Denken kann trösten: Trauer verständnisvoll begleiten 9783525402351, 9783647402352, 352540235X

Es gibt Zeiten, da sind wir ganz untröstlich. Trauer erfasst den ganzen Menschen und so wird auch sein Denken traurig. I

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Denken kann trösten: Trauer verständnisvoll begleiten
 9783525402351, 9783647402352, 352540235X

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

EDITION

 Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller

Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

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Eduard Zwierlein

Denken kann trösten Trauer verständnisvoll begleiten

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Mit 2 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40235-2 Umschlagabbildung: kathrin_hb/photocase.com © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Aus der Trauer einen Edelstein machen . . . . . . . . . . . . . . . . . .  7 Eine andere Sicht der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Das Wunder der Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Eine andere Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15 Trauer denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  20 Auf dem Weg – Gute Gedanken für Trauerbegleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 Begegnung und Begleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 Dasein in der Trostlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  28 Die Fragen selbst lieb haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  34 Auf dem Weg mit guten Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 Vom Dialog zum Trialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  43 Persönlichkeitsorientierte Kommunikation . . . . . . . . . . . . .  47 Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  60 Der Tod ist das Nichtwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 Die Wahrheit ist die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  77 Der Sinn ist die Dankbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  85 Die Aufgabe ist die Selbstwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  92

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Anhang: Im Garten goldener Sätze spazieren gehen . . . . . . .  109 Im Garten goldener Sätze des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . .  113 Im Garten goldener Sätze des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  115 Im Garten goldener Sätze der Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . .  117 Im Garten goldener Sätze des Trostes . . . . . . . . . . . . . . . . . .  119 Im Garten goldener Sätze des Selbstwerdens . . . . . . . . . . . .  121 Im Garten goldener Sätze der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  123 Im Garten goldener Sätze des Lebensglücks . . . . . . . . . . . . .  125 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  127

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Aus der Trauer einen Edelstein machen1

Worauf, so könnten Sie sich fragen, ist dieses Buch, das Sie in Händen halten, eigentlich eine Antwort? »Denken kann trösten« und zu einer verständnisvollen Begleitung in der Trauer beitragen, so lautet die Behauptung. Aber wo liegt das Problem? Offensichtlich in der Vermutung mancher, dass Denken keine besondere Kompetenz für den Trost der Trauernden hat. Ja, vielleicht sogar noch radikaler, dass Denken nicht nur unzuständig ist, sondern womöglich die Trauer sogar stört und behindert, weil es per se falschen Trost bietet, eben Denk-Trost. Hinter dieser Vermutung steht wahrscheinlich der Gedanke, dass Trauer vor allem ein seelischer oder emotionaler Zustand ist, eine Frage des Fühlens, für welches das Denken als solches nicht passt. Aber stimmt dies denn? Natürlich kann es Situationen der Trauer geben, in denen Denken vielleicht wenig bieten kann, wo es gleichsam »fehl am Platz« ist. Aber dann würde sich nur die Frage stellen, wann es sinnvollerweise zum Zuge kommen sollte. Natürlich gibt es auch falsches Denken, das seiner Aufgabe nicht gerecht wird. Aber dann würde sich nur die Aufgabe stellen, wie richtiges Denken wohl am ehesten aussehen könnte. Und natürlich gibt es Grenzen des Denkens, in der Trauer guten Trost und hilfreiche Begleitung zu schenken. Aber dies bedeutet nur, danach zu fragen, wo diese Grenzen ver-

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So der Clown Dimitri in seinem Beitrag »Aus der Trauer einen Edelstein machen« in Panian und Ibello (2013, S. 169–171).

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Aus der Trauer einen Edelstein machen

laufen, sich ihrer bewusst zu sein und sie zu beherzigen, also ein grenzbewusstes Denken zu praktizieren. Es geht folglich nicht um unzeitiges, falsches oder sich überschätzendes Denken. Die Frage wäre vielmehr: Welches Denken ist hilfreich für Trost in der Trauer? Welches Denken kann Trauernde verständnisvoll begleiten? Wann ist die rechte Zeit dieses Denkens? Und wie sieht der Trost dieses Denkens aus? Wer vermutet, dass Denken für den Trost der Trauer ungeeignet ist, spürt sicher zu Recht die Gefahren, die im falschen, unzeitigen oder sich überschätzenden Denken liegen. Aber seine grundsätzliche Ablehnung, im Fall der Trauer verständnisvollen Trost zu ermöglichen, verdankt sich wohl eher einem hartnäckigen Vorurteil, also selbst einem falschen Denken über Denken, das dazu führt, dass dann, wie man so schön sagt, »das Kind mit dem Bade« ausgeschüttet wird. Es wird hier nämlich zum einen übersehen, dass Trauer doch in der Regel den ganzen Menschen erfasst. Dies bedeutet, dass auch das Denken selbst, von der Trauer erfasst, traurig wird und trauert. Trauriges denken wird trauriges Denken. Vieles mag dann dem Denken indirekt helfen und seine eigene Heilung fördern. Direkt aber ist Denken in seiner Ansprache auf Denken angewiesen. Trauriges Denken braucht trostreiches Denken, Denken, das trauert, braucht Denken, das tröstet. Zum anderen ist die Gegenüberstellung von Fühlen auf der einen und Denken auf der anderen Seite doch recht künstlich und weit entfernt von einem ganzheitlichen Menschenbild, das um die Wechselwirkungen dieser Grundkräfte weiß. So wie das Denken von der Trauer betroffen sein wird, trauert und sich traurig fühlt, so beeinflussen umgekehrt die Gedanken, die wir denken, auch die Trauer, die wir fühlen. So wie es im Grunde kein seelen- und fühlloses Denken im wirklichen Vollzug des Lebens gibt, so sollte es auch kein kopfloses Fühlen und entsprechend keine kopflose Trauer geben. Unser ganzes Leben ist ein dicht gewobenes Gewebe der Interaktionen aller Grundkräfte, die wir in uns spüren und unterscheiden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Aus der Trauer einen Edelstein machen  

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Es soll also darum gehen, dass Denken trösten kann. George Steiner hat ein melancholisches Buch geschrieben mit dem Titel »Warum Denken traurig macht«. Er liest darin mit zehn (möglichen) Gründen dem unreifen und abgelenkten Denken unserer Zeit derart die Leviten, dass ihm Hören und Sehen vergeht, bis es sich endlich wieder auf das Wesentliche des Menschseins besinnt. Dafür soll sich das Denken in den Dienst einer Kultur der Freiheit stellen. Tut es dies nicht, hört es auf, wirkliches Denken zu sein. Das Denken, das der Freiheit dient, wehrt sich mit allen Kräften gegen fundamentalistische Positionen, die behaupten, Bescheid zu wissen über die großen oder letzten Fragen, wer der Mensch ist, ob der Tod endgültig ist oder ob Gott existiert oder nicht. Diese Fragen kann das Denken aber nicht definitiv lösen. Wir bleiben in Ungewissheit und Unsicherheit. Das Denken hilft uns nicht. Es ist vergeblich und führt zu nichts. Traurig. Jedenfalls ist das ungesicherte Denken ein Schutz gegen das endgültige Bescheidwissen. Wir könnten daher gegen Steiner sagen: Es ist zum Glück so mit dem Denken. Denn nun beginnt das Abenteuer des Denkens ohne Ende, das Abenteuer der Freiheit, ein fortlaufendes Vertiefen in die großen Fragen, eine verantwortliche Suche nach Antworten, von denen man leben kann. Denken macht nicht traurig. Nichtdenken macht traurig. Denken kann trösten. Alles hat seine Zeit. Auch das Denken für den Trost der Trauer. »Denken kann trösten« heißt nicht: jedes Denken – jederzeit. Vielmehr suchen wir nach dem guten Denken guter Gedanken, die zu ihrer rechten Zeit der Trauer Trost schenken und dem Trauernden Impulse und Inspirationen für neues Leben und eine sich neu öffnende Zukunft geben können. Es handelt sich bei dem guten Denken guter Gedanken natürlich nicht nur um die Seite des Begleiters, sondern auch um die des Trauernden selbst. Im Trauernden sind viele Weisheitsquellen und Heilungskräfte, Resilienz,2 die es zu wecken und zu begünstigen gilt. Die Übermacht des Todes ist da. 2

Vgl. für einen neuen Zugang im Verständnis der Trauer: G. A. Bonanno (2012).

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Aus der Trauer einen Edelstein machen

Am Anfang ist alles verstörend. Wir sind wie aus der Welt geworfen. Dass aber die Trauer übermächtig sei, weil sie von der Übermacht des Todes erzählt und zeugt, ist nur ein Gedanke. Nicht nur im Menschen sind andere Kräfte, die überstehen helfen. Sie sind sogar in der Trauer selbst. Es ist möglich, aus der Trauer einen Edelstein, aus Kohlenstoff durch den ganzen Druck einen funkelnden Diamanten, aus Staub einen Stern zu machen.

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Eine andere Sicht der Dinge

Das Wunder der Trauer Es ist geradezu schockierend zu sehen, wie wissend und erwacht Trauernde sein können. Es ist unfassbar, was Trauernde alles sehen und wie sie sehend werden. Was sie alles wissen von der Größe der Liebe und der Tiefe des Schmerzes. Wie hellhörig und hellsichtig sie sind. Das ganze Sensorium ihrer Existenz, von den kleinsten Regungen des spürenden Leibes über das feingestimmte Fühlen bis hin zu den weit um sich greifenden Kräften des Geistes, ist in dieses Verstehen und Sehen und Wahrnehmen eingespannt. In all dem, was als Schmerz ins Chaos stürzt, sind sie doch, wie etwa Ertrinkende und Untergehende am meisten von Luft, Leben und Auf- und Untergang wissen, gleichsam wie besonders Eingeweihte, die an die tiefsten Wahrheiten des Lebens gerührt haben, weil sie von den Urkräften des Lebens selbst überwältigt wurden. Aus einem Ursprung heraus, der selbst unsichtbar bleibt, kehren sie verwandelt zurück. Es ist, als habe die Trauer einen Schleier von ihnen weggerissen. Vorher glichen sie Blinden, nun aber können sie sehen, als wären sie ein äußerst fein gestimmtes Gerät. Obwohl der Boden unter ihren Füßen schwankt, obwohl das Leben stillsteht und obwohl die ganze Welt um sie herum zusammenbricht, nein: weil dies so ist, fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen. Die Trauernden sind sehend. Ich kann dies nur mit wenigen anderen Dingen vergleichen. Beispielsweise denke ich an das, was Erleuchtung in der Religion oder Erwachen in der Meditation genannt wird. Ich denke an das klare Sehen dessen, was zählt und wichtig ist, das Menschen zeigen, die einen Nahtod erlebt haben. Ich denke an die Wünsche oder Aussagen Sterbender, denen der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Eine andere Sicht der Dinge

nahende Tod die Kraft gibt, zu sehen, worauf es eigentlich ankommt oder angekommen wäre. Oder ich denke an die Wahrheiten, die Liebende in der ersten Schönheit ihres Liebens sehen. Was man hier mit Recht sagen kann: ubi amor ibi oculus, wo Liebe ist, ist ein Auge, ein neues Sehen, das darf man wohl auch auf die Trauernden übertragen: ubi luctus ibi oculus, wo Trauer ist, da ist ein Auge, ein neues, tiefes, ernsthaftes Sehen. Natürlich ist dies nicht immer der Fall. Aber es ist doch keineswegs selten, dass die Trauernden wesentlicher werden als die anderen. Die Trauernden, denen der Tod ein geliebtes Wesen raubte, sind hineingerissen in ein besonderes Wissen und Verstehen, das nur auf diese Weise gefunden werden kann. In diesem Wissen entdecken sie etwas von der bestimmenden Macht des Todes über unser aller Menschsein, indem wir im Entzug des Toten mit unserer eigenen Selbst-Entzogenheit und Selbst-Verborgenheit in Berührung kommen. In dieser Selbst-Entzogenheit ist sich der Mensch als Geheimnis gegeben, und es kommt alles darauf an, sich als dieses Geheimnis anzunehmen. Mit der Dichterin Inger Christensen können wir sagen, dass die Erfahrung des Todes uns in den Geheimniszustand des Menschen einweiht: »wie die Tiefe das Wasser hochhebt zu einer Quelle hebt der Tod die Lebenden hoch zum Trinken« (Christensen, Gedicht vom Tod, 1999, S. 13)

Da der Tod eine rätselhafte, genauer und richtiger: geheimnisvolle Grenze ist, die unser Leben beschließt und ganz macht, ohne dass wir wissen können, ob dieses Ende Abbruch oder Vollendung oder etwas anderes ist, wird der Tod zum Fragezeichen, das das Leben und den Menschen zu einer großen Frage macht. Alle Antwortversuche auf die Frage, die wir selbst sind, sind nur »vorläufig« im Vorlaufen auf den Tod; die Ausrufezeichen, die wir wählen, um das Fragezeichen zu beantworten, stehen gleichsam stets unter Vorbe© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Das Wunder der Trauer  

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halt, wie in Klammern gesetzt. Der Tod stellt uns staunend zurück in die Frage, in der wir immer stehen und aus deren Stoff unsere Existenz gewoben ist.1 Wer trauert, weil er einen geliebten Menschen verloren hat, hat in den Abgrund des Nichts geschaut. Alles, was er liebte, ist ihm entrissen, alles Suchen stürzt ins Leere, nichts ist mehr da von dem, was seine Liebe einmal hatte; denn »dort liegt mein Alles begraben« (Schelling, 1804–1834, S. 111). In der Trauer umarmt der Tod die Liebe. Was die Philosophen aber schon im Leben, im Alltag integrieren wollten, dass Philosophieren Sterbenlernen ist, dass die meditatio mortis, das nachdenkende Besinnen auf den Tod ein Mittel ist, um wahrhaft zu leben, das hat den Trauernden mit einer umstürzenden Wucht erreicht und dringt in jede seine Poren ein. Das Wissen, das sich ihm hier erschließt, ist kein abstraktes »Wissen über« etwas. Der Trauernde redet nicht über Trauer, über Liebe, über Leben, über Tod, über Menschsein. Sein Wissen ist ein besonderes. Was für einen Namen soll man ihm geben? Es ist ein existentielles Wissen. Es ist ein transformatives Wissen, ein Wissen das radikal verwandelt. Es ist gespürtes Wissen, gefühlte Bedeutung. Es ist ein »Wissen von und um«: Der Trauernde weiß bis in jede Faser seiner Existenz hinein etwas von der Liebe um die Liebe und vom Tod um den Tod und vom Leben um das Leben und darin vom Menschsein um es und von ihrer aller sonderbaren Verwobenheit, weil er es erlebt und erlitten hat. Trauernde wissen also nicht einfach etwas über die Grundkräfte der Liebe, des Todes, des Lebens, des Menschseins. Sie wissen von diesen Ur- und Grundkräften um sie, weil diese schicksalhaft in ihre Existenz eingeflutet sind. Denn der Tod hat seiner Liebe das Leben geraubt und das schöne »Wir gemeinsam eins« zerbrochen, zerrissen in ein »Ich allein ent1

Wir denken auch an Hugo von Hofmannsthal (1893/1980, S. 279 f.), »Der Tor und der Tod«, wo der Tod nach dem Sterben Claudios am Ende des Stückes kopfschüttelnd über die Sterblichen sagt: »Wie wundervoll sind diese Wesen,/ Die, was nicht deutbar, dennoch deuten,/ Was nie geschrieben wurde, lesen,/ Verworrenes beherrschend binden/ Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden.«

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zweit«, an dem alles noch, wie halbiert, von dem Entrissenen erzählt. Der Trauernde weiß wirklich von all diesen Dingen um all diese Dinge. Die Trauer hat es ihn gelehrt. Noch mögen all diese Dinge unklar sein, wie im Keim, noch ganz anfänglich. Aber sie sind schon da, wie die ganze mächtige Eiche in der winzigen Eichel da ist und nur die Entfaltung des Wachstums braucht wie die Trauer die Entfaltung des Verstehens. Nur das Denken wird in der Trauer trösten, das dieser Entfaltung dient. Wem in der Trauer die ganze Welt wankt, wer wie blind geworden und schwarz vor Augen zu Boden stürzt, wer aber dann stürzt und keinen Boden mehr findet, wer immerzu in die Nacht haltlos stürzt und stürzt, den trifft die Trauer bis ins Mark. Wie kann es sein, dass die Trauernden so viel sehen? Wie kann es sein, dass die Trauer sie so aufreißt und verurteilt zu solch einem Sehenmüssen? Wie kann es sie so treffen? Weil sie lieben. Und weil sie in der Liebe ein »Wir« geformt haben, dessen Zusammenbruch und Entzug sie nun bis in jede Windung ihrer Existenz verspüren müssen. Die Abwesenheit des geliebten Verstorbenen ist in ihnen überall anwesend. Die Trauernden sehen und wissen, nicht weil sie die Trauer irgendwie bewältigt, überwunden oder besiegt haben, sondern weil sie sich von ihr haben erfüllen und besiegen lassen. Rilke spricht in der ersten der »Duineser Elegien« von den schönschrecklichen Engeln, vor deren »stärkeren Dasein« wir vergehen (Rilke, 1996, Bd. II, S. 201). Im Gedicht »Der Schauende« aus dem »Buch der Bilder« redet er vom Engel, mit dem die Menschen ringen. Er ist von namenloser Größe und unbezwingbar. Niemand ist in der Lage, ihn zu besiegen. Die Aufgabe wäre, »der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein« (Rilke, 1996, Bd. I, S. 333). Verstehen wir diesen Engel für unseren Zusammenhang als den Engel der Trauer. Unmöglich, ihn zu besiegen. Würden wir vor ihm fliehen, würden wir ihm zu entgehen versuchen, bliebe uns nur ein kleiner Sieg, der diesen Namen eigentlich nicht verdient, ein lächerlicher Erfolg, in dem wir alles, was uns gegeben werden könnte, ausschlagen würden. Denn in Wahrheit hält ihm nichts stand. Zu diesem Engel gehen wir nur durch den Zusammenbruch. Der Satz unse© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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res menschlichen Wachstums lautet: Stirb und werde. Hier ist das Sterben, auch das eigene im Tod des anderen, bitterster Ernst. Ein Mit-Sterben, für das sich keine rechten Worte finden lassen. Dieser Engel hat keine sanften Flügel. Er rollt auf uns zu wie ein mächtiger Streitwagen. Alles an ihm ist groß. Alles an uns ist klein. Alles von uns ist vor ihm Überwältigtwerden, Vergehen und Untergang. Niedergeschlagen sind wir durch ihn, geschunden und wund geweint, bis keine Träne mehr rollt. Entwaffnet sind wir durch ihn, alle Waffen aus der Hand geschlagen, auch das Denken niedergerungen, niedergeworfen und entleert: unfassbar, unbegreiflich, unausdenklich, ohne Worte, sprachlos. Ich weiß nicht mehr weiter. Mir fällt nichts mehr ein; denn das Nichts ist in mich eingefallen. Jeder Kampf mit diesem schrecklich großen Engel wird auf verlorenem Posten geführt. Unsere Widerstandskraft wird bald erlahmen. Dachten wir wirklich, wir könnten irgendwelche Kräfte mit ihm messen? Mit ihm ringen? Welches Missverhältnis! Welcher Irrtum! Nicht lange, und seine bezwingende Kraft wird mir immer deutlicher. Ich höre mich das ganze Nichts durchdeklinieren: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich weiß nicht mehr, ich fühle nichts mehr. Alles muss ich lassen. Loslassen. Ich bin an der Grenze. Ich bin am Ende. Am Ende. Es ist dieser dunkle Engel der Trauer, der zugleich der helle Engel der Weisheit in der Trauer ist. Der Engel lehrt uns, wer wir sind, indem er uns bezwingt. Er bringt eine neue Transparenz, ein neues Licht, ein neues Sehen in das Herz der Dinge. Wenn wir nicht ausweichen, wenn er durch uns hindurchgehen kann, in jede unserer Poren belehrend eindringt. Wenn wir bereit sind, Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein.

Eine andere Sicht Üblicherweise ist der Zugang zu unserem Thema der, dass Denken vielleicht Trost in der Trauer geben könnte, dass jemand dann oder dann dieses oder jenes durch das Denken erhält, zum Beispiel ein © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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gutes Wort, eine Klärung oder eine Orientierung. Dies bleibt auch weiterhin eine wichtige Aufgabe des Denkens und wird hier in keiner Weise in Frage gestellt. Doch können wir ein Stück weiter gehen und eine grundlegendere Sicht entwickeln. In seinem Roman »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« spricht Rilke davon, dass er neu sehen lernt: »Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen« (Rilke, 1996, Bd. III, S. 457). Täglich übt er es neu ein. Es ist ein eigentümliches neues Sehen. Anders als in seinem Gedicht »Der Panther«, in den die Bilder der Welt passiv und wirkungslos einströmen, steht es um das neue Sehen. Das neue Sehen will gelernt und aktiv umgesetzt werden. Es erarbeitet sich eine neue Sicht auf Dinge, die es deshalb dann auch neu sehen kann. Sehenlernen ist eine geistige Arbeit. Was ist wirklich da? Was sehe ich, wenn ich in das Herz der Wirklichkeit sehe? Es verwandelt von Grund auf auch den, der sieht. In der Frage, ob Denken trösten kann, steht auch ein neues Sehenlernen an. Was ist wirklich da, wenn ich trauere? Was sehe ich, wenn ich in das Herz der Trauer sehe? Was ist mir da mitgeteilt? Es wird uns etwas bewusst, was verborgen war. Eine Klärung tritt ein. Eine neue Sicht stellt sich ein, eine neue Schau. In ihr geht es nicht hauptsächlich darum, dass das Denken in der Trauer hier und da dem Trauernden seinen notwendigen Trost gibt, sondern dass es die Trauer selbst ist, die uns tröstet. Das Denken macht uns diesen Vorschlag und setzt sich für ihn ein: Trauer tröstet. Trauer ist Trost? Trauer tröstet? Trauer trägt selbst Trost in sich? Trost nicht in der Trauer, sondern durch die Trauer? Was soll das bedeuten? Wenn der Gedanke stimmt, dann gäbe es etwas neu zu sehen. Trauer wäre dann nicht nur eine Antwort auf einen großen Verlust, eine »Reaktion« auf etwas, mit dem wir irgendwie umgehen und zurechtkommen müssen, Ausdruck unseres tiefen Schmerzes, sondern eine lebensfreundliche Gestalt der Weisheit. Trauer als Gegenwart von Weisheit, die Trost in sich selbst trägt, wird uns aber nur dann zugänglich, wenn wir sie nicht besiegen oder überwinden wollen, sondern wenn wir sie ganz zulassen, wenn wir ihr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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nicht ausweichen, wenn wir hören, was sie uns zu sagen hat, wenn wir ihr aufmerksam und sorgfältig zuhören, wenn wir uns von ihr belehren und verwandeln lassen, wenn sie uns mit der Kraft ihrer schmerzvollen Schönheit beschenken kann. Das neue Sehen sieht neu auf die Trauer und erschließt sich darin die neue Sicht, die in der Trauer selbst gelegen ist. Trauer als Trost ansehen heißt, die Weisheit der Trauer als heilsamen Trost für uns zu verstehen und verständlich zu machen. Das neue Sehenlernen ist eine Umwendung des Blicks, eine neue, tiefere Schau der Wirklichkeit. Sie erinnert uns an eines der großen Bilder Platons, an das berühmte Höhlengleichnis. Sehr vereinfacht gesagt, beschreibt Platon in diesem Gleichnis die allgemeine Lage der Menschen auf folgende Weise: Sie sind Gefangene und befinden sich gefesselt in einer dunklen, fensterlosen Höhle. Sie können sich in ihren Ketten nicht bewegen, nicht nach links und rechts schauen. Ihre Schau der Dinge ist ganz fixiert und ausgerichtet auf die Höhlenwand. Tatsächlich sehen sie aber nicht die Dinge, wie sie wirklich sind, sondern nur die Schatten von Dingen, die vom Widerschein des Höhlenfeuers an die Wand projiziert werden. Ihr Blick ist auf ein gespenstisches Schattentheater oder eine Art von Höhlenkino gerichtet. Die Gefangenen sehen Blendwerk: Projektionen von Gegenständen, Schatten künstlicher Dinge, die sie für die Wirklichkeit halten. Die Höhle ist das Reich der Maya, der Illusion. Dann aber kommt jemand, der einem die Fesseln löst und den Widerwilligen dazu bringt, sich umzudrehen und sich auf den beschwerlichen Weg in Richtung Höhlenausgang zu machen. Wenn er aus der Höhle heraustritt, wird der aus der grauen Schattenwelt Befreite von der herandrängenden Lichtflut der Sonne zunächst einmal geblendet und wie ein Betrunkener ins Helle torkeln. Unterbrechen wir dieses Gleichnis für einen Moment und wandeln wir es für unsere Zwecke leicht ab. Wir können diesen Weg der Erkenntnis, den Platon im Höhlengleichnis erläutert, auf den Trauerprozess anwenden und den Trauerweg als Erkenntnisweg beschreiben. Wir leben in den Bahnen unserer Gewohnheit, die wir für die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Wirklichkeit halten. Mit dem Schock, der uns im Tod eines geliebten Menschen widerfährt, werden diese Fesseln der Gewohnheit, die Wege des Alltags und des »man« gesprengt. Wir werden in der Trauer fortgerissen in einen schmerzlichen Erkenntnisprozess, in dem nichts mehr gilt, was vormals galt. Der Engel der Trauer führt uns die Höhle hinauf. Unser Leben wird durch den Tod auf den Kopf gestellt. Unser Blick wird umgedreht. Die Trauernden sehen neu und müssen neu sehen lernen. Kehren wir zum Gleichnis zurück. Der, der neu sehen gelernt hat, der schließlich aus der Höhle herausgetreten ist und im Licht der Sonne neu verstanden hat, kehrt nun wieder zurück zu denen, die in der Höhle verblieben sind. Der Wiedereintritt ins Dunkle lässt ihn zunächst schwanken, so dass er auf die Höhlenbewohner wie ein Betrunkener wirkt. Wenn er dann noch von dem wahren Licht, der Wirklichkeit der Dinge redet, dem, was er neu gesehen und verstanden hat, werden sie ihm drohen, er solle schweigen und keinen Unsinn reden. Denn seine Worte reichen nicht hin, um verständlich zu sein, und die Lichtwelt ist den Schattenmenschen fremd und unheimlich. Wovon der Tor da stammelt, das ist doch eher Wahnsinn und Irrsinn als Weisheit. Dass er die Wahrheiten der Höhle in Frage stellt, ist doch sehr bedrohlich. Sie glauben mindestens, dass sich der Losgekettete in großem Irrtum befindet. Und wenn er nicht von seinem Irrtum schweigen will und damit aufhört, alle verrückt zu machen, tragen sie sich sogar mit dem Gedanken, ihn zu töten. Übertragen wir dies wieder auf den Trauerprozess. Die Trauer ist ein Philosoph. Sie hat einen Sturm entfesselt und etwas ans Licht gebracht. Die Trauer hat den Trauernden neu belehrt. Er hat etwas gesehen, sehen müssen, erleiden müssen, für dessen Wahrheit er kaum Worte findet. Er ist durch eine Wüste gegangen, durch eine lange und schwere Nacht, und sie ist immer noch da und immer noch in ihm. Chaos hat sich auf ihn gestürzt. Das Gewohnte und Altvertraute ist zerfallen. »Nichts« ist mehr übriggeblieben. Den anderen, die nicht durch diese bitteren Geburtswehen seiner Schmerzen gegangen sind, die seine neue Sicht nicht teilen können © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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und die ihm nur eine kleine Weile seinen »Ausnahmezustand« einräumen werden, wird er bald ein wenig verrückt vorkommen. Der Trauernde mag ihnen etwa so wie Gregor Samsa in Kafkas Parabel »Die Verwandlung« erscheinen. Eines Morgens, der Tod hat zugeschlagen, findet sich ein Mensch ganz verändert vor, wie zu einem Käfer verwandelt. Alles hat sich umgedreht. Eine Zeitlang wird man diese sonderbare Transformation verstehen und aushalten wollen. Aber irgendwann muss es doch wohl eine Rückkehr aus der TrauerVerwandlung geben. Der Käfer muss wieder normal werden. Der Käfer muss das Käferhafte wieder ablegen. Oder: Der Käfer muss verschwinden. Die Verwandlungsvorgänge und Geburtswehen der Trauer wirken jedenfalls sehr erschreckend. Was soll dabei noch herauskommen? Am Ende muss man sich dagegen wohl mit Händen und Füßen wehren. Es wird also höchste Zeit, dem Trauernden gute Ratschläge zu erteilen. Er solle sich doch wieder beruhigen. Es werde sich schon geben. Die Zeit heilt am Ende alle Wunden. Jeder habe so etwas schon einmal durchgemacht. Man müsse sich auch wieder dem Leben zuwenden … Die Zeit der Vertröstungen hat begonnen. Auf diese Weise zeigen sich die so Tröstenden selbst als die eigentlich Blinden. Vertröstungen sind gut gemeint. Man muss ihnen nichts Boshaftes unterstellen. Doch was ihre Falschheit als falscher Trost am meisten ausmacht, ist dies, dass sie das, was der Trauernde gesehen hat, blenden und umfälschen. Das wirklich tröstende Denken entlarvt Vertröstungen als diesen falschen Trost. Falscher Trost tötet die Wahrheiten, die man in der Trauer zu sehen begonnen hat. Der Zaubertrank der Vertröstungen ist Gift für das neue Sehen: Er verstellt und verdeckt, was die Trauernden wissen. Vertröstungen haben zutiefst den Zweck, den Menschen wieder alltagstauglich zu machen, ihn zu normalisieren, das heißt in kritischer Perspektive: aus einem, der neu zu sehen beginnt, wieder einen Blinden zu machen. Das neu Gesehene soll ihm wieder ausgeredet, das alte Funktionieren wieder eingeredet werden. Die Trauer soll beschleunigt und forciert werden. Aber sie lässt sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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nicht ohne Schaden abkürzen. Dass die Trauernden nicht selten aggressiv auf die gut gemeinten Ratschläge reagieren, bedeutet nur, dass sie die Wahrheit ihres Schmerzes und ihrer Trauer verteidigen müssen. Der Umstand, dass Vertröstungen so häufig im Umlauf sind, verdankt sich dem deutlichen Empfinden, dass das Sehenlernen des Trauernden für den gewöhnlichen Alltag eine erschütternde Wirkung besitzt und daher als Bedrohung erlebt wird. Schließlich wird das gewöhnliche Leben mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diese Bedrohung verteidigt. Das gute Denken tröstet die Trauer des Trauernden gegen diese Ein- und Ausreden. In meiner Abwandlung des Gleichnisses hat der Trauernde auf schmerzlichste Weise und mit aller Wucht die Zumutung einer neuen entscheidenden Schau erhalten. Die Trauer wendet sich an ihn, um ihm als Weisheitslehrerin mit ihren Wahrheiten zu trösten. Sie gewährt einen unersetzlichen Einblick in die Wahrheiten des Lebens, der Liebe, des Todes und des Menschseins. Durch den Tod eines geliebten Menschen werden wir unendlich belehrt. Verspielen wir das nicht. An diesen tiefsten Gedanken in der Wendung aller Dinge muss das Denken immer wieder erinnern. Denken tröstet nur dann, wenn es auf den Trost, der in der Trauer selbst bereitliegt, hinweist und dabei hilft, diesen Trost zu bergen.

Trauer denken Wenn wir von Trauer sprechen, sprechen wir von etwas, was allen bekannt ist. Trauer und Trauernde finden sich jeden einzelnen Tag jederzeit und überall in der Menschenfamilie. Trauer gibt es in jedem einzelnen Leben vielfach. Von der Trauer wissen wir um die Trauer. Denn jeden von uns hat die Trauer schon einmal heimgesucht. So könnten wir also mit einigem Recht die Trauer alltäglich und bekannt nennen. Aber dies ist sie doch nur insoweit, als sie das Spiel des Alltags und der Gewohnheiten zerreißt, unterbricht und uns mitten im alltäglichen Getriebe in eine unbekannte Welt von Fremdheit stellt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Trauer denken  

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Die vielfältigen Formen der Trauer spiegeln wider, was das menschliche Ausdrucksvermögen alles vermag: Klagen und Fragen, Weinen und Schreien, das furchtbare Ringen nach Worten und das Verstummen, der entsetzte Blick, die Haltlosigkeit im Leib, das wütende Feuer in der Seele, die Leere im erloschenen Geist – jede mögliche Variation im Spektrum individueller Prägung und kultureller Erlaubnis. Doch worauf beziehen sich diese so vielfältigen Ausdrucksformen des Trauerns? Trauer erfahren wir, wenn etwas uns Wertvolles (unwiederbringlich) verloren geht. Wir verlieren Geld. Es schmerzt. Eine Naturgewalt zerstört unser Zuhause. Wir stehen fassungslos vor den Trümmern. Ein Freund verliert seine Arbeit. Es tut uns leid. Wir sind traurig. Der geplante Urlaub, sagen wir, fällt leider ins Wasser, weil wir zum Beispiel erkrankt sind. Wir bedauern dies und sind »ganz schön« traurig. Ist der Verlust nicht allzu schwer, können wir von einer kleinen Trauer sprechen. In der kleinen Trauer erfahren wir einen Verlust, der vielleicht reparabel ist oder ausgeglichen werden kann, der jedenfalls nicht allzu groß ist. Das Traurige lässt sich schon irgendwie in Ordnung bringen. Man kann damit leben. Wir sind davon nicht mit Haut und Haaren erfasst und erschüttert. Aber: »Wenn uns unvermutet eine Person wegstirbt, deren innige und verständige Teilnahme uns von Jugend an begleitete, deren ununterbrochene Neigung uns gleichsam eine stille Bürgschaft für ein dauerndes Wohlergehen geworden war, so ist es immer, als stockte plötzlich unser eignes Leben, als sei im Gangwerk unseres Schicksals ein Rad gebrochen.« (Mörike, Maler Nolten, 1967, S. 280)

Wenn ein Ereignis ein Erdbeben in uns auslöst, das schwerste Erschütterungen bewirkt und eine starke oder extreme zerstörerische Kraft in uns freisetzt, so dass wir den Zusammenbruch all dessen fühlen, was uns bisher Halt und Stabilität, Sinn und Orientierung gegeben hat, dann wollen wir von großer Trauer sprechen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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mit der wir auf ein solches Ereignis reagieren. Das, was uns hier in die Trauer stürzt, findet keinen Ausgleich mehr durch unsere Möglichkeiten. Der Verlust ist riesig, irreparabel und durch nichts zu kompensieren und zu beruhigen. In der großen Trauer beklagen wir einen unersetzlichen Verlust. Diese Trauer erfasst uns in aller Regel, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, insbesondere also, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Die tiefe oder große Trauer ist an die Erfahrung der Liebe gebunden. Sie wird mit der Verletzlichkeit der Liebe massiv konfrontiert. Sie erlebt die Liebe der Sterblichen und ihre Angst vor der Sterblichkeit der Liebe. Die große Trauer rührt im Tod an das Geheimnis des menschlichen Lebens und der menschlichen Liebe. Sie klagt um die entzogene Liebe, Liebe, die keine Antwort mehr findet und keine Antwort mehr gibt. In der großen Trauer geschieht etwas Merkwürdiges. Die Menschen erzählen vom Unerzählbaren. Sie suchen nach Worten für das Ende aller Worte. Sie sprechen von der Sprachlosigkeit. Sie zeigen auf das, was sich entzieht: »Es ist als ob der Vorhang reißt, der Vorhang vor dem Zentrum der Dinge, einen Augenblick schaut man in das glühende Innere der Welt, in die blendende Schneewüste des Nichts, und wird dann wieder zurückgeschleudert. […] Der Blitz hat einen berührt, eine Zeitlang ist man gezeichnet, weil man für Sekunden hinter den Vorhang geschaut hat, jedoch ohne wirklich etwas zu sehen. Man hat es nur gefühlt, vorübergehend ist man wie erblindet.« (Schenk, 1988, S. 222)

Wir hören die Menschen verzweifelt reden: Ich kann das überhaupt nicht fassen! Es ist mir völlig unbegreiflich! Ich verstehe überhaupt nicht, wie es …! Wie konnte das bloß passieren! Wie war das nur möglich! Es ist doch ganz unmöglich! Es kann einfach nicht wahr sein! Wie soll ich bloß noch leben ohne dich!

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»Stündlich fragte ich mich, nicht wie es möglich sei, dass ich lebte, sondern einfach, wie mein Herz weiterschlagen konnte, nachdem deines stehengeblieben ist?« 2 (Philipe, 1969/1997)

Die Erschütterung, die den Trauernden erfasst, öffnet sich ins Bodenlose. Alle Sicherheiten rollen weg, so dass er sich völlig verunsichert fühlt. Der Trauernde stürzt in eine fremde Welt und verliert durch das Unfassbare seine Fassung. Du kannst um Fassung ringen, du wirst sie verlieren. Es ist unfassbar, wenn ein geliebter Mensch nicht mehr lebt. Unfassbar, was da geschehen ist, vor dem ich fassungslos stehe. Etymologisch plausibel verweist das Wort »Trauer« auf »fallen«, »(nieder-)sinken« und »kraftlos werden«. Das ist sehr genau, was der Trauernde erleben muss, wenn er den Kopf sinken lässt, wenn er die Augen niederschlägt, wenn die Knie weich werden, wenn das Leben stockt und die Kräfte weggehen, weil ein großer Tod mitten durch ihn hindurchgeht. In der großen Trauer schwindet eine Liebe dahin ins Unerreichbare. Sie entgleitet in eine Leere, die das Lieben antwortlos in seinem Schmerz zurücklässt. Zurück bleibt eine wunde, leere Stelle voll brennender Sehnsucht. Zurück bleibt ein schockierender Abgrund, in dem das Wir der Liebe unzugänglich verloren ist. Entreißt der Tod einen geliebten Menschen, zerbricht das Wir, das wir einander waren, und ich bin nicht mehr der, der ich war und der ich doch sein will, sondern fühle mich unendlich verstoßen, unendlich allein, unendlich einsam. Das Du, an dem Ich zum Ich wurde, ist tot. Es gilt nicht mehr nur, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind, sondern dass der Tod mitten in mein Leben eingebrochen ist und den Tod dorthin gebracht hat: in die Mitte meines Lebens. Die Trauer beweint das Ende der Liebe. Das Ende der Liebe ist die absolute Unerreichbarkeit des Geliebten. Ich trauere um den anderen. 2

»A chaque heure je me demandais comment il était possible non pas que je vive mais simplement que mon cœur continuât de battre après que le tien se fût arrêté« (Philipe, 1969/1997).

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Eine andere Sicht der Dinge

Das Ende der Liebe ist der Zerbruch meiner selbst als das Wir der Liebe, in dem ich selbst meine Identität gebaut habe. Ich trauere, wenn ich um den anderen trauere, auch um mich selbst. Ob ich je wieder in eine neue Lebendigkeit verwandelt werden könnte? Daran ist jetzt noch gar nicht zu denken. Das ist ganz unausdenklich. Stirb und werde heißt der Weisheitssatz. Von ihm erfüllt den Trauernden in seinem tiefsten Schmerz nur der erste Teil: Er fühlt in allen Gliedern das Sterben, das Wegsterben und das Mitsterben, das Absterben und das Gestorbensein. Bevor die Trauernden später einmal die Trauer zulassen, sich ihr verstehend öffnen, müssen sie sie oft zu lassen, das heißt geschlossen halten, und wie von außen als eine unbegreifliche Nachricht betasten, weil sie sonst verrückt würden oder sterben müssten. Vielleicht noch dunkel ahnt der Trauernde aber vielleicht doch bereits auch ein wenig vom Werden, von der Weisheit und dem Trost, der in dieser Trauer liegen könnte. Von ihrer schrecklichen Schönheit, ihren Wegweisungen. Davon, dass die Trauer ein Existential ist, das wie ein Fenster Durchblick und Einblick in unser Menschsein gewährt und daran erinnert, wirklich Mensch zu werden. In der Trauer wird der Mensch leidend inne, dass sich (seine) Liebe abgründig entziehen und in bodenlosen Schmerz und heillose Sehnsucht auflösen kann. In der Trauer wird der Mensch inne, dass dies der Keim dafür ist, zu werden, neu zu werden, in der Wegweisung der Trauer weise zu werden, wahrhaft Mensch zu werden: Mensch, werde wesentlich! So spricht die Trauer.

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Auf dem Weg – Gute Gedanken für Trauerbegleiter

Denken kann trösten, wenn es richtig denkt. Es geht daher zunächst um das Wie des Denkens, seine Form, seinen Vollzug, die Art und Weise seiner Verwirklichung, nicht so sehr um das Was, seinen Inhalt. Der verständnisvolle Begleiter in der Trauer ist jemand, der das trostreiche Denken auf gute Weise vollzieht. Der denkend den Weg der Trauer mitgeht und abschreitet. Denken ist das Bauen an einem Weg. Wie ist nun dieses Denken in der Trauer gegenwärtig?

Begegnung und Begleitung Da ist ein Mensch, der trauert. Hier ist ein Mensch, der ihm begegnet und ihn ein wenig begleiten will. Was bedeutet Begegnung für die Begleitung trauernder Menschen? Begegnung als Herz und Basis aller Begleitung ist ganz elementar der tiefgehende Respekt, dass zwei Menschen sich auf gleicher Augenhöhe treffen. Sie öffnen sich dem, was zu sagen oder auch nur auszuhalten ist. Achtsame Gegenwart, Präsenz, die ohne Umstände bereit ist, einfach entgegenzunehmen und zu begleiten, was der trauernde Mensch mitbringt, ist die Grundlage aller Begegnung. Aber stimmt dies denn? Ist der Begleiter nicht Experte? Wird nicht Hilfe von ihm erwartet? Soll er nicht professionell Beistand leisten? Ja, natürlich wird dies alles erwartet. Und sicher ist hier auch eine Aufgabe des Begleitens. Aber es zeigt sich dabei zugleich eine Versuchung, das, was aller Begleitung vorausliegt, zu übersehen. Das, was voraus- und zugrunde liegt, ist die Qualität der Begeg© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Auf dem Weg – Gute Gedanken für Trauerbegleiter

nung von Mensch zu Mensch, die als Teil der eigenen professionellen Einstellung den vorprofessionellen Raum erträgt und wartet, was er bringen wird. Dazu gehört auch die Einsicht, dass der Trauernde eine Erfahrung gemacht hat, für die keine Professionalität ausreicht. Dem Experten der Begleitung muss klar sein, dass der wahre Experte des Erlebens auf der anderen Seite sitzt. Wirklich erfahren, mit der tiefstmöglichen Expertise ausgestattet, ist der Trauernde. Er ist der Wissende. Der Begleiter ist vor allem Experte der Form. Er stellt sein Können in den Dienst des Trauernden, das zu entbinden, ans Licht zu bringen und dann zu begleiten, was in ihm darauf wartet. Da ist ein Mensch, den ich vielleicht gar nicht näher kenne. Er leidet und schweigt. Oder er teilt sich mit und spricht mit mir. Manchmal klar und eindeutig. Oft wie in einem Eisberg-Modell: Wichtiges ist verborgen, versteckt, verdunkelt. Er spricht von seinem Schmerz. Er hält dir seine Wunden hin. Er offenbart seine Verzweiflung, seine Sorgen, Ängste und Nöte. Und auf der anderen Seite bin ich, der Mensch, der ihm begegnet. Was ist das Geschenk, das ich dem Trauernden in seiner Not machen kann? Stets ist es die Aufgabe des Begleiters, auf diese persönliche und konkrete Ebene zu gehen und von dort aus die weitere Reise in den gegebenen Möglichkeiten mitzugehen und voranzubringen. Bestimmte große Themen werden dabei immer eine Rolle spielen: Angst und Geborgenheit, Widerstand und Ergebung, Selbstbestimmung und Freiheit, Zuwendung, Einsamkeit, Verbindung. Und ohne dass der Begleiter durch falschen Trost den Schleier der Geheimnisse irgendwie lüften könnte, so kann und darf er doch immer wieder auf das Bild einer kommenden Heilung hinweisen, die in der Trauer selbst als ihr eigener Trost liegen wird. Die Begleitung selbst wird den Charakter eines gemeinsamen Weges haben. Doch seien wir etwas genauer: Es wird der Weg des Trauernden sein mit seinem Rhythmus und seinem Maß. Er wird der Baumeister dieses Weges sein. Es wird sein Weg sein. Der Begleiter wird nur dabei helfen, dass der Trauernde ihn selbst baut. Für die Trauer lassen sich in nur sehr begrenztem Maße Orientierungs© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Begegnung und Begleitung  

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punkte aufzeigen. Begegnung fordert von der Begleitung die Ausrichtung an der individuellen Persönlichkeit des Trauernden. Wie die Trauer aus ihr erwächst, so erwächst auch der Trost ganz aus der jeweiligen Situation. Regel, Richtschnur, ein genaues Vorgehen, ein klarer Kanon, was wann wie zu geschehen habe, haben bei Trauer und Trost wenig Sinn. Der Aspekt des einzigartigen und individuellen Trauerweges ist mit einem anderen Grundzug jeder echten Begegnung verbunden. Der Trauernde hat die Weisheit des Menschseins erlitten. Der Trauernde ist ein Weiser, der eine Weisheit mit sich führt, die er selbst noch nicht sehen kann. Einiges daran kann erhellt werden, anderes wird dunkel bleiben. Wahre Begegnung weiß immer um das Geheimnis des anderen. Wahre Begegnung wahrt den anderen stets als Geheimnis. Das Geheimnis, das wir alle sind, ist durch den Tod eines geliebten Menschen besonders aufgebracht, aufgeweckt und aufgestört. Der Entzug der Liebe im Tod hat das Geheimnis, das wir sind, auf tragische Weise ansichtig werden lassen. Wer einem Trauernden begegnet, begegnet dem sichtbar gewordenen Geheimnis des Menschseins in seiner verstörenden Gestalt. Dieses Geheimnis des Menschen in seinem Aufschrei ist nicht auszuloten und zu beantworten. Wir müssen uns als Geheimnis, das wir sind, gegenseitig anerkennen und freilassen. Die Begegnung als Grundlage aller Begleitung hält dieses Moment der Ohnmacht aller Begleitung fest. Alle Begleitung muss sich immer wieder von diesem tiefsten Grund der Begegnung unterbrechen und korrigieren lassen. Der andere Mensch in seiner Trauer ist nicht nur sich selbst dunkel, entzogen und fremd, sondern auch dem Begleiter. Der Trauernde wird die Unbegreiflichkeit in sich tragen. Sie wird auch eine Art von Selbstverborgenheit mit sich bringen. Der Begleiter wird erfahren, dass sich der Trauernde in dem, was er erfahren und erlitten hat, auch seinem Verstehen entziehen und nicht völlig auszuleuchten sein wird. Bei allem, was aufzuhellen ist, wird es immer auch ein bestimmtes Maß an Nichtverstehen, Unverständlichkeit, Unlesbarkeit und Kommunikationsdunkelheit geben. Je aufgeschlossener und geöffneter ich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Auf dem Weg – Gute Gedanken für Trauerbegleiter

für das bin, was der Trauernde von sich aus mitbringt, um so eher können sich Transparenz und Klärung für ihn einstellen. Doch Entzug, Intransparenz und Unbegreiflichkeit werden bleiben. Sie spiegeln die Größe dessen wider, was geschehen ist.

Dasein in der Trostlosigkeit In Begegnung und Begleitung wird es immer auch Situationen geben, die von übermächtiger Trauer und Gefühlen der Trostlosigkeit erfüllt sind. Der Trauernde ist ganz in die nackte Sphäre der Verzweiflung gestürzt, für die es keine wärmenden Kleider mehr gibt. Wenn diese Momente auftreten, in denen das Unfassbare und Unbegreifliche alles zum Verstummen bringt, ist auch das Denken untröstlich und zu keinem Trost fähig. Auch das Denken wird von dem Unbewältigbaren überwältigt. Das Denken kann nichts mehr ausrichten, nichts mehr »machen«. Wird der Begleiter diese Machtlosigkeit, diese Ohnmacht des Denkens annehmen? Reifes Denken wird akzeptieren, dass es Unverstehbares gibt, dass das Erleben des Trauernden nicht völlig transparent werden wird, dass Fragen bleiben. Das Leiden, das der Tod dem Trauernden zugefügt hat, trägt eine Maßlosigkeit in sich, für die auch alles Denken kein Maß besitzt. Die Größe des Leidens ist größer, als alles Denken groß sein kann. Das Denken hat keine Meisterschaft über den Tod und das, was er dem unter ihm Leidenden zufügt. Denken, das trösten kann, wird also, wie wir es bereits nannten, ein grenzbewusstes Denken sein müssen. Denken, das an unüberwindliche Grenzen stößt, erfährt, dass es an sein Ende gekommen ist. Es ist nun alles »aus-gedacht«. Dann ist das Denken am Ende, traurig vielleicht, trauernd. Immer wenn das Denken ausgedacht und an sein Ende gekommen ist, besteht die Gefahr, dass es sich etwas ausdenkt, um sein Ende nicht hinzunehmen. Dann denkt es sich leicht einen falschen Trost aus. Vertröstungen aber, die doch nur beschwichtigen und die wahre Lage verharmlosen, nehmen den Trauernden nicht ernst. Sie entmündigen ihn, setzen sein Erleben © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Dasein in der Trostlosigkeit  

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herab, schwächen ihn und fügen ihm eine neue Wunde hinzu, die Wunde des Nichternstnehmens. Das Denken, das hier an der Zeit ist, ist das schwache Denken. Es ist ein weises Denken, das seine Grenzen (ein-)sieht, seine Schwäche akzeptiert und anerkennt, dass der Trauernde sich tatsächlich in einer »trostlosen Lage« befindet. Niemand kann seine Geheimnisse lösen. Niemand hat ein endgültiges und definitives Wort. Alles, was das trauernde Herz tun muss, muss es tun: weinen und anklagen, schreien und anschreien, vorwerfen und verstehen. Und am Ende steht wohl, wenn alle Regungen des trauernden Herzens das Niemandsland des Todes erprobt und durchstanden haben, das annehmende Ertragen des schmerzvollen Geheimnisses. Für die grenzbewusste Weisheit des Denkens, die sich dann einstellt, wenn sich seine Wissens- und Kompetenzansprüche als brüchig erweisen, findet Blaise Pascal die eindrucksvolle Formulierung von der »ignorance savante qui se connaît«, also einer wissenden oder klugen Unwissenheit, die um sich selbst weiß (Pascal, Pensées, 1669/1997, 183 [83/327]). Pascal zielt mit dieser Formulierung auf ein ethisches Moment im Prozess des Erkennens, auf eine Demut der Vernunft. Demütig ist die Vernunft nur dann, wenn sie sich in ihre Grenzen bescheidet und in ihr selbst ein Gegengift für Selbstüberschätzung findet. Demut empfindet der Mensch, wenn er sich einem Größeren unterwirft, das hier in der Trauer der Untröstlichkeit durchscheint. Die vernünftige Anerkennung einer überlegenen Macht ist also das, was Demut charakterisiert. Demut ist Ausdruck des reflektierten und angenommenen Nichtwissens und das Heraustreten aus der Denkfalle des endgültigen Bescheidwissens. Kann man wissen, was der Tod dem Menschen bedeutet? Jeder hat seine einzigartige Sicht, mit der er sich dem Tod annähert und sich mit ihm auseinandersetzt. Andererseits bedeutet der Tod für jeden Menschen ein Endgültigwerden: Die Freiheit, die Biographie, die Geschichte endet und gewinnt eine vom Betroffenen selbst nicht gewusste definitive Gestalt. In sie entzieht sich der Sterbende und verschließt sich, bis ihn Sprachlosigkeit ganz verhüllt. Sprache will ja stets, wenn sie nicht lügt, im Ausdruck offenbarschaffen und in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Auf dem Weg – Gute Gedanken für Trauerbegleiter

der Ansprache verbinden, kommunizieren, Beziehung herstellen. Kommunikation ist zunächst ein Tun. Sie will Verbindung schaffen, sich annähern, zuwenden, begegnen, begleiten, mitgehen. Aber mit dem Tod zerbrechen alle Worte, fehlen einem die Worte, verschlägt es einem die Sprache, verstummen wir, stürzen wir in Kommunikationsdunkelheit. Das Symbol des Verlöschens zeigt sich an im Verlöschen aller Symbole. Der Tod ist Verstummen und Schweigen. Die Erfahrung, untröstlich zu sein, ist die unmittelbare Spiegelung dieser Dunkelheit und dieser endgültigen Unerreichbarkeit. Da niemand ein letztes Wort über den Tod hat, sondern dieser ein letztes Wort über uns spricht, müssen wir verstehen, dass wir keine Worte für ihn haben und es mit ihm eine Grenze für Kommunikation und Verstehen gibt. Wenn die Dinge zu groß und zu schwer geworden sind, als dass wir sie mit unseren Worten noch umfangen können, stoßen Ausdruck und Ansprache an ihre Grenzen. Wir müssen akzeptieren, dass das Lassen ebenso zur Kommunikation gehört wie das Tun. Kommunikation, die diese Grenzen nicht beachten, sondern überspielen und übertönen will, ist gar keine Kommunikation, sondern Lärm. Wie Gott übersteigt auch der Tod all unser Verstehen und ist Ende und Grab unseres Verstehens. Es gibt auch das Geschenk des Nichtverstehens, das wir einander schuldig sind. Trauer braucht Trost. Wie soll Trost aussehen, wenn Untröstlichkeit den Trauernden prägt und bestimmt? Das Denken, das hier vielleicht eine eigenartige Weise des Trostes ermöglichen und jedenfalls falsche Vertröstungen vermeiden wird, wird der Trostlosigkeit selbst entsprechen wollen. Es wird alle schnellen Auswege und faulen Fluchtwege vermeiden. Ihm ist Begleitung in trostloser Lage vor allem Begegnung. Sie wird sich wesentlich auf das Dasein des Begleiters begrenzen. Wenn der Tod Verstummen und Schweigen ist, dann werden Begegnung und Begleitung ganz elementar auf dieser Ebene verbleiben müssen. Der Begleiter wird zunächst einfach da sein und dem Trauernden dort begegnen, wo er ist: in seiner untröstlichen Lage. Wo alle Worte im Totentanz enden: im Schweigen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Dasein in der Trostlosigkeit  

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Dasein in der Untröstlichkeit wird weit weniger den Mund benötigen als vielmehr Augen und Ohren und Hände. Schweigen und Ansehen, Schweigen und Hören, Schweigen und Berühren. Der hier notwendige Trost ist nur Dasein und Mittrauern mit der Trauer des anderen. Anwesend sein, Zeuge sein. Es ist nur das Dasein, das der Trauer Ansehen und Ehre verleiht und die Trostlosigkeit nicht vertreibt. Das Geschenk des Begleiters an den Trauernden ist das Geschenk der Zeit. Aber das ist ungenau gesagt. Denn es handelt sich ja um eine bestimmte Qualität der Zeit. Am besten drücken wir es durch das Wort Präsenz aus. Ich bin ganz da, ganz in der Gegenwart. Nichts zieht mich jetzt von dem anderen weg. Er hat meine ganze Aufmerksamkeit und Zuwendung. Die ungeteilte Achtsamkeit, die aus der Präsenz strömt, ist Achtung und Respekt vor dem anderen. Meister Eckhart hat der Präsenz einmal ein schönes Wort gegeben. Er fragt, wann und wer und was wohl das Wichtigste sei. Die Antwort: Die wichtigste Zeit ist immer jetzt. Der wichtigste Mensch ist immer der, der dir jetzt gegenüber und anvertraut ist. Das wichtigste Werk ist immer die Liebe. Dafür muss ich aber ganz da sein. Wenn ich nicht ganz da bin, wie sollte ich dann lieben können? Und »Liebe« bedeutet hier nichts anderes als: ganz verstehen und sehen wollen, wie es dir von dir selbst her ergeht. Du allein bist jetzt wichtig. Wichtig ist, was dir jetzt wichtig ist. Dafür verleihen dir meine Augen achtsames Ansehen. Dafür leihen dir meine Ohren ungeteiltes Zuhören. Im Angesicht der Trostlosigkeit gewinnt ein bekanntes Wort der Philosophie eine besondere Bedeutung: »si tacuisses, philosophus mansisses«, wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben. Wenn du geschwiegen hättest, wärest du in der Weisheit der Trauer geblieben. Das Schweigen ehrt die Größe des Verlustes, die in der Trostlosigkeit durchscheint. Das Reden kann hier nur verkleinern und zu Ausreden führen. Die Begegnung mit der Tiefe des Trauerschmerzes weiß etwas von der Ohnmacht der Begleitung und Beratung. Keine Tatsache dürfte schwerer für den Trauerbegleiter zu akzeptieren sein als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Auf dem Weg – Gute Gedanken für Trauerbegleiter

diese, wo er doch so gerne helfen und trösten will. Cicero weist seinen Freund Atticus in seine Grenzen, der ihn nach dem Tod seiner Tochter zu trösten versucht: Er, Cicero selbst, habe ja nichts unversucht gelassen, um Trost zu finden, »doch der Schmerz ist größer als alle Tröstung« (Cicero, 18. Brief an Atticus, zitiert nach Schmidt, 1987, S. 473). Der Trauernde ist, oft zu Beginn seiner Trauer, aber auch immer wieder zwischendurch, in Berührung mit einer Dimension, die alles Denken und Verstehen zerbricht. Die Aufgabe der Begleitung ist dann die Aufgabe der Begleitung und das bloße Dasein in der Begegnung. Der professionelle Begleiter muss entdecken, dass er ein Amateur des Todes ist. Hier, in den Abgründen, kann er alles Wissen und Können getrost außen vor lassen. Du trittst ein in die Hallen des Nichtwissens. Das Bescheidwissen stürzt in die sich ringsumher öffnenden Abgründe. Alles kommt darauf an, den anderen ernst zu nehmen. Ihm zu zeigen, dass er richtig ist, dass es stimmt, wovon er weiß, dass es ein Abgrund ist ohne Trost und ohne Verstehen. Grenze für alles, was wir können. Es wäre lächerliches und schlechtes Theater, dem Trauernden vorzugaukeln, dass es sicher Auswege im Ausweglosen gebe. Es gibt keinen Ort des Trostes in der Ortlosigkeit, in die er sich geworfen sieht: »›sein Tod ist mein Tod‹. Dieser Schrei ist ein Funke, der dem absoluten Schmerz entspringt« (Marcel, 1964, S. 77). Was also fordert das Dasein der Begegnung in der Trostlosigkeit des Trauernden vom Begleiter? Halten wir bei ihm aus! Trauern wir mit den Trauernden. Stimmen wir zusammen mit der Ohnmacht, die der andere durchleidet. Werden wir dieser Wirklichkeit gerecht und lassen wir alle Souveränität fahren. Der Tod ist groß und zwingt uns eine Brüderlichkeit der Not auf. Ohne Macht zu haben, teilen wir die Ohnmacht des anderen. Spielen wir nicht die Starken, die Retter, die erfahrenen Helfer, diese nutzlose Aufführung einer Komödie. Seien wir dem Hilflosen hilflos zur Seite. Das ist der einzige Ernst, den diese Lage von uns fordert. Dort hingehen, wo der andere ist. An jenen heiligen, unbegreiflichen ortlosen Ort, wo man alle Schuhe auszieht und aufgibt und einfach da ist. Bei jemandem sein in seiner Trauer. Das Dunkel des Geheimnis© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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ses geduldig aushalten und mittragen, warten, bis irgendwann die Zeit der Begleitung anbrechen wird. Gleichwohl darf das Denken hier auf ein sonderbares Paradox im Untröstlichen aufmerksam machen. Wir könnten es geradewegs den Trost des Untröstlichen nennen. Was wir damit meinen, können wir recht gut durch eine Briefpassage Dietrich Bonhoeffers veranschaulichen: »Zunächst: es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch garnicht versuchen; man muß es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie garnicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren.« 1

Die Leere, die der Tod des geliebten Menschen in uns hinterlassen hat, der Schattenriss seiner anwesenden Abwesenheit, diese Lücke seiner lebendigen Liebesgegenwart, diese abgründige Vermissung, diese Lücke selbst, die vom Nichts erzählt und vom Schrei des Entzugs, diese unbarmherzige Untröstlichkeit trägt eine andere und in gewisser Hinsicht trostvolle Wahrheit in sich selbst. Diese Wahrheit ist die der Unersetzlichkeit und Einzigartigkeit des verstorbenen Menschen. Nichts ist geeignet, diesen Verlust zu kompensieren. Nichts darf diesen Verlust kompensieren. Diese Unersetzlichkeit und Einzigartigkeit des Verstorbenen, dieses Besondere, waren und sind aber nur dem Auge desjenigen zugänglich, der ihn liebte und immer noch liebt. Die Liebe sagt vom Verstorbenen: Du bist es wert, 1

Bonhoeffer (2013, S. 102), Brief an Renate und Eberhard Bethge, Gefängnis Berlin-Tegel am Heiligabend 1943 (DBW 8.255). Marcel: »Ein Band ist in unerträglicher Weise zerrissen – andererseits aber doch nicht zerrissen, denn selbst im Riß bleibe ich, und zwar noch stärker als zuvor, dem Wesen, das mir fehlt, verbunden« (1964, S. 81).

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Auf dem Weg – Gute Gedanken für Trauerbegleiter

dass eine solche trostlose Traurigkeit an deiner Stelle geblieben ist. Sie allein ermisst deinen Wert und deine Bedeutung. Der Trost, der im Untröstlichen liegt, ist also dieser, dass die Lücke nur deswegen so mit Untröstlichkeit verbunden sein kann, weil sie in einem Atemzug die in der Liebe gesehene Unersetzlichkeit und Einzigartigkeit des Verstorbenen mitbezeugt. Die Klage ist so groß wegen der Größe des Verlusts. Der Verlust ist so maßlos groß, weil das Verlorene so einzigartig schön und besonders war, dass nichts an seine Stelle treten kann. Dieses Zeugnis legt die Untröstlichkeit in der Trauer ab. In der Trostlosigkeit ehrt sie den Verstorbenen auf besondere und unüberbietbare Weise. Ihr paradoxer Trost ist ein Kompliment an ihn und der Liebe zu ihm. So wunderbar warst du uns, dass alles andere als Trostlosigkeit uns wundern müsste. Was sonst als Trostlosigkeit könnte diesem Verlust wirklich entsprechen, ihm wahrhaft Ausdruck verleihen und gerecht werden?2

Die Fragen selbst lieb haben Philosophen sind die Lieblinge des Denkens. Was liegt näher, als sich mit dem Anliegen, ob und wie Denken trösten kann, an sie zu wenden? Was sagen die Experten auf diesem Gebiet? Kann Philosophie trösten? Kann sie etwas sagen im Blick auf das Untröstliche in der Trauer? Unternehmen wir zunächst einen kleinen Exkurs, der die Trostkraft des Denkens aus der Warte der Philosophie heraus betrachtet. Der Philosoph in der Kerkerzelle ist aufgebracht. Er klagt und ist empört. Sein Geist ist aufgewühlt und sein Antlitz trägt Züge von Trauer und Trübsal. Nun steht ihm der Tod wegen Hochver2 Man vergleiche auch F. Nietzsches »erprobten Rath« aus dem vierten Buch seiner »Morgenröthe«: »Von allen Trostmitteln thut Trostbedürftigen Nichts so wohl, als die Behauptung, für ihren Fall gebe es keinen Trost. Darin liegt eine solche Auszeichnung, dass sie wieder den Kopf erheben« (Nietzsche, 1988, KSA 3, S. 247).

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Die Fragen selbst lieb haben  

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rats unmittelbar vor Augen, zu dem er auf ungerechte Weise verurteilt worden ist. Nur noch wenig Zeit bleibt, bis der Justizmord ausgeführt werden soll. Da erscheint ihm Philosophia als Seelenärztin. Verständnisvoll lindert sie seinen Schmerz und belehrt ihn: Dem launenhaften Weltgeschick der Göttin Fortuna liegt doch ein göttlicher Plan der Vorsehung zugrunde. In ihm findet der Gute sein Glück. Der Gute, auch wenn er leiden muss, wird seine Tugend und Würde bewahren, das heißt richtig denken und seinen Geist läutern. Je mehr Geist aber ein Mensch entwickelt, umso mehr Einsicht hat er. Je mehr Einsicht er hat, umso größer ist seine Freiheit. In dieser Begegnung mit der allegorischen Gestalt der Philosophie konzipiert der spätantike Philosoph Boëthius in den Tagen vor seiner Hinrichtung im Kerker das Buch »Der Trost der Philosophie«. Jahrhunderte lang war es eines der meist gelesenen philosophischen Bücher und eben eine philosophische »Trostschrift«. Wir sehen uns durch sie auch an den zweitberühmtesten Tod der Weltgeschichte erinnert. In der »Apologie« erzählt Platon vom Tod des Sokrates. Die Freunde wollen Sokrates überreden zu fliehen. Das über Sokrates verhängte Urteil der Gottlosigkeit ist schließlich doch unwahr. Aber Sokrates flieht nicht. Er bleibt den Gesetzen und damit seiner philosophischen Grundeinsicht treu, auch wenn sie zu seinem Nachteil missbraucht werden. Dem falschen Trost der Freunde folgt er nicht. Wenn es sich aber nicht um meinen Tod handelt, sondern um den Tod eines geliebten Menschen, gibt es da keine weiteren Gesichtspunkte, die zu bedenken sind? Im Verlust eines geliebten Menschen stürzt der Trauernde in eine bodenlos scheinende Trauer. Das Denken läuft ins Leere und Schmerz überflutet die Seele. Fragen brechen bis ins Innerste abgründig auf, so dass beispielsweise Augustinus angesichts des Todes seines geliebten Freundes sagen konnte: Ich wurde mir selbst zu einer großen Frage. Kann die Philosophie für diese Trauer Trost und Halt bieten? Hat sie eine Medizin, die bis in die radikale Untröstlichkeit der Trauer hinunterreicht? Allerdings wäre die erste Frage vielleicht: Will sie überhaupt trösten? Denn hier trennen sich bereits zwei verschiedene Formen des © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Philosophierens. Das akademische und schulmäßige Philosophieren dient ehrenhaft den Texten und den Themen der Philosophie. Trost ist nicht seine Intention. Philosophie aber als Weisheit und Lebenskunst wird sich den Beschwernissen des Lebens widmen und Antworten auf die mit ihnen gestellten Fragen versuchen müssen. Philosophie steht im Zeichen vernünftiger Selbstbestimmung. Trost wäre demnach immer dann notwendig, wenn etwas das vernünftige und selbstbestimmte Handeln außer Kraft setzt. Wir denken dabei mit einem Begriff von K. Jaspers an Grenzsituationen wie etwa Schuld, Alter, Krankheit, Leiden und Tod, vor allem aber an den Verlust eines geliebten Menschen. Diese Grenzsituationen bedrängen uns als unabänderliche Erfahrungen, die uns in Krisen stoßen. Besitzt die Philosophie hier einen Trost, der die Trauer lindern kann? Hat sie Antworten für die in diesen Erfahrungen aufbrechenden Fragen? Augustinus zum Beispiel war ja der Überzeugung, die Philosophie könne gar nicht trösten; dies sei nur der Gnade und dem Heilshandeln Gottes vorbehalten. Zum Tableau der philosophischen Antworten auf die Schicksalsschläge gehören zum einen die optimistischen Varianten. Platon, Aristoteles, die Stoiker, aber auch Kant nehmen eine übergreifende Sinnordnung an, in der Leid und Sterblichkeit ihren weisen Platz finden. Der philosophische Geist antwortet einsichtig, frei und mit Gleichmut auf alles, was in dieser ewigen Sinnordnung geschieht. Er erträgt und schweigt zuletzt: Wenn du geschwiegen hättest, wärest du Philosoph geblieben. Die listigen Epikureer trösten mit Hilfe ihres Atomismus und Sensualismus. So lange wir leben und fühlen, ist der Tod nicht da. Ist er da, sind wir tot und empfinden ihn auch nicht. Er geht uns also nichts an. Dies führt schon hinüber zu den eher pessimistischen Trostantworten der Philosophie, die wir beispielsweise bei Schopenhauer, Nietzsche oder Camus antreffen. Ihr Heroismus, das sinnlose, absurde Leben auszuhalten, weiß eigentlich keinen Trost zu bringen. Hat man durch die Glücks- und Hoffnungsillusionen der Menschen hindurch auf den gleichgültig-grausamen Grundmechanismus der Weltgeschichte geblickt, gilt nur noch: Man muss das unbrü© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Die Fragen selbst lieb haben  

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derliche Schicksal des Weltgetriebes in einem trotzigen Dennoch ertragen und Herr seines eigenen Schicksals werden. Die große metaphysische Trauer ohne Trost vermag auch den Trost in kleiner Münze für die einzelne konkrete Lebenstragik nicht mehr zu geben. Eine bittere Medizin im Polarkreis des Absurden und ein frostiger Trost in der eisigen Luft der Sinnlosigkeit. Das Schicksal lässt uns wanken. Das Schicksal des Menschen ist Erleben und Bewusstsein der Zufälligkeit und Nichtigkeit des menschlichen Lebens und Handelns. Die Philosophie will das menschliche Leben nicht vom schwankenden Schicksal, sondern von der festen Vernunft abhängig machen. In der Vernunft gibt es vielleicht einen Ankerplatz, um den Widrigkeiten des Schicksals zu trotzen. Die Vernunft ist das Versprechen und die Sehnsucht der Philosophie, in den unzuverlässigen und verwirrenden Dingen des Lebens einen Punkt der Treue und des Trostes zu finden, der aus dem Strom des Schmerzes und der Ungewissheit herausragt. Die Vernunft soll wieder Halt und festen Boden unter den Füßen geben, Orientierung schenken. Doch dies von der Vernunft zu erwarten, überfordert sie wohl. Auch die Vernunft schwankt. Wir sind schmerzvoll unter die Sterblichen gezählt. Für sie ist die Philosophie ein nur schwacher Trost. Ein starker kann sie nicht sein. Mit den Sterblichen teilt die Philosophie das Wesen ihrer Schöpfer. Sie ist sterblich. Wer tröstet sie? Nach meinem Verständnis wissen alle genannten Antworten der Philosophen zu viel im Blick auf die magna quaestio, die »große Frage« (Augustinus), die der Mensch ist. Wie aber ist denn mit den großen und schweren Fragen der Trauer philosophisch umzugehen? Der Philosoph vertieft sich in diese Fragen. Er löst sie nicht. Dafür sind sie zu groß. Wenn man sich aber in sie vertieft, vertieft man auch sich selbst und sein Leben. Man muss durch die Fragen hindurchgehen, sie durchwandern und kennen lernen. Im besten Fall macht uns dies ein wenig menschlicher. Auch ein schwacher Trost ist viel für Schwache. Das Denken der Philosophen ist ein Fragen, um zu verstehen. Sie sind Meister des Fragens. Dieser Wink ist wichtig. Denken, das © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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trösten kann, ist im tiefsten Schmerz der Untröstlichkeit zuerst Schweigen, das Anteil nimmt und wartet. Denken, das trösten kann, ist im nächsten Schritt Fragen, das nicht die Fragen durch schnelle Antworten beruhigt, sondern die Fragen ernst nimmt, durchwandert und durchlebt. Denken ist Fragen. Trauernde sind voller Fragen. Sie werden von Fragen bestürmt. Sie erleiden Fragen. Sie quälen sich mit allen möglichen Fragen. Sie werden sich selbst zur Frage. In einem sehr tiefen Sinne sind Trauernde Denkende. Wenn Denken Fragen ist und Trauernde radikal fragen, sind sie dem Denken näher als die meisten anderen. Denken ist Fragen, ist das Andenken an Fragen, das Hineindenken und Durchdenken von Fragen, die nicht beseitigt, verharmlost oder rasch beantwortet werden können. Dies ist genau die Lage der Trauernden. Darum sind Trauernde gleichsam natürlich Philosophierende, Denkend-Fragende, auch wenn sie es sich nicht selbst freiwillig ausgesucht, sondern das Leben oder Schicksal sie in diese Erfahrung hineingezwungen hat. Die angemessene Haltung zu den Fragen beschreibt Rilke in seinen Briefen an einen jungen Dichter einprägsam so: »[…] die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.« (Rilke, 1996, Bd. IV, S. 524)

Diese poetisch-schöpferische Grundhaltung ist verwandt mit dem philosophischen Verständnis vom Denken als Fragen. Natürlich bedeutet Leben auch, sich jederzeit Antworten zu geben, von denen man dann eine Zeitlang leben kann. Sein Leben durchwandern, die Lebensreise machen, heißt: sich Antworten geben oder sich gegebenen Antworten überlassen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Auf dem Weg mit guten Fragen  

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Jede inhaltliche Antwort, die man sich gibt, muss in allem Ernst gelebt und versucht werden. Es wird sich zeigen, wie lange man von ihr jeweils leben kann. Aber jede gewählte, gerade auch entschieden gewählte Antwort muss sich doch stets mit dem aufgeklärten Bewusstsein verknüpfen, dass es sich bei ihr um ein Antwortexperiment handelt. Leicht erliegt der Mensch der Verführung, eine Antwort als dogmatisches, endgültiges Ende des Fragens misszuverstehen. Doch das Leben der Menschen bleibt ein stets unvollendetes und nicht vollendbares Kunstwerk. Alles im Leben wie im Geist bleibt immer Stufe. Die richtige Haltung im Umgang mit den radikalen Fragen der Trauer ist es also, sich in sie zu vertiefen. Eine definitive Antwort aus unseren Denkkräften zu erwarten, wäre absurd. Wir geben keine abschließende Antwort, sondern verteidigen die Fragen der Trauer, die den Trauernden überwältigt haben. Wollten wir den Fragen ausweichen, verfehlten wir uns selbst. Fragen, die aufgrund ihrer inneren Unendlichkeit, ihrer Größe und Schwere unbeherrschbar und nicht zu bezwingen sind, verlangen von uns eine Ethik der Begleitung. Es ist gut und richtig, dass man sich an die Fragen nur annähert. Es ist gut und richtig, dass das Denken die Fragen auslotet, zum Anwalt der Fragen wird, ja, sich durch die Fragen selbst bezwingen und in Frage stellen lässt, um sich für neue Räume, neue Horizonte, neue Denkwege und Gedankengänge zu öffnen. Dass das Denken hierbei fragmentarisch, provisorisch und experimentell bleibt, ist kein Nachteil, sondern Einsicht darin, dass die Erfahrung der Trauer eine grundsätzliche Uneinholbarkeit besitzt. Das Fragen, das aus dem Abgrund der Trauer strömt, hört nie auf, auch wenn das Leben Bahnen alter oder neuer Normalität finden wird.

Auf dem Weg mit guten Fragen Ein trauernder Mensch wird durch den Tod des Nächsten in eine Welt hineingestoßen, die ihm fremd und unvertraut ist. Das Vertraute bricht ihm weg, es ist nicht mehr. Das Neue ist ihm nicht ver© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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traut, es ist noch nicht. Das bedeutet, der trauernde Mensch befindet sich in einem ihm unbekannten Land, in dem er sich nicht auskennt und das er sich erst mühsam erschließen muss. Die hierin enthaltenen Gedanken Abschied – Tod – Neubeginn spiegeln das Ablaufschema eines jeden Initiationsprozesses wider und verweisen auf eine grundsätzliche existentielle Veränderung. Der Trauernde braucht dafür Menschen an seiner Seite, die ihm helfen, diese Reise zu bestehen, die ihm helfen, seine eigenen Fragen, Gedanken, Empfindungen zur Welt zu bringen und für sich selbst neu zu ordnen, zu strukturieren und mit Sinn zu füllen. Brachte das Denken zunächst Trost für das Untröstliche im Schweigen, forderte es dann dazu auf, sich in die Fragen selbst zu vertiefen, ohne Antworten zu erzwingen, so werden die Fragen nun zu Routen der Erkundung des unbekannten Landes, in das die Trauer den Trauernden gestoßen hat. Jetzt bauen die Fragen Wege, in denen man ihnen nachgeht. Fragen sind Expeditionen in das unbekannte Land, den dunklen Erdteil der Trauer. Und indem wir Trauerwege am Leitfaden der Trauerfragen abschreiten, werden wir immer »erfahrener« und machen uns das noch unbekannte und unverständliche Land der Trauer mehr und mehr vertraut. Denken kann trösten, indem es die Fragen als Reiserouten über das Meer der Trauer und als Expeditionsrouten in das unbekannte Territorium der Trauer nutzt. Fragen bauen Wege. Trost ist diese geistige Arbeit des Fragens als Wegebau im Land der Trauer. In der Geschichte des Fragens gibt es gewissermaßen eine Urgestalt oder einen Urvater des Fragens: Sokrates. Er ist derjenige, den sich die Begleiter von Trauernden zu ihrem Schutzpatron wählen können. Der Athener Sokrates war berühmt für seine Fragekunst, mit der er seinen Mitbürgern klar machte, dass sie in vielen Dingen nur ein Scheinwissen besaßen. Da Sokrates gern und viel fragte und dabei radikal in Frage stellte, ging er seinen Landsleuten mächtig auf die Nerven. Das Ziel war es zunächst einmal, den vermeintlichen Wissensbesitz als brüchig zu erweisen, das Bescheidwissen zu untergraben, die Selbstverständlichkeit des vermeintlichen Wissens als haltlos zu erschüttern. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Auf dem Weg mit guten Fragen  

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Interessant ist, wie Sokrates seine Fragekunst mit dem elterlichen Erbe in Verbindung bringt. Während sein Vater als Steinmetz und Bildhauer arbeitete, ein vortreffliches Bild für die pädagogischen Absichten des Sokrates, war seine Mutter Hebamme. Hebammen sind die Expertinnen, Schwangeren dabei zu helfen, ihre Kinder zu bekommen. Die Hebammenkunst nun, die Mäeutik, ist das überaus glückliche Bild, das Sokrates der Fragekunst zur Verfügung stellt. Fragen sind Hebammenkunst, Erkundungen geistiger Geburtshilfe, um den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen, nachdem zuvor das Scheinwissen erschüttert und abgelegt wurde. Auch Trauernde sind in diesem Bild wie Schwangere, die in schmerzvollen Geburtswehen liegen. Begleiter der Trauernden sind wie Hebammen. Sie entbinden durch ihr gutes Fragen, die die Fragen der Trauernden aufgreifen und weiterführen, genau das in ihnen liegende Wissen, das ihnen die Trauer gewährt hat. Der Begleiter bringt nicht eine eigene Lehre mit. Er vermittelt nicht seine Inhalte an die Trauernden. Aber ist fähig, ihnen dabei zu helfen, etwas, was in ihnen verborgen liegt und unklar in ihnen wartet, durch gutes Fragen ans Licht zu locken. Trost ist Geborgenheit. Geborgenheit bedeutet hier, das Verborgene der Trauer emporgehoben, gesichert, ans Licht gebracht zu haben. Wie im Höhlengleichnis Platons, wo die Gefesselten entfesselt und durch den Höhlengang ans Licht geführt werden, so unterstützt der sokratisch Fragende den Geburtsvorgang und bringt das Verborgene durch Bergung mit ans Licht der Welt. Das heißt eigentlich genau: Er lockt es nicht ans Licht, sondern er bringt andere so weit, dass sie es aus sich selbst heraus- und hervorbringen können. Der Begleiter ist Geburtshelfer der Seele. Es kommt nicht primär darauf an, was er verkündet, sondern wie er die Suche nach Wahrheit betreibt. Das Symbol der Geburt fügt sich nahtlos an die Mäeutik an. Denn sie ist ja seit Sokrates eine Art Hebammenkunst, um dem Menschen dabei zu helfen, zu sich selbst zu kommen. Die Trauerreise gleicht einer Neugeburt und ist, wenn sie gelingt, eine Weise, sich zur (oder zurück zur) Welt zu bringen. Die Welt hat einen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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wie man sagt, wieder. Man ist dem Leben wieder geschenkt. Oder umgekehrt: Das Leben ist einem wieder geschenkt. Das Entscheidende der Mäeutik ist das Wie, die Art und Weise oder die Kunst der Entbindung. Sie ist die Kunst des guten Fragens auf dem Weg der Trauer. Weg ist eines der wunderbaren Urworte, die wir besitzen. Der Mensch ist immer unterwegs. Er ist ein Weg-Wesen und Wanderer. Stets sucht er Wege und Auswege. Immer in Bewegung lebt er sein Leben wegsuchend. Wie in Kolumbusfahrten zu immer neuen Horizonten und wie in Odysseusfahrten immer wieder auf dem Weg nach Hause findet sich der Mensch auf abenteuerlichen Überfahrten, die er sein Leben nennt. Der Mensch kommt und geht, er sucht und fragt, ist auf dem Weg in jeder Hinsicht, der sein Wesen spiegelt. Dabei nicht immer sicheren Tritts und sicheren Gangs, sondern häufig verwickelt auf Irrwegen und in Irrfahrten. Findet der Mensch keine Wege und Auswege mehr, gerät er in die Aporie, in die Auswegslosigkeit. Enden alle Wege und kündigt sich Weglosigkeit an, droht ihm Verzweiflung. Dies gilt auch für die Hebammenkunst des Fragens in der Begleitung des Trauernden. Bevor nämlich der Begleiter durch geistige Entbindung dabei hilft, zu Tage zu fördern und ans Licht zu bringen, was dem Schwangeren selbst noch verborgen und unklar ist, muss man verstehen, dass der erste Schritt ja nun wirklich der ist, das im Weg stehende Bescheidwissen, die Fesseln der Sklaven in der Höhle, die Vertröstungen in der Trauer, ob sie nun aus uns selbst stammen oder von außen an uns herangetragen werden, als ausweichendes Scheinwissen zu entlarven und zu überwinden. Erst wenn diese Blockade aus dem Weg geräumt ist, ist der Weg für die wahre Hervorbringung des eigenen impliziten Wissens frei. Mit anderen Worten: Das Fragen des Sokrates führt bewusst zuerst in die Aporie, in die Weglosigkeit. Bevor nämlich gute Fragen Wege bauen können, müssen durch kritische Fragen die Pseudowege abgebaut werden, die den wahren Geburtsvorgang verhindern und aufhalten. Bevor der eigene Trauer-Weg entdeckt werden kann, müssen die ihn verdeckenden und überwuchernden Wege © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Vom Dialog zum Trialog  

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durchschaut und überwunden werden. Der Wegfall der Wege, die nichts bewegen, aber alles verstellen, ohne dass der wirkliche eigene Weg bereits gesehen und begangen wird, führt in jene eigentümliche ausgesetzte Zone der Weglosigkeit. Die Aporie ist ein notwendiger Übergang und Zwischenzustand auf dem Weg zu sich selbst, der in der eigenen Trauer liegt. Der Schock, dass es keine Blaupause für mich gibt, keine Anleitung, kein Bescheidwissen, kein Rezept, kein Sichauskennen, zeigt, dass es ein einmaliger und einzigartiger Weltuntergang und Weltaufgang ist, den meine Trauer bezeugt. Die Fragen des Begleiters müssen sich dieser Individualität anschmiegen und ihr aufmerksam, behutsam und geduldig folgen. Ihr einziges Ziel ist die Kunst, das zu entbinden, was der Trauernde in sich trägt, und ihm dabei zu helfen, seinen Weg des eigenen Erkennens zu finden. Behutsames und feinfühliges Fragen bringt etwas ans Licht und macht es durch diese Sichtbarkeit besprechbar und gestaltbar. Die Entschlüsselung der verborgenen Weisheit der Trauer kann beginnen. Wie die Trauer vom einzelnen Menschen erlitten, angegangen und bearbeitet wird, bleibt also ganz individuell und einzigartig. Jede Trauer ist ja so spezifisch wie der einmalige Fingerabdruck des jeweiligen Menschen. Der Trauer-Weg,3 der sich auf diesen besonderen Trauerprozess einstellen muss, wird jedenfalls durch seine ganz individuellen Besonderheiten beeinflusst und herausgefordert. Das Schweigen und Aushalten werden seine Zeit haben, und auch das Sagen des hilfreichen Wortes, das man sich nicht selbst sagen kann.

Vom Dialog zum Trialog Als wir über Trostlosigkeit nachdachten, konnten wir sehen, wie mit dem Tod alle Worte zerbrechen. Wir sagten, dass einem die Worte 3

Wir empfehlen das viermodalige Begleitmodell von S. Brathuhn für dieses Mitgehen auf dem Trauerweg (siehe Müller, Brathuhn u. Schnegg, 2013, S. 170–191).

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fehlen, dass es einem die Sprache verschlägt. Alle Kommunikation verlöscht und wird dunkel. Wir verstummen, so wie der Tod Verstummen und Schweigen ist. Doch dann gibt es auch die Momente, wo wir nach Licht greifen, wo wir nach Luft ringen, wo wir wieder anfangen, nach Worten zu suchen. Wir bemühen uns, die Sprache wiederzufinden. Allmählich wird Kommunikation wieder möglich. Menschsein ist Kommunikation. Kommunikation ist Begegnung und bedeutet, mit anderen in Verbindung zu kommen, sich mit ihnen zu vereinen. Wir sind ja rätselhafte Wesen, die wenig von sich selbst verstehen. Wir begreifen weder unseren Anfang noch unser Ende. Wir verstehen kaum, wer wir sind. Jeder Mensch ist eine kleine rätselhafte Geschichte. Darum müssen wir kommunizieren und darum brauchen wir auch die anderen, um ein wenig Licht in diese Angelegenheit zu bringen, etwas mehr zu verstehen, wer wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehen, wozu wir da sind, worum es geht in unserem Menschsein. In der Kommunikation will sich der Mensch zeigen, öffnen, ausdrücken und ans Licht bringen, wer er ist und was in ihm vorgeht. In der Kommunikation will er den anderen ansprechen und von ihm angesprochen werden, um zu hören und zu verstehen, zu geben und zu nehmen, zu klären, in Kontakt zu kommen und Beziehung zu vertiefen. Kommunikation ist Sehnsucht nach Heimat und Verstehen. Die kommunikative Heimat ist der Platz, an dem ich mich öffnen und sein und wachsen darf. Die große Trauer hat viel von dem genommen und in Frage gestellt, was vormals Heimat war. Die Sprachlosigkeit der Trauenden ist auch Ausdruck diese Un-Heimlichkeit. Wo können sie noch zu Hause sein? Ihr Schweigen zeigt auf die Entwurzelung, die sie erlitten haben. Ihre Trostlosigkeit auf das Unverständliche und Unverstehbare. Löst sich der Wortwinter allmählich auf und findet der Trauernde langsam in die Sprache zurück, wandelt und weitet sich die Aufgabe des Trauerbegleiters. Der Begleiter wird in all den Wechselbädern und Achterbahnen der Gefühle, den Drehtüren der Stimmungen und den Gedankenkarussells ein achtsamer und respektvoller Weg-Begleiter des Trauernden im Dialog. Der trauernde Mensch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Vom Dialog zum Trialog  

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ist angewiesen auf den Mitmenschen, der in der Trauer da ist, hört, sieht, schweigt, fragt und sagt. Alle Wege mitgeht. Das Miteinandersprechen ist neben dem schweigenden Dasein die andere ursprüngliche Weise der Präsenz. Bin ich im Schweigen an der Seite des Trauernden, trete ich ihm im Dialog als hilfreicher Partner gegenüber. Dialog ist behutsames Gespräch, das annimmt, versteht und mit dem anderen authentische Wege sucht. Hier darf vieles in respektvoller Weise seinen Ort finden. Das tröstende Wort und das aufmunternde, das provozierende Wort, das den anderen herauslockt, und das weiterführende, das einen neuen Horizont mit seinen noch unerschlossenen Möglichkeiten ausmalt. Bei all diesen Optionen des Dialoges bleibt der Dialog selbst in der Präsenz, wenn er im Spiel bleibt mit dem, was der Trauernde jeweils von sich her zuspielt. Die Verantwortung des Dialogs liegt darin, dass der Begleiter immer auf das antwortet, was der Trauernde vorbringt und braucht. So gleicht der Dialog in gewisser Hinsicht einem Ballspiel, vielleicht einer Partie Tischtennis oder einem Tennisspiel, allerdings ohne die Logik von Sieg und Niederlage, in dem der Begleiter mit den Vorgaben und Möglichkeiten des Trauernden mitspielt. Der »Gewinn« dieses Spiels sind die Entdeckung der Weisheiten in der Trauer und die Hebung der Kräfte, die im Trauernden schlummern. Der Dialog ist die verantwortungsvolle Entwicklung dieses Spiels. Das Geschenk des Dialogs an den Trauernden sind die Fragen, die Worte des Begleiters, aber auch seine Stimme und viele kleine Zeichen des Respekts und der Achtsamkeit. Da sind also seine Worte. Wir sagen: Was du säst, wirst du ernten. Das Saatgut, das wir haben, sind unsere Worte. Sie säen wir aus. In den anderen. Also verschenken wir Worte, die es gut meinen, die mitgehen und verstehen und die das Leben lieben. Worte, die Türen öffnen. Worte, die aus der Enge führen und Spielraum schenken. Keine kränkenden Worte, die krank machen, lähmen oder in die Enge treiben, sondern die befreien und lebendig machen. Da ist auch meine Stimme. Meine Stimme vermittelt ihre eigene Botschaft. Sie zeigt, wie ich gestimmt bin. Sie zeigt, wie stimmig ich bin. Die Stimme erzeugt eine Stimmung zwischen mir und dem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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anderen. Daher soll sie möglichst frei, zugewandt, ohne Hast, ohne Druck und mit Wärme fließen. Der Dialog kann eine eigenartige und besonders schöne Wendung nehmen. Gewöhnlich redet der Trauernde in seiner Trauer über den geliebten Menschen, den er verloren hat. Es kann aber gelingen, dass er beginnt, mit ihm zu reden. Gemeint ist dabei nicht der Vorwurf an den Verstorbenen, wieso er den Trauernden verlassen habe, oder der Ausbruch von Wut, die ja auch völlig legitime Ausdrucksformen der Trauerklage sind. Hier suchen sich Schmerz, Schrei und Wunde einfach antwortlos den Körper von Worten, um sich einen Ausweg aus der überfließenden Verzweiflung zu bahnen. Gemeint ist vielmehr der Zeitpunkt, ab dem diese Dinge und viele andere in der Form eines Gesprächs mit dem Verstorbenen geführt werden. William Worden hat in seinen Überlegungen zur Trauer davon gesprochen, dass es die letzte Traueraufgabe sei, dem Toten einen neuen Platz zuzuweisen, ihn also in das neue Leben des Trauernden als fortbestehende Bindung (»continuing bond«) zu integrieren (siehe Aufgabenmodell der Trauer: Worden, 2011b, S. 47–53). Dies kann zum Beispiel ein individuell gestalteter Platz der Erinnerung sein, ein Erinnerungstag oder ein anderes dem Verstorbenen gewidmetes Ritual. Wir schlagen hier eine andere Art von neuem Platz, eine andere Integration des Verstorbenen vor, als Begleiter und Gesprächspartner nämlich, der mit dem Trauernden spricht oder sprechen kann und darf. Nichts daran ist zu vermeiden oder zu tabuisieren. Wenn die Begleitung den Trauer-Weg des Trauernden bis an die Stelle geführt hat, dass der Verstorbene selbst ein Begleiter seines Lebens wird, sozusagen ein innerer Begleiter und Gesprächspartner seines Wegs, dann entsteht eine Art von Trialog. Der äußere Begleiter hilft nun dem Trauernden, sein Gespräch mit dem Verstorbenen zu führen. Der Trauernde kann jetzt selbst ein Fragender werden, der Fragen an den Verstorbenen stellt: Was rätst du mir? Was möchtest du mir mitgeben? Wohin weisen mich meine Erinnerungen an dich? Was ist noch zu besprechen zwischen dir © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Persönlichkeitsorientierte Kommunikation  

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und mir? Was soll ich mit dir klären? Von dir lernen? Wie kann ich ohne dich leben? Welche Wege geben mir Leben? Wie man einen zunächst ganz unverständlichen Traum, der einen zuerst verwirrt, erschreckt oder erschüttert hat, ganz genau anschaut und diesen Traum dann durch Fragen als Gesprächspartner einlädt, zu mir zu reden und mich zu fragen oder mir zu raten, so kann es hier ganz ähnlich sein. Der Verstorbene als innerer Begleiter wird dem Trauernden ein Dialogpartner und Gefährte auf dem Trauerweg. Sein Verlust ist nicht mehr nur Grund und Thema der Trauer. Der Trauernde findet in ihm auch einen Trauerbegleiter, der mit ihm geht und zu ihm spricht. Aus dem Fortgehen von mir wird ein Mitgehen mit mir. Der Verstorbene ist mit mir zusammen unterwegs als ein Schatzgräber, um die Schätze, die in der Trauer liegen, ans Licht zu bringen.

Persönlichkeitsorientierte Kommunikation4 Es ist nicht einfach, einander zu verstehen. Scharfzüngig hat daher Karl Kraus (1971) die Schwierigkeit menschlicher Kommunikation in ein Bonmot gefasst: Wie sprechen Menschen – aneinander vorbei. Das, was Begegnung stiften und Türen öffnen soll, unsere Kommunikation, ist auch eine Quelle von Missverständnissen. Worte können gut tun, heilsam sein und stärken. Sie können aber ebenso verletzen und kränken. Worte können Menschen verwandeln. Sie beugen oder richten auf, sie geben Mut oder nehmen ihn, sie töten oder machen lebendig. In Zeiten der Trauer ist die Gefahr von Missverstehen sogar noch einmal gesteigert. Der Trauernde ist derart von Verlust und Schmerz erfasst, dass die allgemeine Welt der Normalität, in der wir uns alltäglich bewegen, für ihn zusammengebrochen ist. In die4

Dieser Abschnitt ist die leicht überarbeitete und gekürzte Fassung meines Artikels »Bist du bei mir? Ein Kommunikationsmodell der Annäherung und Nähe« (Zwierlein, 2013b).

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ser Trümmerlandschaft der Trauer nimmt auch die Kommunikation die seltsamsten Formen an. Sie kann stark schwanken, so wie auch der Trauernde schwankt. Sie verändert häufig ihre Formen, so wie auch der Trauernde zerrissen ist. Sie ist oft heftig sowohl im Ausbruch als auch im Rückzug, denn es sind die heftigsten Emotionen am Werk. Manchmal erstirbt auch alle Kommunikation. Der Schrei verstummt. Das Weinen versiegt. Die Klage bricht ab. Der Trauernde fällt in einen Winter der Kommunikation. Er lebt mechanisch, wie tot. Denn er empfindet den Tod. Auch diese Zeit muss mit ihm ertragen und durchgestanden werden. Hier wird der Helfer mit seiner Hilflosigkeit besonders ringen und sich doch davor schützen müssen, zu früh, unzeitig in dieses tiefe und schweigende Austragen des Trauernden einzudringen. Wenn aber dann der Wortwinter langsam auftaut und das Sprechen wieder anhebt, was heißt dann in der Kommunikation, bei dem anderen zu sein? Wir stellen also die Frage: Wie können wir in dieser schweren Zeit der Trauer mit ihren vielfältigen, heftigen, schwankenden und irritierenden Formen der Kommunikation auf gute Weise bei dem Trauernden sein? Wie und wann sind wir wirklich in gutem Kontakt mit ihm? Dabei möchte ich schon jetzt vorschlagen, das Wort »Kontakt« einmal neu und frisch so zu lesen: Kon-Takt. Damit ist in eine Richtung gewiesen. Sie besagt: Du bist dann in gutem Kontakt mit dem anderen, wirklich bei ihm, wenn du seinen Takt wahrnehmen, aufnehmen und übernehmen kannst, wenn du wirklich mit seinem Takt in Berührung kommen und mitschwingen kannst. Um diesen Gedanken geht es, wenn sich der Trauerbegleiter mit persönlichkeitsorientierter Kommunikation und dem, was man das Grundgesetz gelingender Kommunikation nennen könnte, auseinandersetzt. Natürlich bleiben alle anderen Gedanken in Kraft, die wir gewöhnlich mit guter Kommunikation und einem hilfreichen Gespräch verbinden: achtsam sein, ehrlich, respektvoll und wertschätzend, empathisch und vertrauensvoll, gut zuhören, klug fragen, das Setting beachten. Doch wollen wir mit dem Stichwort © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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der persönlichkeitsorientierten Kommunikation noch ein wenig tiefer sehen. Um persönlichkeitsorientiert zu kommunizieren, braucht man ein Modell der Persönlichkeit. Das Thema der Persönlichkeit ist allerdings so vielfältig, umfangreich und unerschöpflich,5 dass wir uns hier auf nur einen, aber wichtigen Aspekt der Persönlichkeit beschränken: auf das Temperament oder das Naturell eines Menschen, oder anders gesagt, auf seinen Verhaltensstil, also die Art und Weise, wie jemand kommuniziert. Nicht was jemand sagt, sondern wie, ist im Blick, wenn wir vom Kommunikationsstil sprechen. Während das, was jemand sagt, eher zur Sachebene gehört, weisen uns das Wie und der Kommunikationsstil auf einen wichtigen Ausschnitt aus der Beziehungsebene. Für diesen Aspekt der Persönlichkeit, also Naturell oder Verhaltensstil, möchte ich das DISG-Modell heranziehen.6 DISG ist ein Akronym von vier Aspekten des Verhaltens aus den Anfangsbuchstaben der Wörter: Dominanz, Initiative, Stetigkeit und Gewissenhaftigkeit. Wie jedes Modell darf es uns nicht zu einem starren Schema oder Denkgefängnis werden, in das wir den anderen Menschen einsperren. Es muss vielmehr als Orientierungshilfe und Inspiration dienen, die wir an der lebendigen Erfahrung überprüfen. Und auch wenn wir dieses Modell hier nur in seiner einfachsten Form beschreiben, kann es uns schon eine wertvolle Hilfe sein, uns und andere besser zu verstehen, ihnen angemessener zu begegnen, passender zu kommunizieren oder einfach gesagt: besser in Kontakt mit ihnen zu kommen. Wir können uns das DISG-Modell in einer Art Ich-Kompass auf folgende Weise veranschaulichen: Dabei sind die rote und die gelbe Haupttendenz durch das gemeinsame Merkmal der Extraversion geeint, während die grüne 5 Um es mit den C. G. Jung zugeschriebenen Worten zu sagen: Es ist leichter, zum Mars vorzudringen, als zu sich selbst. 6 Dieses Modell basiert vor allem auf den Einsichten von C. G. Jung, W. Marston.

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Dominanz •• energisch •• konsequent •• zielorientiert •• willensstark •• sachorientiert •• direkt •• hartnäckig Gewissenhaftigkeit •• präzise •• strukturiert •• analytisch •• besonnen •• vorsichtig •• hinterfragend •• logisch

Eine Persönlichkeit in vier Facetten

Initiative •• begeistert •• flexibel •• ideenreich •• spontan •• kreativ •• gruppenorientiert •• kommunikativ

Stetigkeit •• achtsam •• geduldig •• ermutigend •• stetig •• mitfühlend •• ausgleichend •• unterstützend

und blaue Haupttendenz eher introvertiert sind. Die grüne und die gelbe Hauptstärke sind durch einen starken und häufig primären Fokus auf Menschen- und Beziehungsorientierung gekennzeichnet, während bei der roten und der blauen Hauptstärke die Aufgabenund Sachorientierung dominieren. Um einen vernünftigen Gebrauch dieser Visualisierung zu machen, möchte ich drei Gedanken hinzufügen: •• Jeder Mensch vereint in sich alle vier Aspekte. Keiner ist ihm völlig fremd. Aber auch wenn wir alle vier in uns tragen, so favo© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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risieren wir in der Regel einige von ihnen. Wir sind gleichsam aus allen vier Momenten komponiert, aber in unterschiedlicher Ausprägung.7 Jeder wird wahrscheinlich seine besonderen Sympathien für die eine oder andere Seite haben. Das ist ganz normal. Dennoch sollten wir sagen können: Nüchtern betrachtet, sind alle vier Aspekte gleichwertig. Jede Seite hat ihre Stärken und ihre Schwächen. •• Wenn man Farbbezeichnungen für die vier Aspekte verwendet, so soll damit nichts Farbpsychologisches gesagt werden. Sie dienen hier im Grunde nur zur Visualisierung aus didaktischen Gründen. Statt langer und umständlicher Sätze wie: »Dein Hauptaspekt, deine größte Ausprägung, deine höchste Präferenz, der stärkste Grad in deiner Verhaltenstendenz liegt im Feld D ›Dominanz‹« sagt man einfach, kurz und anschaulich: »Du wirkst rot«. Ergänzen wir diese drei Aspekte noch um eine weitere wichtige Einsicht. Für die meisten Menschen scheint folgende Regel zu gelten. Wenn ich weiß, wo meine erste Stärke ist, dann gilt mit großer Wahrscheinlichkeit, dass die zweite und dritte Stärke ein Nachbarfeld von ihr sind. Nur wenige Menschen sind Kreuztypen und haben ihre zweite Stärke in der Diagonalen. Was ist aber dann die Diagonale für die meisten Menschen? Hat jemand zum Beispiel seine Hauptstärke in »grün«, was ist dann sehr wahrscheinlich »rot« für ihn? Wir könnten sagen, dass dies seine »Schwäche« ist, das, was ihm eher fehlt. Eine andere Formulierung wäre zu sagen, dies ist sein »Schatten«, also der Teil der Persönlichkeit, der im Vergleich zu den drei anderen Aspekten am wenigsten entwickelt ist. Es wäre auch möglich zu sagen: Dies ist mein Potential, das darauf wartet, dass ich es noch entfalte. Im Blick auf trauernde Menschen möchte ich nun die These 7

Wir könnten dies noch weiter differenzieren. Zum Beispiel kann es sein, dass wir privat in entspannter Umgebung anders sind als etwa in der beruflichen Umwelt usw.

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vertreten, dass die Bewegung und Verortung des Trauernden in den gewohnten Bahnen seiner Verhaltensstile durch das Trauerereignis massiv erschüttert wird. Tatsächlich lehrt mich die Erfahrung, dass der Trauernde in seiner Haltlosigkeit auch keinen festen Halt mehr in den Koordinaten seiner typischen DISG-Bahnungen besitzt, sondern, jedenfalls in den stärksten und intensivsten Phasen der Trauer, schwankend, hin und her gerissen und ohne scheinbar klare Logik jederzeit überall an unterschiedlichsten Orten der DISG-Welt auftauchen kann. Dies erklärt unter anderem auch ein wenig, warum die Kommunikation mit den Trauernden so herausfordernd und komplex ist. Ob bewusst oder unbewusst, wir nehmen Menschen wahr und schätzen sie ein. Dieses people reading ist zunächst einmal ganz normal und unproblematisch. Interessant wird es dann, wenn wir blinde Flecken in der Wahrnehmung anderer haben oder projektiv etwas in sie hineinlesen. Es ist immer wieder nötig, andere mit einem neuen, sozusagen unverbrauchten Blick anzusehen und sich auf die Suche nach Korrekturen zu machen. Ob wir nun jedoch intuitiv beziehungsweise mit »Bauchgefühl« andere wahrnehmen oder sie bewusst einschätzen, wir greifen dabei in beiden Fällen immer wieder auf ähnliche Informationsquellen zurück. Zu den drei wichtigsten, die wir an dieser Stelle hervorheben, gehören die Körpersprache, die Stimme und Schlüsselwörter. Im nonverbalen Bereich sind es wiederum vor allem die Dinge, die mit dem Gesicht und den Händen zu tun haben, also Mimik und Gestik, aus denen wir unsere Schlussfolgerungen ziehen. Der paraverbale Bereich bezieht sich auf die vielen Facetten, in denen sich ein Mensch durch seine Stimme ausdrückt: monoton, variabel, dynamisch, laut, leise, schnell, langsam und so weiter. Im verbalen Bereich achten wir an dieser Stelle vor allem auf »Herzwörter« oder »Schlüsselwörter«, in denen der andere sich ausdrückt und zeigt. Wir beziehen uns also in der Wahrnehmung und Einschätzung anderer Menschen vor allem auf diese drei Informationsquellen, die wir unbewusst und intuitiv oder bewusst und reflektierend auswerten: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Pacing

Nonverbal •• Mimik •• Gestik

Verbal •• Key-words

Paraverbal •• Stimme

Wir haben zuvor bereits daran erinnert, was alles zu einer guten Kommunikation gehört. Nun ziehen wir noch eine sehr weitgehende und tiefe Einsicht hinzu, die sich in einer Vielzahl von guten oder gelingenden Gesprächen als Muster zeigt. In einer kurzen Formel könnten wir sagen: Menschen, die sich gut verstehen, produzieren ständig, bewusst oder unbewusst, Akte von Ähnlichkeit. Wir drücken dies umgangssprachlich so aus, dass sie die »gleiche Sprache sprechen«, aufeinander »abgestimmt« sind, dass sie »dieselbe Wellenlänge« haben oder dass der eine den anderen dort »abholt«, wo er oder sie sich befindet. Ein Fachausdruck hierfür lautet Pacing, das manchmal mit »Spiegeln« wiedergegeben wird, was etwas zu starr und unlebendig ist. »Einander nahe sein« oder »sich ähneln« passt sicher besser. Zwei ergänzende Bemerkungen scheinen noch wichtig. Jemanden zu pacen, also sich auf ihn »einzustellen«, ist das Kommunikationsgeschenk des guten Verstehens auf der Beziehungsebene, dem Wie. Es bedeutet nicht notwendig, einverstanden zu sein mit dem, was der andere sagt, also mit dem Inhalt der Kommunikation. Dieses schöne Verstehen, so wie beispielsweise ein Erwachsener buchstäblich in die Knie geht, um mit einem kleinen Kind angstfrei auf körperlich »gleicher Augenhöhe« zu sprechen, ist ein Abholen des anderen dort, wo er sich befindet.8 Dieses Abholen 8 Ein entsprechendes Motto aus dem Neuen Testament lautet: Du musst mit den Weinenden weinen und mit den Lachenden lachen (vgl. Röm 12,15).

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ist ein Tun: Man nähert sich dem anderen, indem man sich seiner nonverbalen, paraverbalen und verbalen Ausdrucksweise ein gutes Stück angleicht, seine Sprache spricht. Indem sich Mimik, Gestik, Stimme und Schlüsselwort-Echo miteinander synchronisieren und in eine beinahe gespiegelte Ähnlichkeit übergehen, entsteht eine vertraute Nähe. Man ist auf der »gleichen Wellenlänge« und spricht tatsächlich auf der Beziehungsebene »dieselbe Sprache«. Entsprechend achten wir darauf, durch die Kommunikationstür des anderen zu gehen und keine neuen Türen in ihn hineinzuschlagen. Statt »mit der Tür ins Haus zu fallen« oder einfach zu reden, »wie uns der Schnabel gewachsen ist«, ist die Aufgabe gelingender Kommunikation die, zu einem anderen zu gehen, um ihm nahe zu sein. Praktisch heißt dies, die verbale und nonverbale Kommunikation dem anderen anzugleichen und seine Schlüsselwörter beziehungsweise Schlüsselgedanken aufzunehmen. Erst dadurch gewinnen wir den fruchtbaren Boden, auf dem dann als zweiter Teil des Grundgesetzes guter Kommunikation Herausforderung, Wachstum und Auseinandersetzung (Leading) entstehen können. Ist Pacing gelungen, kann das Leading, also das »Weiterführen«, darauf aufbauen, in dem der andere herausgelockt und in Entwicklung gebracht wird, so dass in einem organisch gelingenden Gespräch allmählich eine aufsteigende Treppe mit den wechselnden Stufen von Pacing und Leading entsteht. Wir können das Wort »Kon-Takt« an dieser Stelle noch einmal gut aufgreifen. Kontakt bedeutet nun, im Takt mit der kommunikativen Musik zu sein, die sich in den Rhythmen und Melodien von Mimik, Gestik, Stimme und Schlüsselwörtern des anderen zeigt. Ich bin dann in gutem Kontakt, wenn ich den Takt des anderen aufnehme und mit ihm tanze. Der Takt, in dem er tanzt, zeigt sich in seinem nonverbalen, verbalen und paraverbalen Ausdruck. Den anderen dort abholen, wo er sich befindet, heißt dorthin gehen, wo er ist: in diesen Ausdruck, in diesen Takt, und sich auf ihn einstellen, mittanzen. Tanzt der eine Walzer und der andere Tango, tanzen sie

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jedenfalls nicht gemeinsam, so witzig man sich das als Experiment auch ausmalen könnte. Wenn wir so eingestellt sind, kommen wir leichter in guten, lebendigen Kontakt mit den Menschen, die trauern und sich in ihrer Not zeigen. Wenn wir diese grundlegenden Dinge bedenken und beherzigen, ermöglicht dies wirklich Kon-Takt, ein Zugehen auf den anderen und ein Mitgehen mit seinem Takt. Nur wenn wir so geöffnet sind für den Takt des anderen, seinen Atem, seinen Rhythmus, seine Herzworte, seine Geschwindigkeiten, können wir auch mit ihm kommunizieren. Und comm-unio bedeutet dabei schließlich: eine Einheit bilden, in der wir uns tief verstehen. Um jemandem nahe zu kommen und im guten Sinne an seiner Seite zu sein, können wir die drei Mosaiksteine »Persönlichkeit/ DISG«, »Menschen einschätzen/People reading« und das »Grundgesetz gelungener Kommunikation/Pacing–Leading« zusammenlegen und als persönlichkeitsorientierte Kommunikation bezeichnen. Das, was wir intuitiv zum Teil schon tun, wird durch diese drei Aspekte deutlicher und klarer. Es ermöglicht uns auch, uns auf den anderen, gerade auch wenn es darauf ankommt, nämlich in seinen Schwankungen, gut einzustellen und ihm zu ent-sprechen. Wir können es zunächst einmal vereinfachend und plakativ so ausdrücken: Jemanden, der mir (verbal, paraverbal, nonverbal) »rot« begegnet, sollte ich zunächst genau dort abholen, wo er jetzt ist, eben in »rot«. Dies bedeutet Wahrnehmen und Ernstnehmen. Dem »Roten« begegne ich also »rot«, dem »Gelben« »gelb« und so weiter. Intuitiv tun wir dies schon bis zu einem gewissen Grad, in manchen Fällen, vielleicht gerade bei der »Diagonalen«, im »Schatten«, haben wir womöglich eher Schwierigkeiten. Hier können wir uns entwickeln, in der Kommunikation und unserem Wesen reifen, indem wir persönlichkeitsorientierte Kommunikation einüben, und werden die beglückende Erfahrung machen können, dass die Wahrnehmungsfähigkeit anderer Menschen ebenso wächst wie die Kompetenz, sich auf sie »passend« gut einzustellen. Dann werden wir auch jene »Missverständnisse« leichter vermeiden, die wir hier

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in einem kleinen missglückten Trauer-Dialog noch einmal veranschaulichen wollen. Der Trauernde, so wählen wir uns das Beispiel, spricht aus dem Feld Gewissenhaftigkeit (»blau«) heraus: »Seit ihrem Tod weiß ich nicht mehr weiter. Ich kenne mich einfach nicht mehr aus mit dem Leben. Alles ist so schwer geworden. Ich habe das Gefühl, dass ich alle Sicherheit und jeden Halt verloren habe. Ach, es ist alles so ungerecht …«

Der Trauerbegleiter versucht verständnisvoll zu reagieren, bleibt aber ganz in seinem Schwerpunkt, den wir beispielhaft als »Initiative« (»gelb«) skizzieren: »Ich verstehe, dass jetzt viel für Sie in Bewegung geraten ist. Das Leben fließt nicht mehr so lebendig wie früher. Aber ...«

Als Ergänzung ein Trauerbegleiter, der im Feld »Dominanz« (»rot«) verbleibt: »Ich weiß, dass das jetzt eine bittere Herausforderung für Sie ist. Aber Sie dürfen jetzt nicht die Hände in den Schoß legen. Es gibt immer etwas, was man machen kann …«

Abgesehen von der problematischen Inhaltsebene, etwa den falschen Vertröstungen, fehlt der Kon-Takt allein, wenn man auf die maßgeblichen Schlüsselworte achtet. So wird die heilsame Nähe bereits durch die Kommunikationsform stark beeinträchtigt. Denken kann trösten, wenn es sich auf den Weg der persönlichkeitsorientierten Kommunikation begibt. Aber wenn ich mich auf diesen Weg begebe, bin ich dann noch authentisch, wenn ich dies tue? Und manipuliere ich dann nicht den anderen? Dies sind zwei wichtige und ernste Fragen. Ich möchte dem Leser dazu nur kurz meine persönliche Sicht nennen, die ihn zum eigenen Nachdenken anregen soll. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Schauen wir zuerst auf die Frage der Manipulation. Es scheint mir klar und unbedenklich, dass jeder Mensch, indem er kommuniziert, durch das, was er sagt und wie er es sagt, für etwas »wirbt«. Jeder versucht, das, was er für gut hält, auch gut zu sagen. Manipulation aber würde für mich bedeuten, dass der andere gar nicht weiß, was ich genau im Sinn habe und worauf es mir ankommt. Und dass ich ihn dafür unwissend halte oder ihn vielleicht sogar gegen seinen erklärten Willen für meine Ziele und Interessen instrumentalisiere. Dieser »Blindflug« auf der Ebene der Inhalte und Ziele definiert für mich das Manipulative. Auf der Ebene des Wie, der Beziehung, der Form Nähe zu suchen, Kontakt herzustellen, Brücken zu bauen, ist in sich schön und gut. Denn es verbindet Menschen. Dass dies für schlechte Zwecke missbraucht werden kann, ist kein Einwand. Man sollte ja das Gute gut sagen. Dass auch das Schlechte gut gesagt werden kann, darf im Umkehrschluss nicht dazu führen, dass man nun fordert, das Gute möglichst schlecht zu sagen. Dass man Messer falsch benutzen kann, ist kein Einwand gegen sie und ihren guten Gebrauch. Und wie steht es um die Frage der Authentizität? Hier müssen wohl auch einige Missverständnisse angesprochen werden. Das erste besteht in einer nur präsentischen Auffassung von »authentisch sein«. Wenn jemand sagt: »Ich bin so, wie ich eben bin, fertig, aus«, und dies »authentisch« nennt, dann scheint er sich doch sehr zu irren. Er müsste, wenn er seinen aktuellen Zustand derart einfrieren will, dann doch eher sagen: »Ich bin fix und fertig und tot und ohne weitere Entwicklung.« Tatsächlich aber ist Authentizität wie Menschsein selbst ein Weg oder eine Reise. Man muss darum auch von sich selbst sagen: »Ich bin meine Zukunft, meine Potentiale, die noch ungehobenen Schätze in mir.« Authentizität hat in dieser Hinsicht auch einen futurischen Sinn. Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass wir dazu neigen, das authentisch zu nennen, was wir spontan und intuitiv sind und sagen. Auch hier gibt es ein Missverständnis. Das meiste, was wir »spontan« nennen, ist es erst geworden. Das, was wir »spontan« und »intuitiv« nennen, ist in sehr vielen Fällen ein Produkt des Lernens, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Auf dem Weg – Gute Gedanken für Trauerbegleiter

des Einübens, bis es uns gleichsam zur unbewussten Gewohnheit geworden ist. Ge-wohn-heiten sind Verhaltensweisen, in denen wir gleichsam wohnen und die uns leichtfallen. Als plakatives Beispiel erinnere ich an das Autofahren. Es gab eine Zeit, da konnten wir es nicht. Dann haben wir es geübt und geübt. Nun ist es uns »in Fleisch und Blut« übergegangen und wir tun es quasi »automatisch«. Bei genauer Betrachtung trifft dieser Prozess wohl auf einen Großteil dessen zu, was wir uns als »spontane« oder »intuitive« Fähigkeit zuschreiben. Wer persönlichkeitsorientierte Kommunikation einübt, wandert durch eine Wüste der Nicht-Authentizität, wo es noch nicht so gut läuft und gelingt, aber jeder Tag einen kleinen Fortschritt bringt, bis die Oase der Authentizität erreicht wird, es durch Lernen so verinnerlicht ist, dass ich kaum noch viel darüber nachdenken muss und es mir leichtfällt. Dieser Weg der Reifung ist nicht abzukürzen. Stellen Sie sich vor, Sie wären wie ein Klavier, das vier Oktaven hätte: eine rot, die zweite gelb, die dritte grün, die vierte blau. Entsprechend Ihrer Persönlichkeit bevorzugen Sie bestimmte Lieblingsoktaven, in denen Sie ihre Musik machen. Die Idee der Reifung bedeutet nun nicht, dort aufzuhören, wo man am liebsten musiziert, sondern die anderen Oktaven dazuzugewinnen. Es soll nichts genommen werden, sondern etwas dazukommen, um die Musik Ihrer ganzen Persönlichkeit in allen Farben erklingen zu lassen. Betrachten wir es so, dann fällt es auch nicht mehr so schwer, sich auf jemanden einzustellen, der ganz anders ist als man selbst oder der vielleicht in seiner Trauer stark in seiner Kommunikation schwankt. Habe ich die bei mir eher schwach ausgeprägten Aspekte mehr und mehr in mir entwickelt, kann ich einfacher mit dem anderen mitgehen und bei ihm sein. Und ist jemand sehr verschieden von mir, und ich stelle mich auf ihn ein, beschenke ich gleich zwei Menschen: Ich mache mich auf den Weg zum anderen, baue ein Brücke des Verstehens, bin ihm nahe, beschenke ihn, aber auch zugleich mich selbst. Denn indem ich nicht über, sondern in meinen »Schatten« springe, stimuliere ich den Anteil in mir, der noch mehr Wachstum braucht, so dass ich nicht nur dem anderen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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sondern zugleich auch mir selbst in meiner Fülle damit ein Stück näher komme. Gehe ich den Weg der persönlichkeitsorientierten Kommunikation in der Begleitung Trauernder nicht, entsteht leicht bereits dadurch eine Störung in der ohnehin sehr verletzlichen Kommunikationssituation, weil der Kon-Takt nicht passt und sich nicht an die spezifische Kommunikationsqualität des Trauernden angepasst und auf sie eingestellt hat.

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

Denken, so haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt, kann trösten, wenn es richtig denkt, also eine bestimmte Art und Weise, ein gutes Wie der Begleitung wählt. Denken kann aber auch dadurch trösten, dass es nicht nur richtig denkt, sondern Richtiges denkt. Gutes Denken muss Gutes denken. Wir sagten ja, dass Trauer selbst Trost ist. Der Trost, den sie bereithält, ist ihr Weisheitsschatz. Damit sagen wir, dass Trauer nicht nur ein Gegenstand der Begleitung ist, ein Objekt, auf das hin das Denken sich ausrichtet. Trauer ist vielmehr ein Subjekt, ein Lehrer, ein Freund, der Gutes mit sich führt, das im Zerbruch und Schmerz verborgen ist. Das trostreiche Denken ist aufgefordert, sich diesem verborgenen Gut anzunähern. Handelt es sich um die Sache des Menschen im existentiellen Sinne, ist das Denken richtig und trostreich, das die Existenz des Menschen richtig auslegt und ihm dabei hilft, mehr das zu werden, was er ist, und zu sein, was er geworden ist. Im Neuen Testament wird von der Salbung Christi in Betanien erzählt (Mk 14,3–9), bei der eine Alabasterflasche mit kostbarem Nardenöl zerbrochen wird, damit das wohlriechende Öl zum Vorschein kommen und genutzt werden kann. Wir denken uns dieses Motiv im Hinblick auf die Trauer und den Trauernden. In den Tiefen des Gefäßes der großen Trauer und all dem, was hier als Zerbruch erlebt wird, wartet eine heilende, wohlriechende, stärkende Kraft. Welches sind die Einsichten, die das besondere Sehen und Wissen der Trauernden in den Blick bekommen? Denken wir den Weisheitsimpulsen nach, die im Thesaurus der Trauer enthalten sind. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Der Tod ist das Nichtwissen  

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Praxis-Impulse Die nachfolgend im Text eingestreuten Boxen mit Praxis-Impulsen haben den einzigen Sinn darin, den Trauerden dabei zu unterstützen, seine Erstarrung zu lösen und durch die Weisheit seiner Trauer in eine neue Lebendigkeit zu finden. Die Praxis-Impulse können helfen, eine Bewegung und Distanzierung in das Trauergeschehen einzufügen. Der Trauernde soll in Bewegung kommen, Aufbruch spüren, Perspektivenwechsel vornehmen, sich verändern einzig zu dem Zweck, dass das Sehenkönnen der Weisheit und des Trostes möglich wird, die in der Trauer selbst gelegen sind. Der Begleiter führt den Praxis-Impuls am besten so ein, dass er ein Weg des Trauerverstehens sein soll. Der Begleiter wird wissen und spüren, welcher Impuls für welchen Menschen zu welcher Zeit der vielversprechendste ist. Nun kommt es darauf an, es unkompliziert und ohne besonderen Anspruch zu tun und auszuprobieren. Keine weitere Begründung ist zu geben und auch keine besondere Zielsetzung ist zu versprechen. Nur eben dies: Es ist eine Möglichkeit, in der Trauer zu verstehen. Es ist klar, dass der Begleiter keinen dieser Impulse aufdrängen wird. Es ist klar, dass eine Ablehnung des Impulses oder ein Abbrechen einer Übung jederzeit möglich ist und normalisiert werden sollte: Es ist ( jetzt noch) nicht möglich. Es gibt vielleicht eine andere Zeit.

Der Tod ist das Nichtwissen Lassen wir uns zunächst von einem klassischen Text der Trauer­ erfahrung leiten. Er stammt aus den »Bekenntnissen« von Augustinus. Im vierten Buch dieser »Confessiones« beschreibt er den Tod seines geliebten Jugendfreundes. Wir geben hier die maßgebliche Passage der Wirkungen des Ereignisses auf Augustinus wieder: »Vom Schmerz darüber ward es finster in meinem Herzen, und was ich ansah, war alles nur Tod. Die Heimat war mir Qual, wunders

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

unselig das Vaterhaus, und alles, was ich gemeinsam mit ihm erlebt hatte, war ohne ihn verwandelt zu grenzenloser Pein. Überall suchten ihn meine Augen, und er zeigte sich nicht. Und ich haßte alles, weil es ihn nicht barg und nichts von allem mir noch sagen konnte: ›Sieh, bald kommt er‹, so wie es ehemals gewesen, wenn er eine Weile nicht zugegen war. Ich war mir selbst zur großen Frage geworden, und ich nahm meine Seele ins Verhör, warum sie traurig sei und mich so sehr verstöre, und sie wusste mir nichts zu sagen. Und wenn ich ihr sagte: ›Hoffe auf Gott‹, so gab sie billig kein Gehör: denn wirklicher und besser war der Mensch, mit dem sie den liebsten verloren hatte, als der Truggott, auf den zu bauen sie geheißen war. Einzig das Weinen war mir süß, und es war an meines Freundes Statt gefolgt als die Wonne meines Herzens.« (Augustinus, »Confessiones«, IV, 4, 9; 1980, S. 151 f.)

»Factus eram ipse mihi magna quaestio« – ich war mir zu einer großen Frage geworden. Diese Erschütterung, dieses Fraglichwerden und Fraglichsein, diese Entdeckung seiner selbst als eine wunde, offene Frage durchzieht die Trauer und liegt auf ihrem Grund. Sie ist einer der kostbaren Bestandteile des Nardenöls, das in der Trauer verborgen liegt. Der Mensch ist eine Frage, der Mensch versteht sich nur richtig als Frage. Augustinus selbst nennt den Menschen sogar eine »große Frage«. In seinem überreichen und tiefen Text, der die unmittelbare Erschütterung im Angesicht des Todes seines Freundes erinnert, wollen wir uns nur darauf konzentrieren, was die Größe der großen Frage bedeuten kann. Zunächst achten wir dabei auf die Wirkung, die das Todesereignis mit sich bringt. Ihre Größe lässt sich daran ablesen, dass sie unaufhaltsam in Augustinus wächst und sich seiner bemächtigt, sich in ihm mehr und mehr ausbreitet, bis sie alles erfasst, erschüttert und verwandelt. Als einem Ereignis der eigenen Innenwelt ist ihm nicht zu entkommen, es gibt keine Flucht und keinen Ausweg. Das Todesereignis ist radikal und total in seiner Wirkung. Es ist von einem derart überwältigenden und um sich greifenden Schmerz, dass in ihm alles andere, was sich aufdrängen könnte, untergeht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Alles, was vorher wichtig und bedeutungsvoll war, wird in diesem Schmerz verbrannt, ausgelöscht, ja sogar gehasst, weil es »ohne ihn«, den geliebten Freund ist. In diesem erkenntnisöffnenden Schmerz, der alles andere in die Nacht stellt und verbirgt, treten die Konturen des Menschseins als große Frage umso deutlicher hervor. Die Größe der großen Frage zeigt sich sodann auch in der Massivität der Todesbedrohung für die geistige Person. Die konsequente Entdeckung der Zeit als das existentielle Drama endlicher Personen kündigt sich an. Dass der Freund, der doch da war, vergangen sein soll, dass Präsenz in Absenz wechselt, dass das Präsens zur »Vergangenheit« wird, diese Entdeckung der Vergänglichkeit des geliebten Freundes ist der Schock der Todeserfahrung. Die Sinngefährdung wird deutlich in dem »nicht« und »nichts«: Die Augen suchen ihn, doch er zeigt sich nicht, nichts birgt ihn, nichts teilt ihn mehr mit. Die Person, die man geliebt hat, das einzigartige und unersetzliche Wesen, mit dem man verbunden war und das man so liebte, als könnte und dürfte es nie sterben,1 ist, so will es der Anschein des Todes, »nichtig«, sterblich, vergänglich und definitiv entschwunden. Die Liebe fordert und hofft für den Geliebten Ewigkeit und Unvergänglichkeit, ohne sie selbst geben zu können. Der erlebte Verlust wirft die Frage auf: Ist der Freund verloren, für immer, endgültig, verschwunden für alle Ewigkeit? Und ist dies das Schicksal aller Personen? Auch meines? In den Fragen dieser Art artikuliert sich die große Frage, die in der Trauer aufgebrochen ist.

1

In der Liebe ist ein Versprechen enthalten, das den Tod zu überwinden gedenkt: »Jemanden lieben heißt ihm sagen: ›Du aber wirst nicht sterben!‹« (Marcel, 1952, S. 472). Zur Trauer sagt er: »[…] dort, wo sie von innen heraus durch Liebe am Leben erhalten wird, scheint sie von folgender in der zweiten Person ausgesprochenen Beteuerung begleitet zu sein: ›Du kannst nicht einfach verschwunden sein wie eine Wolke, die verfliegt; das anzunehmen, wäre Verrat‹« (Marcel, 1964, S. 76 f.).

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Praxis-Impuls HERZENS - AUFGABE : ALLER TROST IST TRÜBE Eine vierfache Leseübung Die nachfolgenden Textausschnitte aus einem Beileidsbrief Rilkes an Gräfin Sizzo vom 6. Januar 1923 nach dem Tod ihrer Mutter sollen viermal gelesen werden: • • leise und innerlich für sich selbst, • • laut und deutlich für jemand anderen, • • laut aus der Sicht Rilkes, der es schrieb, • • laut aus der Sicht der Gräfin Sizzo, die die Worte erhielt. Jeweils nach den Lesevarianten können sich einstellende Gedanken und Fragen geäußert und, wenn gewünscht, besprochen werden. »[…] ich glaube auch nicht recht, daß man sich über einen Verlust von der Plötzlichkeit und Größe dessen, den Sie erlitten haben, trösten kann und soll […] hier wäre ja auch Trost eine der vielen Ablenkungen, eine Zerstreuung, also im Tiefsten ein Leichtsinniges und Unfruchtbares. Nicht sich trösten wollen über einen solchen Verlust, müßte unser Instinkt sein, vielmehr müßte es unsere tiefe schmerzhafte Neugierde werden, ihn ganz zu erforschen, die Besonderheit, die Einzigkeit gerade dieses Verlustes, seine Wirkung innerhalb unseres Lebens zu erfahren, ja wir müßten die edle Habgier aufbringen, gerade um ihn, um seine Bedeutung und Schwere, unsere innere Welt zu bereichern […] Ein solcher Verlust ist, je tiefer er uns trifft und je heftiger er uns angeht, desto mehr eine Aufgabe, das nun im Verlorensein hoffnungslos Betonte, neu, anders und endgültig in Besitz zu nehmen.«

Die große Frage ist schließlich aber nicht nur groß durch die Wirkungen der Todeserfahrung, die sie in einem Menschen entfaltet, oder durch die in ihr angezeigte Dimension von Verlust und Bedrohung. Sie ist es auch durch die Grenze, die für das Denken und damit für allen Trost aufscheint. Augustinus unterhält sich mit seiner © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Seele, er befragt und verhört sie, um die große Frage zu begreifen. Aber die Seele bleibt ihm die Antwort schuldig: »und sie wusste mir nichts zu sagen«. Das »Nichts«, das im Verlust des Freundes erfahren wird, greift auf die Sphäre des Denkens über. Der Tod ist nur ein anderer Name für definitives Nichtwissen. Die große Frage, die das Frage-Sein des Menschen darstellt, ist daher auch darin groß, dass sie sich dem Begreifen und Beantworten entzieht. Hier bedeutet »nichts mehr zu sagen« eine bestimmte Form von Angemessenheit. Die Frage, die der Mensch ist, bleibt und sie absorbiert alle Antworten. Die Trauer hat in diesen Abgrund geblickt. Sie ist aus ihm aufgestiegen. In der Trauer hat sich im Tod des geliebten Menschen das Menschsein in seiner Wahrheit ein wenig gelüftet. Der Mensch ist etwas, das sich selbst entzieht. Auf dieses sich selbst entziehende Menschsein weisen auch der Gedanke Hölderlins aus »Mnemosyne«: »Ein Zeichen sind wir, deutungslos«, und Pantheas Worte aus seinem Dramenfragment »Der Tod des Empedokles«: »O ewiges Geheimnis! Was wir sind Und suchen, können wir nicht finden, was Wir finden, sind wir nicht.« (Hölderlin, 1994, Bd.  2, S. 285)

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

Praxis-Impuls DEM GEHEIMNIS AUF DER SPUR Eine kleine kreative Übung Diese Übung ist eine kreative Schreibübung und bezieht sich auf den Geheimniszustand, in dem sich der Tote, der Trauernde und die Liebe zwischen beiden befinden. Schreiben Sie das Akrostichon von Geheimnis auf: G…………………………………………………………………… E…………………………………………………………………… H…………………………………………………………………… E…………………………………………………………………… I…………………………………………………………………… M…………………………………………………………………… N…………………………………………………………………… I…………………………………………………………………… S…………………………………………………………………… Der Trauernde kann nun entsprechend den Anfangsbuchstaben jeweils ein oder mehrere Wörter schreiben, die ihm zum Stichwort »Geheimnis« einfallen. Sind alle Wörter notiert, die dem Trauernden (innerhalb von drei bis fünf Minuten) eingefallen sind, könnte er im nächsten Schritt aus diesen Wörtern eine kleine Phantasiegeschichte schreiben, so wie es ihm einfällt. Über die Wörter bzw. die Geschichte kann sich nun das Gespräch mit dem Begleiter entwickeln.

Ein bekannter mittelalterlicher Vierzeiler fasst die Lage des Menschseins auf sehr klare und konzentrierte Weise wie in einem geflügelten Wort zusammen: »Ich bin, ich weiß nicht wer. Ich komm, ich weiß nicht woher. Ich geh, ich weiß nicht wohin. Mich wundert, dass ich fröhlich bin.«

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Der Tod ist das Nichtwissen  

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Menschsein ist Nichtwissen. Nicht wissen, wie die große Frage, die ich bin, zu beantworten wäre. Der Tod hat mir nun einen geliebten Menschen entrissen. In der Trauer trauere ich um uns, um ihn und um mich. In der Trauer verstehe ich auch auf abgründige Weise, in gefühlter, erlebter Bedeutung, vom Zusammenhang, den Menschsein, Liebe und Tod bilden. Der Tod ist das definitive Nichtwissen meiner eigenen Bestimmung. Ohne Wissen bin ich dabei auch im Blick auf die Zeit: Der Tod ist nicht nur in einer fernen Zukunft irgendwann einmal möglich, wenn dann das Ende kommt, sondern jederzeit. Wie im Märchen der Bremer Stadtmusikanten mögen wir sagen: »Etwas Besseres als den Tod findest du überall.« So machen wir uns auf den Weg und schauen aus in der Zeit – aber sicher ist doch: Er findet uns immer und überall. Der lateinische Spruch »mors certa, hora incerta« bringt die Spannung von Gewissheit und Ungewissheit, in der wir endlich leben, gut zum Ausdruck: Der Tod ist sicher, unsicher ist nur die Stunde, zu der er kommt. Dass aber der Tod »jederzeit« da sein kann, ist das radikale Nichtwissen darüber, wann er seine Zeit nimmt und aus der Mitte meiner Existenz hervorbricht. Das Bild von der niederbrennenden Kerze spiegelt besser noch als die ablaufende Sanduhr die doppelte Einsicht des lateinischen Spruchs und damit auch der zeitlichen Unbestimmtheit wider: Die Kerze brennt langsam nieder, »irgendwann« wird sie definitiv verlöschen müssen. Doch es genügt ein nur kleiner Hauch, so dass ihr Licht »jederzeit« vergehen könnte. Wir können dies als das Paradox der »anwesenden Abwesenheit« (Landsberg, 2009, S. 29, S. 35 f., S. 56) des Todes bezeichnen. Wir finden es beispielsweise in Rilkes bekanntem Gedicht wieder:

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

»Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen, mitten in uns.« 2

Märchen greifen das Motiv plastisch auf, dass der Mensch ratvoll und listiger sein möchte als »Gevatter Tod«. Bernhard, der Patensohn des Todes, der »Jedermann«, heilt als Arzt zwar alle Krankheiten, aber der Versuch, den Tod endgültig zu überlisten, schlägt fehl. »Mit eiskalter Hand« greift der Tod den Menschen und löscht sein Lebenslicht. Noch listiger, ungeheurer als der Mensch ist der Tod selbst, gegen den kein Wunderkraut gewachsen ist. Als Fuhrmann folgt er dem flüchtenden Menschen, der »das Land des ewigen Lebens« sucht, und packt ihn »am Ende« doch stets »mit eisernem Griff«. Rilke erzählt in einem Märchen vom Tod von einem Mann und einem Weib, die ihre Tore verschließen, um den Tod auszusperren, und daher beginnen müssen, von den immer knapper werdenden Lebensvorräten in ihrem Haus zu leben. Doch keine Odysseuslist ist groß genug. Der Tod arbeitet und wühlt in den Wänden des Hauses, bricht die Steine aus bei Nacht und baut sich sein eigenes Tor mitten ins Haus hinein: »Der Tod. Was weiß man davon? Scheinbar alles und vielleicht nichts.«3 So weisen auch die Märchen zurück auf das, was uns das Maß der Humanität auferlegt: uns zu verstehen als unbeantwortbar große Frage. Als sich Christoph Kolumbus am 3. August 1492 den Passatwinden anvertraute, um über den Atlantischen Ozean hinauszusegeln, hoffte er, Indien hinter dem westlichen Horizont zu entdecken. Nach abenteuerlicher Fahrt ins Ungewisse fand er neues Land, Amerika, und war sich doch bis zu seinem Tod gewiss, Indien 2 Das Schlussstück aus dem »Buch der Bilder« (Rilke, 1996, Bd. I, S. 347). 3 Ein Märchen vom Tod und eine fremde Nachschrift dazu (Rilke, 1996, Bd. III, S. 401).

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Der Tod ist das Nichtwissen  

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erreicht zu haben. Was für ein Land mag der »Tod« sein? Womit verwechseln wir ihn vielleicht? Ein Interesse von Kolumbus war es, die Erde neu zu kartographieren. Das alte Kartenmaterial schien ihm kaum noch brauchbar. Können wir den Tod kartographieren und vermessen? Können wir eine geistige Landkarte von einem Land zeichnen, das womöglich niemand kennt und auch keiner kennen kann? Gleicht ein Erkenntnisversuch des Todes einer Kolumbusfahrt ins Ungewisse und am Ende Unwissbare? Ist der Tod vielleicht eine Art Afrika, als es noch der »dunkle Kontinent« genannt wurde, eine »terra incognita«, ein unbekanntes und unerforschtes Land? Und wird er, im Unterschied zu jenem, eine »terra incognita« bleiben müssen, weil er eine unüberwindbare Grenze von Verstehen und Erklären darstellt? Ist der Tod nur ein anderer Name für das Ende der Vernunft? Wir wissen alle, dass wir sterben müssen. Dies sagen wir, wenn wir sagen: »mors certa«. Aber was wissen wir da eigentlich? Wie könnten einsichtige Grundlinien einer »Erkenntnistheorie des Todes« aussehen? Können wir etwas Vernünftiges »über« oder »vom« Tod sagen? Oder sind uns sozusagen die geistigen Waffen aus der Hand geschlagen? »Ein jeder Mensch macht sich einen eigenen Plan seiner Bestimmung auf dieser Welt. Geschicklichkeiten, die er erwerben will, Ehre und Gemächlichkeit, die er sich davon aufs künftige verspricht, dauerhafte Glückseligkeiten im ehelichen Leben und eine lange Reihe von Vergnügen oder von Unternehmungen machen die Bilder der Zauberlaterne aus, die er sich sinnreich zeichnet und lebhaft in seinen Einbildungen spielen läßt; der Tod, der dieses Schattenspiel schließt, zeigt sich nur in dunkeler Ferne und wird durch das Licht, das über die angenehmere Stellen verbreitet ist, verdunkelt und unkenntlich gemacht. Während diesen Träumereien führt uns unser wahres Schicksal ganz andere Wege.« (Kant, 1760/1902, Bd. II, S. 41)

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Auf eindrucksvolle Weise verbindet Kant in diesem Abschnitt aus seinem Trauerbrief aus dem Jahr 1760 den klassischen Gedanken, dass das Leben eine Art von Traum sei, mit dem anderen, dass es durch den in »dunkler Ferne« liegenden und durch die Zerstreuungen nochmals verdunkelten Tod unerbittlich begrenzt ist. Der Tod ist ein »Riese, vor dem die Natur schaudert« und der mit »eisernen Armen« (Kant, 1760/1902, Bd. II, S. 40) alles Lebendige einschließt. Aber er liegt für die Menschen in »dunkler Ferne«, das heißt zunächst, der Aufmerksamkeit entzogen. Wenn ein Mensch jedoch aufmerksam wird auf seine Sterblichkeit, ihrer inne und bewusst wird, also der Tod aus der Ferne so in die Nähe geholt wird, dass ich dessen eingedenk bin, dass er jederzeit da ist und ich ein Sterblicher bin, weiß ich dann nur, dass ich sterblich bin, oder weiß ich, was das heißt? »Läufst du immer fort vorwärts, plätscherst weiter in der lauen Luft, die Hände seitwärts wie Flossen, siehst flüchtig im Halbschlaf der Eile alles an, woran du vorüberkommst, wirst du einmal auch den Wagen an dir vorüberrollen lassen. Bleibst du aber fest, läßt mit der Kraft des Blicks die Wurzeln wachsen tief und breit  – nichts kann dich beseitigen und es sind doch keine Wurzeln, sondern nur die Kraft deines zielenden Blicks  –, dann wirst du auch die unveränderliche dunkle Ferne sehn, aus der nichts herankommen kann als eben nur einmal der Wagen, er rollt heran, wird immer größer, wird in dem Augenblick, in dem er bei dir eintrifft, welterfüllend und du versinkst in ihm wie ein Kind in den Polstern eines Reisewagens, der durch Sturm und Nacht fährt.« (Kafka, 1907–1908/1986, S. 255)

Kafkas kleines parabolisches Fragment, in seinen letzten Lebensjahren geschrieben, entstammt einem Bündel loser Blätter aus seinem Nachlass und kann als Parabel auf Leben und Tod aufgefasst werden. Konzentrieren wir uns auch in diesem Fall nur auf die »dunkle Ferne«, die in ihrer Macht und Größe als unveränderlich gekennzeichnet ist, so setzt sie einen »Wagen« in Bewegung, der im Augenblick des Eintreffens als »welterfüllend« bezeichnet wird. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Und in der Tat ist der Tod ja auch ein Weltuntergang. Mit jedem Individuum stirbt nicht nur dessen eigene Welt, was einem persönlichen Weltuntergang gleichkäme, sondern auch die ganze Welt; denn sie war in diesem Bewusstsein, das nun verlischt, noch einmal symbolisch da und ist es nun nicht mehr. Können wir nichts vom Tod wissen? Bleibt er eine dunkle Ferne, die, wenn sie gegenwärtig geworden ist, alles mit sich fortnimmt? Praxis-Impuls SCHWARZ UND WEISS Dem Ein-Klang der Steine auf der Spur Für diese Übung brauchen Sie einen oder mehrere weiße Steine und einen oder mehrere schwarze Steine. Außerdem eine Stimmgabel. Der Trauernde sucht sich zunächst einen/den schwarzen Stein aus. Mit der Stimmgabel schlägt er leicht auf den schwarzen Stein, hört den Klang und hält sich auch die Stimmgabel ans Ohr. Wenn gewünscht, kann er etwas über das sagen, was er fühlt oder erlebt.  – Sodann wird dasselbe Verfahren mit dem ausgewählten weißen Stein vorgenommen. Schließlich nimmt der Trauernde beide Steine in die Hand und schlägt sie (einige Male) gegeneinander. Im Anschluss an die drei Sequenzen kann das Gespräch mit dem Begleiter über das eigene Erleben aufgenommen werden.

Die Weisheitslehrer schwanken in ihren Antworten. Die einen halten den Tod für einen Kerker der Seele. Wenn wir sterben, werden wir endlich frei. Andere meinen, dass der Tod Leib und Seele auflöst und das Individuum im Allgemeinen verschwinden wird. Wir sind nur Staub und Schatten, Sterbliche, die darauf bedacht sein sollten, jeden Tag zu pflücken. Wieder andere meinen, der Tod gehe uns nicht an. Denn, wenn er da ist, sind wir nicht mehr da. Und wenn wir da sind, ist er noch nicht da. Im Alltag meinen wir Zugänge zu kennen, die uns das geistige Land des Todes erschließen. Es gibt doch Erfahrungen, in denen der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

Tod in verschiedensten Spuren als anwesende Abwesenheit gegenwärtig scheint. Die Sorge, das Altern, die Krankheiten, Trauer und Trennung, aber auch der Schlaf, Träume, Sexualität, Ekstase und Rausch bebildern ein Spektrum von Erfahrungen, in denen der Tod als symbolisch oder metaphorisch präsent oder sogar als realer Vorschein erlebt oder gedacht wird. Diese Erfahrungen bilden eine Art »Inkognito« oder »Mimikry« des Todes und gestatten Projektionen, Antizipationen oder Analogieschlüsse. Hierzu zählen auch der wahrgenommene Tod anderer Lebewesen sowie die unmittelbare Phänomenologie des Leichnams. Wenn sich der sterbende Mensch ganz verhüllt in Starre, sprachlos wird, kalt, jede Kommunikation endet, Beziehungslosigkeit eintritt, dann hat der Zurückbleibende das Gefühl einer großen Fremdheit und Unvertrautheit. Wenn ich den Leichnam anschaue, weiß ich, dass das Beste nicht mehr da ist. Er lacht nicht, weint nicht, ist sprachlos, schweigt. Fremd. Weg. Da wir die entsetzliche Isolation der Toten und die Hyperprägnanz des Todes an ihm nicht ertragen, begraben wir ihn. Der Tod ist eine Destruktion, die wir nicht wollen. Wissen wir folglich nicht doch vom Tod? Der Volksmund kennt den Spruch, dass der Tod harte Kinnbacken hat. Man kann ihm also seine Geheimnisse nicht entreißen. Er gibt sie nicht preis. La Rochefoucauld findet eine verwandte Metaphorik: »Weder die Sonne noch den Tod kann man fest ins Auge fassen«4 (Rochefoucauld, 1987, S. 16/Nr. 26). Ludwig Wittgenstein spricht seine Einsicht in einer konzentrierten Formel aus: »Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht« (Wittgenstein, 1921/1982, 113 [6.4311]). Was zum Phänomen des Todes für unser Denken und unsere Erfahrung also notwendig festgehalten werden muss, ist ein Moment des Nichtwissens, das mit ihm unvermeidlich verknüpft ist. Wovon reden wir also da eigentlich? Und hier ergibt sich nun eine erstaunliche Überraschung, die eine gewisse Verwandtschaft mit der Erfahrung von Trauernden zeigt. Die Trauernden sprechen 4

»Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder fixement.«

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in ihrem Schmerz von allem, was ihnen genommen wurde und nun nicht mehr ist: Der Tote lacht nicht mehr, er spricht nicht mehr, er schaut nicht mehr, er rührt sich nicht mehr und so weiter. Das heißt, ganz unwillkürlich benutzen wir Ausdrücke des Lebens, die wir kennen und die uns vertraut sind (»lieben«, »lachen«, »schauen« …), und verneinen, negieren sie dann (»… nicht mehr«). Über den Tod können wir anscheinend nur sprechen als ausgedrückte Negativität des Lebens. Hier gibt es nichts mehr zu verstehen, keine Regung mehr, in die wir uns »hineinversetzen« oder die wir »nachvollziehen« könnten. Alles, was wir ausdrücken, ist unser Vermissen von Leben. Wir spiegeln die Eigenschaften des Lebens an einer dunklen Fläche, von der wir als Erkennende nicht mehr zu sagen vermögen als das, was an ihr fehlt. Der Tod erscheint als unüberwindliche Grenze, als »Wand«, gegen die man spricht. Der Tod bleibt ein geistiges Niemandsland. Die Bedeutung des Todes erschließt sich uns auch aus den Wirkungen, die er in unserem Leben hat. Wir wissen nichts darüber, was mit ihm und nach ihm kommt. Aber wir erkennen Rückwirkungen des einmal kommenden Todes auf unser heutiges Leben im Vorlauf auf ihn. Mögen die Menschen auch nüchtern wissen, dass sie sterben müssen, einverstanden sind sie damit nicht: »Der Tod ist eine Gewissheit, die ich nicht verstehe. Gleichzeitig gibt es etwas Unwiderstehliches und Unverständliches in mir, dass sich dieser Gewissheit widersetzt« (Marcel, 1974, S. 140). Unsere Fragen rühren nicht nur von dem Todesbewusstsein her, sondern wollen auch über den Tod hinausführen. Jede Frage ist auch der Versuch, Zeit zu gewinnen und den Tod aufzuhalten. Das ganze Leben der Menschen könnte unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass sie sich gegen den Tod immunisieren wollen. Die Art, wie wir die Stufen einer Treppe hinuntersteigen, überführt und verrät uns bereits in unserer Lebensliebe und Todesscheu. Unser wesentliches Interesse zielt darauf, glücklich zu sein. Und Glück schließt das Interesse an Selbsterhaltung und Selbstentfaltung mit ein. So gilt in der Psychoanalyse die Todesangst (oder Furcht vor dem Sterben) zwar als der ständige Preis des Menschen für das © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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(Ich-)Bewusstsein vom Dasein und das Wissen um die Endlichkeit. Gleichzeitig gibt es dennoch eine merkwürdige Urverdrängung, die den eigenen Tod zum Tabu werden lässt. Freud macht in seinen Analysen zur Todeseinstellung auf diesen altbekannten Zusammenhang von der Unvorstellbarkeit des eigenen, persönlichen Todes aufmerksam: Niemand glaubt an seinen eigenen Tod, im Unbewussten ist jeder von seiner eigenen Unsterblichkeit überzeugt (Freud, 1915/1994, S. 49). Auch wenn man nüchtern-wissenschaftlich (theoretisch) um das eigene Sterbenmüssen weiß, kann sich der Mensch offensichtlich nicht als gestorben denken und fühlen (nur der andere kann sterben – ich nicht). Entsprechend verhält sich der Mensch lebenspraktisch auch in der Regel nicht so, als ob ihn ein definitives Ende erwarten würde. Er vertraut sich der Zeit und dem Leben an, gleich so, als ob es für ihn nie etwas anderes gäbe, als wäre er unsterblich. In dieser Unsterblichkeitsillusion spiegeln sich das Nichtwissen und die übergroße Fremdheit, die der Tod für den Menschen mit sich bringt. Kann man also etwas über den Tod wissen? Vielleicht zunächst einiges Wissenschaftliche. Der Tod hat auch eine verobjektivierbare, wissenschaftlich untersuchbare Außenseite (der Tod als Faktizität). Aber wir fragen im Grunde danach, ob wir vom Tod um den Tod wissen können (Tod als Moment der Existenz). Kann man den Tod verstehen? Dies wird bestritten: Totsein und Verstehen schließen sich gegenseitig aus. Dennoch können wir etwas vom Tod um den Tod wissen, insbesondere durch die Liebe. Der Tod ist das große Fragezeichen, das den Menschen zu einer großen Frage macht. Wir kommen nicht nur aus einem Fragezeichen, einem unvordenklichen Anfang, den unser Denken nicht erkunden kann, sondern gehen auch in ein Fragezeichen, in ein unbegreifliches Ende, in dem das Denken kollabiert als Einsicht oder Weisheit, dass wir eine große Frage sind.

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Der Tod ist das Nichtwissen  

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Praxis-Impuls 111 JAHRE Besuch aus der Zukunft Stellen Sie sich bitte vor, Sie erhalten Besuch aus der Zukunft. Sie sind 111  Jahre alt geworden und reisen zurück zu sich selbst. Zu Ihnen hier und heute. Sie bekommen also nun Besuch von sich selbst. Ihr 111-jähriges Ich ist sehr lebenserfahren und weise. Lange wird es nicht bleiben können. Aber die Freude ist groß, dass es bei Ihnen vorbeischauen kann. Ihr weises Ich aus der Zukunft setzt sich neben Sie und spricht mit Ihnen. Es kann sehr genau fühlen und verstehen, wie es Ihnen geht. Dann, bevor es wieder weiterreisen muss, steht es auf, umarmt Sie und gibt Ihnen einen wertvollen Rat. Welchen Rat gibt Ihnen Ihr weises Ich aus der Zukunft? Wenn der Trauernde möchte, kann er mit seinem Begleiter über diesen weisen Rat sprechen.

Der Tod ist, wie wir verstanden haben, nur ein anderer Name für Nichtwissen, ein definitives existentielles Nichtwissen. Er entdogmatisiert unsere überheblichen Gewissheiten und wirft sie alle am Ende ins Grab. »Ich weiß nicht« bedeutet soviel wie »Ich bin ein Endlicher, ein Sterblicher und kein Gott«. Der Tod ist eine Wurzel unserer eigenen Fraglichkeit, unseres Frage-Seins. Er ist das völlige Dunkel, in dem alle unsere Lampen verlöschen und keine »Aufklärung« möglich ist, der dunkle Kontinent, das Fremde schlechthin, der große Herr, in dem wir alle unsere Herrschaft, all unsere Selbstbestimmung und Selbstkontrolle aufgeben und absolute GeLassenheit lernen müssen, in dem wir völlig unsere Fassung verlieren und ins Unfassbare stürzen, ein Abgrund für alle Reflexion. Das fortwährende und immer unabgeschlossenen Abenteuer der Vernunft nimmt von hier aus seine stets provisorische und fragmentarische Reise als ein endloses Verschieben der Horizonte auf, ohne sicheren Hafen im Ungewissen unterwegs. Der Tod widersetzt sich, so scheint es, allen unseren Bemühun© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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gen, ihn in unserem Denken zu beruhigen oder zu beherrschen. Es gibt keine vollständige Humanisierung des Todes. Wir können uns mit dem Tod nicht versöhnen, auch wenn er uns vielleicht mit allem versöhnt. Wie ein Verstehen des Todes aussehen könnte, weiß kein Mensch. Wie eine Einsicht in ihn aussehen könnte, ist uns unbekannt. Weder praktisch noch theoretisch kann der Mensch Herr des Todes werden. Keine unserer Reaktionen auf den Tod gewährt uns irgendeine Todesmeisterschaft. Es ist der überwältigende Schmerz der Sterblichkeit zwischen Hoffen und Bangen, der all die Irrlichter aufsteckt, dass wir etwas Sicheres von ihm wissen könnten. In der Trauer liegen alle diese Einsichten bereit. Der Tod kann uns alles nehmen. Alles, was uns lieb und teuer ist, können wir verlieren. Wir sehen die Zerbrechlichkeit des Glücks. Wir sehen die Macht des Todes. Wir entdecken das Grundwesen unseres eigenen Menschseins: Wir sind sterblich. Sterbliche aber, das ist von alters her nur ein anderer Name für Mensch. Denken, das tröstet, weiß, dass all diese Einsichten in unser Menschsein, dass wir eine große Frage sind, die wir nicht lösen, sondern in die wir uns nur vertiefen können, dass der Tod definitives Nichtwissen unserer letzten Bestimmung bedeutet und in der Trauer des Trauernden einbeschlossen ist. Ein Geschenk der Trauer an den Trauernden und damit eine Hinterlassenschaft seiner verstorbenen Liebe ist dieses vertiefte Verständnis dessen, was Menschsein bedeutet. In der Trauer verdunkelt sich nicht nur unser Leben durch den Schmerz über den Verlust, sondern es erhellt sich auch das Verständnis unserer eigenen Existenz. Wir werden sehend. Der Tod bringt das Wesentliche des Menschseins zum Vorschein. Trauern heißt: wissen, sehen, verstehen. Hier erhellen sich das Phänomen des Todes und des Menschseins wechselseitig. Das Wenige, dass aus dem Fortsterben eines geliebten Menschen auf eine tief erlittene und gefühlte Weise in unser Fortleben her­überweht, dieses Wenige entfacht in uns das besondere Drama der Menschwerdung. Wir sehen uns auf besondere und problematische Weise exponiert. Wir Menschen sind Sterbliche, die sich nach © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

Die Wahrheit ist die Liebe  

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Unsterblichkeit sehnen, wir sind Zeitliche, die von der Ewigkeit träumen, Unvollkommene, die das Vollkommene bewundern und unvollkommen nach Vollkommenheit streben. All dies bezeichnet die problematische Verfassung, in der sich der Mensch vorfindet, wenn er zu sich erwacht. Und in der Trauer erwachen wir. Nie kommt der Mensch völlig beruhigt bei sich selbst an, stets ist er in der Fremde, nie ist er ganz zu Hause. Menschen sind WegWesen, sterblich unterwegs, aufgerufen in die große Frage, die das Menschsein ist, voller Sehnsucht, Antworten zu finden, von denen man wenigstens eine Zeitlang und vorläufig leben kann. Was das Denken hier ans Licht hebt und erhellt, hat der Trauernde erlebt. Im Erleben der Trauer wartet ein Wissen, das vom Denken geborgen werden soll. Diese Geborgenheit ist ein erster Trost.

Die Wahrheit ist die Liebe Wir haben schon im ersten Trost der Trauer, den das Denken entbinden kann, in der Aufklärung über das Menschsein als große Frage und den Tod als definitives Nichtwissen dessen, was wir sind, das Zusammenspiel von Tod, Leben und Liebe in der Trauer angesprochen. Verfolgen wir den Faden nunmehr in Richtung der Liebe. Liebe spielte in gewisser Weise auch schon zuvor eine Rolle, als wir über die Form der Kommunikation in der Trauerbegleitung sprachen. Liebe ist als Weg der Erkenntnis zu verstehen, der den Zugang zum Leben der Existenz gewährt. Um dem Phänomen der Liebe auf die Spur zu kommen, können wir erneut bei Augustinus und seinem Erleben angesichts des Todes seines geliebten Freundes ansetzen. Warum kann der Schmerz des Todes Augustinus so tief erfassen und treffen? Wie ist es möglich, dass der Tod des Freundes ihn dermaßen erschüttert und ihn in einen bodenlosen Schmerz stürzt? Woher dieser Abgrund? Aus der Liebe. Augustinus und sein Freund waren nicht irgendein anderer füreinander. Sie waren vielmehr in Freundschaft durch das Band per© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

sonaler Liebe5 derart miteinander verbunden, dass eine »existentielle Teilhabe«, »ein Wir gestiftet durch die Gemeinschaft zwischen zwei Personen« entstehen konnte.6 Entsprechend findet sich kurz darauf der Hinweis: »In der Tat, ich wunderte mich, daß die übrigen Sterblichen noch lebten, da doch er, den ich geliebt hatte, als könnte er nie sterben, gestorben war, und mehr noch wunderte ich mich, daß ich selbst, da ich doch ein zweiter Er gewesen, noch lebte, nun, da er tot war.« (Augustinus, »Confessiones«, IV, 6, 11; 1980, S. 155) 7

Mit Blick auf Horaz und Ovid erinnert Augustinus an den Gedanken, dass ein wahrer Freund die eine Hälfte der eigenen Seele ist, so als ob gleichsam nur eine Seele in zwei Leibern lebte. Ähnlich beschreibt Goethe seinen Schmerz nach dem Tod seines Sternenfreundes Friedrich Schiller am 9. Mai 1805 in einem Brief an den Freund Carl Friedrich Zelter am 1. Juni 1805 drei Wochen später: »Ich dachte mich selbst zu verlieren, und verliere nun einen Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins« (Goethe, 1992, S. 98).

5 »Ich glaube, je tiefer ich den Freund geliebt hatte, um so tiefer haßte und fürchtete ich als den wütendsten Feind den Tod, der ihn mir entrissen hatte« (Augustinus, »Confessiones«, IV, 6, 11; 1980, S. 155). Das »wir« wird auch als maßgeblicher Zugang zur Todeserfahrung beim Tod Monikas, der Mutter Augustins, deutlich: »Also, weil sie, mein großer Trost, mich allein ließ, darum ward meine Seele verwundet, wie auseinandergerissen das Leben, das aus dem meinigen und dem ihrigen eins geworden war« (IX, 12, 30; 1980, S. 473). 6 Vgl. dazu die ausgezeichnete Analyse von P. L. Landsberg (2009, S. 58 f.); siehe auch Zwierlein (1989, S. 83 ff.). 7 Vgl. auch IV, 8, 13; S. 159.

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Praxis-Impuls WAS STIMMT DENN NUN ? Eine einfache Klavier-Übung Für diese kleine Übung sollten Sie irgendein Tasteninstrument zur Verfügung haben. Wenn der Trauernde bereit ist, soll er zunächst ein bis zwei Minuten nur auf den schwarzen Tasten spielen. Wenn er es möchte, kann er danach seine Empfindungen äußern. Im zweiten Schritt bitten Sie den Trauernden darum, nur auf den weißen Tasten zu spielen. Wieder kann er, falls gewünscht, seine Empfindungen mitteilen. Schließlich soll er in einem dritten Schritt ein bis zwei Minuten auf den weißen und den schwarzen Tasten spielen, was und wie er will. Im Anschluss kann er seine Empfindungen zu dieser Melange, dem Licht-und-Schatten-Spiel, der Tag-und-Nacht-Musik, der DurMoll-Stimmung erzählen. Wenn der Trauernde es wünscht, können nun die Erfahrungen aus den drei Sequenzen besprochen werden.

Bei meinem eigenen Tod mag ich noch eine Art »Narkose«, »Ruhe« oder »Gelassenheit« ins Spiel bringen wollen. Der erlebte und erlittene Tod »eines geliebten Wesens« aber ist »wesentlicher und tragischer« als der Gedanke an meinen eigenen Tod (Marcel, 1964, S. 80).8 Hier öffnet sich der Abgrund wirklich. Die »Betäubung« »wird in dem Augenblick unwirksam, in dem ich mich dem Tod des anderen gegenübersehe, sofern er tatsächlich ein Du für mich war« (Marcel, 1964, S. 81), wo also »Bande der Freundschaft, der Vertrautheit oder der Liebe« ein solches Maß erreichen, »daß ihr Verschwinden für mich eine Verletzung meiner Person bedeutet«: »Die Trauer aber, sofern sie echt ist, schließt die Möglichkeit dieser Narkose aus. Sie würde eine Narkose als Verrat empfinden« (S. 75). Die gewaltige Erfahrung des Todes erleidet Augustinus dadurch, 8 Vgl. auch Marcel: »[…] daß der Tod jenes Wesens, das wir liebten, allein es wert sei, den einen oder anderen von uns zu beschäftigen« (1974, S. 144).

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dass sie das »Liebes-Wir«, das er selbst ist, trifft, und das durch das Fortreißen des Freundes zerreißt. Damit berührt ihn auch die »gefühlte Bedeutung« der Todeserfahrung, nämlich eine Art wirklich gespürter Entzweiung, ein Riss oder eine Halbierung, in der die vormalige Einheit, die »unio«, die in der Liebe gestiftet war, zerstört wird.9 Der Riss geht wie ein gewaltiger Blitz mitten durch ihn selbst hindurch. Und weil er nicht »halbiert« und »hälftig« leben will, denkt Augustinus sogar an Suizid. Die Liebe bringt also eine besondere Erkenntnisqualität für die Todeserfahrung mit sich. Sie schenkt ein existentielles Wissen. Vergegenwärtigen wir uns dazu einen Gedichtausschnitt von Jewgenij Jewtuschenko:10 »Wenn ein Mensch stirbt, dann stirbt mit ihm sein erster Schnee und sein erster Kuss und sein erster Kampf […] all das nimmt er mit sich fort. Die Menschen gehen fort […] Da gibt es keine Rückkehr. Ihre geheimen Welten können nicht wiederentstehen. Und jedes Mal möchte ich von neuem Diese Unwiederbringlichkeit hinausschreien.«

Die mit dem Verlust eines geliebten Wesens erlittene Einsicht ist ein existentielles Wissen. Existentielles Wissen ist ein Wissen, das eine tiefgehende Bedeutung hat für unsere Existenz, also dafür, wie wir uns selbst verstehen können und wozu wir aufgerufen sind. Existentielles Wissen ist kein rein informatives Wissen, sondern ein transformatives Wissen. Es ist ein Wissen, das uns umformt und verwandelt.   9 Zur Wunde des »Zerreißens« siehe auch Augustins Seelenbeschreibung angesichts des Todes seiner Mutter (Augustinus, »Confessiones«, IX, 12, 29 f.; 1980, S. 471 ff.). 10 Vgl. auch die Nachdichtung von G. Kunert in Jewtuschenko (1972, S. 72).

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Existentielles Wissen ist dabei auch nicht einfach ein Wissen über etwas, sondern ein Wissen von und um etwas. Epikur sagt ja, dass sich Verstehen und Tod gegenseitig ausschließen. Niemand ist Erkenntnissubjekt seines eigenen Totseins. Kann es denn nun noch ein existentielles Wissen »von und um« den Tod geben, so wie wir zum Beispiel nicht nur über die Liebe etwas wissen können, sondern auch von und um sie wissen, weil wir sie erfahren und erleben? Wenden wir uns dazu noch einmal einem weiteren Abschnitt aus dem Trauerbrief Kants zu, in dem er zunächst über die Gleichgültigkeit des Menschen angesichts des fremden Todes spricht, um dann einen entscheidenden Hinweis zu geben: »Ob ihn gleich unter allen Übeln vor dem Tode am meisten grauet, so scheint er doch auf das Beispiel desselben bei seinen Mitbürgern sehr wenig Acht zu haben, außer wenn nähere Verbindungen seine Aufmerksamkeit vorzüglich erwecken. Zu einer Zeit, da ein wüthender Krieg die Riegel des schwarzen Abgrundes eröffnet, um alle Trübsale über das menschliche Geschlecht hervorbrechen zu lassen, da sieht man wohl, wie der gewohnte Anblick der Noth und des Todes denen, die selbst mit beiden bedroht werden, eine kaltsinnige Gleichgültigkeit einflößt, daß sie auf das Schicksal ihrer Brüder wenig acht haben. Allein wenn in der ruhigen Stille des bürgerlichen Lebens aus dem Cirkel derer, die uns entweder nahe angehen oder die wir lieben, die so viel oder mehr versprechende Hoffnungen hatten als wir, die mit eben dem Eifer ihren Absichten und Entwürfen nachhingen, als wir thun, wenn diese, sage ich, nach dem Rathschlusse dessen, der allmächtig über alles gebietet, mitten in dem Laufe ihrer Bestrebungen ergriffen werden, wenn der Tod in feierlicher Stille sich dem Siechbette des Kranken nähert, wenn dieser Riese, vor dem die Natur schaudert, mit langsamem Tritt herankommt, um ihn in eisernen Armen einzuschließen, alsdann erwacht wohl das Gefühl derer, die es sonst in Zerstreuungen ersticken.« (Kant, 1760/1902, Bd. II, S. 40)

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

In dem Maße also, in dem wir eine Verbindung mit anderen eingehen, die uns entweder nahe angehen oder die wir lieben, verwandelt sich der fremde Andere in einen Nächsten. Der Tod wird aus seinem abstrakten und distanzierten Kontext gelöst und zu einem Thema konkreter Beziehung. Ist die Verbindung noch nicht sehr nahe, so mag sie primär eine intellektuelle Einsicht mit sich bringen, eine Art Deutung des »tat tvam asi«: der, der da stirbt, ist mein »Bruder«, »das bin ich«, ich spüre fern ein Band der Verwandtschaft, ich sehe an ihm das Paradigma wirksam, von dem auch ich selbst ein Fall bin. Dies ist schon mehr, als das alte Schulbeispiel der Logik hergibt: »Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.« Wir können auch anders formulieren: Wenn alle Menschen sterblich sind, und wenn Sokrates ein Mensch ist, dann ist auch Sokrates sterblich. In diesen dürren Worten der Logik scheint alles klar. Und niemandem dürfte es schwerfallen, den Namen »Sokrates« durch den eigenen Namen zu ersetzen. Auch ich bin ein Mensch, auch für mich gilt, dass ich sterblich bin. Das ist logisch. Immerhin. Ist die persönliche Verbindung tiefer, so dass sie sich in einer Liebe gründet, erschließt das existentielle Wissen von und um den Tod noch einmal eine weitere Qualität der Einsicht. Wir sind damit auf jene ehrwürdige Tradition verwiesen, die sich von Augustinus über Pascal bis zu Max Scheler und Gabriel Marcel verfolgen lässt und die einen spezifischen Erkenntniszugang zur Erfahrung des Todes durch die Liebe betont. Der Tod eines geliebten Menschen gewährt eine erlebte Kenntnis und gefühlte Bedeutung des Todes (Landsberg, 2009, S. 38 ff.; 1934/1960, S. 57), die im Vergleich zu allem anderen unüberbietbar aufschließend ist. Das liebende Mit-Sein-zum-Tode ist die tiefste und innigste Möglichkeit, am Erlebnis des Todes zu partizipieren. Dieses Erleben lässt uns im Sinne Jewtuschenkos die »Unwiederbringlichkeit« des Nächsten »hinausschreien«. Wir fühlen unsere ganze Rat- und Auswegslosigkeit, die sich als unbeherrschbares Gefühl in uns ausbreitet. Wir spüren die lähmende Angst, der geliebte Mensch könnte endgültig vernichtet und in seiner Besonderheit und Einzigartigkeit unwie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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derbringlich ausgelöscht und verloren sein. Die Tiefe der Trauer ist eine Spiegelung der Liebe. Angesichts des Todes seines geliebten Freundes hat Augustinus das Entscheidende festgehalten. Betrachten wir noch einmal nur den einen einzigen maßgeblichen Punkt. In der Liebe, so sagt Augustinus, formt sich sozusagen ein neues Wesen: ein »nos«, nicht »ich«, nicht »du«, sondern ein »wir«. Wenn nun der geliebte Mensch stirbt, gehen der Riss und die Berührung des Todes mitten durch mich hindurch, insofern ich dieses »wir« bin. Ich sterbe mit: »›sein Tod ist mein Tod‹« (Marcel, 1964, S. 77). Hier gewinnt der Satz, den Menschen sagen, dass mit dem anderen ein Teil von ihnen selbst mit gestorben sei, seine eigentliche Wahrheit und Tiefe. Die Erfahrung des Todes wird mir auf eine unüberbietbare Weise in einer gefühlten Bedeutung als Erleben gegenwärtig. Ich fühle meine Sterblichkeit mit. Mein Wissen, dass ich ein Sterblicher bin, ist nun ein Wissen, das Intellektualität und Emotionalität umgreift. Es ist ein Wissen, das mir in keiner Weise mehr gleichgültig ist, sondern einen Prozess der Verwandlung auslöst oder doch zumindest auslösen kann. Es ist existentielles Wissen. Und der zurückbleibende Mensch wird sich darin, wie Augustinus es ausdrückt, zu einer »großen Frage«. Die Liebe macht das Geheimnis fühlbar. Der Mensch ist ungeheurer und gewaltiger als alles andere. Aber der Tod, den er nicht überwältigen und überlisten kann, »ein Riese«, wie Kant sagt, ist das Ungeheuerlichste – mitten in ihm, jener gefühlte Riss, mitten in ihm, eine unendlich leere Spur. In diese ungeheuerliche und gewaltige große Frage, die wir uns hier selbst geworden sind, können wir uns nur vertiefen. Definitiv beantworten können wir sie nicht. Die, die hier mit dem Stein der Weisen klimpern, als könnten sie uns eine abschließende Antwort geben, sind Lügner und Täuscher.

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

Praxis-Impuls GESUCHT UND GEFUNDEN Eine kleine Unterwasser-Übung Die Suchmannschaft ist nun schon lange unterwegs. Sie leiten sie. Gerade wollen Sie umkehren, da empfängt der Ultraschall-Empfänger die ersten Signale. Am nächsten Tag kann die Black Box geborgen werden. Nach dem tragischen Absturz des Flugzeugs werden Sie bald das letzte Lebenszeichen des Verstorbenen hören dürfen, der Ihnen so viel bedeutet. Der Stimmenrecorder wird abgespielt. Sie hören die Stimme, wie sie spricht. Welche Nachricht können Sie hören? Was sagt die Stimme? Wie lautet ihre Botschaft? Wenn der Trauernde möchte, kann er mit seinem Begleiter über das sprechen, was er gehört hat und empfindet.

Das Besondere, als das sich der Mensch entdeckt, kann er unter dem Begriff der Person fassen. Die Person ist die nicht vergegenständlichbare Sinnhaftigkeit der großen Frage. Sie ist die Vorstellung einer Einzigartigkeit, um die im Akt der Liebe gewusst wird. Die Trauer ist das Wissen um diese Liebe. Denken, das tröstet, wird diese Liebe wieder unter allem Schmerz sichtbar machen. Der, der liebt, entdeckt den anderen als das einzigartig Besondere und Andere. Der, der liebt, liebt über den Triumph des Todes hinaus, den er, soweit er liebt, nicht als endgültiges und letztes Wort für die geliebte Person hinnehmen kann. Während der Tod die große Vergleichgültigung ist, ist die Liebe das seinsbesorgte Kompliment der Besonderung, für die es die Ewigkeit erhofft: Ich will dich immer lieben, du sollst nie sterben, du sollst ewig leben. Hier mag es vielleicht eine Proportionalität geben. Je größer die Liebe, je inniger die Verbundenheit, desto tiefer der Schmerz, die Zerrissenheit, mit der der Tod aus dem vormaligen »Wir« ein zurückgelassenes einsames »Ich allein« gemacht hat. Diesen Schmerz und die mit ihm einhergehende Trauer teilen alle, die einen solchen Verlust der geliebten Person zu beklagen haben. Im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Schmerz der Trauer aber wird deutlich, dass Liebe eine Art MetaBotschaft ist, die sich durch alles, was hier geschieht, hindurchzieht. Sie ist der Grund der Trauer. Sie ist die Form, in der wir die Abwesenheit des Geliebten erkennend erleiden. Sie ist, was wir in den Untiefen des Abgrundes suchen, ersehnen und vermissen. Sie ist, was in uns zu bewahren wir aufgerufen sind. Sie ist, wozu wir überhaupt aufgerufen sind als Quintessenz des Menschseins. Sie ist nicht zuletzt der Kommunikationsweg, auf dem der Trauerbegleiter den Trauernden begleiten wird. Die Trauer des Trauernden belehrt über die Wahrheit und Wirklichkeit der Liebe. Denken, das tröstet, fördert aus dem Thesaurus der Trauer diesen Weisheitsschatz zu Tage.

Der Sinn ist die Dankbarkeit11 In den Danksagungskarten und den Danksagungsanzeigen nach der Bestattung wird all denen gedankt, die sich des Verstorbenen erinnert und Trost gespendet haben. Ihnen gilt ein herzliches Dankeschön. In den Traueranzeigen selbst findet sich gelegentlich ein verwandter Gedanke, der sich diesmal an den Verstorbenen wendet. Seiner wird in Dankbarkeit und Trauer, in Liebe und Dankbarkeit oder in dankbarer Erinnerung gedacht. Ihm wird ein ehrendes Andenken versprochen. Diese Formulierungen setzen uns auf die Spur der Frage, was der Sinn der Dankbarkeit in der Trauer sein könnte. Gehen wir hierfür noch einmal zurück zum Brief Dietrich Bonhoeffers aus dem Gefängnis Berlin-Tegel vom Heiligabend 1943 und sehen wir uns insbesondere seine weiterführenden Gedanken (»Ferner …«) an: »Zunächst: es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch garnicht versuchen; 11 Als Beispiel für empirische Forschungsergebnisse zur Dankbarkeit vgl. nur: McCollough, Emmons und Tsang (2002, S. 112–127).

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

man muß es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie garnicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft  – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren. Ferner: Je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.« (Bonhoeffer, 2013, S. 102, DBW 8.255)

Denken, das tröstet, wird den Sinn für Dankbarkeit ansprechen. Es wird sich in dankbares Denken verwandeln. Seine Gedanken werden danken. Dem Verstorbenen danken. Denken, das dankt, würdigt den Schmerz der Trauer als Sinngestalt. Der Trauernde, der vor allem Sinnzerbruch und Sinnverlust erlebt, wird allmählich auf das Sinngeschenk aufmerksam, das in der Trauer auf ihn wartet. So verwandelt sich das vergangene Schöne von einem Stachel zu einem kostbaren Geschenk in sich. Praxis-Impuls DIE ZAUBERTAFEL Ein Versuch, unter die Trauer zu schauen Da Schreibmaterialien wie etwa Pergament oder Papyrus in früheren Zeiten sehr kostbar waren, wurde das Aufgeschriebene später oft abgeschabt oder abgekratzt, so dass die Materialien erneut beschrieben werden konnten. Durch spezielle Verfahren kann man die »Schrift unter der Schrift« wieder sichtbar machen. Wir erkennen das Prinzip auch wieder, wenn wir beispielsweise an die Zaubertafeln oder Wunderblöcke denken, auf denen man das Geschriebene löschen kann. ( Vielleicht hat der Begleiter auch eine Zaubertafel zur Illustration bereit.) Bitten Sie den Trauernden sich vorzustellen, dass die Trauer das

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ist, was auf der Zaubertafel oder dem Wunderblock oder dem Pergament oder Papyrus steht. Nur für einen Moment soll er einmal die Trauer beiseite wischen (wenn er die Zaubertafel wählt) oder das Fluoreszenz-Verfahren anwenden (wenn er Papyrus oder Pergament wählt), um zu lesen, was unter dem Trauertext steht. Was wird dort sichtbar? Was liegt dem Vordergrund als Hintergrund zugrunde? Was werde ich dechiffrieren? Was leuchtet mir unter allen »Überschreibungen« entgegen? Wie lautet die Geheimschrift? Was steht auf der Rückseite der Trauer? Was ist die unter und in der Trauer verborgene Botschaft? Welche Weisung schickt der Verstorbene, wenn ich zum Text unter dem Text durchdringe? Über all das, was hierbei empfunden und gedacht wird, kann das Gespräch mit dem Begleiter aufgenommen werden.

Viktor Frankl spricht von drei großen Wegen des Sinns. Zum einen können Menschen durch schöpferische Werte, durch Schaffen, durch Kreativität sich spüren, sich selbst hervorbringen und zugleich etwas in die Welt bringen. Zum anderen sind sie in der Lage, aus dem aktiven Gestalten in die Sphäre der Erlebniswerte zu wechseln, wo sie die Geschenke des Lebens, Genüsse, Empfindungen, Kunst, Musik, Liebe, Natur und vieles mehr einfach annehmen, auf sich einströmen lassen und genießen. Schließlich, wenn wir nichts mehr ändern und gestalten oder genießen können, also die Sphären der schöpferischen Werte und der Erlebniswerte nicht mehr greifen, können wir doch noch durch unsere Einstellungswerte entscheiden, wie wir etwas sehen wollen.12 Bei dieser Art des Sehenlernens geht es nicht so sehr darum, einen optimistischen, frohen und hellen Blick statt eines pessimistischen und trüben Blicks auszubilden. Vielmehr geht es darum, überhaupt zu sehen, dass da etwas ist, was gut ist, und dass dieses Gute immer noch da ist und immer noch gut zu mir ist. Wir könnten sagen, es geht um Dank und Dankbarkeit. In Dank und Dankbarkeit, nach einem Cicero zugeschriebenen Bonmot nicht nur 12 Vgl. nur: Frankl (1987b, S. 130 ff.; 1946/1987a, S. 81 ff.).

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die größte aller Tugenden, sondern auch die Mutter aller anderen, äußert sich eine Wertschätzung dessen, was mir gegeben worden ist, die es von dem Geschmack des bloß Selbstverständlichen, Alltäglichen oder Gewöhnlichen befreit. Dies geschieht in der Trauer unter Schmerz. In pointierter Weise könnte man sagen, Trauer ist Dankbarkeit in weinender Gestalt. Dank ist ein gutes Gedenken. Das dankbare Denken dankt für die wertvolle Erinnerung. Sicherlich ist es auch so, wie Bonhoeffer sagt: je voller, schöner und reicher die Erinnerungen, desto größer der Schmerz der Trennung. Jede einzelne Träne erzählt davon. In der Dankbarkeit zeigen sich die Erinnerungen dann aber als etwas Unverlierbares, das eine Quelle der Freude bleiben kann. In der Erinnerung ist ein Schatz oder ein Vermächtnis aufgehäuft, das sich in meinem Innern seinen Raum nimmt. Es ist ein Ort, der schmerzt, weil die Erinnerungen auch auf etwas zeigen, was vermisst wird. Es ist aber auch ein Ort, der etwas hat, was der Vermisste hinterlassen und als Geschenk zurückgelassen hat. Der Zurückgelassene ist nicht allein. Denn der Geliebte hat dem zurückgelassenen Trauernden seinerseits etwas zurückgelassen. Ein Wort der Dankbarkeit.13 Dafür ist ihm zu danken. Der Dank für den Schatz dieser Erinnerungen, die im Trauernden aufbewahrt und in der Trauer angezeigt sind, ist das Bewahren des Andenkens, das allmählich den Blick verwandelt. Im Andenken denkt das Denken dankbar an die Liebe. Es be-wahrt ihr Bleiben. Diese Be-wahrung ist seine Aufgabe und Wahrheit.

13 In Conrad Ferdinand Meyers Gedicht »Abfahrt« aus dem Zyklus »Huttens letzte Tage« sagt der Sterbende seinen Dank: »Ich reise Freund, ein Boot! Ich reise weit./Mein letztes Wort … ein Wort der Dankbarkeit …« (1871/1968, S. 452).

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Praxis-Impuls HEUTE UND ÜBERMORGEN Auf dem Weg mit Symbolen und Bildern Für diese Übung brauchen Sie einen kleinen Korb mit Karten, auf denen Bilder und Symbole zu finden sind, die Lebenssituationen widerspiegeln können. Legen Sie sich als Begleiter also einen kleinen Fundus solcher Biographie- und Symbolkarten an. Breiten Sie diese als Kartenlaub vor dem Trauernden aus. In einem ersten Schritt soll er sich eine Karte wählen unter der Vorgabe »heute«. Wenn gewünscht, kann er seine Gedanken und Gefühle zu dieser Karte unmittelbar danach äußern. Im zweiten Schritt soll er sich eine Karte wählen unter der Vorgabe »übermorgen«. Wenn gewünscht, kann er seine Gedanken und Gefühle zu dieser Karte unmittelbar danach äußern. Danach besteht die Möglichkeit, mit dem Begleiter den weiteren Gesprächsweg zu gehen.

Der erste Dank, den das Denken abstattet, ist ganz elementar. Es ist der Dank dafür, dass es diese Liebe, die es nun zu beweinen gilt, in meinem Leben überhaupt gegeben hat. Der Dank richtet sich nicht auf dies und das, einzelne Gaben, sondern auf den Geber, der selbst das Geschenk und die Gabe in meinem Leben war. Dass der Trauernde ein Beschenkter war und ist, dass er dies in seinem Leben haben durfte, ist der erste trostreiche Gedanke. Er verbindet sich mit der Sinnqualität, dass dieses Geschenk durch nichts und niemanden mehr weggenommen und ausgelöscht werden kann.14 14 »Solche Dankbarkeit kann auch noch den Schmerz des Abschieds und die Trauer beim Tode derer überstrahlen, die unser Liebes gewesen sind. […] Haben wir dem, der unser Liebes war, unseren Dank gesagt, als er uns noch zu hören vermochte, so ist nun der Augenblick gekommen, in dem wir für ihn und dafür, daß er war und alles in ihm und zwischen uns gut war, die Dankbarkeit erfahren. Totenklage und Todesschrecken, die im Leiden und im Weggang des Lieben aufbrechen, verstummen und versiegen unter dem Aufbruch solcher Dankbarkeit« (Henrich, 1999, S. 162).

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Der zweite Dank ist der Dank für den Schatz konkreter Erinnerungen, der mit dem geliebten Menschen verbunden ist. In einen Achtsamkeitsübung wäre es möglich, diese kostbaren Erinnerungen oder einzelnen Gaben und Geschenke zu visualisieren, einzusammeln und wie Perlen aneinandergereiht als Kette der wertvollen Erinnerung mit sich zu tragen. Die Trauer ist der Verlustblick auf das, was genommen ist. Dankbarkeit ist die Schwester der Trauer. Sie sind einander nicht fremd. Auch sie weiß, wie die Trauer, um das Besondere. Aber ihr Blick wendet sich auf das, was war und bleibt. Das habe ich doch gehabt. Das wurde mir geschenkt. Dies ist mir nie mehr zu nehmen. Vieles ist verloren, dieses aber ist unverlierbar. Der Blick der Dankbarkeit dringt durch die Wand der Verluste zum Sehen dessen, was verblieben ist und immer bleiben wird. In das Weinen und Seufzen der Trauer mischt sich ganz allmählich die Freude über all das Beschenktsein, das mit dem geliebten Verstorbenen verbunden ist. Die Kindergeschichte »Frederik« von L. Lionni macht uns mit einer offensichtlich resilient hochbegabten Maus bekannt. Ihre besondere Begabung besteht darin, in guten Zeiten viel Sonnenlicht und Wärme, den Gesang der Vögel, viele gute Gedanken, Gefühle und Eindrücke, konstruktive Phantasien und Träume einzusammeln, also Ressourcen der Resilienz zu bilden oder aufzufüllen. Die Sonnenstrahlen, Farben und Wörter werden im Bedarfsfall, wenn es Winter wird und dieser neben Kälte auch den Verlust von Sonne und Licht und andere Nöte mit sich bringt, zur rettenden Quelle, um sich und anderen aus den angelegten Vorräten der Seele ein Überleben zu ermöglichen. »Und als Frederik seine letzte Geschichte erzählt hatte, war der Winter schon vorbei.« Für Frederik und die seinen wird Albert Camus’ Satz aus »Heimkehr nach Tipasa« (1957) Wirklichkeit: »In den Tiefen des Winters erfuhr ich schließlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt.« Im Winter der Trauer die Schätze des Sommers wiederzufinden, die in der Trauer selbst auf ihre Freisetzung warten, ist die Aufgabe des trostreichen Denkens. Trostvolles Denken öffnet in der Nacht den Durchblick zum Tag, in der Dunkelheit den Durchblick zum Licht. Trostvolles Denken bringt den Trauernden mit dem Licht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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in Berührung, das in der Trauer selbst verborgen ist. Dass sich der Trauernde diesem Licht öffnet, ist nicht zu erzwingen. Geduldig bleibt die Begleitung an seiner Seite. Ob und wann die Saat der lichtvollen, lichtweisenden, hellen und heilenden Worte und Gedanken aufgeht, liegt zuletzt nicht in unserer Hand. Dieses Licht entdecken und sehen heißt jedenfalls: wieder leben. Das Licht, auf das der Trost des Denkens zielt, ist jene Macht, die das Leben weckt und die Dinge verständlich, ansichtig und durchschaubar macht. Der Blick der Dankbarkeit ist dabei eine resiliente Form der Bewertung der Ereignisse. Er schenkt Trost durch positive Erinnerungen beziehungsweise dadurch, dass das Positive in den Erinnerungen zu Tage gefördert wird. Denken, das tröstet, wird die Kraft der Dankbarkeit für all das, was in der Trauer als Weisheit an Verbliebenem auf den Zurückgebliebenen wartet, aufwecken und ihre verwandelnde Kraft für den Trauernden nutzen. Praxis-Impuls ES WERDE LICHT Eine kleine Mal-Übung Für diese Übung brauchen Sie ein paar Malutensilien: Malpappe, Malfarben, Pinsel, ggf. Malkohle sowie eine Kerze. Leiten Sie den Trauernden zunächst an, den Malkarton (mit Farbe oder Kohle) schwarz zu malen. Wenn dies abgeschlossen ist, können Sie eventuell fragen: Ist es komplett schwarz? Ganz Nacht? – allerdings ohne darüber näher ins Gespräch zu kommen. Im nächsten Schritt soll auf die schwarz gemalte Pappe etwas anderes kommen: weiße Farbe oder vielleicht sogar bunte, aufgetragen, aufgetropft, aufgespritzt …  – lassen Sie den Trauernden entscheiden. Eine radikale Alternative wäre es, den Trauernden zu bitten, mit Hilfe einer brennenden Kerze ein Licht-Loch in das Bild zu brennen. (Achtung: Löschwasser bereithalten, falls mehr daraus wird als ein kleines Loch. Humor und Symbolik können auch mit dem »FeuerUnglück« eine Menge anfangen …)

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

Im Gespräch kann der Berater zum Beispiel nach der weißen oder den anderen Farben fragen: Was bedeutet die Menge? Die Farbe? Die aufgebrachte Stelle? und so weiter und so über Symbolik, Gedanken und Gefühlen ins Gespräch kommen.

Die Aufgabe ist die Selbstwerdung Der Dank für den Schatz der Erinnerung, das Andenken und Bewahren dessen, was als Gutes hinterlassen ist, sind nicht nur ein Blick zurück oder in die Gegenwart. Dankbarkeit ist zukunftsweisend. Sie öffnet den Blick für Aufgaben und Wege, die noch zu gehen sind. Sie greift über den Horizont der Gegenwart hinaus. Ebenso steht es um die Trauer. Die Aufgabe des Trauernden ist nicht nur Dank an den Verstorbenen für das Geschenk, das er war, und die Geschenke, die mit ihm ins eigene Leben gekommen sind. Der Dank denkt in die Zukunft und schenkt dem Trauernden die entscheidende Aufgabe: Werde, der du bist! In der Trauer ist das »Stirb und werde« präsent. Der zukunftsgerichtete Blick lenkt die Aufmerksamkeit auf das Werden. Denken, das tröstet, wird nicht nur Resilienz für die Trauer wecken, Kraft, um sie durchzustehen. Trauer braucht nicht nur Resilienz, sie weckt und schenkt auch Resilienz. In der Trauer liegt etwas, das uns stärken und uns verändern kann. Trostreiches Denken ist daher vor allem auf die Weisheit in der Trauer selbst gerichtet, die Kraft gibt, um mit ihr umzugehen. Aber der entscheidende Sinn der Trauer ist nicht allein, mit ihr umzugehen, sondern durch sie verwandelt und zu einem reiferen, bewussteren, reflektierteren Menschen zu werden: Trauer zwingt den Menschen in ernsthafte Reflexionsweisen, sie schärft das Verstehen und macht das Herz weicher.15 Der 15 John Adams in seiner Korrespondenz an Thomas Jefferson am 6. Mai 1816: »Grief drives men into habits of serious reflection, sharpens the understanding, and softens the heart« (The Adams-Jefferson Letters, 1959, 2, 473).

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Verstorbene fordert mich auf, mein tiefstes eigenes Wesen zu suchen, meine innerste Berufung zu finden, meine Lebenslust zu entwickeln. In seinem Gedicht »Stufen« schreibt Hermann Hesse von Erfahrungen des Abschieds und der Trauer, die wir tapfer durchstehen müssen, um in neue Räume eintreten zu können. Der Neuanfang, der das Ende des alten Lebens begleitet, weist einen »Zauber« auf, der diesen Neuanfang beschützt und Lebenshilfe gibt. Es ist der Zauber der Resilienz. Immer wieder zwingt uns das Leben zu neuen Aufbrüchen und Wandlungen. Aber es hält auch etwas bereit, um die Reise zu überstehen: »Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!« ist ein gutes Motto für die Resilienz, die im Sinn-, Hoffnungs- und Zukunftsgedanken des Neuwerdens liegt. Nietzsches bekannter Gedanke, dass derjenige fast jedes Wie erträgt, der ein Warum hat,16 ist zu ergänzen durch die Ausrichtung des Werdens auf das Wozu. Die Trauernden blicken in der Regel zurück. Die Blickwendung in die Zukunft fällt ihnen meist schwer. Was für eine Zukunft soll ich denn schon noch haben? Der Trost des Denkens macht deutlich, dass in der Trauer ein Weisheitskeim für eine neue, andere Zukunft liegt. Die Trauer ist ein Schatzmeister. Das Denken ist ihr Begleiter. Es hebt dem Schatzmeister die Schätze verstehend ans Licht. Der Dank nimmt das letzte Schwungrad der Trauer auf: Stirb und werde. Ja, werde! Neu leben. Du musst dich ändern: Du hast dich verändert, verändere dich. Wir können nicht dauerhaft im Ausnahmezustand bleiben. Wir müssen zurückkehren in den Alltag, in das Leben und seine Normalität. Aber wie? Verwandelt! So, dass wir die Weisheiten der Trauer, die Kostbarkeiten dieses Weisheitsschatzes als Proviant in unser weiteres Leben eingebracht haben und einbringen werden. Nimm den Impuls auf, und mache aus dem Tod ein Mittel zum Leben, aus der Trauer ein Heilmittel des Lebens. Die Besinnung auf den Tod, das Sterbenlernen, ist dazu da, wahrer leben zu 16 Genauer formuliert F. Nietzsche in »Götzendämmerung«, Sprüche und Pfeile, 12: »Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?« (1988, KSA 6, S. 60 f.).

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können. Abschiedskunst ist Lebenskunst. Werde, der du bist. Das Denken dient dem Leben. Die Weisheit des Denkens, das »aude sapere« (wage zu denken), unterstützt das »carpe diem« (pflücke den Tag) und das »aude vivere« (wage zu leben). Veranschaulichen wir uns diesen Gedanken zunächst anhand von zwei Bildern. Im Kapitel »Eine andere Sicht« haben wir auf das Höhlengleichnis Platons zurückgegriffen (Seite 17). Wir fügen hier eine Ergänzung hinzu. Wenn der aus der Höhle der falschen Gewohnheiten befreite Gefangene wieder in die Höhle zu den anderen zurückkehrt, nachdem er draußen lange im Sonnenlicht war, so wirkt er auf die Höhlenbewohner wie ein Betrunkener, der unsicheren Schrittes in die Höhle tappt und schwankt. Der, der nun außerhalb der Höhle gesehen hat, wie die Dinge wirklich sind, will den anderen von seinen Erfahrungen erzählen und macht dabei auf sie einen durchaus verrückten Eindruck. Und es ist ja auch verrückt für eine verrückte Welt im Schattentheater, was er da vom Licht erzählt. Sie hält den Vernünftigen für einen Wahnsinnigen und den eigenen Wahnsinn für Vernunft. Wer aber durch die Trauer in eine Bewegung seines Lebens gestoßen wurde, spürt, dass er zu einer Reise aufgerufen ist. In dieser Reise geht es nicht irgendwohin, sondern um ihn und zu sich selbst. Er selbst ist die Reise, die ansteht. Die Reise der Selbstwerdung, der Wachstums- und Verwandlungsprozess des eigenen Selbst steht an. Nichts ist mehr alltäglich oder selbstverständlich. Sogar die alltäglichsten und selbstverständlichsten Dinge sind ein Wunder. Praxis-Impuls ALLES HAT EINE GESTALT Leibhaftig trauern Was wir in der Sprache sagen, »vor Gram gebückt«, »niedergeschlagen«, »kraftlos« und so weiter, ist die Verwortung des Leibes. Gehen wir aus der Verwortung daher einen Schritt zurück in die Verortung des Leibes. Die Bewegung des Menschen von innen her, seinen Gefühlen und Gedanken, findet sinnenhaften Sinn-Ausdruck in der leiblichen Gebärde.

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Bitten Sie den Trauernden sich zu erheben. Nun soll er seinen Leib erzählen lassen: die Augen, das Gesicht, die Hände, die Haltung, das Stehen, Sichverhüllen …, was er heute wahrhaftig fühlt und ist und wie sich das für ihn anfühlt. Er soll und darf dem Ehre und Ausdruck geben. Nun, nachdem sich sein »hier und jetzt und heute« ausgesprochen hat im Leib, soll er im nächsten Schritt dessen innewerden, was sich im Leib anzeigt, wenn er an »zukünftig-dann-morgenübermorgen« denkt. Der Körper kann ruhig stehen und warten. Auch Überraschendes darf kommen. Es geht nur darum, durchlässig zu sein. Eine mögliche Variante oder Ergänzung könnte zum Beispiel für das »zukünftig-dann-morgen-übermorgen« das Hören auf den weisen Rat des Verstorbenen sein: Welche Haltung, welches Gehen und Stehen und so weiter spricht er mir zu?! In einem gemeinsamen Gespräch mit dem Begleiter besteht nun die Möglichkeit, die Leibsymbolik zusammen zu entschlüsseln.

Das zweite Bild zielt auf die Lehre vom Schmetterling. In der Trauer hat sich der Trauernde verpuppt. Wie eine Larve, einem Gespenst gleich, liegt er larviert in seinem Gespinst. Oft fast dem Tod ähnlich: ohne Regung, ohne Bewegung, minimales Leben, eingeschlossen in den Kokon der Trauer. Die Larve aber ist ein Zwischenstadium, eine Übergangsform, ein Wandlungsauftrag. Nun sind da die Geburtswehen, um aus der Höhle herauszukommen. Die Geburt ist mühsam, ein langer Kampf. Physiologisch pumpt der Kampf des Aus-Bruchs aus dem Kokon das Leben in alle Flügel. Würde ein gutmeinender Begleiter dem Schmetterling durch falsche Hilfe den Kokon öffnen und so den Ausgang abkürzen und scheinbar erleichtern, wäre dies fatal: Er könnte nicht mehr fliegen. Die Verwandlung bliebe unvollendet. Die Trauer auskosten bis zur Neige, um all ihre Wahrheit und Weisheit aufzunehmen, um verwandelt zu werden und dann wie ein Schmetterling den eigenen Flug aufzunehmen. Du musst die ganze Metamorphose durchlaufen. Denn in der Trauer findet ein Umbau deiner Welt und deines Selbst statt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Die Metamorphose wird dann vollkommen sein, wenn ich alle Reifungsaspekte aus der Trauer aufnehme und mich durch sie verwandeln und umgestalten lasse. Die Übergangsphasen sind in ihrer Dauer individuell. Aber der letzte Auftrag der Trauer und das letzte Geschenk des Verstorbenen an den Trauernden lautet schließlich: Werde du selbst! Jetzt trägst du noch als Larve die Totenmaske, die der Tod des geliebten Menschen dir aufgesetzt hat. Darunter aber wartet dein zukünftiges Leben. Noch sitzt du im Puppengehäuse, eingesponnen in die schweren Fäden deiner Trauer. Jedem ist seine eigene Puppenruhe zugewiesen. Jetzt aber heißt es: Steh auf und wandle! Zerbrich die Puppenwiege, die Zeit ist reif, der Flug steht an, die Reise der Selbstwerdung lockt uns heraus. Wenn der Trauernde ein solches Ja zu seiner Trauer findet (als Sinn, Aufgabe, Herausforderung, Wachstum und so weiter und sie in diesem Sinne »gut« nennen kann), wenn er eine positive, lichtvolle Weise zu sehen besitzt, eine Sinn-Sicht, die Licht findet und Licht bringt, dann öffnet und weitet sich der Lebensfluss wieder. Es entsteht ein Lebensraum für die Selbstwerdung. Der Trost, den das Denken dabei gibt, ist Geborgenheit. Geborgenheit bedeutet hier, das Verborgene der Trauer emporgehoben, gesichert, ans Licht gebracht zu haben. Es handelt sich um eine Bergung, wie man einen versunkenen Schatz birgt, aber auch wie man dem Ausgesetzten und Ängstlichen eine Herberge gibt. Das Denken findet in der Trauer in allen Formen zuletzt das Selbst des Trauernden und will es auf alle Weisen bergen. Denken, das tröstet, ist Selbst-Geborgenheit. »Erkenne dich selbst« steht als Inschrift im Tempel Apolls. Die Forderung des Gottes verweist uns auf das Frage-Sein des Menschen. Das Selbst, das wir da bergen, die große Frage, die wir sind, gleicht einem unendlich großen Land, dessen Kartographie weiterer Klärung harrt, einem dunklen Erdteil oder vielleicht dem Meer selbst, offen für alle Fahrten, die noch unternommen werden können. Die Exkursionen in die »terra incognita« des Frage-Seins sind ohne Ende. Und doch, so scheint es, laufen alle Fäden der Welt- und Selbstdeutungen in ihm zusammen. Selbst aber wenn alle Wege gegangen und alle Routen gefahren wären, die Menschen gehen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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und fahren könnten, würden ihre Versuche zuletzt doch im Unwegsamen enden wegen der maßlosen Tiefen und Abgründe in Wesen und Gesetz der Seele, die niemand abschreiten kann.17 Die Begegnung mit dem Frage-Sein des Menschen geschieht ohne definitive Antworten. Es gibt keine Garantien; keiner Antwort kann man sich sicher sein. Die Begegnung mit der großen Frage des Menschseins hinterlässt einen offenen und fortlaufenden Prozess des fragenden Geistes, der durch ein unendliches Land reist. Wie das Rätsel oder besser noch: das Geheimnis des Menschen zu lösen wäre, wissen wir nicht. Dieses Nichtwissen zieht um die großen Fragen, die den Menschen als große Frage ausmachen, einen Kreis der Intransparenz und hüllt sie in ein eigenartiges Dunkel. Augustinus hat für das Verstehen des Wesens Gottes die schöne Formel gefunden: »Si comprehendis, non est Deus«, wenn du es begreifst, ist es nicht Gott (Augustinus, Sermo 117, 5; 1980). Wir übertragen sie auf unser Menschsein. »Si comprehendis non est homo«, wenn du es zu umfassen vermagst, ist es sicher nicht die große Frage des Menschen, die du damit getroffen hast. Der Mensch bleibt zuletzt und im strengen Sinne unbegreiflich, ein Mysterium, kein lösbares Rätsel. Der Ausdruck »Geheimnis« oder »Mysterium« ist eine andere Formulierung unseres Denkens für die Uneinholbarkeit des Menschen, der alle Definitionen durchbricht: »der Mensch übersteigt den Menschen unendlich«.18 Der hiermit gedachte Geheimniszustand,19 die innere Unendlichkeit des Menschen, ist mit dem Todesmotiv sehr eng verknüpft. Der Mensch ist das Wesen, das weiß, dass es sterben muss, gleichgültig zunächst, durch welche Erfahrung ihm dieses Wissen zugäng17 So Heraklits Eintrag in sein geistiges Logbuch: »Der Seele Grenzen kannst du (im Gehen) nicht ausfindig machen, auch wenn du jeglichen Weg abschrittest; einen so tiefen Logos hat sie« (DK 22 B 45). 18 Pascal: »l’homme passe infiniment l’homme« (»Pensées«, 1997, 103 [131/34]). Vgl. Jaspers: »Der Mensch ist grundsätzlich mehr, als er von sich wissen kann« (1950/1978, S. 50). 19 Christensen, »Das Mysterium der Realitäten« (1999, S. 42–47); Christensen, »Der Geheimniszustand« (1999, S. 48–56).

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lich wird. Der Mensch ist ein sterbliches Wesen im reflexiven Sinne: Er weiß darum, dass er sterblich ist, ringt damit und bildet im Bezug darauf eine dramatische Existenz der Selbstwerdung aus. Das Fragen, das aus dem Tod erwächst, zeigt eine spezifische Not des Menschen an: »Wer hat die Fragen aufgebracht? Unsere Not. Wer niemals fragte, wäre tot« (Ringelnatz, »Mißmut«, 1994, S. 353). Wir fragen aus einer Not heraus, die in unserer Verfassung als Mensch wurzelt, aus einer Seins-Not heraus, die im Todesbewusstsein erwacht und gegenwärtig ist. Das Fragen des Frage-Seins »Mensch« ist seinsnotwendig. »Homo« sagt der lateinische Begriff für »Mensch« und teilt seine etymologische Wurzel mit »humus«. Der Mensch ist ein Wesen der Erde, erdgebunden und der Erde verhaftet. »Anthropos« sagt der griechische Begriff. Der Mensch ist das Wesen, das aufrecht steht und seinen Blick aufwärts zum Himmel und auf die Sterne richtet. Den Sternen ist er zugewandt.20 Stern und Staub ist der Mensch. Zwischen Himmel und Erde, gleichsam als ihr natürlicher Horizont, ist er gestellt. Die Metapher des Horizonts selbst rührt schon nahe heran ans »Utopische«. Die Grenze, die feine Horizontlinie zwischen Himmel und Erde, zwischen »diesseits« und »jenseits«, weder Engel noch Tier, ist der Raum des Humanen für ein Wesen, das beide Sphären berührt und durch beide gefordert ist. Als diese Grenze oder Horizontlinie ist der Mensch ein »Zwischeninne«, ein Übergang.21 Dass er keinen klaren Ort hat, wo er zu Hause ist, dass er keinen sicheren 20 Es sei auch an Kants Wort vom Menschen als einem vernunftbegabten Wesen erinnert, »das aufrecht zu stehen und den Himmel anzuschauen gemacht« ist (Kant, 1793/1902, Bd. VIII, S. 277). 21 M. Scheler: »Der Irrtum der bisherigen Lehren vom Menschen besteht darin, daß man zwischen ›Leben‹ und ›Gott‹ noch eine feste Station einschieben wollte, etwas als Wesen Definierbares: den ›Menschen‹. Aber diese Station existiert nicht und gerade die Undefinierbarkeit gehört zum Wesen des Menschen. Er ist nur ein ›Zwischen‹, eine ›Grenze‹, ein ›Übergang‹, ein ›Gotterscheinen‹ im Strome des Lebens und ein ewiges ›Hinaus‹ des Lebens über sich selbst« (1928/1976, S. 186). Vgl. hierzu kritisch Blumenberg (2006, S. 510 ff.).

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Ort besitzt, wo er Antwort auf sich findet, lässt ihn auf die Reise gehen und die Horizonte immer wieder verschieben. Der Mensch ist unterwegs zu sich selbst. Der Gott des »Zwischen« ist der Eros.22 Er lockt über den Fluss hinweg hinter den Horizont, wo das Versprechen eines unendlich Schönen liegt. Zu dieser Schönheit zieht und drängt er und macht aus dem Menschen eine erotische Existenz, ein Wesen der Sehnsucht. Wahre Sehnsucht, mit Goethes Wort, ist immer auf etwas Unerreichbares gerichtet. Der Eros soll weit über die Grenze(n) hinausheben und dem sterblich Begrenzten die Grenzen überwinden und Wege weisen. Immer in Bewegung lebt das Weg-Wesen sein Leben im Zeichen des Eros. Er setzt den Menschen in Bewegung in seiner Reise zu sich selbst. Die Entstehung des Eros ist erhellend für das Wesen, das wir sind. Eros, der Gott des Zwischen, des Übergangs, wird gezeugt am Geburtstag der Aphrodite. Die Mutter des Eros ist Penia, die Armut; denn notdürftig und bedürftig ist der Mensch, ein Mängelwesen voller Sehnsüchte nach Fülle und Schönheit. Vater des Eros ist Poros, Begleiter und Diener der Aphrodite, ein Liebhaber und Jäger alles Schönen und Guten, ein Meister der Mittel und Wege, der Furt, des Bruchs, ein kluger Fährmann, der sucht, ob sich nicht vielleicht doch eine Furt oder Brücke oder ein Übergang von einer Uferseite zur anderen Seite des Lebens finden lässt. Notdürftig und sehnsüchtig, kundig auf vielen Wegen, wandert der Mensch durch seine Lebens-Zeit. Es ist der Eros, in dessen Penia-Poros-Motiv das mütterliche Erbe der Armut und das väterliche der Wegsuche im Menschen walten, so dass er stets dem Guten und Schönen nachstellt und auf jedem Pfad nach gutem Leben ausspäht. In der Trauer spüren wir diese Doppelstruktur wieder in uns. Die Armut des Verlusts lässt uns klagen. Der Entzug des Gelieb22 Er ist »irgendwie dazwischen«, »in einer Art Mitte« (Platon, »Symposion«, 2008, 202b). So sieht auch P. Wust den Eros als »irdisch-überirdisches Zwischenwesen«, mit dem Platon »die Doppelnatur des Menschen von seiner Ewigkeitssehnsucht her« illustriert (1937/1962, S. 47).

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ten, der uns entrissen wurde, setzt uns in winterliche Not. Was wir alles vermissen. Was wir alles entbehren müssen. Wir sind in der A-porie, ohne Weg, ausweglos. Aber da ist auch das Erbe des Vaters im Eros. Die Trauer beschenkt uns mit der Kraft, Jäger des Guten und Schönen zu sein. Das väterliche Erbe, findig und geschickt, ist ein Meister der Wege und der Mittel. In ihm bringt Eros dem Trauernden die Wanderschaft, zwingt ihn auf den Weg und veranlasst die Suche nach dem schönen Anderswo. Auf jedem Weg und Pfad späht er danach aus, ob sich nicht ein Weg finden lässt für den Übergang, eine Bruchstelle, eine Furt, eine Brücke oder eine Überfahrt in ein neues Leben. So lange der Weg seine Bahn sinnhaft schenkt, wandert das Weg-Wesen Mensch guten Mutes, unbekümmert und wie im Schlaf seiner Fragen. Endet aber der Weg oder kündet sich die Weglosigkeit an, so erhebt sich mit der Aporie das existentielle Fragen. Nirgendwo geschieht dies tiefgreifender als in den Erfahrungen der Liebe und der Trauer. Der Trauernde ist durch den Verlust des geliebten Menschen in die Ausweglosigkeit geraten. Weglosigkeit hat ihn ins »Aus« geführt und an sein Ende gebracht. Alle Wege enden. Keine Wege mehr. Weg-los. Aus. Der Mensch gerät in die Ursituation des radikalen Fragens und entdeckt sich selbst dabei als große Frage. Von dem Fragen, das in diesen Fragen wirksam ist, gilt: »Das Fragen baut an einem Weg« (Heidegger, 1953/2000a, S. 7). Es muss doch ein neuer Bruch (»poros«) ins Dickicht des Undurchdringlichen gewagt werden, der einen Weg eröffnet. Die Aufgabe, die auf den Trauernden wie eine Bürde lastet und wartet: Sie müssen nun ihre Wege und Auswege aus dem Ausweglosen suchen, das der Schmerz der Trauer ihnen auferlegt hat. Ihr »Aus« muss ein »Heraus« aus der Weglosigkeit werden. Aus-Wege aus der Aporie. Im Trauer-Weg wird also ein Durch-Bruch (»poros«) gewagt werden. Man muss neue Wege finden, für die es noch keine Wegbeschreibungen gibt. Aus der Bürde muss ein Erbe werden, aus dem eine neue Zukunft sich öffnet. Jeder Weg führt über das Gegebene hinaus. Der Weg aber bleibt utopischen Charakters, weil sein letz© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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tes Ziel ungegeben, unbegreifbar und unerreichbar anders ist. Die unverfügbare Selbstwerdung ist dieses große schöpferische Ziel des trauernden Herzens.23 Was für ein eigenartiges Wort: Bruch. Poros. Es ist in seiner ganzen schrecklichen und schönen Vielfalt in die Trauer des Trauernden eingeschrieben. In der Trauer war zunächst Zusammenbruch. Alles, was fest stand, kollabierte. Zerbrochen wurde alles wohlgefügte Leben. Zusammenbruch und Zerbruch, die ersten große Brüche. Das Herz ist bitterlich, tödlich verwundet: gebrochen und aufgebrochen. Und dann, in dieser schwärzesten Nacht, beginnt die intime Dialektik des »Stirb und werde«. Aus der zerbrochenen Alabasterflasche strömt Wohlgeruch. Ich muss mich besiegen und zerbrechen lassen. Ich muss durch den Zerbruch hindurchgehen, um mit den neuen Möglichkeiten, die in mir liegen, in wirkliche Berührung zu kommen. Geburtswehe eines neuen Lebens. Geburtswehen eines neuen Selbst. Auch ein Geschenk und Auftrag des Betrauerten an mich. Aufgang und Untergang. Die erste Aufgabe ist die Aufgabe. Die Gabe der Aufgabe folgt erst nach dem Aufgeben. Erst nach dem Aufbruch des Herzens kann Aufbruch zu neuem Leben gelingen. Erst jetzt kann es zum Anbruch eines neuen Morgens, eines neuen Tages nach der Nacht kommen, der mich noch einmal zur Welt und neu zu mir selbst bringt. Alle Brüche der Trauer sind Wege und Furten des Lebens.

23 Zum Zusammenhang von Trauer und Selbstwerdung beachte man die gleichnamige Dissertation von S. Brathuhn (2006). Vgl. auch die für 2015 geplante Publikation: S. Brathuhn, Werdeschritte und Begleitansätze im Prozess der Trauer. Ein dynamisch-innovatives Modell zur Begleitung trauernder Menschen.

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Praxis-Impuls ÜBER - BRÜCKUNG Eine Drei-Metaphern-Übung Stellen Sie sich einen Fluss vor. An dem einen Ufer stehen Sie. Das ist der Ort, an dem Sie heute stehen und zu dem Sie Ihre Lebensgeschichte geführt hat. Finden Sie für diesen Ort eine Metapher, ein Sprachbild: »Hier ist es so wie …« Träumen Sie sich nun hinüber auf die andere Seite des Flusses. Wie könnte die Metapher für dort drüben lauten?! Finden Sie Ihre Metapher für das andere Ufer. Nun gibt es eine Möglichkeit der Überfahrt oder Überbrückung: von einem zum anderen Ufer. Welche Metapher kommt Ihnen in den Sinn für diesen Übergang? Wenn der Trauernde möchte, kann er am Ende über alle drei Metaphern mit seinem Begleiter sprechen.

So also ist der Mensch auf der Reise der Selbstwerdung, auf die ihn die Trauer wie wenige andere Dinge im Leben hinweist und mahnt. So also sucht er nach wesentlichem Weg im Zeichen des Eros, als ein Weg-Wesen, ein »homo viator« durch und durch. Wir erinnern uns an Hölderlins Zeilen aus dem Schicksalslied Hyperions: »Doch uns ist gegeben Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab.« Hölderlin (1797–1799/1994, Bd.  2, S. 207)

Die Ortlosigkeit, in die der Mensch als utopisches Wesen versetzt ist, ist kein Ort des Verweilens, kein Zuhause. Der Mensch als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Weg-Wesen ist ein Wanderer oder Pilger auf der großen Reise seines eigenen Lebens.24 Noch wissen wir nicht, was wir sein werden, sein können und sein sollen. Im Unterwegssein auf verschlungenen Wegen ergreift der Mensch sich als Aufgabe der Selbstwerdung. Er antwortet auf das Frage-Sein, das er ist, mit einem existentiellen Experiment. Er wagt einen Weg. In diesem Selbstversuch sucht sich der Mensch verantwortlich zu bestimmen. Der Mensch fühlt, dass er sich die Antwort auf sich selbst schuldig ist. Im Vorgriff auf die erhoffte Einheit oder das ersehnte Gelingen seiner problematischen Existenz macht er sich auf den Weg und begibt sich auf jene Reise, die er sein Leben nennt und in der er seine Selbstwerdung wagt. Als archetypische Bilder dieses Unterwegsseins können uns Kolumbus und Odysseus dienen, in denen sich die Sehnsüchte nach Wanderschaft und Heimat zeigen. Beide begeben sich zur See, aufs Meer: »Das Meer gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte« (Hegel, 1982, S. 118).25 Auf diesen Ausfahrten, in diesen Wagnissen, mit diesen Abenteuern, so hoffen wir, finden wir vielleicht doch am Ende zu uns selbst. Meeresfahrten aber sind eine bewusste Grenzverletzung. Ein Übergang vom Begrenzten zum Unbegrenzten. Sie sind der symbolische Ur-Sprung vom Wirklichen ins Mögliche. Der Mensch verlässt den ihm angestammten Ort, den festen und sicheren Grund der Erde, und wagt sich in ein neues Element, wagt sich hinaus aufs offene Meer, ins Ungewisse und Unberechenbare auf einem Stück Holz, dem ihm verbliebenen Stück »Erde«, das ihn auf neuer 24 »Überhaupt aber ergeht es uns im Leben wie dem Wanderer, vor welchem, indem er vorwärtsschreitet, die Gegenstände andere Gestalten annehmen, als die sie von ferne zeigten, und sich gleichsam verwandeln, indem er sich nähert. Besonders geht es mit unseren Wünschen so. Oft finden wir etwas ganz anderes, ja, Besseres, als wir suchten; oft auch das Gesuchte selbst auf einem ganz anderen Wege, als den wir zuerst vergeblich danach eingeschlagen hatten« (Schopenhauer, 1851/1988, S. 409 f.). 25 Vgl. insgesamt auch Blumenberg (1979).

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Fahrt begleiten und tragen soll. Die Eroberung des Meeres verändert auch jene imaginäre Linie des Horizontes, in der sich Himmel und Erde treffen. Insofern der Mensch selbst dieser Horizont ist, wagt und verändert er auch die Reise zu sich selbst.26 Der Mensch öffnet sich den Horizont, der ihn nun nicht mehr als feste Grenze unverrückbar einfasst, sondern verschiebbar und veränderbar wird: »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« ist die Losung dieser Horizontverschiebung (Nietzsche, 1988, KSA 3, S. 529 f.).27 Kolumbusfahrten sind jene Fahrten und Experimente, die den Aufbruch kennzeichnen, das Wagnis, Neuland zu finden, Expeditionen ins Ungewisse zu unternehmen, neue Kontinente zu erobern.28 Kolumbus hatte den Traum, wie die antiken Philosophen Aristoteles, Strabo und Seneca, mit denen er sich beschäftigte, von den Säulen des Herakles aus westwärts den Ozean nach Asien zu überqueren. Den westlichen Seeweg ins östliche Indien, dem Indien der Spezereien, diese gefährliche Westfahrt, um neue Welten zu erobern, wollte er wagen. Fährt Kolumbus hinaus ins offene Meer, um bisher Unbekanntes zu entdecken, wagt Odysseus als Entdecker, der auf seinen Irrfahrten reift, seine Abenteuer mit dem Ziel, wieder nach Hause zu kommen. Auch der wütende und beleidigte Poseidon, dessen Sohn Polyphem durch Odysseus geblendet wurde und dabei sein einziges Zyklopen-Auge verlor, kann ihn nur aufhalten. Das Meer bringt ihn zwar nicht um,29 aber es treibt ihn in immer neuen Irrfahrten fort von der Heimat. An fremde Küsten verschlagen, sehen wir ihn klagend und voller Sehnsucht nach sei26 Vgl. Horkheimer und Adorno: »Die Abenteuer, die Odysseus besteht, sind allesamt gefahrvolle Lockungen, die das Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen« (1947/1997, S. 64). 27 Vgl. auch Buch I, Nr. 46 (1988, KSA 3, S. 411 f.). Vom launischen Wind des Schicksals umspielt ist »unser Lebensweg […] dem Lauf eines Schiffes zu vergleichen« (Schopenhauer, 1851/1988, S. 458). 28 »Der letzte, dem Menschen unbekannte Kontinent ist bekanntlich der Mensch« (Morin, 1974, S. 141). 29 Jedenfalls nicht während der Odyssee. Aber am Ende seiner Tage ereilt ihn doch ein Tod aus dem Meer, ob nun sanft oder nicht, darin ist sich der Mythos nicht einig.

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ner Heimatinsel Ithaka. Stets hofft er auf Heimkehr.30 Immer wieder versucht er, sich den ihm vom Schicksal auferlegten Grenzen zu widersetzen. Nichts kann den ewig Fahrenden von seinem Weg abbringen. Doch er kehrt nicht als der zurück, als der er ausgezogen ist. Und er kommt auch nicht dort an, wo er zu Hause sein kann. Unerkannt landet Odysseus auf Ithaka und nimmt Quartier in der Behausung des »göttlichen Sauhirten« Eumaios. Nur sein altersschwacher und sterbenskranker Jagdhund Argos und später seine treue Amme Eurykleia erkennen ihn wieder. Gleichsam kehrt er von seinen »Irrfahrten« zurück in eine andere »Irre«. Beide, Kolumbus und Odysseus, wir betrachten sie nun als Metaphern der Selbsterkundung und Selbstwerdung,31 erreichen ihr Ziel, die endgültige Verwirklichung des Selbst, nicht. Ihre Fahrten sind auch nur die beiden Seiten des Unterwegsseins, seine progressive und seine konservative Seite, gleichsam das Ein- und Ausatmen einer einzigen Bewegung von Sein und Werden des Menschen. Aber beide wagen doch das Unmögliche. Menschsein, das sind Kolumbusfahrten zu immer neuen Horizonten und Odysseusfahrten immer wieder nach Hause. Man mag den romantischen Gedanken des Novalis hier gern nennen und auch gelten lassen: Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause (Novalis, 1802/1999a, Bd. 1, S. 373).32 Doch dieses Zuhause bleibt, wegen der Größe und Unausdenkbarkeit des Frage-Seins, 30 »Die Wanderschaft in der Wegrichtung zum Fragwürdigen ist nicht Abenteuer, sondern Heimkehr« (Heidegger, 1953/2000b, S. 63). 31 So beginnt Homer die »Odyssee« damit, dass Odysseus auf seinen Fahrten die Erfahrung der Menschen- und Selbsterkenntnis gewann, so dass die äußere Reise mit der inneren korrespondiert: »Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach wurde verschlagen, seit Trojas heilige Burg er zerstörte. Vieler Menschen Siedlungen sah er und lernte ihr Wesen kennen und litt auf dem Meer viel Schmerz in seinem Gemüt.« »Odyssee« ist nur der Name für das mühevolle Drama des menschlichen Daseins schlechthin. 32 Vgl. auch Novalis’ Gedanken, dass Philosophie eigentlich Heimweh sei, der Trieb, überall zu Hause zu sein (Novalis, 1798–1799/1999b, Bd. 2, S. 675, Nr. 857).

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stets ein Utopia, ein »Anderswo«, eine »terra incognita«, ein Nirgend-Ort und Niemandsland, dunkler Kontinent und unbekanntes Land. Die »blaue Blume« ist das romantische Sehnsuchtsmotiv, in der das Frage-Sein erkundet, verstanden und gelöst wäre. Doch der Stand aller Menschen hierzu ist der Ausstand. In der Empfindung allen Ungenügens zeichnet sich die Sehnsucht nach etwas außerordentlich Schönem ab. In dieses »schöne« Abenteuer der Selbstwerdung, mit dem wir doch nie fertig werden, stürzt uns jeder Atemzug aufs Neue. Selbstwerdung als Reise zu sich selbst ist Thema eines jeden Menschen, das des Trauernden aber insbesondere. Er ist durch eine krisenhafte Erfahrung dazu aufgerufen, sich selbst und die Welt in einem neuen Licht zu betrachten. Er hat durch den Tod des Nächsten für einen Moment »hinter den Vorhang geschaut« und gesehen, dass die Dinge, die Welt, er selbst ganz anders sind, als er dies bisher angenommen hat. Mit diesem »anders« und seinen Veränderungen muss er leben. Mit diesem Blick zerbrechen alte Sichtweisen, Vertrautes geht verloren und der Ruf ist da, sich in diesem neuen Licht wahrzunehmen, zu erkennen, anzunehmen und sich schließlich eine neue Gestalt zu geben. Worauf der Begleiter des Trauernden achten kann, inwieweit Denken Trost geben kann, ist nun in vielerlei Hinsicht angesprochen worden. Betrachten wir noch ein letztes Bild, das die achtsame und sensible Begleitung im Dienst der Selbstwerdung des Trauernden erhellt. Das Märchen »Der Froschkönig« heißt bekanntlich auch »Der eiserne Heinrich«. Der eiserne Heinrich ist der Freund des Prinzen. Nachdem der Prinz in den Frosch verwandelt worden war, hatten sich Heinrich aus Gram und Trauer drei eiserne Bande um sein Herz gelegt. Schließlich aber, nach der Rückverwandlung des Prinzen, springen ihm in der gemeinsamen Kutschfahrt seines Herrn mit dessen geliebten Gemahlin nach und nach diese drei Eisenbänder auf und fallen von seinem trauernden Herzen ab. Der Krach der aufspringenden Bänder ist so groß, dass der Prinz jedes Mal glaubt, es sei der dahinsausende Kutschenwagen auf der Fahrt zurück nach © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Hause gebrochen. Doch es lösen sich nur jene Ringe, die sich um das betrübte Trauerherz gelegt hatten, weil nun der Königssohn »erlöst und glücklich« war. Nehmen wir dieses Verwandlungsmärchen und alle seine Figuren als Bild einer Seele. Die Arbeit des Denkens ist es, die einschnürenden Bande der Trauer geduldig aufzusprengen, um der Lebensreise des wahren Selbst zu Glück und Liebe wieder Raum zu geben. Das trostreiche Denken versucht das, was uns einengt und von uns selbst trennt, aufzulösen. Es befreit von den eisern und starr gewordenen Umklammerungen der Trauer und öffnet dadurch für die wieder erneut anhebende Arbeit der Selbstwerdung. Offen ist der Ausgang der Reise. Glück und Erlösung des Königssohnes stehen noch dahin. Aber Raum und Zeit für ihren Zufall sind wieder aufgeschlossen. Die abenteuerliche Fahrt der Verwandlungen geht weiter. Die Aufgabe des tröstenden Denkens ist hier also eher negativ als positiv. Sie hilft mehr, die Verwirrungen unserer Trostlosigkeit aufzubrechen und Trosthemmnisse zu beseitigen, als durchdringenden und endgültigen Trost geben zu können. Sie wird, wie wir durchgehend deutlich gemacht haben, vor allem den Trost suchen, der in der Trauer selbst als Weisheitsschatz und Lebenslehre liegt. Paul Ludwig Landsberg hat in seinem Essay »Die Erfahrung des Todes« (2009) sehr gut herausgestellt, dass Menschen Wesen der Hoffnung sind. Sie sind von ihrem Wesen her auf bleibendes Sein und die Verwirklichung ihrer selbst, auf Seins- und Selbstbejahung ausgerichtet. Trauer, Schmerz und Leiden reißen Wunden in diese Hoffnungsstruktur des Menschseins. Sie zeigen, wie verletzlich wir sind. Aufgabe des Denkens ist es, so weit es dies durch seinen Zuspruch vermag, den Menschen so zu ermuntern, dass er seine innere Stärke, seinen Halt und seine Festigkeit wiederfinden oder ergreifen kann, um die Arbeit an seiner Selbstwerdung fortzusetzen. Denken macht Mut zu dieser Hoffnung und verwandelt Blick und Bezug auf den, der unser Liebes war und ist:

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Weisheitsimpulse – Gute Gedanken für Trauernde und ihre Begleiter

»Steh nicht weinend an meinem Grab. Ich liege nicht dort in tiefem Schlaf. Ich bin der Wind über brausender See. Ich bin der Schimmer auf frischem Schnee. Ich bin die Sonne in goldener Pracht. Ich bin der Glanz der Sterne bei Nacht. Wenn du in der Stille des Morgens erwachst, bin ich der Vögel ziehende Schar, die kreisend den Himmel durcheilt. Steh nicht weinend an meinem Grab, denn ich bin nicht dort. Ich bin nicht tot. Ich bin nicht fort.« 33

33 Die Autorenschaft ist nicht völlig klar; Joyce Fossen oder Mary Elizabeth Frye werden neben anderen genannt.

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Anhang: Im Garten goldener Sätze spazieren gehen

Die Gedanken, die als tröstendes Denken in diesem Buch ausgebreitet sind, haben es mit den großen Herausforderungen des Lebens zu tun. Da ist der Tod, der uns jemanden entreißt, den wir lieben. Unser Leben zerbricht. Wir trauern und suchen Trost, Trost, den auch das Denken schenkt. Und in allem wartet die Aufgabe der Selbstwerdung, in der unser Leben neu glücken kann. Diese sieben Themen kommen in diesem Anhang noch einmal auf andere Weise zu Wort. Dazu bedienen wir uns der Metapher des Gartens. Bertrand Russell wird das Wort zugeschrieben: »Wenn ich mit intellektuellen Freunden spreche, festigt sich in mir die Überzeugung, vollkommenes Glück sei ein unerreichbarer Wunschtraum. Spreche ich dagegen mit meinem Gärtner, bin ich vom Gegenteil überzeugt.« Der Gärtner in seinem Garten weiß etwas vom Glück. Nicht umsonst wird sogar das Paradies als ein Garten Eden vorgestellt. Ein Garten beglückt und erfreut. Im Garten blüht und gedeiht es. Dort ist Leben, Wachsen und Werden, Reifen und Entfalten, Grünkraft überall. Die Sinne werden durch Düfte, Farben und Schönheit angesprochen. Bäume und Blumen und Früchte zaubern eine Art Gegenwelt herbei. Der Garten erweitert in gewisser Weise den Wohnraum in Richtung auf gestaltete Natur. Dort, im Garten, nimmt der Gärtner seine Arbeit auf. Er greift in die Erde und gründet in diesem sonderbaren Raum, dessen Grenzen offen sind, eine Zwischenwelt zwischen Chaos und Kosmos. In aller Mühe und Arbeit wird der Gärtner zum Mitschöpfer an der Grenze von Natur und Kultur. Der Garten ist © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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Anhang: Im Garten goldener Sätze spazieren gehen

ein Raum, in dem die Zeit gestaltet wird. In ihm spiegeln sich Innen und Außen. Die gestaltete Natur reflektiert den in sie gelegten Geist. Eine gestaltete Selbstreflexion im Medium der Natur wächst heran. Der Garten ist eine Art Lehrer für Muße und Arbeit, Besinnung und Geduld, Verantwortung und Geschenk, Gestalten und Lassen. Er hat seine eigene Weisheit. Er ist eine Oase der Ruhe. Kein Wunder, dass er ein Platz für die ist, die die Weisheit lieben. Die Philosophie des Abendlandes nahm ihren Anfang in Gärten. Im Garten haben die Freunde der Weisheit über die Kunst des Lebens nachgedacht. Platon legte vor den Toren Athens einen Olivenhain an und gründete die erste Akademie. Sein Schüler Aristoteles lehrte im Lykeion, einem kleinen Park, wo es auch eine Wandelhalle gab, und fand dort den Ort der Muße für das gute Denken. Epikur lebte und philosophierte mit Freunden im eigenen Garten. Weisheit geht gleichsam im Garten spazieren: Hier kann man in Ruhe seinen Gedanken nachgehen. Im Garten geht das Denken einher. Entsprechend kann Cicero sagen: »Wenn Du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen.« Diesen Gedanken wollen wir auf die Hauptthemen dieses Buches anwenden. So wie der Wohnraum durch den Garten erweitert wird, kann auch der Gedanken-Garten eine zweite Wohnung werden, in der wir neu inspiriert werden. Wir stellen uns also vor, dass wir sieben Denk-Gärten anlegen, in denen man spazieren gehen und seinen Gedanken nachgehen kann. Zwischen diesen Gedanken-Gärten gibt es viele Verbindungswege und Übergänge. Leicht kann man zwischen ihnen hin und her gehen. Oder länger in einem einzigen verweilen und sich in seine Gewächse vertiefen. Jeder wird seine eigenen Wege durch diese Gärten machen. Dessen unbenommen möchte ich einen kleinen Vorschlag machen. Ignatius von Loyola warnt uns vor Oberflächlichkeit: »Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Befriedigung, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge.« – Wie kann man also ein guter Gärtner seiner eigenen Seele werden? Denn die Blumen und Bäume und Früchte dieser Gedanken-Gärten sollen ja Trost und Orientierung geben und Selbstwerdung unterstützen. Wie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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können wir verhindern, dass die Gedanken in diesem Garten nur Sprüche sind, die wir aufsagen? Denn: »Nicht die Sprüche sind es, woran es fehlt; die Bücher sind voll davon. Woran es fehlt, sind die Menschen, die sie anwenden« (Epiktet). Damit aus den Gedanken-Gärten bedeutungsvolles Wissen wird, Wissen, das anspricht und verwandelt, existentielles, transformatives Wissen, Wissen, das uns hilft, neu sehen zu lernen, das heilt und tröstet und inspiriert, müssen wir näher an diese Gedanken heran oder die Gedanken näher an uns heranlassen, um sie in uns aufzunehmen. Denn die Gartenarbeit findet genauso innen wie außen statt. Ganz praktisch könnte das so aussehen. Gehen Sie im Gedanken-Garten spazieren. Freuen Sie sich über alles, was Sie da sehen können. Nehmen Sie sich Zeit, von großen Zeugen des Lebens und Denkens Quintessenzen ihrer Weisheit zu hören. Und während Sie durch den Garten spazieren, markieren Sie, was Sie besonders anspricht (siehe Auflistungen ab Seite 113). Wählen Sie sich dann aus den markierten Gedanken drei bis fünf Sätze aus, die Ihnen besonders wichtig sind. Suchen Sie nun das Gespräch mit den großartigen Gesprächspartnern, denen Sie diese Sätze verdanken. Was könnte gemeint sein? Und suchen Sie auch das Gespräch mit sich selbst: Warum sind gerade diese Gedanken mir so wichtig? Sie können diese Gespräche noch um eine lebendige Variante erweitern. Machen Sie den Spaziergang zum Beispiel mit einem oder mehreren anderen Menschen. Dann tauschen Sie sich darüber aus, welche Sätze und Gedanken jeweils Ihnen und dem anderen bedeutungsvoll sind. Danach können Sie in einen Dialog dazu gehen und einander zu verstehen versuchen. Oder einer kann den anderen zu den ausgewählten Gedanken interviewen. Alle diese Dinge helfen dabei, dass die Gedanken ihre wertvolle Substanz besser an uns abgeben und dadurch unsere Seele und unseren Geist besser ernähren können. Die Spaziergänge in den Gedanken-Gärten zeigen das Denken in Aktion. Dieses Denken kann trösten, indem es die Aufgabe der Selbstfürsorge ernst nimmt. Der Gärtner der eigenen Seele sucht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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nach gutem Saatgut, und wenn er etwas Geeignetes findet, wird er es in sich aussäen und auf gute Ernte hoffen. Er folgt dem alten Grundsatz von »Säen und Ernten«, in dem sich doch auch das »Stirb und werde« variiert, und entspricht dem Gedanken, der sich in der Weisheit des Talmud findet: »Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.«

Es beginnt mit dem kleinen Saatgut der Gedanken; und in gewisser Weise sind und werden wir dann, was wir denken.

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Im Garten goldener Sätze des Denkens  

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Im Garten goldener Sätze des Denkens ӹӹ Anfang und Ende der Dinge werden dem Menschen immer ein Geheimnis bleiben. Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er stammt, wie die Unendlichkeit zu erkennen, die ihn verschlingen wird. (Pascal) ӹӹ Denken ist schwer. Darum urteilen die meisten. (C. G. Jung) ӹӹ Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. (Kant) ӹӹ Wage es, weise zu sein, fange an damit! (Horaz) ӹӹ Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt. (Shakespeare) ӹӹ Leben ist Denken. (Augustinus) ӹӹ Unser Leben ist das, wozu es unser Denken macht. (Marc Aurel) ӹӹ Denken heißt Überschreiten. (E. Bloch) ӹӹ Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforsch­ liche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren. (Goethe) ӹӹ Der Weisheit erster Schritt ist: alles anzuklagen. Der letzte: sich mit allem zu vertragen. (G. Chr. Lichtenberg) ӹӹ Wer andere kennt, ist klug; wer sich selber kennt, ist weise. (Laotse) ӹӹ Erkenne dich selbst. (Inschrift am Tempel des Apoll in Delphi) ӹӹ Erkenne dich selbst und tue das deine. (Platon) ӹӹ Bemerke, höre, schweige, urteile wenig, frage viel. (A. von Platen) ӹӹ Nachdenken enthält eine unendliche Quelle von Trost und Beruhigung. (Novalis) ӹӹ Gründlich das Leben zu kennen ist des Weisen wichtigste Aufgabe. Gründlich den Tod zu kennen ist der Weisheit letzter Schluss. (Lü Bu We) ӹӹ Niemand kann lehren, was er zu wenig kennt. (Ovid) ӹӹ Nicht unerfahren im Unglück, lernte ich Unglücklichen beizustehen. (Vergil) ӹӹ Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. (Th. Mann) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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ӹӹ Die Not lehrt beten, sagt das Sprichwort, aber sie lehrt auch denken, und wer immer satt ist, der betet nicht viel und denkt nicht viel. (Th. Fontane) ӹӹ Das schwere Herz wird nicht durch Worte leichter. Doch können Worte uns zu Taten führen. (Schiller) ӹӹ Wo Liebe ist, da ist ein Auge. (Notker III. von St. Gallen) ӹӹ Liebe macht nicht blind, der trägste Geist, das unbegabteste Herz werden hellsichtig, werden klug, wenn sie lieben.  (H. Mann) ӹӹ Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.  (Pascal) ӹӹ Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. (A. de Saint-Exupéry) ӹӹ Die besten und schönsten Dinge auf der Welt kann man weder sehen noch anfassen. Man muss sie mit dem Herzen fühlen. (Helen Keller) ӹӹ Lerne denken mit dem Herzen, und lerne fühlen mit dem Geist. (Th. Fontane) ӹӹ Deine Weisheit sei die Weisheit grauer Haare, aber dein Herz – dein Herz sei das Herz der unschuldigen Kindheit. (Schiller) ӹӹ Die Seele hat die Farbe deiner Gedanken. (Marc Aurel) ӹӹ Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert. (H. Hesse) ӹӹ Was du besitzest im Geist, das erkennst du, was du erkennst, das nimmt dich ein, was dich einnimmt, das erschließt dir eine neue Welt. (B. von Arnim) ӹӹ Nur die Weisheit ist es, welche die Traurigkeit aus dem Herzen vertreibt und die uns nicht vor Angst erstarren lässt. Unter ihrem Geleit lässt sich in Seelenfrieden leben. (Cicero) ӹӹ Unser Erkennen ist Stückwerk. (1. Kor. 13,9)

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Im Garten goldener Sätze des Todes  

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Im Garten goldener Sätze des Todes ӹӹ Ein ewig Rätsel ist das Leben, und ein Geheimnis bleibt der Tod. (E. Geibel) ӹӹ Wir stehen immer noch vor der Tür, hinter der die großen Antworten warten. (A. Schnitzler) ӹӹ Der Tod hat harte Kinnbacken. (Volksmund) ӹӹ Weder die Sonne noch den Tod kann man fest ins Auge fassen. (La Rochefoucauld) ӹӹ Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. (Rilke) ӹӹ Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. (M. Luther) ӹӹ Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt. (M. Buber) ӹӹ Nur durch die Liebe und den Tod berührt der Mensch das Unendliche. (A. Dumas) ӹӹ Und seit jeher war es so, dass die Liebe erst in der Stunde der Trennung ihre eigene Tiefe erkennt. (Khalil Gibran) ӹӹ Zu unserer Natur gehört die Bewegung, die vollkommene Ruhe ist der Tod. (Pascal) ӹӹ Aller Tod in der Natur ist Geburt, gerade im Sterben erscheint sichtbar die Erhöhung des Lebens. (J. G. Fichte) ӹӹ Ich glaube, dass wenn der Tod unsere Augen schließt, wir in einem Lichte stehen, von welchem unser Sonnenlicht nur der Schatten ist. (A. Schopenhauer) ӹӹ Der Tod ist das Tor zum Licht. Am Ende eines mühsam gewordenen Weges. (Franz von Assisi) ӹӹ Der Tod beendet nicht alles. (Properz) ӹӹ Die Bande der Liebe werden mit dem Tod nicht durchschnitten. (Th. Mann) ӹӹ Menschen treten in unser Leben und begleiten uns eine Weile. Einige bleiben für immer, denn sie hinterlassen ihre Spuren in unseren Herzen. (Rilke) ӹӹ Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren. (Goethe)

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ӹӹ Der Mensch, den wir lieben, ist nicht mehr da, wo er war, aber überall, wo wir seiner gedenken. (Augustinus) ӹӹ Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern. Tot ist nur, wer vergessen wird. (Kant) ӹӹ Es gibt ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe, das Einzige, was bleibt, das Einzige, was von Bedeutung ist. (Th. Wilder) ӹӹ Unsere Toten sind nicht abwesend, sondern nur unsichtbar. Sie schauen mit ihren Augen voller Licht in unsere Augen voller Trauer. (Augustinus) ӹӹ Der, den wir für verloren halten, wurde uns nur vorausgesandt. (Seneca) ӹӹ Unsere Verstorbenen sind nicht die Vergangenen, sondern die Vorausgegangenen. (K. Rahner) ӹӹ Den Tod fürchten die am wenigsten, deren Leben den meisten Wert hat. (Kant) ӹӹ Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird zu leben. (Marc Aurel) ӹӹ Vielleicht will, was ich nicht ändern kann, mich ändern.  (K. Spiecker) ӹӹ Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb und werde!, bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde. (Goethe) ӹӹ Sich abschließen heißt einmauern, und sich einmauern ist der Tod. (Th. Fontane) ӹӹ O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. (Rilke)

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Im Garten goldener Sätze der Trauer  

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Im Garten goldener Sätze der Trauer ӹӹ Trennung ist unser Los. Wiedersehen unsere Hoffnung.  (H. von Redern) ӹӹ Traurig wirst du sein, wenn du allein sein wirst. (Ovid) ӹӹ Nie erfahren wir unser Leben stärker als in großer Liebe und in tiefer Trauer. (Rilke) ӹӹ Es gibt wohl viele, die Liebe für ihre Toten empfinden, aber wenige sind, die es verstehen, ihre Toten auf die rechte Weise zu lieben. (Lü Bu We) ӹӹ Je dunkler der Himmel ist, desto heller werden die Sterne scheinen. (Leonardo da Vinci) ӹӹ Im Unglück sieht man die Wahrheit klarer. (Dostojewski) ӹӹ Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne. (H. Hesse) ӹӹ Traurigkeit ist nicht ungesund – sie hindert uns, abzustumpfen. (George Sand) ӹӹ Man muss sein Brot mit dem Messer schneiden, welches einem das Schicksal, ob stumpf oder scharf, dazu in die Hand gibt. (W. Raabe) ӹӹ Denn Trost ist ein absurdes Wort: Wer nicht verzweiflen kann, der muss nicht leben. (Goethe) ӹӹ Die Trauer eines Menschen lässt sich besser aus seinen Tränen erschließen als aus seinen Worten. (Lü Bu We) ӹӹ Lang noch vielleicht wird es dauern, bis einst diese Wunde vernarbt ist. (Ovid) ӹӹ An einem Meer von Schmerz ertrinken die einen, die anderen lernen darin zu schwimmen. (K. Spiecker) ӹӹ Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren. (Lessing) ӹӹ Das ist meine allerschlimmste Erfahrung: Der Schmerz macht die meisten Menschen nicht groß, sondern klein.  (Chr. Morgenstern) ӹӹ Aus Traurigkeit kommt schnell der Tod, sie lähmt die Kraft. (Prediger 38,19) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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ӹӹ Traurigsein ist wohl etwas Natürliches. Es ist ein Atemholen zur Freude, ein Vorbereiten der Seele dazu. (P. Modersohn-Becker) ӹӹ Jede Krise ist eine Gnade, weil sie die Möglichkeit eines Neuanfangs in sich birgt. (Katharina von Tobien) ӹӹ Die Verzweiflung schickt Gott nicht, um uns zu töten, er schickt sie, um neues Leben in uns zu erwecken. (H. Hesse) ӹӹ Mündig ist nicht, wer glaubt, Angst, Traurigkeit und Verzweiflung überwinden zu können, sondern wer sie zu durchleuchten vermag und daran wächst. (K. Graf Dürckheim) ӹӹ Wenn man zum Leben ja sagt, und das Leben selber sagt zu einem nein, so muss man auch zu diesem Nein ja sagen.  (Chr. Morgenstern) ӹӹ Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen schleift es fort. (Seneca) ӹӹ Wie es auch sei, das Leben, es ist gut. (Goethe) ӹӹ Niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie versucht hat. (Goethe) ӹӹ Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. (Hölderlin) ӹӹ Wer spricht von Siegen? Überstehen ist alles. (Rilke) ӹӹ Nur die Weisheit ist es, welche die Traurigkeit aus dem Herzen vertreibt und die uns nicht vor Angst erstarren lässt. Unter ihrem Geleit lässt sich in Seelenfrieden leben. (Cicero) ӹӹ Der leidet wirklich, der ohne Zeugen leidet. (Martial) ӹӹ Behutsam schließt man die Augen der Toten; ebenso behutsam muss man den Lebenden die Augen öffnen. (J. Cocteau) ӹӹ Und so ist’s mein gewisser Glaube, dass am Ende alles gut ist, und alle Trauer der Weg zu wahrer heiliger Freude ist.  (Hölderlin) ӹӹ Nun trauert ihr, aber ich werde euch wiedersehen, und euer Herz wird sich freuen. (Joh 16,22)

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Im Garten goldener Sätze des Trostes  

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Im Garten goldener Sätze des Trostes ӹӹ Aber allen Trost besiegt der Schmerz. (Cicero) ӹӹ So ist es auf Erden: Jede Seele wird geprüft und wird auch getröstet. (Dostojewski) ӹӹ In den Tiefen des Winters erfuhr ich schließlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt. (A. Camus) ӹӹ Das Schönste am Frühling ist, dass er nur dann kommt, wenn man ihn am dringendsten braucht. (Jean Paul) ӹӹ Die Blumen des Frühlings sind die Träume des Winters.  (Khalil Gibran) ӹӹ Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages. (Demokrit) ӹӹ Auch aus den Steinen, die in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ӹӹ Ich weiß überall in der großen Lebenswüste irgendeine schöne Oase zu entdecken. (H. Heine) ӹӹ Das, was dem Leben Sinn verleiht, gibt auch dem Tod Sinn. (A. de Saint-Exupéry) ӹӹ Alles wird dem zuteil, der zu warten versteht. (H. W. Longfellow) ӹӹ Es kommt immer ganz anders! Das ist das wahrste Wort und im Grunde auch der beste Trost, der dem Menschen in seinem Erdenleben mit auf den Weg gegeben worden ist. (W. Raabe) ӹӹ Gegen Schmerzen der Seele gibt es nur zwei Arzneimittel: Hoffnung und Geduld. (Pythagoras) ӹӹ Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles! (Rilke) ӹӹ Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat. (V. Havel) ӹӹ Die Hoffnung ist der Regenbogen über dem herabstürzenden Bach des Lebens. (Nietzsche) ӹӹ Schlägt die Hoffnung fehl, nie fehle dir das Hoffen. Ein Tor ist zugetan, doch tausend sind noch offen. (F. Rückert) ӹӹ Der Lebende soll hoffen. (Goethe) ӹӹ Was wäre das Leben ohne Hoffnung? Ein Funke, der aus der Kohle springt und verlischt, und wie man bei trüber Jahreszeit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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einen Windstoß hört, der einen Augenblick saust und dann verhallt, so wäre es mit uns. Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte. (Hölderlin) Nur durch die Hoffnung bleibt alles bereit, immer wieder neu zu beginnen. (Ch. Péguy) Beeile dich zu leben und betrachte jeden einzelnen Tag als ein einzelnes Leben. (Seneca) Nutze den Tag. (Horaz) Gott hat der Zeit befohlen, die Unglücklichen zu trösten.  (J. Joubert) Habe den Mut zu trösten. (G. Edel) Es ist ein Trost für die Unglücklichen, Gefährten im Unglück zu haben. (Spinoza) Wer das helfende Wort in sich aufruft, der erfährt das Wort. Wer Halt gewährt, verstärkt in sich den Halt. Wer Trost spendet, vertieft in sich den Trost. Wer Heil wirkt, dem offenbart sich das Heil. (M. Buber) Nur in der Tiefe der Seele, mit Hilfe jener Kraft, die stärker ist als alle Vernünftigen, kann Trost und Ruhe gefunden werden. (W. Busch) Trösten ist die Kunst des Herzens. Sie besteht oft nur darin, liebevoll zu schweigen und schweigend mitzuleiden. (O. von Leixner) Kein Leid ist sinnlos. Immer gründet es in der Weisheit Gottes. (Thomas von Aquin) Selig die Trauernden; denn sie werden Trost finden. (Mt 5,4) Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Klage, kein Schmerz. (Offb 21,4)

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Im Garten goldener Sätze des Selbstwerdens  

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Im Garten goldener Sätze des Selbstwerdens ӹӹ Werde, der du bist. (Pindar) ӹӹ Was sagt dein Gewissen? – Du sollst der werden, der du bist. (Nietzsche) ӹӹ Werde, was du noch nicht bist, bleibe, was du jetzt schon bist; in diesem Bleiben und diesem Werden liegt alles Schöne hier auf Erden. (F. Grillparzer) ӹӹ Der Kern des Glücks: Der sein zu wollen, der du bist. (Erasmus von Rotterdam) ӹӹ Es ist die Aufgabe eines jeden Menschen, zu sich selbst zu kommen, das innerste Wesen seines Ichs zu entdecken. Wie man dorthin gelangen kann und mit welchen Erfahrungen diese Entdeckung zusammenhängt, ist und bleibt aber ein Geheimnis. (E. Stein) ӹӹ Ich kenne kein anderes Bestreben, als mich selbst, nach meiner Weise, soviel als möglich auszubilden, damit ich an dem Unendlichen, in das wir gesetzt sind, immer reiner und froher Anteil nehmen möge. (Goethe) ӹӹ Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. (Rilke) ӹӹ Wünsche nicht, etwas anderes zu sein, als du bist, und versuche, das vollkommen zu sein. (Franz von Sales) ӹӹ Man kommt leichter zu jedem anderen als zu sich selbst.  (Jean Paul) ӹӹ Jeder Mensch hat ein Bild in sich, was er sein und werden soll. Solange er das noch nicht ist, ist noch Unfrieden in seinen Gebeinen. (J. G. Herder) ӹӹ Jeder von uns hat etwas Unbehauenes, Unerlöstes in sich, daran unaufhörlich zu arbeiten seine heimlichste Lebensaufgabe bleibt. (Chr. Morgenstern) ӹӹ Das Erste und Wichtigste im Leben ist, dass man sich selbst zu beherrschen sucht, dass man sich mit Ruhe dem Unabänderlichen unterwirft und jede Lage, die beglückende wie die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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unerfreuliche, als etwas ansieht, woraus das innere Wesen und der eigentliche Charakter Stärke schöpfen kann. (W. v. Humboldt) ӹӹ Das Leben ist eine Veränderung, und ohne Erneuerung ist es unbegreiflich. (N. Berdjajew) ӹӹ Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe. (Seneca) ӹӹ Geh nicht nur die glatten Straßen. Geh Wege, die noch niemand ging, damit du Spuren hinterlässt und nicht nur Staub. (A. de Saint-Exupéry) ӹӹ Der Weg wächst im Gehen unter deinen Füßen, wie durch ein Wunder. (Reinhold Schneider) ӹӹ Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen. (F. Kafka) ӹӹ Ein Stück des Weges liegt hinter dir, ein anderes hast du noch vor dir. Wenn du verweilst, dann nur um dich zu stärken, nicht aber um aufzugeben. (Augustinus) ӹӹ Wer aufhört zu lernen, ist alt. Er mag zwanzig oder achtzig sein. (H. Ford) ӹӹ Wir werden als Originale geboren und sterben als Kopien.  (E. Young) ӹӹ Der Sinn des Lebens ist die Entwicklung der Seele. (Th. Morus) ӹӹ Wir selbst müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen wollen. (Mahatma Gandhi) ӹӹ Nur von Verwandelten können Wandlungen ausgehen.  (S. Kierkegaard) ӹӹ Die Liebe wandelt die Seelen um und macht sie frei.  (Bernhard von Clairvaux) ӹӹ Die Liebe hat die Kraft der Verwandlung. (St. Andres) ӹӹ Unser großes und herrliches Meisterwerk: richtig zu leben. (Montaigne)

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Im Garten goldener Sätze der Liebe  

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Im Garten goldener Sätze der Liebe ӹӹ Ein einziges Wort befreit uns von der Last und dem Schmerz des Lebens; dieses Wort ist die Liebe. (Sophokles) ӹӹ Was ist es, sprich, was bei den Menschen Liebe heißt? O Kind, das Süßeste und Bitterste zugleich. (Euripides) ӹӹ Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. (Hohe Lied der Liebe 8,6) ӹӹ Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück! (Goethe) ӹӹ Die Liebe ist die einzige Tiefe der Welt, die uns zugänglich ist. (G. Simmel) ӹӹ Die Liebe ist das Einverständnis. (S. Weil) ӹӹ Alles bezwingt die Liebe. (Vergil) ӹӹ Der Geist, der allen Dingen Leben verleiht, ist die Liebe. (Tschu-Li) ӹӹ Liebe hat kein Alter, sie wird beständig geboren. (Pascal) ӹӹ Liebe kennt kein Gesetz. (Boethius) ӹӹ Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich. (H. Hesse) ӹӹ Glücklich allein ist die Seele, die liebt. (Goethe) ӹӹ Zu lieben ist Segen, geliebt zu werden Glück. (L. Tolstoi) ӹӹ Der Preis deiner Liebe bist du selbst. (Augustinus) ӹӹ Die Liebe ist der Liebe Preis. (Schiller) ӹӹ Liebe und tue, was du willst. Schweigst du, so schweige aus Liebe. Redest du, rede aus Liebe. Verbesserst du, so verbessere aus Liebe. Schonst du, so schone aus Liebe. Die Wurzel der Liebe sei in deinem Inneren: Aus dieser Wurzel kann nur Gutes kommen. (Augustinus) ӹӹ Es gibt keine dringendere Aufgabe im Leben als diese: allen und allem mit Liebe begegnen. (R. Schneider) ӹӹ Lieben heißt, unser Glück in das Glück eines anderen legen. (G. W. Leibniz) ӹӹ Liebe: ganz in seinem Innersten die Existenz eines anderen Menschen spüren. (S. Weil) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402351 — ISBN E-Book: 9783647402352

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ӹӹ Dreifach glücklich und mehr, die ein untrennbares Band der Liebe eint. (Horaz) ӹӹ Lieben kann nur der, der Liebe hat. Man hat die Liebe aber erst, wenn man sie verschenkt. (Augustinus) ӹӹ Je mehr Liebe man gibt, desto mehr besitzt man davon. (Rilke) ӹӹ Im Augenblick der Liebe wird der Mensch nicht nur für sich, sondern auch für den anderen Menschen verantwortlich.  (F. Kafka) ӹӹ Die Erfahrung lehrt uns, dass die Liebe nicht darin besteht, dass man einander in die Augen sieht, sondern dass man gemeinsam in gleicher Richtung blickt. (A. de Saint-Exupéry) ӹӹ Die Liebe ist die beste Lehrmeisterin. (Plinius) ӹӹ Liebe bedeutet, einem anderen dessen eigene Schönheit zu offenbaren. (J. Vanier) ӹӹ Das Leben hat viele Gesichter; schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden. (Chr. Morgenstern) ӹӹ Die Liebe ist der Endzweck der Weltgeschichte, das Amen/ Unum des Universums. (Novalis) ӹӹ Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen. (A. Schweitzer) ӹӹ Alles vergeht. Am Abend des Lebens bleibt nur die Liebe.  (E. von Dijon) ӹӹ Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, in denen wir liebten. (W. Busch) ӹӹ Da, wo Liebe ist, ist der Sinn des Lebens erfüllt. (D. Bonhoeffer)

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Im Garten goldener Sätze des Lebensglücks  

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Im Garten goldener Sätze des Lebensglücks ӹӹ Alle Menschen streben von Natur aus danach, glücklich zu sein. (Aristoteles) ӹӹ Das letzte Ziel des Menschen ist das Glück. (Thomas von Aquin) ӹӹ Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. (S. Kierkegaard) ӹӹ Alles ist gut. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort im selben Augenblick. (Dostojewski) ӹӹ Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinem Reichtum hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen. (Epikur von Samos) ӹӹ Reich wird man erst durch Dinge, die man nicht begehrt. (Mahatma Gandhi) ӹӹ Auf schnellem Rad dreht sich das unbeständige Glück. (Tibull) ӹӹ Das Glück wohnt nicht im Besitze und nicht im Golde, das Glücksgefühl ist in der Seele zu Hause. (Demokrit) ӹӹ Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich. (L. Wittgenstein) ӹӹ Wer ständig glücklich sein möchte, muss sich oft verändern. (Konfuzius) ӹӹ Das Glück deines Lebens hängt ab von der Beschaffenheit deiner Gedanken. (Marc Aurel) ӹӹ In uns selbst liegen die Sterne unseres Glücks. (H. Heine) ӹӹ Das Glück ist ein Wie, kein Was; ein Talent, kein Objekt.  (H. Hesse) ӹӹ Über Glück oder Unglück entscheidet nicht so sehr, was uns von außen zustößt, als was wir sind. (E. Stein) ӹӹ Die meisten Menschen machen das Glück zur Bedingung. Aber das Glück findet sich nur ein, wenn man keine Bedingungen stellt. (A. Rubinstein)

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Anhang: Im Garten goldener Sätze spazieren gehen

ӹӹ Das Glück ist ein Schmetterling. Jag ihm nach, und er entwischt dir. Setz dich hin, und er lässt sich auf deiner Schulter nieder. (A. de Mello) ӹӹ Verzage nicht, auch bei allzu großem Leid; vielleicht ist das Unglück die Quelle eines Glücks. (Menandros) ӹӹ Unglück wird zum Glück, wenn man es bejaht. (H. Hesse) ӹӹ Glück ist Talent für das Schicksal. (Novalis) ӹӹ Ein Mensch schaut in die Zeit zurück und sieht: Sein Unglück war sein Glück. (E. Roth) ӹӹ Erst im Unglück weiß man wahrhaft, wer man ist. (St. Zweig) ӹӹ Wenn man glücklich ist, soll man nicht noch glücklicher sein wollen. (Th. Fontane) ӹӹ Wer Glück erfuhr, soll mit Beglückung niemals geizig sein! (Sophokles) ӹӹ Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt. (aus China) ӹӹ Seine Freude in der Freude eines anderen zu finden – das ist Glück. (G. Bernanos) ӹӹ Das Geheimnis des Glücks liegt nicht im Besitz, sondern im Geben. Wer andere glücklich macht, wird glücklich. (A. Gide) ӹӹ Glück zieht immer noch mehr Glück an, wie ein Magnet.  (S. Plath) ӹӹ Es gibt kaum ein beglückenderes Gefühl als zu spüren, dass man für andere Menschen etwas sein kann. (D. Bonhoeffer) ӹӹ Willst Du glücklich leben, hasse niemanden und überlasse die Zukunft Gott. (Goethe) ӹӹ Das Ziel des menschlichen Lebens ist es, eins zu sein mit sich selbst. (Epiktet)

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