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German Pages [127] Year 2015
TRANSPARENT Band 44
V&R
Siegfried }. Schwemmer ist Pfarrer und Seelsorger in Engelthal und an der Frauenalb-Klinik (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie) Engelthal.
Siegfried J. Schwemmer
Den Tod
durchdringt
das Leben Umgang mit Grenzerfahrungen
Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen · Zürich
Meinen Eltern, Siegfried und Eleonore Schwemmer, die mir das Leben gaben. 2., unveränderte Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d‐nb.de abrufbar. ISBN 978‐3‐647‐01818-8 Weitere Ausgaben und Online‐Angebote sind erhältlich unter: www.v‐r.de © 2015, 1977 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v‐r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind Urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hubert & Co, Göttingen Druck und Bindung: CPI buchbücher.de, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
7-8
Vorwort
9-14
I Einleitung
15-29
II Psychische Reaktionen auf Grenzerfahrungen
30-37
III Bilder beim Übergang vom Leben zum Tod
38-42
IV Die Vorstellung von der Wiedergeburt der Seele
43-52 53-61 62-70 71-79
V Die Bereitschaft zum Tod VI Der Tod des Sokrates VII Was ist der Mensch? VIII Der Tod in der jüdisch-christlichen Überlieferung 5
80-84
IX Christliche Existenz im Angesicht des Todes
85-94
X Leben mit dem Tod
95-103
XI Abschied vom Leben
104-113
XII Stille vor Gott
114-120
XIII Leben und Sterben im Rhythmus der Zeit
121-125
XIV Am Ende
126-127
Literatur
6
Vorwort
Der Tod gehört zum Leben. Er ist eine harte und grausame Realität, die uns alle be-trifft. Immer wieder erfahren wir Grenzen und müssen erleben, daß etwas zu Ende geht. Der Tod trifft unseren Leib, aber auch die Seele kann leiden und sterben. Wir leben von Beziehungen. Ohne ein Du, ohne ein Gegenüber, gibt es kein Leben. Tod ist das Ende der Beziehungen. Wie gehen wir mit den Grenzen des Lebens um? Wie begegnen wir dem Tod? - Grenzerfahrungen sind emotional belastend. Sie können zu psychischen Reaktionen führen, Bilder und Vorstellungen wecken, grenzüberschreitende Erfahrungen hervorrufen und zu einer geistigen und geistlichen Herausforderung werden. Im Glauben und in einer lebendigen Spiritualität haben Menschen für sich schon immer eine Antwort gefunden. Doch der Glaube darf keine billige Vertröstung sein, die der Realität des Todes nicht gerecht wird. Er muß die psychische Realität des Menschen ernst nehmen und ihm helfen, seinen Weg zu finden. »Den Tod durchdringt das Leben« - hinter diesem Titel steht das Bild Jesu vom Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, und so viel Frucht bringt (Jo-
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hannes 12,24): Der Keim durchdringt die tote Hülle. Das Leben ist stärker als der Tod. Es durchbricht auch die Mauern des Grabes. Aber der Weg ins Leben führt nur durch den Tod. Nur wer den Tod nicht flieht, ihn nicht verdrängt, beschönigt und sich nicht vertröstet, findet das Leben. Ich danke meinem Bruder Emst, der mit mir seine Erfahrungen im Grenzbereich des Lebens geteilt hat, meinem Lehrer Alfred Heubeck, der mir den Weg des Karate-Do gezeigt hat, und meiner Mitarbeiterin Christa Wagner, die einen Teil des Manuskripts geschrieben, alles Korrektur gelesen und seine Verständlichkeit geprüft hat. Bibel-Zitate sind aus: Lutherbibel, revidierter Text 1984
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I Einleitung
Der Tod als Grenze des Lebens Der Tod ist die Grenze des Lebens. Er gibt dem Leben ein Ziel und setzt ihm ein Ende. Er steht über dem Leben, und der Mensch steht unter seiner Macht. Als Menschen sind wir der Macht des Todes hilflos und ohnmächtig ausgeliefert. Die ganze menschliche Ohnmacht, Hilflosigkeit, Unvollkommenheit und Begrenztheit findet im Tod seine Gestalt. Gleichzeitig weckt die Auseinandersetzung mit dem Tod Fragen, die nach einer Antwort suchen: Wann ist Tod tot? Gibt es einen Zwischenbereich zwischen Tod und Tod? Gibt es ein Leben im Angesicht und im Schatten des Todes? Gibt es Erfahrungen, die diese Grenzen überschreiten? Gibt es ein Leben nach dem Tod? - Wir können diese Fragen biologisch und medizinisch beantworten und im Tod eine letzte endgültige Grenze sehen, mit der das Leben zu Ende ist. Wir können uns damit aber auch nicht zufrieden geben und in diesen Fragen den Wunsch verbergen, daß es nach, hinter oder neben dem Tod noch etwas Unfaßbares und Unbegreifliches gibt.
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Grenzerfahrungen als öffentliches Thema Grenzerfahrungen sind heute ein verbreitetes und beliebtes Thema. Dahinter verbirgt sich die Sehnsucht vieler Menschen, zu erfahren, was sie jenseits der Todesschwelle erwartet. Immer mehr Menschen wollen nicht mehr nur das glauben, was sie vor Augen haben: »Das kann doch nicht alles gewesen sein. Da muß doch noch irgendwas kommen!« (W. Biermann, Lied vom donnernden Leben). Dabei wächst das Bewußtsein, daß es zwischen Himmel und Erde noch mehr gibt als das, was der Mensch mit seiner bloßen Vernunft erfassen und begreifen kann. Die Medienlandschaft beschäftigt sich mit dem Grenzbereich. Von Jenseitserfahrungen Sterbender wird berichtet. »Klinisch Tote« beschreiben nach ihrer Reanimation »himmlische« Erlebnisse und Visionen. Erfahrungen von Sterbenden, die bereits ihren Körper verlassen haben (Out-of-body-experiences), und übersinnliche Erlebnisse finden ein breites Interesse.
Erfahrungen mit Grenzen Der Tod ist die Grenze des Lebens. Doch es gibt viele Grenzen im Leben. Grenzerfahrungen gehören zum Leben. Grenzen sind eine Realität des Lebens. Wir stoßen immer wieder an Grenzen. Immer wieder müssen wir erfahren, daß etwas zu Ende geht und an sein Ziel kommt. Jeder Abschied im Leben und jeder Aufbruch zu etwas Neuem bedeutet immer auch Sterben. Jeder Verlust ist auch ein Tod. Jede Trennung ist ein Ende. All die vielen kleinen Tode, die wir im Leben sterben, werden dabei zu einer Übung für die letzte große 10
Schwelle, die das Leben vom Tod trennt. All die Grenzerfahrungen werden zum Gleichnis für die letzte Grenze am Ende des Lebens. Nur durch Grenzerfahrungen lernt der Mensch, mit Grenzen umzugehen. Von Anfang an, seit seiner Geburt, muß sich der Mensch mit Grenzen auseinandersetzen: Kinder müssen, um erwachsen zu werden, immer wieder ihre Grenzen erfahren. Gleichzeitig werden sie erwachsen, indem sie Grenzen überschreiten und neue Grenzen suchen. So lernen sie, mit Grenzen umzugehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und diese, wenn möglich, zu überwinden. Sie lernen aber auch, Grenzen auszuhalten und anzunehmen. Nur wer das als Kind, als Heranwachsender und als Erwachsener gelernt hat, kann mit Grenzen leben. Im fortgeschrittenen Alter werden dem Menschen dann seine natürlichen Grenzen bewußt. Es sind die Grenzen des Körpers, der Leistung und der Belastbarkeit. Wenn sie überschritten werden, wird der Mensch an Leib und Seele krank. Die Erfahrungen der Grenzen sind immer ambivalent, denn Grenzen haben ihre zwei Seiten. Es ist nur eine Frage des eigenen Standorts und der persönlichen Betroffenheit. Das Urteil über Grenzen und unsere Reaktion darauf ist allein davon abhängig, wo wir selbst stehen und wie unsere persönliche Situation im Angesicht der Grenze ist. Dabei können wir Grenzen negativ erleben, aber auch positiv, hinderlich oder hilfreich. Wir können ihnen aktiv begegnen und sie gestalten, oder sie passiv erleiden. Grenzen zeigen uns, daß wir Hilfe brauchen, auf andere angewiesen und abhängig sind, doch sie helfen uns auch, daß wir uns nicht selbst verlieren. Sie geben uns Halt und Hilfe, helfen uns, uns abzugrenzen, verhindern, daß wir grenzenlos werden, schützen uns und geben uns Sicherheit. 11
Umgang mit Grenzen Wie reagieren wir auf Grenzen? Wie gehen wir damit um? - Wir können mit Grenzen sehr verschieden umgehen. Wir können Grenzen aushalten, akzeptieren und als gegeben hinnehmen, oder versuchen, sie zu verstehen und darüber nachzudenken. Wir können nach Wegen suchen, ihnen auszuweichen, und uns trösten, wenn wir Auswege sehen. Doch es gibt Situationen, die wir nicht verstehen und nicht annehmen können. Wir können dann gegen die Grenzen kämpfen, rebellieren, aufbegehren, Widerstand leisten und auf diese Weise versuchen, die Grenzen zu überwinden. Es ist möglich, daß wir dabei scheitern, uns selbst verlieren und zerbrechen, oder abstumpfen und resignieren. Doch wir können uns auch Hilfe suchen, um den vorgegebenen Grenzen besser zu begegnen, und lernen, mit ihnen umzugehen. Grenzen wecken vor allen Dingen Gefühle: Wir spüren unsere Wut und möchten gegen sie angehen. Zur Wut gehören Phantasien von Macht und Machbarkeit. Die Erfahrung der Ohnmacht und der Hilflosigkeit macht aber auch unsicher und angst. Sie bedrängt und bedrückt. Emotional belastende Situationen führen deshalb leicht zu psychotischen Reaktionen: Wir können depressiv, aber auch »verrückt« werden. Wir können die Grenzen abspalten und ihnen mit grenzenlosen Phantasien begegnen. Mit Drogen können wir uns betäuben und vor der Realität fliehen, oder aber Grenzen verleugnen und verdrängen. Wir können uns Grenzen mit dem Verstand nähern, sie ideologisieren und in einen größeren geistigen Zusammenhang stellen, oder aber beschönigen und wie die Mauer in Berlin mit bunten Bildern bemalen. 12
Grenzen und Möglichkeiten dieses Bandes Von Grenzerfahrungen und vom Umgang mit Grenzen handelt diese Schrift. Grenzen sind auch mir gegeben, und ich möchte Grenzen setzen, damit keine falschen Erwartungen entstehen. Mir ist bewußt: So lange es Menschen gibt, beschäftigt sie die Frage nach dem Tod. Sie suchen nach Halt und nach Gewißheit. Sie fragen nach dem, was bleibt und was über den Tod hinaus Bestand hat. Sie suchen eine Antwort, die die menschlichen Grenzen überschreitet und den Menschen in einen größeren Zusammenhang stellt. Diese Antwort finden sie im Glauben, denn alle Religionen der Welt suchen eine Antwort auf den Tod. Sie glauben an ein Leben, das über den Tod hinausweist. Das verbindet sie miteinander. Dabei ist und war es ein Grundgedanke für nahezu alle Religionsgemeinschaften, daß der einzelne zu Lebzeiten Vorsorge und Sorge für das Leben nach dem Tod treffen kann. Ich möchte Wege und Möglichkeiten zeigen, die mir im Umgang mit diesem Thema hilfreich und verständlich sind. Dabei will ich der Realität des Todes nicht aus dem Weg gehen, auf die psychische Realität der Menschen schauen, nach den Bildern der Seele suchen, die das Thema aufnehmen und gestalten, Menschen beschreiben, die sich mit dem Tod auseinandergesetzt haben, und nach Möglichkeiten suchen, mit den Grenzen des Lebens umzugehen. Gleichzeitig bin ich überzeugt, daß wir: erstens dem Tod erst dann begegnen können, wenn wir die Fragen, die dieser an uns stellt, für uns beantwortet haben; zweitens vom Tod nur reden können, wenn wir uns vorstellen können, selbst zu sterben; drittens nur dann wirklich sterben können, wenn wir uns mit dem Tod auseinandergesetzt 13
haben. - Doch diese seelische Arbeit und diese innere Auseinandersetzung kann und will ich niemandem abnehmen. Jeder stirbt seinen eigenen Tod und muß seine eigene Antwort auf den Tod, und seinen Weg mit den Grenzen des Lebens umzugehen, finden. Das möchte ich fördern und unterstützen, respektieren und achten. Die einzelnen Schritte Grenzerfahrungen führen zu psychischen Reaktionen und lösen Bilder und Vorstellungen aus. Solche versuche ich zu beschreiben und bewußt zu machen. Eine bemerkenswerte Antwort auf den Tod ist die Vorstellung der Reinkarnation. Sie findet immer mehr Anhänger. Dabei wird die Lehre des Buddha leicht mißverstanden. Sie hat in seiner Weiterentwicklung Gestalt gefunden im Zen-Do. Der Weg des Zen ist eine konsequente Antwort auf den Tod. Das zeigt sich auch in der Bereitschaft des Kriegers zum Tod. Einfluß auf das Abendland hat die Auseinandersetzung des Sokrates mit dem Tod gewonnen. In der Lehre Piatons von der Unsterblichkeit der Seele hat sie auf das Christentum eingewirkt. Der Tod ist eine existentielle Bedrohung. Der Mensch sucht deshalb seine religiösen Bindungen. Die prägende Religion des Abendlandes ist das Christentum. Es hät seine Wurzeln im jüdischen Glauben. Jesus nimmt die Vorstellungen des Alten Testaments über den Tod auf und gibt mit seiner Person darauf eine Antwort. Für Christen ist seine Auferstehung von den Toten das zentrale Bekenntnis und der Anfang des christlichen Glaubens. Jeder Mensch muß sich mit dem Tod auseinandersetzen. Helfen kann: ein bewußtes Leben mit dem Tod, das Üben der Stille, und die Selbsterfahrung im Lebens-Rhythmus von Werden und Vergehen. 14
Psychische Reaktionen auf Grenzerfahrungen
Angst und Erschrecken Der Jugoslawe B. Zizic hat 1972 einen Kurzspielfilm gemacht. Auch wenn ich diesen Film schon mehrfach gesehen habe, beeindruckt er mich immer wieder. Sein Name: »Die Reise«. Thema ist: Leben und Sterben. »Die Reise« ist ein Gleichnis auf das Leben des Menschen und beschreibt seinen Umgang mit dem Tod. Ort der Handlung ist ein Zug. Sieben Reisende sitzen in einem Eisenbahnwagen. Es sind die verschiedensten Menschen, die miteinander und nebeneinander unterwegs sind: ein »Weltkind«, ein »Hippie« Liebespaar, ein junger, gleichgültiger, vor sich hindösender Mann, ein alter Zyniker, ein lebensfroher Genießer, eine Nonne ... Die Reisenden schauen zum Fenster hinaus, lesen oder blicken sich an. Das Pärchen küßt sich selbstvergessen. Ein anderer raucht und wieder ein anderer ißt. Der Zug aber, in dem sie sitzen, fährt und fährt immer weiter. Da, ein Tunnel, es wird dunkel. Es ist Nacht. Als der Zug aus dem Dunkel ins Licht hinausfährt, fehlt ein Mensch: Eine Frau ist nicht mehr unter den Fahrgästen. Der Mann aber, der ihr bewundernd und inter15
essiert gegenüber saß, ist verwirrt. Vor ihm liegt nur noch der Schminkkoffer der jungen Frau. Er ist ratlos, betroffen und dann niedergeschlagen. Wieder kommt ein Tunnel, und wieder wird es dunkel, Nacht. Am Ausgang des Tunnels fehlt wieder ein Mensch. Die Nonne, die eben noch in der Bibel gelesen hatte, ist verschwunden. Zurückgeblieben ist nur ihre Bibel. Nach dem nächsten Tunnel fehlt das Liebespaar. Allein die Gitarre liegt auf ihrem Platz. Die Menschen in diesem Wagen aber werden unsicher. Sie blicken ängstlich und rücken zusammen. Sie suchen nach den verschwundenen Mitreisenden und suchen nach einem Ausweg: Doch die Fenster sind verschlossen. Sie lassen sich nicht öffnen, und auch die Türen sind versperrt. Der Wagen aber rollt immer weiter. Die Notbremse funktioniert nicht, der Zug läßt sich nicht anhalten. Die Lokomotive pfeift und durcheilt die Landschaft. Und immer wieder wird es dunkel, und wieder hell. Zuletzt sitzen nur noch zwei Menschen in diesem Wagen. Zwei Männer blicken sich an. Sie schauen skeptisch, prüfen sich und den Anderen: Wer wird der Nächste sein? Der eine von beiden beginnt nervös zu lachen, er höhnt den anderen. Der bisher so apathische Mann verliert die Nerven. Er geht auf den Mitfahrer zu und würgt ihn - Und wieder wird es dunkel. Es wird Nacht. Es wird unendlich schwarz. Dieser Film beschreibt das Leben: Das Leben ist die Reise. Das Ziel dieser Reise aber ist der Tod. Dort, wo wir den Tod in nächster Nähe erleben, sind wir persönlich betroffen. Er macht uns unsicher. Wir können ihm nicht ausweichen, aber wir sind in der Gefahr, auf diese unheimliche und unberechenbare Macht mit panischer Angst zu reagieren.
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Schmerz und Wut, Enttäuschung und Trauer Jede Grenzerfahrung löst Gefühle aus. Wir reagieren emotional, mit Gefühlen. Das ist ganz natürlich und auch gut. Denn es zeigt, daß wir noch nicht tot, sondern am Leben sind. Mögliche Reaktionen können Wut, Auflehnung, Zorn und Widerstand sein, denn wir können und wollen die Grenze nicht verstehen und sie auch nicht annehmen und aushalten. Unsere vitalen Bedürfnisse sind betroffen und eingeschränkt. Wir können sie nicht befriedigen und die Früchte unserer Bemühungen nicht genießen. Unsere Pläne, Ziele, Wünsche und Hoffnungen stehen in Frage. Grenzerfahrungen tun weh. Gegen diese Schmerzen wehren wir uns. Das ist ganz verständlich und wäre nicht normal, wenn wir darauf nicht reagieren würden. Wenn wir verletzt werden, wollen wir uns wehren. Die Aggressionen, die wir spüren, sind Ausdruck unseres Selbsterhaltungstriebs. Sie sind wie ein Aufschrei des Lebens. Unsere Auflehnung, unser Kampf und unser Widerstand sind notwendig, damit wir die Lebenskräfte in uns aktivieren. Sie helfen uns, zu überleben und standzuhalten. Grenzerfahrungen wecken in uns auch Enttäuschungen. Die Enttäuschung ist ein bedrückendes, niedergeschlagenes Gefühl. Es richtet sich gegen uns. Denn der Grund der Enttäuschung liegt bei uns selbst. Der Grund der Enttäuschung liegt in unserer eigenen Täuschung. Nur wer sich täuscht, kann ent-täuscht werden. Wir haben uns etwas vorgemacht oder uns etwas vormachen lassen. Wir sind Illusionen erlegen und haben ein falsches Bild gepflegt. Wir müssen Abschied nehmen von unseren Vorstellungen und Vorurteilen, von unseren Wunschbildern, Selbsttäuschun17
gen und unseren falschen Sicherheiten. Die Enttäuschung ist der harte, aber notwendige und gute Weg zur Wirklichkeit, damit wir lernen, uns und unser Leben frei von Täuschungen und Selbstbetrug zu sehen, befreit werden von Abhängigkeiten und Sehnsüchten, und der Realität so begegnen, wie diese ist. Abschied und Trennung sind vor allem verbunden mit Trauer. Jede Grenzerfahrung ist ein Stück Sterben. Sie ist eine Erfahrung von Tod. Das aber ist schmerzhaft und tut weh. Doch immer wieder müssen wir in unserem Leben Abschied nehmen und erleben Grenzen, die wir nicht überschreiten können: Wir stoßen an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit. Wir werden von vertrauten und geliebten Menschen getrennt. Auch Auseinander-setzungen sind im eigentlichen Sinne des Wortes eine Form der Trennung. Durch die vielen verschiedenen Grenzerfahrungen erfahren wir immer wieder unsere eigene Begrenztheit, und wir reagieren mit Schmerzen und Tränen. Wir schweigen, ziehen uns in uns selbst zurück, spüren unsere Schwachheit und Schutzbedürftigkeit, unsere Verletzlichkeit und Unsicherheit. Wir trauern.
Psychotische
Konfliktbewältigung
Erfahrungen von Krankheit, psychischen Konflikten und Grenzerfahrungen wie der Umgang und die Begegnung mit dem Tod sind eine große emotionale Belastung. Der Verlust eines nahestehenden, geliebten Menschen, aber auch die unmittelbare Bedrohung des eigenen Lebens durch den Tod führen Menschen in eine seelische Krise. Der Tod ist ein seelischer Konflikt, der nur schwer zu bewältigen ist. Sterben und Tod
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sind verbunden mit Angst. Die Todesangst erfordert ungewöhnliche Bewältigungsstrategien. Sie provoziert »verrückte Reaktionen«. Emotional belastende Situationen führen leicht zu psychotischen Reaktionen. Zu diesen Situationen gehören: Unfall, Sterben, Tod und Abschied vom Leben. Je größer der seelische Konflikt, je schwieriger die Situation, um so eher sind wir geneigt, davor zu fliehen und uns von der schwierigen und schlimmen Realität zu distanzieren. »Psychotische Konfliktbewältigung kommt besonders in akuten Krisensituationen vor« (Wiedemann, 160). Psychotische Reaktionen wie Flucht, Abwehr und Abspaltung gehören zu den Grundfunktionen der Seele. Menschen, die ihre Konflikte psychotisch verarbeiten, erleben diesen Konflikt nicht in sich selbst, sondern sie verlagern ihn nach außen, sie externalisieren ihn. Psychotische Konfliktbewältigung ist durch Spaltung charakterisiert, während die neurotische Konfliktbewältigung diesen verdrängt und auf andere Abwehrmechanismen zurückgreift. Hinter der psychotischen Konfliktbewältigung steht die nackte, fundamentale Angst vor dem Selbst-Verlust, vor der Selbst-Vernichtung, vor dem ewigen Tod, vor dem Nicht-Sein. Diese psychotischen Verhaltensweisen der Konfliktbewältigung sind nicht auf die Patienten psychiatrischer Anstalten beschränkt. Wir alle haben diese menschliche Reaktionsmöglichkeit, um uns vor Notsituationen zu schützen. Sie können uns helfen, in einer emotional schwierigen Situation zu überleben. Die Flucht in eine psychotische Welt macht die emotional belastende Situation erträglich. Die psychotische Reaktion ermöglicht dem Betroffenen, sich zunächst von seinen schmerzhaften psychischen Erlebnisanteilen zu distanzieren. Sie hilft ihm, psychisch zu überleben, 19
d.h. nicht verrückt zu werden, daran nicht zugrunde zu gehen. Die psychotische Reaktion hat dabei eine stabilisierende und lebenserhaltende Funktion. Sterben und Tod sind verbunden mit Angst, aber auch mit Verlust und Trauer. Der Verlust eines Menschen, mit dem wir eng verbunden sind, löst tiefe Trauer aus. Wir können darauf mit Depression reagieren, denn die Depression ist ein Muster und eine Reaktions-Möglichkeit, die den meisten Menschen in Not zur Verfügung steht. Trauer und Depression stehen dabei in einer inneren und doch gleichzeitig paradoxen Beziehung zueinander. Damit Trauerarbeit möglich wird, muß ein Verlustereignis bewußt anerkannt werden. Erst wer etwas verloren gibt, kann um das Verlorene trauern. In der Trauer nimmt der Trauemde Abschied vom Vergangenen und erhält damit potentiell auch die Chance eines zukünftigen Neubeginns. Der depressive Mensch dagegen kann den erlebten Verlust nur teilweise anerkennen. Er hält am Verlorenen weiter fest und läßt »wissende« Trauer nicht zu. Erst die bewußte Anerkennung des Verlustes löst die depressive Verstimmung, macht einen schmerzhaften Trauerprozeß möglich, läßt Abschied nehmen und ermöglicht so einen neuen Anfang. Gerade bei dem Verlust eines wirklich vertrauten Menschen ist der seelische Schmerz unvorstellbar groß. Der depressive Rückzug vom >Trauerbis ans Ende der WeltWeltWelt< gegenüber ganz andere und zugleich das in ihr Gestalt gewinnende LEBEN« (ebd., 246). Wenn wir so unser Leben, unser Tun und unser Lassen, unser Handeln und unser Stillsein, unsere Aktion und unsere Kontemplation als meditatives Leben gestalten und als Übung auf dem Weg des geistlichen Fortschritts, dann wird »jede Situation des Lebens« im Sinne eines altbuddhistischen Wortes - »zur besten aller Gelegenheiten, jeden Augenblick als ein Stück der Ewigkeit zu leben«. Dann können wir innerhalb 105
der Grenzen der Gegenwart den unendlichen Versuch des Unendlichen im Endlichen zu erscheinen, wahrnehmen. Dann sehen wir die Grenzen von Raum und Zeit und haben doch gleichzeitig Anteil an der Ewigkeit. Dann erscheint in dem äußeren Rahmen des begrenzten irdischen Lebens das innere Wesen des Unendlichen. Der Tod wird dann zu einer Antwort auf die berühmte Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen. Denn der Tod als Grenze des biologischen, zeitlichen Lebens wird zu einem Übergang in das wirkliche Leben, aus dem wir kommen und in das wir wieder eingehen. Das irdische Leben ist nur ein Teil und ein Hinweis auf das wirkliche Leben. Die irdische Form des Lebens wird zu einem Medium, das uns auf das himmlische, unbegrenzte Leben hinweist. Das, was Leben ist, entscheidet sich im Tod. Wenn Leben nur das auf Zeit und Raum begrenzte Dasein des Menschen ist, dann wird das Leiden sinnlos, dann weckt das Sterben-müssen Angst und der Tod wird zum großen Feind. Doch wer hinter dem irdischen Leben, hinter dem biologisch begrenzten Dasein das andere, überweltliche Leben spürt und wahrnimmt, für den wird das Leben in der Zeit zu einem Hinweis auf das Leben überhaupt. Er gewinnt schon hier Anteil am Ewigen Leben. Für ihn wird sein Leben zu einem Teil des Lebens jenseits von Leben und Tod. Das irdische Leben wird zu einem Hinleben auf das Leben, dem der Tod keine Grenze setzen kann. Der Tod gehört zu diesem irdischen Leben. Wenn wir seinem Ende entgegengehen und der Tod vor unseren Augen steht, dann erwacht in uns das Bewußtsein vom großen Leben, von dem Leben, das jenseits des begrenzten irdischen Lebens ist. Erst durch die Grenzerfahrungen des Lebens, durch das Leiden an den Gren-
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zen, durch die schmerzhaften Grenzerfahrungen erwacht das Bewußtsein, daß hinter dem sichtbaren Leben noch etwas anderes steht. Wir erinnern uns an unseren himmlischen Ursprung. Wir schauen auf das überweltliche Leben. Wir wenden uns dem wirklichen Leben zu. Ich zitiere noch einmal Dürckheim: »Erst an der Grenze sind wir dem, was jenseits der Grenze ist, ganz nahe, und in der Dunkelheit des Endes kann das Leuchten eines Anfangs uns treffen und am qualvollen Ende des Endlichen das Unendliche uns finden, das uns allen Qualen entrückt« (ebd., 264). Die harte Grenze des Todes stellt den Menschen vor eine große Probe. Der Sterbende kann bis zuletzt an seinem Ich und seinem irdischen Leben festhalten. Er kann bis zum Ende mit dem Tod kämpfen und sich dagegen wehren. Es ist für ihn eine schmerzvolle und leidvolle Erfahrung. Er kann aber auch lernen, von sich abzusehen und loszulassen. Dabei darf er auf eine höhere Macht vertrauen, die über den Tod hinaus ins Leben weist. Er hat die Freiheit, sich zu verhärten und zu verstocken und an der Diesseitigkeit seines Lebens festzuhalten. Er kann auf die sichtbaren Dingen und auf seine Werke schauen. Er darf aber auch von sich absehen und einverstanden sein mit dem, was das Leben ihm noch verborgen hält. Er kann seine natürlichen Grenzen bis zuletzt verleugnen. Aber er darf sich auch der Gnade hingeben und sich für eine andere Wirklichkeit öffnen. Sein Leben und sein Sterben wird dann zu einer Übung der Verwandlung. Diese läßt ihn zurückkehren zu seinem Ursprung, an den Anfang. Stille üben Ich greife noch einmal Psalm 62 Vers 2 auf und will versuchen, die Wahrheit zu beschreiben, die in diesen
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Worten liegt: »Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft«. In der Stille liegt die ganze Ohnmacht gegenüber dem Tod. Wir können nur schweigen und den Tod aushalten. Es gibt keine Worte, die darauf angemessen reagieren könnten. Unsere Reaktionen sind nur Ausdruck unserer Hilflosigkeit. Das Bemühen der Medizin kann die Ohnmacht verdrängen, aber nicht verleugnen. Die Stille ist Ausdruck der Machtlosigkeit. Wir können gegen den Tod nichts machen und uns selbst nicht helfen. Wir sind »ohne Macht«. Die Ohnmacht macht deutlich: Wir müssen die Realität aushalten. Wir können nicht vor ihr fliehen, uns nichts vormachen, und uns nicht ver-trösten. Wir haben keine fertigen Antworten, keine Ideologien und keine Illusionen. Wir müssen dem Tod, dem absoluten Nichts begegnen. Der Zen-Do nimmt diese Erfahrung konsequent ernst. Der Weg des Zen ist deshalb auch keine Lehre und keine Ideologie. Wir müssen diese Stille bewußt üben. Denn wir flüchten immer wieder in den Schein und in vordergründige Wahrheiten. Doch das tägliche Sitzen im Zazen, das Hören der Stille, das bewußte Atmen, die wache und bewußte Begegnung mit dem Nichts führt uns immer wieder hin zu dem Wesentlichen. Denn die Stille ist offen für eine Wirklichkeit, die nicht in uns selbst liegt. Sie ist offen für eine Hilfe, die von Außen auf uns zukommt. Sie ist offen für die Erfahrungen des Glaubens. Die Stille ist der Raum, in dem sich die Wirklichkeit Gottes gestalten kann. In der Stille liegen die Geheimnisse Gottes verborgen. Wir können in der Stille Erfahrungen mit Gott machen. Es ist eine Jahrtausende alte Wahrheit: daß die Stille eine innere Beziehung zu Gott schafft, in der sich die Seele mitteilen kann. 108
Das Still-Sein können wir in der Form des Zazen üben, indem wir sitzen, schweigen und uns dem absoluten Nichts aussetzen. Wir können aber auch eine Christus-Ikone betrachten, wie das Bild des auferstandenen und erhöhten Christus als Pantokrator (Allherrscher). Er sitzt zur Rechten Gottes und ist der Herr über die sichtbare und unsichtbare Welt. Er hat Macht über Leben und Tod. Dieses Ur-Bild immer wieder zu verinnerlichen, verändert die Einstellung zum Tod, denn es zeigt, wer der Herr ist über den Tod. Es hilft dem, der an Christus glaubt. Still-Sein können wir aber auch üben, indem wir die Stille des Gebets suchen. Die Orthodoxe Kirche übt in der Stille das Herzensgebet, das eine große Nähe zu außerchristlichen Meditationsformen hat. Es lautet: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner«. Dieses Gebet lebt von der täglichen und ständigen Übung. Schon Paulus mahnt die Gläubigen: »Betet ohne Unterlaß« (l.Thessalonicher 5,17). Das stetige Beten des Jesusgebets führt dazu, daß irgendwann nicht mehr ich bete, sondern daß Es in mir betet. Das »immerwährende Herzensgebet« wird dann zu einer inneren Wahrheit, und der Glaubende darf das Erbarmen selbst erfahren. Wer vor Gott Stille übt, dem verheißt die Begegnung mit ihm Hilfe, denn Gott allein kann helfen. Er hat die Macht über Leben und Tod! Doch seine Hilfe ist oft anders, als wir sie erwarten. In der Stille überlassen wir ihm die Entscheidung. In der Stille sind wir frei von unserem eigenen Wollen und Machen. Wir sind frei von unseren Vorstellungen und Vorurteilen, von unseren Absichten und Erwartungen. Wir vertrauen uns ganz dem Wirken und dem Handeln Gottes an. Wir vertrauen, daß er es zu unserem Besten macht, auch wenn wir manches mit unseren begrenzten Möglichkeiten nicht verstehen können. Doch wir
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dürfen loslassen und unser Leben Gott ganz dahingehen. Es liegt jetzt in seiner Hand, welche Wirklichkeit er uns zeigt und offenbart. Wir dürfen darauf vertrauen, daß er uns in sein Licht und in seine Wahrheit führt, daß er uns gibt, was wir brauchen, daß wir bei ihm das finden, was wir suchen: Hilfe und Erlösung. Wir können im Angesicht des Todes nichts machen. Doch in der Stille können wir der Trauer Raum geben und spüren, was der Tod für uns bedeutet. In der Stille kommt aller Schmerz hoch. Es ist wichtig, daß wir nichts verdrängen, daß wir nichts unterdrücken oder in Aktivitäten verfallen. Wir dürfen uns ganz auf uns selbst zurückziehen, den Schmerz spüren und unsere Ohnmacht und Trauer zulassen und annehmen. In der Stille vor Gott hat der Schmerz, die Unsicherheit und eigene Hilflosigkeit ihren Raum. Dort, wo wir uns am verlorensten, am einsamsten, am verzweifeltsten fühlen, dort ist Gott uns am nächsten. Er ist da und hilft uns, auch wenn wir es nicht spüren können, weil der Schmerz zu groß ist und wir mit uns selbst beschäftigt sind. Doch wenn wir wieder still werden können, wenn wir leer sind und ganz bei unserer Bedürftigkeit, dann sind wir auch offen, Gott zu begegnen. Wenn wir die Stille suchen und sie immer wieder üben, werden wir die Wahrheit erfahren, die uns noch verborgen ist. Auch Jesus hat sich im Tod Gott ganz dahingegeben: Im Garten Gethsemane ist er in der Stille des Gebets ganz mit Gott verbunden. Ihm vertraut er sich an. Ihm gibt er sich dahin: »Nicht, was ich will, sondern was du willst!« (Markus 14,36). Jesus verzichtet ganz auf Zeichen seiner Macht. Er macht nichts. Er widersteht den menschlichen Versuchungen. Das Kreuz wird zum Symbol seiner Hingabe. Die Ohnmacht, mit der er stirbt, bringt ihm Unverständnis und Spott ein. 110
Als er am Kreuz hängt, schütteln die Menschen den Kopf und lästern über ihn. Die Hohenpriester und Schriftgelehrten sprechen: »Er hat anderen geholfen und kann sich selber nicht helfen« (Markus 15,31). Doch Jesus nimmt den Tod an. Indem er dem absoluten Nichts begegnet, darf er den Tod durchbrechen und zum neuen Leben auferstehen. Er erfährt die Hilfe Gottes, und sein wahres Sein offenbart sich.
Seelsorge in
Grenzsituationen
An die Stille vor Gott knüpft die Seelsorge an, denn wirkliche Seelsorge ist voller Stille. Die seelsorgerliche Grundhaltung ist die der Ohnmacht. Seelsorge macht nichts. Sie gibt der Ohnmacht Raum und verdrängt sie nicht. Sie gibt der Ohnmacht in der Person des Seelsorgers und der Seelsorgerin eine Gestalt. Die moderne Medizin kämpft mit dem Tod, um den sterblichen Körper möglichst lange am Leben zu halten. Sie bemüht sich den Tod zu »verdrängen«. Ihre Grundhaltung ist Machen. Ganz anders dagegen die Seelsorge: In der Stille vor Gott liegt die Wahrheit. Die Seelsorge stellt sich der Wahrheit des Todes und hilft so dem Sterbenden, sich selbst zu begegnen. Der Tod konfrontiert den Menschen mit der Wahrheit seiner Ohnmacht. Gegen den Tod können wir nichts machen! Nur wenn wir uns dieser Wahrheit stellen, gewinnen wir die Freiheit, ja zu sagen und Abschied zu nehmen. Nur wenn wir uns dem Tod stellen, lernen wir loszulassen. Stille vor Gott heißt, die Realität des Todes annehmen und aushalten. Stille heißt auch: Keine Vertröstungen, keine billigen Hoffnungen, keine Unwahrhaftigkeit gegenüber dem Sterbenden, keine falschen Bil111
der und Illusionen, keine Lehren und Ideologien, sondern die Wahrheit so sehen und so annehmen, wie sie ist. Seelsorge geht dem Tod nicht aus dem Weg, sie flieht nicht vor der Realität, sondern ist bereit, die Wahrheit anzusprechen und auszusprechen. Die Wahrheit ist immer weniger schlimm als die Angst vor ihr. Eine Seelsorge, die der Wahrheit verpflichtet ist, ist auch bereit, diese Wahrheit mitzutragen und mitzuertragen. In der Begleitung des Sterbenden stellt sie sich immer wieder ihrer eigenen Ohnmacht. Im DaSein für den Mitmenschen schafft sie einen Raum der Begegnung. Der Seelsorger (entsprechend auch die Seelsorgerin) begegnet dem Sterbenden als Mensch, der wie er unter der Macht des Todes steht. Gerade weil er die menschlichen Nöte kennt, weil er dem Sterbenden als Mit-Mensch begegnet, kann er dem Sterbenden auch nahe sein. Er kann sich auf den Sterbenden einlassen, widmet ihm Zeit und Aufmerksamkeit. Auch er kennt die Gefühle, die Grenzerfahrungen auslösen. Er kennt die Angst vor dem Tod aus eigener Erfahrung. Der Seelsorger hilft dem Sterbenden, seine Gefühle auszudrücken und die emotionalen Erlebnisinhalte zu verbalisieren. Er hat Verständnis für seine Wut und seinen Zorn. Er fühlt sich ein in seine depressive Stimmung und trauert mit ihm über den bevorstehenden Verlust. Er teilt mit ihm den Schmerz und begleitet ihn in seiner Angst und Verzweiflung. Er hilft ihm, sich von all dem, was ihn beschwert, zu entlasten und gibt ihm Raum, sich auszusprechen und mitzuteilen, seine Schuld zu bekennen und sich freizusprechen. Er hilft ihm frei zu werden von allem, was ihn an das vergangene und vergängliche Leben bindet, loszulassen, Abschied zu nehmen und in das Sterben einzustimmen. 112
Am Ende steht die Stille, das Schweigen. Der Seelsorger atmet mit dem Sterbenden das Leben ein und aus. Es sind weniger die Worte als die Gesten, die Nähe und Verstehen ausdrücken. Die Stille ist Ausdruck von Frieden und Einverstanden-Sein. Der Sterbende stimmt seinem Sterben-müssen zu. Er kann loslassen. Er kann sich einer höheren Macht überlassen. In dieser Stille löst sich etwas. Es ereignet sich etwas, was nicht gemacht werden kann. In der Stille des seelsorgerlichen Gesprächs habe ich oft erlebt, wie Leben erwacht ist, wie sich Lösungen angeboten haben, wie Klärung möglich wurde, wie Schatten verschwanden und sich Neues öffnete. Vielleicht erfahren wir ähnliches dort, wo wir dem Tod standhalten, unsere Ohnmacht aushalten und in die Stille hören. Denn sie ist offen für eine Wirklichkeit, die wir nicht mit unseren Augen sehen, und für eine Wahrheit, die wir nicht verstehen können.
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XIII Leben und Tod im Rhythmus der Zeit
Die letzte Stunde Auf dem »Heiligen Berg« der Bayern liegt Kloster Andechs. Am Turm der Klosterkirche ist eine Sonnenuhr. Wie jede andere Uhr zeigt auch sie die Stunden des Tages. Das besondere dieser Uhr aber ist das Bild auf dem Zifferblatt: Es zeigt den Engel Gottes auf der einen und den Tod auf der anderen Seite. Der Bote Gottes und das Totengerippe stehen sich gegenüber. Beide zusammen halten eine Inschrift, auf der steht: »Una ex hisce morieris - Eine dieser Stunden wird deine letzte sein«. Gott auf der einen und der Tod auf der anderen Seite wollen dem Menschen deutlich machen, daß jedem die Stunde schlägt, in der er sterben muß. Die letzte Stunde kommt unaufhaltsam. Dann ist die Uhr abgelaufen. Die Sonne scheint nicht mehr. Die Uhr des Lebens steht still, und es wird dunkel. Deshalb ist es gut, auf die Uhr zu schauen und sich an die letzte Stunde zu erinnern. Das ist nicht leicht, denn jede Stunde des Lebens ist kostbar. Der Beter des 39. Psalms bittet Gott selbst, ihm zu helfen, sich immer wieder auf diese letzte Stunde einzustellen und mit dem Ende 114
zu rechnen: »HERR, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß« (V.5). - Denn der 39. Psalm weiß auch, daß es Menschen gibt, die sich in falschen Sicherheiten wiegen: »Sie gehen daher wie ein Schatten und machen sich viel vergebliche Unruhe; sie sammeln und wissen nicht, wer es einbringen wird« (V. 7). Sie verlieren sich und ihre Zeit in den Äußerlichkeiten. Die Uhr zeigt das ständige Fortschreiten der Zeit. Sie mißt die Zeit und gibt dem Menschen auf diese Weise Orientierung. Gleichzeitig nimmt sie den Menschen mit hinein in den Rhythmus des Lebens: Morgen - Mittag - Abend, Vormittag - Nachmittag, Tag - Nacht. Die Uhr ordnet den Tag und das Leben. Der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell schreibt über den Lebensrhythmus: »Daß die Lebensführung für depressive Menschen von Bedeutung ist, war, wie ein Blick in die Melancholiegeschichte zeigt, schon den alten Ärzten bekannt. Nur war die Regulierung des Lebensrhythmus früher wohl auch gesellschaftlich stärker eingebunden. Vom >bete und arbeitet des großen Klostergründers Benedikt von Nursia (480-550) als tägliche Richtschnur über die Einhaltung der Sabbatgebote an sonntäglichen Feiertagen im Rhythmus der Wochentage bis hin zur Festordnung des Kirchenjahres sind in den letzten zwei Jahrtausenden in Europa immer wieder Versuche unternommen worden, den rhythmischen Wechsel von An- und Entspannung, von Bewegung und Ruhe zu ordnen« (Hell, 260) Der Lebensrhythmus geht immer mehr verloren. Das ist vielleicht der Grund für das Zunehmen der Depression. Der Wechsel von beten und arbeiten, von Feiertag und Werktag, von »Kampf und Kontemplation« (Taize) gerät immer mehr in Vergessenheit. Damit geht die Zeit verloren, Tod und Leben zu würdigen 115
und das Sterben einzuüben. Der Rhythmus der Zeit ist geprägt von Tod und Leben, von Werden und Vergehen. Leben und Tod gestalten sich in den verschiedensten Kreisläufen. Sie bestimmen den Zyklus von Tag und Nacht, der Woche und der Jahreszeiten. Der Tag des Herrn Auch das Leben des Christen ist geprägt vom Wechsel der Zeiten. Der Glaube hat seinen Lebensrhythmus, der Leben und Sterben, Tod und Auferstehung gestaltet: Am ersten Tag der Woche, am Ostermorgen, ist Christus von den Toten auferstanden. Seither feiert die christliche Kirche an diesem Tag das Gedächtnis der Auferstehung ihres Herrn. Jeder Sonntag ist ein kleines Osterfest. Er ist Ausdruck der Freude und geprägt von der Gewißheit, daß Christus lebt. In seinem Namen und zu seinem Gedächtnis versammelt sich die Gemeinde, um die Gemeinschaft mit ihm im Gottesdienst zu feiern. Sie gibt damit ein Zeugnis vor der Welt, daß Christus lebt. Sie feiert die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen, denn er hat den Seinen verheißen: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen« (Matthäus 18,20). Er ist gegenwärtig in seinem Wort und in seinem Sakrament. Im Heiligen Mahl feiert die Gemeinde ihre Gemeinschaft mit Christus. Der Auferstandene begegnet ihr in den sichtbaren Zeichen seiner Gegenwart. In Brot und Wein ist er leibhaftig unter ihnen. Christus stärkt die Seinen mit dem Brot des Lebens (Johannes 6,35). Es ist Wegzehrung auf ihrem Weg durch das Leben, erhält die Gemeinde im Glauben und erneuert die Hoffnung auf das ewige Leben. Am Tisch des Herrn überschreitet die versammelte Gemeinde die Grenze zwischen Leben und Tod. 116
Die sichtbare Gemeinschaft der Gläubigen ist bewußt und unbewußt mit der unsichtbaren Gemeinschaft der Lebenden und der Toten verbunden. Das Sakrament des Altars ist Vorgeschmack auf das himmlische Freudenmahl der Erlösten. Die Verbundenheit der Christen zu allen Zeiten und an allen Orten beschreiben zum Beispiel die Gedenkbitten aus der eucharistischen Liturgie von Lima in der Fassung von Frieder Schulz: Gedenke, Herr, deiner Kirche, die erlöst ist durch Christi Blut. Offenbare ihre Einheit, wache über ihren Glauben und erhalte sie in Frieden. Gedenke, Herr, aller, die deiner Kirche dienen, und aller, denen du besondere Gaben des Dienstes verliehen hast. Gedenke auch unserer Schwestern und Brüder, die im Frieden Christi gestorben sind. Gedenke aller Verstorbenen, deren Glauben du allein kennst. Geleite uns zum Freudenmahl mit den Zeugen des alten und des neuen Bundes und mit allen, die bei dir Gnade gefunden haben. Wir singen dir Lob in der Gemeinschaft der Heiligen und erwarten das herrliche Kommen deines Reiches, wo wir mit der ganzen Schöpfung, erlöst von Sünde und Tod, dich rühmen und preisen werden ohne Ende. Maranatha, der Herr kommt. Maranatha, Halleluja. 117
Der tägliche
Gottesdienst
Nicht nur der sonntägliche Gottesdienst feiert das Leben. Auch der tägliche Gottesdienst umspannt Leben und Tod. Seit Jahrhunderten werden in den christlichen Kirchen Gottesdienste zu den Tageszeiten gefeiert. Die evangelische Tradition übernahm aus den gottesdienstlichen Tag- und Nachtzeiten des Mönchtums die vier Ordnungen der Mette (Morgengebet), der Vesper (Abendgebet) des Mittagsgebets und der Komplet (Nachtgebet): Das Morgengebet preist Gott für das Leben an dem neuen Tag: »Gelobt sei der Name des Herrn vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Seine Herrlichkeit ist so weit wie der Himmel« (vgl. Psalm 113,3). Das Abendgebet schaut auf den zu Ende gehenden Tag und bittet den Herrn um seinen Beistand: »Herr, bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget« (Lukas 24,29). Das Abendgebet von Georg Christian Dieffenbach (1822-1901) beschreibt die innere Beziehung des Abends mit dem Tod und bittet Jesus Christus um seinen Beistand: »Bleibe bei uns Herr, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget. Bleibe bei uns und bei deiner ganzen Kirche. Bleibe bei uns am Abend des Tages, am Abend des Lebens, am Abend der Welt. Bleibe bei uns mit deiner Gnade und Güte, mit deinem heiligen Wort und Sakrament, mit deinem Trost und Segen. Bleibe bei uns, wenn über uns kommt die Nacht der Trübsal und Angst, die Nacht des Zweifels und der Anfechtung, die Nacht des bitteren Todes. Bleibe bei uns und bei allen deinen Gläubigen in Zeit und Ewigkeit«. Nicht nur die Abendgebete, auch die geistlichen Abendlieder machen Sterben und Tod immer wieder zum Thema. 118
Vor allem das Nachtgebet der Kirche, die Komplet, ist geprägt von der geistlichen Auseinandersetzung mit dem Tod: Es bittet Gott den Allmächtigen um »eine ruhige Nacht und ein seliges Ende«. Der Beter weiß sich in den schweigenden Stunden der Nacht bei Gott geborgen. Ihm vertraut er auch in der Nacht des Todes: »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott« (vgl. Psalm 31,6). Das Nachtgebet schließt mit der Bitte, daß Gott die Seinen, die von der Unruhe dieser vergänglichen Welt müde sind, in seinem Frieden ruhen läßt. Das
Kirchenjahr
So wie die Jahreszeiten dem Leben und dem Sterben, der Saat und der Ernte, dem Werden und dem Vergehen ihre Gestalt, ihre Zeit und ihren Raum geben, so feiert auch das Kirchenjahr das Leben und erinnert an das Sterben. Jedes Jahr aufs neue beginnt es mit der Vorbereitung auf die Geburt und endet mit dem Tod, beschreibt es den ewigen Kreislauf des Lebens und stellt ihn hinein in die Ewigkeit Gottes. Das Kirchenjahr ist das Christusjahr. Die Gläubigen wissen sich verbunden mit Christus, ihrem Herrn. Sie haben Anteil an seinem Leben und Sterben. Sie feiern seine Geburt und trauern über seinen Tod. Sie feiern seine Auferstehung, den Sieg über den Tod und leben als seine Kirche von seinen Verheißungen, die über den Tod hinaus in die Ewigkeit weisen. Christus selbst begleitet die Seinen durch das Leben und verbindet ihr Leben mit seinem Leben. In ihm dürfen sie sich selbst wiedererkennen. Er bringt ihr begrenztes Leben in die Beziehung zu Gottes ewigem Leben. Vor allem am Ende des Kirchenjahres schauen die Gläubigen auf ihr eigenes Ende, auf ihren Tod. Am
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Ende beschäftigen sie sich mit den letzten Dingen: Am Drittletzten Sonntag hoffen sie auf die Erneuerung der Welt. Der Vorletzte Sonntag läßt sie vor den Richterstuhl Christi treten. Sie betrachten vor ihm ihr Leben und ziehen Bilanz. Der Büß- und Bettag ruft zur öffentlichen Buße. Die Christen bitten Gott um seine Gnade und wollen von dem Weg, der sie von Gott entfernt, umkehren. So sind sie vorbereitet auf ihr eigenes Ende, den Tod. Deshalb fürchten sie den Tod auch nicht und geben ihrer Hoffnung Ausdruck, daß der Tod nicht das letzte in ihrem Leben ist. Am Letzten Sonntag des Kirchenjahres, dem Ewigkeitssonntag, schauen sie über die Grenze des Todes hinaus auf die Ewigkeit Gottes.
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X"Y Am Ende
Am Ende stehen und sind wir am Ende. Vor uns legt die Grenze des Lebens. Wir stehen auf der Schwelle zwischen Tod und Leben. Der Tod ist die große Anfrage an das Leben und an die Lebenden. Niemand kann ihr entrinnen. Jeder Versuch, sie zu verdrängen, muß scheitern. Der Tod betrifft uns alle. Er läßt uns nur die Frage: Sind wir auf unseren Tod vorbereitet? Welche Antwort haben wir auf das Leben und das Sterben? Im Angesicht des Todes sprechen Menschen von sich: Sie sprechen von ihrer Betroffenheit und Trauer, von ihren Gefühlen und Ä ngsten. Am Ende beschäftigen wir uns mit den letzten Dingen. Wir suchen nach dem, was Bestand hat. Wir suchen nach Halt und nach Hilfe. Wir suchen Gewißheit und wollen vertrauen. Wir suchen etwas, was auch über den Tod hinaus Bestand hat. Im Alter rückt deshalb der Glaube wieder stärker ins Zentrum des Lebens. Wir spüren die eigene Schwachheit und Unvollkommenheit und möchten einem Größeren, Stärkeren und Mächtigeren vertrauen. Wir hoffen auf den, der Herr über Leben und Tod ist. Es ist gut, das eigene Leben, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft im Licht des Glaubens 121
zu betrachten. Meine Lebensgeschichte soll und darf in einer inneren Beziehung zur Glaubensgeschichte stehen. Wir dürfen uns festmachen an unserem Glauben und wir dürfen uns eingebunden wissen in den Glauben der Gemeinschaft. Der Glaube gibt uns Antwort auf unsere Fragen. Er will uns helfen, uns mit den offenen Problemen, mit den Konflikten und seelischen Nöten auseinanderzusetzen und uns mit ihnen zu versöhnen. Er hilft uns, unser Leben anzunehmen und voller Hoffnung in die Zukunft zu gehen. Im Angesicht des nahen Endes ziehen wir Bilanz, Lebensbilanz. Wir schauen zurück auf das Leben, auf die Lebens-Erfahrungen, und erinnern uns: Wir denken an die Familie lind die Kinder. Vielleicht sind wir stolz auf das, was wir erreicht haben, auf die persönlichen Erfolge, auf das, was erarbeitet und geschaffen wurde, auf das Lebenswerk. Wir besinnen uns auf das Gute und empfinden vielleicht Dankbarkeit gegenüber Gott und den Menschen. Gott hat uns das Leben gegeben, und er hat es auf vielfältige Weise gesegnet und begleitet. Er hat unsere Lebensgeschichte geleitet und uns dorthin geführt, wo wir jetzt stehen. Wir schauen aber auch auf das, was wir beklagen und betrauern müssen: Vielleicht ist uns manches nicht gelungen. Vielleicht haben wir auf manches verzichten müssen. Oder wir haben manches verloren. Vielleicht ist ein naher, Mensch, ein Partner verstorben. Vielleicht hat uns das Leben schwer geprüft. Wir spüren die seelischen Verletzungen und Belastungen. Am Ende fragen wir: Hat es sich gelohnt? War es die viele Arbeit wert? Was habe ich versäumt? Was ist auf der Strecke geblieben? Wem bin ich etwas schuldig geblieben? Am Ende sind wir voller Erwartung. Wir warten, daß der Herr kommt und uns erlöst. Wir warten, daß er seine Verheißung für uns wahr macht. Wir möchten 122
Gott schauen und zu ihm zurückkehren. Wir haben eine Vision, einen Traum. Doch wir können unsere Erwartungen und unsere Hoffnung nur in Bildern und Symbolen ausdrücken. Wir können von dem, was wir nicht mit unseren Augen sehen, nur in Gleichnissen und Analogien sprechen. Paulus beschreibt unsere Situation so: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin« (1. Korinther 13,12). In einem Spiegel sehe ich »mein« Bild. Ich sehe das, was ich hinein werfe und hinein projiziere. Wir müssen aber unsere Projektionen von den Urbildern der Seele unterscheiden. Paulus sieht hinter den Spiegel und durch ihn hindurch. Eines der archetypischen Bilder ist die neue Schöpfung: »Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde« (2. Petrus 3,13; Jesaja 65,17-25; Offenbarung 21,1-7). Wir möchten zurück an den Anfang, in den Urzustand des Paradieses. Das verschlossene Tor zum Garten Eden soll sich wieder öffnen. Das Alte und Vergängliche, der Tod und die Trauer, das Leid und die Ungerechtigkeit sollen ein Ende finden. Die neue Welt, die neue Schöpfung steht für ein Leben ohne Leiden, ohne Tod und Trauer, ohne Not und Schmerzen, für Vollkommenheit und Unvergänglichkeit, für Frieden und Gerechtigkeit, für ein Leben voll Freude und Wonne, denn Gott wohnt bei den Seinen. Die schmerzhafte Trennung von ihm ist aufgehoben. In seiner heilvollen Gegenwart liegt die Herrlichkeit. Am Ende sehen wir auch ein großes Fest. Eine Hochzeit soll gefeiert werden (Matthäus 25,1-13). Der Bräutigam hat sich angekündigt. Er ist auf dem Weg. Alle sind voll Sehnsucht und freudiger Erwartung. Doch als der Bräutigam kommt, sind nicht alle bereit, 123
ihn zu empfangen. Nicht alle sind vorbereitet. Die, die bereit sind, gehen ihm entgegen. Der Bräutigam führt sie mit sich zum Hochzeitsfest. Hinter ihnen werden die Türen verschlossen. Das Fest beginnt. Es ist eine geschlossene Gesellschaft. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« dieser berühmt gewordene Satz von Michail Gorbatschow beschreibt die Situation. Wer nicht bereit und vorbereitet ist, der kann leicht zu spät kommen und die Chance seines Lebens verpassen. Wer nicht wirklich wach und bereit ist, den Bräutigam zu empfangen und mit ihm auf das Fest zu gehen, der schließt sich selber aus. Es gibt Entscheidungen im Leben, die müssen wir treffen, sonst wird uns die Freiheit der Entscheidung genommen. Wir können in der depressiven Grundstimmung verharren, oder wir können uns auf den Weg machen und dem Bräutigam entgegengehen, ihm mit unserem Licht und unserer Lebensfreude begegnen und mit ihm zum Fest des Lebens gehen. Irgendwann ist es zu spät. Dann können wir nur noch zurückschauen und die vergebenen Chancen beklagen. Irgendwann hat für jeden von uns die letzte Stunde geschlagen. Dann muß uns klar sein, ob das Leben für uns mehr ist als der Tod, und ob unser Glaube an die Zukunft stärker ist als die dunklen Todesschatten. Irgendwann werde ich gefragt, ob ich vorbereitet bin, ob mein Glaube standhält, ob meine Glaubenskraft stärker ist als die Resignation, als das Zaudern und Zögern. Es gibt einen Moment, da kann ich nicht mehr zum anderen sagen: Gib mir etwas von deinem Glauben, von deiner Hoffnung, von deinen Gebeten, von deiner Gelassenheit und deinem Vertrauen. Da helfen mir die Glaubenserfahrungen anderer nichts. - Da muß ich selber aufstehen und bereit iz4
sein. Da geht es dann um mich und meinen Glauben, um meine Liebe und um meine Hoffnung. Da muß ich mich entscheiden, ob ich leben und das Fest des Lebens mitfeiern will. Das Bild der Hochzeit ist das Sinnbild für die Vereinigung Gottes mit den Menschen. Hier verbinden sich Himmel und Erde, Bewußtes und Unbewußtes, Licht und Schatten, Männliches und Weibliches, die Gegensätze des ganzen Kosmos. Die »heilige Hochzeit«, das mysterium coniunctionis ist ein zentrales Ganzheitssymbol. Das Getrennte und Gespaltene vereinigt sich. Der Bräutigam ist Jesus Christus. Wenn wir offen sind für ihn, dann dürfen wir auch seine Liebe empfangen und mit ihm das Fest feiern, das ewig dauern wird. Am Ende schließt sich der Kreis. Anfang und Ende gehen ineinander über. Die scheinbaren Grenzen und Gegensätze sind aufgehoben. Zeit und Ewigkeit fallen in eins. Die Grenzen öffnen sich für die Wirklichkeit Gottes. Wir schauen das, was wir nicht mit unseren Augen sehen, und wir berühren das, was wir nicht fassen können. Der geschlossene Kreis ist Symbol für die Einheit, für die Gemeinschaft und die Vollkommenheit. Das, was getrennt war, ist aufgehoben in der Gemeinschaft und der Einheit mit Gott. Das Unvollkommene findet die Vollkommenheit Gottes. Die Zeit geht ein in die Ewigkeit Gottes.
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