten übergreift. Auch bedächtige Personen haben im Laufe der Entwicklung keine Chance, die Veränderung von sich fernzuhalten. Selbst der Direktor kann davon ergriffen werden und einen — aussichtslosen — Kampf gegen die neuen Überzeugungen aufnehmen. Das Beispiel soll zeigen, daß Formen subjektiven Wissens für Personen eine derartig starke Wirkung haben können, daß sie auf alle Mitglieder einer Gruppe übergreifen und charakterverändernde Wirkungen haben können. Weiterhin, daß Personengruppen gesellschaftliche Konventionen aufgeben und dennoch in ihrem — veränderten — Handeln untereinander konform bleiben können. Schließlich, daß mit einem derartigen Handeln nicht unbedingt gegen das Prinzip der Normalität verstoßen wird. Die Angestellten können sich, selbst am Endpunkt der Entwicklung, noch rechtfertigen55 und eine ganze Serie von Gründen anführen, warum sie ihrem Chef autoritäres Verhalten nachsagen. Es muß ihnen Recht gegeben werden in dem Sinn, daß der Direktor auf sie autoritär wirkt. Sie haben recht im Sinne subjektiven Wissens, selbst wenn sie unter intersubjektivem Aspekt unrecht haben. Der Journalist G. Wallraff stellt einen vergleichbaren Fall dar, in dem das Firmenmanagement einer Zeitung sich Formen subjektiven Wissens zunutze macht56: Die Mitarbeiter einer Zeitung, der „Bild-Zeitung", bilden unter dem Eindruck von Redaktionskonferenzen, unter dem Zwang ihre Artikel so lange umzuschreiben, bis sie eine bestimmte Form haben, und unter der Verpflichtung, am laufenden Band zu veröffentlichen, 55
56
Handeln aufgrund von kollektivem subjektiven Wissen kann immer mit Bezug auf eben dieses Wissen gerechtfertigt werden. Rechtfertigungen dieser Art laufen aber Gefahr, von der übrigen Gesellschaft nicht anerkannt zu werden, weil sich diese auf ein andersartiges Wissen beruft. Handlungsrechtfertigungen und -begründungen sind eben auch eine Frage des Wissens. In: G. Wallraff, Der Aufreißer.
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3 Wissen über Subjektives
merkwürdige Vorstellungen über die Eigenschaften von Zeitungsberichten aus. Deren hervorstechende Merkmale sind einmal, daß überhaupt nicht geschehen sein muß, was berichtet wird, und zum ändern, daß Ereignisse nur so weit wiedergebbar sind, wie sie im Leser Emotionen freizusetzen in der Lage sind. Diese Vorstellungen werden nicht ausgesprochen; es werden keine Vorschriften in dieser Hinsicht von der Konzernspitze oder vom Chefredakteur ausgegeben. Es gibt nur einige Orientierungsmerkmale, denen sich die Mitarbeiter widerspruchslos unterwerfen: Lob und Tadel, Ablehnung, Stellung in der Hierarchie der Redaktion und musterhafte Artikel, die der Redaktionsleiter anfertigt. Aber dies sind nur Ausgangspunkte, von denen aus jeder Mitarbeiter selbst, ohne jeden objektiven Zwang, eigene Vorstellungen herausbildet. Das Haus Springer hat vollkommen recht, wenn es in der Reaktion auf Wallraffs Darstellung behauptet, es gäbe keinen Zwang in der „Bild"-Redaktion. Aber jedes Redaktionsmitglied nimmt an, daß dieser Zwang existiert; es weiß subjektiv, daß die Annahme der beschriebenenen Vorstellungen von ihm gefordert wird. Der Zwang wird vom subjektiven Wissen der Mitarbeiter ausgeübt. Die Führungskunst des Managements der Zeitung besteht darin, das subjektive Wissen der Mitarbeiter über ihre Arbeit ständig zu bestärken, so daß alle Mitarbeiter davon erfaßt werden, ohne daß es in intersubjektives Wissen überführt wird. 3.3.5
Kollektives subjektives Wissen
Bisher habe ich nur Beispiele angeführt, bei denen eine kleine Gruppe eigentümliche Abweichungen von den Regeln der Gesellschaft produziert. Dieses Vorgehen hat seinen Grund allein darin, daß es die Darstellung erleichtert. Es gibt Formen subjektiven Wissens, die von den Mitgliedern einer ganzen Gesellschaft entwickelt werden. Ich nehme an, daß jedes einzelne Mitglied einer Gesellschaft über Formen subjektiven Wissens verfügt, die nicht aufgrund von gesellschaftlichen Regeln, Normierungen und Kontrolle erzeugt werden. Es folgt aus meinen Annahmen, daß wir Formen dieser Art nicht rekonstruieren können. Man kann aber Umschreibungen von ihnen mit Begriffen intersubjektiven Wissens geben. Im folgenden werde ich einige Beispiele für kollektives Wissen, das von einer ganzen Gesellschaft angenommen wird, anführen. Ich werde mich dabei auf Kurzangaben beschränken. Es gibt ganze Jahrhunderte der europäischen Geschichte, die von Angst beherrscht wurden — Angst aus ökonomischen und existenziellen Gründen: Angst vor Mißernten, vor Krankheiten, vor dem Winter, vor
3.3 Subjektives Wissen
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der Zukunft. Eine der eindrucksvollsten Perioden der Angst dauerte in Europa von 1348 bis 145057. Wir verfügen über umfangreiche und genaue Kenntnisse dieser Epoche: über die ökonomische Entwicklung, die Erträge der Ernten, die Lebensverhältnisse, die Sprache mit ihren juristischen und literarischen Denkmälern. Eine genaue Rekonstruktion des subjektiven Wissens der Epoche ist möglich und zum Teil schon hergestellt worden. Wir können daraus erschließen, daß ein wesentlicher Bestandteil dieses Wissens die Angst betrifft und daß diese fundamental anders sein muß als Angst in unserer Zeit und in unserer Gesellschaft. Ich versuche, Hinweise auf einige unterschiedliche Formen subjektiven Wissens zu geben58: Wir haben bestimmte Vorstellungen über das, was die Vergangenheit und die Zukunft für uns sind: Die Vergangenheit besteht aus mehr oder weniger gedeuteten und verarbeiteten Erlebnissen unserer Person. Die Zukunft ist etwas ganz anderes — wir kennen sie nicht; wir erwarten sie. Sie besteht aus unbekannten Ereignissen, die irgendwie eintreten werden. Eines wissen wir über sie: daß sie für uns Veränderungen hervorrufen wird. Ein Ende der Ereignisse und Veränderungen können wir uns nicht vorstellen. Das subjektive Wissen über Vergangenheit und Zukunft, das Personen im Zeitalter der Angst haben, läßt sich ganz anders vorstellen59: Die Angst ist ein permanenter und überpersönlicher Zustand, der den für unsere Epoche typischen Bruch zwischen einer erlebten, persönlichen und bekannten Zeit und einer unbekannten unpersönlichen Ereignis-Zeit überhaupt nicht entstehen läßt. Die Angst ist ein kollektiver Zustand, der die Zukunft der Vergangenheit gleichmacht und in der Zukunft keine Möglichkeit der Verbesserung im Vergleich zur Vergangenheit erblickt. Die Vergangenheit ist überwunden, und die Zukunft, die sich von ihr nur dadurch unterscheidet, daß sie noch nicht eingetreten ist, wird wie diese überwunden werden. Ein Bruch der Zeit tritt erst in dem Moment ein, in dem das Individuum mit dem Tod aus dem Ablauf der Ereignis-Zeit herausgenommen wird. 57
58
59
Vgl. Le Roy Ladurie, 21, sowie weitere Arbeiten der französischen Historiker um die Zeitschrift „Annales", die eine Fülle an Forschungen über Glaubenssysteme, Einstellungen, Wissensformen, vorwissenschaftliche Kenntnisse unternommen hat. Einige davon sollen im folgenden zur Sprache kommen. Ich unternehme im folgenden nicht mehr als einen skizzenhaften Versuch, der nur einen Eindruck davon verschaffen soll, wie wichtig eine Erforschung von kollektivem subjektiven Wissen der Vergangenheit sein kann. Zur mittelalterlichen Zeitvorstellung siehe J. Le Goff. Meine Überlegungen über die Angst sind von Le Goffs Arbeit unabhängig.
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3 Wissen über Subjektives
Ich habe nicht die Absicht, .Zeit-Theorien' von zwei Epochen miteinander zu vergleichen. Es geht mir darum zu zeigen, daß ein Individuum im H.Jahrhundert die Vergangenheit anders auffaßte, als wir heute: daß es also anders darüber dachte; daß es sich anders erinnerte; daß es in anderer Weise Zeit verarbeitete und anders plante60. Es geht um Unterschiede der subjektiven Zeitvorstellungen. Meine Bemerkungen zum subjektiven "Wissen über die Zeit haben spekulativen Charakter. Aber dadurch wird meine Argumentation nicht beeinträchtigt. Worauf es bei dem intuitiven Vergleich ankommt, ist zu zeigen, daß in Gesellschaften, die zu verschiedenen Zeitpunkten unter ganz unterschiedlichen Bedingungen existieren, ein verschiedenartiges kollektives subjektives Wissen ausgebildet wird. Dieses wird nicht durch Normen, Regeln, Institutionen, Vorschriften und durch Kontrolle und Korrektur vermittelt; es wird nicht erworben, wie man gesellschaftliches Handeln erwirbt. Die Gesellschaft erläßt keine Gebote und gibt keinerlei Anweisungen dafür, welche Vorstellungen ein Individuum über die Vergangenheit und die Zukunft herausbilden soll. Was das Individuum vorfindet, sind nicht mehr als Spuren kollektiven subjektiven Wissens in der Öffentlichkeit; darauf werde ich weiter unten zu sprechen kommen. Kollektives subjektives Wissen wird nicht explizit vermittelt. Man stellt sich die Vermittlung von Wissen üblicherweise so vor wie die Übermittlung einer Botschaft. Das Verhalten des Individuums, meint man, ist die Folge der korrekten Anwendung des Mitgeteilten. Aber wir müssen eine andere, zusätzliche, Vorstellung des Wissenserwerbs entwickeln, nach der Individuen selbst, ohne daß die Gesellschaft eine Botschaft übermittelt, Wissen herausbilden. Ich nehme an, daß es andere, viel subtilere Mittel als die Übermittlung von Botschaften, Kontrolle und Korrektur gibt, um den Einzelnen dahin zu bringen, ein gleichartiges Wissen wie das anderer Mitglieder seiner Gesellschaft zu erzeugen. Gesellschaftlicher Zwang ist bei weitem nicht die einzige Weise, einen Konsensus von Individuen herbeizuführen. Ein subtileres Mittel besteht darin, solidarisches Handeln (im Sinne Durkheims) zu erzeugen. Ein anderes Mittel ist die Hervorbringung von kollektiven Subjekt-Zuständen. Einige weitere Beispiele kollektiven subjektiven Wissens, die sich anhand des Vergleichs zwischen zwei Epochen darstellen lassen, will ich kurz erwähnen. Individuen haben eine bestimmte Vorstellung davon, was ihr Körper ist: welche Eigenschaften und Fähigkeiten er hat, was man mit ihm unter60
Le Goff zeigt, daß es bereits eine Vorform der modernen Zeitauffassung gibt, die „Zeit des Kaufmanns".
3.3 Subjektives Wissen
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nehmen kann, wie weit er belastbar ist, was für ihn angenehm und was für ihn unangenehm ist. Ein großer Teil von Vorstellungen dieser Art ist typisch für das subjektive Wissen von Mitgliedern bestimmter Gruppen61, insbesondere Vorstellungen, die in außergewöhnlichen Situationen, wie Hunger, Ekstase, Rausch, Sexualverkehr, herausgebildet werden. — Ein anderes Beispiel sind Vorstellungen, die Individuen über ihre eigene Persönlichkeit haben, z. B. die Annahmen, die sie über ihre eigene Entwicklung herausgebildet haben 62 : über ihre Erziehung, die Verpflichtungen, die sie eingegangen sind, die Weise, wie sie sich für andere Personen engagiert haben, die Wahl von Beruf und Pannern, über die Rasse, die Nation, der sie angehören etc. Die angeführten Beispiele erlauben, eine Reihe von Annahmen über kollektives subjektives Wissen aufzustellen: (1) Kollektives subjektives Wissen kann intersubjektives Wissen beeinflussen. Viele unserer Alltagsmythen und Ideologien sind intersubjektive Formen — z. B. Diltheys „objektive Formen des Geistes" — von ursprünglich subjektivem Wissen. Aber sie sind nicht dessen reiner Ausdruck. Zum einen, weil ihnen das wesentliche Merkmal subjektiven Wissens, die erzeugende Kraft, verlorengegangen ist. Ein Mythos oder eine Ideologie fixiert ein bestimmtes Wissen für alle Zeiten (selbst wenn sich beide weiter entwickeln). Zum ändern, weil die intersubjektive Fixierung subjektiven Wissens den Gesetzen des Mediums, in dem es ausgedrückt wird, unterworfen wird: Ein Mythos und eine Ideologie haben eine Form, die durch die sprachliche Wiedergabe bestimmt wird, und diese verändert das ausgedrückte Wissen. (2) Kollektives subjektives Wissen besteht u. a. aus individuellen Vorstellungen, die typisch für Mitglieder bestimmter Gruppen sind. Es läßt sich nicht auf soziologisch erforschbare Attitüden oder Einstellungen reduzieren. Ebensowenig ist es auf unbewußtes oder nicht-gewußtes Wissen beschränkt. Vielmehr ist es ein komplexes Gebilde aus Annahmen, Regeln, Hypothesen etc. Die Bestandteile kollektiven subjektiven Wissens haben nicht notwendig theoretischen Charakter — wie z. B. Vorstellungen und Überzeugungen; sie erfüllen aber alle eine kognitive Funktion63. Sie können gewußt sein oder auch nicht. Sie bestimmen wesentlich die 61 62
63
Vgl. Verf. in Lenk, Handlungstheorien interdisziplinär, Bd. IV. Ein gutes Beispiel ist Aries' Arbeit über den historischen Wandel der Vorstellung über die Kindheit. Eine „kognitive Funktion" erfüllen sie in dem Sinn, daß sie dazu dienen, Gegenstände oder Ereignisse wahrzunehmen, zu erkennen, zu klassifizieren, zu deuten, zu begründen oder sogar zu erklären.
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3 Wissen über Subjektives
Formation von Attitüden, Erwartungen, Beurteilungen und Situationseinschätzungen. (3) Kollektives subjektives Wissen äußert sich im Handeln von Individuen64. Meine Handlungen, die sich auf Zukünftiges beziehen, können aufgrund des unterschiedlichen subjektiven Wissens über die Zukunft meiner Gesellschaft eine andere Form annehmen als die entsprechenden Handlungen eines Individuums im H.Jahrhundert. Die Weise, wie mein Körper in mein Handeln einbezogen wird, kann durch das subjektive Wissen meiner Gruppe begründet werden. Die Vorstellungen, die ich von meiner Biografie habe, können meine Projekte über zukünftiges Handeln beeinflussen. (4) Kollektives subjektives Wissen äußert sich in besonderen Ausdrucksformen. Diese lassen sich untersuchen; ich werde im folgenden (in 3.3.6) kurz darauf eingehen. Eines läßt sich schon an dieser Stelle sagen: Kollektives subjektives Wissen kann sich nicht derselben Äußerungsformen bedienen wie intersubjektives Wissen: Es kann nicht explizit ausgesprochen werden. Ich werde annehmen, daß es sich an der Form von Handlungen zeigt. Die Form des Sprechens kann uns beispielsweise Aufschlüsse über kollektives subjektives Wissen von Sprechern geben65. Die Sprache ist eines der Ventile, durch die subjektives Wissen in die Öffentlichkeit gelangen kann. 3.3.6
Exkurs: Mögliche Ansatzpunkte einer Erforschung kollektiven subjektiven Wissens
In diesem Abschnitt will ich weitere Äußerungsformen kollektiven subjektiven Wissens angeben; als Beispiele werde ich nennen: Rechtsnormen, Kulte, Architektur, Sitten. Die knappe Diskussion, die sich anschließen wird, ist als Anregung zu verstehen. Die kollektiven Vorstellungen, die Individuen von ihrer eigenen Persönlichkeit haben, können in Rechtsnormen der Gesellschaft einen Niederschlag finden. Kollektives subjektives Wissen unserer gegenwärtigen Gesellschaft läßt sich durch die Postulate der Einzigartigkeit und der Unverletzbarkeit der Person und ihres Intimbereichs kennzeichnen. Es wird durch die Orientierung unseres Rechtssystems zum Ausdruck 64
65
.Handeln' wird hier so weit aufgefaßt, daß auch Handlungsunterlassungen darunter fallen können. Kollektives subjektives Wissen muß sich nicht notwendig im Handeln äußern. Es kann, wenn dies nicht der Fall ist, weitgehend vernachlässigt werden, weil es zu dieser Art Wissen keinen methodologisch absicherbaren Zugang gibt. Beispiele dafür gebe ich im 5. Kapitel dieser Arbeit.
3.3 Subjektives Wissen
109
gebracht, z. B. durch Rechtsnormen, die Personen vor Beleidigungen und ungerechtfertigten Behauptungen schützen, oder durch Rechtsgrundsätze, die z. B. öffentliche Eingriffe in die Intimsphäre untersagen. Religiöse Kulthandlungen können durch ihre Organisation, durch die An ihres Aufbaus ein kollektives subjektives Wissen ausdrücken. Die Zentrierung des protestantischen Gottesdienstes um die Predigt herum, das Übergewicht des Worts und des Denkens im Protestantismus läßt sich wahrscheinlich teilweise darauf zurückführen, daß gläubige Protestanten etwas andere Annahmen über ihre eigene Existenz haben als Katholiken: Eine zeitliche Existenz zu führen, wird von vielen Protestanten als ein Problem angesehen, als eine Schwierigkeit, und zwar als eine mit Hilfe des Intellekts zu lösende Schwierigkeit. Es wäre müßig, das Problem zu stellen, was zuerst vorhanden war — das kollektive subjektive Wissen oder der Protestantismus. Ich möchte nur so viel sagen: Wenn ein spezielles kollektives subjektives Wissen dieser Art nicht schon vor dem Entstehen des Protestantismus existiert hätte, ließe sich die schnelle Verbreitung der neuen Konfession kaum erklären. Wenn, umgekehrt, der Protestantismus mit seinem Kult und seiner besonderen Erziehungsweise nicht entstanden wäre, hätte man vermutlich einige Schwierigkeiten, die historische Kontinuität und die Verbreitung der protestantischen Lebensauffassung zu erklären. Die Architektur erwähne ich aus folgendem Grund: Wohnungen, Häuser, Straßen, Plätze werden nicht nur aus ästhetischen oder pragmatischen Gründen entworfen. In die Pläne gehen wesentlich auch die Vorstellungen von Individuen darüber mit ein, wie sie die gebaute Architektur auf ihre eigene Person beziehen können. Architektur muß auch für die Darstellung der Persönlichkeit des Einzelnen geeignet sein. Ein Beispiel: Eine Wohnung wurde von einem Ehepaar noch vor einiger Zeit so eingerichtet, daß dieses in jedem Fall über ein Schlafzimmer verfügte, das als Intimbereich der Öffentlichkeit verschlossen blieb. Wenn das Ehepaar in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebte, wurde das ganze öffentliche Leben auf eines der beiden Zimmer konzentriert, das zweite blieb den Besuchern unbekannt. Heute wird bei kleinen Wohnungen das Schlafzimmer im allgemeinen als unnütz, als Raumverlust, angesehen. Der Raum, in dem die Personen schlafen, wird der Öffentlichkeit geöffnet; der früher unsichtbare Intimbereich verschwindet. Die Annahmen der Individuen über die Organisation ihres Lebens in der Öffentlichkeit haben sich seit einiger Zeit fundamental verändert. Früher nahm man an, daß eine erotische und sexuelle Gemeinschaft einen abgeschlossenen, gesicherten, durch eindeutige Merkmale gekennzeichneten Bereich zu ihrer Ent-
110
3 Wissen über Subjektives
faltung brauche. Das ist keineswegs nur eine Konvention, sondern eine Art naiver Theorie über Persönlichkeitsbereiche. Heute nimmt man vielfach an, es sei wichtig, den persönlichen Bereich von Individuen so weit wie möglich in den öffentlichen der Gesellschaft zu integrieren. Dem von der Gesellschaft abgetrennten Raum des Individuums wird für dessen Entfaltung weniger Wert beigemessen. N. Elias hat gezeigt, daß Wandlungen der Sitten (der Zivilisation) auf Veränderungen von Vorstellungen und Überzeugungen zurückgeführt werden können. In seinem „Prozeß der Zivilisation" untersucht er die Mutationen der Tischsitten in Europa, so weit sie sich in zeitgenössischen Etiketten, die man in Manierenbüchern beschrieben findet, niederschlagen. Er weist eine grundsätzliche historische Tendenz auf: Die Speise, die die Küche verläßt und serviert wird, verliert im Verlauf der Entwicklung seit der Renaissance zunehmend ihre ursprüngliche Form. Fleischgerichte lassen z. B. immer weniger die animalische Herkunft erkennen. Während das Rind in früheren Epochen in Form ganzer Teile, z. B. als Keule oder sogar als Viertel, auf den Tisch getragen und dort zerlegt wurde, erscheinen heute ausschließlich zubereitete Portionen, die jeden Hinweis auf die Anatomie des Tieres unterdrücken66. Im Sinne meiner Überlegungen könnte man diese Wandlungen wie folgt interpretieren: Das kollektive subjektive Wissen über die Präsentation von Fleisch hat sich verändert. Wir denken heute, wenn an der Speise die Anatomie des Tieres erkennbar ist, in erster Linie an ein tierisches Individuum, das unter menschlicher Gewalt sein Leben lassen mußte. Diese Art von Wissen flößt uns Ekel ein; die Herkunft unserer Speise geniert uns. In anderen Epochen berief man sich hingegen auf eine ganz andere Art von Wissen, das eine Tischgemeinschaft z. B. darauf brachte, die gebratene Panic des Tieres aufgrund seiner Anatomie, der Beschaffenheit von Muskeln, Gelenken, Sehnen etc. als gesund, kräftig und jung zu beurteilen. Heute würde ein Wissen dieser Art vielen Leuten den Appetit verderben, weil der Hinweis auf die Gesundheit des Tieres sie auf einen Gedanken bringen würde, den sie für einen ungestörten Fleischgenuß unbedingt unterdrücken müssen: daß das Tier geschlachtet worden ist. Meine Darstellung des kollektiven subjektiven Wissens ist bisher noch ziemlich grob und kommt selten über den Charakter von Hinweisen und spekulativen Entwürfen hinaus. Sie an dieser Stelle wesentlich auszuarbeiten geht über meine Möglichkeiten und die Grenzen dieser Arbeit hinaus. 66
Elias 1,159 ff.
3.3 Subjektives Wissen
111
Ich möchte aber trotz ihres intuitiven Charakters nicht auf sie verzichten, weil ich meine, daß sie zweierlei zu zeigen fähig sind: Einmal, daß es sich lohnt, kollektives subjektives Wissen zu untersuchen. Zum ändern, daß es für einen einfallsreichen Beobachter möglich ist, kollektives subjektives Wissen anhand dessen Äußerungsformen mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen. In dieser Arbeit werde ich, im 5. Kapitel, versuchen, Aufschlüsse darüber zu erhalten, wie sich kollektives subjektives Wissen in der Sprache äußert. 3.3.7
Probleme der Zuschreibung subjektiven Wissens
Subjektives Wissen ist vom intersubjektiven dadurch unterschieden, daß sein Ursprung in Annahmen des Einzelnen liegt. Wer schreibt einem Individuum ein subjektives Wissen zu? Dies kann einmal das Individuum selbst tun oder ein zeitgenössischer Beobachter. Die Zuschreibung subjektiven Wissens gilt nicht notwendig in anderen historischen Epochen und in anderen Kulturkreisen. Die Fragen der Zuschreibung von subjektivem Wissen sind zentrale methodologische Probleme aller mit Auslegung befaßten Wissenschaften. Drei verschiedene Beurteilungen subjektiven Wissens sind möglich: (1) Der Beobachter erkennt das subjektive Wissen an, das ein Individuum sich selbst zuschreiben würde67. Der Beobachter kann versuchen, das subjektive Wissen aus Selbstzeugnissen des Individuums in Erfahrung zu bringen und in seiner eigenen Sprache zu umschreiben. Die Erforschung subjektiven Wissens beschränkt sich auf historische Individuen. (2) Er weist nach, daß die subjektiven Annahmen und Glaubenshaltungen von Personen nichts anderes als der individuelle Niederschlag von überindividuellen gesellschaftlichen Strukturen sind. Die individuellen Annahmen über Sexualität und Ehe z. B., die im Europa des 16. Jahrhunderts zur sexuellen Enthaltsamkeit und späten Heirat führten 68 , werden als Ausdruck von Stabilisierungstendenzen der demographischen Struktur auf der Ebene der Individuen angesehen. Der Beobachter versucht, Han67
68
Das Konditional verbirgt ein schwerwiegendes methodologisches Problem: anzugeben, unter welchen Umständen das beobachtete Individuum sich ein bestimmtes subjektives Wissen zuschreiben kann. Die Hermeneutik, die diese Beurteilungsform postuliert, hat über dieses Problem nie vollständige Klarheit erreicht. Auch die letzte bedeutende hermeneutische Arbeit, Gadamers „Wahrheit und Methode", mit ihrem Bild der Horizontverschmelzung klärt dies Problem nicht auf. Vgl. Le Roy Ladurie, 316 ff.
112
3 Wissen über Subjektives
dein aus subjektivem Wissen auf allgemeine überindividuelle Strukturen zurückzuführen. (3) Er erkennt, daß subjektives Wissen vieler Individuen sich auf die Verhaltensweisen der gesamten Gesellschaft auswirkt und sich in Symbolen der Gesellschaft niederschlägt. Er versucht, von bestimmten Symbolen der Gesellschaft ausgehend, das kollektive subjektive Wissen, das sich darin ausdrückt, in Umrissen zu rekonstruieren. Die drei Beurteilungen subjektiven Wissens kennzeichnen drei verschiedene wissenschaftliche Positionen. Die erste liegt dem hermeneutischen Individualismus zugrunde. Die zweite bevorzugt der französische Strukturalismus. Die dritte ist, wenn nicht neuer und ungewöhnlicher, so doch unbekannter als die beiden ersten. Sie ist im Grunde eine Weiterentwicklung der Diltheyschen Annahme über die Objektivierung des Subjektiven in Symbolsystemen. Die zweite und dritte Beurteilung legen ihrer Interpretation die Annahme einer Wechselwirkung von subjektivem und intersubjektivem Wissen zugrunde; gerade diese Annahme macht beide interessant. Die individualistische Beurteilungsweise der Hermeneutik69 ist im Vergleich zu den beiden anderen ein beschränkter methodologischer Standpunkt, der zu unerlaubten Reduktionen führen kann. Es gibt zweifellos Fälle, in denen sie zu Recht Anwendung findet. Aber zum einen müssen die Hermeneutiker die Berechtigung anderer Beurteilungsweisen anerkennen und zum anderen, z. B. im Fall des kollektiven subjektiven Wissens, deren Überlegenheit zugeben70. Ob man bei der Untersuchung kollektiven subjektiven Wissens der zweiten oder der dritten Beurteilungsweise den Vorzug gibt, hängt davon ab, wie man die Entstehung gesellschaftlicher Annahmen-Systeme deutet. Folgende beiden Interpretationen sind möglich: 1. Gesellschaften arbeiten eine Struktur von Annahmen heraus. Die Struktur unterwirft sich alle Manifestationen des Denkens der jeweiligen Epoche. Subjektives Wissen ist nur eine Spielart der gesellschaftlichen Strukturen. 2. Eine Reihe von Individuen entwickelt ein übereinstimmendes subjektives Wissen. Das Wissen drückt sich in Äußerungen und Handlungen der Individuen aus und wird von anderen Individuen übernommen. Eine massive und einflußreiche Anzahl von Individuen setzt ihr subjek69
70
Eine Ausnahme der Annahmen der Hermeneutik stellt in dieser Hinsicht Dilthey dar; siehe dazu S. 54 dieser Arbeit. Gadamer scheint ein Monopol der hermeneutisch-individualistischen Beurteilungsweise zu behaupten. Die Abschnitte über kollektives subjektives Wissen in dieser Arbeit können als Kritik an dieser Auffassung gelesen werden.
3.3 Subjektives Wissen
113
lives Wissen gegen die anderen durch. Sie beginnt, andere Äußerungsformen des Wissens nach ihrer Konzeption zu modellieren. Der Prozeß setzt sich fort, bis die wichtigsten Bereiche des Wissens nach den Vorstellungen der Individuengruppe geformt worden sind. Für beide Interpretationsarten lassen sich Argumente anführen. Aber ich glaube, es ist sinnlos, eine Entscheidung für die eine und gegen die andere zu erzwingen. Beide haben ihre Berechtigung. Es gibt gesellschaftliches Wissen, das aus ökonomischen Zwängen, materiellen Bedingungen, natürlichen Notwendigkeiten etc. entsteht. In diesem Fall ist die erste Interpretationsart vorzuziehen. Anderes Wissen einer Gesellschaft entsteht aus subjektiven Motiven. In diesem Fall wird man der zweiten Interpretationsart den Vorzug geben71.
71
Die Wahl einer der beiden Interpretationsarten hängt auch davon ab, welche Konzeption für die Entwicklung von intersubjektivem Wissen angenommen wird, insofern als dieses selbst aus kollektivem subjektiven Wissen entstehen kann.
4
Wissen und Handeln
Subjektives Wissen, individuelles und kollektives, bildet einen wesentlichen Bestandteil der Realität eines Individuums. Diese muß nicht mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmen. Im allgemeinen nimmt man an, daß Handelnde ihr Wissen über Handlungssituationen so weit wie möglich in Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu bringen suchen. Ist diese Annahme unbestreitbar? Es können drei Gegenargumente vorgebracht werden: 1. Die Annahmen des Handelnden über die Handlungssitutation lassen sich in vielen Fällen nicht korrigieren. Sie entziehen sich der Kenntnis der sozialen Gemeinschaft oder sie werden der Selbst-Kontrolle des Individuums überlassen. Frau A's Handlung des Regenschirm-Suchens (analog zu dem Beispiel der Schlüssel-Suche aus der Einleitung) wird nicht daraufhin überprüft, ob Frau A tatsächlich einen Regenschirm besitzt'. Diese Annahme wird als wahr vorausgesetzt. 2. Angenommen, Frau A besitze gar keinen Regenschirm, suche aber trotzdem einen. Nur in seltenen Fällen werden Beobachter auf diesen Umstand aufmerksam. Warum? Weil sie von der unauffälligen, aber nur scheinbaren Normalität der Handlung (des Suchens) darauf schließen, daß der Handelnde ein gleichartiges intersubjektives Wissen über die Handlungssitutation hat wie sie selbst. Die Normalität der Handlungen läßt aber nicht auf ein intersubjektives Wissen über die Handlungssitutation schließen. Sie kann nur Schein sein2. 3. Handlungen, die aus individuellen Motiven, Intentionen, Zielen etc. heraus vollzogen werden, werden in vielen Fällen von den Annahmen bestimmt, die der Handelnde über Ereignisse der Vergangenheit oder einer projizierten Zukunft oder über beides hat. Sie werden zwar in 1
2
Wenn man nicht weiß, ob Frau A einen Regenschirm besitzt, stellt man normalerweise keine Nachprüfungen an. Normalität wird in vielen Fällen lediglich nach dem Aspekt des Handelns beurteilt. Der Normalitäts-Begriff in unserer Gesellschaft umfaßt aber auch die Art des Wissens, das dem Handeln zugrunde liegt, und die Weise der Bezugnahme darauf.
4 Wissen und Handeln
115
einer Gegenwart vollzogen, aber sie werden vom Handelnden und Beobachter in einen Zusammenhang gestellt, der über den Handlungsvollzug hinausreicht. Wenn Frau A ihren Schirm bei heiterem Sommerwetter sucht, nimmt sie einmal an, das Wetter könne sich in der nächsten Zeit verschlechtern, und zum ändern weiß sie, daß sie lange fortbleiben und sich an ungeschützten Orten aufhalten wird. Die Annahmen über Zukunft und Vergangenheit können zum großen Teil aus subjektivem Wissen gebildet werden. Die kritisierte Auffassung läßt sich in überspitzter Formulierung umdrehen: Anstatt ihre Annahmen über Handlungssituationen dem intersubjektiven Wissen anzugleichen, können Handelnde auch den anderen Weg wählen, die neuen, durch ihre Handlungen erzeugten Situationen ihrem subjektiven Wissen anzupassen und dabei gleichzeitig Kennzeichen von Normalität zu erzeugen. Nichts wäre verfehlter, als anzunehmen, meine Argumentation würde einer Handlungsbegründung aus dem Irrationalen das Wort reden. Die Einschätzung der Handlungssituation aus dem subjektiven Wissen ist nicht irrationaler als diejenige aus intersubjektivem Wissen. Es geht vielmehr um folgende Überlegungen: Jede Handlung hat eine besondere Form, insofern als sie auf eine spezifische Weise ausgeführt wird. Eine Tür schließen — dies ist eine Handlung, die auf sehr viele verschiedene Arten vollzogen werden kann: laut, leise, unhörbar, energisch, weich, fließend, fast unsichtbar etc. Die Weise, wie jemand die Tür schließt, kann biologisch bedingt und psychisch habitualisiert sein, wenn die Person z. B. kraftlos und schüchtern ist und alle Gegenstände mit weichen, molligen Bewegungen behandelt (dies ist der Fall von Routinehandlungen). Routinehandlungen werde ich bei meinen Überlegungen zunächst ausnehmen, weil sich ihre Form nicht auf eine situationsbezogene Handlungsintention zurückführen läßt. Wenn die schwache Person unseres Beispiels ihrem Handeln eine Form zu geben beabsichtigt, weicht sie gerade von der Routine ab: Sie wirft die Tür ins Schloß; oder sie schließt sie so leise und schnell, daß man es bemerkt. Ein Handelnder gibt seinem Handeln eine Form, die dieses vom Routinehandeln unterscheidet, weil er einen Grund dafür hat. Den Grund bildet er aus seinem subjektiven Wissen über die Handlungssituation. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß auch Routinehandlungen eine Intention zugrunde liegt. Nur wird diese Intention in den meisten Fällen nichtexplizit, nicht einmal gewußt sein; sie wird gleichsam aus einem Versteck der Alltäglichkeit heraus wirksam; weiterhin läßt sich annehmen, daß sie ganze Handlungs^eretcAe, nicht nur Einzelhandlungen leitet. — Diese
116
4 Wissen und Handeln
Überlegung soll zeigen, daß es nicht angebracht ist, intentionale und routinehafte Handlungen als zwei disjunktive Handlungsklassen anzusehen3.
4.1
Für Handlungserklärungen ist der Rückgang auf das Wissen des Handelnden unerläßlich
4.1.1
Vier Grundsätze
Nicht-routiniertes Handeln mit einer situationsbezogenen Intention besteht darin, daß einer Tätigkeit eine spezifische Form gegeben wird. Es ist begründet im subjektiven, kollektiven subjektiven oder intersubjektiven Wissen des Handelnden über die Situation. Für die Erklärung von intentionalem Handeln ist daher der Rückgang auf das subjektive bzw. kollektive subjektive oder intersubjektive Wissen des Handelnden unerläßlich. Diesen Gedanken werde ich an einigen der Beispielfälle aus Kapitel l erläutern und dabei gleichzeitig einige Grundsätze aufstellen, unter denen die Beispiele interpretiert werden4 : 1. Wenn der Handlungsgrund ausgehend vom subjektiven Wissen des Handelnden gesucht wird, können Handlungsäquivalenzen entdeckt werden. — Hausbesitzer Fies hat die Absicht zu töten, wählt aber eine Handlung, die unter intersubjektivem Aspekt nicht als Tötung gilt. Nach seinem subjektiven Wissen ist die Übermittlung seiner Nachricht einer Tötungshandlung äquivalent. Fies vollzieht nach meiner Deutung nicht die zwei Handlungen a (Briefschreiben) und b (Töten); er führt nicht a öffentlich und b heimlich aus; die Handlung a führt nicht die zweite Handlung b herbei. Fies vollzieht eine einzige Handlung, nämlich b, der er die Form a gibt, a deute ich nicht als eigenständige Handlung, sondern als Handlungsform. Diese Deutung ist vom intuitiven Standpunkt aus berechtigt: Fies informiert seinen Mieter nicht; seine Handlung ist, obwohl er einen Brief schreibt, von der Handlung des Briefschreibens verschieden. Ebenso handelt A, der B zu einem schlechten, aber bestandenen Examen gratuliert, um sich über ihn zu mokieren, nicht als Gratulant, sondern als 3
4
Es ist bei vielen Routinehandlungen so, daß ihnen sehr klare Handlungsintentionen zugrunde liegen. Wenn jemand gedankenlos drei Stunden lang in einer Schlange steht, wird die Routinehandlung des Stehens in der festen Intention unternommen, ein paar Eintrittskarten zu kaufen. Die Untersuchung von Routinehandeln verlangt allerdings andere Methoden als diejenige von Handlungen mit speziellen Intentionen. Ich werde im folgenden nicht zwischen subjektivem und kollektivem subjektiven Wissen unterscheiden, soweit es nicht notwendig ist.
4.1 Rückgang auf das Wissen des Handelnden
117
Intimfeind, der die Form einer positiv bewerteten Handlung benutzt, um seine Infamie zu demonstrieren5. Einer Handlung wird der äußere Aspekt einer anderen gegeben, indem bestimmte Merkmale der zweiten Art Handlung hergestellt werden. 2. Der Grund von Handlungen kann darin bestehen, auf das subjektive Wissen anderer Personen einzuwirken, dieses z. B. zu bestätigen oder zu widerlegen. Handlungen dieser Art haben eine komplexe Struktur, denn das subjektive Wissen, auf das hingezielt wird, besteht in der Mutmaßung des Handelnden, und es kann fraglich sein, ob die anderen Personen es tatsächlich haben. So meint der junge Herr A (im Beispiel 2), daß er durch seine Handlungsweise die Grundsätze des subjektiven Wissens der Strengs verletze und sich vor einer erneuten Einladung schütze. Ist seine Einschätzung der Strengs falsch, dann hat er nicht die Handlung ausgeführt, die er zu vollziehen glaubte: In den Augen der aufgeschlossenen und liberalen Strengs hat er sich keineswegs „unmöglich gemacht". Welche Handlung man tatsächlich vollzieht, hängt in Fällen dieser Art davon ab, ob das eigene subjektive Wissen zutrifft oder nicht. Der Handelnde hat folglich Schwierigkeiten, die tatsächliche Form seines Handelns zu bestimmen. 3. Das Zutreffen von subjektivem Wissen kann durch historische Entwicklungen in Frage gestellt werden. — Die mythologische Deutung des Politikers A entspricht in seiner Jugend einer allgemein anerkannten Würdigung von Wahlerfolgen. Am Ende seines politischen Lebens begreift die öffentliche Meinung sein Vorhaben nicht mehr. A ist von einem überlebten Grundsatz seines subjektiven Wissens ausgegangen und verfehlt die intendierte Handlung. Die beiden letzten Beispiele lassen einen Grundsatz der Handlungstheorie erkennen: Eine absichtsvolle, nicht-routinierte Handlung ist im subjektiven Wissen des Handelnden begründet, — aber ob die intendierte Handlung auch tatsächlich ausgeführt wird, hängt nicht allein vom subjektiven Wissen ab. Im Fall der Schirmsuche kann man noch geteilter Meinung sein: Eine Person, die glaubt, einen Schirm zu suchen, aber gar keinen besitzt — sucht sie einen Schirm? Man kann sich für die Lösung entscheiden, daß sie ihrem Handeln die Form des Schirm-Suchens gibt, aber tatsächlich das Schirm-Suchen nicht vollzieht. In den beiden anderen Beispielfällen gibt es keine Probleme: Die Handlungen, obwohl durch das subjektive Wissen der Handelnden bestimmt, werden nicht vollzogen. Hängt die Frage, welche Handlung tatsächlich, d. i. in der intersubjektiven 5
Es verhält sich genauso wie bei einer Verkleidung: Herr A als Gondoliere ist nicht zwei Personen. Er ist Herr A, der sich die Form (anhand bestimmter Merkmale) eines Gondoliere gibt.
118
4 Wissen und Handeln
Deutung der Gesellschaft, ausgeführt worden ist, vom subjektiven Wissen der Handlungspartner ab? Oder vom intersubjektiven Wissen6? 4. Ein letztes Beispiel: Herr Treu versteckt sein intimes Souvenir vor seiner Frau. Grundlage seines Handelns ist sein subjektives Wissen über sich selbst und das subjektive Wissen seiner Frau. Der Handlungserfolg bleibt aus. Dennoch hat er seine diskrete Erinnerung tatsächlich versteckt. Auch wenn er sich in seinem Wissen vollkommen getäuscht hätte, würde man trotzdem sagen können, daß er sein Geruchsrelikt versteckt hat. Es gibt, so will ich annehmen, eine Klasse von Handlungen, die nur dann als ausgeführt gelten, wenn das subjektive Wissen des Handelnden über das subjektive Wissen des Handlungspartners zutrifft. Es gibt eine zweite Klasse von Handlungen, die als vollzogen gelten unter der Bedingung, daß das subjektive Wissen des Handelnden mit dem intersubjektiven Wissen übereinstimmt. Es gibt schließlich eine dritte Klasse von Handlungen, die allein aufgrund des subjektiven Wissens des Handelnden als vollzogen gelten. Beispiele von Handlungen der ersten Klasse sind: jemanden beleidigen, belobigen, jemanden enttäuschen etc. Der zweiten Klasse gehören Handlungen an wie: geheimhalten, übereinstimmen, (mit einer Leistung) glänzen etc. Zur dritten Klasse gehören: lieben, einschnappen, sich beruhigen etc. Mein Vorschlag der drei Handlungsklassen muß sogleich mit einer Vorsichtsklausel versehen werden: Abgesehen davon, daß er keinerlei Vollständigkeit beansprucht, behauptet er nicht die Möglichkeit fester Zuordnungen von (sprachlichen) Handlungsbezeichnungen zu jeweils einer der drei Handlungsklassen. Ich nehme nicht mehr an, als daß eine Handlung je nach Situationsdeutung einer der angegebenen Klassen zugeordnet werden kann. Meine Beispiele gehen von Standarddeutungen aus. Die Zuordnung einer Handlungsbezeichnung zu einer Tätigkeit ist zwar innerhalb bestimmter Grenzen frei, aber es gibt Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung als vollzogen gilt. Diese lassen sich an den Sprachkonventionen erkennen, aufgrund derer Handlungen bezeichnet werden: Damit eine Handlung als „sich ärgern" bezeichnet 6
Man könnte das Problem entscheiden, indem man sagte: Es ist möglich, daß man für sich eine andere Handlung vollzieht als für die anderen. Diese Überlegung trifft insbesondere zu bei Handlungen, die auf das Wissen von Handlungspartnern hinzielen, also bei Handlungen wie beleidigen, aufklären, enttäuschen, erfreuen etc. Dieser Vorschlag unterscheidet zwischen Handlungen unter subjektivem und Handlungen unter intersubjektivem Aspekt. Gegen ihn spricht, daß Handlungen dieser Art üblicherweise unter intersubjektivem Aspekt beurteilt werden.
4.1 Rückgang auf das Wissen des Handelnden
119
wird, braucht nur das subjektive Wissen des Handelnden bestimmte Annahmen zu enthalten. Damit eine Handlung als „unmögliches Benehmen" bezeichnet wird, müssen außerdem noch einige Annahmen der Handlungspartner gegeben sein. Diese Differenzierungen zeigen zweierlei: einmal, daß die von Gadamer postulierte „Verschmelzung der Horizonte" im Verstehen ein viel differenzierterer Prozeß ist, als dieser Ausdruck vermuten läßt, zum ändern, daß Handlungserklärungen eng an Sprachkonventionen gebunden sind. Ob sie von der Sprache abhängig sind, ist ein sehr komplexes Problem, auf das im folgenden nur partiell eingegangen wird7. Der Vergleich von nicht-routinierten Handlungen mit Zügen eines Dialogs kann diesen Gedanken verdeutlichen: Die Äußerung eines Sprechers im Dialog kann nur erklärt werden, wenn man die Absicht seiner Sprechhandlung kennt. Seine Sprechintention kann sich auf die Sprechintention der Dialogpartner beziehen (z. B. wenn er sie zum Sprechen oder zum Schweigen bringen will). Welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Sprechhandlung als vollzogen gilt, hängt ab von den Regeln, nach denen der Dialog aufgebaut wird. Aus der Rekonstruktion des intersubjektiven und der Umschreibung des subjektiven Wissens von Handelnden und Handlungspartnern lassen sich Handlungserklärungen aus der Perspektive des Handelnden entwikkeln. Das Wissen, das in die Erklärungen eingeht, wird nicht aus mentalen Entitäten gebildet. Es kann prinzipiell nicht wie existierende Sachverhalte erfaßt werden. Intersubjektives und subjektives Wissen bestehen aus geistigen Konstruktionen, die von Personen hergestellt werden und von Beobachtern rekonstruiert bzw. umschrieben werden können8. Das rekonstruierte bzw. umschriebene Wissen wird dem Handelnden aufgrund seines Verhaltens, der situativen Umstände, seiner Äußerungen, der Kenntnis seiner Vorgeschichte und Persönlichkeit zugeschrieben. Das Verfahren, nach dem ein bestimmtes Wissen einem Handelnden zugeschrieben wird, ist Gegenstand der Fachwissenschaft, in deren Bereich das jeweilige Wissen fällt. Ich werde versuchen, im nächsten Abschnitt einige allgemeine Grundsätze dafür anzugeben. Zuvor soll noch folgende Frage beantwortet werden: Muß auch der Handelnde selbst eine Rekonstruktion oder Umschreibung seines eigenen Wissens vornehmen? Die Frage klingt absurd — der Handelnde hat doch 7
8
Diese Annahme ist vom Verfasser einmal geteilt (in Verf. 1973), aber inzwischen aufgegeben worden (Verf. 1979). Die Umschreibung von Wissen führt nicht zu dessen Reproduktion, vgl. dazu oben, S. 101.
120
4 Wissen und Handeln
sein Wissen. Was der Handelnde über sein subjektives Wissen ohne Rückgang auf äußere Kriterien weiß, ist selbst subjektives Wissen. Die Frage ist durchaus sinnvoll, wenn sie auf die Gewinnung intersubjektiven Wissens zielt. Sie läßt sich dann so beantworten: Wenn der Handelnde über sein Wissen intersubjektives Wissen erhalten will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Beobachterstandpunkt einzunehmen und vermittels gesellschaftlicher Kriterien sein eigenes Wissen nach den Regeln der Gesellschaft zu rekonstruieren. Dennoch befindet er sich nicht, wie wir (in Kapitel 3) gesehen haben, in der gleichen Lage wie ein fremder Beobachter: Die ungleich größere Kenntnis und der Spielraum der Eigen-Kontrolle versetzten ihn in eine Position, die von der des Beobachters unterschieden ist, aber nicht in allen Fällen — das soll zur Vorsicht noch einmal erwähnt werden — einen Erkenntnisvorteil bildet. 4.1.2
Handlungsaussagen
Handlungen sind durch eine Reihe von Eigenschaften gegenüber nichtintentionalen Tätigkeiten, die ich , Verhalten* nennen werde, ausgezeichnet. ^Tätigkeit* verwende ich als übergeordneten Begriff; er umfaßt sowohl Handlungen als auch Verhalten.) Ich will einige von diesen diskutieren : Der Unterschied zwischen Handlungen und Verhalten kann nicht durch phänomenale Merkmale angegeben werden. Eine Tätigkeit kann für den einen Beobachter intentional, für einen anderen nicht-intentional sein. Der erste Beobachter nimmt Bezug auf das Wissen des Handelnden, der zweite nicht9. Beide Beobachter machen über die Tätigkeit verschiedene Aussagen: Der erste kennzeichnet den Handelnden als verantwortliche Instanz, er schreibt ihm die Tätigkeit personal zu; der zweite unterläßt eine personale Zuschreibung. Ein enger Zusammenhang zwischen dem Unterschied von Handlungen und Verhalten und Beschreibungsformen wird erkennbar. Man kann den Unterschied von Aussagen über Handlungen und Aussagen über Verhalten in die Überlegungen einbeziehen. A. Danto unternimmt einen interessanten Versuch, eine Klasse sprachlicher Ausdrücke auszuzeichnen, deren Verwendung Handlungsaussagen erzeugt10. Er nennt diese Ausdrücke „Projektionsverben" und die Aussagen, die durch deren Gebrauch entstehen, „narrative Sätze". Narrative 9
10
M. Brodbeck zieht eine vergleichbare Unterscheidung zwischen „Mentalisten" und „Objektivisten". Beide werden von ihr allerdings als Vertreter einer bestimmten Wissenschaftsauffassung dargestellt. A. Danto, Analytical Philosophy of History.
4.1 Rückgang auf das Wissen des Handelnden
121
Sätze sind Beschreibungen, die nicht beobachtbaren Sachverhalten zugeordnet werden. Von einem „idealen Chronisten" — eine von Danto zum Zweck der Kritik eingeführte fiktive Vorrichtung, die alle beobachtbaren Sachverhalte der jeweiligen Gegenwart protokolliert — könnten sie nicht niedergelegt werden. Sie stellen vielmehr mit Hilfe der Projektionsverben eine Verbindung mit anderen, vorhergehenden oder folgenden Sachverhalten unter einem integrativen Aspekt her. In dem narrativen Satz „Aristarch nahm die Entdeckung Keplers vorweg" ist „vorwegnehmen" ein Projektionsverb. Nur „im Licht der Zukunft" hätte zu Aristarchs Zeiten das Verb „Keplers-Entdeckung-vorwegnehmen" verwendet werden können (Danto 1968, 159). Narrative Sätze beziehen sich nach Danto auf mindestens zwei verschiedenartige Ereignisse. Davon kann eines ein tatsächlich eingetretenes Ereignis, das vom „idealen Chronisten" aufgezeichnet wird, sein und das andere ein nicht-wirkliches, ein erwartetes oder intendiertes Ereignis. Ein Beispiel dafür: Nehmen wir mit Danto an, die Person A arbeite im Garten. In welchem Fall kann ein Beobachter diese Tätigkeit dadurch beschreiben, daß er sagt, A pflanze gerade Rosen? Muß er z. B. wissen, ob im Sommer tatsächlich Rosen an der Stelle wachsen, wo A gerade arbeitet? Natürlich nicht; dies wäre auch gar keine Bestätigung dafür, daß A gerade Rosen pflanzt, denn die blühenden Rosen im Sommer können von einer anderen Person gepflanzt worden sein oder auch von A zu einem anderen Zeitpunkt. Andererseits kann man durchaus sagen, jemand „pflanze Rosen", auch wenn später keine Rosen an der bearbeiteten Stelle wachsen — die Rosen können eingegangen, zerstört, fortgenommen worden sein. Man kann zu dem Zeitpunkt, an dem A sich im Garten beschäftigt, schon das Projektionsverb „Rosenpflanzen" anwenden. Denn man erkennt am Verhalten von A bestimmte für Rosenpflanzen charakteristische Züge. Weiterhin läßt sich — über Danto hinausgehend — erwähnen, daß eine Reihe von Zügen der präsenten Situation auf vorhergehende Handlungen A's schließen lassen: Das Vorhandensein von Rosenstöcken läßt darauf schließen, daß A sie sich vorher besorgt hat, die Verwendung von Gartengerät darauf, daß A die nötigen Vorbereitungen getroffen hat, die Auswahl des Gartenplatzes, an dem er arbeitet, darauf, daß er sich über die Anlage seines Rosenbeets vorher Gedanken gemacht hat etc. Mit Hilfe des Projektionsverbs wird eine Aussage über menschliches Handeln konstruiert, durch die eine Menge von gegenwärtigen und vergangenen Verhaltensweisen in einen systematischen Zusammenhang mit einem fiktiven, erwarteten oder intendierten Ereignis gebracht wird.
122
4 Wissen und Handeln
4.1.3
Handlungskennzeichnungen sind kein linguistisches Problem
Unbestreitbar hängen Sprachregeln und die Kennzeichnung von Ereignissen als Handlung oder Verhalten eng miteinander zusammen. Man könnte die Annahme einer Abhängigkeit der Unterscheidung zwischen Handlungen und Verhalten von den verwendeten Sprachregeln aufstellen. Aber eine derartige Annahme wäre unbefriedigend, denn sie stellt ein neues Problem: Wie können Beschreibungen den Unterschied zwischen Handlungen und Verhalten erzeugen? Es läßt sich aber ohne Schwierigkeiten annehmen, daß aus Handlungsbeschreibungen ein verschiedenes Wissen über eine Tätigkeit gewonnen wird als aus Verhaltensbeschreibungen derselben Tätigkeit. Das Problem der Handlungskennzeichnung ist kein linguistisches, sondern ein erkenntnistheoretisches. Zugunsten dieser Annahme lassen sich drei Hinweise anführen: l. Die Aussagen über Handlungen lassen sich nicht durch linguistische Kennzeichen von Aussagen über Verhalten unterscheiden. M. Brodbeck versucht, eine derartige Unterscheidung einzuführen. Es gibt nach Brodbecks Annahmen eine Klasse von Ausdrücken, die Verknüpfungen von menschlichen Handlungen mit psychischen Zuständen herstellen, die „mentalistischen" Aussagen; danach handelt es sich um eine lexikalische Klasse von Ausdrücken, die als unabhängig von der Besonderheit der jeweiligen Sprechsituation angenommen wird; der Bezug auf Psychisches kann danach an den lexikalischen Eigenschaften von Aussagen erkannt werden, an den verwendeten Ausdrücken also. Der Unterschied zwischen Aussagen, die sich auf Psychisches beziehen, und „nicht-mentalistischen", sogenannten „objektivistischen" Aussagen, läßt sich an der sprachlichen Form der Aussagen erkennen. Brodbeck stellt den Unterschied zwischen den zwei Arten von sprachlichen Ausdrücken in folgendem Beispiel dar: Ein Wimpernzucken unterscheidet sich von einem Augenaufschlag; der erste Ausdruck kennzeichnet eine objektivistische, der zweite eine mentalistische Aussage (Brodbeck 1963, 113). Folgendes Argument kann gegen die Annahme, daß der Unterschied zwischen beiden Beschreibungsformen linguistisch definierbar ist, angeführt werden: Die Sprachregeln, die in diesen Aussagen vorkommen, werden situationsabhängig gebraucht. Die Bedeutungen von Ausdrücken einer Klasse lassen sich nicht unabhängig von deren Gebrauch kennzeichnen. Die Klasse, der ein Ausdruck angehört, ist gegenüber seinem Gebrauch unwichtig. Worauf es ankommt, ist der Wortgebrauch; dieser läßt sich nicht allein mit linguistischen Mitteln kennzeichnen.
4.1 Rückgang auf das Wissen des Handelnden
123
2. Ob eine Tätigkeit als Verhalten beschrieben wird oder als Handlung, ist von dem gewählten Beschreibungsaspekt abhängig. Anscombe erkannte schon 1957, daß eine Handlung, die unter einer Beschreibung intentional ist, dies unter einer anderen nicht zu sein braucht 1 '. Ein Beispiel kann diese Annahme erläutern: Die Person A verletzt die Person B aufs Äußerste durch erniedrigende Bemerkungen; B erleidet eine Depression und begeht schließlich Selbstmord. Das Gericht stellt hinterher die Schuld von A an den Depressionen von B fest, denn diese hervorzurufen, läßt sich als Absicht von A erkennen. Weiterhin kann man für den Verdacht, A habe B nicht nur erniedrigen, sondern sogar töten wollen, Anhaltspunkte ausfindig machen. A wird von der Anklage des Mordes freigesprochen. Es ist denkbar, daß unter einem anderen Aspekt, unter z. B. einem religiösen, einem Aspekt also, der von dem des Gesetzbuchs differiert, dieselbe Handlung als eine willentliche Tötung von B angesehen wird. Das Verhalten A's gegenüber B's Tod kann unter einem anderen Aspekt zu einer Handlung werden. Der Aspekt der Beschreibung unterscheidet sich von der Beschreibung selbst. Er verweist auf die Art und Weise, wie Handlungen und Verhalten erkannt werden und geht somit hinter die linguistischen Kategorien zurück. 3. Die Deutung einer Tätigkeit als intentionaler kommt auf eine Weise zustande, die von der linguistischen Struktur unabhängig zu sein scheint. Betrachten wir folgendes Beispiel: Fräulein von Hohenstein läßt keinen Tanz aus. Julius sitzt während des ganzen Abends auf seinem Stuhl. Sie blickt nicht zu ihm herüber. Schließlich läuft er aus dem Saal. Julius' Tätigkeiten können als Verhalten, aber auch als Handlungen gedeutet werden. Bei der ersten Deutung wird keine Beziehung zwischen Fräulein von Hohenstein und Julius hergestellt. Bei der zweiten wird dem Geschehen des Abends eine Interpretationsstruktur unterlegt, nach der Julius' Handlungen als Reaktionen den Handlungen Fräulein von Hohensteins zugeordnet werden. Die Interpretationsstruktur wird in der Beschreibung nicht explizit angegeben; sie wird von der Beschreibung nicht gefordert. Implizit wird sie von der Organisation des Textes nahegelegt, indem er zwischen zwei Blickpunkten abwechselt. Wieder scheint es sich nicht um ein spezifisch linguistisches Mittel zu handeln. Es ist eher so, daß der Text aufgrund seiner Organisation die Anwendung von außer- oder überlinguistischen Verfahren, von Verfahren der Erkenntnisgewinnung, ermöglicht. 1
' E. Anscombe, Intention.
124
4 Wissen und Handeln
Das letzte Beispiel kann uns zu einer Einsicht verhelfen: Die Beschreibung von Ereignissen in Handlungsaussagen führt zu einer Strukturierung; diese bringt eine Ordnung in die Ereignisse. Ich will allgemein sagen: Ereignisse, die in Bezug auf das Wissen des Handelnden dargestellt werden, werden systematisiert*2. Die Systematisierung ist eine bedeutende Eigenschaft von Handlungsaussagen. Woraus entsteht sie? Die Tätigkeiten von Personen werden auf deren Wissen zurückgeführt. Sie werden als praktische Folge von Annahmen, die der Handelnde für wahr hält, dargestellt. Der Bezug auf das Wissen des Handelnden gibt den Tätigkeiten und anderen Ereignissen, die mit den Tätigkeiten zusammenhängen, eine bestimmte Organisation. Bei der Diskussion des Falles vom Hausbesitzer Fies habe ich zwei Bestandteile unterschieden: die Tötungshandlung und die besondere Form, die diese Handlung annimmt (das Briefschreiben). Die Unterscheidung von zwei Bestandteilen ist eine analytische. Die Tötungshandlung ist nur ein ,Handlungsradikal'™, das gebildet wird z. B. aus Motiven, Situationseinschätzungen, einem Kalkül, einem Handlungsentschluß. Das Handlungsradikal setzt sich aus Bestandteilen des Wissens des Handelnden zusammen. Eine Form wird der Handlung gegeben, dadurch daß eine bestimmte Vorgehensweise verwirklicht und eine Handlungsgestalt (d. i. eine Menge beobachtbarer Handlungsmerkmale) nach gesellschaftlichen Regeln hergestellt wird. Eine Handlung schließt immer beide Bestandteile ein — Handlungsradikal und Handlungsform 14 . Verhalten hat diese beiden Bestandteile dagegen nicht. Ein Magen, der ein Geschwür bildet, handelt nicht nach einem vorgegebenen Wissen; er sucht sich nicht für sein Geschwürverhalten die passende Verhaltens/orm. Der Unterschied zwischen Handlungen und Verhalten besteht in der Verschiedenheit zweier Erkenntnisperspektiven. Der Beobachter hat zwei Möglichkeiten: entweder aus der Situation eine Handlungsform hervor12
13
14
Die systematisierende Wirkung von Handlungsaussagen kann analog, wenn auch auf ungleich niedrigerer theoretischer Ebene, zu wissenschaftlichen Systematisierungen — insbesondere zu Erklärung, Prognose und Retrodiktion — aufgefaßt werden. Ich übernehme den Ausdruck ,Radikal' in Analogie zu L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 22. Mit der Unterscheidung zwischen Handlungsradikal und Handlungsform soll ausdrücklich die Annahme von „basic actions" vermieden werden (Danto 1965, von Wright 1971, Davidson 1967 und 1971). Die beiden Bestandteile sind mit Sicherheit nicht die einzigen Komponenten von Handlungen. Zu den meisten Handlungen gehören, mindestens noch, eine physiologische und anatomische Komponente hinzu.
4.2 Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung von Tätigkeiten
125
zuheben und ihr zugleich ein Handlungsradikal zu unterlegen oder Züge der beobachtbaren Situation zu einem Verhalten zusammenzustellen. Nach diesem klärenden Wort kann eine vorläufige Antwort auf die Frage gegeben werden, woraus die Eigenschaft von Handlungsaussagen, Ereignisse zu systematisieren, entsteht: In Handlungen treten zwei verschiedenartige Komponenten auf — Komponenten des Wissens einerseits und Komponenten der Handlungsform, die beobachtbar sind, andererseits15. Handlungsaussagen legen eine Teilung der Komponenten in zwei Bereiche zugrunde, in den Bereich des Wissens und den der Handlungsform]6. Zwischen beiden bestehen Beziehungen, die sich generell dadurch kennzeichnen lassen, daß der Wissensbereich den Ereignisbereich organisiert. Eine eingehendere Darstellung werde ich weiter unten geben. Hier kommt es auf folgenden Gedanken an: Die genaue Rekonstruktion der beiden Bereiche und ihrer Beziehungen untereinander stellt in gewisser Weise eine Erklärung der Handlung dar. Eine Erklärung ist dies nicht im Sinne der nomologischen Erklärung, sondern im Sinne einer Begründung aus Glaubensgründen. Diese ist die Erklärungsweise, die die Handlungswissenschaften besonders interessiert. 4.2
Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung von Tätigkeiten
Hempel17 unterzieht Handlungsbegründungen aus dem Wissen des Handelnden (am Beispiel eines Vorschlags von Dray18) einer strengen Kritik. Im wesentlichen besteht diese in folgendem Argument: Die Rekonstruktion subjektiver Handlungsgründe gibt nicht an, warum der Handelnde seine Handlung tatsächlich vollzieht. Damit die Handlungsausführung erklärt wird, müssen in die Erklärung Handlungsgweize eingeführt werden. Nach Hempels Überzeugung stellen diese eine nomologische Beziehung zwischen Handlungen und psychischen Dispositionen auf. In der Geschichtswissenschaft müßten, so meint Hempel, ebenso wie in den 15
16
17 18
Komponenten der Handlungsform sind nach meiner Konzeption beobachtbare Merkmale von Handlungen, z. B. die Art, wie eine Person die Hand zum Gruß hebt, wie sie eine andere ansieht, wie sie die Tür schließt etc. Eine Komponentenanalyse von Handlungen schlägt I. Thalberg vor; H. Lenk vertritt sie in einer erweiterten und modifizierten Fassung. Meine Konzeption unterscheidet sich von diesen beiden durch die Einführung der Wissenskomponente, durch die Aufteilung in Wissens- und Handlungsform und durch die Beziehungen, die zwischen den Komponenten bestehen. C. G. Hempel in: Reasons and Covering Laws in Historical Explanation. Vgl. W. Drays Theorie der rationalen Rekonstruktion in Dray 1957 und 1963.
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4 Wissen und Handeln
Naturwissenschaften Ursachen dafür angegeben werden, warum ein Ereignis tatsächlich eintritt. Es sei ein Mangel, wenn man nur, wie bei der Erklärung aus dem Wissen des Handelnden, gute Gründe dafür angäbe. Das Explanandum müsse aus Antezedensdaten und einer allgemeinen Gesetzeshypothese abgeleitet werden. Mit Hempels Vorwurf werde ich mich im folgenden auseinandersetzen. Kann man Handlungen aus Kausal-Ursachen erklären? Ist es in jedem Fall ein Nachteil, wenn man Handlungen nicht aus Kausal-Ursachen erklärt? 4.2.1
Ursachen und Wirkungen von Handlungen
Die Erklärung aus dem Wissen des Handelnden hat, wie Hempel mit Recht behauptet, die Eigenart, daß sie keine Erklärung der Tatsache angibt, daß eine bestimmte Handlung tatsächlich ausgeführt wird. Eine naturwissenschaftliche Erklärung gibt die Ursache für die Tatsache an, daß ein Körper in fünf Sekunden 122,6 m in die Tiefe fällt. Wenn der Körper eine Person ist, gibt die Erklärung aus dem Wissen dieser Person nicht die Ursache ihres freien Falls an, sondern den Grund ihres Springens. Der Unterschied ist bedeutsam: Der Grund des Springens ist gültig, auch wenn es nicht zum freien Fall kommt; die Ursache der Fallbewegung ist falsch oder unvollständig angegeben worden, wenn der Fall nicht zustande kommt. Wir können jetzt sehen, daß die Besonderheit der Handlungserklärung keine dumpfe Beschränkung ist, sondern im Gegenteil Vorteile haben kann: Wir sagen von Personen selbst dann, daß sie handeln, wenn ihre Handlungen nicht die normale, übliche Wirkung hervorrufen. Von den Handlungen sind in dieser Betrachtung die Wirkungen der Handlungen isoliert. Wenn das individuelle oder kollektive Handeln von Personen untersucht wird, ist die Unterscheidung von Handlung und Handlungswirkung unabdingbar notwendig. Handlungen müssen, nach der Überzeugung unserer Gesellschaft, unabhängig von ihren Wirkungen betrachtet werden können: Personen sind z. B. verantwortlich auch für Handlungen, die nicht die übliche Wirkung hervorrufen; diese werden ihnen als Urheber zugeschrieben. Jemand verübt ein Attentat. Die Kugel geht fehl; die intendierte Handlung (ein Attentat verüben) ist, wenn auch erfolglos, dennoch ausgeführt worden. Dieser Umstand läßt sich in folgender Weise darstellen: Es gibt eine Reihe von Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Tätigkeitsfolge als Attentat gilt: Es müssen Vorbereitungen getroffen, es
4.2 Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung von Tätigkeiten
127
muß eine Waffe betätigt, der Potentat ernsthaft bedroht werden etc. Aber zu diesen notwendigen Bedingungen gehört eben nicht diese eine, daß der Potentat niedergeschossen wird oder womöglich stirbt. Die Handlung kann unabhängig davon betrachtet werden, welche Wirkung sie hat; diese ist irrelevant dafür, daß die Handlung vollzogen worden ist. Die Handlung, ohne ihre Wirkung betrachtet, ist Gegenstand der Erklärung und Beurteilung durch die Jurisprudenz, die Geschichtsschreibung, die Politik etc.19 Der Bezug auf das Wissen des Handelnden unterlegt dessen Tätigkeit eine Attentats-Struktur. Er macht erkennbar, wie der Handlung eine Form gegeben worden ist. Die Handlungserklärung, die auf diese Weise gebildet wird, besteht darin, daß die Gründe angegeben werden, aus denen die Handlung geformt worden ist20. Zu der Formgebung der Attentats-Handlung gehört nicht deren Wirkung. Zur Kennzeichnung von Handlungen gehören deren (kausale) Ursachen und Wirkungen nicht wesentlich dazu. Der Bereich der Handlungen wird nach anderen Prinzipien aufgebaut als derjenige des Verhaltens. Der Gebrauch von Ausdrücken, die Tätigkeiten bezeichnen, führt in beiden Bereichen zu verschiedenen Bedeutungen. Die Unterschiede sind subtil, aber erkennbar. Dies läßt sich zeigen, wenn man von folgender Frage ausgeht: Welche Bedingungen muß die Tätigkeitsfolge erfüllen, damit sie mit dem Ausdruck s bezeichnet werden kann? Der Ausdruck s werde einmal zur Bezeichnung einer Handlung, zum ändern zur Bezeichnung eines Verhaltens verwendet. Als Beispiel für einen Ausdruck nehmen wir ,springen*. Beim Verhalten des Springens wird als notwendige Bedingung mindestens zweierlei gefordert: eine kräftige Streckung der Beinmuskeln und ein Fall — die Ursache und die Wirkung. Das Verhalten des Springens kann, wie jedes Verhalten, nicht ohne Bezug auf Ursache und Wirkung gekennzeichnet werden. 19
20
In allen Fällen kann man die Wirkungen der Handlung in die Betrachtung einbeziehen. Mein Argument behauptet aber, daß Handlungen, selbst wenn sie ganz unterschiedliche Wirkungen hervorrufen, als gleichartig angesehen werden können. In jedem Fall werden bei einer Beurteilung und Wertung der Handlung die Folgen wesentlich berücksichtigt. In dieser Perspektive kann die Handlungswirkung das Urteil über die Handlung fast ausschließlich bestimmen. Aber dieser Gesichtspunkt unterscheidet sich von demjenigen, unter dem festgestellt wird, ob eine bestimmte Handlung vollzogen worden ist oder nicht. Die Gründe für die Formung der Attentats-Handlung liegen in den Wissenskomponenten, z. B. in bestimmten Zweckmäßigkeitsüberlegungen, politischen Annahmen, strategischen Kalkülen etc.
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4 Wissen und Handeln
Ganz anders die Handlung des Springens: König Lear will sich aus Verzweiflung über die Härte seiner Töchter das Leben nehmen. Er steht blind auf einem Felsvorsprung und wagt es, den frevelhaften Gedanken eines Todes aus eigener Wahl zu verwirklichen: Er springt; aber er fällt nicht. Was sein blindes Auge nicht sehen konnte, ist die Tatsache, daß sein Führer ihn nicht an einen Abgrund, sondern auf eine winzige Erhöhung geführt hat. Sein Fuß berührt sofort den Boden. Die Bedingungen, die in diesem Beispiel erfüllt sind, betreffen die Formgebung der Handlung: der Plan, das Ringen um die Entscheidung, der Entschluß, der Absprung. Sie rechtfertigen es, die Tätigkeitsfolge, die nicht zum Fall führt, als .Springen' zu bezeichnen. Die Handlungsbeschreibung stellt sich auf den Standpunkt des König Lear ein. Sie rekonstruiert die Tätigkeitsfolge auf dem Boden seines subjektiven Wissens. Handlungen sind perspektivische Interpretationskonstrukte21. Die Handlung soll nicht nur den freien Fall, sondern vor allem den eigenen Tod herbeiführen. Die Handlungskennzeichnung ,Springen* bezeichnet ein Ereignis, das wesentlich komplexer ist als die Verhaltenskennzeichnung mit Hilfe des gleichen sprachlichen Ausdrucks. Die Sprunghandlung ist eine Selbstmordhandlung. Die Ursache dafür liegt nicht nur in Beinmuskelimpulsen; sie liegt in der Situation Lears, in seinem Plan, schließlich in seinem Entschluß. Aber dies alles zusammen bildet keine Kausal-Ursache22. — Auch die Wirkung dieser Handlung ist nicht der Tod des Handelnden, der im Beispiel auch tatsächlich nicht eintritt, sondern der intendierte Tod. Ebenso ist die Folge des Attentats nicht die vollständige oder teilweise Vernichtung des Potentaten, sondern seine intendierte Vernichtung. Der Grund für diese Annahme ist folgender: Die nicht-kausalen Ursachen erzeugen keinen neuen Zustand oder neuen Sachverhalt. Es gibt weder ein Gesetz noch eine Regel, die besagen: Wenn der und der geistige Zustand vorhanden, ein Plan ausgebildet, der Entschluß gefaßt ist und ein Beinmuskelimpuls gegeben wird, dann ist ein neuer Sachverhalt, nämlich Selbstmord die Folge23. Eben nicht, denn auch bei Vorliegen aller genannten Antezedenzien kann die Wirkung ausbleiben. In der Konsequenz dieses Wenn-dann-Satzes kann nur ein intendier21 22
23
Lenk nach Thalberg; vgl. auch Verf. 1975, 1979. Von Wright weist mit einer formalen Argumentation nach, daß Handlungen keine Humeschen Ursachen haben. Es ist interessant, in diesem Zusammenhang Humes Beispiele für die Kausalbeziehung zu lesen (in: Untersuchung über den menschlichen Verstand). Es handelt sich durchweg um Fälle der Wissensgewinnung von der Art, wie sie hier beschrieben worden ist.
4.2 Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung von Tätigkeiten
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ter Selbstmord vorkommen, d. i. kein realer Zustand, sondern ein Wissens-Gegenstand. Die nicht-kausale Ursache setzt sich aus Bestandteilen des Wissens des Handelnden zusammen. Sie erzeugt etwas Neues, aber dieses kann kein Zustand außerhalb des Wissens sein. Es ist selbst ein neues Wissen. Die nicht-kausale Wirkung besteht in einer Wissensgewinnung. Das neue Wissen ist ein Wissen darüber, daß der Handelnde im Begriff ist, eine Selbsttötung zu vollziehen bzw. eine Vernichtung des Potentaten zu vollbringen. Die intendierte Handlung ist selbst ein Bestandteil des Wissens des Handelnden. Die Organisation der Handlungsebene ist eine epistemologische. Das neue Wissen fügt keine neuen Ereignisse hinzu. Es stellt einerseits, wie die Konsequenz der materialen Implikation, eine Abschwächung dar. Aber es führt andererseits eine Neustrukturierung des Wissens- und EreignisBereichs ein. Die Strukturierung beruht auf einer Deutung. Das neue Wissen gibt, von der Seite des Wissens her, die »Stelle' an, an der das Wissen in Ereignisse übergeht 24 . Unsere Sprache verfügt über keine Möglichkeit, diese ,Stelle' zugleich vom Wissen und von den Ereignissen her darzustellen. Wir können diese Möglichkeit nicht einmal gedanklich entwerfen; sie ist für uns nicht mehr als eine sprachliche Metapher. Unsere Beschreibung reicht nur bis an die Grenze des Wissens25. Das Eintreten neuer Ereignisse aufgrund der Handlung liegt jenseits des Wissens. Dies ist eine bildhafte Redeweise, die auf folgendes Problem aufmerksam machen soll: Wenn ein Wissen in Ereignisse übergeht, tritt es in einen anderen Bereich ein, in dem das Wissen keine strikte Kontrolle auszuüben vermag. Wissen kann Handlungsformungen nicht definitiv bestimmen. Daher müssen eine intendierte Handlung und die Verwirklichung einer Handlungsintention streng voneinander getrennt werden. Eine Zusatzbemerkung ist notwendig: Es gibt eine Reihe von Handlungsbezeichnungen, bei denen bestimmte Handlungswirkungen zu den notwendigen Bedingungen ihrer Verwendung zählen. Ein Beispiel ist ,erschießen*. Wenn das Opfer nicht umkommt, hat der Handelnde es nicht erschossen. Dieses Beispiel spricht nur scheinbar gegen meine Analyse. Ich behaupte nicht, daß auf der Ereignisebene generell keine kausalen Beziehungen auftreten. Keineswegs: Wir finden bei jeder Handlung 24
25
Der Ausdruck ,Stelle' ist weder räumlich noch zeitlich zu verstehen. Der Übergang vom Wissen zum Handeln ist kein Vorgang. Handlungsbeschreibungen sind Darstellungen von Tätigkeiten von der Seite des Wissens aus gesehen.
130
4 Wissen und Handeln
— in ihrem Inneren gleichsam — bestimmte Kausalbeziehungen vor, die in das Handlungskonstrukt eingehen. Bei der Handlung .erschießen' muß das Pulver explodieren, eine Kugel abgefeuert werden, die eine ballistische Kurve beschreibt etc. Ich nehme hingegen an: Die Handlung des Erschießens insgesamt hat nicht die kausale Wirkung, daß der Potentat tot ist. Sie hat vielmehr nicht-kausale Wirkungen, wie: die Bedrohung der Monarchie und ähnliches. 4.2.2
Kritik an Hempels Vorschlag
Eine Erklärung von Tätigkeiten aus Kausal-Ursachen erklärt nicht Handlungen, sondern Verhalten. Mit dem Auftreten eines bestimmten Verhaltens läßt sich eine Ursache gesetzesartig verknüpfen oder eine statistische Wahrscheinlichkeit dafür angeben; Verhalten läßt sich wissenschaftlich erklären und prognostizieren. Aber mit Hilfe von Gesetzen kann man keine Handlung erklären; eine Handlung ist ein Interpretationskonstrukt. Man kann zwei Erklärungsformen von menschlichen Tätigkeiten entwerfen, die nebeneinander und aufeinander bezogen existieren können: die Theorie des Verhaltens, die wissenschaftliche Erklärungen ermöglicht, deren Explanandum das tatsächliche Eintreten von Ereignissen ist, die empirische Gesetze verwendet und theoretische Systematisierungen nach dem H-O-Schema vornimmt; und die Theorie der Handlungen, die die Formgebung von Tätigkeiten im Rückgang auf subjektives, kollektives subjektives oder intersubjektives Wissen erklärt. Hempels Kritik hat recht mit ihrem Nachweis, daß die Erklärung aus dem Wissen des Handelnden keine Ursachen für die Handlungsausführung angibt. Sie ist jedoch zugleich unberechtigt, insofern als Hempel diesen Umstand als Schwäche deutet. Sein eigener Vorschlag verfehlt sein Ziel: Die tatsächliche Handlungsausführung ist keine Handlung, sondern ein Verhalten. Meine Kritik an Hempels Vorschlag zur Erklärung von Handlungen richtet sich nicht gegen die Konzeption, Erklärungen von Tätigkeiten aus Dispositionen mit Hilfe von empirischen Gesetzen zu geben, obwohl sich auch dagegen triftige Einwände vorbringen ließen, sondern gegen den Anspruch, diese seien //oiifton gebunden: an die Position des Handelnden, des Partners oder des Beobachters. Es ist festzuhalten, daß die Regeln, nach denen die Bewertungen vorgenommen werden, intersubjektiv sind.
6.1 Die Perspektivität von Dialogen
185
Es sind also Umstände denkbar, unter denen die Aussagen l, 2 und 3 intersubjektiv bezweifelbares Wissen ausdrücken. In diesen Fällen weicht die Bewertung des Teilnehmers und des Beobachters der Interaktion von derjenigen des Handelnden ab. Beide Parteien nehmen aber eine Bewertung mit Hilfe von intersubjektiv geltenden Regeln vor. Die Abweichung kommt aufgrund der verschiedenen Perspektive zustande: Der Handelnde hat ein subjektiv sicheres Wissen und stützt sich bei seinen Beurteilungen und weiteren Handlungen darauf. Die Interaktionspartner und Beobachter können sein Wissen akzeptieren, verfügen aber nicht darüber. Sie stützen sich bei ihrem eigenen Vorgehen auf das intersubjektive, also auf das bezweifelbare Wissen. Die Perspektivität, die grundsätzlich und unaufhebbar besteht, liegt in der unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Strukturierung, die der Handelnde einerseits und die Teilnehmer und Beobachter der Interaktion andererseits vornehmen. Sie entsteht aufgrund von verschiedenem Wissen über ausgedrückte Sachverhalte. Schematisch kann man den Bewertungsvorgang in dieser Weise kennzeichnen: Äußerung -»> Gewinnung von Wissen -*· Bewertung von Wissen. Der Pfeil -* symbolisiert den Übergang auf eine Analysestufe. Auf der 1. Analysestufe wird eine Interaktion auf das Wissen hin untersucht, das sie ausdrückt. Auf der 2. Analysestufe wird dieses Wissen unter den Gesichtspunkten von Geltung und Sicherheit des Wissens bewertet. Die Bewertung wird, unabhängig von den Eigenschaften des Bewerteten, nach den allgemein geltenden Regeln der Sprachgemeinschaft vorgenommen. Sie führt folglich, wenn sie korrekt vorgenommen wird, zu intersubjektiv sicherem Wissen. Die Bewertung stellt eine besondere Analysenstufe dar. Aber es wäre irreführend, diesen als einen besonderen psychischen Prozeß oder als einen zusätzlichen Akt anzusehen, der dem Sprechen oder Verstehen hinzugefügt würde4. Die Bewertung des Wissens, das durch eine Interaktion ausgedrückt wird, ist mit dem Produzieren bzw. Rezipieren einer Handlung gegeben. Indem eine Handlung hervorgebracht bzw. verstanden wird, wird diese auf beiden Ebenen analysiert, auf derjenigen des Wissens und auf derjenigen der Bewertung. Interpretationen von Interaktionen erfüllen im Idealfall die Forderung, daß sie jeder Handlung eine Bewertung erteilen. In der Praxis kann der Fall eintreten, daß von verschiedenen 4
Die Bewertung ist ebensowenig ein zusätzlicher Akt im Verhältnis zum Rezipieren von Interaktionen wie das Hören von Worten im Verhältnis zum Wahrnehmen von Lauten.
186
6 Perspektiven
Personen unterschiedliche Bewertungen vorgenommen werden. Aber es wird vermutlich höchst selten geschehen, daß ein Interpretierender überhaupt nicht in der Lage ist, eine Bewertung vorzunehmen 5 . Meine Überlegungen sollen zeigen, daß Handeln und Rezipieren von Handeln komplexer sind, als man es sich gewöhnlich vorstellt. Ich werde dies am Beispiel des Sprechens zeigen. Das Sprechen ist eine besonders explizite Form der Interaktion; weiter unten werde ich die Vorteile, die dieses Beispiel unter erkenntnistheoretischem Aspekt hat, darstellen. Bei jeder Äußerung, die ein Sprecher vorbringt, entscheidet er, wie er die Menge des Wissens, die er mit Hilfe der Äußerung mitteilen will, in sicheres und bezweifelbares Wissen aufgliedert. Je nach seiner Entscheidung wählt er eine entsprechende syntaktische Form, die er seiner Äußerung gibt. Die Syntax enthält die Mittel, die notwendig und geeignet sind, die Scheidung in subjektives und intersubjektives sowie in sicheres und bezweifelbares Wissen auszudrücken. Der Sprecher kann, um ein bestimmtes Wissen mitzuteilen, aus der Reihe der Syntaxformen eine Form auswählen, die auf eine besondere, von den anderen Syntaxformen verschiedene Weise zwischen subjektivem und intersubjektivem sowie zwischen sicherem und bezweifelbarem Wissen unterscheidet. Die Bewertung des mitgeteilten Wissens wird durch die gewählten syntaktischen Mittel bestimmt. Sie ist für Sprecher und Hörer in gleicher Weise bindend. Der wissenschaftliche Beobachter von Interaktionen hat nach dem Entwurf der perspektivischen Handlungstheorie die beiden Ziele, das mitgeteilte Wissen und die Bewertung, die der Handelnde und die Interaktionspartner dem Wissen erteilen, zu ermitteln. Der Vorteil meiner Annahme über den Beobachter ist dieser: Wenn man das mitgeteilte Wissen und dessen Bewertung untersucht, setzt man einzig voraus, daß ein bestimmtes Wissen besteht und daß es bewertet wird. Über Bestehen und Nicht-Bestehen von Sachverhalten außerhalb dieses Wissens werden keine Annahmen gemacht. Daher eröffnet diese Untersuchungsweise einen problemlosen Zugang zu der Analyse von Interaktionen, die sich auf fiktive Sachverhalte beziehen: Anstelle von Sachverhalten wird Wissen über die Sachverhalte und dessen Bewertung untersucht. 6.1.2
Unterschied zwischen Handelndem und Teilnehmern
Die perspektivische Handlungstheorie nimmt, obwohl sie von der Annahme einer sozialen Konstitution psychischer Zustände ausgeht, eine 5
Auch unverständliche Handlungen können eine Bewertung erhalten; z. B. diejenige, daß sie intersubjektiv bezweifelbares Wissen ausdrücken.
6.1 Die Perspektivität von Dialogen
187
strikte Unterscheidung zwischen Handelndem und Teilnehmern von Interaktionen an: Als mein eigener Beobachter habe ich, wie Dilthey postuliert, ein ausgezeichnetes Wissen über meine Subjekt-Zustände. Aber dieses hat nicht die von Dilthey postulierten Eigenschaften wahrer Erkenntnisse. Glaube und Wissen von Beobachtern über eigene SubjektZustände sind nicht unterscheidbar. Aus diesem Grund sind Beschreibungen des Selbst-Beobachters unter subjektivem Aspekt nicht bezweifelbar6. Aber aus dem gleichen Grund können sie unter dem Aspekt intersubjektiven Wissens bezweifelbar sein. Der Handelnde kann neben seinem subjektiven auch intersubjektives Wissen über denselben Tatbestand bilden. Die Teilnehmer können intersubjektives Wissen gewinnen. Das subjektive Wissen des Handelnden können sie in Umrissen umschreiben; sie verfügen indes nicht darüber wie der Handelnde. Das sichere Wissen der Teilnehmer kann sich von dem sicheren Wissen des Handelnden unterscheiden. Das Ausmaß der Verschiedenheit zeigt sich nicht notwendig im Handeln. Nur wenige Handlungen sind so explizit oder haben so differenzierte Folgen, daß der ganze Unterschied zwischen Handelnden- und Beobachterwissen in Ereignissen ausgedrückt wird. Es tritt allerdings oft der Fall ein, daß der Handelnde in irgendeiner Weise anders vorgeht, als der Beobachter angenommen hat. Der Beobachter wird bei einer Abweichung der eingetretenen von den erwarteten Ereignissen umgehend eine Modifikation seiner Annahmen über das Wissen des Handelnden vornehmen. Die grundsätzliche Verschiedenheit des Wissens von Handelndem und Teilnehmern wird dadurch allerdings nicht aufgehoben. Auch eine erfolgreiche Veränderung der Annahmen bringt die Teilnehmer nicht in Besitz des subjektiven Wissens des Handelnden. Welche Bedeutung hat der Unterschied des Wissens von Handelndem und Teilnehmern, wenn er sich nicht notwendig im Handeln auswirkt? Zuerst stellt er eine wichtige philosophische Einsicht in die erkenntnistheoretische Struktur von Interaktionen dar — von Handlungs-Dialogen, insbesondere von Dialogen rein sprachlicher Art. Dialoge im allgemeinen können eine asymmetrische Grundstruktur haben: Die Äußerungen von A können möglicherweise von B nicht so verstanden werden, daß B das gleiche oder ein vergleichbares Wissen hat wie A. Ich will sogar behaupten, daß eine Gleichheit oder Vergleichbarkeit des Wissens nur in seltenen Fällen auftritt 7 . Die Vorstellung, daß Sprechen in einem Übermitteln von 6 7
Vgl. oben, S. 70. Die Annahme einer prinzipiellen Gleichheit von Sprecher und Hörer liegt den sprachtheoretischen Modellen von de Saussure, über Bühler bis Chomsky zugrunde.
188
6 Perspektiven
Bedeutungen besteht oder daß Interaktionen sich als Austäusche von Informationen beschreiben lassen, ist zumindest unvollständig8. Auch die moderne Annahme des Sprechens und Verstehens als gesellschaftlich eingeführte, geregelte und kontrollierte Verwendung einer Regelmenge, die für Sprecher und Hörer grundsätzlich die gleiche sei9, verdeckt aufgrund ihrer Undifferenziertheit die perspektivische Anlage von Dialogen. Dialogpartner geben mit fast jeder Handlung bekannt, was sie als bestehende Sachverhalte ansehen, was für sie nicht besteht und ob sie über Bestehen und Nicht-Bestehen dieser Sachverhalte unter subjektivem oder intersubjektivem Aspekt entscheiden. Die Bewertung kann explizit vorgenommen werden; A kann z. B. sagen: „So ist es, das glaube ich", oder: „Es stimmt, alle sagen es". Der explizite Ausdruck wird nur in besonderen Fällen verwendet; er setzt eine spezifische Mitteilungsabsicht voraus. In der großen Mehrzahl der Fälle werden Bewertungen implizit ausgedrückt. Ein Beispiel: A sagt: „Ich suche meinen Schirm". A drückt aus, sicher zu sein, daß er einen Schirm besitzt und daß seine Handlungen die Form einer Schirmsuche haben. Beide Annahmen sind subjektiv sicheres Wissen; sie können beide unter intersubjektivem Aspekt bezweifelt werden. Die Bewertung ist eine ganz andere, wenn eine dritte Person über A sagt: „Er sucht seinen Schirm". Der Sprecher des Er-Satzes hat kein sicheres Wissen darüber, daß A tatsächlich einen Schirm besitzt; hingegen weiß er sicher, daß A Suchhandlungen ausführt. Sein Wissen über A's Handlungen ist intersubjektiv sicheres Wissen. Über A's subjektives Wissen hat er hingegen ein bezweifelbares Wissen. Ich schlage vor, die Äußerungen im folgenden Dialog unter dem Gesichtspunkt der Bewertungen von Seiten der Dialogteilnehmer zu betrachten: A: Ich liebe dich, B. B: Ich liebe dich, A. A und B: Wir lieben uns beide. Ein banaler Alltagsidalog mit bekannten Bedeutungen. Wenn wir die Bedeutungen der Wörter „liebe", „dich", „uns", „beide", „ich" und „wir" decodiert und sie ihrer Syntaxstruktur nach zusammengefügt haben — kennen wir dann den Dialog, haben wir dann die drei Sprechereignisse verstanden? Nein: wir haben nicht mehr getan, als daß wir Syntaxstrukturen Bedeutungen zugeordnet haben. Aber Sprechen besteht in mehr, als 8
9
Dies ist die Grundannahme des Symbolischen Interaktionismus seit G. H. Mead. Diese Auffassung wird von der modernen Linguistik im allgemeinen vertreten.
6.1 Die Perspektivität von Dialogen
189
nur Sprechereignisse und Bedeutungen zu produzieren und Zuordnungen vorzunehmen. In dem Fall unseres Beispiels wird über Sachverhalte gesprochen. Das Bestehen von Sachverhalten wird behauptet. Die Behauptung kann unterschiedlicher Art sein: Die Behauptung ist entweder nicht zurückweisbar, oder sie kann bezweifelt werden; sie ist ein sicheres oder ein bezweifelbares Wissen. Sprechen besteht auch darin, daß auf Sachverhalte Bezug genommen wird. Es kann aber nicht von vornherein angenommen werden, daß die Sachverhalte für alle Dialogpartner die gleichen sind. Im Gegenteil, es gibt Abstufungen unter den Sachverhalten. Was für A bestehender Sachverhalt ist, kann von B bezweifelt werden und umgekehrt. Ich habe versucht, die Abstufungen auf zwei Weisen zu kennzeichnen: einmal durch die Bindung des Wissens über den Sachverhalt an die Perspektive — an die intersubjektive oder die subjektive —, zum anderen durch die Möglichkeit, das Bestehen des Sachverhalts in der jeweiligen Perspektive als bezweifelbar oder als sicher anzunehmen.
6.1.3
Strukturen des Wissens
Die Sachverhalte, über die wir sprechen, werden ihrer Geltung und Sicherheit nach unterschieden. Da A die Unterscheidung anders als B vornehmen kann, kann sich das Wissen, das die sprachlichen Strukturen der Äußerungen A's und B's ausdrückt, der Struktur nach voneinander unterscheiden. Die Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke sind gleich; das Wissen ist unterschiedlich strukturiert; es ist an die Personen von Sprecher und Teilnehmern gebunden. Die letzte Bemerkung kann mißverstanden werden: Die Bewertung des Wissens ist an Personen gebunden in dem Sinne, daß Personen eine bestimmte Position im Dialog einnehmen. Personen erzeugen Symbolisches Wissen entsprechend ihren Dialogpositionen. Die Bewertung ist, von der Persönlichkeit des Sprechers und Partners unabhängig, durch intersubjektive Regeln festgelegt. Die Regeln lassen sich rekonstruieren. Für die Darstellung verwende ich die bereits eingeführten Unterscheidungen (in Klammern stehen die im folgenden verwendeten Abkürzungen): Wissen kann subjektiv (SW) oder intersubjektiv (IW) sein; subjektives und intersubjektives Wissen kann sicher ( + ) oder bezweifelbar (—) sein. Die möglichen Kombinationen der beiden Arten (SW und IW) mit den beiden Bewertungen des Wissens (+
190
6 Perspektiven
und —) können in einer Tafel dargestellt werden 10 ; dabei wird das subjektive Wissen auf die handelnde Person A bezogen (ausgedrückt durch den Index des subjektiven Wissens; zu lesen als: subjektives Wissen über A):
SW
IW
Jede Dialogposition wird durch zwei verschiedene Zeilen der Tafel gekennzeichnet: Das mögliche Wissen der Person A in der Position des Handelnden wird durch die beiden ersten Zeilen charakterisiert: Sein SW ist in jedem Fall sicher, während das IW, das er über den gleichen Sachverhalt hat, entweder sicher oder bezweifelbar sein kann. In der Position des Teilnehmers kann man über den Handelnden nur ein bezweifelbares subjektives Wissen erhalten. Zugleich ist das FW über den Sachverhalt entweder sicher oder bezweifelbar. Jedes spezielle Symbolische Wissen, das in Dialogen erzeugt oder gewonnen wird, läßt sich mit Hilfe der vier Wissensverteilungen bewerten. Welche Verteilung im Einzelfall zutrifft, wird aufgrund von pragmatischen Umständen und von syntaktischen Eigenschaften der Symbole entschieden. Sie ist nicht in das Belieben des Individuums gestellt; es gibt allgemeine Regeln, die die Verteilung weitgehend festlegen. Ich werde weiter unten anhand von Beispielen versuchen, einige davon in grober Form zu rekonstruieren. Der Beobachter des Dialogs nimmt eine Position ein, die sich nicht wesentlich von der des Teilnehmers unterscheidet". Auch er kann kein 10 Die Ähnlichkeit mit der Tafel der Wahrheitswerte entsteht nur daher, daß binäre Werte auf zwei Aussageformen verteilt werden. Weder sind die Wissenswerte mit den Wahrheitswerten noch die Aussageformen des subjektiven und intersubjektiven Wissens mit denen der Logik vergleichbar. 1 l Der Unterschied ist nicht wesentlich unter dem Aspekt der Wissensbewertung. Unter anderen Aspekten kann er bedeutend sein, insbesondere in den Fällen, in denen der Beobachter einer anderen historischen Epoche oder einem anderen Kulturkreis angehört.
6.1 Die Perspektivität von Dialogen
191
sicheres subjektives Wissen über den Sprecher gewinnen, hingegen kann er sicheres und bezweifelbares IW erhalten. Seine Position kann dadurch näher gekennzeichnet werden, daß er versucht, das SW des Sprechers zu umschreiben. Auf diese Weise bildet er ein IW über das SW von A. Die Umschreibung ist vom IW des Handelnden verschieden. Sie kann aber unter gesellschaftlichem Aspekt alle die Bestandteile des SW von A erfassen, die A's Handlungen ausdrücken. Der in den Dialog verwickelte Teilnehmer trifft nicht immer so klare Unterscheidungen zwischen den beiden Arten und den beiden Bewertungen des Wissens wie der Beobachter. Allerdings kann er durch den Verlauf des Dialogs dazu gebracht werden, diese Unterscheidung zu respektieren. Dies heißt nichts anderes, als daß die Positionen von Teilnehmer und Beobachter in manchen Fällen nicht voneinander unterschieden werden. Aus dem möglichen Zusammenfallen beider Positionen kann allerdings nicht geschlossen werden, daß sich die Position des Beobachters vollständig an die des Dialogteilnehmers angleicht. Die Dialog/JO5zfion von beiden kann gelegentlich übereinstimmen — aber der Teilnehmer kann selbst zum Handelnden werden, also seine Dialogposition verändern; der Beobachter ist in seine Position eingeschlossen. Eine weitere Unterscheidung ist zu beobachten: Die Tatsache, daß der Handelnde die gleichen Regeln verwendet wie die Teilnehmer und daß die Regeln gesellschaftlich etabliert sind, führt nicht zu einer Angleichung der Perspektive der Teilnehmer an diejenige des Handelnden. Die erkenntnistheoretische Perspektivität von Dialogen, auch von nichtverbalen Dialogen, ist vielmehr in den Regeln unserer Sprache niedergelegt; dies wird nachzuweisen sein. Es soll allerdings nicht behauptet werden, daß sie eine linguistische Einrichtung sei12. Jede sprachliche Äußerung gibt implizit an, wie der Sprecher und wie die Gesellschaft die ausgedrückten Sachverhalte nach Geltungsbereich und Sicherheit bewerten. Eine Äußerung verstehen heißt auch: das mitgeteilte Wissen in subjektives und intersubjektives Wissen unterscheiden. Eine Äußerung machen heißt auch: eine der vier Verteilungen der Bewertungsregeln anwenden, also das mitzuteilende Wissen auf eine der vier Weisen strukturieren. Die Annahme der Perspektivität von Dialogen reicht in ihren Folgen über die Philosophie hinaus. Alle Theorien über die Gewinnung Symbolischen Wissens sind gezwungen, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Denn 12
Es ist wahrscheinlich, daß sie tiefer angelegt ist: in der Art und Weise unserer Erkenntnis der Welt. Ist es aber überhaupt sinnvoll, die Anteile der Sprache und diejenigen anderer Funktionen an der Erkenntnis der Welt gegeneinander aufzurechnen?
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6 Perspektiven
jedem Symbolsystem liegen Festsetzungen darüber zugrunde, wie ausgedrückte Sachverhalte zu bewerten seien. Symbolsysteme haben neben ihrer syntaktischen, semantischen und pragmatischen Ebene eine erkenntnistheoretische Schicht. Ich will diesen Gedanken an meinem Beispiel-Dialog darstellen: Es soll vorausgesetzt werden, daß A und B je einzeln ein subjektives Wissen über ihren eigenen Subjekt-Zustand, der Liebe zur anderen Person, gebildet haben und daß ein intersubjektiv sicheres Wissen über ihre Liebe bislang nicht existiert. Dieses ist eine ziemlich alltägliche Voraussetzung; sie ist z. B. dann gegeben, wenn A und B sich ihre Liebe gegenseitig entdecken. A hat über den Sachverhalt seiner Liebe zu B ein sicheres Wissen, B hingegen nicht. B kann A's Geständnis im Augenblick selbst glauben und für sich als sicheres Wissen postulieren. Aber es gibt für B keine Möglichkeit, ihr Wissen über A von dem Postulat-Charakter zu befreien und daraus selbst wieder ein subjektiv sicheres Wissen herzustellen. Skepsis und Zweifel können sich immer wieder einstellen. Eine Revision ist möglich, und diese Möglichkeit berührt B's Dialogposition gegenüber A: Sie ist letztlich unsicher. A kann sein sicheres Wissen über seinen eigenen psychischen Zustand nicht so an B weitergeben, daß B auch ein sicheres Wissen darüber hat. Dies weiß A intuitiv. Trotz seines sicheren Wissens steht er unter dem Zwang, Beweise seiner Liebe zu geben, d. i.: sein Wissen in der Weise auszudrücken, daß ein intersubjektiv sicheres Wissen entsteht, das B erhalten kann. Bei B's Geständnis entsteht eine analoge Situation mit umgekehrten Dialogpositionen. Ich will nicht behaupten, daß A und B unmittelbar und permanent von Zweifeln über das Geständnis des anderen heimgesucht werden. Nur so viel kann gesagt werden, daß A und B ihr eigenes Wissen über den anderen nicht endgültig von einem Rest Zweifel befreien können, und dies prinzipiell nicht. Es ist möglich, daß der Zweifel nie akut wird. Aber zum einen müssen Individuen eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um dies zu verhindern; sie müssen Schutzvorrichtungen schaffen. Zum ändern werden sie sich des Status' ihres Wissens über den anderen bewußt, wenn sie dieses mit ihrem Wissen über sich selbst vergleichen. Ihrer eigenen Sache sind sie sicher. Sie mögen später ihr Wissen über sich selbst verändern. Aber dann bezweifeln sie nicht ihr früheres Wissen, sondern erzeugen retroaktiv einen neuen Sachverhalt. Die dritte Aussage des Dialogs hat einen ganz anderen Status als die beiden ersten. Ein subjektives Wissen über den behaupteten Sachverhalt ist nicht möglich. Jeder der beiden Partner hat ein subjektives Wissen über
6.1 Die Perspektivität von Dialogen
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den eigen-psychischen Sachverhalt. Ein Vergleich von zwei subjektiven Wissen kann also nicht vorgenommen werden. Es kann aber nach dem Bekenntnis von A und B ein intersubjektives Wissen über die Liebe von A wie über die Liebe von B gebildet werden. Nur dieses kann in der dritten Aussage miteinander verglichen werden. Das intersubjektive Wissen über die Liebe von A und diejenige von B unterscheidet sich vom subjektiven Wissen über denselben Sachverhalt. Es wird aufgrund von beobachtbaren, ,äußeren', Kriterien aufgebaut, und es ist gesellschaftlich kontrollierbar. Die Bewertungen der Sachverhalte, auf die der Dialog Bezug nimmt, lassen sich in einem Diagramm darstellen. Dabei werden zuerst die ausgedrückten Sachverhalte und dann beide Bewertungen aufgeführt, die durch einen Längsstrich getrennt werden, wobei die linke diejenige A's und die rechte diejenige B's ist: 1. A's Liebe zu B 2. B's Liebe zu A 3. Die beiderseitige Liebe
SWA + /IW + —SWA-/IW + SWB-/IW + —SWB/IW + SW A>B -/IW+—SW AjB -/IW +
A verteilt sein Wissen anders über die ausgedrückten Sachverhalte als B. Die Folgen dieser Differenz treten vor allem in den psychischen Wirkungen des Dialogs auf: z. B. im Zustand der Unsicherheit, in Skepsis und Zweifel als möglichen Reaktionen. Die Wirkungen können wiederum neue Reaktionen erzeugen: Skepsis wird erhärtet, Zweifel wird zurückgewiesen, die Unsicherheit verstärkt oder eingedämmt. Diese können zu neuen Handlungen der Personen führen: zu Fragen, die den anderen zu einer Stellungnahme zwingen, zur Beobachtung, die Verdacht bestätigen oder zurückweisen etc. Auch die Übereinstimmung im intersubjektiven Wissen kann psychische Wirkungen hervorrufen. Intersubjektives Wissen muß kontrolliert werden. Die Folgen der Übereinstimmung können in einer gegenseitigen Überwachung bestehen, in der das gemeinsame Wissen gesichert werden soll. Die Verteilung des Wissens über die bestehenden Sachverhalte ist von entscheidender Bedeutung für die sozialpsychische Dynamik von Dialogen. Sie erzeugt psychische Sachverhalte, und diese können zu neuen Handlungen führen 13 . Viele Züge in Dialogen lassen sich nur erklären, wenn man die Verteilung des Wissens kennt. 13
Dieser Gesichtspunkt wird auch in Watzlawicks, Beavins und Jacksons Diskussion der „analogen" Kommunikation nicht berücksichtigt. Für einen Dialogpanner ist es von großem Interesse zu wissen, welche Sachverhalte für den ändern unter dem Aspekt der „analogen" Kommunikation sicher bestehen.
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6 Perspektiven
Die Bewertung des Wissens unterscheidet sich grundlegend von der Zuordnung von Wahrheitswerten zu Aussagen. Die Wissensbewertung strukturiert das Wissen, das Sprecher und Rezipient über ausgedrückte Sachverhalte haben können. Die Zuordnung von Wahrheitswerten unterscheidet zwischen Aussagen über bestehende und Aussagen über nichtbestehende Sachverhalte. Bestehen und Nicht-Bestehen von Sachverhalten ist unabhängig von Individuen. Meine Annahme ist, daß handelnde Personen sich nicht mit der Festlegung von Wahrheitswerten begnügen. Der Grund dafür liegt in drei Kennzeichen der Wissensbewertung, welche diese von der Zuordnung von Wahrheitswerten unterscheiden: (1) Die Wissensbewertung ist perspektivisch an die Person gebunden, die sie vornimmt. Personen orientieren sich beim Handeln an ihrem perspektivisch eingeschränkten Wissen. Wahrheitswerte geben an, welche Sachverhalte bestehen, Wissenswerte hingegen, in welcher Form Sachverhalten für Personen bestehen. (2) Die Zuerteilung von Wissenswerten ermöglicht keine ontologische Strukturierung; sie gibt nicht Strukturen von Sachverhalten wieder. Die Wissenswerte werden vielmehr durch die Beschaffenheit unseres Wissens und unserer Symbolsysteme den für Personen bestehenden Sachverhalten aufgeprägt. (3) Die Zuordnung von Wahrheitswerten erfordert — so weit es sich nicht um logische Wahrheiten handelt — eine Prüfung der Aussagen anhand der Sachverhalte selbst. Die Wissensbewertung wird ohne eine derartige Prüfung vorgenommen; sie wird durch Interpretation von Symbolen gegeben. Sie ist für jeden verfügbar, der Symbole rezipiert. Dies ist der wichtigste Grund dafür, daß sich Handelnde in vielen Fällen mit ihnen begnügen und auf die Zuordnung von Wahrheitswerten verzichten. 6.1.4
Gewißheiten
Die Wissensverteilung, die die Tafel (S. 190) angibt, gilt für alle Personen, die am Dialog teilnehmen oder diesen beobachten. Sprecher, Hörer, Beobachter und Beobachter des Beobachters erkennen sie an — zumindest unterwerfen sie sich ihnen intuitiv, indem sie die Regeln der Sprache anerkennen. Aus dieser Feststellung lassen sich zwei weitere Annahmen gewinnen: (1) Symbolsysteme werden neben den Regeln, die bisher erforscht worden sind, syntaktischen, semantischen, phonetischen etc., von Regeln zur Festlegung des Geltungsbereichs und Bewertung des Wissens konstituiert. Diese legen fest, welche Art Wissen aus Symbolen gewonnen wer-
6.1 Die Perspektivität von Dialogen
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den kann. Es läßt sich vermuten, daß verschiedene Symbolsysteme unterschiedliche Regeln dieser Art enthalten. Wenn diese Annahme zutrifft, ist es möglich, daß Darstellungen in verschiedenen Symbolsystemen, die gleiche Sachverhalte beschreiben, zu unterschiedlichen Wissensverteilungen führen. Die Verwendung von zwei Symbolsystemen zur Beschreibung des gleichen Sachverhalts könnte danach verschiedenartiges Wissen erzeugen. (2) Die Handlungspartner haben im Normalfall eine Kenntnis der Wissensverteilung. Diese ist im Verhältnis zu dem Wissen, das bewertet wird, ein höherstufiges Wissen: eine Klassifikation von Wissen. Das höherstufige Wissen ist selbst ein intersubjektiv sicheres Wissen, denn es beruht auf der gesellschaftlich kontrollierbaren Anwendung von Bewertungsregeln. Meine Darstellung der Klassifikation von Wissen, so werde ich annehmen, läßt sich als Explikation einer Gebrauchsweise des umgangssprachlichen Begriffs der Gewißheit auffassen. Gewißheit über einen bestimmten Sachverhalt haben, heißt, sich seines Wissens sicher zu sein. In meiner Terminologie ausgedrückt: das Wissen, das man gebildet hat, als sicheres Wissen bewerten14. Nach dieser Überlegung gibt es drei Gewißheiten, die sich durch die Verteilung der Wissenswerte kennzeichnen lassen. Im ersten Fall verfügt man über ein subjektiv sicheres Wissen, wobei das intersubjektive Wissen bezweifelbar ist — was man über das eigene Subjektive weiß, besteht tatsächlich, aber ob die Gesellschaft den subjektiven Sachverhalt als bestehend annimmt, bleibt offen. Im zweiten Fall ist das eigene Wissen intersubjektiv sicher; unter subjektivem Aspekt ist es hingegen bezweifelbar. Man stimmt im Wissen über einen Sachverhalt mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft überein; es ist aber bezweifelbar, ob der Sachverhalt subjektiv besteht. Im dritten Fall ist das eigene Wissen subjektiv und intersubjektiv sicher — ein Sachverhalt besteht subjektiv, und man stimmt im intersubjektiven Wissen über den Sachverhalt mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft überein. Jede der drei Gewißheiten ist durch eine der drei Wissensverteilungen gekennzeichnet, in denen mindestens ein , +' vorkommt. Man könnte die Meinung vertreten, auch die 4. Zeile der Tafel (S. 190) kennzeichne eine Gewißheit: die Gewißheit darüber, daß sowohl das subjektive als auch 14
Diese Gebrauchsweise von „Gewißheit" ist es vor allem, die Wittgenstein in seinen letzten Tagebuchnotizen analysiert, vgl.: „Über Gewißheit." Meine weiteren Überlegungen gehen auf einen formalen Aspekt ein, den Wittgenstein nicht weiter berücksichtigt.
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intersubjektive Wissen bezweifelbar ist. Aber die Bewertung von Wissen als bezweifelbares wird alltagssprachlich kaum als eine Gewißheit angesehen. Man macht die Verwendung dieses Ausdrucks allgemein davon abhängig, daß man über ein sicheres spezielles Wissen verfügt. Im philosophischen Gebrauch kann man der 4. Zeile indes einen besonderen Sinn geben: Ich weiß, daß ich nichts sicher weiß — die Gewißheit des philosophischen Zweifels15. Nach meiner Annahme gibt es zwei Arten von Gewißheit, die neben sicherem auch bezweifelbares Wissen einschließen. Ist aber nicht zu fordern, daß Gewißheit allein sicheres Wissen umfaßt und die beiden ersten Fälle nicht als Gewißheiten zu deuten sind? Denn entsteht nicht eine Art Widerspruch daraus, daß das entsprechende Wissen als sicher und bezweifelbar zugleich dargestellt wird? Man kann den Einwand zurückweisen: Bezweifelbares Wissen, sei es subjektiv oder intersubjektiv, kann sicheres Wissen nicht in Frage stellen. Die Begründung für diese Annahme geht weit zurück auf die Grundlagen unseres Denkens; im folgenden soll sie dargestellt werden: Nehmen wir den zweiten Fall: Wir haben Gewißheit darüber, daß ein Sachverhalt für die Gesellschaft besteht. Eine Person A sei unter gesellschaftlichem Aspekt ein Opportunist; unter subjektivem Aspekt bleibe diese Kennzeichnung bezweifelbar. Es sind demnach am Handeln von A Kriterien aufweisbar, die für die Zuschreibung von ,Opportunismus' hinreichend und notwendig sind. Opportunismus' ist ein Kennzeichen für einen Sachverhalt, der gesellschaftlich konstituiert ist. Das Kennzeichen ist auf alle Handlungen anwendbar, die als Exemplifikationen von Opportunismus* gelten, unabhängig vom subjektiven Wissen der Handelnden, der Interaktions-Teilnehmer und der Beobachter. Das Kennzeichen Opportunismus* wird unabhängig von subjektivem Wissen eingeführt und angewendet. Der erste Fall ist dem zweiten genau entgegengesetzt. Muß nicht das intersubjektiv bezweifelbare Wissen das subjektiv sichere Wissen beeinträchtigen? Ich formuliere die Frage in dieser Weise: Kann intersubjektiv bezweifelbares Wissen subjektiv sicheres Wissen falsifizieren? Auf den ersten Blick möchte man die Frage bejahen. Frau A, die ihren Schirm sucht und ein subjektiv sicheres Wissen darüber hat, daß sie sich im Besitze eines Schirms weiß, kann von ihrem Mann korrigiert werden: „Du 15
Diese Art von Gewißheit besteht darin, daß man ein sicheres Wissen allein über die Wissensbewertung hat. Sie bezieht sich also auf eine Kenntnis elementarer Regeln. Es ist durchaus nicht abwegig, dieses Wissen als eine Gewißheit aufzufassen.
6.1 Die Perspektivität von Dialogen
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hast ihn doch in der letzten Woche verloren, beim Konzert von Udo Jürgens". Frau A hört sofort auf, ihren Schirm zu suchen. Aber die Bemerkung von Herrn A hat Frau A's subjektives Wissen nicht falsifiziert. Denn worauf bezieht es sich? Nicht auf die Tatsache, daß sie im Besitz eines Schirms ist — dies wäre ein intersubjektives Wissen —, sondern auf die Tatsache, daß sie glaubt, einen Schirm zu besitzen. Die Bemerkung von Herrn A stellt die geglaubte Tatsache in Zweifel, nicht die Tatsache des Glaubens. Die Tatsache besteht wirklich. Frau A's Gewißheit über ihr subjektives Wissen wird durch das intersubjektive Wissen nicht betroffen. Subjektives Wissen ist Wissen des Handelnden (z. B. des Sprechers) über sein eigenes Subjektives. Sein intersubjektives Wissen kann falsifiziert werden, aber nicht sein subjektives Wissen. Wenn das falsche intersubjektive Wissen durch die Intervention der Gesellschaft korrigiert wird, kann der Handelnde dazu neigen, allerdings nicht dazu gebracht werden, sein subjektives Wissen zu verändern. Ich habe für meine Argumentation einen einfachen Fall gewählt. Dieser ist dadurch ausgezeichnet, daß das intersubjektive Wissen sich auf einen beobachtbaren Sachverhalt bezieht. In den Fällen, in denen sich das intersubjektive Wissen auf Subjektzustände des Handelnden bezieht, ist die Argumentation leichter einsichtig. Der Handelnde weiß z. B., daß er sich krank fühlt. Unter subjektivem Aspekt ist ein derartiges Wissen nicht falsifizierbar. Die Gesellschaft kann ein abweichendes intersubjektives Wissen dagegenstellen. Sie verweist auf Kriterien für einen anderen Zustand. Der Handelnde kann entgegnen, daß diesen Kriterien keine Bedeutung zukomme im Vergleich zu dem Zustand, den er habe. Subjektives Wissen ist durch intersubjektives Wissen prinzipiell nicht falsifizierbar, weil seine Korrektheitsstandards selbst aus dem subjektiven Wissen gewonnen werden. Subjektives und intersubjektives Wissen bilden zwei Aspekte der Erkenntnis, die keine unmittelbare Wirkung aufeinander haben. Es ist nach dieser Annahme möglich, daß beide Aspekte ohne Zusammenhang in einer Person nebeneinander bestehen. Entgegen unseren üblichen Vorstellungen ist es eher ein Problem, die Einwirkung des intersubjektiven Wissens auf das subjektive als die umgekehrte Wirkungsrichtung zu erklären16. 16
Die Formulierung ist polemisch gemeint. Das intersubjektive Wissen wirkt auf das subjektive vermittels Normalitätsforderungen. Das subjektive Wissen kann auf das intersubjektive vermittels kollektiver Formen des Wissens einwirken. Ob es auch den Fall geben kann, daß ein einziges subjektives Wissen auf das intersubjektive Wissen einwirken kann, ist ein interessantes Problem, das eine eigene Untersuchung erfordern würde.
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6 Perspektiven
Warum ersetzen wir in den meisten Fällen unser subjektives Wissen, wenn die Gesellschaft ein verschiedenes intersubjektives Wissen dagegenstellt? Die Antwort liegt vermutlich darin, daß die Gesellschaft das Wissen der Einzelnen an deren Handlungen kontrolliert und vereinheitlicht. Abweichungen des subjektiven vom intersubjektiven Wissen werden für das Bestehen einer Gesellschaft gefährlich, wenn sie über eine bestimmte Menge hinausgehen und handlungswirksam werden. Einheitlichkeit des Wissens entsteht, dadurch daß die Einzelnen ihr subjektives Wissen aus gesellschaftlichem Zwang dem intersubjektiven Wissen unterordnen. Aber es ist nicht zu übersehen, daß es auch den umgekehrten Fall geben kann: die Aufgabe des intersubjektiven Wissens zugunsten einer Vielzahl starker und durch die Umstände begünstigter subjektiver Wissen.
6.2
Intersubjektives Wissen — subjektives Wissen
In den Grundlagen unserer Sprache ist die Aufspaltung in die zwei Aspekte, den intersubjektiven und den subjektiven Aspekt, niedergelegt. Die Art der Gewißheit drückt sich in der Wahl syntaktischer Mittel aus. Sage mir, welche Syntaxformen dein Text enthält, und ich sage dir, welche Gewißheit aus ihm erhalten werden kann. Die Syntax — nicht alle syntaktischen Formen, aber einige wichtige — hat neben ihren Funktionen, die in der Linguistik untersucht werden, eine zusätzliche Ausdrucksfunktion: Sie zeigt an, welche Art von Gewißheit der Sprecher oder der Autor eines Texts gewählt hat. Die Syntax gehört unter diesem Gesichtspunkt zur Formsemantik17. 6.2.1
Transkriptionen
Die Syntax drückt die Spaltung des Wissens in zwei unabhängige Aspekte aus, aber sie bildet sie nicht in einem fertigen Bild ab. Die Gewißheit wird nicht immer mit dem Lesen oder Hören eines Texts oder einer Äußerung gegeben; sie muß rekonstruiert werden. Die Äußerung oder der Text muß dann vom Hörer oder Leser bearbeitet, gleichsam ,chemisch1 behandelt werden. In folgendem Beispiel ist die Ausdrucksfunktion der syntaktischen Formen geklärt: A sagt zu B: „Ich bin noch etwas schwer vom Grünkohlessen". Die Äußerung macht A; die 1. Person Singular in der Äußerung drückt aus, daß die Schwere ein Gefühl A's ist und daß dieses subjektiv 17
Siehe zum Begriff der Formsemantik oben, S. 172.
6.2 Intersubjektives Wissen — Subjektives Wissen
199
sicher ist, daß es für A also besteht. Es kann hingegen ein bezweifelbares Wissen unter intersubjektivem Aspekt sein (wenn die Äußerung z. B. zwei Tage später gemacht wird)18. Komplexer ist folgendes Beispiel: A sagt zu B: „Heute geht alles so schwer". Die Äußerung steht in der 3. Person Singular. Man könnte sofort annehmen, daß sie ein intersubjektives Wissen und nur dieses ausdrückt. Aber die Äußerung wird von A gemacht, und es läßt sich mit gleichem Recht vermuten, daß A subjektives Wissen ausdrückt. Die Äußerung ist im zweiten Fall an die Person, die spricht, gebunden. Wenn man sie explizit machen wollte, müßte man ihr hinzufügen: „in meiner Perspektive". An der Dialogäußerung wird selbst nicht ersichtlich, welche Art Wissen ausgedrückt wird. Eine Bewertung wird von den Dialogpartnern und den Beobachtern vorgenommen. Eine Äußerung kann im Prinzip auf die vier verschiedenen Weisen bewertet werden, die in der Tafel angegeben sind. Die Syntax des Dialogs bildet die Spaltung in die beiden Aspekte nicht in jedem Fall ab. Es ist möglich, daß, wie im soeben angegebenen Beispiel, die Syntax, die im umgangssprachlichen Dialog auftritt, unvollständig ist. Wir könnten dann sagen, die Äußerung A's: „Heute geht alles so schwer", ist ein verkappter Ich-Satz. Die erkenntnistheoretische Struktur der Äußerung müßte dann besonders kenntlich gemacht werden. Es läßt sich eine Transkription entwerfen, in der die syntaktischen Formen nach ihrer Abhängigkeit dargestellt werden. Unterlassungen und Verkürzungen des direkten Dialogs können darin korrigiert und der Geltungsbereich und die Sicherheit des ausgedrückten Wissens explizit angegeben werden. Die Transkription des letzten Beispielsatzes könnte so aussehen: SWA + / IW—. Der Index A, der dem SW hinzugefügt wird, gibt an, daß A's subjektives Wissen wiedergegeben wird. Der Beispielsatz läßt sich auch so verstehen, daß seine syntaktische Form die Wissensverteilung tatsächlich angibt; er drückt dann intersubjektives Wissen aus, das sicher oder bezweifelbar sein kann. Das subjektive Wissen bleibt in diesem Fall bezweifelbar, weil A über einen intersubjektiv bestehenden Sachverhalt spricht. Es läßt sich — für den Fall, daß das IW sicher ist — folgende Transkription angeben: SW A —/IW +. Teilnehmer und Beobachter von Dialogen nehmen Transkriptionen von allen Äußerungen vor, die sie als unvollständig ansehen19. Nichts wäre 18
19
Es würde sich um ein intersubjektiv sicheres Wissen handeln, wenn die Aussage zum Beispiel unmittelbar (bis zu, sagen wir, 12 Stunden) nach einem Mahl mit einem norddeutschen Kegelclub gemacht werden würde. Diese Aussage bezieht sich auf den Idealfall. Es ist anzunehmen, daß in der Alltagspraxis die Unvollständigkeit vieler Äußerungen nicht einmal entdeckt wird.
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6 Perspektiven
unangebrachter, als sich vorzustellen, sie würden sich bei jeder Äußerung fragen: „Stimmt das ausgedrückte Wissen mit den Annahmen der Gesellschaft überein oder nicht?" Man kann annehmen, daß die Herstellung von Transkriptionen ineins mit dem Gebrauch von Symbolen erlernt worden und in der Erfahrung so weit zur Routine geworden ist, daß wir uns ihrer normalerweise nicht bewußt sind. Dies gilt auch für den Umgang mit nicht-verbalen Symbolen, insbesondere für das Verstehen von Handlungen. Die in 1.1.1 angegebenen Beispiele können diesen Gedanken veranschaulichen. In allen Fällen: bei absichtlichem schlechten Benehmen, beim Ausdrucks- und Ritualverhalten, beim Codewechsel, insbesondere bei symbolisch vermitteltem Handeln, bei der Aufstellung von Hypothesen über fremdes Handeln und beim Handeln aus mythologischen Motiven, verschafft sich der Dialogteilnehmer und der Beobachter Klarheit darüber, ob das ausgedrückte Wissen intersubjektiv oder subjektiv und ob es sicher oder bezweifelbar ist. Die Syntax der Sprache zeigt, teilweise explizit, eine Operation an, die allgemein bei der Rezeption von Handlungsdialogen vorgenommen wird. Sie hat, in dieser Sichtweise, eine erkenntnistheoretische Indikatorfunktion. Ich werde im folgenden drei Methoden zur Herstellung von Transkriptionen angeben: 1. Der Rezipient vergleicht das mitgeteilte Wissen mit seinen eigenen Beobachtungen und stellt dabei Abweichungen oder Übereinstimmungen fest. — Dies ist der einfachste Fall; er setzt voraus, daß der Sprecher über beobachtbare Sachverhalte spricht und daß der Rezipient Gelegenheit hatte, diese zu beobachten. 2. Der Sprecher teilt Wissen über beobachtbare Sachverhalte mit, die der Rezipient zu beobachten nicht die Gelegenheit hatte. Der Rezipient bewertet das mitgeteilte Wissen mit Hilfe verschiedener Faktoren: sein eigenes Wissen über die Vorgeschichte und die Folgen der dargestellten Sachverhalte, die Kohärenz der Äußerung, seine eigenen Erfahrungen, die Verläßlichkeit, die der Sprecher in seinen Augen hat u. ä. 3. Das mitgeteilte Wissen bezieht sich auf nicht-beobachtbare Sachverhalte, z. B. auf eigenpsychische Zustände. Der Rezipient kann sich immer noch auf eigene Erfahrungen berufen, aber diese haben nicht in allen Fällen Gewicht. Wichtiger wird die Kohärenz der Äußerung und die Verträglichkeit der Mitteilung mit dem beobachteten Verhalten: Die dem Wenn man allerdings von einem Interaktionsteilnehmer eine genaue Angabe der Wissensverteilung verlangte, wäre er sofort in der Lage, wenn es erforderlich wäre, eine Transkription von der entsprechenden Äußerung anzufertigen.
6.2 Intersubjektives Wissen — Subjektives Wissen
201
Rezipienten bekannten Kriterien dürfen dem Wissen nicht widersprechen. Noch wichtiger ist in vielen Fällen die Vertrauenswürdigkeit des Sprechers. Wenn der Rezipient den Sprecher für verläßlich hält, wird er, wenn die Äußerung annähernd kohärent und die Mitteilung mit dem beobachteten Verhalten verträglich zu sein scheint, das Wissen des Sprechers als intersubjektives anerkennen und dieses übernehmen 20 . Die Methoden 2 und 3 beschränken sich in der Routine des Alltagshandelns darauf, daß der Rezipient dem Handelnden bestimmte Verläßlichkeitsgrade zuerkennt und diesen entprechend seine Bewertungen vornimmt. Wenn der Rezipient einem Handelnden einen hohen Grad an Verläßlichkeit zuschreibt, erkennt er dessen Eigen-Kontrolle in dem Sinne an, daß ihm diese als Garantie für die InterSubjektivität des mitgeteilten Wissens gilt. Den hohen Grad an Verläßlichkeit muß der Handelnde im Normalfall beim Rezipienten erst erwerben. Dies geschieht auf die Weise, daß seine Mitteilungen von anderen Sprechern bestätigt werden, seine Darstellungen die bekannten Tatsachen einleuchtend interpretieren oder er sich gegenüber Fragen und Einwänden durchweg rechtfertigen kann. Da der Verläßlichkeitsgrad an die Person des Rezipienten gebunden ist, kann er auch auf weniger regelgeleitete Weise erworben werden, z. B. durch Berufung auf Autorität, blinde Freundschaft etc. — Ich erwähne die drei Methoden und den Verläßlichkeitsgrad insbesondere deswegen, weil sie in der literarischen Erzählung nachgebildet werden21. 6.2.2 Erzählungen Die Transkription ist ein Verfahren, das im Rezeptionsvorgang involviert ist. Auch der Handelnde selbst hat die Möglichkeit, die für ihn bestehende Gewißheit auszudrücken: Es gibt eine natürliche Transkription, in der Handelnde mit sprachlichen Mitteln den Geltungsbereich und die Bewertung des dargestellten Wissens festlegen — die Erzählung. Darunter verstehe ich — abweichend vom üblichen Sprachgebrauch — die explizite sprachliche Darstellung, Wiedergabe oder Kommentierung von Hand20
21
An diesem Fall läßt sich eine besondere Wirkungsweise des subjektiven Wissens auf das intersubjektive erkennen. Sobald die Person, die subjektives Wissen ausdrückt, als vertrauenswürdig gilt, wird ihre Äußerung, wenn es keine besonderen Hindernisse gibt, als Ausdruck sicheren Wissens aufgefaßt. Die Literatur stellt in dieser Hinsicht Modelle der Bewertung von ausgedrücktem Wissen dar. Ich werde in meiner Analyse von Prousts, Suche nach der verlorenen Zeit, zu zeigen versuchen, daß die Modelle eine philosophische, und zwar eine erkenntnistheoretische Bedeutung haben.
202
6 Perspektiven
lungsdialogen, wie z. B. Protokolle, Berichte, handlungsbegleitende Kommentare, Tagebuchaufzeichnungen, Reportagen, Nachrichten etc. Die Erzählung eines Handlungsdialogs unterscheidet sich von diesem grundsätzlich, selbst wenn sie ihn wortgetreu wiedergibt, und zwar in einem wesentlichen Merkmal: Sie bezieht die dargestellten Handlungen auf Personen (Personenbindung von Handlungen). In der Weise, wie sie den Bezug herstellt, kennzeichnet sie die Handlungen als Ausdruck subjektiven, intersubjektiven oder subjektiven und intersubjektiven Wissens22. Jede in einer Erzählung dargestellte Handlung ist auf Personen bezogen23: auf Personen, die Handlungen hervorbringen. Die Person muß nicht spezifiziert sein; es kann z. B. heißen: „Man kam überein, daß . . .". Die Person muß nicht von der des Erzählers verschieden sein. Schließlich kann sie sogar unerwähnt bleiben; dann kann sie, je nach Umständen, auf eine der erwähnten Personen oder auf den Erzähler selbst bezogen werden. In einer Erzählung, die den geltenden Normen folgt, ist die Bindung von dargestellten Handlungen an Personen obligatorisch24. Es gibt verschiedene Formen der Personenbindung in Erzählungen; ich führe einige wichtige im folgenden an. 1. Die Personenbindung kann durch die Wahl der sprachlichen Darstellungsmittel festgelegt werden. Eine Bemerkung von A, daß er Kopfschmerzen habe, kann in einer Erzählung wiedergegeben werden als: „A fühlte sich wieder krank". 2. Der Erzähler verwendet neutrale sprachliche Darstellungsmittel, läßt aber die berichtete Handlung entweder in Konflikt mit anderen, von ihm selbst beobachteten Sachverhalten geraten oder, umgekehrt, von diesen stützen. 3. Der Erzähler berichtet neben den dargestellten Handlungen einer Person andere, vorgängige oder spätere, Handlungen derselben Person, 22
23
24
Ein Beispiel: A nickt auf eine Frage, die ihm gestellt wird, mit dem Kopf. In der Erzählung kann es heißen: (1) A erklärt sein Einverständnis. (2) A meint, er könne zustimmen. (3) A ist überzeugt und stimmt zu. (1) kann intersubjektives, (2) subjektives, (3) subjektives und intersubjektives Wissen ausdrücken. Es ist allerdings auch möglich, daß Handlungen auf Tiere, personifizierte Gegenstände oder überirdische Wesen bezogen werden. Dies sind Ausnahmen, die am Modell des Personenbezugs orientiert sind. Diese Verpflichtung wird in der Erzählliteratur immer wieder durchbrochen. Das Durchbrechen geltender Normen ist aber nichts anderes als ein Kunstmittel.
6.2 Intersubjektives Wissen — Subjektives Wissen
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welche die ersten entweder stützen oder zu diesen in Widerspruch geraten. 4. Die Person, an die die berichteten Handlungen gebunden werden, wird als Person mit hohem oder niedrigem Verläßlichkeitsgrad dargestellt. 5. Der Erzähler stellt neben die berichtete Handlung seine eigene Äußerung über denselben Sachverhalt. In diesem Fall sind vier Kombinationen möglich: a. Der Erzähler erteilt sich selbst einen hohen Verläßlichkeitsgrad; die berichtete Äußerung stimmt mit seiner Äußerung überein. b. Die berichtete Äußerung stimmt mit der Äußerung des Erzählers mit hohem Verläßlichkeitsgrad nicht überein. c. Der Erzähler gibt sich durch die Art des Erzählens einen niedrigen Verläßlichkeitsgrad: die berichtete Äußerung stimmt mit seiner eigenen überein. d. Die berichtete Äußerung stimmt mit der Äußerung des Erzählers mit niedrigem Verläßlichkeitsgrad nicht überein. Die 5. Form der Personenbindung ist äußerst variabel. Sie kann auftreten als Erzählung und Kommentar des Erzählers; als zwei Erzählungen, davon die eine als dargestellte Erzählung einer anderen Person, die andere als Erzählung des Erzählers selbst über denselben Sachverhalt; als Binnen- und Rahmenerzählung; als verdoppelte Erzählung, in der der Erzähler zwei verschiedene Personen denselben Sachverhalt erzählen läßt. 6. Der Erzähler macht die Klärung der Personenbindung zum Thema seines Erzählens25. Im folgenden soll als Beispiel die erste Art der Personenbindung diskutiert werden. In einer Erzählung, in der das Dialogfragm.ent: A: „Alles geht so schwer", dargestellt wird, kann der Bezug zwischen Äußerung und Sprecher mit Hilfe verschiedener Darstellungsweisen hergestellt werden: 1. „A fühlte, daß alles schwer gehen würde." 2a. „A meinte, alles gehe so schwer." 2b. „A meinte, alles gehe schwer." 3. „A nahm an, daß alles schwer gehe." 4. „A stellte fest, daß alles schwer ging." 5. „A bemerkte, alles gehe schwer." 25
Diese Liste der Formen von Personenbindung kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
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6 Perspektiven
6. „A sagte, alles gehe schwer." etc. Es läßt sich nicht behaupten, daß in allen Fällen die Erzählfragmente einen eindeutigen Bezug herstellen würden. (In einer vollständigen Erzählung würde der Kontext erheblich zur Klarstellung beitragen.) Dies ist der Fall nur in 1. und 4., wobei 1. subjektives, 4. intersubjektives Wissen ausdrückt. In den anderen Fällen kann man annehmen, daß der Bezug durch den Erzählkontext unterstützt wird. Die Fälle 2a., 2b., 3. und 5. erscheinen zunächst als weniger klar. Aber dieser Eindruck entsteht daraus, daß die verwendeten Verben mehrdeutig sind. ,Meinen* kann einmal als Ausdruck subjektiven Wissens, zum anderen für eine intersubjektive Tatsachenfeststellung verwendet werden. Das gleiche gilt analog für Annehmen' und ,bemerken'. Im allgemeinen ist es möglich, die jeweilige Bedeutung des Verbs zu erschließen. Das wiedergegebene „so" in 2a. ist ein Indiz dafür, daß der Satz subjektives Wissen ausdrückt, und die Fortlassung von „so" in 2b. kann auf intersubjektives Wissen hindeuten. Satz 6. gibt, trotz seines unscheinbaren Aussehens, einen starken Hinweis darauf, daß er Ausdruck intersubjektiven Wissens ist: Die kommentarlose Verwendung von .sagen', gefolgt von indirekter Rede, dient im allgemeinen der Wiedergabe intersubjektiver Sachverhalte. Zusammengefaßt läßt sich sagen: Ohne in allen Fällen Klarheit zu verschaffen, arbeitet die Erzählung heraus, ob subjektives oder intersubjektives Wissen wiedergegeben wird. Darin gleicht sie der Transkription. Sie verwendet dabei insbesondere semantische Mittel (z. B. Wahl der Wortbedeutungen und Kontext). Die Erzählung legt fest, welche Art von Wissen der Erzähler ausdrücken und der Leser aus dem Text gewinnen soll. Der Erzähler kann in allen Äußerungen, die er an seine Person bindet, subjektiv sicheres Wissen ausdrücken. In allen Äußerungen, die der Erzähler nicht an seine Person bindet, kann er dies nicht. Wenn der Erzähler eine Äußerung als subjektives Wissen einer anderen Person darstellt, bringt er auf diese Weise zum Ausdruck, daß er darüber kein sicheres Wissen erhalten kann26. Eine Erzählung kann als umgangssprachliche Transkription von Interaktionen aufgefaßt werden. Der Erzähler legt fest, welchen Geltungsbe26
Der Erzähler kann aber intersubjektiv sicheres Wissen ausdrücken, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Einige der Bedingungen sind: hoher Verläßlichkeitsgrad des Erzählers, Vermeidung von Widersprüchen zwischen erzählten Ereignissen, Kohärenz des dargestellten Geschehens, eine Form der Personenbindung, die den Ausdruck intersubjektiv sicheren Wissens unterstützt.
6.2 Intersubjektives Wissen — Subjektives Wissen
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reich und welche Sicherheit er dem ausgedrückten Wissen erteilt. Die Korrektheit seiner Transkription kann vom Rezipienten der Erzählung u. U. bestritten werden. Dieser fertigt selbst eine eigene Transkription an. Die Transkription, die eine Erzählung vorbringt, wird von der Gesellschaft kontrolliert. Ihre Ablehnung von Seiten der Handlungspartner kann den Erzähler zwingen, seine Transkription zu verändern. Eine Modifikation kann die Gesellschaft allerdings nur bei der Transkription von intersubjektivem Wissen bewirken. Wenn der Erzähler das Dargestellte an seine eigene Person bindet und als subjektives Wissen ausgibt, kann der gesellschaftliche Zweifel die Erzählung nicht erreichen. Der Zweifel trifft die Person des Erzählers. Wiederholte Kritik der Gesellschaft an der Darstellung von subjektivem Wissen einer Person zerstört deren Glaubwürdigkeit. Die Bewertung des Wissens, das aus einer Erzählung gewonnen werden kann, wird nicht von der Erzählung selbst vorgenommen. Es sind daran prinzipiell zwei Parteien beteiligt: die Partei, die Personenbindungen vorbringt, und die Partei, die die Transkription prüft. Die prüfende Instanz übt gesellschaftliche Kontrolle aus. Die Trennung von Transkription und Prüfung ist eine für die korrekte Bewertung von Wissen aus Erzählungen notwendige Bedingung27. Ebenso wie Sätze in der 3. Person an den Handelnden gebunden sein und subjektives Wissen wiedergeben können, gibt es auch Sätze in der 1. Person, die intersubjektives Wissen ausdrücken. Das entscheidende Kriterium dafür, ob eine Äußerung intersubjektives Wissen ausdrückt, besteht darin, daß diese gesellschaftlicher Kontrolle unterworfen wird. Denn dies bedeutet nichts anderes, als daß die Äußerung über einen intersubjektiv konstituierten Sachverhalt gemacht wird. Über Sachverhalte dieser Art kann man in Ich-Sätzen ebenso sprechen wie in Er-Sätzen. Der Unterschied zwischen Erzählungen, die subjektiv sicheres, und solchen, die intersubjektiv sicheres Wissen ausdrücken, läßt sich auf die Differenz der Kontroll-Instanz zurückführen: Die erste Art von Erzählungen wird von der Eigen-Kontrolle des Erzählers geprüft, die zweite Art von der gesellschaftlichen Kontrolle überwacht. 27
Beide Funktionen können in einer Person zusammenfallen. Die Person übt dann gesellschaftliche Kontrolle gegenüber der von ihr selbst vorgebrachten Personenbindung aus. Die Trennung beider Funktionen ist deshalb wichtig, weil die Personenbindung in den Bereich subjektiven Wissens fallen kann, die Bewertung aber auf jeden Fall in die Zuständigkeit des intersubjektiven Wissens gehört.
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6 Perspektiven
Es kann vorkommen, daß Äußerungen aus der ersten Art Erzählung auch die gesellschaftliche Kontrolle passieren und analog Äußerungen aus der zweiten Art die Eigen-Kontrolle. Dies sind Fälle, in denen der Ausdruck von subjektivem und intersubjektivem Wissen zusammenfällt. Die Perspektiven, in denen die jeweiligen Sachverhalte erkannt werden, sind allerdings voneinander unterschieden28. 6.2.3
Kunsterzählungen und Wissenswerte
Die Erzählung, wie ich sie in meiner Darstellung aufgefaßt habe, dient zur Analyse von Handlungen; sie ist insofern ein handlungstheoretischer Begriff. Es ist für die Anwendung dieses Begriffs gleichgültig, ob die berichteten Äußerungen oder Handlungen tatsächlich stattgefunden haben oder nicht. Entscheidend ist dafür allein, daß über die Transkription Kontrolle ausgeübt wird. Habe ich durch dieses Merkmal den Begriff der Erzählung nicht von seiner üblichen Verwendung entfernt? Ist nicht die Erzählung, insbesondere die Kunsterzählung, von einer realen Prüfung freigestellt? Der Rezipient bewertet durchaus das Wissen, das er aus Kunsterzählungen erhält. Er ist, wenn er eine Erzählung sorgfältig gelesen hat, in der Lage, das berichtete Wissen in subjektives und intersubjektives sowie sicheres und bezweifelbares Wissen zu unterscheiden. Er kann z. B. angeben, welche Ereignisse unter intersubjektivem Aspekt als stattgefunden und welche Ereignisse als nur eingebildet gelten sollen. Er kann vorgegebenes intersubjektives Wissen bezweifeln. Eine Prüfung des erzählten Wissens ist also möglich; sie ist sogar für das Verstehen von Kunsterzählungen unumgänglich notwendig29. 28
29
Fälle dieser Art haben wir schon diskutiert, siehe oben S. 190. Wenn es zum Beispiel heißt: „A ist krank", drückt dieser Satz intersubjektives Wissen aus. Er kann aber, wenn er von A geäußert wird, auch subjektives Wissen ausdrücken. In beiden Fällen wird der Satz aber aus verschiedenen Perspektiven geäußert. Es ist eine der ersten Aufgaben der Literaturwissenschaft, Verfahren zur Prüfung von erzähltem Wissen zu entwickeln. Man könnte einwenden, der kognitive Aspekt literarischer Erzählungen liege außerhalb des Bereichs der Literaturwissenschaft; er falle in den der Philosophie. Aber literarische Erzählungen haben einen formalen Aufbau: eine (oder mehrere) Perspektiven, eine Erzählreihenfolge, möglicherweise eine Verschachtelung von Erzählteilen etc. Der formale Aufbau ist einerseits wesentlich für das Verstehen von Texten; andererseits reichen die Instrumente zur Untersuchung literarischer Sprache nicht aus, um ihn zu analysieren. Literarische Form hat zumindest in der Erzählliteratur einen kognitiven Aspekt. Ich werde im folgenden behaupten: Literarische Erzählungen stellen vermittels ihrer Form erkenntnistheoretische Modelle dar.
6.2 Intersubjektives Wissen — Subjektives Wissen
207
Die Kunsterzählung gibt implizit eine Transkription an, und wie bei der Alltags-Erzählung kann der Rezipient davon wieder eine Transkription anfertigen. Der Unterschied zwischen Alltags- und Kunsterzählung liegt in der Art und Weise, wie die Prüfung ausgeübt und die Transkription vorgenommen wird: Die Kunsterzählung legt seihst die mögliche Transkription fest, die von ihr gegeben werden kann. Sie gibt seihst alle Indizien an, auf die sich die Prüfung stützen kann. In der Weise, wie sie ihre eigene Transkription vorträgt, determiniert sie die zweite und endgültige Transkription, die von ihr gegeben werden kann. Der Grund für die Festlegung des Verstehens ist dieser: Die Prüfung der Transkription, die eine Kunsterzählung gibt, muß sich auf den Text seihst beschränken™. Von den Kontrollverfahren, die oben angegeben worden sind, können im wesentlichen nur noch die Prüfung der Kohärenz der Erzählung und der Verträglichkeit der dargestellten Sachverhalte miteinander angewendet werden. Die verschiedenen Formen der Personenbindung werden folglich auf innere Widersprüche hin, im Sinne von mangelnder Kohärenz und Verträglichkeit, überprüft. Der Autor legt das Ergebnis der Prüfung im vorhinein fest, indem er in seinen Personenbindungen innere Widersprüche dieser Art anbringt oder gerade vermeidet. Wenn also seine eigene Transkription intersubjektives Wissen angibt und dieses in der definitiven Transkription erhalten bleiben soll, muß seine Darstellung frei von inneren Widersprüchen sein. Wenn er hingegen innere Widersprüche in seine Darstellung einarbeitet und zugleich in seiner Transkription ein intersubjektives Wissen behauptet, wird dieser Anspruch in der definitiven Transkription zurückgewiesen. Anders verhält es sich, wenn die Transkription des Erzählers subjektives Wissen angibt und die Darstellung innere Widersprüche enthält. In diesem Fall kann die endgültige Transkription den Anspruch auf subjektives Wissen bestätigen. Aber auch wenn die Darstellung Widersprüche vermeidet, kann dieser Anspruch definitiv anerkannt werden. Im ersten Fall werden, im Unterschied zum zweiten, die Widersprüche der Eigen-Kontrolle des Erzählers zugeschrieben: Diese weicht von der gesellschaftlichen Kontrolle ab. Die inneren Widersprüche sind Bestandteile des subjektiven Wissens des Erzählers. (Dabei ist zu beachten, daß in Kunsterzählungen der Erzähler vom Autor unterschieden ist; siehe unten, S. 236.) J0
Mit dieser Festlegung soll keiner textimmanenten Literaturwissenschaft das Wort geredet werden. Die Untersuchung des ausgedrückten Wissens darf sich hingegen keiner anderen Quelle als der des Texts bedienen, weil dieser — und nur dieser — die endgültige Transkription determiniert. Für andere Untersuchungen kann man über den Text hinausgehen.
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6 Perspektiven
Die Kunsterzählung vereinigt die Funktionen von Personenbindung und Prüfung. Ihre Transkription wird nur scheinbar in einem Dialog angefertigt: Der Rezipient gibt die Antwort, die der Text ihm in den Mund legt. Er erfindet nichts, er führt nur aus. Daher ist seine Transkription, wenn sie sich vollständig auf den Text stützt, endgültig und nicht mehr korrigierbar. Dies ist auch der Grund dafür, warum der Rezipient eines alten Textes die Normen, die für dessen Transkription zu der Zeit seiner Abfassung galten, genau zu rekonstruieren gezwungen ist. Verstößt er in seiner Rezeptionsarbeit gegen diese methodische Regel und erhält er dabei eine andere Transkription als die historische, zerstört er den Text und erzeugt einen neuen. Ein Text besteht aus der Menge der Äußerungen und der Transkription. Verfehlt der Rezipient die endgültige Transkription, die im Text angegeben ist, verändert er die Gesamtbedeutung des Texts: Die den einzelnen Äußerungen zugeordneten Bedeutungen bleiben erhalten, aber ihre Stellung im Kontext wird verändert. Es gibt keine Modernisierung der Transkription; es gibt nur eine Erneuerung der Texte. Nach meinen Überlegungen beruht der Unterschied zwischen Alltagsund Kunsterzählung, neben der Differenz der Kontrollinstanz, auf einer Verschiedenheit des Wissens, das der Rezipient für die Transkription heranzieht: Bei der Alltagserzählung stützt sich der Hörer auf sein gesamtes Wissen, das sich auf die erzählten Sachverhalte und Personen, den Erzähler selbst und die Erzählsituation erstreckt. Die Menge des Wissens, die er dabei anwendet, seine , Wissensbasis \ unterscheidet sich von derjenigen, die von der Erzählung selbst gegeben wird. Die Wissensbasis, auf die er sich bei der Transkription der Kunsterzählung stützt, ist genau diejenige, die in der Erzählung enthalten ist. Daher gibt es bei der Transkription literarischer Texte keine Vorteile und keine Nachteile des Wissens: Der Rezipient weiß so viel wie der Autor, und alle Rezipienten können gleich viel wissen31. Das Wissen, das der Rezipient aus einer Erzählung gewinnt, und dessen Bewertung sind die beiden Resultate des Rezeptionsvorganges, die der Autor aus eigener Verfügungsgewalt festlegen kann. Alle weiteren Schritte des Rezipienten, wie Interpretation, philosophische Ausdeutun31
Diese Formulierung beschreibt den Idealfall. In der Praxis gibt es große Unterschiede unter den Rezipienten und auch zwischen Rezipienten und Autor. Die Unterschiede entstehen daraus, daß einige mehr sehen als die anderen, eine größere Sensibilität haben, über mehr Erfahrungen verfügen etc. Aber alle können aus dem Text das gleiche Wissen gewinnen. Aus diesem Grund läßt sich die endgültige Transkription am Text nachweisen. Der Nachweis ist, wenn ihm keine Verstöße nachgewiesen werden können, verbindlich.
6.2 Intersubjektives Wissen — Subjektives Wissen
209
gen etc., liegen außerhalb seiner Reichweite, aber sie bauen alle auf diesen beiden Festsetzungen auf. Der Autor ist durch die Personenbindung in seiner Erzählung ebenso festgelegt wie die Rezipienten. Wenn er z. B. in einer neuen Version die niedergelegte Personenbindung modifiziert, schreibt er eine neue Erzählung. Von Proust und Kafka ist bekannt, daß sie die Personenbindungen ihrer Entwürfe umänderten: Proust von der Bindung an eine dritte Person in die Bindung an die erste Person; Kafka, umgekehrt, von der Erzähler-Bindung in eine Bindung an eine dritte Person. Für beide hatte die Entscheidung darüber, ob sie die Erzählung an ein Ich oder an ein Er binden sollten, höchste Bedeutung. Die Personenbindung ist eine zentrale Einrichtung der Erzählung. Sie wird vom Autor zusammen mit dem Prüfungsverfahren, das der Rezipient anzuwenden hat, aufgebaut. Die oben angegebene Liste von fünf Arten der Personenbindung (vgl. S. 202) gilt auch für die Kunsterzählung. Der Autor wählt eine Art der Personenbindung und legt gleichzeitig fest, ob er innere Widersprüche in die Erzählung einführen wird oder nicht. Entscheidet er sich dafür, gibt die Art der Personenbindung einen Rahmen an, der die Art der Widersprüche festsetzt. 6.2.4
Literatur und Erkenntnistheorie
Die zentrale Bedeutung der Personenbindung und ihrer Prüfung liegt darin, daß der Autor beide nicht beliebig auswählen kann. Seine Wahl ist nicht frei, weil die Art der Personenbindung und ihrer Kontrolle der Erzählung eine Modellform unterlegt, auf die der gesamte Erzählinhalt aufgetragen wird. Denn durch seine Wahl legt der Autor für seine Erzählung fest, welches Wissen gewinnbar — und auf welche Weise dieses gewonnen werden kann — und welches Wissen nicht gewinnbar ist. Es ist eine Entscheidung zugunsten einer erkenntnistheoretischen Hypothese. Die letzte Behauptung soll erläutert werden: Jede Erzählung enthält implizit eine Vorrichtung, die dazu dient, die Rezipienten Wissen gewinnen zu lassen. Eine Erzählung entsteht bei ihrer Rezeption aus dem Nicht-Erzählten. Mit jedem Satz wird aus dem Nicht-Erzählten ein Wissen herausgeformt. Dieses Wissen ist nur in wenigen Fällen verläßlich; es ist oft nur ein Rohstoff. Es muß erst bearbeitet werden, um daraus ein sicheres Wissen zu gewinnen. Eine Erzählung lesen, heißt, die im NichtErzählten enthaltenen Wissensstoffe in Wissen umzuformen. Dabei wissen wir über das Nicht-Erzählte nichts, was das Erzählte nicht enthielte. Es kommt beim Verstehen von Erzählungen zum einen darauf an, das gegebene Wissen in das Nicht-Erzählte zu verlängern; zum ändern geht
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6 Perspektiven
es darum, die Bewertung des Wissens, die durch den Text festgesetzt wird, herauszuarbeiten. Eine Geschichte verfassen heißt, den Leser auf einem sorgfältig ausgewählten Weg zu einer bestimmten Art Gewißheit zu führen32. Gewißheit kann im Grenzfall in nichts anderem als darin bestehen, daß das mitgeteilte Wissen unter intersubjektivem wie subjektivem Aspekt bezweifelbar ist. Die Gewißheit der Erzählung ist keine Versicherung, daß man aus der Lektüre etwas weiß. Die Personenbindung und die Prüfungsmethode sind, analog gesprochen, eine Apparatur, die — und die allein — zur Wahrnehmung des Erzählmaterials dient. Sie bilden eine präzise Erkenntnisvorrichtung. Das Erzählmaterial und die Erkenntnisvorrichtung sind aufeinander bezogen. Das Verhältnis kann in einem Fall so bestimmt werden, daß die Erkenntnisvorrichtung ein Maximum an intersubjektiv sicherem Wissen über das Erzählmaterial gewährleistet. Die meisten Romane des bürgerlichen Realismus' sind in dieser Art aufgebaut. Das Erzählmaterial ist der Rohstoff für eine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der einzelnen Erzählung werden Erkenntnisbedingungen geschaffen, die eine möglichst genaue und umfassende Untersuchung des Rohstoffs ermöglichen. In einem anderen, ebenso ausgeprägten Fall wird das Verhältnis in der Weise festgelegt, daß ein Minimum an intersubjektiv sicherem Wissen entsteht. Merimees Novelle „Carmen" ist dafür, obwohl sie häufig nach dem ersten Verhältnis aufgefaßt und dann falsch verstanden wird, ein überzeugendes Beispiel: Der bekannte Erzählstoff von „Carmen" wird in die Rahmenerzählung eines reisenden Philologen eingefaßt. Das Rührstück vom baskischen Banditen und der hinreißenden Zigeunerin läßt der Philologe aus dem Mund des Liebenden selbst erzählen. Der Erzählung des Banditen fügt der Philologe einen knochentrockenen ethnologisch-linguistischen Kommentar über die Zigeuner hinzu, in dem zwei wesentliche Behauptungen aufgestellt werden: 1. Spanische Zigeunerinnen sind fast allesamt häßlich wie die Nacht. 2, Niemals würde eine Zigeunerin es wagen, mit einem Mann anderer Rasse zusammenzuleben. Damit macht der Philologe nichts anderes, als daß er die von ihm selbst nacherzählte Geschichte des Soldaten in Zweifel zieht. Das intersubjektiv sichere Wissen, das der Rezipient in der Binnenerzählung ausgedrückt sieht, wird im philologischen Schlußkommentar aufgelöst. Daß diese Analyse die Anlage der Novelle zutreffend angibt, zeigen unter anderem drei Details: Der Autor legt innerhalb der Binnenerzäh32
,Gewißheit' wird hier in dem eingeschränkten Sinn verwendet, den ich oben in vier Versionen festgelegt habe, siehe S. 194 f.
6.2 Intersubjektives Wissen — Subjektives Wissen
211
lung einen wichtigen Gegensatz an. Die Binnengeschichte bleibt trocken und unemotional; dadurch entsteht ein merkwürdiger Kontrast zwischen Sujet und Erzählweise. Der Widerspruch zwischen philologischem Kommentar und Binnenerzählung wird weder durch einen Hinweis noch durch einen Kunstgriff erklärt oder wenigstens gemildert. Die moralische Integrität des Erzählers der Binnenerzählung wird durch dritte Personen in Zweifel gezogen. Die bürgerlichen Realisten halten alle interessanten gesellschaftlichen Zustände, Ereignisse und Personen für beschreibbar: alles, was von gesellschaftlichem Interesse ist und irgendwie mit den Sinnen wahrgenommen oder mit dem Verstand erschlossen werden kann, kann auch in Erzählungen dargestellt werden33. Merimee ist Skeptiker und Materialist; er bezweifelt die poetisierende Attitüde gegenüber der Wirklichkeit. In seiner Erzählung erfindet er ein romantisches Geschehen und nimmt diesem unter wissenschaftlicher, philologischer Betrachtung die Fähigkeit, intersubjektiv sicheres Wissen mitzuteilen. Die angeführten Beispiele sollen die Annahme stützen, daß die Wahl der Erkenntnisvorrichtung für eine Erzählung von philosophischen, insbesondere von erkenntnistheoretischen Annahmen bestimmt wird. Die Personenbindung und die Prüfungsverfahren drücken die Erkenntnistheorie des Erzählers aus. Eine Erzählform entwerfen, ist ein Philosophieren mit den Mitteln der Literatur. Die letzte Annahme trifft, wenn sie eingeschränkt formuliert wird, auf alle Erzählungen zu: In der Form jeder Erzählung sind grundsätzliche Annahmen darüber involviert, was der Rezipient über den erzählten Sachverhalt wissen und wie er dieses Wissen erhalten kann. Es wäre übertrieben zu behaupten, daß diese Annahme in allen Erzählungen das Hauptinteresse des Erzählers oder einen wesentlichen Bestandteil aller literarischen Erfindungen ausmachen würde. Aber in jedem Fall sind erkenntnistheoretische Annahmen konstitutiv für Kunsterzählungen. In vielen Fällen erhalten sie ein derartiges Gewicht, daß sie als eine eigenständige literarische Erkenntnistheorie gelten können34. Meine Überlegungen erlauben, folgenden Vorschlag zur Literaturwissenschaft zu machen: Die Analyse erzählender literarischer Texte hat ihr Fundament in der Untersuchung von Personenbindung und Prüfungsver33 34
Am klarsten ausgeprägt ist diese Erkenntnishaltung gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit bei Zola. Vgl. hierzu die folgende Studie über „Die Suche nach der verlorenen Zeit". Proust selbst hatte über den philosophischen Rang seines Werkes nicht den geringsten Zweifel.
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6 Perspektiven
fahren sowie in der Herausarbeitung der Annahmen, die beide ausdrükken. Darin besteht weder die einzige Aufgabe der Literaturwissenschaft, noch wird sie sich bei jeder Erzählung als besonders fruchtbar erweisen. Aber diese Untersuchung scheint unentbehrlich zu sein: Jede Analyse einer Erzählung muß mit der Herausarbeitung der Personenbindung und des Prüfungsverfahrens beginnen. Mein Vorschlag hat zwei Vorteile, die ihn von vielen literaturwissenschaftlichen Konzepten unterscheiden: 1. Er geht von der Annahme aus, daß durch die Literatur Wissen vermittelt wird: daß der Rezpient aus dem Text ein angebbares Wissen gewinnt. Aber er setzt nicht voraus, daß erzählte Ereignisse existieren. Das Wissen wird aufgrund der Untersuchung der literarischen Form bewertet. 2. Er konzentriert die literaturwissenschaftliche Analyse auf die Untersuchung der Form, die mit präzisen Methoden vorgenommen werden kann. Die geisteswissenschaftliche Ideenuntersuchung lehnt er ab. Dennoch führt er zur Rekonstruktion von philosophischen Annahmen, die durch die Erzählform ausgedrückt werden. Die vorgeschlagene Untersuchungsmethode versucht, einen Weg von der Erzählform zum ausgedrückten Inhalt zu gehen. Sie stellt eine Weise, Form und Inhalt zu vereinen, dar; es gibt noch weitere Wege, die in die gleiche Richtung führen. Ich werde im folgenden Abschnitt versuchen, einem anderen nachzugehen. 6.3 Syntaxstrukturen und implizites Wissen Der Unterschied von Äußerungen, die subjektives Wissen, und denen, die intersubjektives Wissen mitteilen, ist eine Differenz der Perspektive, aber auch des Bereichs, über den gesprochen wird. Die ersten vermitteln Wissen über das Subjektive des Sprechers; die zweiten beziehen sich auf gesellschaftlich geformte Sachverhalte. Die ersten sind gesellschaftlich nicht kontrollierbar und nicht bezweifelbar; aber es kann gegen sie Einspruch erhoben werden. Die zweiten werden von der Gesellschaft kontrolliert; sie können nur mit Hilfe der üblichen zugelassenen Prüfungsmethoden kontrolliert und, wenn die Prüfung negativ verlaufen ist, zurückgewiesen werden. Wenn meine Überlegungen zutreffen, müßte sich der Unterschied zwischen subjektivem und intersubjektivem Wissen auch daran aufweisen lassen, wie Äußerungen, in denen Wissen ausgedrückt wird, von Seiten der Dialogpartner abgelehnt werden. Wenn die syntaktische Struktur einer Äußerung die Personenbindung selbst angibt, gibt sie gleichzeitig mit an,
6.3 Syntaxstrukturen und implizites Wissen
213
auf welche Weise das ausgedrückte Wissen zurückgewiesen werden kann: durch Einspruch oder durch Nachweis von Falschheit. Es ist also bei weitem keine Frage des Stils, ob eine Erzählung in der ersten Person oder in der dritten Person formuliert wird. Es ist vielmehr eine Frage des Bereichs, über den man Wissen ausdrücken, und eine Frage der Kritik, die man an diesem Wissen zulassen will. Es gibt zu jeder syntaktischen Form mindestens eine alternative grammatische Form, die den gleichen expliziten Inhalt auszudrücken fähig ist. Warum wird die eine der anderen (oder den anderen) vorgezogen? Unter intersubjektivem Aspekt ist die Wahl einer syntaktischen Form in stilistischen, rhetorischen oder pragmatischen Intentionen begründet. (Dies kann wiederum bestimmte Gründe, z. B. psychologische, haben.) Unter subjektivem Aspekt ist dies nicht der Fall: Eine Syntaxform enthält implizit ein zusätzliches Wissen, das von der alternativen Form nicht ausgedrückt wird. Wenn der Sprecher sich für die eine Syntaxform anstelle der anderen entscheidet, dann geschieht dies unter subjektivem Aspekt, deshalb, weil er das implizite Wissen zusätzlich zu verwenden beabsichtigt. Wenn Äußerungen unter dem Aspekt subjektiven Wissens rezipiert werden, eröffnet sich eine große Zahl von Ausdrucksmöglichkeiten syntaktischer Formen. Ich werde im folgenden, selbst wenn dies höchst unvollständig und in Andeutungen geschieht, zeigen, daß syntaktische Formen eine Reihe von Annahmen über das mitgeteilte Wissen zum Ausdruck bringen können. Diese Annahmen sind je nach Syntaxform verschieden. Über die Ausdrucksmöglichkeiten syntaktischer Formen kann man folgende Annahmen aufstellen: 1. Sie werden unter dem Aspekt subjektiven Wissens rezipiert und dem Sprecher zugeschrieben. 2. Sie fügen dem mitgeteilten weiteres Wissen hinzu, indem sie bestimmte Annahmen überaus mitgeteilte Wissen enthalten. 3. Die hinzugefügten Annahmen sind für die jeweilige Syntaxform spezifisch; andere Syntaxformen können sie nicht zum Ausdruck bringen. Syntaktische Strukturen lassen sich mit Hilfe der Annahmen, die sie ausdrücken, kennzeichnen. Die Wahl syntaktischer Formen ist nicht beliebig: Sie kann durch die Annahmen, die Syntaxformen ausdrücken, eingeschränkt und in manchen Fällen sogar vorherbestimmt werden. Die Annahmen, die Syntaxformen ausdrücken, können selbst Thema des Dialogs werden. Dies ist z. B. der Fall, wenn sie vom Dialogpartner zurückgewiesen werden. Als Beispiel ein (unrealistisches) Dialogfragment:
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6 Perspektiven
"Wärter: „Könnten Sie in Ihre Zelle zurückgehen?" Häftling: „Sie können mir ruhig befehlen". Nehmen wir an, der Wärter spreche ohne Ironie, in einem beiläufigen Tonfall. Der Häftling interpretiert die Äußerung des Wärters unter dem Aspekt des subjektiven Wissens. Die Äußerung spricht de facto, unter den Bedingungen einer Haftanstalt, einen Befehl aus. Die syntaktische Form der rhetorischen Frage drückt die Annahme aus, daß man aufgrund der persönlichen Beziehungen der beiden Partner von den institutionellen Zwängen absehen und eine Verhaltensweise als Gefallen erbitten kann. Die Annahme ist subjektiv sicheres Wissen; unter intersubjektivem Aspekt ist sie bezweifelbar. Der Rezipient erkennt das subjektive Wissen nicht an35. Die Syntaxform der rhetorischen Frage ist unter intersubjektivem Aspekt, den der Rezipient einnimmt, unangemessen. An dem zitierten Beispiel läßt sich, wenn man es um eine Dialogrunde fortsetzt, eine scheinbar paradoxe Grundstruktur aufweisen, die Dialoge im allgemeinen kennzeichnet. Lassen wird die beiden Partner wie folgt fortfahren: Wärter: „Das war auch ein Befehl." Häftling: „Nein, eine Bitte." Wer hat recht? Beide, aus folgendem Grund: Der Häftling interpretiert die Äußerung des Wärters weiterhin unter subjektivem Aspekt, der Wärter nimmt in dieser Dialogrunde hingegen den intersubjektiven Aspekt ein. Unter dem zweiten Aspekt drückt die rhetorische Frage tatsächlich keine Annahme aus; sie ist nicht mehr als ein Befehlssatz, der in der Frageform ausgesprochen wird. Aber wenn die Äußerung unter dem Aspekt subjektiven Wissens interpretiert wird, kann der Rezipient dem Sprecher das subjektive Wissen, das sie ausdrückt, zuschreiben36. Ich werde im folgenden einige syntaktische Formen diskutieren, unter drei Gesichtspunkten: 1. in welchen Merkmalen eine Äußerung, die als Ausdruck subjektiven Wissens aufgefaßt wird, sich von einer gleichlautenden Äußerung, die unter intersubjektivem Aspekt interpretiert wird, unterscheidet; 2. welche zusätzlichen Annahmen eine Syntaxform unter subjektivem Aspekt ausdrückt; 35 36
Die Reaktion des Häftlings wäre nicht verständlich, wenn man nicht annehmen würde, daß er das implizit ausgedrückte subjektive Wissen kennt. Bei der Untersuchung literarischer Texte ist die Rekonstruktion von impliziten Annahmen an den Textstellen unerläßlich, an denen subjektives Wissen ausgedrückt wird.
6.3 Syntaxstrukturen und implizites Wissen
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3. auf welche Weise die zusätzlichen Annahmen zurückgewiesen werden können. 6.3.1 Aussagesätze im Indikativ Aktiv Ich unterscheide zwei Arten von Aussagesätzen mit gleicher Syntaxstruktur: Sätze über beobachtbare Sachverhalte (Beispiel (1)) und interpretative Sätze (Beispiel (2)). (1) Der Gegenstand 0 ist eine Zitrone. (2) A's Handlung ist nett. Interpretation unter intersubjektivem Aspekt: ,Zitrone' ist in (1) ein verbales Kennzeichen, das den Gegenstand 0 denotiert. 0 weist mehrere Merkmale auf, die in der Sprachgemeinschaft als Merkmale von ,Zitrone' gelten und deren Aufweis an 0 die Zuordnung von ,Zitrone' rechtfertigen. Aufgrund der Zuordnung des Kennzeichens wird 0 in Systeme von Kennzeichen, z. B. in Systeme von Frucht-, Geschmacks-, Gegenstands- und Formkennzeichen integriert. In (2) ist A's Handlung ein Ausdruck von Nettsein: ,nett' ist ein sprachliches Kennzeichen, das eines oder mehrere Merkmale von A's Handlungen denotiert. Diese Merkmale nehmen auf das Kennzeichen ,nett* Bezug. Die Handlung von A exemplifiziert das Kennzeichen ,nett'. Dieses systematisiert die entsprechenden Merkmale der Handlungen und integriert sie in Systeme von Merkmalen zur Charakterisierung von Handlungen. Auch die Handlungskennzeichen befinden sich selbst in Kennzeichensystemen (z. B. in Bewertungssystemen [wie ,unfreundlich' — ,zuvorkommend' oder,unangenehm' — »erfreulich' etc.]). Interpretation unter subjektivem Aspekt: Stellen wir uns zunächst Umstände vor, unter denen (1) als Ausdruck von subjektivem Wissen aufgefaßt wird: Auf dem Tisch liegt ein birnenförmiger Gegenstand grüner Farbe37. A darf ihn nicht berühren. 0 sei nach dem Urteil aller Personen, die 0 sehen, eine Avocado. Nur A ist der Meinung, daß 0 eine verformte und unreife Zitrone sei, und äußert die Aussage (1). A macht aufgrund seines subjektiven Wissens, nach dem er zu der Überzeugung gekommen ist, daß 0 eine Zitrone sei, folgende Annahmen: 37
Die etwas künstlichen Bedingungen geben dem Beispiel einen fiktiven Charakter. Dieser kann beseitigt werden, wenn man andere Beispiele der gleichen Struktur zitiert; z. B. Gegenstände, die aus großer Entfernung oder bei hoher Geschwindigkeit wahrgenommen werden; oder schwer identifizierbare Gegenstände, die bei Grabungen gefunden werden; oder Lebensmittel, die man zum ersten Mal in einem Schaufenster sieht, etc.
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Das Kennzeichen ,Avocado* ist auf 0 nicht anwendbar. Als Zitrone hat 0 nicht seine gewöhnlichen phänomenalen Eigenschaften; sie hat ihre normale Form verändert, und ihre Farbe ist nicht die ihrer üblichen Erscheinung (Annahme 1). Beide Veränderungen sind ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Der Gegenstand 0 ist nicht selbst eine Avocado; er repräsentiert diese nur: Er besitzt zwar einige Merkmale — die Birnenform und die grüne Farbe —, die durch das sprachliche Kennzeichen ,Avocado' denotiert werden. Aber nur die visuellen Merkmale werden unter das Kennzeichen ,Avocado' subsumiert. A nimmt an, daß 0 anders als durch visuelle Merkmale gekennzeichnet werden kann, z. B. durch den Geschmack und die Härte, die A beim Anblick von 0 spun. Die nicht-visuellen Merkmale sind die unverfälschten Kennzeichen von 0. Der Gegenstand wird wesentlich aufgrund dieser beiden nicht-visuellen Kennzeichen durch das Etikett ,Zitrone' denotiert (Annahme 2). Die Annahmen l und 2 kann man in folgender Weise zusammenfassen: Das von den anderen Personen verwendete Etikett ,Avocado' denotiert die visuellen Kennzeichen von 0. Der Gegenstand selbst wird durch das Etikett ,Zitrone' denotiert. Das gesellschaftlich verwendete Etikett denotiert nur das, was 0 repräsentiert; das von A gewählte Etikett denotiert den tatsächlichen Gegenstand 0. Die beiden Annahmen werden in einer Argumentation entwickelt, die allein der Eigen-Kontrolle des Individuums unterworfen ist38. Auch für die Interpretation von (2) unter subjektivem Aspekt gehe ich von einer Beispiel-Situation aus: Angenommen den Fall einer Handlung der Person P, die alle Dialogpartner als außerordentlich unfreundlich ansehen. Nur A macht eine Ausnahme und äußert (2). Die Annahme, die A aufgrund seines subjektiven Wissens aufstellt, läßt sich analog zu (1) diskutieren. P's Handlung exemplifiziert für die Sprachgemeinschaft das Kennzeichen ,unfreundlich*. A nimmt an, daß die Merkmale von P's Handlung, die auf das Kennzeichen Bezug nehmen und von diesem denotiert werden, nicht die eigentlichen Merkmale sind. A vermutet, daß sie entstellt worden sind (z. B. durch exzessive Schüchternheit, Angst, durch Vorurteile der anderen etc.). Die erkennbaren Merkmale sind nur Repräsentatio38
Diese Analyse trifft auch auf die Personen zu, die ihrer Umgebung unter einem banalen Alltagsnamen bekannt sind, die aber von sich selbst wissen, daß sie Napoleon oder Adenauer sind.
6.3 Syntaxstrukturen und implizites Wissen
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nen von Merkmalen. Die echten, eigentlichen Merkmale exemplifizieren hingegen das Etikett ,nett'39. (1) und (2), unter subjektivem Aspekt interpretiert, werden nicht auf die gleiche Weise zurückgewiesen wie unter intersubjektivem Aspekt: Der Aufweis von beobachtbaren Kennzeichen wird vom Sprecher gerade abgelehnt. Eine argumentative Methode mit Rückgang auf Tatsachen ist dadurch ausgeschlossen. Die Zurückweisung kann daher nicht auf Beobachtbares, sondern nur auf die beiden impliziten Annahmen zielen. (1) wird abgelehnt, indem man z. B. sagt: „Nein, du täuschst dich — es ist tatsächlich eine Avocado". Oder: „Die Frucht ist so, wie sie ist". Oder: „Du siehst etwas, was gar nicht da ist" etc. (2) wird zurückgewiesen durch Äußerungen wie: „A's Handlung ist unfreundlich, nichts anderes". Oder: „A hat sich so gezeigt, wie er ist". Oder „Hinter A's Handlung ist nichts anderes zu suchen" etc.40 6.3.2
Zeitformen der Vergangenheit
Ich gebe drei Syntaxformen an, mit denen ein Sachverhalt, der sich in der Vergangenheit befindet, ausgedrückt wird: (3) A war grauhaarig. (4) A ist grauhaarig gewesen. (5) A, schon grauhaarig, .. . In der Form (5) wird ,grauhaarig* als Apposition zusammen mit einem temporalen Adverb verwendet. In Äußerungen, die unter intersubjektivem Aspekt interpretiert werden, kann man zwischen den drei Formen variieren, ohne daß wesentliche Unterschiede im ausgedrückten Wissen bestünden. Diese Behauptung enthält allerdings nicht die Annahme, daß die Formen (3) bis (5) unterschiedslos, womöglich beliebig verwendet werden können. Zum einen ist jede Form durch erhebliche stilistische und rhetorische Unterschiede im Vergleich zu den anderen ausgezeichnet. Zum anderen scheinen zwischen den drei Formen auch bedeutende sachliche Differenzen zu bestehen: Es kann angenommen werden, daß jede Form (zumindest (3) und (4)) für den Ausdruck einer besonderen Art von Vergangenheitsdarstellung geeignet ist. H. Weinrich z. B. unterscheidet zwei verschiedenartige Zeitformen: die Erzähltempora und die besprechenden Tempora, die durch zwei 39
40
Dies ist die Struktur des .Aschenputtel-Motivs4: der Entdeckung einer wertvollen Persönlichkeit unter einem unscheinbaren, irreführenden Äußeren. Eine andere Form der Ablehnung der impliziten Annahmen, allerdings die massivste, besteht darin, den Sprecher nicht ernst zu nehmen.
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6 Perspektiven
Tempusgruppen ausgedrückt werden41. Weinrichs These mag spekulativ sein, aber es besteht kein Zweifel, daß unter intersubjektivem Aspekt zwischen (3) und (4) ein Unterschied in der Zeitdarstellung besteht. Aber diese Differenz liegt nicht darin, daß (3) und (4) unterschiedliche implizite Annahmen enthalten. Es geht mir darum zu zeigen, daß dies hingegen unter subjektivem Aspekt der Fall ist. Interpretation unter subjektivem Aspekt: (3) beschreibt einen Sachverhalt in der Vergangenheit, und zwar einen solchen Sachverhalt, wie er in der Erinnerung des Sprechers besteht. Angenommen, A wäre tatsächlich nicht grauhaarig gewesen, der Sprecher habe aber eine klare Erinnerung daran, daß A grauhaarig war. In diesem Fall ist der Satz, unter subjektivem Aspekt interpretiert, nicht falsch; er ist ein wahrer Satz über das subjektive Wissen des Sprechers. Die implizite Annahme, die in (3) enthalten ist, lautet: Dieser Satz handelt von meiner eigenen Erinnerung. Daß der Sprecher diese Annahme implizit — wenn auch nicht in jedem Fall bewußt — aufstellt, läßt die Reaktion erkennen, wenn man ihm Fotos zeigt, auf denen A nicht grauhaarig ist. Er sagt z. B.: „A ist auf dem Foto tatsächlich anders, aber ich sehe ihn noch grauhaarig vor mir". Die Falschheit von Sätzen über die eigene Erinnerung des Sprechers ist nicht nachweisbar. (3) wird auf andere Weise zurückgewiesen als durch Herbeibringen von Beweisstücken: durch die Ablehnung der impliziten Annahme. Die Dialogpartner erklären die Annahme für ungültig, indem sie z. B. sagen: „Für dich vielleicht, aber darum geht es nicht", oder: „Was nur in deinem Gedächtnis vorgeht. . ." Die implizite Annahme von (3) ist auch in (4) und (5) enthalten. (4) und (5) drücken jeweils eine weitere Annahme aus. Nehmen wir folgendes Beispiel zur Erläuterung von (4): Eine Gesprächsrunde unterhält sich über A, einen gemeinsamen Bekannten. Ein Sprecher äußert (4). Die Reaktion der anderen kann sein: „Wieso, hat er sich inzwischen verändert?" In (4) ist die Annahme enthalten, daß der beschriebene Zustand zu dem Zeitpunkt, auf den sich die Äußerung bezieht, bestand, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr besteht. (4) kann wie (3) zurückgewiesen werden, indem die Annahme abgelehnt wird, daß sich die Äußerung auf die Erinnerung des Sprechers bezieht. Die Ablehnung kann aber auch die Annahme einer Veränderung der Haarfarbe treffen. Schließlich ist eine Kombination von beiden Ablehnungsmöglichkeiten denkbar. Im letzten Fall weist man (4) zurück, indem man z. B. sagt: „Vergiß deine Erinnerung: A war blond, und seine Haarfarbe hat sich nie verändert!" 41
H. Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt.
6.3 Syntaxstrukturen und implizites Wissen
219
(5) ist ein Beispiel für die Kennzeichnung einer Person mit Hilfe eines Beschreibungsprädikats, das zusammen mit einem temporalen Adverb als Apposition verwendet wird. Das Beispiel enthält keine grammatische Zeitform, aber einen temporalen Aspekt. Ich gehe von dem gleichen Beispielfall aus wie bei (4). Eine Person sagt: „A, schon grauhaarig, versuchte, in den Schuldienst zu kommen". Der Sprecher verfolgt eine bestimmte Absicht, dadurch daß er die Apposition verwendet. Er stellt den Sachverhalt dar, daß A in den Schuldienst gelangen wollte. Die Apposition beschreibt keinen anderen, eigenen Sachverhalt, sondern sie charakterisiert diesen einen Sachverhalt. Sie drückt aus, daß A's Grauhaarigkeit ein wesentliches Kennzeichen seiner Bemühung ist, Lehrer zu werden. Der Sprecher macht die implizite Annahme: Die in der Apposition ausgedrückte Eigenschaft gibt dem dargestellten Sachverhalt einen temporalen Aspekt, und dieser wird als wesentliches Merkmal des Sachverhalts behauptet. Die Ablehnung von (5) kann von der Art wie die Ablehnung von (3) sein. Weiterhin kann sie die implizite Annahme zurückweisen, daß der dargestellte Sachverhalt wesentlich unter zeitlichem Aspekt zu kennzeichnen sei. Im zweiten Fall sagt man z.B.: „So alt war A aber noch gar nicht!" oder: „A war noch ganz spannkräftig", oder: „Ich sehe zwischen A's Haarfarbe und seinen beruflichen Plänen keinen Zusammenhang", oder: „Was macht es, daß A grauhaarig war!" Schließlich kann man bestreiten, daß das zitierte Kennzeichen, die grauen Haare, überhaupt eine Charakterisierung unter temporalem Aspekt erlaubt. Man kritisiert dabei die Struktur der Annahme, die das Merkmal der Haarfarbe für eine Altersangabe verwendet. Die Kritik kann man z. B. mit den Worten äußern: „A hatte schon mit 20 Jahren graue Haare". 6.3.3
Passiv
Eine Aussage, die anstatt im Aktiv in der Passivform ausgedrückt wird, erhält unter intersubjektivem Aspekt besondere stilistische und rhetorische Eigenschaften: Die Betonung der Handlung, der Einwirkung einer Person auf die andere wird verändert: die stilistische Variation modifiziert den Eindruck, den der Text hervorruft. Aber die Aussage im Passiv unterscheidet sich nicht durch einen anderen Inhalt von derjenigen im Aktiv. Nehmen wird das Beispiel von zwei Personen, A und B. B steckt A mit einer Virusgrippe an. Der Passivsatz lautet: (6) A ist von B angesteckt worden. Interpretation unter subjektivem Aspekt: In der Aktivform bleibt offen, welche Art von Beziehung zwischen A's Krankheit und B's Handlungen
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6 Perspektiven
besteht: Die Ansteckung kann ein Natureffekt sein, B's Handlungen können auf ein anderes Ziel gerichtet sein. In der Passivform ist diese Unklarheit beseitigt: Das Anstecken wird nicht mehr als ein möglicher Nebeneffekt von B's Handlungen dargestellt, als ein mehr oder weniger zufälliges Resultat, das dadurch entstanden sein kann, daß B ein anderes Ziel verfolgte. (6) drückt folgende Annahme aus: B hat eine Handlung vollzogen, die auf A die eindeutige Wirkung hatte, daß A B's Krankheit bekam. Der Sprecher bringt zum Ausdruck, daß er glaubt, es sei eine AnsteckungsHandlung von A vollzogen worden. Der Unterschied zur Aktivform besteht in der Annahme, daß B mit der Ansteckung eine besondere, identifizierbare Handlung vollzogen hat. Die Annahme involviert die weiteren Annahmen, daß B nicht unwissentlich oder unbewußt gehandelt hat, sondern daß er für eine Handlung verantwortlich ist. Der Sprecher behauptet, daß B sich über seine Handlung nicht hat täuschen können und daher zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wenn man sagt: „Bello hat Herrn Grob gebissen", läßt man offen, ob Bello nicht auch Herrn Freundlich oder Fräulein Lieb hätte beißen können. Die Äußerung: „Herr Grob ist von Bello gebissen worden" enthält unter subjektivem Aspekt die implizite Annahme, daß Bello Herrn Grob gezielt gebissen habe42. Angenommen, die Anwesenden seien übereingekommen, daß der Biß aus reinem Zufall Herrn Grob getroffen hätte, wäre der Passivsatz unter intersubjektivem Aspekt nicht zurückweisbar; er ist im Vergleich zum Aktivsatz nicht mehr als eine Stilvariante. Aber unter subjektivem Aspekt könnte die implizite Annahme abgelehnt werden, z. B. mit der Bemerkung: „Aber das war doch nur Zufall". Die gleiche Art der Zurückweisung kann bei der Äußerung (6) gewählt werden: Angenommen, A äußert (6) in der Ich-Form: „Ich bin von B angesteckt worden", dann hat B drei Möglichkeiten, die Äußerung zurückzuweisen. Einmal kann er bezweifeln, daß er eine Krankheit auf A übertragen hat; dies kann durch Rückgang auf nachweisbare Fakten geschehen (z. B. indem gezeigt wird, daß A eine andere Krankheit hat als 42
Die Passivform hat, unter subjektivem Aspekt, die Eigenschaft, daß sie, intuitiv gesprochen, die Handlung verstärkt: Die Handlungsintention wird deutlich, die Richtung der Handlung ist nicht-zufällig, der Handlungseffekt eindeutig. Die Passivform stellt die Beziehung klar, die zwischen Handelndem und Objekt des Handelns besteht. Noch ein weiteres Beispiel: „Der Apfel wird von Herrn Hungrig genommen." Herr Hungrig hat es eindeutig auf den Apfel abgesehen; sein Griff ist zielsicher und überlegt. Vgl. dagegen: „Herr Hungrig nimmt sich den Apfel." Es bleibt offen, ob er nicht auch eine Banane oder eine Birne genommen hätte, ob er gedankenverloren seine Hand ausstreckt, ob er tatsächlich den Apfel wegnimmt (er könnte ja auch nur damit herumspielen).
6.3 Syntaxstrukturen und implizites Wissen
221
B). Zum anderen kann er die implizite Annahme zurückweisen. Die Berufung auf Beobachtbares reicht nicht dazu aus, A's Äußerung zurückzuweisen: Ob B eine Ansteckungs-//izm//wn£ vollzogen hat, selbst wenn Übereinkunft darüber besteht, daß B A angesteckt hat, ist ein Problem, das aufgrund von Interpretationen entschieden werden muß. B's Ablehnung kann sich als Protest äußern: „Das habe ich doch nicht absichtlich getan", oder: „Ich wußte selbst nicht einmal, daß ich krank war" etc. Schließlich kann B die Annahme kritisieren, daß es überhaupt Anstekkungs-Handlungen geben könne. B sagt dann z.B.: „Man kann doch nicht jemanden anstecken, wie man ihm ein Bein stellt". 6.3.4
Rhetorische Frage
Die rhetorische Frage ist unter intersubjektivem Aspekt in erster Linie eine stilistische Variation der Behauptung. Nehmen wir folgendes Beispiel, das für eine Verwendungsweise der rhetorischen Frage typisch ist (allerdings nicht für andere Gebrauchsweisen): (7) Liebe ich dich nicht? Die rhetorische Frage ist gleichbedeutend mit der Behauptung: „Ich liebe dich doch!" Unter intersubjektivem Aspekt wird nicht angenommen, daß die angesprochene Person eine entsprechende Wissenslücke hat. Unter subjektivem Aspekt enthält (7) die Annahme, daß zwischen dem Sprecher und der Angesprochenen eine Lücke besteht: eine emotionale Lücke (Annahme 1). Der Sprecher hebt gerade die Tatsache hervor, die er erfragt: die Angesprochene kennt seine Liebe. Aber er bezweifelt, daß sie emotional mit ihm übereinstimmt, z. B. daß ihr eigenes Engagement ebenso wie das seine ist. Er macht bei der Wahl der rhetorischen Frage die Annahme, daß die Übereinstimmung der Emotionen erzeugt wird, wenn er das Wissen seiner Partnerin über seine Liebe besonders hervorhebt (Annahme 2). Versuchen wir, eine Gegenprobe zu machen. Angenommen, der Sprecher würde die erste Annahme nicht machen, er würde also die Übereinstimmung in den Emotionen nicht bezweifeln. Warum würde er dann überhaupt von seinem Gefühl sprechen? Eine Wissenslücke besteht nicht; er würde also darüber höchstens sprechen, um seine Liebe zu zitieren. Er könnte in diesem Fall andere Syntaxformen als die rhetorische Frage verwenden; er könnte z. B. sagen: „Wie du weißt, liebe ich dich . . ." Wenn der Sprecher die zweite Annahme nicht machen würde, wäre es nicht verständlich, warum er anstelle der rhetorischen Frage nicht eine Formulierung wählte, die seinen Wunsch nach emotionaler Übereinstimmung
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6 Perspektiven
explizit ausdrückte, wie z. B.: „Glaube mir endlich, wie sehr ich dich liebe" .. .+3 Ich erwähne drei Arten der Ablehnung, mit denen (7) zurückgewiesen werden kann. (Dabei will ich nicht den Fall berücksichtigen, daß es möglicherweise nicht stimmt, daß die Angeredete über die Liebe des Sprechers informiert ist, denn dieser Einwand ist nicht spezifisch für die rhetorische Frage; er kann auch gegen die Behauptung vorgebracht werden): 1. Man kann die erste Annahme ablehnen, indem man z. B. sagt: „Was wirfst du mir eigentlich vor?" oder: „Ich liebe dich doch auch ...". oder: „Aber ich bin doch glücklich". 2. Die zweite Annahme kann für ungültig erklärt werden, während die erste angenommen wird. Die Angeredete gibt also zu, nicht das gleiche Engagement zu haben wie der Sprecher und läßt sich durch die Frage nicht bewegen, diese Differenz aufzugeben. Sie sagt z. B.: „Natürlich liebst du mich ...", oder: „Ich weiß gar nicht, warum du das noch einmal sagen mußt". Die rhetorische Frage wird auf diese Weise zum Scheitern gebracht. Sie gelingt nur, wenn die zweite Annahme bestätigt wird. 3. Man weist die erste und die zweite Annahme zurück: Man gibt nicht zu, daß eine emotionale Lücke besteht, und man lehnt die Annahme ab, daß die Frage eine derartige Lücke zu schließen imstande wäre. Dies ist der Fall, wenn man auf (7) antwortet: „Aber das weiß ich doch", oder: „Warum beunruhigst du dich?" (als echte Frage verstanden) oder: „Du brauchst dich doch nicht aufzuregen". 6.3.5
Befehlssatz in Frageform
Ich bin oben (S. 214) bereits kurz auf den in Frageform ausgesprochenen Befehlssatz eingegangen; ich füge hier noch einige Bemerkungen hinzu. Nehmen wir folgende zwei Fälle an. A sagt zu seiner Reinmachefrau: (8a) Könnten Sie jetzt auch noch die Badewanne reinigen? Der Unteroffizier sagt (ohne Ironie) zu einem Rekruten: (8b) Würden Sie wieder in die Reihe zurücktreten? Beide Fälle unterscheiden sich darin, daß im zweiten Fall die angesprochene Person die in der Frage erbetene Handlung auszuführen gezwungen 43
Der Grund, warum rhetorische Fragen verwendet werden, ist vermutlich vor allem in ihrer Gebrauchsweise unter subjektivem Aspekt zu suchen. Diese ermöglicht einerseits eine psychische Wirkung auf die Dialogpartner und andererseits eine diskrete Form, über Dinge zu sprechen, die man sich scheut, offen auszudrücken.
6.3 Syntaxstrukturen und implizites Wissen
223
ist, im ersten nicht. Aber auch im ersten Fall ist sie nicht frei in ihren Reaktionen, weil sie weiß, daß man von ihr die erbetene Handlung erwartet, und sie sich weitgehend verpflichtet hat, die gestellten Erwartungen zu erfüllen. Ich vermute, daß sich entsprechend dem verschiedenen Charakter des Zwangs die impliziten Annahmen, die (8a) und (8b) unter subjektivem Aspekt enthalten, unterscheiden. In (8a) wird implizit die Annahme ausgedrückt, daß die Verpflichtung der angesprochenen Person, die mit der Aufnahme des Arbeitsverhältnisses entsteht, umgewandelt wird in eine Art moralischer Verpflichtung gegenüber dem Sprecher: Die Reinmachefrau soll die Badewanne so reinigen, als würde sie dies dem Sprecher zu Gefallen tun; der Sprecher kann den Gefallen einfordern wie eine moralische Schuld. Das einfache Verhältnis von Dienstleistung und Bezahlung wird ersetzt durch eine komplexe Abhängigkeitsbeziehung moralischer Art von Verpflichtung, Schuld und Erfüllung, aus der das ökonomische Verhältnis entfernt wird. Dies läßt sich an den Reaktionen des Sprechers auf eine negative Antwort der Reinmachefrau erkennen. Er kann nicht einfach sagen: „Dann bezahle ich Sie eben nicht", oder: „Ich suche mir dann jemanden anderen". Er wird sich vielmehr verletzt fühlen, d. i. moralisch betroffen. Die Reinmachefrau kann die implizite Annahme ablehnen, indem sie auf den ökonomisch fundierten Aufforderungscharakter der Äußerung verweist. Sie sagt z. B.: „Gut, ich habe noch 25 Minuten übrig", oder sie führt den Aufforderungscharakter explizit wieder ein, indem sie sagt: „SW/ich die Wanne heute noch scheuern?" Die Annahme, die in (8b) implizit enthalten ist, kann sich von der oben erwähnten unterscheiden. Angenommen, der Angeredete sei ein Mitglied der Fußballnationalmannschaft; er leiste gegenwärtig seinen Militärdienst ab und werde dabei mit dem größten Entgegenkommen und mit Hochachtung behandelt. Dann drückt (8b) unter subjektivem Aspekt die Annahme aus, daß die Beziehung, in der sich der Sprecher zum Angesprochenen befindet, durch offiziellen, institutionellen Zwang dem Dialog auferlegt worden ist, daß aber die wirkliche Beziehung zwischen den beiden Personen der militärischen Befehlsstruktur entgegensteht. Der Sprecher gibt zu verstehen, daß nach seiner Ansicht sich die persönliche Beziehung zwischen ihm und dem Angeredeten mit dem offiziellen Verhältnis von Befehlsgeber und -empfänger nicht verträgt: daß er dieses ablehnt und in eine andere Beziehung umwandelt. Es werden zwar weiterhin Befehle ausgesprochen, weil dies unvermeidlich ist; aber der Unteroffizier ist in der neuen Beziehung nicht mehr befehlsgebende Gewalt und der Fußballspieler nicht der zur Ausführung
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6 Perspektiven
verpflichtete Untergebene: Die Befehlsausgabe und die Ausführung werden simuliert. Die echte Befehlsstruktur wird ersetzt durch eine nachgeahmte. Mit (8b) spricht der Unteroffizier seine Annahme aus, daß die militärische Beziehung dem Anschein nach beibehalten wird, daß sie aber nicht mehr ist als deren Nachahmung. Dies bedeutet nicht, daß es sich um ein Spiel handelt, wie z. B. bei Eltern, die sich zum Spaß von ihren Kindern als Kinder behandeln lassen. Denn der Fußballspieler bleibt Untergebener, der Unteroffizier Vorgesetzter: die militärische Beziehung bleibt intersubjektiv gesehen bestehen. Nur unter subjektivem Aspekt wird sie simuliert. Wenn der Fußballspieler die Annahme akzeptiert, wird er alle Befehle ausführen, als sei keine Veränderung eingetreten. Er kann aber (8b) zurückweisen und auf diese Weise die implizite Annahme ablehnen; dann verweigert er die Nachahmung der militärischen Beziehung. Er sagt z. B.: „Sie können mir ruhig befehlen; das ändert ja doch nichts ..." In diesem Fall wünscht er nicht, ein besonderes Verhältnis zu seinem Vorgesetzten zu unterhalten; er insistiert auf der Befehlsstruktur und lehnt es ab, diese nur nachzuahmen. Oder er ist feindlich gegenüber der militärischen Beziehung überhaupt eingestellt und protestiert gegen das Befehlsverhältnis allgemein. Seine Ablehnung der militärischen Beziehung schließt zugleich die Ablehnung der impliziten Annahme ein. Er sagt z.B.: „Warum eigentlich dies alles ..." oder lakonisch: „Von mir aus ...", oder: „Befehl ist ja doch Befehl".
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Literaturwissenschaftlicher Exkurs: Wahrheit oder Fiktion? Zu Gottfried Gabriels „Fiktion und Wahrheit"1
Lassen sich Methoden und Resultate der sprachanalytischen Theorie auf die Literaturwissenschaft übertragen? G. Gabriel unternimmt einen Versuch, den Wahrheitsanspruch der Literatur (Dichtung und Trivialliteratur) mit Hilfe einer semantischen Theorie der fiktionalen Rede zu rechtfertigen. Formale Theorien, in die Literaturwissenschaft eingeführt, erheben dieser gegenüber den Anspruch, mit begrifflicher Schärfe und methodischer Stringenz deren Probleme präzise zu explizieren. Ihre Ausarbeitung stellt keine besonderen Probleme, das ist ihr Vorteil. Die ganze Schwierigkeit liegt in der Begründung ihres Anspruchs. G. Gabriels Versuch, den Wahrheitsbegriff der Semantik für die Interpretation literarischer Texte fruchtbar zu machen, ist keine Ausnahme dieser Regel. Nach der Darstellung von Gabriels Argumentationsgang werde ich zunächst die Ausarbeitung seiner Theorie kurz besprechen und dann ausführlich auf seinen Anspruch, das Wahrheitsproblem der Literatur zu explizieren, eingehen.
7.1
Darstellung des Argumentationsgangs
Literatur erhebt einen Wahrheitsanspruch. Zugleich hat sie fiktionalen Charakter. Wie ist beides in Einklang miteinander zu bringen (10)? Die Frage will Gabriel in folgender Weise beantworten: Im ersten Teil wird „fiktionale Rede" semantisch gekennzeichnet, im zweiten ihr Wahrheitsanspruch in der Literatur gerechtfertigt. Gabriel kennzeichnet fiktionale Rede, ausgehend von Freges Theorie der Kennzeichnungen und ihrer Weiterführung bei Strawson, mittels dreier Merkmale: 1
Deutsche Fassung meiner Rezension von G. Gabriel, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart 1975; meine Kritik ist erschienen auf englisch in Studies in: Language 3, l (1979).
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7 Literaturwissenschaftlicher Exkurs: Wahrheit oder Fiktion?
(1) Sie erhebt keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit. (2) Sie erhebt ebenfalls keinen Anspruch auf „Erfüllbarkeit der Prädikatoren an Subjektstelle und in quantifizierenden Ausdrücken" (21). (3) Sie tritt in nicht-behauptenden Sprechakten auf. Das Merkmal „nichtbehauptend" wird nach der Sprechakt-Theorie definiert: Von den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit der Sprechakt des Behauptens gelingt, muß keine einzige Bedingung erfüllt sein (46). In dieser Kennzeichnung sind zwei interessante Annahmen enthalten: Zum einen ist Fiktionalität kein Merkmal von Texten, sondern von der in Sprechakten gebrauchten Rede. Zum anderen ist fiktionale Rede weder wahr noch falsch; Wahrheitswerte kommen nur behauptendem Gebrauch zu. Fiktionale Rede selbst kann nicht wahr sein. Ist also der Wahrheitsanspruch der Literatur durch die Begriffsexplikation von fiktionaler Rede vernichtet? Der Ausweg, den Gabriel findet, nimmt seinen Ausgang von einer Unterscheidung des literarischen Texts in zwei Ebenen (weitgehend nach Beardsley): in die Ebene des Berichts und in die Reflexionsebene, die von generellen Sätzen konstituiert wird, die keine referenzialisierenden Ausdrücke enthalten (31). Nicht behauptend sind die Sätze auf beiden Ebenen. Die Sätze der Berichts-Ebene sind weder wahr noch falsch. Aber die Sätze auf der Reflexions-Ebene sind Aussagen, die einen Wahrheitswert haben können. Sie unterscheiden sich von behauptenden Sätzen durch eine ,Liberalisierung* der Sprechakt-Bedingungen: im Unterschied zu diesen muß die Verteidigungspflicht bei ihnen nicht erfüllt sein. Ein literarisches Werk muß nicht für die Wahrheit seiner Aussagen argumentieren (95). Die Aussagen auf der Reflexionsebene können explizit oder im Kontext impliziert sein, d. h. „durch Interpretation . . . aus expliziten und eventuell bereits gewonnenen impliziten Aussagen gewonnen werden" (90). Ihren Wahrheitsanspruch löst der Leser ein, aufgrund seines „Gesamtwissens" „als eines in der Lebenswelt stehenden Individuums, dessen Lebensgeschichte in die Beurteilung eingeht..." (96). Gabriel hält für ein wichtiges Ergebnis seiner Untersuchung, daß neben dem Anspruch auf Wahrheit eine andere Funktion der Literatur aufgedeckt wird: die Darstellung des Allgemeinen im Besonderen. Er unterscheidet dabei zwischen zwei Ansprüchen: (l)der Anspruch, „ein prädikativ Wesentliches im Besonderen adäquat darzustellen"; (2) der Anspruch „auf die gelungene Darstellung (Verkörperung) einer allgemeinen wesentlichen Aussage (Norm) im Besonderen" (97).
7.2 Kritik
227
Wenn die eindeutige Subsumierbarkeit eines Besonderen unter ein Allgemeines fehlt, liegt Unbestimmtheit vor (106). Gerade durch die Darstellung des Allgemeinen im Besonderen ermöglicht die Literatur Erkenntnisgewinn (107). Die Erkenntnis durch die Literatur kennzeichnet Gabriel als „klare" Erkenntnis, unterschieden von „distinkter" Erkenntnis (nach dem Begriffsgegensatz von Leibniz). Sie wird genau dann vermittelt, „wenn die Erkenntnis, daß die Darstellung des Allgemeinen im Besonderen adäquat ist, ihrerseits klar ist" (108).
7.2
Kritik
Mein Resume ist so angelegt, daß die Vorteile von Gabriels Untersuchung unmittelbar deutlich werden; fügen wir diejenigen hinzu, die noch nicht erwähnt wurden: Die Beurteilung, ob ein Text fiktional ist, hängt u. a. von Konventionen ab, nach denen Sprechakte des Aussagens vollzogen und rezipiert werden; die Theorie der fiktionalen Rede vermeidet strikt jede Existenzannahme; der Wahrheitsanspruch der Literatur läßt sich nur auf intuitivem Weg auffinden. Hinzu kommt der Vorteil einer klaren und übersichtlichen Darstellung in der Ausarbeitung. 7.2.1
Einzelkritik der Ausarbeitung
(1) Die fiktionale Rede wird ausschließlich durch ihre Abweichung von der behauptenden Rede, durch fehlende Ansprüche und Aufhebung von Verpflichtungen gekennzeichnet. Mittels der gleichen Abweichungen lassen sich aber auch andere Redeweisen charakterisieren, die man nicht als fiktionale bezeichnen kann: das Zitat, die Angabe von Paradigmen (z. B. als Grammatikbeispiele), metaphorische Redeweisen, der Vergleich (soweit sie referenzialisierbare Ausdrücke enthalten). Die Kennzeichnung gibt also höchstens notwendige Bedingungen für fiktionale Rede an. Ein wichtiges Merkmal von fiktionaler im Unterschied zu nicht-fiktionaler Rede scheint zu sein, daß man in fiktionaler Rede nicht-referenzialisierbare Ausdrücke so verwendet, als seien sie referenzialisierbar, wobei man weiß, daß sie dies nicht sind. D. Sperber hat diese Einsicht für die Mythenrezeption herausgearbeitet2. (2) Ist die Literatur davon befreit, ihren Wahrheitsanspruch verteidigen zu müssen? Nein: Oft werden Charakterdramen, Entwicklungsromane, Typen-Komödien, historische Romane, Verhaltensbeschreibungen 2
Dan Sperber, Le symbolisme en genoral.
228
7 Literaturwissenschaftlicher Exkurs: Wahrheit oder Fiktion?
z. B. in der erotischen Literatur (Sade, Laclos) als Demonstration einer allgemeinen Annahme aufgebaut. Sie setzen eine These und demonstrieren sie anhand der Erzählung. Dem Autor gegenüber kann die Verteidigung der These verlangt werden. Mit Gabriel bin ich einer Meinung, soweit er annimmt, daß die Verteidigungspflicht nicht auf wissenschaftlichem Wege wahrgenommen werden kann. Allgemein kommt es mir aussichtslos vor, eine einheitliche, auf alle literarischen Produkte zutreffende Form der Wahrheitsvermittlung „der Literatur" auszuzeichnen. Es scheint davon eine ganze Menge zu geben. (3) Ein wesentliches Merkmal der Literatur ist, daß vermittels der Form eines Berichts Reflexionen mitgeteilt werden, daß also die Berichtsebene nicht von der Reflexionsebene trennbar ist. Balzac beschreibt z. B. Dinge in einem Raum; die Anordnung der Dinge drückt eine Reflexion aus. Die Reflexion strukturiert den Bericht. Trennt man die Reflexion von dem Bericht über das Zimmer ab, geht die Strukturierung des Berichts verloren. Zugleich wird die Reflexion, die im Bericht an die Darstellung von Gegenständen gebunden und daher nicht-begrifflich ist, abstrakt. (4) Beide Varianten des Adäquatheitsbegriffs bleiben unscharf. Beide sind durch keinerlei einschränkende Bedingungen eingegrenzt. Aber lange nicht jede (selbst adäquate) Darstellung irgendeines prädikativ Wesentlichen in einem beliebigen Besonderen vermittelt Erkenntnisse. Dies scheint nur in besonderen Fällen möglich zu sein. Weiterhin: Nach welchen Kriterien wird beurteilt, ob eine Darstellung adäquat ist — nach Kriterien des Erkenntnisgewinns? Aber literarische Texte sind im allgemeinen keine philosophischen. Es wäre nicht angemessen, sie unter begrifflichem Aspekt zu beurteilen. Oder sollte die Adäquatheit der Darstellung nach literarischen Gesichtspunkten beurteilt werden? Aber dann bleibt vollkommen unklar, 1. wie die literarische Adäquatheit zu explizieren sei (eine Darstellung ist literarisch adäquat im Verhältnis wozu?), 2. wie eine literarisch adäquate Darstellung zu einem Erkenntnisgewinn führen könnte. 7.2.2
Grundsätzliche Einwände
Ich prüfe Gabriels Anspruch auf eine semantische Explikation des Wahrheitsproblems in der Literatur anhand von zwei Fragen: l. Kann literarische Fiktion mit dem semantischen Begriff der fiktionalen Rede verglichen werden ? Es gibt einen weiten Bereich der Literatur, in dem man literarische Texte nur verstehen kann, wenn man die vorkommenden Beschreibungen, Namen, Daten entschlüsselt und auf wirkliche Personen, Zustände, Ereignisse bezieht. Der Bezug auf pragmatische Umstände der
7.2 Kritik
229
Entstehung und/oder der Rezeption eines Werkes ist keineswegs immer ein außerliterarisches Verfahren. Für die Satire, politische Literatur, literarische Kampfschriften, Schlüsselromane, Deutungen einer Epoche (Beispiel : die Großwetterlage Europas bei Musil) ist der Bezug auf historische Individuen konstitutiv. In einem Sinn, der erst zu präzisieren ist, wird in diesen Beispielen ein Anspruch auf Referenzialisierbarkeit erhoben. Für die Erfüllbarkeit von Prädikatoren gilt die analoge Argumentation. Literarische Fiktionen können referenzialisierbar, erfüllbar und, wie oben (in 7.2.1) gesagt wurde, auch behauptend sein. Wir können zunächst feststellen: Es gibt mehrere Typen literarischer Fiktion. Auf einige von diesen trifft Gabriels Explikation nicht zu. Nehmen wir den Typus literarischer Fiktion, auf den Gabriels Kennzeichnung der fiktionalen Rede am besten zuzutreffen scheint: die literarischen Erfindungen, wie Moby Dick, die Liliputaner, Kommissar Maigret, Lolita etc. Die Kennzeichnung trifft zu, soweit wir einzelne Sätze aus den Romanen herausnehmen und untersuchen. Sobald wir aber den literarischen Kontext, in dem sie jeweils auftreten, einbeziehen, erkennen wir nicht mehr einfache Erfindungen, sondern statt dessen komplexe Zusammenhänge: Zu Moby Dick gibt es den Kapitän Ahab, der ihn jagt; die Liliputaner nehmen Gulliver gefangen; Maigret agiert in einem präzise beobachteten sozialen Milieu; Lolita .entsteht' durch die phantasievolle Formung von Humbert-Humbert. Literarische Erfindungen ändern ihren Status, sobald wir sie im Werkkontext betrachten. Sie erhalten eine Bedeutung für den Leser über den Reiz einer Erfindung hinaus, dadurch daß sie in einen komplexen Zusammenhang eingebunden sind. Der Begriff der literarischen Fiktion ist nicht mit dem semantischen Fiktions-Begriff vergleichbar. Denn er trifft nicht, wie in der Semantik, auf Aussagen (oder auf einzelne Sätze) zu. Literarische Fiktion muß als Fiktion eines gesamten Texts expliziert werden. Diese Bemerkung ist wichtig für die Einschätzung des Wahrheitsanspruchs der Literatur. Wir kommen damit zur zweiten Frage. 2. Ist der Wahrheitsbegriff der Literatur mit dem Wahrheitsbegnff der Semantik vergleichbar? Nach Gabriels Explikation kann der berichtende Teil3 eines Werks keinen Wahrheitsanspruch erheben, denn fiktionale Rede ist weder wahr noch falsch. Die Fiktion, die in komplexen Zusammenhängen auftritt, erhebt sehr wohl einen Wahrheitsanspruch, z. B. für die Jagd Ahabs auf Moby Dick, die Gefangennahme Gullivers durch die 3
Meine in 7.2.1 vorgebrachte Kritik an der Unterscheidung von Bericht und Reflexion behalte ich bei. In der folgenden Kritik konzediere ich Gabriel diese Unterscheidung, weil sie am Ergebnis meiner Überlegung nichts ändert.
230
7 Literaturwissenschaftlicher Exkurs: Wahrheit oder Fiktion?
Liliputaner, Maigrets Einblicke in das Leben des französischen Kleinbürgertums, Humbert-Humberts Passion für Lolita. Die Wahrheit, auf die literarische Beschreibungen Anspruch erheben können, ist mit dem Wahrheitsbegriff der Semantik nicht vergleichbar; sie muß auf andere Weise expliziert werden. Literatur kann, gemäß Gabriels Explikation, einen Anspruch auf Wahrheit erheben: auf Wahrheit von Aussagen, die auf der Reflexionsebene explizit oder implizit gemacht werden. Ich möchte dagegen zeigen, daß der Wahrheitsanspruch der Literatur sich nicht auf Aussagen bezieht: Der komplexe Zusammenhang eines literarischen Texts wird, wie die Russischen Formalisten es genannt haben, nach einem Konstruktionsprinzip aufgebaut. Dieses bewirkt oft nicht einfach eine Formung und Tönung eines vorgegebenen Erzählstoffs, sondern kann die explizit und implizit gemachten Aussagen verändern. Das Ergebnis der Veränderungen von Aussagen durch formale Elemente ist selbst nicht mehr in Form von Aussagen ausdrückbar. Dennoch können wir u. U. von ihm sagen, daß es wahr sei. Dafür ein extremes Beispiel: In Henry James' „The Turn of the Screw" wird durch die Erzählweise jede Aussage über den Verlauf der erzählten Ereignisse systematisch unmöglich gemacht: Sind sie das Produkt der Einbildung der Gouvernante, oder sind sie ein echtes Geschehen? Dennoch können wir der Novelle einen Wahrheitsgehalt zusprechen, und zwar für die Analyse des komplexen Zusammenhangs von Unsicherheit, Einbildungen und dem daraus entstehenden Verhalten einer Person. Auch explizite Aussagen auf der Reflexionsebene können durch formale Elemente so weit verändert werden, daß sie in nicht formulierbare Einsichten transformiert werden. Proust ist in dieser Hinsicht von Baudelaire fasziniert, der in den „Petites Vieilles" über diese sagt: „Debris d'humanite pour l'eternite mürs." Für sich genommen enthielte dieser Vers eine unerhört brutale Aussage. Im Zusammenhang der poetischen Form gelingt Baudelaire aber der Ausdruck grenzenloser Misere, die „Unterordnung der Sensibilität unter die Wahrheit"4. Der Vers wird wahr, weil er einerseits eine harte Reflexion, andererseits ein Mitleiden ausdrückt. 7.2.3 Konklusion Literarische Autoren sind, ebensowenig wie sie Wissenschaftler sind, keine Schulphilosophen. Ihre expliziten Reflexionen können, wenn man sie aus dem Kontext isoliert, durchaus simpel („Blut ist ein ganz besondrer 4
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, 211.
7.2 Kritik
231
Saft") wirken. Im Kontext des Werks können sie hingegen von formalen Elementen so weit verändert werden, daß ihre Einsichten nicht mehr in Form von Aussagen ausdrückbar sind. Daß die Wahrheit der Literatur über die Wahrheit von Aussagen (und von Behauptungen) hinausgehen kann, erklärt ihre Bedeutsamkeit für unsere Erkenntnis. Der Wahrheitsbegriff der Semantik hat für die Literatur keine besondere Wichtigkeit, weil literarische Rede vor allem dadurch ausgezeichnet ist, daß deren Wahrheit aus einer Transformation von Aussagen durch formale Elemente entsteht. Es läßt sich vermuten, daß es in der Literatur mehrere Arten von Wahrheit gibt. Genauere Kenntnis darüber können wir erst erhalten, wenn es gelingt, folgende zwei Fragen zu beantworten: (1) Wie ist es möglich, daß aus einer Transformation von Aussagen durch formale Elemente Wahrheit entsteht? (2) Wie sind Erkenntnisse jenseits von Aussagen möglich? Beide Fragen können von einer Theorie der literarischen Erkenntnis beantwortet werden. Ich werde in meiner Studie über Proust versuchen, einige Grundzüge einer solchen Theorie zu entwerfen. Es wird sich zeigen, daß literarische Erkenntnis weniger durch Verwendung des semantischen Wahrheitsbegriffs als aufgrund von Wissensbewertungen zustande kommen kann.
8
Ich versus Er. Literarische Form und Erkenntnis in Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
Ein Hauptmerkmal literarischer Werke ist die Erfindung neuer Formen. Dies ist die Grundannahme aller formalistischen Literaturtheorien. Daß literarische Werke von ihrer Form her verstanden werden können, ist in einer Reihe bedeutender Untersuchungen gezeigt worden1. Die formalistische Literaturwissenschaft hat sich darauf beschränkt, den formalen Aspekt literarischer Werke aufzudecken und zu rekonstruieren. Warum aber ist es eine notwendige Bedingung für das Verstehen eines literarischen Werks, daß man dessen Form versteht? Man könnte sagen: Die literarische Form teilt uns etwas mit, was uns der Inhalt prinzipiell nicht mitteilen kann. Mitteilungen durch die Form lassen sich nicht mit den üblichen Mitteln der Semantik erfassen. Aber dann stellt sich die Frage: Wie ist es möglich, daß die Form literarischer Werke Mitteilungen macht? Und: Welche Art Mitteilungen macht die literarische Form? Ich glaube, beide Fragen sind nicht auf dem Boden der Literaturwissenschaft beantwortbar. Sie verlangen eine Theorie darüber, wie Erkenntnis durch Verwendung von Symbolsystemen möglich wird. Diese Annahme werde ich im folgenden am Beispiel der Romanform der „Suche nach der verlorenen Zeit" (abgekürzt: „Recherche") von Marcel Proust begründen. 8.1 Die beiden Erzählungen Die „Recherche" ist durch einen Antagonismus von zwei Erzählformen, der Ich- und der Er-Form, gekennzeichnet: Der Roman zerfällt, nachdem er in einem gemeinsamen Ausgangspunkt, Combray (in der 1. Person erzählt), begonnen hat, in zwei Erzählungen — in die Erzählung der 1
Vgl. hierzu insbesondere die bei Todorov und Striedter abgedruckten Arbeiten der Russischen Formalisten.
8.1 Die beiden Erzählungen
233
Liebe Swarms zu Odette, in der 3. Person geschrieben, und in die Erzählung Marcels, scheinbar autobiographisch, in der 1. Person. Nach dem langen Monolog der Ich-Erzählung werden beide Erzählungen in der Wiedergefundenen Zeit vereinigt, in der Marcel das Ziel seiner Suche findet: die Erfahrung des „wahren Ich" und der „reinen Zeit" („notre vrai moi" und „la duree ä Petat pur"). 8.1.1
Die Strukturgleichheit der Swann- und Marcel-Erzählung
Die Swann-Erzählung wird üblicherweise nicht als eigener Romanteil mit gleichem Gewicht und gleicher Funktion wie die Marcel-Erzählung gedeutet. Sie scheint ein Fremdkörper von der Dimension eines Romans zu sein, inmitten der sensiblen, ausschnitthaften und reflexiven Ich-Prosa, ein erstaunlich solider und bearbeiteter Körper, aber ein fossiler, in der Manier der französischen Tradition von Flaubert und Stendhal2. Diese Annahme ist berechtigt; auch inhaltlich läßt sich der Einschub motivieren. Aber die Deutungen antworten nicht auf die Frage, warum in die IchErzählung eine eigenständige, nahezu autonome Er-Erzählung, die sich deutlich aus dem Kontext ausgrenzt, eingeschoben wird. Daß die Frage, ob das Ich oder das Er den Roman erzählt, für Proust ein äußerst wichtiges Problem war, kann man an der Geschichte seines Romanfragments „Jean Santeuil" erkennen. Auf einem Konvolut von Zetteln und Schreibheften, die in der postum veröffentlichten Fassung drei Romanbände füllen, experimentiert er an seiner Erzählweise. Er probiert eine gemischte Ich-Er-Erzählform aus — ein Ich findet den autobiographischen Roman eines anderen Ich, das sich selbst in einer Er-Erzählung beschreibt. Es ist offensichtlich, daß diese Erzählform Proust nicht befriedigt hat — die Romunstruktur, nicht der Stil; er bricht die Erzählung ab und verteilt beim Entwurf der „Recherche" einen Teil der Motive auf die Er-Erzählung, einen anderen Teil auf die Ich-Erzählung3. 1
3
Vgl. dazu C. Mauriac, 87: Die literarische Form der Swann-Erzählung könnte (zu Beginn des zweiten Bandes von Swann beispielsweise) von Flaubert sein. Aber auch die Psychologie der Liebe befinde sich „auf der Linie der großen französischen Tradition". Mauriac erkennt in der Swann-Erzählung „ein klassisches Gemälde der Leidenschaften der Liebe" (89). Das große Thema des „Jean Santeuil": die Veränderung von Personen und Institutionen in der Zeit (vgl. S. 874), behält Proust im Grunde bei. Er scheint aber eingesehen zu haben, daß dieses Sujet mit den formalen Mitteln des „Jean Santeuil" nicht behandelt werden kann. Ein Indiz für diese Vermutung ist seine Bemerkung, das Schreiben sei eine „Synthese des divers moments de la vie" (Jean Santeuil, 537).
234
8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
Der Schlüssel für die Romanstruktur der „Recherche" ist gefunden, wenn man erkennt, daß sich die Er- und die Ich-Erzählung gleichen: Swann durchläuft die gleiche Folge psychischer Zustände, wie eine Generation später Marcel. Beide Entwicklungen gehen von einer latenten Angst bei Swann und bei Marcel aus4. Die Angst wird zu einer offenen Krankheit durch die Liebe zu einer Frau, in folgender Weise: In der Langeweile formen Swann und Marcel aus der Erscheinungsform von Odette und Albertine einen positiven Mythos. Geld, das von Swann und das von Marcel, kauft die Sexualität der Frau. Aber deren Mythos wird ungleich wertvoller. Die Frau reagiert: sie entzieht ihren Mythos durch — tatsächliche oder mutmaßliche — Untreue. Geld wird nutzlos, der Besitz der Frau aussichtslos. Die Angst des Mannes verstärkt sich zu ihrer schärfsten Ausprägung, zu Liebe. Die einzige Möglichkeit, die Angst zu überwinden, ist der endgültige Besitz der Frau. Der erste Weg dazu ist die physische Kontrolle; sie mißlingt total, weil die Frau Informationslücken des Mannes ausnutzt. Der zweite Weg ist die restlose Zerstörung des Mythos* durch die Wahrheit. Liebe führt so zu Wahrheitssuche. Aber der Mann merkt nicht, daß er mit jeder neuen Entdeckung in der Vergangenheit der Frau Zug um Zug einen neuen, einen negativen und um so wirkungsvolleren Mythos der Nachtseite der Frau aufbaut. Die Wahrheit über die Frau ist für beide, Swann und Marcel, unerreichbar5. Beiden kommt ein Zufall zu Hilfe: Odette unternimmt eine Reise von einem Jahr Dauer; Albertine kommt bei einem Unfall ums Leben. Die Trennung von der Frau führt zur allmählichen Abschwächung des Mythos'. Das endgültige Vergessen und damit der Besitz der Person besteht bei Marcel in der erzählbaren Erinnerung, bei Swann darin, daß er Odette heiratet. Erkauft ist es von Marcel mit einem weitgehenden Rückzug aus der Gesellschaft, von Swann mit einem Verlust seines gesellschaftlichen Ansehens und eines Teils seiner Persönlichkeit. Meine These lautet zusammengefaßt: Proust beschreibt typisierte Ereignisse und Ereignisfolgen sowie Persönlichkeiten einer charakteristischen Struktur, die sich in den beiden Erzählungen gleichen. Er sagt: 4
5
Die Angst ist schon in Combray, das wie ein Keim die Entwicklungen des Romans in sich schließt, vorhanden. Die Angst bringt das bewegungslose Leben Combrays, als sei sie die einzige bewegende Kraft, zu Erzählhandlungen in Gang. Nach Prousts Erkenntnistheorie ist Wahrheit allein im Kunstwerk erreichbar. Im Erleben selbst bleibt uns die Erkenntnis verschlossen; siehe dazu bereits „Jean Santeuil", 756 f.
8.1 Die beiden Erzählungen
235
„Wie man eine bestimmte Art hat, sich zu erkälten, so hat man auch eine bestimmte Art, sich zu verlieben." Bei Swann und Marcel ist es die gleiche An. Die Ich- und die Er-Erzählung sind strukturgleich. Hat es aber Folgen für die Erzählung, daß sie einmal in der Er-Form und zum ändern in der Ich-Form geschrieben ist? Dieser Frage will ich möglichst genau nachgehen. Zu diesem Zweck führe ich im folgenden zwei Hilfsbegriffe ein. 8.1.2
Wissensbasis und Informant
Der Erzähler trifft, wenn er eine Erzählweise wählt, (mindestens) zwei Entscheidungen; er entscheidet: 1. was der Leser über das Erzählte wissen kann; 2. auf welche Weise der Leser informiert wird (ausschließlich durch einen Erzähler oder auch durch zusätzlich gegebene Informationen). Zu 1.: Aus jeder der beiden Erzählungen, allgemein aus allen Erzählungen, die in irgendeiner Weise Sachverhake darstellen, kann man Informationen entnehmen, die innerhalb der Erzählung als sicherei Wissen gelten. Es gibt eine für jeden Leser geltende, vom Autor durch seine Erzählweise angegebene Menge von Sätzen, die das sichere Wissen innerhalb der Erzählung bildet. Nicht das gesamte sichere Wissen wird explizit gegeben; Teile davon können auch aus den ausgedrückten Informationen erschlossen werden, z. B. durch logische Ableitung. Das gesamte sichere Wissen innerhalb einer Erzählung werde ich die , Wissensbasis der Erzählung'nennen. Die Wissensbasis läßt sich allein aufgrund der Lektüre und der Kenntnis des sprachlichen Symbolsystems aufbauen. Sie grenzt das, was man in einer Erzählung sicher wissen kann, ab gegen das, was man nicht sicher wissen kann: Sätze, die in der Wissensbasis nicht enthalten sind, drücken Sachverhalte aus, von denen wir nicht wissen können, ob sie in der Erzählung bestehen6. Von einem Leser kann verlangt werden, daß er das sichere Wissen der Erzählung herausarbeitet. Daß dies möglich ist, ist die Grundlage des 6
Die leitende Idee bei der Einführung des Begriffs der Wissensbasis ist folgende: Es ist für die Erkenntnistheorie, die ein Romanautor in seinem literarischen Produkt implizit vertritt, von zentraler Bedeutung, zwischen dem zu unterscheiden, was der Autor selbst nicht sagt (i. e. nicht explizit ausspricht), worüber sich aber dennoch sicheres Wissen gewinnen läßt, und dem, was der Autor nicht sagen kann (d. i. worüber der Autor selbst kein sicheres Wissen hat). Was der Autor selbst nicht sagt, aber im Prinzip explizit sagen könnte, ist in der Wissensbasis enthalten. Was der Autor aber nicht sagen kann, kann in der Wissensbasis unmöglich enthalten sein.
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„Vertrags" (Ph. Lejeune) zwischen Autor und Rezipienten. Auch für das Alltagswissen trifft zu, daß Sätze relativ zu einer Wissensbasis als wahr gelten. Aber im Unterschied zum Alltagswissen läßt sich in der Literatur die jeweilige Wissensbasis genau angeben und ist diese in der Erzählung definitiv allem Zweifel enthoben. Der Wissensbasis in einem literarischen Produkt wird eine hypothetische Geltung zugeschrieben; ihre Sicherheit wird im Rahmen des literarischen Produkts als absolut angenommen. Ein Beispiel: In einer Erzählung wird gesagt, A träumt das Ereignis E und handelt dann so, als sei E eingetreten. Der Leser weiß, daß folgende Sachverhalte bestehen: (1) A träumt E. (2) E wird nicht von anderen Personen wahrgenommen. (3) E besteht für A. (4) E besteht nicht für die anderen Personen. Wird aber nicht gesagt, daß A geträumt hat, sondern nur geschildert, daß E für A eingetreten ist, und gibt es keine anderen Möglichkeiten, genaueres darüber zu erfahren, dann wissen wir nur, daß E für A besteht. Ob E auch für die anderen Personen eingetreten ist, bleibt im unklaren. Wir können also in dieser Erzählweise nicht über das Wissen verfügen, das in den Sätzen (1), (2) und (4) ausgedrückt wird. Die Wissensbasis eines literarischen Produkts legt unsere Erkenntnissituation gegenüber den erzählten Ereignissen und Personen fest. Zu 2.: Wessen Wissen ist die Wissensbasis? Ich nehme an: Es gibt eine Instanz in der Erzählung, die die Wissensbasis ausgibt. Ist diese Instanz der Autor selbst? Dies wäre eine voreilige Annahme: Der Autor selbst ist der Erfinder der Personen und der Ereignisse. Er kann sich zu diesen ein Wissen einbilden, das er in der Erzählung nicht ausdrückt. Dieses überschüssige Wissen ist für die Wissensbasis der Erzählung irrelevant. Aus den Einbildungen des Autors werden Personen und Ereignisse erst, wenn dieser sie niederlegt. Ist die Wissensbasis das Gesamtwissen eines fiktiven Erzählers? Wenn dies so wäre, könnte der Leser im Prinzip nie mehr erfahren als das, was der fiktive Erzähler erzählt. Dies ist aber lange nicht immer der Fall: Der Leser kann in vielen Fällen, ohne daß die Erzählform um einen zusätzlichen Erzähler ausgeweitet wird, allein durch die Art des Erzählens mehr wissen als der fiktive Erzähler selbst. Die Wissensbasis ist eine notwendige Bedingung für die Konstitution von Erzählpersonen. Die Wissensbasis ist auch für den Autor verpflichtend. Mit Ausnahme des Falles, in dem die Wissensbasis mit dem Gesamtwissen eines fiktiven Erzählers identisch ist, bleibt die Instanz, die die
8.1 Die beiden Erzählungen
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Wissensbasis ausgibt, eine abstrakte, nicht-miterzählte Erzählinstitution. Ich werde sie im folgenden ,Informant* nennen. Der Informant legt die Erkenntnissituation des Lesers gegenüber den Ereignissen und Personen des Romans fest. Die Erkenntnissituation des Informanten kann diejenige einer realen Person simulieren oder, wie beim auktorialen Erzähler oder in der phantastischen Literatur, verformen. Der Informant kann die Arbeit des Erzählers an eine fiktive Erzählperson delegieren, oder er kann diese selbst in die Hand nehmen. Eine Erzählung mit einem personalisierten Informanten, der zugleich als handelnde Person erscheint, ist eine Ich-Erzählung. Wenn in einer Erzählung ein personalisierter Informant vorkommt, der aber an den erzählten Ereignissen nicht wesentlich beteiligt ist, dann handelt es sich um eine ErErzählung. Erzählt der Informant selbst, gibt es also keinen fiktiven Erzähler, dann liegt ebenfalls eine Er-Erzählung vor. Wir kommen also zu einem merkwürdigen Resultat: Es gibt drei verschiedene Erzählkonstruktionen, aber nur zwei sprachliche Formen, mit denen diese ausgedrückt werden können. Am Erzählresultat sind beide Formen der Er-Erzählung kaum zu unterscheiden (nur daran, daß in der ersten gelegentlich ein darstellender Satz in der 1. Person Singular vorkommt). Ein Unterschied kann indes in der Geltung der Wissensbasis liegen: Die Wissensbasis eines abstrakten Informanten läßt sich, wenn überhaupt, schwerer in Frage stellen als diejenige, die einer fiktiven Erzählperson zugeschrieben wird. Die Er-Erzählung in der „Recherche" ist von der ersten Art: Der Erzähler der IchErzählung berichtet über eine Ereignisfolge, in der er selbst nicht wesentlich vorkommt. 8.1.3
Das Wissen aus den beiden Erzählungen
Geben die Erzähler der beiden Erzählungen, der Er- und der Ich-Erzähler, zumindest annähernd, die gleiche Wissensbasis aus? Genau dies tun sie nicht; beide Wissensbasen sind so weit voneinander unterschieden, daß gerade die minimale Wissensgleichheit zustande kommt, die notwendig ist, um die Strukturgleichheit der beiden Erzählungen festzustellen. Die Swann-Erzählung wird als eine gesicherte Geschichte aus der fernen Vergangenheit, vor Marcels Geburt, eingeführt. Die Ereignisse sind verbürgt. Die Darstellung und Deutung der Personen steht für den Erzähler zweifelsfrei fest. Die Person Odettes, ihr Charakter, ihre Vergangenheit, ihr Lebensunterhalt, ihre Berechnung, ihre mangelhafte Intelligenz werden vom Leser ebenso gewußt wie Swanns Reaktionen und die Ent-
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
wicklung seiner Angst. Aber sobald man die Er-Erzählung mit dem vergleicht, was man aus der Ich-Erzählung weiß, stellt man fest, daß die klaren Linien der Er-Erzählung von leeren Räumen umgeben sind. Dafür zwei Beispiele: Swanns Person, sein Charakter, seine Empfindungen werden dem Leser nur insoweit bekannt gemacht, als sie für die Entwicklung der Angst von Bedeutung sind. Wir wissen nicht, was Swann im Grunde von Odette hält, z. B. ob er ihr gegenüber überhaupt etwas anderes empfindet als seine Angst, die der Erzähler als „Liebe" bezeichnet. Weiß er, daß er einen negativen Mythos geformt hat? Noch weniger wissen wir von der Entwicklung von Swanns Bewußtsein. Die einzige Entwicklung, die beschrieben wird, ist die des Krankheitsbildes. Dennoch muß Swann sich in bedeutender Weise verändert haben. Wir erfahren am Rande, daß Swann ein begabter Kunstkenner, möglicherweise ein Künstler war; und am Ende wird gesagt, daß seine begonnene Monographie über Vermeer van Delft nie vollendet worden ist. Welches ist der Endzustand Swanns? Hat er nicht sein Selbstbildnis verloren? Endet er nicht in völliger Resignation? Wir wissen es nicht, wir können es auch nicht erschließen. Der Leser weiß, welche Sachverhalte intersubjektiv, auch im Bewußtsein von Swann, bestehen. Aber er weiß nichts darüber, wie Swann das Dargestellte einschätzt7. Daher kennt er die wechselnden Bewußtseinszustände Swanns allein als Folge von Einwirkungen seiner Umgebung, niemals als Gegenstand von Eigenreflexion*. Der Informant gibt intersubjektives Wissen über Swann; dessen subjektives Wissen wird nicht einmal in Umrissen umschrieben. Es ist in der Erzählung wahr, daß Swann als von seiner Angst geheilt gilt — aber entspricht dieses Urteil der Meinung Swanns über sich selbst? Man hat aus manchen Stellen der „Recherche" den Eindruck, daß er geheilt ist wie ein Fußkranker durch eine Beinamputation. Swanns Entwicklung wird so dargestellt, daß nicht Swann sich entwickelt, sondern eine Art Krankheit in ihm. Aber wird die Krankheit dadurch erfolgreich bekämpft, daß zusammen mit den Krankheitserregern auch Zellen der Persönlichkeit Swanns abgetötet werden? Kann das „wahre Ich", eines der beiden Ziele der „Recherche", auf dem Wege der ErErzählung erreicht werden? Wir können daran zweifeln. 7
8
Swann wird immer von einer — erkenntnismäßig — höheren Instanz beurteilt, die weiß, welche Vorgänge eigentlich in ihm vor sich gehen. Der Er-Erzähler ist einem Bewußtseins-Essentialismus verpflichtet. Der Leser weiß nicht einmal, ob Swann zu einer echten Eigenreflexion fähig ist. Wie J. P. Richard zu recht feststellt, ist Swann Gefangener seines habituellen Denkens, Fühlens und Wahrnehmens (151).
8.1 Die beiden Erzählungen
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Wie steht es mit dem anderen Ziel, der Erfahrung der reinen Zeit? — Die Swann-Erzählung ist als eine präzise strukturierte Zeitfolge organisiert. Erzählt werden die Ereignisse zu einem bestimmten Zeitpunkt. Aber was geschieht in der Zeitspanne zwischen den dargestellten Zeitpunkten? Wir wissen darüber nichts. Dennoch ist die nicht erzählte Zeit von Belang für die Deutung Swanns; durch Andeutungen wissen wir z. B., daß Swann bei aller Liebe zu Odette in den Vormittags-, Nachmittags- und frühen Abendstunden, in denen er Odette gewöhnlich nicht sieht, erotisch durchaus nicht inaktiv bleibt. Die Erzählung beginnt mit dem Anfang der Bekanntschaft Swanns mit Odette; über Swanns Vergangenheit erfahren wir nur sehr wenig. Die Erzählung bewegt sich über eine Folge von "Zeitpunkten vorwärts; die Zeiträume zwischen den Zeitpunkten bleiben leer. Kann eine Wiedergabe von Zeiterfahrung auf diese Weise zustande kommen? Am deutlichsten läßt sich diese Analyse mit dem Schluß der Er-Erzählung belegen: Die Erzählung endet damit, daß Swann das endgültige Ende seiner Liebe zu Odette feststellt, nachdem diese ihn seit langer Zeit verlassen hat, und ein bedauerndes — vermeintliches — Schlußwort dazu spricht: „Dire que j'ai gäche des annees de ma vie, que j'ai voulu mourir, que j'ai eu mon plus grand amour, pour une femme qui ne me plaisit pas, qui n'etait pas mon genre!" (I, 382 [Wenn ich daran denke, daß ich mir ganze Jahre meines Lebens verdorben habe, daß ich sterben wollte, daß ich meine größte Liebe für eine Frau hatte, die mir nicht gefiel, die nicht mein Typ war!])9. Erst in der Ich-Erzählung erfährt der Leser, daß Swann Odette geheiratet hat10.
9
10
Alle Feststellungen, die in der Swann-Erzählung von den Personen und über die Personen gemacht werden, erheben den Anspruch, für den ganzen Zeitraum, über den sich die Erzählung erstreckt, zu gelten. Tatsächlich stellt sich aber immer wieder heraus, daß ihre Geltung strikt an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden ist. Vgl. dazu Odettes Feststellung, nach Swanns Tod: „,Pauvre Charles, il etait si intelligent, si seduisant, exactemem le genre d'hommes que j'aimais'. Et c'etait peut-etre vrai. II y avait eu un temps oü Swann lui avait plu, justement celui oü eile n'etait pas ,son genre'" (III, 1021. [,Armer Charles, er war so intelligent, so anziehend, genau der Typ von Mann, den ich geliebt habe.' Und das war vielleicht wahr. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Swann ihr gefallen hatte, genau die, in der sie nicht ,sein Typ' war.]). Das Bild, das die Er-Erzählung über Swann entwirft und das höchst präzise zu sein scheint, ist wie eine fotografische Aufnahme, deren Umgebung wir nicht kennen: Wir wissen fast nichts über die Vergangenheit und die gleichzeitig eintretenden Ereignisse.
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
Wissen wir aus der Ich-Erzählung mehr? Zunächst, ja. Worüber die Er-Erzählung schweigt, darüber spricht die Ich-Erzählung". Die IchErzählung gibt die Reflexion des Ich über sich seihst, über Personen und über Ereignisse wieder. (Es gibt auch andere Passagen in der Ich-Erzählung, die man als eingeschobene Er-Erzählungen ansehen kann. Ich nehme diese bei den folgenden Überlegungen aus, weil sie — ohne meiner Hypothese zu widersprechen — die Darstellung komplizieren würden.) Die leeren Stellen der Er-Erzählung werden in der Ich-Erzählung mit feinster Filigranarbeit ausgefüllt. Wir wissen, daß Marcel nicht arbeitet, daß er „faul" ist, bis nachmittags im Bett liegt und auf Geräusche von draußen hört, daß er sich unablässig den Kopf zerbricht über Zugangswege zu, vermeintlich, unzugänglichen Frauen . .. Aber der Leser ist von der Wirklichkeit der Gesellschaft, in der das Ich lebt, hermetisch abgetrennt. Die Außenwelt tritt nur vermittels der Bewußtseinszustände des Ichs Marcels, das auf Veränderungen der Umgebung reagiert, in die Erzählung ein12. Welche Sachverhalte, die das Ich wahrnimmt, bestehen auch außerhalb des Ich? Wir können dies nicht wissen. Aber im Vergleich mit der ErErzählung bemerken wir zweierlei: 1. Die Einwirkung der Einbildung (imagination) macht jedes sichere Wissen über das, was tatsächlich besteht, zunichte. Eine fundamentale Erkenntnisunsicherheit ist die Folge. Auch die Wahrnehmung der eigenen Bewußtseinszustände des Ich ist davon nicht ausgenommen; das Ich ist ständig in Gefahr, sich über seine eigenen Gefühle, Ziele, Wünsche etc. zu täuschen. Nur eine Art Tatsachen kann gewußt werden: daß alles, was in der Ich-Erzählung dargestellt wird, für das Ich selbst zum Zeitpunkt des Erlebens bestehende Tatsache, sicheres subjektives Wissen ist. Inwieweit dieses auch unter intersubjektiven Gesichtspunkten als sicher gelten kann, entzieht sich dem Wissen des Lesers. 2. Das Ich, der Ursprung des subjektiven Wissens, nimmt sich selbst von allen Veränderungen aus. Um das feststehende Ich-Bewußtsein herum verändern sich unaufhörlich Ereignisse und Personen. Es ist ein eingebildetes, illusorisches Ich, das an sich selbst keine Veränderung erfährt. Diese 1
' Die Tatsache, daß die Er-Erzählung Ereignisse verschweigt, wird erst aufgrund der Schilderungen in der Ich-Erzählung deutlich. 12 Vgl. Richard, 123, der Marcels Beschreibung eines Bildes Elstirs als Metapher zitiert. — Die Erkenntnisunsicherheit wird ausgesprochen: „. .. Phomme est I'etre qui ne peut sortir de soi, qui ne connait les autres qu'en soi" (III, 176. [... der Mensch ist das Wesen, das nicht aus sich heraustreten kann, das die anderen nur in sich selbst kennt]).
8.2 Die erkenntnistheoretische Struktur der beiden Erzählungen
241
Beobachtung ist um so merkwürdiger, als man den Eindruck haben kann, daß Proust die Ich-Erzählung als einen modernen Entwicklungs-Roman anlegt. Der Leser hat am Ende seiner mehrtausendseitigen Beschäftigung mit dem Ich keine Möglichkeit, dieses Ich präzise einzuschätzen und zu beurteilen; seine Kenntnis des Ich bleibt offen, unbestimmt, zwiespältig. Das Ich ist wegen seiner Bewegungslosigkeit auch unfähig zu zeitlicher Erfahrung. Die erzählte Zeit besteht aus begrenzten Zeiträumen, ,Szenen', wie z. B. eine Soiree bei den Guermantes. Die Zeiträume sind im Innern desorganisiert; sie haben eine total unübersichtliche interne Struktur aufgrund einer extrem feinen Unterteilung der Zeiträume; die Unterscheidung der Zeitpunkte wird verwischt; diese gehen ineinander über und lassen sich nicht mehr auseinanderhalten. Ich fasse meine kritischen Bemerkungen über die beiden Erzählungen zusammen: Durch die Einseitigkeit des Erzählens, einmal in der Er-Form, zum ändern in der Ich-Form, gehen wichtige, vielleicht sogar einige der wichtigsten, Aspekte des Romans verloren. Es entstehen echte Wissenslükken. Das Romangeschehen wird nicht aufgeklärt; es bleibt zum großen Teil undeutbar. Beide Erzählungen erheben den Anspruch, so wahrheitsgetreu wie möglich darzustellen. Beide scheinen, für sich betrachtet, diesen Anspruch zu erfüllen. Aber aufgrund ihrer Differenzen stellen sie sich gegenseitig in Frage. Sie weisen sich gegenseitig nach, daß die jeweils andere Erzählung nicht fähig zu einer wahrheitsgetreuen Darstellung, sondern daß sie lückenhaft und irreführend ist. Weder die ,subjektivistische' Ich-Erzählung noch die objektivistische' Er-Erzählung ist fähig, die Ereignisfolge so zu erzählen, daß die beiden Erzählungen sich gegenseitig anerkennen können.
8.2
Die erkenntnistheoretische Struktur der beiden Erzählungen
Ich nehme an, daß die Beschränkung der Wissensbasis, die sowohl in der Er- als auch in der Ich-Erzählung zustande kommt, notwendig und unvermeidlich ist. Sie wird begründet durch die Erkenntnisstruktur der Sprache, die in der „Recherche" in der Differenz von Er- und Ich-Aussagen zum Ausdruck kommt13. Daß der Leser Lücken und Fehldeutungen erkennt, liegt daran, daß die verdoppelte Erzählweise ihm diese Einsicht ermöglicht. Proust weist die Grenzen der sprachlich ausdrückbaren Erkenntnis auf. 13
Vgl. die Überlegungen in Kapitel 3 dieser Arbeit.
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
Diese Annahme werde ich im folgenden mit Hilfe des Begriffs der Wissensbasis eingehend zu belegen versuchen. Die Verschiedenheit der Wissensbasen von Ich- und Er-Erzählung bei einer gleichartigen Ereignisfolge entsteht aus einer eingeschränkten Interpretierbarkeit syntaktischer Strukturen. Aus Ich-Sätzen kann der Leser nicht dieselbe Wissensbasis bilden wie aus Er-Sätzen. Ich nehme an, daß dies allgemein für die Sprache gilt. Prousts formales Romanprinzip nutzt diese grundlegende Einsicht aus. Ich untersuche vier Fälle, von denen ich annehme, daß sie die wesentlichen erzählten Situationen der „Recherche" repräsentieren. In den folgenden Beispielsätzen wird derselbe Sachverhalt einmal in der Er-Form und einmal in der Ich-Form ausgedrückt. 8.2.1
Beobachtbare Sachverhalte
In der Swann-Erzählung kommt eine Situation vor, in der Swann Odette eine verfängliche Frage — hier als f symbolisiert — in der Absicht stellt, ihre Reaktion darauf zu beobachten. Von einer bestimmten Art Reaktion, nennen wir sie r, erwartet Swann Aufschlüsse über Odettes Vergangenheit. Die beiden Darstellungen: (l a) Als er die Frage f stellte, drückte Odettes Gesicht r aus. (l b)Als ich die Frage f stellte, drückte Odettes Gesicht r aus. Der Leser erfährt aus Satz (l a) drei Sachverhalte, um die er seine Wissensbasis erweitern kann: Das handelnde Subjekt, das Er, stellt die Frage f; die befragte Person antwortet mit der Reaktion r; die Frage f hat die Reaktion r im Sinne einer Ursache ausgelöst. (l b) läßt sich nicht in derselben Weise verstehen. Ob die befragte Person tatsächlich r ausdrückt oder ob die erzählende Person sich einbildet, r wahrgenommen zu haben, ist für den Leser nicht entscheidbar. Ebensowenig kann dieser wissen, ob r, wenn r tatsächlich stattgefunden hat, von der Frage f hervorgerufen worden ist. Der Leser wird aber nicht bestreiten, daß das Subjekt die Frage f wirklich gestellt hat. Es gehört zu den Konventionen, nach denen Ich-Erzählungen verstanden werden (auch in nicht-literarischen, alltäglichen Kommunikationssituationen), daß zwar die Interpretationen des Erzähl-Ichs zu bezweifeln sind, nicht aber, daß die dargestellten Handlungen tatsächlich ausgeführt wurden. Der Unterschied zwischen prinzipiell bezweifelbaren und konventionellerweise nicht bezweifelten Sachverhalten in Ich-Erzählungen ist folgender: Die Darstellung eines bestimmten Sachverhalts als Reaktion r und die Darstellung der Folge der Sachverhalte f und r als Ursache und Wirkung ist stark interpretationsabhängig. Bei dieser Art Interpretation ist die
8.2 Die erkenntnistheoretische Struktur der beiden Erzählungen
243
Einzelperson, das individuelle Erzähl-Ich, ständig der Gefahr von Täuschungen, Irrtümern und Einbildungen ausgesetzt. Tatsächlich werden in Prousts Ich-Erzählung viele interpretationsabhängige Darstellungen an späteren Stellen modifiziert, verbessert oder sogar zurückgenommen; sie sind leicht beweglich. In der Er-Erzählung sind die interpretationsabhängigen Darstellungen des Erzählers nicht bezweifelbar, weil dieser die Sachverhalte vom Standpunkt der gesellschaftlichen Umgebung beschreibt, also unter intersubjektivem Aspekt. Auch Sachverhalte wie derjenige, daß das Subjekt die Frage f stellt, sind interpretationsabhängig, aber in einem anderen Sinn: Die Interpretationen, die dieser Darstellung zugrunde liegen, führen unter den Bedingungen, die üblicherweise für einen Erzählenden gelten, zu sicherem Wissen. Nur in extremen Situationen, wie z. B. der experimentell herbeigeführten Wahrnehmungstäuschung, lassen sie sich in Frage stellen. Aus (l a) hat der Leser ein intersubjektiv sicheres Wissen darüber, daß r eingetreten ist und daß eine Art Kausalrelation zwischen f und r besteht. Aus (l b) kann der Leser hingegen kein intersubjektiv sicheres Wissen über beide Sachverhalte gewinnen. Daß die Frage f gestellt wird, weiß der Leser sowohl aus (l a) als auch aus (l b). In beiden Fällen handelt es sich um intersubjektiv sicheres Wissen. Die Ich-Erzählung in der „Recherche" etabliert ein Gerüst von Sachverhalten, die intersubjektiv als bestehend gelten. An diesem Faktenkern, der überhaupt erst den Vergleich zwischen beiden Erzählungen möglich macht, werden die Unterschiede der erkenntnistheoretischen Struktur von Ich- und Er-Perspektive herausgearbeitet. Daß sich aus der Ich-Erzählung auch intersubjektiv sicheres Wissen gewinnen läßt, ist eine Besonderheit der „Recherche". Es gibt andere Ich-Erzählungen, die diese Möglichkeit nicht zulassen. Aus (l b) kann der Leser aber etwas anderes wissen als aus (l a): daß das Subjekt selbst sicher weiß, daß r eingetreten ist und eine Kausalrelation zwischen f und r besteht. Für das Subjekt drücken beide Feststellungen zum Zeitpunkt der Äußerung unbezweifelbare Tatsachen seines subjektiven Wissens aus. Aus (l a) läßt sich hingegen über das subjektive Wissen der beteiligten Personen nichts erfahren. Die Tatsache, daß r und eine Kausalrelation zwischen f und r besteht, erlaubt keinen Schluß darauf, daß das Subjekt dieses auch weiß. Der Leser kann nicht mehr als bezweifelbares intersubjektives Wissen darüber erhalten, ob auch das Subjekt diese Tatsache sicher weiß. Es ist möglich, daß diese für das Subjekt nicht besteht, z. B. wenn es glaubt, es habe sich getäuscht. Aus Er-Sätzen wie (l a) gewinnt der Leser intersubjektives Wissen über das Bestehen der dargestellten
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Sachverhalte. Über das subjektive Wissen der Beteiligten erfährt er nichts. — Aus Ich-Sätzen wie (l b) erhält der Leser kein intersubjektives Wissen über das Bestehen der dargestellten Sachverhalte. Aber er kennt das subjektive Wissen des an den Ereignissen beteiligten Informanten. In jedem der beiden Sätze, (l a) und (l b), wird ein Wissen ausgedrückt, ein intersubjektives in (l a) und ein subjektives in (l b). Von keinem der beiden Wissensarten kann man auf das jeweils andere Wissen schließen. Der Autor der Er-Erzählung hat also die Möglichkeit, seine Erzählung so anzulegen, daß er die Ereignisse, die er an einer bestimmten Stelle erzählt hat, an einer späteren Stelle als für das Subjekt nicht wirklich eingetreten darstellt. In der Ich-Erzählung besteht diese Möglichkeit nicht. Was das Subjekt einmal weiß, besteht im Fortgang der Erzählung als Wissensgrundlage. Wenn ein Teil dieses Wissens aufgehoben wird, was in der „Recherche" oft geschieht, wird dies besonders begründet (siehe 8.2.3). Das Erzählgeschehen ist in der Er-Erzählung also für das handelnde Suhjektim Grunde weniger verpflichtend als in der Ich-Erzählung. Das Ergebnis dieser Überlegungen läßt sich in Form einer Tabelle darstellen:
Annahme des Lesers:
8.2.2
Gewißheit des Lesers aus 1 a aus 1 b
Beobachtbare Sachverhalte
IW + /SW-
IW+/SW-
Interpretative Sachverhalte
IW + /SW-
IW-/SW +
Psychische Sachverhalte
Man könnte gegen die Überlegungen des vorigen Abschnitts einwenden, daß man über das Wissen des Subjekts Sätze in der Er-Form aufstellen kann. Ist die unter 8.2.1 entwickelte Unterscheidung zwischen Ich- und Er-Sätzen also nicht hinfällig bei Sätzen über den Glauben des Subjekts? Gehen wir diesem Einwand nach: Läßt sich aus den Sätzen (2 a) Er wußte, daß p. (2 b) Ich wußte, daß p. dasselbe Wissen entnehmen oder können sie als Teil einer Er- bzw. einer Ich-Erzählung zu verschiedenen Wissensbasen führen?
8.2 Die erkenntnistheoretische Struktur der beiden Erzählungen
245
p symbolisiere eine Aussage, die ausdrückt, daß das Subjekt von seiner Geliebten mit einem seiner besten Freunde betrogen wird (die CharlusEpisode in „Swann"). Sowohl in (2 a) als auch in (2 b) wird intersubjektives Wissen ausgedrückt: Es sind bestimmte Kriterien für das Wissen des Subjekts über p vorhanden; am Verhalten des Subjekts ist zum Zeitpunkt des Geschehens erkennbar, daß dieses von p wußte. Aus (2 a) und (2 b) läßt sich ein gemeinsames intersubjektives Wissen gewinnen, ebenso wie aus (l a) und (l b). Umgekehrt laßt sich aus beiden Sätzen kein subjektives Wissen über beobachtbares Verhalten erschließen. Insofern ergibt sich die gleiche Wissensbewertung wie in der ersten Zeile der Tabelle (S. 244). Der Satz (2 b) drückt zusätzlich ein subjektiv sicheres Wissen aus: daß das Subjekt sicher weiß, daß es den Sachverhalt p zum Zeitpunkt des Geschehens kannte. Aber dieses subjektive Wissen besteht mit Sicherheit nur zum Zeitpunkt, zu dem (2 b) geäußert wird. Ob dieses Wissen zu dem vergangenen Zeitpunkt, für den es behauptet wird, tatsächlich schon bestanden hat, kann unter intersubjektivem Aspekt bezweifelt werden. Es kann vorkommen, daß sich das Subjekt nachträglich einbildet, daß es schon zum Zeitpunkt des Geschehens auf dem laufenden war und zur Absicherung seiner subjektiven Fiktion eine Reihe von Kriterien an seinem damaligen Verhalten ausfindig macht, die seine These zu stützen scheinen. (Im Alltagsverhalten kennt man diese Skepsis gegenüber den Äußerungen des Subjekts über sein eigenes Wissen, z. B. bei Ausrufen, wie: „Ich habe es gewußt", „Mir war alles klar".) Ein Handelnder kann eine Reihe von Informationen über ein bestimmtes Geschehen haben, aber noch kein sicheres Wissen in dem Sinne, daß er die Informationen reflektiert, zu einem Sachverhalt zusammenfügt, ergänzt und unter einem Aspekt interpretiert. Dennoch ist es möglich, daß er zu einem späteren Zeitpunkt, wenn er über das Geschehen aufgeklärt wird, sagt, er habe „es damals schon gewußt". Subjektives Wissen verändert sich; intersubjektives Wissen bleibt hingegen unveränderlich. Die Bewegung des Wissens von Marcel im Unterschied zur Immobilität des Er-Erzählers ist ein hervorstechender Zug der „Recherche". Aus (2 b) wissen wir nur, was das Subjekt zum Zeitpunkt der Äußerung weiß. Wir können aus (2 b) das zeitgebundene subjektiv sichere Wissen in die Wissensbasis aufnehmen. Es besteht keine Möglichkeit, aus (2 b) intersubjektives Wissen mit zeitlich nicht-eingeschränkter Geltung darüber zu gewinnen, ob das Subjekt p während des Geschehens kannte. Umgekehrt ist in (2 a) das subjektive Wissen, das sich aus (2 b) erschließen läßt, nicht enthalten. Aber auch der Satz (2 a) macht eine Aussage über das Subjekt-Wissen der beschriebenen Person: daß die Kenntnis von p für
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
die Person zum Zeitpunkt des Geschehens bestanden hat. Dieses Wissen über die Subjekt-Kenntnis ist intersubjektiv sicher. Das Ergebnis dieser Überlegung ist, daß auch die zweite Zeile der Tabelle (S. 244) analog auf die psychischen Sachverhalte angewendet werden kann: Wenn man (2 a) und (2 b) als Beschreibungen von SubjektWissen auffaßt, gewinnt man aus (2 a) ein Wissen in einer intersubjektiven Interpretation darüber, daß der Sachverhalt p für das Subjekt tatsächlich zu einem vergangenen Zeitpunkt bestand, d. i.: daß das Subjekt p wußte. Aus der Darstellung (2 b) in der Ich-Form kann der Leser dies nicht wissen. (2 b) drückt hingegen ein subjektiv sicheres Wissen darüber aus, daß das Individuum zum Zeitpunkt seiner Äußerung von dem Sachverhalt weiß. 8.2.3
Wissensveränderungen
Zu den Kernstellen der Er- und Ich-Erzählung gehören die Szenen, in denen die Subjekte ihr Wissen über Personen und Ereignisse verändern. Ein Beispiel: Swann erscheint Odette zu Beginn ihrer Bekanntschaft als uninteressant, bis er mit einem Mal eine Ähnlichkeit zwischen dem Gesicht Odettes und dem einer von Botticelli gemalten Person erkennt. Entstehen Unterschiede der Wissensbasis, wenn diese Wissensveränderung des Subjekts einmal in der Ich-Form zum ändern in der Er-Form dargestellt wird? Am Anfang der Bekanntschaft mit Odette, zum Zeitpunkt t,, gilt für beide Darstellungsformen, daß Odette ohne Reiz ist. Zum Zeitpunkt der Wissensveränderung, t2, wird gesagt: (3 a) Er entdeckt, daß Odette ein Botticelli-Gesicht hat. In der Ich-Erzählung würde der Satz entsprechend umgeformt werden: (3 b)Ich entdecke, daß Odette ein Botticelli-Gesicht hat. Es kann nach derselben Analyseweise wie in 8.2.1 und 8.2.2 vorgegangen werden, mit dem Unterschied, daß sich in (3 a) und (3 b) das Wissen des Lesers auf zwei Zeitpunkte bezieht: Aus beiden Sätzen kann der Leser, wenn er die vorhergehende Erzählung zu Hilfe nimmt, erschließen, daß für das Subjekt Odette zu t! ohne Reiz ist. Über das Geschehen zu t2 weiß der Leser aus (3 a) und (3 b) Unterschiedliches. Nach (3 a) weiß der Leser, daß die wahrgenommene Person im Wissen des Subjekts etwas erhalten hat, was sie für dieses vorher nicht hatte: eine Botticelli-Physiognomie. Weiterhin weiß der Leser, daß sich unter intersubjektivem Aspekt die wahrgenommene Person nicht verändert hat. Es entsteht eine An Widerspruch zwischen den Aussagen, die zu t] und t2 gel-
8.2 Die erkenntnistheoretische Struktur der beiden Erzählungen
247
ten: Zu t, ist Odette uninteressant, zu t2 im höchsten Maße reizvoll. Der Widerspruch darf in die Wissensbasis nicht eingehen, denn von dieser muß unter dem Aspekt des intersubjektiven Wissens verlangt werden, daß sie widerspruchsfrei ist. Er muß folglich auf eine bestimmte Art aufgelöst werden. In (3 a) wird gesagt, Swann mache eine „Entdeckung". Der Leser kann daraus schließen, daß sich Swann von seinem ursprünglichen Wissen, das mit dem intersubjektiven Wissen übereinstimmt und über das der Leser informiert ist, abgewichen ist. Odette mag eine Botticelli-Physiognomic haben. Dann aber hatte sie diese schon zu t,. Daß Swann die Ähnlichkeit zu t2 mit einem Mal erkennt, zeigt, daß er seine Wahrnehmung gegenüber Odette verändert hat. Odette ist gleich geblieben, Swann ist ein anderer; zu t2 ist er im Begriff, sein Wissen über Odette zu revidieren. Swann macht also keine Entdeckung von verborgenen Eigenschaften, sondern manipuliert sein Wissen. Durch die Darstellungsweise, dadurch daß für den Zeitpunkt t2 der Satz (3 a) gilt, der im Widerspruch zum Wissen zu t, steht, wird die Täuschung, der Erkenntnisirrtum des Subjekts dargestellt. Die Tatsache, daß das Subjekt sich täuscht, läßt sich aus der Form erschließen, in der das Wissen zu t, und t2 dargestellt wird. Ich verfahre bei der Diskussion von (3 b) analog zu den beiden vorangehenden Abschnitten: (3 b) läßt sich einerseits — unter intersubjektivem Aspekt — in gleicher Weise verstehen, wie soeben für (3 a) dargestellt wurde. Andererseits kann der Satz — unter subjektivem Aspekt — so gelesen werden, daß er das Wissen des Subjekts über seine eigene Entdekkung ausdrückt. In dieser Lesart kann der Leser nicht wissen, ob sich das Subjekt in der Zwischenzeit unter intersubjektivem Aspekt verändert hat. Er weiß nur, daß zu t, Odette unter subjektivem Aspekt ohne Reiz war, zu t2 hingegen in den Augen des Subjekts höchste Anziehungskraft hat. Es entsteht ein vergleichbarer Widerspruch wie in (3 a) zwischen den Aussagen, die zu t| und t2 gelten. Aber in (3 b) läßt er sich nicht auf einen Erkenntnisirrtum zurückführen. Denn dafür müßte der Leser wissen, daß sich das Subjekt tatsächlich nicht verändert hat; dies könnte allein in intersubjektiver Perspektive erkannt werden. Im Widerspruch zueinander stehen nicht die Aussagen über die Person Odettes einmal zu t, und zum ändern zu t2, sondern die Aussagen über das subjektive Wissen des Handelnden. Zu t] verfügt das Subjekt über ein geringeres Wissen in bezug auf Odette als zu t 2 ; zu t2 kann das Subjekt kompetenter über Odette urteilen. Die „Entdeckung" ist eine Korrektur des subjektiven Wissens durch Wissensvermehrung. Der Leser weiß aus (3 b), daß das Subjekt das neue Wissen für besser hält als das frühere, aber er weiß nicht, ob diese Annahme
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unter intersubjektivem Aspekt zutrifft. Es gibt auch keine Möglichkeit, die Wissenskorrektur auf eine Manipulation zurückzuführen. Dafür benötigte der Leser das Wissen darüber, daß das Subjekt sich verändert hat, während Odette unverändert geblieben ist. Aus (3 a) läßt sich kein Hinweis auf das subjektive Wissen des Handelnden gewinnen. Sein Subjekt-Wissen wird unter intersubjektivem Aspekt als eine „Entdeckung" beschrieben. Der Satz wird folglich in einem doppelten Sinn verstanden: als Aussage, daß der Handelnde einer Täuschung unterliegt, und zum anderen als Aussage, daß er seinen Irrtum für eine Entdeckung hält. Beide Aussagen sind intersubjektiv sicheres Wissen. Es ergibt sich, daß die Tabelle (S. 244) in analoger Weise auch auf den Fall der Wissensveränderung angewendet werden kann. Für die „Recherche" gilt im allgemeinen, daß in der Er-Erzählung intersubjektiv sicheres Wissen und in der Ich-Erzählung subjektiv sicheres Wissen ausgedrückt wird. In der Er-Erzählung wird der Leser durch die Erzählweise über die Erkenntnisirrtümer Swanns in Kenntnis gesetzt. Die Ich-Erzählung stellt eine Folge von Wissenskorrekturen Marcels dar. Der Leser erfährt dabei nur, daß Marcel den letzten Wissensstand für besser hält als den vorhergehenden. Ob diese Annahme auch unter intersubjektivem Aspekt gerechtfertigt ist, weiß er nicht. Es gibt im Gegenteil eine Reihe von Indizien dafür, daß dies nicht der Fall ist. In der Literatur kann man mehrere Realitätsebenen des Erzählens unterscheiden, mindestens diejenige, die als die „intersubjektive Realität" der Subjekte gilt, und diejenige der subjektiven Einbildungen, Phantasien, Vorstellungen etc. Die Er-Erzählung kann durch einen einfachen Widerspruch in der Darstellung des Wissens zu zwei Zeitpunkten den Übergang von einer Realitätsschicht in die andere kenntlich machen. Dies ist in der Ich-Erzählung der „Recherche" nicht auf die gleiche Weise möglich. Ein Widerspruch des Wissens zu zwei Zeitpunkten wird so interpretiert, daß das Wissen zum späteren Zeitpunkt als eine Verbesserung des Wissens zum früheren Zeitpunkt angesehen wird. In der Er-Form wird der Leser an jeder Stelle der Erzählung über den Realitätsgrad des Subjekt-Wissens in Kenntnis gesetzt. In der Ich-Erzählung ist der Übergang von einer Realitätsschicht in eine andere durch die Darstellungsform allein nicht ausdrückbar. 8.2.4
Zeitstruktur
Eine Ereignisfolge wird einmal in der Er-Form, ein anderes Mal in der Ich-Form erzählt. Hat die Erzählform eine Wirkung darauf, was der
8.2 Die erkenntnistheoretische Struktur der beiden Erzählungen
249
Leser über die zeitliche Folge der Ereignisse weiß? Ist aufgrund der Erzählform die zeitliche Struktur beider Erzählungen verschieden? Eine Folge von zwei Ereignissen soll einmal in der Er- und zum ändern in der Ich-Form ausgedrückt werden: (4 a) Er betrat das Haus. Als er im ersten Stock angekommen war, öffnete er das Fenster. (4 b)Ich betrat das Haus. Als ich im ersten Stock angekommen war, öffnete ich das Fenster. In (4 a) und (4 b) werden zwei Beobachtungen zu einem Anfangs- und einem End-Zeitpunkt, tA und tE, wiedergegeben. tA und tE sind durch einen zeitlichen Zwischenraum getrennt, so daß der Leser das Ereignis zu tA nicht selbständig in das Ereignis zu tE überführen kann. Aus (4 a) erhält der Leser kein intersubjektiv sicheres Wissen darüber, ob für den Handelnden zwischen tA und t E weitere Ereignisse, deren Darstellung unterlassen wird, stattgefunden haben. Die zeitliche Lücke zwischen tA und tE läßt sich auch nicht durch eine minuziöse Erzählweise vermeiden. Wir könnten z. B. schreiben: „Er betrat das Haus. Er befand sich in der Eingangshalle, durchquerte sie, stieg die Treppe hinauf, öffnete eine Zimmertür etc." Zwischen den erzählten Ereignissen können weitere Zeitpunkte mit weiteren Ereignissen, die in dieser detaillierteren Beschreibung aber nicht dargestellt sind, angenommen werden. Die Er-Erzählung springt von Zeitpunkt zu Zeitpunkt vorwärts. Die Menge der erzählten Zeitpunkte füllt nie den Zwischenraum zwischen tA und tE. Es bleiben immer, wenn auch noch so feine Zwischenräume zwischen den Zeitpunkten bestehen, wie auf einem Maßstab zwischen den bestehenden Markierungen immer neue angebracht werden können. Diese Argumentation ist nichts anderes als eine Übertragung des Zenonschen Paradoxes von Achilles und der Schildkröte auf die Zeitstruktur literarischer Ereignisdarstellungen. Die erzählte Zeit ist in der Er-Erzählung prinzipiell lückenhaft. Aus (4 b) erfährt man, daß nach dem subjektiv sicheren Wissen des Ich-Erzählers und Handelnden zwischen tA und tE kein Ereignis eintritt, das dieser für erzählbar hielte. Der Zwischenraum zwischen tA und tE wird unter dem Aspekt des subjektiven Wissens als ausgefüllt angenommen, z. B. durch Routinehandlungen, deren Darstellung unterlassen werden kann. Der Leser weiß, daß zwischen tA und tE für das Subjekt kein weiterer Zeitpunkt liegt, an dem ein Ereignis, das für den Erzählvorgang notwendigerweise gewußt werden muß, eingetreten ist. Eine weitere Unterteilung des Zwischenraums in kleinere Teilstrecken ist daher sinnlos.
250
8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
In (4 b) bleibt zwar auch der zeitliche Zwischenraum zwischen tA und tE leer, aber die Leere wird anders verstanden als in (4 a): In der ErErzählung ist sie ein Nicht-Wissen; daher ist es möglich, diese Leere auszunutzen und in einer später eingefügten Retrospektive zwischen die vorher erzählten Ereignisse neue, dem Leser unbekannte Ereignisse anzuordnen (vgl. den gewöhnlichen Kriminalroman der Enthüllungen). In der Ich-Erzählung besteht die Leere darin, daß für das Subjekt zwischen den erzählten Ereignissen nichts geschieht. Aus diesem Grund ist in der IchErzählung ein retrospektives Nachtragen von Ereignis-Darstellungen nicht in der Weise möglich wie in der Er-Erzählung: Die Unterlassung von Ereigniswiedergaben muß besonders begründet werden (durch Wendungen wie: „Ich vergaß zu sagen ...", „Was noch nachzutragen ist...", „Ich habe vorhin . . . fortgelassen"). Die leeren Zeiträume der Er-Erzählung sind weißen Stellen vergleichbar, die in einem Text ausgemerzt wurden und deren Wonlaut man nicht kennt; die leeren Zeiträume in der IchErzählung sind wie weiße Stellen auf dem Druckpapier zwischen Buchstaben, Worten, Sätzen, Zeilen und Absätzen. In (4 b) ist die Ereigniszeit ,durcherzählt'. Aber sie ist nur wenig strukturiert. Das kann folgende Betrachtung zeigen: Wir wissen nicht, wieviel Zeit zwischen dem Hineingehen des Subjekts und dem Fensteröffnen verflossen ist. Ist es der übliche Zeitraum, den eine Person braucht, um in den ersten Stock zu gelangen und ein Fenster zu öffnen? Oder hat das Subjekt gedankenverloren in der Halle herumgestanden? Hat es versunken die Bilder im Salon betrachtet? Das Ich berichtet von dem zeitlichen Rhythmus, den es selbst erfahren hat, aber dieser kann erheblich von dem Zeitverlauf, der den Ereignissen unter intersubjektivem Aspekt gegeben wird, abweichen. Daher gibt es in der Ich-Erzählung (außer Datumsangaben) keine zeitliche Matrix, mit deren Hilfe die erzählte Zeit strukturiert werden könnte. In der Er-Erzählung wird vom Leser angenommen, daß die Darstellung durch den Ablauf der Ereignisfolge intern strukturiert wird. Die Darstellung der Gesamthandlung in (4 a) wird strukturiert durch das Betreten des Hauses, das Hinaufsteigen und Fensteröffnen. Die Dauer der Teilhandlungen darf dabei, wenn es nicht ausdrücklich erwähnt wird, nicht wesentlich von den üblichen Zeitspannen abweichen; das Subjekt kann sich zwischen tA und tE nicht unterwegs irgendwo vergessen haben. (Es ist aber möglich, daß in der Er-Erzählung der zeitliche Rhythmus gewechselt wird, z. B. wenn die anschließend erzählte Ereignisfolge zeitlich ganz andersartig strukturiert wird. Ein Rhythmuswechsel ist in der Ich-Erzählung wegen der verschiedenartigen zeitlichen Organisation, die
8.2 Die erkenntnistheoretische Struktur der beiden Erzählungen
251
von der Subjekt-Erfahrung her aufgebaut wird, nicht in gleicher Weise möglich.) 8.2.5 Syntaktische Formen als Erkenntnisgrenzen Die Ich-Erzählung baut eine Zeitstruktur auf, in der Ereignisse aus der Perspektive des Subjekts ohne Wissenslücken des Lesers miteinander verkettet sind, wobei die interne zeitliche Struktur der Ereignisfolge aber weitgehend ungeklärt bleibt. In der Er-Erzählung wird die Ereignisfolge zeitlich durchstrukturiert, während die Art ihrer Verkettung die Entstehung von Wissenslücken ermöglicht. Man könnte meine Untersuchung der vier exemplarischen Unterschiede zwischen Er- und Ich-Erzählung für spitzfindig und die angegebenen Verfahren, Wissen zu gewinnen oder zu bezweifeln, für Überzeichnungen des umgangssprachlichen Verstehens halten. Diesen Einwänden kann man entgegenhalten, daß ich mich auf umgangssprachliches Verstehen von Äußerungen beziehe, dessen genaue Analyse zum Gegenstand von Forschungen gemacht werden kann, und daß die Ergebnisse meiner Untersuchung weitgehend auf die beiden Erzählweisen in der „Recherche" zutreffen, aus dem Grunde, daß Proust sehr genau die Mittel der Umgangssprache für seine Zwecke ausgenutzt hat. Man wird viele Fälle zitieren können, in denen die angegebenen Unterscheidungen faktisch nicht getroffen werden. Darauf läßt sich antworten: Dann sind die Unterscheidungen in diesen Fällen überflüssig. Worauf es mir aber ankommt, ist, daß man sie überhaupt vornehmen kann, daß also die entsprechenden Sprachkonventionen existieren und daß es bestimmte wichtige Fälle geben kann, in denen das Verstehen von Texten davon abhängt, daß man diese Konventionen anwendet. Diese Fälle lassen erkennen, daß, selbst wenn es noch so viele Angleichungen und Nivellierungen der Unterschiede zwischen Ich- und Er-Form gibt, beide Formen verschieden verstanden werden können und verschiedenartige Wissensbasen aufzubauen erlauben. Die Lücke zwischen den Wissensbasen von Ich- und Er-Sätzen tritt dann in Erscheinung, wenn Texte die Verstehensmöglichkeiten der Sprache bis in letzte Feinheiten für sich ausnutzen. Syntaktische Formen enthalten implizite Annahmen über das mögliche Wissen, das man mit ihrer Hilfe gewinnen kann. Die literarische Form der Ich- und Er-Darstellungsweise läßt sich als eine Strategie, die impliziten Annahmen der Syntax anzuwenden, interpretieren. Diese Annahmen bestehen nicht in einfachen Festsetzungen. Es ist nicht eine Folge von Konventionen, daß die Ich-Form gegenüber der Er-Form und — unter anderem Aspekt — die Er-Form gegenüber der Ich-Form für die Konsti-
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
tuierung der Wissensbasis beschränkt ist. Die Konventionen drücken eine Erkenntnisbeschränkung des Informanten gegenüber der Erzählperson und den erzählten Ereignissen aus. Die Wahl bestimmter syntaktischer Mittel, von Er- und Ich-Sätzen, läßt sich aus der Art des Wissens begründen, das dem Informanten in der Er- und Ich-Erzählung zugänglich ist. Die Beschränkung des Informanten-Wissens wird in der „Recherche" anhand der Unmöglichkeit gezeigt, aus intersubjektivem Wissen subjektives Wissen und umgekehrt zu erschließen. Die Sprache gibt den Zustand der Erkenntnis genau wieder. Der Autor ist in seiner Erfindung den Annahmen, die in der Syntax seiner Sprache enthalten sind, unterworfen. Er kann neue Fähigkeiten der Erkenntnisgewinnung einführen, einen siebten Sinn, Gedankenlesen, Prophetien etc. Aber den fundamentalen Beschränkungen, die in der Syntax ausgedrückt werden, kann er innerhalb der Sprache nicht entkommen. 8.3 Die beiden Erkenntnisweisen Die Unterschiedlichkeit der beiden Erzählweisen läßt sich nicht aus einem Mangel der Sprache begründen. Die Sprachlogik spiegelt eine Eigenart der menschlichen Erkenntnis wider. Es gibt zwei verschiedenartige Erkenntnisweisen, die beide mit gleichem Recht verwendet werden, die aber in bezug auf den gleichen Sachverhalt zu unterschiedlichen Erkenntnissen führen. Dieses ist die These von Bergson in dem 1889 veröffentlichten „Essai sur les donnees immediates de la conscience" (Essay über die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins). Proust kannte den „Essai". Ich will indes keine direkte Beziehung zwischen Bergson und Proust konstruieren, sondern nur annehmen, daß Proust sich, wissentlich oder unwissentlich, aufgrund seiner Erzählweise auf Bergsons Argumentation im „Essai" bezieht. 8.3.1
Bergsons Argument
Bergsons Argumentation läßt sich als philosophische, als erkenntnistheoretische, Fundierung der Gegenüberstellung der beiden Erzählweisen in der „Recherche" auffassen. Ich will dies im einzelnen nachweisen, mit Hilfe einer Rekonstruktion, die ich von Bergsons Argumentation vornehme. Ich beginne mit einem Beispiel von Bergson (39 ff.): Farbige Oberflächen rufen verschiedene Farbempfindungen hervor, wenn man die Lichtverhältnisse, unter denen man sie wahrnimmt, verändert. Nehmen wir an, wir betrachten ein Blatt Papier, das von vier Kerzen
8.3 Die beiden Erkenntnisweisen
253
beleuchtet wird. Wenn wir nun eine Kerze nach der anderen auslöschen — was beobachten wir? Zwei verschiedene Beobachtungen sind möglich: (1) Was sich verändert, ist die Helligkeit. Dies führt zu unterschiedlichen Helligkeitseim/r«c£en. Die Oberfläche bleibt unverändert weiß. Nach dieser Beobachtung besteht die Veränderung in Differenzen der Helligkeit, die eine Veränderung der Eindrücke zur Folge hat. (2) Verändert werden die Farbeindrücke des Beobachters. Diese lassen sich auf eine Veränderung der Papieroberfläche zurückführen. Die Veränderung besteht in einer Differenz der Eindrücke; diese wird auf eine Veränderung des Gegenstands zurückgeführt. Die Wahrnehmungsbedingungen (z. B. die Helligkeit) bleiben unverändert. Welche der beiden Beobachtungen entspricht unserer Wahrnehmung? Nach der ersten Beobachtung bleibt die Papieroberfläche weiß. Sieht man aber die Farbigkeit des Papiers tatsächlich gleich bleiben? Nein, wir sehen einen Schatten über die Oberfläche laufen, in dem Moment, in dem eine Kerze ausgelöscht wird. Das Papier ist also zu dem Zeitpunkt, in dem nur noch eine Kerze brennt, nicht mehr in dem Sinne ,weiß* wie zu dem früheren Zeitpunkt, als alle vier Kerzen brannten. In der ersten Beobachtung unterdrücken wir diese Wahrnehmung. Dafür haben wir ein Prinzip eingeführt: „daß jedes Objekt seine eigene festgelegte und invariable Farbe hat." Wenn das ursprüngliche Weiß nach Auslöschen von drei Kerzen sich verändert hat, sagt der Beobachter nicht, „daß wir die Farben unter dem Einfluß von Helligkeitszunahme und -abnähme sich verändern sehen", sondern er behauptet, „daß die Farbe dieselbe bleibt, aber daß unser Eindruck der Lichtintensität zu- oder abnimmt" (38). Wir halten dogmatisch gegen unsere Wahrnehmungseindrücke an der Behauptung fest: daß die Objekteigenschaften unveränderlich, hingegen die Bedingungen, unter denen wir diese beobachten, veränderlich sind. Diese nenne ich ,Erkenntnisbedingungen'. Die Objektkonstanz bei gleichzeitiger Veränderung der Erkenntnisbedingungen ist eine notwendige Bedingung dafür, daß die Bewußtseinszustände als verändert wahrgenommen werden. Bei der ersten Beobachtungsweise schließt der Beobachter von Veränderungen der Eindrücke auf veränderte Erkenntnisbedingungen bei gleichbleibenden Objekteigenschaften. Diesen Schluß kann man in einer vereinfachten Schreibweise als eine materiale Implikation darstellen (als Wenn-dann-Satz); ,i' symbolisiere das Prädikat .Inkonstanz', ,k' das Prädikat ,Konstanz': (R.1) i-Eindrücke^ i-Erk.Bed. & k-Obj.Eig. (Wenn eine Veränderung der Eindrücke eintritt, dann läßt diese auf eine
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
Veränderung der Erkenntnisbedingungen und gleichzeitige Konstanz der Objekteigenschaften schließen.) Der Ausdruck (R.l) läßt sich als Regel interpretieren, nach der die Aussagen der ersten Beobachtungsweise zustande kommen. Die Veränderungen von Swanns Bewußtsein werden vom Er-Erzähler genau nach der Regel (R.l) beschrieben. Das zentrale Erkenntnisobjekt Swanns, Odette, bleibt für den Er-Erzähler eine Person mit unveränderlichen Eigenschaften. Vom ersten Augenblick ihres Auftretens an schreibt der Erzähler Odette Eigenschaften zu, an denen er bis an das Ende der Erzählung konstant festhält. Dies gilt ebenfalls für die anderen Personen, wie z. B. das Bestiarium des Verdurinschen Salons. Hingegen werden die Erkenntnisbedingungen, unter denen Swann Odette wahrnimmt, durch die ganze Erzählung hindurch grundlegend verändert. Die Dynamik der Erkenntnisbedingungen entsteht durch die unablässige Einwirkung der Einbildung (imagination) auf die Personenwahrnehmung Swanns. Sie führt bei ihm zu wechselnden Bewußtseinszuständen. Die Einbildung formt aus Odette, beginnend mit einem totalen Desinteresse, nacheinander einen Kunstgegenstand, der aufs Haar der Zephora, Tochter der Jethro, auf einem Fresco von Botticelli in der Sixtinischen Kapelle gleicht, dann den positiven Mythos einer liebevollen, ausschließlich auf sein Wohl bedachten Frau, schließlich den negativen Mythos einer Frau, die auch auf das Wohl jeder beliebigen Person bedacht ist, männlichen oder weiblichen Geschlechts, aus freiwilligen Stücken oder gegen Bezahlung. (R.l) auf die Swann-Erzählung angewendet lautet: Wenn Swanns Eindrücke — man kann verallgemeinern: sein Bewußtsein — sich verändern, dann läßt dies darauf schließen, daß sich die Einwirkung seiner Einbildung auf seine Wahrnehmung verändert hat, während die Eigenschaften Odettes gleichbleiben. Ich komme zur zweiten Beobachtungsweise. Im zweiten Verfahren wird die Veränderung der weißen Farbe wahrgenommen. Die Veränderung der Objekteigenschaften führt zu einer Veränderung der Eindrücke. Der Beobachter vergleicht seine veränderten Eindrücke miteinander und bewertet die Differenzen zwischen diesen. Ob sich bei der Veränderung seiner Eindrücke auch die Erkenntnisbedingungen verändert haben, davon weiß der Beobachter nichts. Er nimmt implizit ihre Konstanz an. Ohne dogmatische Festlegung kommt also auch dieses Verfahren nicht aus14. 14
Bergson bezieht sich bei der Diskussion der zweiten Beobachtungsweise auf einen anderen Versuch, den er aus Delboeuf zitiert (42 f.). Bei diesem Versuch
8.3 Die beiden Erkenntnisweisen
255
Die Konstanz der Erkenntnisbedingungen bei gleichzeitiger Veränderung der Eindrücke ist eine notwendige Bedingung dafür, daß der Beobachter die Objekteigenschaften als verändert wahrnimmt. Der Beobachter schließt von Veränderungen der Objekteigenschaften auf Veränderungen der Eindrücke und hält gleichzeitig die Erkenntnisbedingungen für unverändert. Wenn eine Veränderung der Objekteigenschaften eintritt, dann läßt diese auf eine Veränderung der Eindrücke bei gleichzeitiger Konstanz der Erkenntnisbedingungen schließen. In vereinfachter formaler Schreibweise: (R.2) i-Obj.Eig. -* i-Eindrücke & k-Erk.Bed. (R.2) ist die Regel, nach der die Aussagen der zweiten Beobachtungsweise zustande kommen. Nach der Regel (R.2) ist die Ich-Erzählung aufgebaut. Die Eindrücke des Ich sind starken Veränderungen unterworfen. Der IchErzähler weiß nichts über den Einfluß der Einbildung auf seine Wahrnehmung; er hält sie aus Unkenntnis für konstant. Hingegen sind die Eigenschaften der wahrgenommenen Personen, insbesondere Albertines, höchst veränderlich. Die Personenwahrnehmung des Ich kommt am Ende der Erzählung durchaus nicht zu unbezweifelbaren Beobachtungsergebnissen. Über die wichtigsten Personen und Ereignisse erhält man kein klares Bild, nicht einmal verläßliche Aufschlüsse. Man erhält, im Gegenteil, äußerst widersprüchliche Informationen. (R.2) auf die Ich-Erzählung angewendet lautet: Wenn die Eigenschaften der Hauptpersonen, vor allem Albertines, sich verändern, dann läßt dies darauf schließen, daß die Eindrücke (allg.: Bewußtseinszustände) des Ichs wechseln und gleichzeitig die Wahrnehmung frei von Einbildung bleibt. 8.3.2
Bergsons Erkenntniskritik
Beide Beobachtungs- oder Erkenntnisweisen, die ich soeben Bergson folgend näher gekennzeichnet habe, sollen im folgenden entlarvt werden; dies ist Bergsons Idee. Beide gehen von einer Konstanzannahme aus: von der Konstanz der O&/e£/eigenschaften die erste; von der Konstanz der Erkenntnisbedingungen die zweite. Beide Annahmen können, wie wir schon gesehen haben, durch die Erfahrung in Frage gestellt werden: handelt es sich darum, einen Beobachter die Lichtintensitäten von drei Grautönen miteinander vergleichen und die Unterschiede zwischen diesen bewerten zu lassen. Der Einfachheit halber stelle ich Bergsons Überlegungen im Zusammenhang mit dem im Text zitierten Versuch dar; ich übertrage also Bergsons Kritik des Delboeufschen Versuchs und dessen Interpretation sinngemäß auf das Experiment mit den vier Kerzen.
256
8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
1. Eine unvoreingenommene Beobachtung läßt erkennen, daß Objekteigenschaften durchaus nicht als konstant wahrgenommen werden. 2. Auch die Erkenntnisbedingungen eines Beobachters sind nicht konstant; dies erkennt man aus einem Vergleich zwischen dem, was das Ich als bestehenden Sachverhalt annimmt, und dem, was intersubjektiv als bestehender Sachverhalt gilt. Ohne die Konstanzannahmen aber, sei es die erste oder sei es die zweite, können wir Veränderungen unserer Eindrücke — allgemein: unseres Bewußtseins — überhaupt nicht beschreiben, weder Veränderungen bei uns selbst noch bei anderen Personen. Denn es gibt nur diese zwei Analysemöglichkeiten: Entweder verändert sich das Bewußtsein aufgrund einer Veränderung der Erkenntnisbedingungen; oder es verändert sich aufgrund einer Veränderung von Objekteigenschaften. Kurz, entweder wählt man für die Beobachtung und Beschreibung eines sich verändernden Bewußtseins die Form der Ich-Erzählung oder die Form der Er-Erzählung (im Sinne der „Recherche"). Eine dritte gibt es nicht. Beide Beobachtungsweisen verfälschen unsere Erfahrungen. Sie sind unfähig, „unser wahres Ich" zu erreichen. Beide haben das Ziel, Differenzen von Bewußtseinszuständen (möglichst genau) zu erfassen. Es wird also nach beiden Beobachtungsweisen angenommen, daß man Eindrücke — Bewußtseinszustände allgemein — im Geist nebeneinanderstellen und vergleichen kann. Aber Bewußtseinszustände sind prinzipiell unvergleichbar. Die Erfahrung von Bewußtseinszuständen ist, wie Bergson sagt, qualitativ. Sie erfaßt Intensitäten. Bergson meint damit folgendes: Eine Intensität ist aus dem Bewußtsein nicht hervorhebbar und gegenüber einer anderen nicht abgrenzbar (89). Sie hat daher keine Form, keine Ausdehnung und keine Begrenzung — und aus diesem Grund weder eine Gestalt noch ein Gewicht, noch eine Kraft. Darin unterscheiden sich Intensitäten fundamental von beobachtbaren Gegenständen. Wir benennen Intensitäten, als seien sie Gegenstände. Aber was wir benennen, sind im Grunde „geistige Synthesen" (89). Die beiden Aussageformen, die des Ich und des Er, verstoßen gegen diese Einsicht: Sie überführen den „qualitativen Eindruck, den unser Bewußtsein empfängt, in eine quantitative Interpretation, die unser Verstand davon gibt" (38). Unter dem Einfluß unserer gesellschaftlichen Erfahrung, insbesondere der Sprache, können wir uns nicht der Tendenz entziehen, Intensitäten zu „verfestigen" (solidifier). „L'idee d'intensite est done situee au point de jonction de deux courants, dont Tun nous apporte du dehors l'idee de grandeur extensive, et dont l'autre est alle chercher dans les profondeurs de la conscience, pour l'amener ä surface, l'image
8.3 Die beiden Erkenntnisweisen
257
d'une multiplicite interne" (54. [Die Idee der Intensität befindet sich also an der Stelle, wo zwei Strömungen zusammentreffen, deren eine uns von außen die Idee ausgedehnter Größe heranträgt und deren andere in den Tiefen des Bewußtseins das Bild einer inneren Vielfältigkeit findet, um es mit sich an die Oberfläche zu nehmen.])
„Le temps ä l'etat pur", die Erfahrung der reinen Zeit, das zweite Erkenntnisziel, wird in den beiden Erzählungen ebensowenig erreicht, aus dem gleichen Grund; ich gebe ihn kurz an: Die Zeiterfahrung ist, ebenso wie die Erfahrung der Bewußtseinszustände, qualitativ; die reine Zeit ist eine Intensität15. Sie ist nicht mitteilbar. Was wir über die Zeiterfahrung aussagen, ist eine quantitative Umformung: Ein homogener Raum wird aufgespannt; in diesem werden Zeitpunkte angeordnet, Folgen von Zeitpunkten aufgebaut und Zeitstrekken eingeführt16. Die genuin zeitliche Erfahrung wird, in räumliche Verhältnisse übertragen, verfälscht. In beiden Erzählungen wird die Zeiterfahrung venäumlicht. Zu diesem Zweck werden zwei verschiedene Raummodelle verwendet: In der ErErzählung wird die erzählte Zeit als eine Folge von Punkten auf einer Geraden dargestellt, wobei die Zeitstrecken zwischen den Punkten unbekannt bleiben. In der Folge von Zeitpunkten wird eine Ereignisfolge abgebildet. Die Ich-Erzählung zergliedert einen festgelegten Zeitraum in desorganisierte autonome Zeitstrecken, deren Binnenstruktur unerkennbar bleibt. Auf die autonomen Zeitstrecken werden zeitlich unstrukturierte Vorgänge des Bewußtseins abgebildet. 15
16
Vgl. Bergson, 79, ebenso 82: „H y a une duree reelle, dont les moments heterogenes se penetrent." . .. la duree proprement dite n'a pas de moments identiques ni exterieurs des uns aux autres, etant essentiellement heterogene ä ellememe, indistincte et sans analogic avec le nombre" (89). Die „vraie duree" kann von der Alltagserfahrung unseres konventionellen Ichs nicht erfaßt werden, denn sie ist eine „multiplicite qualitative . . . au dessous du moi aux etats bien definis, un moi oü succession implique fusion et organisation" (95); zur Kennzeichnung der „multiplicite qualitative" vgl. S. 102. Bergson, 89: „.. . que l'espace seul est homogene, que les choses situees dans l'espace constituent une multiplicite distincte, et que toute multiplicite distincte s'obtient par un deroulement dans l'espace." Die räumliche Umformung unserer psychischen Zustände „korrumpiert unsere Vorstellungen über die äußere Veränderung und innere Veränderung, der Bewegung und der Freiheit an ihrer eigenen Wurzel" (55). Die Verwendung des „Hilfsraums" (81) bindet Bergson an das Bewußtsein: Die Folge von psychischen Zuständen „existiert allein für einen bewußten Zuschauer, der sich an die Vergangenheit zurückerinnert..." (81).
258
8.3.3
8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
Zur Beziehung zwischen Proust und Bergson
Die Gegenüberstellung der Bergsonschen Philosophie und der Proustschen Erzählkonzeption muß mit einer Reihe kritischer Bemerkungen versehen werden. Meine Argumentation dient nicht dazu, diese Arbeit in die Reihe der Proust-Interpretationen zu stellen, die einen Einfluß Bergsons auf Proust — oder sogar eine Abhängigkeit Prousts von Bergson — behaupten 17 . Das Verhältnis von Proust zu Bergson ist in der 1976 erschienenen Arbeit von Joyce N. Megay sehr genau und umsichtig untersucht worden. Es besteht kein Zweifel, daß Proust in den konstruktiven Teilen seiner philosophischen Theorie einen ganz anderen Entwurf entwickelt als Bergson18. Die Übereinstimmung der beiden liegt fast ausschließlich im negativen Aspekt ihrer Überlegungen, insbesondere in der Kritik, auf die sich meine Darstellung stützt: Die meßbare Zeit gibt nicht die „Elastizität der psychologischen Zeit" wieder; die Intelligenz ist unfähig, das Qualitative zu erfassen, und sie deformiert unsere Tiefen-Eindrücke, wenn sie versucht, diese zu formen; die gewöhnliche Sprache ist unfähig, die individuelle Erfahrung auszudrücken; die Erinnerung der Intelligenz ist nicht geeignet, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen; das gewöhnliche Ich ist ein Oberflächen-Ich, das die Person von dem wahren Leben, dem Leben des Tiefen-Ich, abhält (nach Megay, 151). In allen Annahmen, die über die Kritik hinausgehen und die Explikation der neu eingeführten Begriffe betreffen, „moi profond", „temps psy17 18
Einen Überblick über die bisher vorgebrachten Annahmen zu dem Einfluß von Bergson auf Proust findet sich bei Megay, 29—50. Megay untersucht anhand von Briefen, Gesprächen und Interviews die Ansichten, die beide Autoren voneinander hatten. In dem Zeitraum, in dem Proust begann, den Plan zu seinem Roman zu entwerfen, stand Bergson keineswegs im Zentrum seines Interesses (Megay, 16). Der Einfluß von Bergson auf Proust geht auf eine frühere Zeit zurück, auf die Periode von 1889 bis 1896. Zu den Übereinstimmungen zwischen Proust und Bergson bemerkt Blondel, „. . . peutetre serait-il plus juste de dire ce que Proust doit a Bergson, il l'a moins emprunte que retrouve" (187). Als in späteren Jahren immer häufiger die Rede von Prousts Bergsonismus ist, geht Proust selbst, in einem Interview mit ElieJoseph Bois 1913 für Le Temps, auf Distanz zu Bergsons Philosophie (Megay, 16). Die letzten Briefe heben seine Unabhängigkeit gegenüber Bergson hervor, so sein letzter Brief überhaupt, an Camille Vettard, dem er in Klammern hinzufügt: „il n'y a pas, pour autant que je peux m'en rendre compte, suggestion directe" (in: Choix de Lettres, 272). — Auch Bergson seinerseits formuliert einige Vorbehalte gegenüber Prousts literarischer Konzeption, so z. B. in Gesprächen mit Floris Delattre 1941 (Megay, 27). — Megay bringt, H. Bonnet folgend, einige überzeugende Argumente vor, die eher für einen Einfluß des idealistischen Rationalismus seines Philosophie-Lehrers Darlu sprechen (43).
8.3 Die beiden Erkenntnisweisen
259
chologique", „memoire involontaire", die Ausdrucksmöglichkeiten der poetischen Sprache, die positive Rolle der Intelligenz, finden sich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Bergson und Proust. Prousts Zeitphilosophie entwirft die Zeit als diskontinuierliche Folge von isolierten Zeitstrecken, die sich nicht, wie bei Bergson, durchdringen können 19 . Das Ziel der „Recherche": eine Erfahrung außerhalb des Zeitflusses („un peu de temps ä l'etat pur" oder J'intemporel"), gewonnen durch ein Ich, das mit Hilfe eines besonderen Erkenntnisverfahrens der Intelligenz das Qualitative20 aufnimmt, steht in klarem Gegensatz zu Bergsons Auffassung von der Erfahrung der „duree". Halten wir fest, daß in meiner Gegenüberstellung von Bergson und Proust allein die Kritik an dem konventionellen Ich, der meßbaren Zeit, der gesellschaftlich geformten Intelligenz und der Umgangssprache als Vergleichsgrundlage beider Autoren gelten kann. Nur unter dem Aspekt dieser Kritiken besteht eine enge Beziehung zwischen der Proustschen Erzählweise und der Bergsonschen Philosophie. Sobald es sich darum handelt, die neu eingeführten Gegenbegriffe, insbesondere das wahre Ich und die wahre Zeiterfahrung zu explizieren, entstehen unüberbrückbare Differenzen zwischen Proust und Bergson. Proust stellt den Annahmen eines zeitlichen Relativismus, der zeitlichen Erfahrung und der Unmöglichkeit, die Zeiterfahrung darzustellen, die Bergson im „Essai" entwikkelt, einen eigenständigen Entwurf entgegen. Dieser Gegenentwurf ist, 19
20
Nach Bergson ist es unmöglich, den Zeitfluß zu verlassen. Man muß im Gegenteil versuchen, sich in die „duree" hineinzuversetzen. Vgl. Megay, 71: „. . . la duree bergsonienne exclut toute possibilite de repetition: puisque la vie interieure est en devenir, et que chaque changement qualitatif affecte la totalite de la conscience, deux moments identiques ne peuvent se produire dans le cours d'une existence." Der Begriff der Zeit ist bei Proust — so haben eine Reihe von Interpreten gefunden — verräumlicht. Megay bezieht die Kritik Bergsons an der verräumlichten Zeit auf Prousts Zeitbegriff: „. . . c'est bien le temps spatialise que Bergson rejeue comme etant la deformation que notre intelligence pratique opdre sur le reel" (72). Megays Annahme ist zu bezweifeln; ich glaube, sie ist durch Prousts eigene Sprechweise (von der vierten Dimension des Raumes und der „psychologic dans l'espace") irregeführt worden. Prousts Redeweise über die Zeit ist eher als metaphorisch aufzufassen. Seine eigene Zeitkonzeption ist nicht mit einer Projektion der Zeit auf einen Raum oder auf eine Gerade zu vergleichen. Die zeitlichen Essenzen, von denen weiter unten die Rede sein wird, sind rein qualitativ und haben keine räumliche Komponente, auch wenn Prousts Sprechweise dies manchmal anzudeuten scheint. Der Begriff der Qualität unterscheidet sich bei Proust von demjenigen Bergsons, vgl. Bonnet, 41.
260
8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
wie wir sehen werden, der Grund für die strukturelle Organisation seines Romans. 8.4
Prousts Lösung des Erkenntnisproblems
„Notre vrai moi" und Je temps a l'etat pur" sind nur in absoluten Ausnahmesituationen erfahrbar. In keinem Fall sind sie ausdrückbar. Die Sprache zwingt uns durch ihre immanente Logik eine Beobachtungsweise und eine Darstellungsform auf, die unsere Erfahrungen verfälschen. Dies ist das Ergebnis von Bergsons Überlegungen (96). Warum also in der „Recherche" die beiden Erzählweisen in den beiden möglichen, aber doch verfälschenden Darstellungsformen? Warum die Strukturgleichheit, wenn beide Beobachtungsweisen doch zu verschiedenen Resultaten führen? Worin besteht die Erkenntnis, die Proust durch seinen Roman vermitteln will? In der „Wiedergefundenen Zeit" werden diese Fragen beantwortet. 8.4.1
Das Ende der Suche
Die Er- und die Ich-Erzählung haben die Bewegungen einer Suche, die immer wieder in die Irre läuft21, beschrieben. Die Unsicherheit der beiden Erzähler, ihre Irrtümer, Täuschungen, Rationalisierungen sind durch die Erzählweisen adäquat wiedergegeben worden. Doch mit einem Schlag sind die Irrtümer beendet; die Suche findet ihr Ziel, aus Zufall. Der IchErzähler wird auf dem Weg zu einer Matinee der Guermantes von einem Eindruck getroffen, als sein Fuß einen unebenen Pflasterstein berührt. Es wird ihm unmittelbar klar, daß es sich um denselben Eindruck handelt wie bei einem lange zurückliegenden Ereignis auf dem Markusplatz in Venedig. Damals hatte er einen ganz charakteristischen einzigartigen Eindruck, als er auf eine unebene Stelle des Pflasters getreten war. Allein, zurückgezogen in der Bibliothek der Guermantes, macht er eine Reihe gleichartiger Entdeckungen: Immer wieder gelingt es ihm, einen gegenwärtigen Eindruck mit einem ausgezeichneten, einzigartigen Eindruck, den er in der Vergangenheit einmal hatte und der ihn damals frappierte, ineinszusetzen. Was ist geschehen? Marcel geht in einer langen, intensiven Reflexion der Frage nach. Es kommt darauf an, den bloßen Eindruck von Wahrheit in eine Einsicht, die mitgeteilt und überliefert werden kann, zu überführen. Nicht noch einmal darf die Gelegenheit zu dieser Einsicht versäumt werden, so wie es Marcel nicht gelungen war, die 21
Vgl. Deleuze, 44.
8.4 Prousts Lösung des Erkenntnisproblems
261
Erfahrung der Madeleines, die zu Beginn des Romans geschildert wird und die der Ausgangspunkt der Suche ist, aufzuklären. Eines hat Marcel bei der damaligen Episode gerade wegen des Scheiterns seiner Klärungsversuche erkannt: die reine Erinnerung, das Nacherleben von Momenten der persönlichen Vergangenheit führt keinen Schritt an die gesuchte Erkenntnis heran. Die Erinnerung ist nichts anderes als eine Konstruktion des abstrahierenden Verstandes, der gerade die Eigenschaften der duree zerstört, indem er das Erfahrene räumlich darstellt. Auch das Erleben selbst vermittelt keine Erkenntnis. Alle Erlebnisse, die Marcel sucht, enden in den „Proustschen Enttäuschungen", weil sich Erwartungen, Illusionen und Imaginationen über unsere Erfahrung legen und wir eigentlich nie zum Erleben dessen, was vor sich geht, gelangen22. Das Vergessen schließlich ist ohnehin ein dem Erkennen diametral entgegengesetzter Vorgang. Marcel sieht jetzt mit größter Schärfe, daß Swanns und sein eigenes Vergessen eine Unterwerfung unter die zerstörerische Kraft der Zeit darstellt. Der Weg der beiden erzählten Personen, Swanns und Marcels, das erkennt Marcel in diesem Augenblick deutlich, führt genau in die falsche Richtung (III, 877 f.). Die Erfahrung der Madeleines und des Pflasters hat gezeigt, daß es möglich ist, einen Moment aus dem unmittelbaren Erleben in der Vergangenheit wieder zu erzeugen — allerdings nicht in einem willkürlichen Akt. Beide Erfahrungen werden durch Zufall wiedergefunden. Sie werden durch nicht-kontrollierte sinnliche Eindrücke ausgelöst, die sich auf eine Erfahrung in der Vergangenheit beziehen (III, 889 f.). So bezieht sich die Erfahrung des Schmeckens der Madeleines zu Beginn der Suche auf die Situationen, in denen Marcel bei seiner Tante Lindenblütentee trank. Beide Arten von Erfahrung haben eine „gemeinsame Qualität" (une qualite commune). Die Erfahrungen sind aufgrund intensiver und höchst charakteristischer Geschmacks- und Geruchseindrücke aufeinander bezogen. Im Fall der Pflastersteine handelt es sich um taktile Erfahrung. Bei allen Beispielen Prousts entsteht die Analogie durch Erfahrungen, die sich vom Bewußtsein wenig kontrollieren lassen und durch die Sprache in geringem Maß vorgeprägt sind. Die Beziehung zwischen zwei Erfahrungen, einer gegenwärtigen und einer vergangenen, ist ein Schlüssel, der eine codierte Mitteilung zu 22
„Des impressions telles que celles que je cherchais ä fixer ne pouvaient que s'evanouir au contact d'une jouissance directe qui a ete impuissante ä les faire naitre .. . Et la recapitulation que je faisais des deceptions de ma vie, en tant que vecue, et qui me faisaient croire que sä realite devait resider ailleur qu'en l'action ..." (Recherche III, 877).
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
dechiffrieren hilft und die verschlossene Welt der unmittelbaren Erfahrungen für ein bewußtes Erleben öffnet. Unter einem zufällig eintreffenden Eindruck wird der Bezug zu einem vergangenen Moment in vollständiger Erlebnisfülle23 hergestellt und eine gemeinsame Qualität, die von den Zufälligkeiten der Zeit abstrahiert, erfahren. Diese nennt Proust „Essenzen" (889). Die Essenzen sind keine letzten Wahrheitsinstanzen überindividueller Erkenntnis. Sondern es sind Qualitäten, die in der duree erfahren werden; sie sind also in diesem Sinn zeitlich geprägt. Zugleich sind sie aber durch die unbewußte Erinnerung (memoire involontaire) aus der duree der Lebensgeschichte herausgenommen. Die Essenzen sind authentische zeitlich erfahrene Qualitäten, die aus dem Verbund der duree herausgelöst sind und dem Individuum als reine Erfahrungen erscheinen (III, 879)24. Die Suche ist an ihr Ziel gekommen: Marcel erfaßt in der Erfahrung der reinen Zeit sein wahres Ich. Es ist ihm gelungen, was Bergson für die wichtigste Aufgabe der Erkenntnis gehalten hat: das konventionelle „Ich der wohldefinierten Zustände" (95) durchbrechen und darunter das „fundamentale Ich" (96) freilegen (die Begriffe sind von Bergson). Die Erfahrung des wahren Ich beendet die bisherige Ich-Erzählung. Das konventionelle Ich verändert sich in das fundamentale Ich, und das neue Ich kündigt an, einen Roman zu schreiben. 8.4.2
Der neue Roman
Die Suche Marcels kommt an ihr Ziel. Aber ans Ziel kommt die im Roman beschriebene Suche einer fiktiven Person. Dadurch ist noch nicht die Suche des Romans, des Autors Proust, nach einer Darsteüungsmöglichkeit des wahren Ichs seiner Romanpersonen und des qualitativ erfahrenen Zeitverlaufs an ihr Ende gelangt. Die Sekundärliteratur übersieht sehr oft, daß nicht nur Marcel, sondern auch Proust ein Erkenntnisziel verfolgt. Beide 23 24
Vgl. Recherche III, 889: „Une heure n'est pas qu'une heure, c'est un vase rempli de parfums, de sons, de projets et de climats." Wenn wir Essenzen wiedererzeugen, erleben wir erneut unsere authentische Person des vergangenen Zeitpunkts, an den wir uns erinnern. Proust diskutiert diese Erfahrung des wahren Ichs an dem Beispiel, wo das Aufschlagen eines Buchs („Fran9ois, le Champi" von Georges Sand) diesen Effekt hervorruft: „. . . si je reprends, meme par la pensee, dans la bibliotheque, Franfois, le Champi, immediatement en moi un enfant se leve qui prend ma place ... qui le lit comme il le lut alors, avec la meme impression du temps qu'il faisait dans le jardin, les memes reves qu'il formait alors sur les pays et sur la vie, la meme angoisse du lendemain" (III, 885).
8.4 Prousts Lösung des Erkenntnisproblems
263
Suchen, die der Romanperson und die des Autors, sind nicht identisch, sondern werden miteinander verknüpft, weil das neue Ich seine eigene Suche in einem Roman darstellen wird. Das neue Ich muß also das Problem Prousts lösen: es muß eine geeignete Darstellungsform des wahren Ichs und der reinen Zeit finden. Daß dies gelingt, steht für Proust mit Sicherheit fest. Wenn wir annehmen, der Roman sei erst noch vom Ich zu verfassen, dann führt dies zu einer absurden Situation; dazu zwei Bemerkungen: Erstem läßt sich nach Bergson zeigen, daß weder Ich- noch Er-Form die Darstellung, die im neuen Roman gegeben werden soll, zu leisten fähig ist. Eine andere Beschreibungsform aber gibt es nicht. Der Roman könnte also überhaupt nicht erzählt werden. Genau dies sagt auch Bergson selbst: „Wenn doch jetzt ein entschlossener Romancier" daranginge und „die Leinwand, die unser konventionelles Ich kunstvoll gesponnen hat, zerrisse" und uns unter der dogmatisch festgesetzten Welt die Wirklichkeit so zeigte, wie sie uns erscheint! — Aber nein, das ist unmöglich; auch die Dichter sind Gefangene der Sprache und der konventionellen Wahrnehmungsweisen (99). Dies meint Bergson. Proust muß diese Meinung als eine Herausforderung betrachtet haben. Die zweite Bemerkung hängt eng mit dem zusammen, was ich gerade festgestellt habe: Es ist undenkbar, daß der Roman nur angekündigt, aber nicht vorgelegt wird. Aber, wie Genette zweifelsfrei am Text nachgewiesen hat, kann der neue Roman nicht mit Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit" identifiziert werden. — Wo ist also der Roman, der den Irrweg von Swann und Marcel so darstellt, daß hinter dem konventionellen Ich das wahre Ich zum Vorschein kommt und hinter der verräumlichten Zeit die qualitative Zeit? Proust behält die Erfahrung von Essenzen keinesfalls nur seiner Romanperson Marcel vor. Im Gegenteil: Jeder Leser hat „ein inneres Buch" (livre interieur, III, 879 f.). Der Grundgedanke Prousts ist, daß die Wahrheit, die wir suchen, nicht außerhalb von uns liegt, sondern unmittelbar unserer Einsicht zugänglich ist: es kommt darauf an, sie in uns selbst zu entdecken. Dies gilt für den Leser ebenso, wie Proust es für die fiktive Person Marcel behauptet 25 . Die Lösung des Problems zeichnet sich ab: Essenzen lassen sich zwar nicht mitteilen; sie können nicht mit Hilfe von Symbolen vermittelt werden; aber sie sind im Leser ebenso erzeugbar wie im fiktiven Romanerzähler. Der Roman muß so eingerichtet werden, 25
Recherche III, 881: Dieses Problem des Erfassens von Essenzen kann allein durch die Kunst gelöst werden.
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
daß der Erzeugungsprozeß im Leser selbst in Gang gebracht wird. Der Roman fordert vom Leser eine Eigenaktivität, um das Erkenntnisproblem zu lösen. Der Roman ist nicht mehr als ein Auslöser, um diese in Gang zu setzen. Der Schriftsteller, sagt Proust, ist der „Übersetzer des inneren Buchs seiner Leser" (III, 890). Er ist es in dem Sinne, daß sein Roman den Schlüssel für die Dechiffrierung zur Verfügung stellt. Welcher An ist dieser Schlüssel? Er gibt das Grundprinzip der Erkenntnis der duree und des Ichs an: des Übersteigens unseres an konzeptuelle Instrumente gebundenen Denkens. Der Roman führt den Leser dahin zu begreifen, wie ein unmittelbares Erfassen der Wirklichkeit möglich wird26. Nach Prousts Grundprinzip ist jede Form der Darstellung von Erleben falsch, insofern als sie ernsthaften Erkenntniseinschränkungen unterworfen ist. Der Wahrheit nähern wir uns nur dann, wenn wir die beiden dogmatischen Konstanzannahmen aufgeben und damit jede Darstellung überhaupt in Frage stellen. Wir wissen, daß die jeweils andere Darstellungsform die Konstanzannahme der eigenen Form nicht enthält. Wir können den dogmatischen Beschränkungen dann entkommen, wenn wir die beiden Erzählungen ineinssetzen und die Konstanzannahmen von der jeweils anderen Darstellungsform in Frage stellen und damit aufheben lassen. Mit den letzten Überlegungen haben wir alle Teile des neuen Romans in die Hand bekommen. Der Roman, der nicht in der Sprache ausgedrückt werden kann, entsteht im Kopf des Lesers, wenn dieser die Er- und die Ich-Erzählung ineinssetzt27. Dies ist Prousts Romanidee: im Leser seihst eine neue Erzählung entstehen zu lassen, die sprachlich nicht ausgedrückt 26
27
Die Geschichte Marcels ist unter diesem Aspekt ein Roman der Ich-Entdekkung: Das konventionelle Ich wird durchbrochen, dadurch daß Marcel zu einer authentischen Erfahrung der Zeit und seiner selbst fähig wird; das neue Ich ist, im Sinne Bergsons, in der Lage, frei zu handeln (vgl. Bergson über den „acte libre", 133). Am Ende der „Recherche" wird der Leser indirekt dazu aufgefordert; Proust schließt durch Verbindungen der verschiedensten Art die beiden Erzählungen zusammen: geographisch — Guermantes und „le cot6 de chez Swann", Tansonville, werden als benachbart dargestellt (z. B. III, 1010); biographisch — „ . . . mon amour pour Albertine avait repete, avec des grandes variations, l'amour de Swann pour Odette" (III, 1015); schließlich heiratet die Tochter Swanns und Odettes Robert de Saint-Loup; die beiden Familien, die zentraler Erzählgegenstand der beiden Romane sind, Swann und Guermantes werden also miteinander verbunden, und die Verbindung der beiden Familien und der beiden Romane wird in der aus der Ehe hervorgegangenen Tochter, Meile, de Saint-Loup, repräsentiert. In einer allegorischen Interpretation kann man Meile, de Saint-Loup als Repräsentation des neuen Romans auffassen.
8.4 Prousts Lösung des Erkenntnisproblems
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werden könnte, in der zwei Erzählteile — jeder für sich genommen beschränkt, Konventionen ausgeliefert, teilweise unrichtig, lückenhaft — miteinander in Beziehung gesetzt werden: Wo der eine unrichtig ist, sagt der andere die Wahrheit; wo der eine Informationen verschweigt, unterrichtet der andere den Leser bis in die letzten Details; was in dem einen verfestigt wird, bringt der andere in Fluß; was in dem einen behauptet wird, stellt der andere in Frage; was in dem einen fest strukturiert ist, zerfällt in dem anderen in eine desorganisierte Vielfalt. Wir wissen von jeder Erzählung, daß sie — unter dem gewählten Beschreibungsaspekt — richtig, unter dem Aspekt der anderen Erzählung nicht richtig ist. Aber wenn wir beide Erzählungen miteinander vereinen, entsteht aus den beiden Wissensbasen ein neues Wissen. Wenn wir die Suche so lesen, läßt sich erkennen, wie Krankheitsgeschichten von der Art Swanns und Marcels überhaupt möglich werden, wie Personen Mythen von sich selbst und anderen Personen formen und sich in einen undurchdringlichen Cocon einspinnen. Wenn wir auch nur beginnen, über uns selbst und andere Personen zu sprechen, haben wir schon den ersten Schritt getan, uns selbst und die anderen Personen als Kunstfiguren zu zeichnen. Denn wir müssen uns entweder in der Ich- oder in der Er-Form ausdrücken. Beide sind der Anfang von Fiktionen. Solange wir die Sprache benutzen, fallen wir zurück in Geschichten vom Ich und Er und können unmöglich die festgelegten Erkenntnisweisen vermeiden. Den Roman des neuen Ichs, in unseren Köpfen herzustellen, kann man als einen großen Diskurs über die Verhinderung von Erkenntnis durch die Sprache und die Einbildung (imagination) entwerfen. Proust sagt nicht, wie dieser Roman aufgebaut sein könnte. Er hat alle Steine angeordnet — es ist am Leser, die richtigen Züge zu wählen. Die Romanstruktur der „Suche nach der verlorenen Zeit" erlaubt es Proust, am Ende zu schweigen18. Der Leser kann den neuen Roman so weit entwickeln, wie er Material aus den beiden Erzählungen in der Hand hat. Der neue Roman bleibt also umrißartig und kann keine Essenzen enthalten. Proust hat aber die erklärte Absicht, den Leser zur Erkenntnis seiner selbst und der duree in seiner Lebensgeschichte zu führen. Das Grundprinzip der Erkenntnis, das 28
In dieser Interpretation erscheint die „Recherche" als ein Versuch, genau das, was Proust an der „Sylvie" in dem Kapitel über Gerard de Nerval (im „Contre Sainte Beuve") mit Bewunderung hervorhebt, nämlich die höchste Subjektivität und Unsicherheit des eigenen Erlebens dargestellt zu haben, mit eigenen Mitteln und auf einem ungleich größeren Maßstab zu erreichen und dabei gleichzeitig die philosophisch überlegene Position einzunehmen: daß die Subjektivität überwunden werden kann und die Wahrheit in der Kunst erreichbar ist.
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8 Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit"
in der Suche enthalten ist, gilt auch für den Leser. Dieser kann das Prinzip auf seinen eigenen Fall anwenden und Essenzen seines eigenen Lebens erfahren. Die Eigenaktivität des Lesers hat, wenn es diesem gelingt, den neuen Roman aufzubauen, zwei Folgen: die Einsicht in das Romangeschehen und, wenn daraus das Grundprinzip der Erkenntnis auf den eigenen Fall übertragen wird, in sein eigenes Leben und seine eigene Person. So lernt man an der Lektüre der „Suche nach der verlorenen Zeit" das Lesen des eigenen inneren Buches. Prousts Arbeit als Schriftsteller umfaßt zwei Aufgaben, die aufeinander bezogen sind: Er will die Übersetzung des inneren Buchs ermöglichen. Dies ist sein philosophisches, nicht unmittelbar literarisches Problem. Aber anders als durch die Kunst ist diese erkenntnistheoretische Aufgabe nicht zu lösen. Prousts philosophisches Problem erfordert eine Lösung mit Hilfe der literarischen Form. Als Romanautor baut er eine formale Einrichtung auf, die dem Leser ein Grundprinzip der Erkenntnis vermittelt und diesen hinter die Ausdrucks- und Erkenntnismöglichkeiten der Sprache vordringen läßt. Prousts formale Erfindung in der Literatur führt zu neuen Erkenntnissen, weil die Darstellungsformen unserer Sprache, die er aufeinander bezieht, erkenntnistheoretisch fundiert sind. Die literarische Form führt über die begriffliche Erkenntnis hinaus. Die Innovation der Romanstruktur stellt die Lösung eines Erkenntnisproblems dar. Wenn diese Überlegungen auf die Literatur im allgemeinen übertragen werden können, läßt sich die literarische Form als eine Vorrichtung deuten, die geeignet ist, die konzeptuelle Gebundenheit unseres Denkens zu überwinden und nicht-begriffliche Erkenntnis zu gewinnen. Die Literatur ist in dieser Interpretation eine Arbeit gegen die Grenzen der Sprache.
9
Schluß: Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
Die vorliegende Arbeit baut auf dem Gedanken auf, daß die Theorie des Symbolischen Wissens einen ausgezeichneten und bedeutenden Forschungsbereich konstituiert. Im abschließenden Kapitel soll der Bereich näher gekennzeichnet werden. In den vorausgegangenen Kapiteln habe ich implizit vorausgesetzt, daß in einem solchen Bereich Grundlagen der interpretativen Wissenschaften diskutiert werden und daß er bisher als ein geschlossener, einheitlicher Forschungsgegenstand nicht untersucht worden ist.
9.1
Grundannahme der Theorie des Symbolischen Wissens
Es gibt — wie könnte es anders sein? — unzählige Arbeiten, die sich mit Problemen des Symbolischen Wissens beschäftigen: Arbeiten der Symboltheorie, der Semiotik, der Sprachtheorie, der Erkenntnistheorie, der Sprechakttheorie, der linguistischen Stilistik, der Handlungstheorie, der kognitiven Soziologie und Psychologie etc. Nur ein winziger Bruchteil von ihnen wurde hier erwähnt. Der Grund liegt darin, daß kaum eine der Arbeiten die Einheit der Probleme des Symbolischen Wissens hervorhebt. Man könnte einige der Probleme des Symbolischen Wissens bis in die Antike zurückverfolgen, bis zu Sextus Empiricus oder Aristoteles1. Aber erst die ältere Hermeneutik, zuerst Schleiermacher, arbeitete den neuen Forschungsbereich heraus, indem sie die folgende Grundannahme G aufstellte: (G) Das Wissen von Personen und die Zeichensysteme, die zur Vermittlung dieses Wissens verwendet werden, stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Wissen wird unter Einfluß von Symbolsystemen konstituiert; Symbolsysteme werden in der Weise gebildet, daß sie Wissen auszudrücken fähig sind. 1
Vgl. T. Todorov, Thdories du Symbole, 14—33.
268
9 Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
Wissen wird durch Symbolsysteme, Symbolsysteme werden durch Wissen geformt. Die Annahme (G) konstituiert die Einheit der Probleme, die auf Symbolisches Wissen bezogen sind. Sie entsteht durch eine Verknüpfung erkenntnistheoretischer mit symboltheoretischen Annahmen. Der Gegenstandsbereich einer Theorie des Symbolischen Wissens ist die erkenntnistheoretische Struktur von Symbolen (oder Ketten von Symbolen) und Symbolsystemen sowie die Konstitution von Symbolischem Wissen2. Schleiermacher kann als der erste gelten, der (G) ausgesprochen, in seiner Tragweite erkannt und theoretisch begründet hat. Diese Auszeichnung muß er allerdings mit Lessing teilen, der vor ihm, im „Laokoon", eine Annahme von der An (G) seiner Unterscheidung der Ausdrucksmöglichkeiten von Malerei, Epos, Poesie und Drama zugrunde gelegt hat3. Dilthey kann auf das Verdienst Anspruch erheben, als erster versucht zu haben, eine Theorie des Symbolischen Wissens auf wissenschaftlicher Grundlage zu entwerfen4. Als erster scheitert er dabei, weil die von ihm gewählte Explikation von (G) als wissenschaftliches Problem die Grundannahme (G) selbst im Kern zerstört. Die beiden bedeutendsten Versuche der Neuformulierung von (G) finden sich bei L.Wittgenstein und N. Goodman. Auf beide stützt sich meine Arbeit wesentlich. Die Annahme (G) ist unterschiedlicher Ausdeutungen fähig. Die in (G) vorkommenden Begriffe ,Wissen', ,Symbolsystemef und ,gegenseitige Abhängigkeit' können in ganz verschiedener Weise interpretiert werden. »Wissen' kann auf Annahmen eingeschränkt werden, die eine Person ausdrücklich aufgestellt hat und deren sie sich in der Folge bewußt ist. In dieser Arbeit wird ,Wissen' in einer weiten Interpretation verwendet: als die Menge aller subjektiven und intersubjektiven Kognitionen, Annahmen, Überzeugungen, naiven Theorien u. ä., die Personen (von der Gesellschaft, von einer anderen Person oder von sich selbst) korrekt zugeschrieben werden können. , Wissen* ist in dieser Gebrauchsweise nicht notwendig bewußt; es kann aber bewußt gemacht werden. Es ist, zum zweiten, nicht auf theoretisches Wissen beschränkt, sondern wird auf SubjektDie erkenntnistheoretische Struktur von Symbolsystemen ist in dieser Arbeit wenig diskutiert worden. Siehe dazu insbesondere N. Goodman, Sprachen der Kunst. G. E. Lessing, Laokoon. Über die Grenzen von Malerei und Kunst. Bemühungen dazu finden sich schon bei Schleiermacher und dann bei Boeckh. Dilthey strebt einen Status der Wissenschaftlichkeit an, den er mit dem der Naturwissenschaften vergleicht (die freilich übertroffen werden sollen).
9.1 Grundannahme der Theorie des Symbolischen Wissens
269
Zustände, z. B. auf Intentionen, ausgeweitet5. Diese Ausdehnung hat ihren Grund in folgender Annahme: Subjekt-Zustände sind keine naturgegebenen, wahrnehmbaren Sachverhalte; sie sind kognitive Konstrukte. Unsere Erfahrungen von unseren eigenen Subjekt-Zuständen beruhen auf natürlichen Theorien über diese Zustände. Der Begriff des Symbolsystems wird von mir ebenfalls in einem weiten Gebrauch verwendet: Symbole sind alle Gegenstände oder Ereignisse, die denotieren oder exemplifizieren; Symbolsysteme werden von Symbolen und Symbolregeln gebildet. Symbolsysteme treten oft in Kombination mit anderen auf. Die ,gegenseitige Abhängigkeit* von "Wissen und Symbolsystemen wird in dieser Arbeit in der einen Richtung, der Abhängigkeit des Wissens von Symbolsystemen, expliziert, insbesondere mit Hilfe von Wittgensteins Geist-Theorie und Goodmans Theorie der Symbole: Das Wissen von Personen wird von deren Handlungen exemplifiziert. Handlungen werden als Ausdrucks-Symbole aufgefaßt. Handeln heißt Wissen zu exemplifizieren. Exemplifikationen erfinden, heißt, neues Wissen zu erzeugen. Das Wissen einer Person über sich selbst und andere ist im wesentlichen ein Produkt von Exemplifikationen6. Das Wissen über die eigene Person und die Gesellschaft ist nach dieser Annahme symbolisch konstituiert. Wissen ist wiederum handlungswirksam. Handlungen selbst sind symbolische Konstrukte. Die andere Richtung der gegenseitigen Abhängigkeit von Wissen und Zeichensystemen wird in einem eigenen Entwurf an einigen Beispielfällen dargestellt: Sprachliche Strukturen drücken erkenntnistheoretische Strukturen aus; sie geben den Geltungsbereich und die Sicherheit des ausgedrückten Wissens an. Weiterhin können Syntaxstrukturen unter dem Aspekt des subjektiven Wissens implizite Annahmen ausdrücken. Aus dieser Auffassung läßt sich nicht die Forderung ableiten, daß gesellschaftliche Prozesse ausschließlich unter dem Aspekt des Wissens, das in ihnen zum Ausdruck kommt, zu analysieren seien. Meine Annahme enthält gerade die Festlegung, daß Symbole materielle Gegenstände oder Ereignisse sind. Auch diese Seite ist zu analysieren7. In der vorliegenden Subjekt-Zustände werden unter Mitwirkung von naiven Theorien gebildet. Insofern läßt sich die Ausweitung des Begriffs des theoretischen Wissens im Vergleich zum üblichen Gebrauch rechtfertigen. Das ,Wissen einer Person über sich selbst und andere' verstehe ich als ein Wissen über das Innere von Personen. Soweit sich das Wissen auf physische Merkmale beschränkt, ist es im wesentlichen Produkt von Denotationen, Vgl. zu einer soziologischen Analyse der materiellen Gegenstände H. Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen.
270
9 Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
Arbeit ist sie vernachlässigt worden, weil hier die grundsätzliche Frage, wie die beiden Aspekte, der bedeutungsmäßige und der materielle, miteinander zu vereinen seien, im Mittelpunkt des Interesses stand. Die Bewertung von ausgedrücktem Wissen folgt gesellschaftlichen Regeln. Würde man diese Annahme nicht aufstellen, bliebe unbegreiflich, wie es möglich ist, daß alle (als normal geltenden) Kommunikationspartner Äußerungen und Handlungen in der gleichen Weise verstehen. Die Annahme ist nicht mehr als eine These, aber sie läßt sich durch empirische Befunde abstützen. Ich zitiere dafür zwei Beispiele, die mir für die Gleichartigkeit des Verstehens besonders charakteristisch zu sein scheinen: Die Mitglieder der europäischen Sprachgemeinschaften treffen im Normalfall ohne besondere Schwierigkeiten die Unterscheidung zwischen tatsächlichen und vorgegebenen eigenpsychischen Vorgängen und die weitere Unterscheidung zwischen Wissen, das strikt auf Eigenpsychisches bezogen ist, und dem Wissen über Fremdpsychisches. Die Übereinstimmung in der ersten Unterscheidung ist nur möglich, wenn alle Sprachteilnehmer zwischen folgenden beiden Wissensstrukturen differenzieren: zwischen subjektiv sicherem Wissen, das zugleich unter intersubjektivem Aspekt bezweifelbar ist (SW+/IW—), und zwischen einem Wissen, das sowohl subjektiv als auch intersubjektiv bezweifelbar ist (SW—/IW—). Die Übereinstimmung in der zweiten Unterscheidung hat zur notwendigen Bedingung, daß allgemein differenziert wird zwischen subjektiv sicherem und intersubjektiv bezweifelbarem Wissen (SW + /IW—) und einem Wissen, das subjektiv bezweifelbar und intersubjektiv sicher ist (SW—/IW + ). Beide Differenzierungen werden in den europäischen Sprachen ausgedrückt. Wir unterscheiden zwischen dem Wissen, das in folgenden beiden Sätzen ausgedrückt wird: (1) Er fühlt sich krank, ohne daß Symptome erkennbar wären. (2) Er sagt, er sei krank, aber man sieht es ihm nicht an. Ebenso unterscheiden wir das Wissen, das sich jeweils aus (1) und (3) gewinnen läßt. (3) Man sieht ihm an, daß er krank ist. Nicht in jedem Fall wird zwischen den drei Strukturierungen differenziert. Wichtig ist, daß wir die Unterscheidungen treffen, ausdrücken und von anderen verlangen können, daß diese sie ebenfalls machen8. Die Strukturierungen sind viel allgemeinerer Art, als bisher dargestellt: Sie 8
Die oben zitierten Beispiele lassen vermuten, daß die Strukturierungen kulturspezifisch sind. Man kann annehmen, daß andere Kulturen, z. B. ostasiatische oder indianische, in vielen Fällen — gerade bei der Unterscheidung von Fremdund Eigenpsychischem — andere Strukturierungen vornehmen.
9.2 Strukturen von Interaktionen
271
werden sprachlichen Strukturen zugeordnet; darüber hinaus werden sie bei der Analyse von Sachverhalten, wie Handlungen und Zuständen, bei Erkenntnisvorgängen also, die nicht selbst sprachlich ausgedrückt werden, verwendet. Ich will annehmen, daß die Strukturierungen, die bei Wissensbewertungen vorgenommen werden, entscheidend wichtige Mittel sind, mit deren Hilfe Symbolisches Wissen gebildet, ausgedrückt, übermittelt und verstanden wird. Die Gleichartigkeit der Strukturierungsregeln ist einer der Gründe für die Mitteilungsfähigkeit von Symbolen9.
9.2 Strukturen von Interaktionen Interaktionen können als Austäusche von Symbolischem Wissen beschrieben werden. Ihre Strukturen lassen sich unter diesem Gesichtspunkt als eine Folge von Operationen darstellen: 1. Der Handelnde strukturiert das Wissen, das er ausdrückt, mit Hilfe von Bewertungsregeln. Dabei unterscheidet er zwischen zwei verschiedenen Arten von Wissen: Wissen, das mit Hilfe gesellschaftlich kontrollierter Regeln gewonnen wird (intersubjektives Wissen), und Wissen, das der Einzelne mit Hilfe von Regeln gewinnt, deren Verwendung von der Eigen-Kontrolle geprüft wird (subjektives Wissen). Jede der beiden Wissensarten wird danach bewertet, ob es sicher oder bezweifelbar ist. 2. Der Handelnde wählt und erzeugt einen symbolischen Ausdruck, dem dieselbe Wissensstruktur zuerteilt werden kann wie dem auszudrükkenden Wissen. Ich will behaupten, daß für jedes Wissen (mindestens) ein symbolischer Ausdruck gebildet werden kann, der sich mit Hilfe derselben Struktur interpretieren läßt. 3. Der symbolische Ausdruck transportiert die Wissensstruktur und das entsprechende ausgedrückte Wissen des Handelnden. Bei allen drei Operationen sind Schwierigkeiten denkbar, z. B. Fehleinschätzungen, Ungenauigkeiten, Irrtümer. Es kann leicht geschehen, daß Regeln nicht korrekt verwendet werden; es kommt dann zu einem erkenntnistheoretisch unangemessenen Ausdruck des Sprecher-Wissens. Beispiele von unangemessenen Ausdrücken, die zu Reaktionen der Dialogteilnehmer führen, treten häufig auf. A sagt: „Das Buch muß hier lie9
Dieser Gesichtspunkt wird von Symboltheorien im allgemeinen vernachlässigt. Auch Wittgensteins Sprachtheorie (der „Philosophischen Untersuchungen") läßt die entscheidende Frage offen: Wie läßt sich ein spezifischer Sprachgebmuch feststellen, wenn man nicht bestimmte Strukturierungsregeln anwendet?
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9 Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
gen. Ich erinnere mich genau." B erwidert: „Und wenn du dich noch so gut erinnerst — du hast das Buch gerade eben noch einmal benutzt." A drückt mit den beiden Sätzen eine Struktur von der Art SW + /IW + aus, B weist die Geltung dieser Struktur zurück und korrigiert sie in SW+/ IW—. Die Korrektur von B macht darauf aufmerksam, daß A's Fehler in einer falschen Verwendung von Strukturierungsregeln besteht. Den sprachlichen Äußerungen dieses Dialogs liegt jeweils eine philosophische Annahme zugrunde: A drückt die Behauptung aus, daß er über das, was er subjektiv sicher weiß, auch ein intersubjektiv sicheres Wissen hat; B nimmt dagegen an, daß es in diesem Fall keine Verbindung zwischen subjektiver und intersubjektiver Sicherheit gibt. Die Regeln der Wissensstrukturierung sind für die Sprache Vorschriften, die in einer natürlichen philosophischen Theorie begründet sind. Diese erfüllt insbesondere die Aufgabe, das Wissen von Personen nach einem klaren und allgemein verbindlichen Schema zu ordnen und dieses zu rechtfertigen. Die Ordnung des Wissens ist ihrerseits durch Symbolsysteme beeinflußt, insofern als das auszudrückende Wissen unter dem Gesichtspunkt der Frage geformt wird, in welchem Symbolsystem es ausgedrückt werden soll. Ich bilde ein anderes Wissen über eine weiße Wand, wenn ich sie male, als wenn ich sie beschreibe10. Symbolsysteme, Wissen von Personen und die natürliche philosophische Theorie der Sprachgemeinschaft sind unlöslich ineinander verschränkt; keines der drei Glieder kann selbständig existieren oder ohne die beiden anderen in seiner Funktionsweise untersucht werden. 4. Die Rekonstruktion des ausgedrückten Wissens durch den Rezipienten ist ein zu komplexer Vorgang, um als Decodieren oder semantische Interpretation von Syntaxstrukturen dargestellt werden zu können. Der Rezipient muß die Entscheidung über mindestens zwei Probleme treffen: 1. Welche Funktion haben die Symbole — denotieren sie? Exemplifizieren sie? Oder erfüllen sie beide Funktionen auf einmal? 2. Welche Art Wissen wird ausgedrückt — subjektives oder intersubjektives? 10
Die Ausdrucksmöglichkeiten von Symbolen sind durch die Eigenschaften des Symbolsystems bestimmt. Wenn es sich um die Darstellung der Oberflächenbeschaffenheit einer Wand handelt, können die Ausdrucksmöglichkeiten des malerischen Symbolsystems im Vergleich zu denjenigen der Sprache ungleich reicher sein. Das Wissen, das man aufgrund einer malerischen Darstellung der Wand bildet, kann viel differenzierter sein; es kann z, B. auf die Farbe und die Oberflächenstruktur der Wand eingehen.
9.3 Drei Annahmen über Dialoge
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Das erste Problem entscheidet der Rezipient aufgrund einer vorläufigen Deutung der gesamten Interaktion. Er muß schon eine Art Rahmendeutung der Interaktion aufgebaut haben, wenn er die Symbolfunktion von Teilen der Interaktion bestimmt. Es ist möglich, daß er eine einmal gewählte Rahmendeutung unter dem Einfluß von neuen Teildeutungen verändert. Schleiermachers Annahme der Texfinterpretation als einer Folge von Deutungen, die aufgrund neuer Detailinformationen sukzessive verbessert werden, kann aufgenommen und schärfer formuliert werden: Die Rahmendeutung unterscheidet sich von den Teildeutungen. Sie wird konstituiert durch Annahmen über Intentionen des Autors; Teildeutungen beruhen auf Festlegungen der Zeichenfunktionen. Die hypothetische Intention eines Autors ist nicht mehr als eine Hilfskonstruktion. Denn es kann zweifelhaft sein, ob die tatsächlich ausgedrückte Intention mit derjenigen des Autors übereinstimmt. Die Interpretation muß die Intention des Textes selbst rekonstruieren. Diese wird nach Durchlaufen der Teildeutungen, wenn alle Zeichenfunktionen geklärt sind, an die Stelle der Autor-Intention gesetzt. Rahmendeutungen haben nur diese eine Aufgabe, die Festlegung der Symbolfunktionen zu unterstützen. Das zweite Problem betrifft die Personenbindung von Symbolen. Es wird mit Hilfe von Transkriptionen gelöst, wenn der Text die Personenbindung selbst nicht ausdrückt. Bei der Herstellung von Transkriptionen bezieht man Kenntnisse über den Handelnden mit ein. Aufgrund der Antwort auf das zweite Problem legt der Rezipient fest, ob das ausgedrückte Wissen sicher oder bezweifelbar ist. Wenn es sich um sprachliche Symbole, die subjektives Wissen ausdrücken, handelt, hat der Rezipient ein drittes Problem zu lösen: Welches zusätzliche implizite Wissen drückt die Syntaxform aus?
9.3 Drei Annahmen über Dialoge Meine Annahmen über den Austausch von Wissen, die man unter dem Ausdruck .Interpretationsmodell' zusammenfassen kann, enthalten drei wesentliche Feststellungen über Dialoge: 1. Die Teilnehmer an Dialogen verfügen im Prinzip über gleiche Symbolsysteme, mit deren Hilfe Wissen übermittelt wird. Diese Annahme wird von allen Modellen geteilt, die Dialoge im wesentlichen als Vorgang der Codierung (von Seiten des Sprechers) und Decodierung (von Seiten des Rezipienten) auffassen (,Entschlüsselungsmodelle'). Aber die folgenden
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9 Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
beiden Festsetzungen unterscheiden das Interpretationsmodell grundsätzlich von den Entschlüsselungsmodellen. 2. Dialogteilnehmer verfügen über ein gemeinsames gesellschaftliches Repertoire von Strukturierungsregeln und über eine gemeinsame natürliche philosophische Theorie zu deren Begründung. Strukturierungsregeln sind das Vehikel, auf dem Symbolisches Wissen von einer Person zu einer anderen transportiert wird. Wenn es eine Art von »Überschuß-Wissen* gibt, d. i. ein Wissen, das nicht mit Hilfe intersubjektiver Regeln gebildet wird — diese Annahme vertrete ich —, dann ist es mit Hilfe von Symbolsystemen nicht vollständig mitteilbar; seine Strukturierung aber kann transportiert werden". Wir können auch über beobachtbare Sachverhalte nur eine bestimmte An von Wissen vermitteln: ein Wissen, das durch Wissensstrukturierung ,zubereitet' werden kann. Aus dieser Annahme lassen sich zwei Folgerungen ziehen: einmal, daß die Sachverhalte, über die wir sprechen, die in unseren Dialogen vorkommen, symbolische Rekonstruktionen sind. Zum ändern, daß der Austausch von Wissen nicht die (vor-symbolische) Existenz von Sachverhalten, die außerhalb des Wissens der Dialogteilnehmer bestehen, voraussetzt. Denn, um Wissen vermitteln zu können, genügt es, daß der Sprecher über die Resultate von Strukturierungen verfügt. Gesellschaftlich bestehende Sachverhalte sind aber nicht notwendige Bedingung dafür, daß man Strukturierungen vornehmen kann. Dafür reicht es aus, daß der Sprecher unter Eigen-Kontrolle ein subjektives Wissen bildet und diesem die Struktur von der Art SW + /IW— zuordnet. Aber auch intersubjektiv sicheres Wissen kann gebildet werden, ohne daß ein bestimmter Wissensgegenstand vorausgesetzt wird. Dies ist der Fall beim interpretativen Wissen. Seine Konstitution setzt, im Gegensatz zum subjektiven Wissen, notwendig voraus, daß die Dialogteilnehmer auf äußere, d. i. beobachtbare, Kriterien Bezug nehmen. Der entscheidende Punkt dieser Annahme besteht aber darin, daß interpretatives Wissen kein Wissen über Kriterien, sondern über theoretische Konstrukte ist. Die 2. Annahme kann dazu verwendet werden, ein bestimmtes Wissen, das sich insbesondere aus der Literatur gewinnen läßt, von allen anderen Arten des Wissens abzugrenzen. Die Literatur ist fähig, ,Überschuß-Wissen' auszudrücken. Wissen dieser Art wird nicht mitgeteilt; der Rezipient muß es selbst nacherfinden. Nicht-mitteilbares Wissen läßt sich öffentlich machen mit Hilfe einer Vorrichtung, die fähig ist, Symbolsysteme zu 11
Ein Beispiel von ,Überschuß-Wissen' diskutiere ich in dem Kapitel über die Romanstruktur der „Suche nach der verlorenen Zeit".
9.4 Unbestimmtheit von Handlungen
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erweitern: durch die literarische Form. Für die Form gibt es keine Rezeptionsregeln, weil sie gerade eine Innovation über die festgelegten Regeln hinaus darstellt. Aus diesem Grunde kann man nicht erwarten, ein Verfahren zur Interpretation von Literatur zu finden, bei dem jeder Schritt durch öffentliche Regeln abgesichert sein würde. Es kann keinen Interpretationsalgorithmus geben. Die Literaturwissenschaft hat allerdings die Möglichkeit, die Erweiterung des sprachlichen Symbolsystems präzise zu kennzeichnen und Mittel zu entwickeln, die eine genaue Charakterisierung des , Überschuß-Wissens* ermöglichen. 3. Die Dialogposition der Teilnehmer kann sich grundsätzlich von der des Handelnden unterscheiden. Die Teilnehmer können ein andersartiges Wissen gewinnen, als es der Handelnde auszudrücken intendiert. Der Grund dafür liegt in der Besonderheit des Transportwegs des Symbolischen Wissens. Dieser Benachteiligt* den Rezipienten12: Der Handelnde drückt die Interpretation seines Wissens in Symbolen aus, der Rezipient nimmt seinerseits eine Reinterpretation der Interpretation des Handelnden vor. Die Reinterpretation kehrt die Interpretation nicht einfach um, wie nach den Entschlüsselungs-Modellen angenommen wird. Denn der Handelnde ist nicht verpflichtet, sein Wissen über einen Sachverhalt vollständig auszudrücken. Es ist ihm erlaubt, nur bestimmte Bestandteile seines Wissens zu vermitteln, andere hingegen zu unterdrücken. Im Grenzfall ist es ihm sogar erlaubt, überhaupt kein Wissen auszudrücken. Ich will diese Erlaubnis die, Unbestimmtheits-Maxime des Handelnden'nennen. Gegenüber einem unbestimmten Wissens-Ausdruck ist der Rezipient verpflichtet, aus den hervorgebrachten Symbolen ein bestimmtes und weitgehend vollständiges Wissen zu gewinnen. Der Rezipient löst die Verpflichtung ein, indem er die Daten, die ihm gegeben sind: Symbole, Situation, Vorgeschichte, Kenntnis des Sprechers, Zukunftsprojektion, so weit wie möglich ausschöpft. Ich will die Verpflichtung des Rezipienten die ,Forderung des Ausschöpfen*' nennen. 9.4 Unbestimmtheit von Handlungen Das Ausschöpfen aller gegebenen Daten, zu dem der Rezipient verpflichtet ist, kann nicht einfach die Unbestimmtheit, die der Dialog dem Sprecher gestattet, rückgängig machen. Ein Beispiel: A sitzt in einer Ecke, B hört sein Zähneklappern. B sagt: „A friert." — A hat keine Verpflichtung, sein Zähneklappern zu präzisieren, anders aus12
Die ,Benachteiligung' beschränkt sich vor allem auf die Gewinnung von subjektivem Wissen.
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9 Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
zudrücken oder zu kommentieren. B hingegen muß, damit er Symbolisches Wissen gewinnen kann, die Forderung des Ausschöpfens erfüllen: Er stellt fest, daß der Raum kühl ist, beurteilt die Bekleidung von A als zu leicht, erinnert sich daran, daß A oft erkältet ist, stellt fest, daß die Temperatur für die Jahreszeit (Mai) viel zu niedrig ist etc. Vier Gründe lassen sich nach diesem Beispiel bestimmen, die verhindern können (aber nicht verhindern müssen), daß die Verpflichtung des Rezipienten zu einer Aufhebung der Unbestimmtheit führt: 1. Dem Handelnden muß nicht bewußt sein, daß er ein bestimmtes Symbolisches Wissen — in diesem Fall das Wissen, daß er friert — gebildet hat13. Man kann auf die Tatsache, daß man friert, erst durch andere Personen aufmerksam gemacht werden. 2. Der Sprecher muß keine Kenntnis davon haben, daß er ein bestimmtes Symbolsystem verwendet und daß er mit dessen Hilfe Wissen ausdrückt. Symbolisches Wissen kann also ausgedrückt werden, ohne daß derjenige, der darüber verfügt, ein Bewußtsein oder eine Kenntnis davon hat. Es sind die Rezipienten, die darüber entscheiden, welches Handeln als Ausdruck von Wissen gilt, nicht die Handelnden. Daher werden an die Tätigkeit des Rezipienten wesentlich schärfere Anforderungen gestellt als an die der Handelnden. Der Handelnde darf schweigen, der Rezipient nicht. Der Rezipient erwirbt sich, dadurch daß er die Forderung des Ausschöpfens befolgt, das Recht, Personen das Wissen zuzuschreiben, das sie nach seiner Kenntnis der Symbole und Symbolregeln ausdrücken. Nach meinen Überlegungen ist es ausgeschlossen, die Zuschreibung mit dem Argument abzulehnen, die Person habe das zugeschriebene Wissen gar nicht. Denn haben kann ein Wissen ohnehin niemand; Wissen ist ein Interpretationskonstrukt. Es ist allerdings möglich, für bestimmte Zwecke der Zuschreibung Grenzen zu ziehen. Literaturhistoriker z. B. können sich darauf einigen, historischen Autoren Wissen allein nach den zu deren Lebzeiten gültigen Symbolsystemen zuzuschreiben. Sie führen in diesem Fall eine Beschränkung des Zuschreibens auf eine bestimmte historische Zuschreibbarkeit ein. Diese Begrenzung bedarf einer besonderen Rechtfertigung aus anderen als symboltheoretischen Gründen, z. B. aus der geschichtsphilosophischen Annahme, Literaturgeschichte sei nur dann wahrheitsgetreu', wenn sie aus dem Horizont der jeweiligen historischen 13
Die Unbestimmtheit ist in diesem Fall eine Eigenschaft des Wissens des Handelnden. Die Forderung des Ausschöpfens führt zu einer £/£erbestimmung dieses Wissens.
9.4 Unbestimmtheit von Handlungen
277
Periode betrieben würde 14 . Aus der Grundstruktur des Eigen- und Fremdwissens selbst lassen sich keine Restriktionen des Zuschreibens begründen. 3. Der Grenzfall der Unbestimmtheits-Maxime ist der Verzicht auf symbolischen Ausdruck überhaupt. Wenn der Rezipient ein SprecherVerhalten unter dem Aspekt dieses Verzichts deutet, ist er verpflichtet, das Wissen zu ermitteln, auf dessen Ausdruck der Sprecher verzichtet. Es ist möglich, daß der Rezipient ein bestimmtes Verhalten einer Person als Verzicht deutet, die Person nach ihrer eigenen Auffassung aber keinen Verzicht übt; diese hat weder etwas ausdrücken noch verschweigen wollen. Die Kriterien, die ihren Verzicht anzeigen, können zufällig zustande gekommen sein. Die Forderung des Ausschöpfens führt den Rezipienten dahin, das Verhalten anderer Personen nach Kriterien für mögliches Wissen abzusuchen. Dabei ist er verpflichtet, zunächst alle als Kriterien interpretierbaren Handlungsbestandteile zu berücksichtigen. Er hat die Möglichkeit, eine Reihe davon wieder aufzugeben; aber der Tendenz nach ist er gehalten, eher zu viele als zu wenige Handlungsbestandteile als Kriterien zu interpretieren15. 4. Die Symbolsysteme, die zur Wissensvermittlung verwendet werden, können das Wissen des Handelnden in reduzierter oder — umgekehrt — in ausgeweiteter Form wiedergeben. Der symbolische Ausdruck eines Wissens kann reduzierend wirken, wenn die verwendeten Symbole eine geringere Extension als das auszudrückende Wissen haben. Ich drücke z. B. mein Wissen über die französische Nationalfahne aus, indem ich drei Farbstifte verwende. Die drei Farbflächen zusammen repräsentieren eine Instanz der französischen Nationalfarben; ich könnte auch ein anderes Blau, das sich im Ton vom ersten leicht unterscheidet, ein anderes Rot und ein anderes Weiß verwenden, und ich erhielte eine weitere Instanz. Mein Wissen über die Trikolore ist aber allgemeiner; es betrifft alle überhaupt möglichen Instanzen der französischen Farben. Es ist ein begriffliches Wissen, das an die Sprache gebunden ist und daher adäquat nur mit Hilfe von fzrbbezeichnungen ausgedrückt wird. 14
15
Festsetzungen dieser Art können kritisiert werden, indem man ihre Legitimation in Frage stellt. Sie können sich aber für die wissenschaftliche Arbeit als zweckmäßig erweisen und aus pragmatischen Gründen beibehalten werden. Man kann annehmen, daß die Forderung des Ausschöpfens durch kulturspezifische Zusatzannahmen ergänzt wird. In Gesellschaften, die expressives Verhalten bevorzugen, wird die Forderung des Ausschöpfens zurückhaltender zu befolgen sein als in Gesellschaften mit stark reduziertem Ausdrucksverhahen, die jedes Verhalten unter dem Aspekt von Ausdrucksverzicht betrachten.
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9 Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
Es läßt sich aber zeigen, daß unter einem anderen als dem begrifflichen Aspekt die Repräsentation mit Hilfe der Farben ein Wissen ausweiten kann: Mein begriffliches, an die Sprache gebundenes Wissen über die französischen Nationalfarben macht keine Unterschiede zwischen einzelnen Farbabstufungen. Diese erscheinen unter begrifflichem Aspekt als irrelevant. Unter einem anderen Aspekt ändert sich die Sachlage: Es gibt gewisse Farbabstufungen von Blau, Rot und Weiß, die man zwar sprachlich ziemlich genau bezeichnen kann und die zu der Klasse der Blaus, Rots und Weiß' gehören, die in der französischen Nationalfahne erscheinen, die aber nebeneinander gestellt von uns nicht als Repräsentation der französischen Fahne anerkannt werden. Wir verfügen beim Operieren mit Farben über ein Wissen, das mit Hilfe der Fzrbbezeichnungen nicht vollständig ausgedrückt werden kann. Denn in Angaben mit Hilfe von Farbbezeichnungen geht zweierlei nicht ein: die Wertigkeit der Farbe für das Auge und die Wirkung von Farbkombinationen. Wenn wir Farben anstelle von Worten verwenden, können wir dieses Wissen ausdrücken. Indem wir bestimmte Farbabstufungen verwenden und andere nicht, bringen wir zum Ausdruck, daß wir wissen, welche Farbfelder, die wir gemalt haben, Instanzen der französischen Farben sind und welche nicht. Drei Feststellungen lassen sich aus der Diskussion der Beschränkungen und der Ausweitung des ausgedrückten Wissens ziehen: 1. Das ausgedrückte Wissen wird eingeschränkt oder ausgeweitet relativ zu dem Wissen, das mit Hilfe anderer Symbolsysteme ausgedrückt werden kann. 2. Die Beschränkung, die das jeweilige Symbolsystem — unter einem bestimmten Aspekt — dem ausgedrückten Wissen auferlegt, geht zusammen mit einer Ausweitung des Wissens, die sich unter einem anderen Aspekt feststellen läßt16. Es mag fragwürdig sein, daß die Ausweitung die Beschränkung wieder aufzuheben imstande ist, aber bei der Beurteilung des Verhältnisses von Beschränkung und Ausweitung ist folgendes zu beachten: Die Beschränkungen erhalten nur dann Gewicht, wenn die Symbole in einer bestimmten Weise gebraucht werden, z. B. die Kombination der drei Farbfelder als Instanz für die Trikolore. In anderen Gebrauchsweisen können sie vollkommen irrelevant bleiben. Die Beschränkungen sind dann zwar vorhanden, aber ihnen kommt keine 16
Nicht alle Symbolsysteme haben die Möglichkeit, das mit ihrer Hilfe ausgedrückte Wissen im Vergleich zu anderen Symbolsystemen auszuweiten. Das System der Morsezeichen beispielsweise ist nichts anderes als ein beschränktes Schriftsystem.
9.5 Unterschiede von Dialogpositionen
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Bedeutung zu. Das gleiche läßt sich von der Ausweitung behaupten. Symbolsysteme haben Vor- und Nachteile je nach dem Gebrauch, den man von ihnen macht. 3. Unser Wissen z. B. über die französische Nationalfahne wird gebildet aus dem gesamten Wissen, das wir mit Hilfe aller uns bekannten Symbolsysteme über diese gewinnen können. Wir verfügen über eine An von Gesamtwissen, das nicht vollständig mit Hilfe eines einzigen Symbolsystems ausgedrückt werden kann. Die Verwendung von Symbolsystemen kann konstitutiv für unser Wissen wirken. Es läßt sich annehmen, daß wir unser Wissen vergrößern, wenn wir neue Symbolsysteme einführen und verwenden. 9.5 Unterschiede von Dialogpositionen Eine Beschränkung von Symbolsystemen, die ganz anderer Art ist als die erwähnte und die auch nicht durch eine Ausweitung ausgeglichen werden kann, ist bereits zur Sprache gekommen: Kein sprachliches Symbolsystem hat die Fähigkeit, die Trennung von subjektiv und intersubjektiv sicherem Wissen aufzuheben. Diese Beschränkung legt sich über die Rezeption der Sprache im allgemeinen. Sie schlägt sich nieder im Prinzip der Personenbindung und in der Notwendigkeit, eine Transkription anzufertigen. Der Grund dafür liegt in der Perspektivität der Dialoge; diese soll noch einmal knapp erläutert werden: Sprecher und Hörer erzeugen in einem Fall immer unterschiedliches Wissen: wenn der Sprecher subjektiv sicheres Wissen ausdrückt. In diesem Fall stellt der Sprecher einen Sachverhalt des subjektiven Wissens dar. Die Symbole, die dieses Wissen ausdrücken, sind gesellschaftlich. Sie sind daher unter intersubjektivem Aspekt rezipierbar; aber sie erlauben nicht, daß der Rezipient das subjektiv sichere Wissen des Sprechers gewinnt. Der Sprecher kann hingegen mit seinen Äußerungen unter intersubjektivem Aspekt ebenfalls sicheres Wissen ausdrücken17. Wenn der Sprecher Subjektzustände oder Subjektwissen ausdrückt, rezipiert der Hörer diese als gesellschaftliche Sachverhalte. Wenn der Sprecher hingegen ein intersubjektives Wissen ausdrückt, unterscheidet sich dieses im Prinzip nicht von dem Wissen, das der Rezipient gewinnen kann. Der Unterschied tritt nur bei subjektiv sicherem Wissen auf. Zur Kennzeichnung der beiden Dialogpositionen kann man beiden unterschiedliche Tafeln der Wissensverteilung zuordnen 18 : 17
18
Beide Arten von sicherem Wissen, subjektives und intersubjektives, beziehen sich auf zwei verschiedenartig konstituierte Sachverhalte. Das subjektive Wissen wird, wie oben, an die Person des Sprechers A gebunden.
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9 Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
Sprecher SW
IW
Hörer SWA
IW
Die beiden Tafeln charakterisieren das Wissen, das Sprecher ausdrükken und Hörer rezipieren können. Aber darauf lassen sich beide Dialogpositionen nicht beschränken. Sprecher und Hörer haben zusätzlich ein höherstufiges Wissen. Beide wissen, welche Bewertungen dem ausgedrückten und dem rezipierten Wissen für jede Dialogposition zukommen. Es ist folglich zu unterscheiden zwischen dem ausgedrückten und rezipierten Wissen einerseits und der Erteilung von Wissenswerten andererseits. Wissensausdruck und -rezeption sind an eine Perspektive gebunden, die Bewertung des Wissens ist dies nicht. Das Wissen des Sprechers und das des Hörers können sich unterscheiden, ihre Bewertungen sind gleich. 9.6 Bewertungsstrukturen In meinen Überlegungen habe ich die Bewertungsstrukturen als eine besondere Bedingung für den Transport von Wissen ausgezeichnet. Es ist notwendig, ihre Eigenschaften genau zu charakterisieren. Dies wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung; an dieser Stelle will ich mich auf einige Bemerkungen beschränken. Die wichtigste Frage einer derartigen Untersuchung scheint mir folgendes Problem zu sein: Sind die Bewertungsstrukturen sprachlicher Natur, oder sind sie anderer Art19? — Die Frage läßt sich auch als genetisches Problem stellen: Werden die Bewertungsstrukturen mit der Sprache erworben oder werden sie auf andere Weise herausgebildet? Ich habe beide Probleme in einer gegenwärtig gebräuchlichen Weise formuliert. Die Art der Formulierung läßt eine klare Stellungnahme für oder gegen die sprachliche Natur der Strukturen erwarten. Meine Überlegungen (vgl. oben, S. 272) haben bereits gezeigt, daß die Strukturen weder von den verwendeten Symbolsystemen noch vom Wissen, das ausgedrückt 19
Den Ausdruck »sprachlich' verwende ich hier in einem weiten Sinn, so daß er sich auf Symbolsysteme im allgemeinen bezieht. Die Frage ist also, ob die Bewertungsstrukturen in den Symbolsystemen angelegt sind.
9.7 Für eine Theorie des Symbolischen Mißverstehens
281
und das gewonnen wird, losgelöst betrachtet werden können. Weiterhin läßt sich annehmen, daß die Perspektivität der Dialoge nicht durch die Symbolsysteme eingerichtet wird. Eher umgekehrt prägt die grundsätzliche Verfassung der Beziehung des Einzelnen zu den anderen die Sprache. Man kann sagen, daß die Perspektivität von Dialogen und damit die unterschiedliche Verteilung der Wissenswerte nicht möglich wären, wenn sie nicht von einer Handlungs- und Sozialstruktur getragen werden würden, in der sich die Individualitäten einerseits strikt voneinander unterscheiden und andererseits durch ein gemeinsam entwickeltes und erhaltenes Regelsystem einer gegenseitigen Beobachtung und Interpretation zugänglich machen können. Umgekehrt läßt sich kaum vorstellen, wie eine derartige Sozialstruktur hätte entwickelt werden können, wenn sie nicht durch Symbolsysteme, insbesondere durch die Sprache, ausgedrückt werden würde. Die Symbolsysteme selbst erzeugen die Bewertungsstrukturen nicht. Diese gehören vielmehr zum Verfahren ihrer Interpretation. Sie gehen in dieser Hinsicht dem Symbolgebrauch vorher. Die Bewertungsstrukturen sind auf vielfältige Weise mit den Symbolsystemen verflochten, aber sie sind keine Bestandteile von diesen. Sie gehören vielmehr zu einem Repertoire von sozialen, erkenntnistheoretischen und Handlungsregeln, die — selbst symbolisch geprägt — die Strukturierung von Wissen, den Gebrauch von Symbolen und menschliches Handeln regeln. Der Einfluß der Praxis auf die Bildung dieser Regelmenge ist unverkennbar: Im alltäglichen Handeln bilden Individuen die Grundlagen ihrer Beziehungen zu anderen Individuen heraus.
9.7 Für eine Theorie des Symbolischen Mißverstehens Ich habe in dieser Arbeit versucht, einige Grundzüge einer Theorie des Symbolischen Wissens anzugeben. Die ersten systematischen Überlegungen zu einer Theorie dieser Art, bei Schleiermacher, entstehen aus dem Gedanken, daß man über eine derartige Theorie verfügen muß, um falsches Verstehen zu vermeiden20. Das Problem der Vermittlung und Gewinnung Symbolischen Wissens ist seit dessen erster Formulierung mit dem Problem der Entstehung von falschem Wissen aus Symbolen verknüpft. Das zweite Problem ist nichts anderes als eine Spezialisierung des 20
Mit .falschem Verstehen' ist Mißverstehen gemeint. Als ideologisches Verstehen, worin es von Vertretern der neueren Hermeneutik umgedeutet wurde, wird es von mir nicht aufgefaßt.
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9 Annahmen über eine Theorie des Symbolischen Wissens
ersten. In dieser Arbeit kommt es mit keinem Wort zur Sprache. Aber es ist ständig gegenwärtig. Symbolisches Wissen ist kulturspezifisch. Es ist an eine bestimmte historische Epoche gebunden. Andere Kulturen und andere Epochen haben verschiedenartige Wissenssysteme. Weiterhin ist das Wissen, das man aus Symbolen gewinnt, abhängig vom Stand der ontogenetischen Entwicklung: Zwei normale Sprecher, von denen einer Erwachsener ist und der andere sich im Stadium der präoperatorischen Intelligenz (Piaget) befindet, können ein Ereignis in verschiedener Weise verstehen. Man kann annehmen, daß es auch eine schichtipezifische Verschiedenheit Symbolischen Wissens gibt. Eine Theorie des falschen Wissens aus Symbolen kann die historischen Veränderungen und die Unterschiede Symbolischen Wissens in verschiedenen Kulturkreisen, auf verschiedenen Entwicklungsstufen und in verschiedenen sozialen Schichten erforschen. Jede Überlegung, die sich in dieser Arbeit zum Ausdruck und zur Gewinnung Symbolischen Wissens findet, könnte neu aufgenommen und auf den Fall des Symbolischen Mißverstehens übertragen werden21. 21
Eine Bemerkung muß noch zu dem Problem des abweichenden Gebrauchs gemacht werden, der vom falschen Wissen aus Symbolen strikt unterschieden werden sollte, selbst wenn beide gelegentlich schwer zu unterscheiden sind. Bei denotativer Funktion wird in der Mehrzahl der Fälle eine von der Norm abweichende Verwendung der Symbole von der Gesellschaft als falsch bewertet. Das mitgeteilte Wissen bleibt insgesamt bezweifelbar. Es kann aber auch vorkommen, daß ein andersartiger Regelgebrauch als Standard einer neuen Regel aufgefaßt wird. In diesem Fall werden die üblichen Wissenswerte zuerkannt und die Norm verändert. Bei exemplifizierender Funktion der Symbole liegt der Fall komplizierter. Auch bei dieser ist es zwar möglich, daß ein Symbolgebrauch als falsch angesehen wird, z. B. wenn ein Gegenstand exemplifiziert werden soll, der das zugeordnete Symbol gar nicht denotiert. Aber in anderen Fällen kann eine Abweichung daraus entstehen, daß die Bezugnahme von Merkmalen der Symbole auf den exemplifizierten Gegenstand als ungewöhnlich angesehen wird. Der Charakter des Neuen, Unvertrauten wird dann nicht als Fehler zurückgewiesen. Die poetische Metapher empfängt daraus ihre Kraft. In der Alltagssprache wird das Unvertraute als ,merkwürdig' eingestuft. Der Sprecher verläßt sich in seinem Sprachgebrauch nicht immer auf die Konventionen und Routinen der Sprachgemeinschaft, sondern erkennt auch neue Bezüge zwischen Symbolmerkmalen und exemplifizierten Gegenständen. Diese Bezüge entwickelt er selbst unter seiner Eigen-Kontrolle. Einer neuen poetischen Metapher, wie einer ungewöhnlichen Exemplifikation in der Alltagssprache, liegt ein subjektives Wissen (über die Bezugnahme der Symbole auf exemplifizierte Gegenstände) zugrunde, das vom gesellschaftlichen Wissen abweicht, aber von diesem durchaus anerkannt werden kann.
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Personen- und Sachregister Abel, Th. 22, 23, 55 Anm., 59, 149 das Äußere 41, 43, 44, 58 Anm. Affektrestriktionen 99 Agassi, J. 75 Anm. Aktiv 219, 220 Albert, H. 21, 30, 75 Anm. Albertine 234, 255, 264 Alltag -serfahrung 257 Anm. -shandeln 152, 201 -smythen 107 -sritual 145 -ssprache 282 Anm. -sverhalten 245 -swissen 31, 236 Ammon, U. 157 Anm. Analogieschluß 52 analytische Philosophie 11, 21—23, 55, 57-59, 62, 91 Anscombe, G. E. M. 123 Antezedensdaten 126 Approximation 34, 35 Architektur 108, 109 Argot 160 Aries, Ph. 107 Anm. Aristoteles 267 Aron, R. 46 Anm. Ast, Fr. 3 Attitüden 107, 108 auktorialer Erzähler 237 Ausdruck 3, 30, 32, 33, 54, 108, 111, 136-145, 149, 183, 215, 269, 271, 276 Auslegung 37, 38, 111 -slehre 33, 60 Aussagesätze 215 Außenwelt 240 Austausch gesellschaftlicher — 89 — von Information 188
öffentlicher — 145 Anm. — von Wissen 3, 18, 19, 20, 89, 145 Anm., 183, 184, 188, 271, 273, 274 Austin,J. L. 171 Auswahlregel 155, 156 Anm., 158, 160-163, 176, 182 Authentizität 23, 26, 54, 55, 59, 62 basic actions 124 Anm. Bateson, G. 173 Baudelaire, Ch. 230 Bayer, H. 166 Anm. Beavin, H. J. 89 Anm., 173, 193 Anm. Bedeutung 10, 15, 32-34, 122, 134, 154, 155, 158, 159, 171, 172, 188, 189 Befehlssatz 214, 222 Begriffssystem 48 Begründungen 98, 125, 149 Behauptung 221, 222 Beobachtung 43 -ssprache 43 Bergson, H. 252, 254—256, 257 Anm., 258-260, 262, 263, 264 Anm. Berichts-Ebene 226 Bernstein, B. 152, 156, 157, 159 Anm., 163, 164 Anm., 165, 168 Anm., 169, 171, 178, 179 Beschreibung -sform 263 -sprädikat 43 Bestätigungsgrad 8 Betti, E. 50 Anm. Bewertung -sregel 195, 271 -sstrukturen 280, 281 Bewußtseinszustände 240, 253—257 Beziehungsebene 174 Bezugnahme 137, 139, 140—142, 149
294
Personen- und Sachregister
Biografie 23, 24, 26, 60 Birnbacher, D. 78 Anm. Black, Max 151, 161 Anm., 166 Blom, J. P. 12 Blondel, Ch.-A. 258 Anm. Boeckh, A. 8, 17, 23, 34, 35, 37, 38, 54, 268 Anm. Boehme, G. 3 Bois, J. 258 Anm. Bonnet, H. 258 Anm., 259 Anm. Borger, R. 151 Anm. Botschaft 106, 175 Botticelli 246, 247, 254 Brandis, W. 157 Anm. Breslauer Abhandlung 45 Anm. Brodbeck, M. 120, 122 Bruner, J. S. 166 Bühler, K. 187 Anm. Calvet, L.-J. 161 Anm., 167 Anm. Charaktertypus 173 Chaunu, P. 147 Chladenius, J. M. 3 Chomsky, N. 151, 152, 160, 161 Anm., 162, 187 Anm. Cicourel, A. 152 Cioffi, F. 151 Anm. Code 158-160, 168, 169, 180, 181 Codieren 273 -Wechsel 12, 14, 18, 200 Decodieren 5, 272, 273 elaborierter — 156-159, 165, 167, 169, 181 Anm. Encodieren 5 restringierter — 157—159, 165, 167, 168, 181 Anm. schichtspezifischer — 156 Comte, A. 2t Danto, A. 120, 121 Darlu, A. 258 Anm. Darstellung -sform 264, 266 -sprinzip 169 Darwin, Ch. 77 Anm., 82 Anm. Davidson, D. 124 Anm. DeCamp, D. 152, 163 Anm. Defizit-Hypothese 157 Delattre, F. 258 Anm.
Delbceuf 254 Anm., 255 Anm. Deleuze, G. 260 Anm. Denotation 137—141, 269 Null - 140, 141 Denken 33, 34, 44, 47, 48 — des Autors 36,37 Deutung 7, 14, 19, 24, 81, 118, 129, 132 Anm., 142, 143, 177, 273 -sregel 149 Dezentrierung 83 Anm., 169 Dialekt 157 Anm., 158 Anm. Regional— 153 Dialog 19, 20, 173, 183, 187-193, 208, 213, 214, 223, 273, 274 -partner 216, 218, 222 -position 179, 184, 189-192, 275, 279, 280 -rolle 19 -runde 135, 214 Differenzhypothese 157, 158 Dilthey, W. 3, 6, 8-10, 17, 21, 23, 25, 26, 38-61, 63-65, 68, 69, 74, 75, 85 Anm., 107, 112, 187, 268 Disposition 130 Dittmar, N. 157 Anm. Dray, W. 125 Durkheim, E. 106 Eibl-Eibesfeld, I. 82 Anm. Eigenreflexion 238 Einbildung 240, 254, 265 Eindrücke 253-256, 258, 261 Einfühlen 39 Einschätzung 12, 18, 117, 178, 182 Einstellung 105 Anm., 107 — zum Tod 146—149 der Einzelne 4, 71, 91, 93, 97-99, 106, 109, 198, 271, 281 Einzigartigkeit 16 elementare Operationen 47—49 Elias, N. 82 Anm., 87 Anm., 88 Anm., 95-100, 110 Elstir 240 Anm. Empfänger 5, 7 Empfindung 139, 142 -sverhalten 82 Entschlüsselungsmodelle 273—275 Entwicklung -spsychologie 65, 66, 72, 166, 169
Personen- und Sachregister Genfer —spsychologie 144 Anm. -s-Roman 241 -sstufe 83 Erfahrungssätze 82 Erkenntnis 6, 41, 43, 45 -Bedingungen 253 — 256 -Bereich 44, 46 -Beschränkung 252 -gewinnung 44, 131, 227, 228 -irrtum 247, 248 -Perspektiven 124 -proBlem 260, 264 -kritik 255 -Sicherheit 184 -situation 237 -Struktur 241 -theorie 38, 209, 211, 234 Anm., 235 Anm., 267 erkenntnistheoretische Struktur 3, 9, 131, 187, 199, 241, 268 Anm. erkenntnistheoretische Strukturierung 185 -Unsicherheit 240 -weise 252, 265 Erklären 41, 50 Erklärung 36, 40, 50, 51, 59, 124 Anm., 125, 126, 130, 149, 150, 151, 153, 155, 159, 160 nomologische — 21 ErleBen 42, 44, 45, 47, 51, 58 Anm., 261 ErleBnis 38, 46—48, 51, 53, 54, 57, 58 Anm. Erwartung 88, 89, 108, 223 Erzählform 236, 248, 249 literatur 4 stoff 4 weise 252, 260 Erzählung 201—211 Essenz 262, 263, 265 Ethnologie 152, 153 Ethnomethodologie 152 Etikett 136, 138, 141, 217 Exemplifikation 139, 140, 142, 144, 149, 183, 216, 269, 282 Anm. Existenzannahme 227 Explanandum 40, 130 Explanans 40
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Falschheit 218 Falsifikation 75, 162 -stheorie 75 Familienähnlichkeit 133 Fiktion 225 fiktionale Rede 227—229 fiktive Sachverhalte 186 Fishman, J. A. 152, 166 Flacius Illyricus, M. 3 FlauBert, G. 233 Flavell, J. H. 65, 66 Anm., 83—85, 166 Folgewirkungen 77 Forderung des Ausschöpf ens 275—277 formalistische Literaturtheorie 232 Form -rhetorik 172—178, 182 -Semantik 172, 198 Frageform 214, 222 Frege, G. 225 Friedrich II.· 3 Fremdverstehen 38 Wahrnehmung 65 zwang 96, 97, 98 Anm. GaBriel, G. 225-230 Gadamer, H.-G. 3, 8, 10, 20, 31, 32, 36, 39 Anm., 42 Anm., 45 Anm., 46 Anm., 52 Anm., 111 Anm., 112 Anm., 119, 131, 132 Anm. Gardin, G. 167 Anm., 175 Anm. Gardiner, P. 55 Anm. Garfinkel, H. 152 GeBauer, G. 119, 144 Anm. GeBrauch 34 interpretativer — 6, 7 GeBurtenregelung 132 Anm. Gefühlsverhalten 77 Anm. Geist -eswissenschaften 38—54 -Modell 8, 76 oBjektiver — 39, 43, 44 -Theorie 8, 53, 76, 269 Geldsetzer, L. 3 GeltungsBereich 71, 184 — des Wissens 191, 194, 199, 204, 269 Genette, G. 263 Geschichtswissenschaft 125, 132
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Personen- und Sachregister
-sgesetz 125 -sgestalt 124 -sgrund 17, 24, 28, 59, 60, 62, 63 Anm., 116, 125, 126 -sintcntion 63 Anm., 115 -skennzeichnung 122—125, 128, 133, 134 -sklassen 116, 118 -skomponente 125 -smotiv 63 Anm. -sorganisation 124 -sradikal 124, 125 -sregel 281 -ssituation 4, 7, 156 Anm. -ssystem 132 -stheorie 7, 60, 62, 117, 149, 150, 163, 167, 171, 172, 182, 186, 267 -swirkung 129 -swissenschaften 75, 76, 125 Harre, R. 75 Anm. Habermas, J. 19, 32, 42 Anm. Hegel, G. W. F. 17, 54 Anm., 162 Hempel, C. G. 55 Anm., 125, 126, 130 Hacker, P. M. S. 70 Anm., 77 "Anm., Henderson, D. 157 Anm. 83 Anm. Herrmann, Th. 161 Anm., 166 Anm. Halbwachs, M. 69 Anm. Handeln 7, 19, 42, 49, 50, 80, 91, 98, Hermeneutik 3, 6, 8—11, 14—18, 20-23, 30-32, 36-38, 49, 54, 99, 103, 106, 108, 111, 114-150, 55, 58-60, 62, 85, 111, 133, 172, 173, 175, 177, 181, 182, 184 281 Anm. Anm., 186, 187, 194, 200, 276, 281 das hermeneutische Problem mythisches — 150 13—16 Routine — 133 hermeneutischer Individualismus Handlung 10, 16, 28, 29, 42, 73, 101, 112 108, 112, 114-150, 177, 180, 183, hermeneutischer Zirkel 23—25, 46 185, 188, 191, 193, 198, 200, 202, Hess, R. D. 165 Anm. 203, 215, 216, 219, 220-223, 269 Hineinversetzen 8, 52, 55—57 rituelle — 145 historische Schule 21 Routine — 116 Anm. Hockett, Ch. 161 Anm., 166 -säquivalenz 116 Hübner, K. 41 Anm. -saussagen 120—125, 131 Humbert, C. 153 Anm. -sbegründung 16, 115 Husserl, E. 17, 38, 45 Anm. -sbeschreibung 122, 123, 128, Hymes, D. H. 152, 163 Anm. 129 Anm. -sbezeichnung 129, 145 Ich -sdialog 135, 202 fundamentales — 262 -sentschluß 124, 128 konventionelles — 259, 262, 263, -serklärung 3, 10, 15, 18, 49, 61, 264 Anm. 116, 119 Oberflächen — 258 -serzeugung 131 Tiefen— 258 -sform 115-117, 124, 125, 127, wahre - 233, 238, 256, 262, 263 131, 135 Gesetz 50, 128, 130, 149, 151, 162 -eshypothesen 40, 126 Gewißheit 194—198, 210 Gipper, H. 166 Glauben -sgrund 125 -ssatz 22, 70, 102 -ssystem 105 Anm. -svorstellung 146 Göttner, H. 54 Anm., 55 Anm. Goffman, E. 7, 145 Anm., 152, 172 Anm., 173 Goodman, N. 4, 6, 136-145, 268, 269 Grammatik 151, 160, 162, 163 generative — 151 grammatische Interpretation 33 Standard - 153, 159, 161 Guermantes 260, 264 Anm. Gumperz, J. J. 12, 152
Personen- und Sachregister ideal -er Chronist 121 -er Sprecher 160 Ideologie 107, 146, 167, 168 -kritik 36 implizite Aussage 226 Induktion 8 Ineichen, H. 38 Anm., 56 Anm., 57 Anm. Informant 235, 238, 244, 252 Inhaltsebene 174 Inhelder, B. 166 Innenwelt 43 das Innere 6, 41-45, 49—51, 56, 58 Anm., 68, 94, 97, 98, 100 innere Buch 263, 264, 266 innere Erfahrungen 52 innere Erlebnisse 52 innerer Hergang 37 innerer Sachverhalt 138 innere Tatsachen 46 innere Vorgänge 51 innere Wahrnehmung 45, 46, 53
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Jackson, D. D. 173, 193 Anm. James, H. 230 Jurisprudenz 132
Käfer-Beispiel 78 Kafka, F. 209 Kausalerklärung 49 Kennzeichen 139, 140 sprachliche 136-145, 183, 215-217, 219 -Systeme 142, 215 Kepler, J. 121, 151, 160, 161, 174 Kimmerle, H. 34, 36, 37 Klassifikation 138, 140, 141 Klein, W. 157 Anm. Knies, K. 3 Kognition 268 Kommunikation 32 Kompetenz 152, 163, 169 kommunikative — 163 Anm. Komponenten 136 -analyse 125 Anm. Konstanzannahmen 264 Konstituierung der Welt 144 Innesein 38, 47, 48, 53 Konstrukt 77 Innewerden 45—47, 53 Kontext 33 Institutionen 6, 14, 18, 20, 43, 73, 106 Kontrolle 2, 72, 73, 87-96, 99, 104, Intelligenz-Entwicklung 9, 65, 84 106, 150, 151, 164, 165, 205-207, Intensität 256 209 Intention 27, 65, 80, 114-116, 119, Eigen— 87, 88 Anm., 90-92, 94, 129, 138, 168, 171, 172, 180, 182, 95, 98, 120, 200, 205-207, 216, 213, 220 Anm., 269, 273 271, 274, 282 Anm. Interaktion 3, 4, 19, 31, 63, 66, 96, 98, Kontrollinstanz 2, 71 152, 168, 176 Anm., 183—188, 204, Kontroll- 87, 90, 91 271, 273 Selbst- 114 -s-Soziologie 152 Konventionen 92 Anm., 102, 103, 227, Interpretation 2, 22, 26, 27, 34, 35, 80, 242, 251, 252, 265, 282 Anm. 112, 175, 178, 185, 194, 208, 226, Deutungs— 2 242, 243, 272, 273, 281 Sprach— 2 -saussagen 131 konventionelles Ich 259, 262, 263, -skonstrukt 128, 130, 149, 276 264 Anm. -smodell 273, 274 Konvergenztheorie der Wahrheit 35 -smonopol 81 Kopernikus, N. 174 interpretativer Gebrauch 6, 7 Korrektur 89, 102, 106 interpretative Sätze 215 Korrespondenztheorie der Wahrheit 49 interpretative Wissenschaft 267, 274 Krappmann, L. 177 Anm. Introspektion 22, 38, 48, 51 — 53, 56, Krausser, P. 45 Anm., 57 Anm. 63 Anm., 68, 72, 74 Kriterien 68—73, 78, 81, 93 Anm., 120, Ironie 214 245, 274, 277 irrational 3, 13
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Personen- und Sachregister
Kult 108, 109 Kulturkreis 111 Kunst 263 Anm., 265 Anm., 266 Labov, W. 152, 154, 155, 157, 158 Anm., 159 Anm., 160, 171, 177 Anm. Lafargue, P. 167 Anm. Laing, R. 16 Lakatos, I. 75 Anm. langue 161 Anm. Lautwandel 154, 155 Lawton, D. 157 Anm. Lebrun, F. 147 Le Goff, J. 105 Anm., 106 Anm. Leibniz, G. W. 227 Lejeune, Ph. 236 Lenk, H. 107 Anm., 125 Anm., 128 Anm. Le Roy Ladurie, E. 105 Anm., 111 Anm., 132 Anm., 147 Anm., 148, 149 Lessing, G. E. 7, 268 Linde, H. 269 Anm. Linguistik 151, 160, 162, 163, 198 Lipps, H. 27 Literatur 212 literarische Form 212, 232, 251, 266, 275 phantastische — 237 -geschiente 43 -Wissenschaft 206 Anm., 207 Anm., 212, 225, 232, 275 Loban, W. D. 157 Anm. Logik 8 logische Operationen 47 Marcel 234, 235, 237, 240, 245, 248, 260—263, 264 Anm., 265 Marcellesi, J. B. 167 Anm., 175 Anm. Mauriac, C. 233 Mead, G. H. 188 Anm. Mead, M. 89 Anm. Medium 107 Megay, J. N. 258, 259 Anm. mentaler Zustand 88, 91 Merimee, P. 210, 211 metaphorischer Besitz 137 Methodenlehre 38 Anm.
Mill,J. St. 21 Misch, G. 45 Anm., 49 Mißverstehen 31, 281, 282 Mitteilungsfähigkeit 271 Morris, Ch. W. 27 Moscovici, S. 152, 153 161 Anm., 173 Mythen 140, 141 mythisches Handeln 150 mythologisches Motiv 13
Anm.,
Nachvollzug 50 Nacherleben 30, 52, 55, 56 narrative Sätze 120 Naturwissenschaften 38—41, 48, 75, 76, 126, 162, 268 Anm. Negro-Nonstandard English 159 de Nerval, Gerard 256 Anm. Neupositivismus 21 Norm 12, 14, 22, 96, 98, 99, 106, 145, 153, 156, 158, 160, 162, 181, 202, 226, 282 Anm. Normalität 74, 88, 90-92, 102, 103, 114, 115, 145, 146, 177, 197 Anm. Prestige — 160, 175 Anm. -entsetzung 97 -ensystem 18 Objekt -eigenschaft 254—256 -konstanz 253 Objektivation 38, 43, 51, 53 Odette 233, 234, 237, 238, 239, 242, 246, 248, 264 Anm. Oevermann, U. 155 Anm., 157 Anm., 168 Anm., 179 Osgood, Ch. 166 parole 161 Anm. Passiv 219, 220 Performanz 161 Anm. Person -enbindung 202—205, 207, 209-212, 273, 279 person-orientierte Familie 164, 165 -en-Wahrnehmung 83, 84, 255 Perspektive 169, 183, 185, 189, 206, 212,251, 280
Personen- und Sachregister
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-abweich u ng 134 Perspektivität 185 -anwendung 72, 87 — von Dialogen 191, 279, 281 -folgen 92 Philologie 29, 30, 60 -gebrauche 95 Piaget, J. 65 Anm., 83 Anm., 166, 282 -schemata 88, 92 Popper, K. 35, 75 Anm. -Schöpfung 85 positionale Familie 164 -system 44, 51, 90, 281 Prädikatoren 226 Präsentation 175, 177—179, 181, 182 -Verwendung 85, 86, 88, 91, 92, 94 -stheorie 178, 180-182 Rekonstruktion Pragmatik 156 Anm. — von Bedeutungen 34, 35 Prognose 22, 40, 124 Anm., 149-151 — von Wissen 119, 132, 146 Anm., Projektionsverben 120, 121 150 Proust, M. 8, 28, 176, 209, 230, Repräsentation 140, 141 232-234, 241, 243, 251, 252, Retrodiktion 124 Anm., 150 258—264 Rezipient 3, 5 Rhetorische Frage 214, 221, 222 Psychiatrie 133 psychisch Richard, J. P. 238 Anm., 240 Anm. -e Disposition 125 Rickert, H. 27 -er Sachverhalt 74, 193 Riedel, M. 39, 47 Ritualverhalten 12, 14, 18 -er Zustand 5, 17, 44, 47, 50-52, rituelle Handlung 145 56, 57, 58 Anm., 62, 68-70, 72, 79-81, 83, 85, 87, 122, 134, 138, Robinson, W. P. 165 Anm. 139, 143, 186, 192, 257 Anm. Rolle 164, 165 Psychoanalyse 132 Roman 140, 141 Psychologie 38, 267 Rothacker, E. 10 beschreibende oder zergliedernde — Routine 52 - Handeln 133 Sozial - 152 -handlung 116 Anm. Runciman, W. G. 146 Anm., 168 Anm. psychologische Interpretation 33, 42 Anm. Russischer Formalismus 230, 232 Anm. Psychologisierung 8, 23, 30, 35—37, Ryle, G. 55, 56 47, 49, 55 Psychologismus 54 Sacks, H. 152 Sand, G. 262 Anm. Sanktionen 91, 92, 98 Rackstraw, S. J. 165 Anm. de Saussure, F. 161 Anm., 187 Anm. Raum 257, 259 Schatzmann, L. 168, 169 Recht Schegloff, E. A. 152 -snorm 108, 109 Schema 142 -ssystem 43, 108 Schicht Redestil 152, 153 gesellschaftliche — 145, 146 Reduktion 16, 17 Mittel— 153, 156—158, 160, 164, Referenzialisierbarkeit 226, 229 166-169, 178, 180-182 Reflexionsebene 226, 230 Unter- 153, 156, 157, 166-169, Regel 22, 58 Anm., 66—68, 85, 87—91, 178, 181 94, 101, 104, 106, 107, 132, 136, Schleiermacher, F. 3, 8, 16—18, 23, 142, 143, 155, 173, 177—179, 182, 30-38, 42 Anm., 54-56, 267, 268, 189, 191, 194, 195, 254, 270, 271, 273, 281 274, 275, 282 Anm.
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Personen- und Sachregister
Schluß -Folgerung 84 -regel 85 Schmerzempfindung 76, 77 Schütz, A. 152, 176 Anm. Schulz, G. 158 Anm., 167 Anm. Secord, P. F. 75 Anm. Selbstbeobachtung 22, 38 Präsentation 145 Zeugnis 2 zwang 95, 97, 98 Anm., 100 Semantik 225, 229, 231, 232 Semiotik 267 Sender 5 Sextus Empiricus 267 Shipman, V. C. 165 Anm. das Singulare 49 Anm., 50 Anm. Sinn 10, 22, 26, 28, 29, 33, 51-54 -eswahrnehmung 45 -gebung 52 — Semiosis 26—28 Situation 7, 14, 70, 83, 85, 114—116, 121, 125, 168, 178, 180, 182,275 -sdefinition 178 -Seinschätzung 108, 124 sozial -e Gerechtigkeit 146 -e Identität 177—182 -e Kognition 65 -e Konstruktionen 176, 177 -e Personen-Wahrnehmung 65 -er Status 159 Sozialisation 91, 164, 178 Sozialpsychologie 152 Soziogenese 100 Soziolinguistik 152, 163, 179, 182 Soziologie 96, 99, 100, 152, 153, 267 Interaktions— 152 Sperber, D. 227 Sprache 29, 32, 34, 36, 47, 108, 111, 131, 142, 144, 151, 178, 179, 187, 191, 194, 198, 256, 261, 263, 265, 266,272, 277, 279-281 Privat— 66 Anm., 92 Anm., 136 Umgangs— 8, 251, 259 — über Empfindungen 66 Anm., 92 Anm. — über Schmerzen 143
Sprach -fähigkeit 167, 168 -funktion 168, 182 -gebrauch 33, 143 Anm., 152, 156 Anm., 226, 271 Anm., 282 Anm. -gemeinschaft 12, 153, 156, 162, 272, 282 Anm. -konventionen 118, 119 -logik 252 -regel 122 -variation 153-156, 160, 176 -verhalten 151 -Verwendung 160 -wandel 154, 155, 167 Anm. sprachlich -es Kennzeichen 183 -es Merkmal 282 Sprechen 10, 33, 34, 36, 108, 153, 154, 156, 162—165, 168, 171, 172, 180, 182, 185-188 Sprech -akt 171, 226, 227 -akt-Theorie 226, 267 -ereignis 151, 162 -handlung 119 -situation 12, 18, 122, 161, 162 -theorie 167, 172, 174 Stegmüller, W. 55 Anm., 56 Stendhal 233 Strauss, A. 152, 168, 169 Strawson, P. 225 Striedter, J. 232 Anm. Strukturalismus 112 Strukturierungsregeln 272, 274 Subjekt das Subjektive 60-113, 197, 212 Subjektivität 17 - Wissen 63-76, 82, 83, 87, 89, 106, 245, 246, 279 - Zustand 18, 63-76, 82, 83, 87, 89,90, 106, 139, 144, 187, 192,268, 279 Swann 233-235, 237-239, 242, 245-248, 254, 261, 263, 264 Anm., 265 Symbol 3, 4, 6, 7, 9, 15, 23, 53, 54, 57, 64 Anm., 112, 138, 139, 183, 194, 200, 263, 268, 269, 271-273, 275, 279,281, 282
Personen- und Sachregister
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-gebrauch 5—9, 29, 281, 282 Anm. Ursache 42, 49, 50, 53, 62, 78, 79 Anm., -regel 269 126—130, 133, 134, 138, 144 -system 4, 7, 9, 29, 30, 38, 43, 44, Humesche — 128 Anm. 51, 53, 54, 101, 112, 136, 144, 183, 192, 194, 195, 232, 235, 268, 269,Verhalten 14, 51 f., 57, 81, 88—90, 272—279, 280 Anm., 281 93 Anm., 106, 119—124, 127, 130, -theorie 10, 267, 271 Anm. 131, 171, 200 Symbolischer Interaktionismus 4, -sbeobachtung 85 188 Anm. -sform 11, 124 symbolisches Konstrukt 6 -snorm 96, 162 Syntax 186, 198, 252 -sweise 96 -form 5, 198 Verifikation 22, 25, 151 -regeln 8 Verinnerlichung 87 -Strukturen 28, 212-224, 242, 269, — gesellschaftlicher Kontrolle 86 272 — der Kontrollfunktion 90 syntaktische Formen 251 Verläßlichkeitsgrad 201, 203, 204 Systematisierung 50, 124, 130, 132, Verstehen 9, 10, 15, 16, 21-32, 34, 134-136, 140, 142, 144, 149 37-61, 119, 185, 188, 200, 206, 207, 209, 251, 270, 281 -s-Theorie 6 Tätigkeit 120, 122, 124, 125, 127, Vettard, C. 258 Anm. 129 Anm., 130, 131 Volochinov, V. 163 Anm., 167 Anm. Täuschung 48 Voltaire 99 Tagiuri, R. 65 Anm., 66 Vorgeschichte 77-80, 200, 275 Tatsachen Vorstellung 107, 108 geistige — 45, 46, 48, 52 Vovelle, M. 147, 148 innere — 46 Vuillemin, J. 136 technisch -e Auslegung 37 Wahrheit 26, 225, 226, 230, 231, 264, -e Interpretation 33, 34 265 Teilnehmerstandpunkt 74 -sanspruch 227, 230 Text 207, 208, 229, 230, 250, 251, 273 -sbegriff 229 -Organisation 123 -sproblem 228 Thalberg, I. 125 Anm., 128 Anm. -swerte 190 Anm., 194, 226 Theorien Wahrnehmung 253-255, 263 naive — 6, 9, 18, 79, 82 Anm., -sbedingung 253 83-85, 102, 110, 143-146, 149, Wallon, H. 91 Anm. 268, 269 Anm. Wallraff, G. 103 natürliche — 31 Watzlawick, P. 89 Anm., 173,174 Anm., theoretische Konstrukte 274 193 Anm. Todorov, T. 232 Anm., 267 Anm. Weber, M. 3, 16, 17, 62 Anm. Transkription 198 — 201, 204—208, Weinreich, H. 217, 218 273, 279 Whorf, B. 165 Tugendhat, E. 92 Anm., 93 Anm. Whorf-Hypothese 166 Anm. Wirkung der Handlung 16, 126, 127, 130, 133, 134, 138 Überzeugung 103 Wissen Unbestimmtheit 275—277 bezweifelbares — 7, 8, 14, 25, 189, unbewußte Erinnerung 262 190, 195, 196 Anm., 270
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Personen- und Sachregister
Gesamt - 226, 279 -sstruktur 5, 149, 189-194, 271 implizites — 212, 273 -sstrukturierung 272, 274 intersubjektives — 66—71, 73 Anm., -sveränderung 246—248 74 Anm., 76, 77, 80 Anm., 85—88, -sverteilung 195, 199, 200 Anm., 90, 101, 102, 104, 107, 108, 110, 279 113—116, 118-120, 130, 131, -swerte 190 Anm., 206, 280, 281, 146, 147, 185—189, 191 — 193, 282 Anm. 195-212, 238, 243-245, 247, 252, Wissenschaftstheorie 8, 75, 92 Anm. 271,272, 279 Anm. Wittgenstein, L. 4, 6, 32, 37, 43, 55, 56, kollektives subjektives — 74 Anm., 64, 66, 71, 76, 77 Anm., 78 Anm., 96, 103 Anm., 104-113, 116, 130, 79-82, 86, 87, 92 Anm., 93, 131, 146, 147, 174, 177-180, 182 124 Anm., 133, 136, 138, 139, sicheres - 7, 8, 14, 15, 23, 25, 42, 195 Anm., 268, 269, 271 Anm. 189, 190, 192, 195, 196, 204, 209, Wortgebrauch 122 210, 211, 235, 240, 243, 245, 246,von Wright, G. H. 124 Anm., 128 Anm. 248, 249, 270, 272, 274, 279 Wunderlich, D. 157 Anm. subjektives — 66—77, 81, 85—120, Wygotski, L. 92, 94 128, 130, 131, 142, 143, 146, 150, 184, 186, 188-193, 197—212, Zebergs, D. 164 Anm., 169 Anm., 179 214-216, 218, 238, 244, 245, Zeichensysteme 267 247-249, 252, 269, 271-274, Zeit 261, 262, 264 Anm. 275 Anm., 279, 282 Anm. -erfahrung 239, 257 Symbolisches — 5, 6, 8—11, 14, 16, -fluß 259 17, 21-23, 38, 41, 54, 59-61, 63, -formen 217 86, 183, 189, 191, 267, 268, 271, -philosophic 259 274,275, 276, 281, 282 -punkt 239, 257 Überschuß— 274 -räume 239 Sicherheit des Wissens 185, 191, -Struktur 248 —251 199, 205, 269 qualitative — 263 -sbasis 208, 235-237, 241, 242, reine - 233, 239, 257, 262, 263 244-246, 251 f., 265 verräumlichte — 263 -sbewertung 183-186, 188, 189, Zvilisation 110 190 Anm., 194, 196, 205, 231, 245, -sprozeß 95 271,280 Zola, E. 145, 146 Anm., 211 Anm. -sgewinnung 129, 131, 184 Zuschreibbarkeit 276 -skomponente 135, 136, 140—142, Zuschreibung 120 144 Zwang 104, 106, 157, 198, 223