Den LeibKörper erforschen: Phänomenologische, geschlechter- und bildungstheoretische Perspektiven auf die Verletzlichkeit des Seins 9783839445754

Understanding physicality and the body as central dimensions of an embodied scientific practice - based on Anke Abraham&

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German Pages 300 Year 2020

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Table of contents :
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Inhalt
Einleitung
Der Körper in symbolischen Ordnungen der Beratung – eine kritische Analyse
KörperLeib – Theoretische Auseinandersetzungen, Aneignungen und Weiterentwicklungen
Der Körper als Grenze
Der Leib in der Soziologie. Eine Würdigung
Die Abwertung von Care als relational-leibliche Arbeit
Der Eigensinn des Leibes als Erkenntnisquelle
Soma Studies: Entwurf einer Theorie zur körperlichen Materialität
(Nicht-)Orientierende Skizzierungen
Bewegung und (kulturelle) Bildung
»when the fire dances between two poles«
Künstlerisch Forschen im Mixed-abled Dance – leiblich, partizipativ, transformatorisch
Bewegung, Bildung und leibliche Erfahrungen
Die Bedeutung bewegungskultureller Praktiken im Bildungsprozess Jugendlicher
Wissen, kulturelle Bildung und ästhetisches Lernen
Verkörperte Utopien – utopische Körperlichkeiten
Ein Ort zum Verweilen
Ver-wickelungen
Zeit – Beschleunigung – Alter
wohl.visionär.wirksam.
Publikationen Prof. Dr. Anke Abraham
Autor*innen
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Den LeibKörper erforschen: Phänomenologische, geschlechter- und bildungstheoretische Perspektiven auf die Verletzlichkeit des Seins
 9783839445754

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Beatrice Müller, Lea Spahn (Hg.) Den LeibKörper erforschen

Soma Studies  | Band 5

Editorial Die interdisziplinäre Buchreihe Soma Studies beschäftigt sich aus normierungskritischer Perspektive mit der Frage der sozialen Einbindung des Körpers. Im Vordergrund steht die Frage, wie eine lebendige, eigensinnige und sinnlich-sinnhafte Dimension von Materialität, die weder in der sozialen noch in der kulturellen Dimension vollends aufgeht noch durch symbolische Prozesse vollständig einholbar ist, in sozialwissenschaftliche Diskurse Eingang finden kann. Soma Studies wollen einen materialist turn weitertreiben: Das somatische Subjekt erscheint als Effekt von Performativität genau wie als Aufschlags-, Ansammlungs- und Durchgangspunkt von Ereignissen, Erfahrungen, Spürbarem und Gespürtem. Zugleich wird eine Beschreibbarkeit von physischen Vorgängen, eine Eigenlogik von Materialität als Physio-Logik, mit Hilfe eines geisteswissenschaftlich kritischen Bezugs auf Natur- und Lebenswissenschaften ausgeleuchtet. Davon ausgehend, dass Körper als agent matter einen Ankerpunkt für soziale Positionierungen und Lokalisierungen samt der von diesen erzeugten Lebensund Erfahrungsräumen bilden, werden Anatomien wie etwa Faszien, Zellen, Organe, Gewebe, Gelenke, Energien, Intensitäten, Atem, Haut, Hormone relevanter Gegenstand einer (von naturwissenschaftlichem Körperwissen inspirierten) sozialwissenschaftlichen Analyse. Der Zusammenhang von GenderBinarity und Trauma, die Konstruktion von Intergeschlechtlichkeit und darin die Rolle der konkreten körperlichen Materialität, das implizite (vergeschlechtlichte) Wissen im Forschungsprozess, somatische Aspekte im Bildungsdiskurs, (post-)migration spaces als verkörperte Heterotopien sowie Erfahrungen von Grenzen und Begrenztheiten im Schnittfeld körpergebundener Materialität und Sozialität sind beispielhafte theoretische und empirische Verdichtungen der Soma Studies. Die Reihe wird herausgegeben von Bettina Wuttig, Anke Abraham (verst.), Joris Anja Gregor und Lea Spahn.

Beatrice Müller (Dr.in phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta. Sie arbeitet zu feministisch-marxistischen Theorien, Care-Ethik, Ökonomisierung und Arbeitsbedingungen im Pflegesektor. Zudem forscht sie zu diesen Themen auch in verschiedenen internationalen Projekten, wie seit 2018 im Projekt »Imagining Age-Friendly ›Communities within Communities‹: International Promising Practices«, das von Tamara Daly, York University (Canada) geleitet wird. Lea Spahn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem BMBF-geförderten Projekt »KuBi-Tanz« zu Vermittlungspraktiken im Tanz in Kulturellen Bildungsformaten und Mitglied des Kernteams des Weiterbildungsmasters »Kulturelle Bildung an Schulen« im Fachbereich 21 an der Universität Marburg. Sie promoviert zu Tanz- und Bewegungspraktiken in Relation zu »doing biography«. Ihre Forschungsinteressen sind Körperlichkeit, Leibphänomenologie, Kulturelle Bildung sowie feministischer Materialismus.

Beatrice Müller, Lea Spahn (Hg.)

Den LeibKörper erforschen Phänomenologische, geschlechter- und bildungstheoretische Perspektiven auf die Verletzlichkeit des Seins

In Gedenken an Anke Abraham

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Esther Abraham Lektorat: Laura Stumpp Korrektorat: Laura Stumpp Satz: Laura Stumpp Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4575-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4575-4 https://doi.org/10.14361/9783839445754 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung

Beatrice Müller & Lea Spahn | 7 Der Körper in symbolischen Ordnungen der Beratung – eine kritische Analyse

Anke Abraham | 15

K ÖRPER L EIB – T HEORETISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN , ANEIGNUNGEN UND W EITERENTWICKLUNGEN Der Körper als Grenze

Susanne Maurer | 39 Der Leib in der Soziologie. Eine Würdigung

Robert Gugutzer | 45 Die Abwertung von Care als relational-leibliche Arbeit

Beatrice Müller | 65 Der Eigensinn des Leibes als Erkenntnisquelle Soziale Ordnungen leiblich erkunden und verstehen

Ulle Jäger & Tomke König | 85 Soma Studies: Entwurf einer Theorie zur körperlichen Materialität

Bettina Wuttig | 113 (Nicht-)Orientierende Skizzierungen Einkörperung von Sozialität zwischen KörperTheorie und KörperPraxis

Joris A. Gregor | 131

B EWEGUNG

UND ( KULTURELLE )

B ILDUNG

»when the fire dances between two poles« Die Tänzerin und Choreographin Anke Abraham

Koni Hanft | 149

Künstlerisch Forschen im Mixed-abled Dance – leiblich, partizipativ, transformatorisch

Susanne Quinten | 163 Bewegung, Bildung und leibliche Erfahrungen Das pädagogische Potential sportlicher Bewegungshandlungen

Ralf Laging | 181 Die Bedeutung bewegungskultureller Praktiken im Bildungsprozess Jugendlicher

Jörg Bietz | 195 Wissen, kulturelle Bildung und ästhetisches Lernen

Christian Kammler | 211

V ERKÖRPERTE U TOPIEN – UTOPISCHE K ÖRPERLICHKEITEN Ein Ort zum Verweilen

Laura Stumpp | 225 Ver-wickelungen Eine phänomenologisch-feministische Perspektive auf Forschen als leibliche Praxis

Lea Spahn | 227 Zeit – Beschleunigung – Alter Einige soziologische Aspekte

Michael Klein | 247 wohl.visionär.wirksam. Labore ästhetischer Erfahrung als Annäherungen an Felder der Zukunft

Brigitte Heusinger von Waldegge | 267

Publikationen Prof. Dr. Anke Abraham | 283 Autor*innen | 293

Einleitung B EATRICE M ÜLLER & L EA S PAHN

Mit der Herausgabe diesen Gedenkbands wollen wir Anke Abraham als außergewöhnliche Lehrerin, Kollegin und Forschende würdigen. Anke ist am 28. April 2017, nach schwerer Krankheit und doch überraschend verstorben. Es ist uns ein Anliegen, Ankes Leben und Schaffen in seinen vielen Facetten aufzuzeigen, und dennoch können wir nur einzelne Einblicke in ihr Leben und Wirken geben. Insbesondere der Prozess der Entstehung dieses Gedenkbandes hat uns eine Einsicht in auch eher unbekannte Bereiche gegeben – und das Ergebnis wird das hoffentlich auch allen Leser*innen ermöglichen. Als ihre Schülerinnen und ehemaligen Mitarbeiterinnen staunen wir im Rückblick über die Aspekte, die wir durch ihre Familie, Freund*innen und Kolleg*innen noch kennenlernen konnten. Anke Abraham beforschte die Themen Körperlichkeit und Leiblichkeit im Kontext von Tanz, Bewegung und Sport – oftmals mit besonderem Blick auf Biographie(-forschung) und in kritischer Auseinandersetzung mit (Körper-)Technologien ›hochmoderner Gesellschaften‹. Ebenso spielte die Bedeutung von Geschlechteridentitäten und -konstruktionen eine zentrale Rolle in ihrem Wirken. Neben diesen vielfältigen Facetten zieht sich das Phänomen der Körperlichkeit wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten. Bereits ihre Doktorarbeit Frauen – Körper – Krankheit – Kunst (1992) nahm Bezug auf den Körper, und mit ihrer Habilitationsschrift Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag (2002) war sie im deutschsprachigen Raum eine der Wegbereiter*innen des body turn (vgl. Gugutzer 2006). Biographisch betrachtet begann ihre kritische Auseinandersetzung mit dem Körper durch ihre Zeit als Hochleistungssportlerin in der Rhythmischen Sportgymnastik und später als Mitglied und ab 1988 auch Choreographin des Tanzensembles Maja Lex in Köln. Durch ihr wachsendes Interesse, sich dem Phänomen des Körpers auch wissenschaftlich zu widmen, änderte sich ihr Weg in Richtung

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Wissenschaft. Nach einigen Stationen, teilweise gemeinsam mit ihrem Mann Prof. Dr. Michael Klein, nahm sie 2004 den Ruf an die Philipps-Universität Marburg an und leitete fortan den Arbeitsbereich »Psychologie der Bewegung« – eine Professur, die halb in der Sportwissenschaft, halb in der Motologie verortet ist. Ihre Zeit in Marburg lässt sich durch ihre Schriften (siehe Publikationsliste) thematisch nachverfolgen, wir möchten daher hier in aller Kürze nur Anke Abrahams Perspektiven auf Körperlichkeit skizzieren. Sie verstand den Körper mit Bezug auf die philosophische Anthropologie und (Leib-)Phänomenologie nicht nur als Objekt von gesellschaftlichen Einschreibungen, vielmehr war es ihr Anliegen, den Körper oder dann eben den Leib in seiner Subjekthaftigkeit und Lebendigkeit als Grenze des Machbaren zu verstehen und insofern auch anzuerkennen. Sie hat den Körper damit als »Existenzial« (2016a: 83) gesetzt als »zentrale und unhintergehbare Konstitutionsbedingungen unsere körpergebundenen Existenz […]: als ein ›Objekt‹ oder ›Gegenstand‹, über den wir verfügen können und müssen, und als ein Mittel oder Medium, das uns – in wiederum verzwickter doppelter Weise – nicht nur das Wahrnehmen, Erleben, Erkennen und Handeln ermöglicht, sondern das wir zugleich auch selbst sind« (Abraham/Müller 2010: 23).

Den Körper hob sie in dieser Hinsicht als »begrenzt« (2011) hervor – als verletzlich und endlich – und blickte mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Verweisungszusammenhänge zwischen aisthetischer Leiblichkeit wie sozialen und materialen Wirk-lichkeiten. Sie wollte den Körper auch in seiner Widerständigkeit und Materialität als Erkenntnismöglichkeit verstehen und misstraute in dieser Suche disziplinären Grenzen. Ihre Biographie als Tänzerin, Konzentrative Bewegungstherapeutin (KBT) und Sozialwissenschaftlerin ermöglichte ihr in besonderer Weise multidiverse Zugänge. So wollte sie »die eignen leiblichen, sinnlichen und bewusstseinsmäßigen Erfahrungen« (2002: 194) ins Spiel bringen und als »Erkenntnisquelle« (ebd.) anerkennen. Auch wenn sich die Auseinandersetzung mit dem Körper durch Ankes Leben und wissenschaftliche Auseinandersetzungen zog, verstand sie diese ontologische Faktizität der eigenen Körperlichkeit als Leiblichkeit nicht als solipsistisch; sie skizzierte und reflektierte – in gesellschaftskritischer Absicht – leibliche Erfahrung zeitdiagnostisch im Spannungsfeld hochmoderner Gesellschaften, die von räumlicher Vernetzung, verschachtelten Zeitlichkeiten und neoliberalen

E INLEITUNG | 9

Freisetzungen geprägt sind. Durch die Betrachtung von Leiblichkeit in einem solchen Kontext war diese für Anke immer nur relational und in ihrer Bezogenheit auf Andere(-s) zu denken, denn: »Wir können uns unser Selbst oder unser Ich nur vergegenwärtigen, weil und indem wir in einem relationalen und wechselseitig aufeinander verweisenden Bezug zu einer Dingwelt stehen, auf deren leibliche Resonanz wir zwingend angewiesen sind« (2016b: 187). Diese Resonanzbeziehung sei ein Einlassen, ein Sich-berühren-Lassen, ein Sich-etwas-sagen-Lassen – und einmal mehr scheint Anke Abrahams epistemologische Position auf: Leiblichkeit bildet das Potential, sich in und trotz seiner sozialen Strukturiertheit als Ausgangspunkt einer »Neuschöpfung, die das sozial bedingte Sogeworden-Sein ebenso reflektiert wie das Noch-nicht-Realisierte, Mögliche oder Andere« (ebd.: 192, Herv. i.O.), zu sehen. Relationalität ist demnach als Dynamik Grundlage für ihr Subjektverständnis, das sich zwischen Kontingenzen des Selbst und leiblicher Eigenlogik aufspannt. Sie bezog diese Dimension insbesondere auch auf (sich als) Forschende und stellte heraus, dass »der Gegenstand […] im Sinne eines simultanen Geschehens durch die leiblich-affektive Erregung (und die spezifische ›Aufgeladenheit‹ der Situation) zu dem [reift], als was er wahrgenommen wird« (2002: 193f.). Diese Haltung lebte sie – als Wissenschaftlerin, aber auch als Lehrende und Mentorin. Zuletzt war sie auch Akademische Leiterin des Weiterbildungsmasterstudiengangs »Kulturelle Bildung an Schulen« an der Philipps-Universität Marburg – ein Studiengang, den sie mitkonzipiert und -aufgebaut hat. Inhaltlich vermittelte sie hier die ästhetische Dimension von Bildung in ihren biographischen und gesellschaftspolitischen Bezügen und deren transformatorisches Potential. Durch ihren plötzlichen Tod fehlt uns ihr leidenschaftliches, kritisches und aufmerksames Sein – wir hoffen mit diesem Band allen Leser*innen eine Möglichkeit zu eröffnen, sich mit Anke Abrahams Wirken auseinanderzusetzen und ihre Anstöße weiterzutragen. In diesem Gedenkband gibt es verschiedene Textsorten, die Anke als Choreographin, Kollegin, Wissenschaftlerin und Lehrerin würdigen. Zu Beginn des Gedenkbands setzen wir den letzten, noch unveröffentlichten Beitrag Anke Abrahams. Wir wollen damit Anke selbst zu Wort kommen lassen. Der Beitrag war für einen Band zu Symbolischen Ordnungen in Beratung verfasst und behandelt damit ein Thema, das auch für Anke neu war. Umso ausdrücklicher nimmt sie Beratungssituationen körpersoziologisch und leibphänomenologisch in den Blick, um auf das Potential zu verweisen, das diese Perspektive für das Beratungsgeschehen haben könnte.

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Darauf folgend ist der Band in drei Kapitel gegliedert, die alle von einem besonderen Einführungstext eingeleitet werden. An dieser Stelle möchten wir allen Autor*innen des Bandes für ihre persönlichen und inhaltlichen Beiträge danken, die Ankes Themen in unterschiedlichster Weise und Intensität aufnehmen, diskutieren und weiterdenken. Die Einleitung in das Kapitel KörperLeib – Theoretische Auseinandersetzungen, Aneignungen und Weiterentwicklungen nimmt Susanne Maurer vor, indem sie die ›verkörperte‹ Eröffnung einer gemeinsamen Tagung mit Anke Abraham dokumentiert. Damit hält sie den Versuch fest, den Beginn einer Tagung in anderer Weise zu gestalten. Es galt, im Hörsaal nicht vorne und unten, sondern hinten und oben zu stehen und abwechselnd in Bewegung Gedanken zum Körper und Raum zu zitieren. Robert Gugutzer verfolgt in seinem Beitrag das Anliegen, ganz im Sinne Anke Abrahams die Zentralität des Leibs in der Soziologie zu begründen und zu verteidigen. Dabei geht er von den spürbaren Widerständen gegen den Leibbegriff in der Soziologie aus, die er vor allem darin sieht, dass dem Begriff eine substanzialistische Konnotation sowie der Körper-Leib-Trennung die Reproduktion eines dualistischen Cartesianismus unterstellt wird. Beides weist Gugutzer als unangemessene Kritik zurück. Demgegenüber illustriert er die Erkenntnismöglichkeiten, die der Leibbegriff bietet, indem er auf der Basis einer Kritik an körpertheoretischen Zugängen, der Praxeologie und der Wissenssoziologie, eine leibphänomenologische Perspektive entwickelt. Beatrice Müller entwickelt in ihrem Beitrag (eine Kurzversion ihrer Dissertation, die sie bei Anke Abraham geschrieben hat) im Anschluss an die WertTheorie von Marx und in kritischer Auseinandersetzung mit dem WertAbspaltungstheorem von Roswitha Scholz ihr Konzept der Wert-Abjektion. Dabei arbeitet sie, auf Grundlage internationaler Debatten im Kontext der CareEthik, die körperlich-leibliche Dimension von Care heraus und begründet auf dieser Basis die Abwertungen von Care als leiblicher Arbeit im Produktions- und Reproduktionsprozess und auch in der alltäglichen Praxis im Kontext von Pflege. Ulle Jäger und Tomke König schließen sich Anke Abrahams Plädoyer an, den Körper als Erkenntnisquelle zu nutzen. Sie schlagen einen neuen methodischen Ansatz vor, der an der Schnittstelle von Geschlechterforschung, (Körper-) Soziologie, Beratungswissenschaft, Psychologie und Philosophie ansetzt. Jäger und König erweitern damit vorliegende Körper/Leib-Ansätze um Konzepte des Philosophen und Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin und seinen erlebensbe-

E INLEITUNG | 11

zogenen Ansatz. Sie bringen dazu Gendlins Methoden Focusing und Thinking at the Edge ins Gespräch mit Anke Abrahams Überlegungen zum Körper. Bettina Wuttig legt die Entwicklung und Bedeutung der Soma Studies dar. Soma Studies streben eine Verknüpfung von neu-materialistischen, poststrukturalistischen und lebenswissenschaftlichen Perspektiven an und fragen danach, wie soziologische Theorien konstituiert sein müssen, um die körperliche Materialität des Subjekts fassen zu können. Im Zentrum des Beitrags wird das Verhältnis von Sozialität, Körper und Subjekt als »Prozesshafte Materialisierung« diskutiert und einerseits die Vereinnahmung des Subjekts und andererseits seine Widerständigkeit dargelegt. Der Beitrag von Joris A. Gregor bietet eine theoretische Perspektive an, um die Beteiligung des Körpers an Sozialität zu denken. Dabei verbindet Gregor poststrukturalistische Theorien mit materialistischen Perspektiven und rückt Körper als Organismen in ihrer Agentialität und als Anordnung von Verweisungen zentral in den Fokus. Gregor strebt so ein relationales Verständnis von Ontologie an. Das Kapitel Bewegung und (kulturelle) Bildung wird von Koni Hanft eingeleitet. Ihr Text ist eine sehr persönliche, biographische Beschreibung der Tänzerin und Choreographin Anke Abraham. Hanft stellt Ankes besonderes Gespür und ihre Sensibilität für Form und Gestalt heraus, die ihren Tanz zu etwas Außergewöhnlichem machte. Susanne Quinten sucht in ihrem Beitrag nach den wesentlichen Merkmalen der künstlerischen Forschung im Mixed-abled Dance. Dabei orientiert sie sich an Anke Abraham und versteht das Tanzen in inklusiven Gruppen als leibliches Forschen. Sie stellt die leiblich-körperliche Verfasstheit aller Beteiligten und die Forschungsaktivität als kooperativ-partizipativ mit hohem transformativen Potential heraus. Die Rolle der leiblichen Verfasstheit im Vergleich zu einem dominant kognitivistisch verfassten Bildungsdiskurs der Schule und vor allem des Schulsports untersucht Ralf Laging. Der Beitrag fokussiert körperliche Bewegung im Kontext des Sports sowie in den hierauf bezogenen Bildungskonzepten. Jörg Bietz stellt die große Bedeutung körper-leiblicher Auseinandersetzungen im Bildungsprozess von Jugendlichen heraus. Er zeigt auf, dass in ästhetischen Bewegungspraxen Jugendliche sich ausprobieren können und so in uneindeutigen Situationen Sicherheit in ihrer Selbstorganisation gewinnen können, um eigene Identitätsmerkmale zu entwickeln und zu testen. Christian Kammlers Beitrag stellt ästhetisches Lernen als grundlegenden Wert an sich heraus und kritisiert eine vorherrschende verwertungsorientierte

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Bezugnahme auf kulturelle Bildung und ästhetisches Lernen. Kammler verweist demgegenüber auf die Unverfügbarkeit des Lernens. Im Nachdenken über Verkörperte Utopien – utopische Körperlichkeiten eröffnet Laura Stumpp den letzten Teil des Bands mit einer Kurzgeschichte, indem sie sprichwörtlich ›unsere Vögel im Kopf‹ beschreibt – ein Beitrag der auf Beund Entgrenzungen verweist, aber auch das Verweilen humorvoll als Ausgangpunkt von Wandlung in den Blick rückt. Der Beitrag von Lea Spahn knüpft an dieses Moment aus forschungsmethodologischer Perspektive an, indem sie die konstitutive Verwickelung der Forschenden mit ihrem Gegenstand konturiert. Sie beruft sich auf Anke Abrahams Arbeiten zur Leiblichkeit der Forschenden und arbeitet in Rekurs auf leibphänomenologische wie auch (neu-)materialistische Theorien heraus, wie Momente des Utopischen im Forschungsprozess im Sinne leiblich-kollektiver Heterotopien aufscheinen. Michael Klein entwirft in seinem Beitrag eine soziologische Collage, die Zeit als Phänomen untersucht – von Zeitvorstellungen und ihren Ordnungen in historischer Betrachtung zu Beschleunigung als Zeit-Diagnose moderner Gesellschaften, um Gleichzeitigkeit und Eigenzeit als Bewältigungsaufgaben für Individuen zu konturieren – dies im Besonderen mit Blick auf das Alter, in dem Zeit als erlebte und gelebte ›zum Ende‹ kommt. Im letzten Beitrag eröffnet Brigitte Heusinger von Waldegge Einblicke in ›Labore der Zukunft‹, in denen das Wechselverhältnis von Welt und Ich Ausgangspunkt für gesellschaftliche Transformation wird. Sie stellt ihr Forschungsprojekt vor, das Klimawandel als krisenhafte Entwicklung zum Anlass nimmt, um mit dem Körper und in Bewegung ästhetische Prozesse anzustoßen und gemeinsam Fragen nach möglichen Feldern der Zukunft zu stellen. Abschließend steht eine Publikationsliste von Anke Abraham zur Verfügung, um allen interessierten Leser*innen die Möglichkeit zu geben, auch selbstständig auf Spurensuche zu gehen. Wir danken allen Unterstützer*innen dieses Bandes herzlich, insbesondere unserer Lektorin Laura Stumpp, die uns in diesem Prozess großartig unterstützt hat, und dem transcript Verlag, insbesondere Frau Wierichs, die die Erstellung des Bandes kontinuierlich begleitet hat. Für ideelle und finanzielle Unterstützung des Bandes danken wir Prof.in Dr.in Susanne Maurer, Prof. Dr. Ralf Laging, Prof.in Dr.in Bettina Wuttig und dem Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der PhilippsUniversität Marburg.

E INLEITUNG | 13

Ein besonderer Dank gilt Esther Abraham für das Coverbild aus ihrem persönlichen Archiv, das Ankes Steinesammlung, die über ein Leben gewachsen ist, bildlich in Erinnerung hält. Marburg und Frankfurt, Beatrice Müller und Lea Spahn

L ITERATUR Abraham, Anke (1992): Frauen – Körper – Krankheit – Kunst. 2 Bände, Oldenburg: bis. — (2002): Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag, Opladen: WDV. — (2011): »Der Körper als heilsam begrenzender Ratgeber? Körperverhältnisse in Zeiten der Entgrenzung«, in: Reiner Keller/Michael Meuser (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden: VS-Verlag, S. 31-52. — (2016a): »Der Körper und die Frage nach dem ›guten Leben‹ – Herausforderungen für die (feministische) Normativitätsdebatte«, in: Karolina Dreit/Nina Schuhmacher/Anke Abraham/Susanne Maurer (Hg.), Ambivalenzen der Normativität in kritisch-feministischer Wissenschaft, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, S. 69-89. — (2016b): »Biographische Rekonstruktion und leibliche Erfahrung. Ansatzpunkte zum Verstehen und zur Bearbeitung von Erschöpfung«, in: Reinhold Esterbauer/Andrea Paletta/Philipp Schmidt/David Duncan (Hg.), Body time. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg/München: Karl Alber, S. 176-196. Abraham, Anke/Müller, Beatrice (Hg.) (2010): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript. Gugutzer, Robert (Hg.) (2006): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript.

Der Körper in symbolischen Ordnungen der Beratung – eine kritische Analyse A NKE A BRAHAM

E INLEITUNG Der Beitrag fragt nach symbolischen Ordnungen der Beratung und des Körpers im Beratungsgeschehen. Dazu widmet er sich der Frage, welche symbolischen Orte dem Körper gesellschaftlich zugewiesen werden und durch welche symbolischen Ordnungen Beratung gekennzeichnet werden kann. Begreift man »symbolische Ordnungen« als das Denken und Handeln von Menschen orientierende Deutungsmuster, die zumeist implizit bleiben, so besteht ein berechtigtes soziologisches, pädagogisches und politisches Interesse darin, diese zumeist nicht hinterfragten Zusammenhänge aufzudecken und darüber besser zu verstehen, was in einem ausgewählten Bereich sozialer Wirklichkeit vor sich geht (ähnlich Dimbath 2008, bes.: 285f.). In diesem Sinne ist es Anliegen des Beitrags, bestehende Ordnungen im Kontext von Beratung und im Hinblick auf den Körper wissenssoziologisch zu erhellen und – leibphänomenologisch, biographietheoretisch und pädagogisch begründet – kritisch so zu befragen, dass mögliche andere symbolische Ordnungen sichtbar werden. Zunächst wäre zu erläutern, inwiefern der Körper im Beratungsgeschehen überhaupt von Relevanz ist – mit dieser Frage soll begonnen werden:

1. Z UR R ELEVANZ

DES

K ÖRPERS

IN DER

B ERATUNG

Der Körper spielt im Beratungsgeschehen eine zentrale Rolle – zumindest dann, wenn dieses Geschehen als eine konkrete ›Face-to-Face‹-Begegnung zwischen Menschen begriffen wird. Die Interaktionspartner*innen begegnen sich in einer

16 | A NKE A BRAHAM

materialen Weise als ›Körperwesen‹ (im Sinne Helmuth Plessners als Körper habendes Wesen; Plessner 1975) sowie als ›Leibwesen‹, das sein Körper immer auch ist und das (mit Maurice Merleau-Ponty gesprochen) in einer leiblichaffektiven Weise zur Welt ist und sich selbst, das Gegenüber und die umgebenden räumlichen, zeitlichen und atmosphärischen Momente spürt (Merleau-Ponty 1966; Waldenfels 2000). In den ›Körperleib‹ sind die biographischen Spuren der eigenen Geschichte und der eigenen Erfahrungen eingelassen oder »inkorporiert« (Bourdieu 1993, 2001), die in einem je gegebenen sozialen und kulturellen Raum erlebt und verarbeitet wurden (zum Zusammenhang von Biographie und Leib siehe Alheit et al. 1999; Abraham 2002). Die mit diesen »habituellen« Dispositionen (Bourdieu) verknüpften Haltungen, Erwartungen und Handlungsimpulse, die der*die Beratende und der*die Ratsuchende jeweils mitbringen, generieren und moderieren die entstehenden wechselseitigen Wahrnehmungen und Reaktionen in der Beratungssituation. Im Konzert mit den jeweiligen administrativen, organisatorischen, räumlichen, zeitlichen und atmosphärischen Elementen des Arrangements des Feldes werden in der konkreten leiblichen Begegnung spezifische Verhaltensweisen stimuliert (oder verhindert), die sich zu je spezifischen Interaktionsketten aufschaukeln und verdichten und die über die Qualität, den Verlauf und den Ausgang der Begegnung bestimmen. Dieser überaus komplexe Vorgang der wechselseitigen Wahrnehmung und Reaktionsbildung verweist auf die zentrale Bedeutung, die der körperlichen, sinnlichen und leiblich-affektiven Ebene im Interaktionsgeschehen generell, und so auch in der Beratung, zukommt. In der beraterischen Fachliteratur wurde dieser Ebene bisher allerdings wenig Beachtung geschenkt – primär kreisten und kreisen die Erörterungen zur Gestaltung von Beratung um die mentalen Vorgänge des Aushandelns und Bearbeitens von Problemlagen. Womit diese auffällige Nichtbeachtung des Körpers im Fachdiskurs zusammenhängen könnte, soll im Folgenden kurz angedeutet und darüber auch die besondere symbolische Stellung, die dem Körper in der abendländischen Kultur zugedacht wurde und wird, markiert werden.

2. D ER › VERGESSENE ‹ K ÖRPER – Z EICHEN EINER SPEZIFISCHEN SYMBOLISCHEN K ÖRPERORDNUNG Obwohl sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften einschließlich seiner pädagogischen Disziplinen in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Bewusstheit hinsichtlich der sozialen und subjektbezogenen Bedeutung des Körpers ausgebildet hat und das Körperthema nicht nur einen anhaltenden ›Boom‹ in der all-

D ER K ÖRPER IN

SYMBOLISCHEN

O RDNUNGEN DER B ERATUNG | 17

tagsweltlichen Präsenz verzeichnet, sondern seit den 1980er Jahren auch wissenschaftlich wiederentdeckt wurde (für die Soziologie vgl. Bette 1989; Hahn/ Meuser 2002; Gugutzer 2006; Abraham/Müller 2010b), bleibt der Körper in vielfacher Hinsicht doch nach wie vor verborgen und wird im Mainstream aktueller Debatten und Diskurse in bezeichnender Weise vergessen. Dieses systematische Übersehen des Körpers hat vielfältige Ursachen, die hier nur kurz angedeutet werden können (ausführlicher Abraham 2002): Zum einen stellt uns die Tatsache, dass der Körper nicht nur ein gegenständliches ›Ding‹ ist, sondern zugleich den – reflexiv nur bedingt zugänglichen – Modus menschlichen Seins darstellt, vor erhebliche erkenntnistheoretische Probleme, zum anderen – und das ist ebenfalls wesentlich – ist der Körper in der abendländischen Kultur in ein dichtes diskursives Netz von Abwertungen und Tabuisierungen eingebunden worden. Dies lässt sich etwa daran ablesen, dass der Körper immer wieder zum Objekt von Kontrolle, Zivilisierung und Disziplinierung gemacht wurde, wie es Norbert Elias (Elias 1976) und Michel Foucault (Foucault 1977) in ihren Arbeiten nachzeichnen, und dass der begehrende Körper als ausgemachter Störenfried und Unruheherd – insbesondere in pädagogischen Kontexten (für die Soziale Arbeit vgl. Niemeyer 2012) – immer wieder durch den als überlegen markierten Willen, die Vernunft oder den Intellekt in seine Schranken gewiesen werden sollte und soll. Im Rahmen der Pädagogik ab Mitte des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts lässt sich dies anschaulich an der Bekämpfung der kindlichen Sexualität und der Onanie ablesen sowie an dem gesamten Programm einer »Schwarzen Pädagogik« (Rutschky 1988), die den Körper zur zweckgebundenen Ertüchtigung anhielt, ihn durch Schläge strafte und durch reglementierte Sitz- und Schreibhaltungen in der Schule stilllegte (Rumpf 1994, 1999). In diesen und vergleichbaren Praktiken, die den Körper reglementieren, ihn zum Schweigen bringen, nach einem bestimmten Kalkül stimulieren, gestalten oder zur Leistung antreiben, und die der Vernunft zum Sieg über den Körper verhelfen, zeigen sich spezifische symbolische Ordnungen, die dem Körper im sozialen Raum einen besonderen Platz anweisen: Der Körper wird als bedrohlich und ›asozial‹ phantasiert, was es nötig erscheinen lässt, ihn zum Objekt einer »Sorge« (Foucault 1977) oder »repressiven Fürsorge« (Baudrillard 1981) zu machen; im Zuge einer solchen Fürsorge wird er in seinen Potentialen beschnitten oder einseitig stimuliert und vernutzt, insgesamt aber auf Distanz gestellt. Diese Distanzierung vom Körper und die Dominanz eines beherrschenden Gestus, mit der die ängstigende Unberechenbarkeit des Körpers gezähmt und kontrollierbar gemacht werden soll, mögen im Verbund mit der Uneinholbarkeit und Undurchschaubarkeit des Körpers und des Phänomens des ›Leibseins‹ dazu geführt haben, dass einflussreiche wissenschaftliche Diskurse ohne Hinwendung zum Kör-

18 | A NKE A BRAHAM

per und ohne Reflexion der besonderen Implikationen, die die körperliche Verfasstheit des Menschen mit sich bringt, entfaltet wurden. Der abgewehrte, abgewertete und zum Schweigen gebrachte Körper hat sich historisch jedoch immer wieder aufgedrängt – sehr deutlich in den künstlerischen Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in den sozialen Protestbewegungen der Nachkriegszeit und in den sportiven und eventzentrierten Bewegungen ab den 1980er Jahren, die zugleich gesundheitspolitisch forciert und medial lanciert wurden und werden. Nicht zuletzt durch diese sozialen Bewegungen hat auch die Soziologie den Körper wieder entdeckt und inzwischen eine vielfältige und in zahlreiche Arbeitsbereiche anderer Soziologien und Disziplinen hineinragende »Soziologie des Körpers« entwickelt; ein Umbau oder eine Neuausrichtung der Soziologie insgesamt, die das Körperthema systematisch in ihre Betrachtungen einbezieht und soziale Ordnungen und Diskurse sowie gesellschaftliche Entwicklungen, Probleme und Krisen unter stringenter Berücksichtigung der körperlichen Ebene analysiert, ist bisher jedoch nicht in Sicht. Insofern ist es fraglich, ob sich in der Soziologie oder in benachbarten Disziplinen wie der Pädagogik tatsächlich ein »body turn« (Gugutzer 2006) abzeichnet oder ob nicht vielmehr ›nur‹ eine bereichsspezifische und punktuelle Thematisierung des Körpers stattfindet, die für die Gesamtentwicklung der Disziplin und im Hinblick auf ihren gesellschaftlichen Nutzen jedoch relativ folgenlos bleibt. Soweit ich es überblicke, lässt sich ähnlich wie für die Soziologie auch für die Pädagogik konstatieren, dass der Körper zwar verstärkt thematisiert wird – insbesondere im Rahmen einer soziologischen, handlungstheoretisch und ethnographisch orientierten, empirischen Erforschung von formellen und informellen pädagogischen Situationen (exemplarisch siehe Fritzsche/Idel/Rabenstein 2011; Langer 2008; Alkemeyer 2009) oder im Rahmen körper- und affektsensibler Bildungsüberlegungen und Didaktiken (vgl. Rumpf 1994; Rittelmeyer 2002; Karl 2003; Kraus 2008; Drieschner 2009; Hetzel 2011) – , dass weite Bereiche der wissenschaftlichen Reflexion und der pädagogischen Praxis aber nicht ›vom Körper aus‹ gedacht werden oder den Körper ›mit‹-denken. Dies gilt auch für den (kognitivistisch orientierten) Mainstream der Psychologie, die stark in pädagogische Handlungsfelder hinein diffundiert (kritisch dazu Engel 2004) und (damit) auch für den hier zur Diskussion stehenden Bereich professionellen und semiprofessionellen Handelns: für die Beratung. Um die symbolische Positionierung des Körpers im Beratungsgeschehen und die damit verbundenen Implikationen nachzeichnen zu können, muss evident gemacht werden, durch welche symbolischen Ordnungen Beratung selbst gekenn-

D ER K ÖRPER IN

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zeichnet ist bzw. genauer: gekennzeichnet werden kann. Denn je nach Art des Beratungssettings (Thema, Adressat, Institution, Methode etc.) und je nach Fragestellung und gewähltem wissenschaftlichem Zugang, über den erhellt werden soll, ›was hier vor sich geht‹ oder ›wie Beratung konstituiert wird‹, wird sich diese Ordnung anders darstellen. Es müssen an dieser Stelle also Entscheidungen gefällt und damit auch Ausschlüsse von möglichen anderen Blickwinkeln in Kauf genommen werden. Boris Traue hat eine wissenssoziologisch und historisch fundierte Diskursanalyse zu Therapeutiken des 18. Jahrhunderts vorgelegt und von dort aus eine umfassende gegenwartsbezogene Kritik an solchen »Psycho-Techniken« entwickelt, wie sie im Bereich der Personalentwicklung und des Managements (insbesondere in Formen des »Coachings«) eingesetzt werden (vgl. Traue 2010). Diese Arbeit soll aufgrund ihrer wissenschaftlichen Herangehensweise und ihrer inspirierenden Kritik als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen genutzt werden. Zu bedenken ist, dass mit dem gewählten Ausschnitt von Beratung bzw. Coaching ein spezifisches Feld in den Blick kommt, das selbstverständlich nicht für alle Anliegen und Vorgehensweisen von Beratung stehen kann, das aber – so meine Einschätzung – in kritischer Zuspitzung Tendenzen abbildet, denen Wissenschaft, Pädagogik, Bildung und Beratung in zunehmendem Maße ausgesetzt sind und denen sie sich kritisch stellen müssen und stellen können. Zunächst sollen zentrale Erkenntnisse und kritische Überlegungen der Untersuchung von Traue dargestellt werden, um sie dann mit Fragen der Körperlichkeit und des Körperumgangs im Beratungsgeschehen zu verknüpfen und sinnvolle Kurskorrekturen in der Gestaltung von Beratung herauszuarbeiten – Kurskorrekturen, die den Körper und die Ebene der leiblich-affektiven Konstituiertheit des Menschen systematischer als bisher einbeziehen.

3. B ERATUNG UND C OACHING ALS AGENTUREN DER »S ELBSTMODELLIERUNG « Das Erkenntnisinteresse von Traue ist auf die Frage gerichtet, wie sich Diskurse der Ökonomie, der Kybernetik und der Therapeutik im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts verbunden haben und wie aus diesen Verbindungen »Selbstmodellierungsvorgaben« (Traue 2010: 21) entstanden sind, die bis in die Gegenwart wirken, auch wenn sich die heutigen Formen der Selbstmodellierung nicht im Sinne einer ungebrochenen Entwicklungslinie aus den historisch früheren Verbindungen ableiten lassen (vgl. Traue 2010: 267).

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Im Zuge der humankapitaltheoretisch begründeten Ausweitung der Personalverwaltung und der Verschmelzung von Personalführung, betrieblichem Management und kognitiv dominierten humanistischen Psychologien bzw. »Psycho-Techniken« erleben wir derzeit eine Renaissance von Selbstmodellierungen in einem spezifischen und neuen Gewande: »Indem Topoi des Managements in die Therapeutik aufgenommen wurden (ChangeProzesse, Selbstmanagement, Visions- und Missionsentwicklung, Ressourcen) und die Personalverwaltung ihrerseits Topoi der Therapeutik in die Kommunikation ihrer Maßnahmen aufgenommen hat (Personal›entwicklung‹, Wachstum), entsteht als Ergebnis eines interdiskursiven Prozesses ein Raum des Wiss- und Sagbaren, in dem Therapeutik und Management ineinander übergehen, und in dem sich beide Diskurse wechselseitig Legitimität verschaffen« (Traue 2010: 268).

Das Typische an den aktuellen Selbstmodellierungsformen ist, dass sie den Imperativen der Selbstverbesserung und Selbstoptimierung folgen und danach trachten, die in der Person liegenden Möglichkeiten und Potentiale, die brachliegen oder blockiert werden, freizulegen und zur Entfaltung zu bringen. Dabei wird das Subjekt in seiner Individualität, seinen Freiheitsbestrebungen, seinen Autonomiewünschen angesprochen und es wird nach einer Kanalisierung der persönlichen Kräfte, Motivationen und Visionen gesucht. Attraktiv gemacht werden die Selbstverbesserungsprogramme durch die Verknüpfung mit positiv konnotierten Leitformeln wie der Ästhetisierung der eigenen Lebenspraxis, dem Erlangen von Flexibilität und Beweglichkeit, von Individualität und ästhetischer Selbststilisierung sowie von Klarheit in den eigenen Zielen und Sicherheit im Auftreten. Auf diese Weise wird eine ›Subjektivierung‹ der Bevölkerung bzw. des Individuums erlaubt bzw. erzwungen, zugleich aber werden die Personen dieser Subjektivierung enteignet, indem und weil die Subjektivierung im Dienste des Betriebs zu geschehen hat und durch spezifische ökonomische und marktgebundene Verwertungsinteressen vereinnahmt und aufgesaugt wird. In Anlehnung an Ulrich Bröcklings soziologische Untersuchungen zum »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) kennzeichnet Traue Berater*innen oder Coaches als »Subjektivierungsregisseure« und zentrale Vermittler*innen in diesen Subjektivierungsprozessen. Er zitiert dazu Bröckling: »Subjektivierungsregime brauchen Subjektivierungsregisseure. Sie verleihen den Programmen Autorität, sie definieren die Aufgaben, vermitteln die Technologien zu ihrer Lösung, sie motivieren und sanktionieren, sie geben Feedbacks und evaluieren schließlich die Ergebnisse« (Bröckling 2007 zit. n. Traue 2010: 21).

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Beratung stimuliert die oben genannten Leitfiguren, indem sie Gelegenheiten zur Imagination persönlicher Zukünfte und attraktiver, erfolgreicher Lebensstile bietet. Sie konstituiert darüber Subjektivierungsformen und Identifikationen mit, die in Anlehnung an Judith Butler als »leidenschaftliche Verhaftung« gekennzeichnet werden können (Traue 2010: 280) und die Traue wie folgt problematisiert: »Die Verhaftung an eine flexible, zielgerichtete Lebens- und Selbstführung, die vorgeblich hochindividuelle Biografien hervorbringt, bindet das Subjekt an risiko- und sanktionsbehaftete Selbstoptimierungsdispositive und an die damit verbundenen Risiken des Scheiterns, der Verfehlung und der Erschöpfung« (Traue 2010: 280)

– wobei die Gefahr der Beschämung, Verunsicherung und Aushöhlung durch »weitere individuelle Korrekturschleifen« in Form von Beratung oder in Form der Flucht in »wirklichkeitsenthobene Erlebniswelten« (Traue 2010: 280) gemildert werden kann. Auf diese Weise schafft sich eine Beratung, die Prozesse der Subjektivierung im oben skizzierten Sinne erzeugt und begleitet, in zirkulärer und prekärer Weise beständig selbst. Warum dies so ist und warum dies prekär ist, soll im Folgenden erläutert werden. Dazu werden die Überlegungen von Traue zur »Optionalisierungsgesellschaft« herangezogen.

4. B ERATUNG UND C OACHING IN DER »O PTIONALISIERUNGSGESELLSCHAFT « Insofern die Bildung von Optionen, ihre mentale Vergegenwärtigung, ihre Optimierung und die Entscheidung zwischen Alternativen zu einem zentralen Steuerungsmoment von Subjekten und Systemen und deren Vermittlung werden, mag es gerechtfertigt sein, mit Traue von einer »Optionalisierungsgesellschaft« zu sprechen. Traue beschreibt diesen Zusammenhang wie folgt: »Das Optionalisierungsdispositiv bildet ein Ensemble aus Diskursen, Medien und Techniken, das das Verhältnis zwischen Individuen und ihrer sozialen Welt als Verhältnis von Möglichkeiten beschreibbar macht und das Mittel bereithält, die Sozialwelt als Gefüge von Möglichkeiten erfahrbar zu machen« (Traue 2010: 284). In der Beratung, so Traue, werden nun »unterschiedlichste Handlungsprobleme als Problem der Generierung von Optionen, zwischen denen sich entschieden werden muss, aufgefasst« (Traue 2010: 284); damit ist Beratung »eine der kommunika-

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tiven Gattungen, in der eine Optionalisierung des Handelns vermittelt wird« (Traue 2010: 284). Beratung, die durch diese Optionalisierung in Gang gesetzt wird und sie stützt, zeichnet sich nach Traue durch folgende Spezifika aus (Traue 2010: 285f.): 1. durch das »Feedback« als Metapher für Mitteilungen, die als sachliche Information über das eigene Handeln verstanden werden sollen und die sich (normativ) an zuvor transparent gemachten und (vermeintlich) selbst gewählten Zielen ausrichten, insgesamt aber durch übergeordnete Interessen und Zielsetzungen des Unternehmens oder des Staates gerahmt und bestimmt werden; 2. durch eine Adressierung und Nutzung von »Subjektivität«, die als Ressource für die Produktionssphäre nutzbar und durch staatliche Akteur*innen regierbar gemacht wird (dieser Zusammenhang wurde oben bereits dargestellt), bei dem aber die Subjekte über den Vorgang der Generierung von Möglichkeiten, bei dem die Ausstattung mit Bildung, materiellen Ressourcen, Motivationen, Gefühlszuständen etc. von hoher Bedeutung ist, im Unklaren gelassen werden und 3. durch eine tiefgreifende Transformation der »Kultur des Konflikts«, die abgelöst wird durch eine »Kultur der Moderation« und des »Monitoring« und die zu einer folgenschweren Re-Konfiguration des Politischen führt, an der Beratung einen Anteil hat. Traue führt zu diesem dritten Punkt aus, dass die Dethematisierung von Konflikt mit einer Abwertung der Option »Konflikt« im öffentlichen Handeln und in Bezug auf das Verhältnis zu sich selbst verbunden ist. Die optionalisierende Beratung schwächt das politische Denken und Handeln und stützt de facto neoliberale Regierungsformen, obwohl ihre Praktiken auf eine Ausweitung der Imagination möglicher Zukünfte abzielen. Berater*innen sind in diesem Sinne zwar keine »hidden technocrats« (Heuberger/Keller 1992 zit. n. Traue 2010: 286), leisten mit ihrem »Ethos der Kreativität« und ihrem »Evangelium der Selbstentfaltung« aber einen Beitrag zur Umgestaltung, wenn nicht sogar zur Eliminierung des Politischen (vgl. Traue 2010: 285f.). Diese Argumentation wird plausibel, wenn man die besondere Qualität der Erzeugung von Möglichkeiten resp. der »Optionalisierung« in den Blick nimmt (Traue 2010: 287ff.): Erstens ist zu beachten, dass Institutionen oder Regierungen bestimmte Entscheidungen privilegieren und forcieren, andere jedoch abwerten, negativ sanktionieren oder sogar verbieten – damit wird eine Verengung

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des Möglichkeitsspektrums und eine Einspurung auf bestimmte Wahlen erzeugt. Zweitens kann ein Widerspruch zwischen behaupteten und realen Optionen bestehen, was zu Schuldgefühlen und Beschämung bei den Subjekten führen kann (die meinen, eine Option zu haben und wählen zu können oder zu müssen, die real für sie überhaupt nicht besteht) und was eine prekäre Schieflage in der Selbstwahrnehmung der Gesellschaft erzeugt, weil und insofern sie die Diskrepanz zwischen dem Versprechen auf Steigerung von Entscheidungsmöglichkeiten und den realen Bedingungen ihrer Einlösung nicht mehr zur Kenntnis nimmt oder verschleiert. In dieser Hinsicht wird die Gesellschaft und werden mit ihr die Subjekte von Visionen getrieben, an denen sie scheitern müssen, weil sie die limitierenden real gegebenen sozialen Bedingungen und – so würde ich ergänzen – die organismisch, leiblich und affektiv gebundenen konstitutionellen Bedingungen ihrer Ermöglichung (siehe dazu auch Abraham 2011) nicht in Rechnung stellen. Und drittens: Das Verständnis von ›Option‹ als einer ›repräsentierbaren Möglichkeit‹ schließt die Möglichkeit des Eintretens von unerwarteten Ereignissen oder bisher nicht repräsentierten Möglichkeiten aus – mithin bewegen sich ›Optionen‹ in einem durch spezifische Logiken konstruierten Rahmen, der verhindert, dass Anderes, das diesen Rahmen übersteigen oder sprengen könnte, entstehen oder zur Sprache gebracht werden könnte. In diesem Sinne ist Optionalisierung eine ›Bändigung des Möglichkeitshorizonts‹ und ein Mechanismus der Reproduktion des bereits Gewussten und Gewollten, in dem das Subjekt etwas wollen und können soll. Will man die von Traue angedeuteten Engführungen und die Entpolitisierung und Entsubjektivierung gesellschaftlich und im Dienste der Subjekte nicht hinnehmen, so ergeben sich für die Beratung – wie für Bildung und Wissenschaft insgesamt – gewichtige Neujustierungen: Beratung hat eine wichtige, Orientierung gebende Funktion im Hinblick auf die Fähigkeit des Einzelnen, sich als Zukünftiges zu entwerfen – sie bleibt jedoch kurzschlüssig, wenn sie erstens von den Traditionen des kollektiven Rats und der demokratischen und öffentlichen Austragung von Konflikten abgekoppelt bleibt und sich lediglich auf den Problemhorizont des Einzelnen beschränkt; wenn sie zweitens auf eine Berücksichtigung des Vergangenen, der Geschichte und des Gewordenseins der Subjekte verzichtet und so von dem Grund, auf dem die Subjekte stehen und der Begründung ihres aktuellen Erlebens und Strebens ist, absieht; und wenn sie drittens die Subjekte auf bereits vorgedachte und ausgemachte Selbstoptimierungsprogramme verpflichtet und nicht tatsächlich das Subjektive, Einmalige, Überraschende und Überschießende zulässt. In dieser Hinsicht müssten zum einen Modelle im Sinne einer »SozioTherapie« (Traue 2010: 292) stark gemacht werden, die – so interpretiere ich

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Traue – systematisch gesellschaftliche Diskrepanzen, Missstände und Ungerechtigkeiten einbeziehen und die kollektiven Potentiale und Energien des politischen Widerstands freisetzen und nutzen. So wird seit dem Aufkommen einer privatwirtschaftlich organisierten und individualisierenden Sozialen Arbeit auch immer wieder angemahnt, Problemlagen von Bevölkerungen und Schwierigkeiten in der Lebensführung nicht allein dem*der Einzelnen anzulasten, sondern offensiv die sozialen und politischen Verhältnisse, die an diesen Problemlagen beteiligt sind, zu benennen und zu kritisieren (vgl. etwa Thiersch 2004, 2012). Bezogen auf den zweiten und dritten Aspekt wären Pädagogiken zu stärken, die zum einen das Gewordensein der Subjekte anerkennen und die zum anderen eine Lust am Unmöglichen, Ungehörigen und Überschießenden zeigen – als Ausdruck einer tatsächlich freien Lebenshaltung und echter, unangepasster Individualität. Diese letzten beiden Aspekte aufgreifend kann am Beispiel des Topos der ›Beweglichkeit‹ illustriert werden, wie Beratung diesen Topos im Sinne der von Traue aufgedeckten Selbstoptimierung bearbeitet – und welche alternativen pädagogischen Möglichkeiten es geben könnte.

5. ›B EWEGLICHKEIT ‹ ALS T OPOS DER S ELBSTOPTIMIERUNG Das Heil der modernen und postmodernen Welt scheint in der Bewegung zu liegen: Der Aufbruch, das ›Er-Fahren‹ der Welt, der ›Fort-Schritt‹, Beschleunigung, Mobilität und Flexibilität sowie die ›unentwegte‹ Suche nach Selbstveränderung und Optimierung sind Motor der historisch-kulturellen und persönlichen Entwicklung und werden zum Garanten des ›richtigen‹ Lebens. Traue arbeitet in diesem Kontext zwei aktuell bedeutsame Semantiken der Beweglichkeit heraus: Erstens die Selbstbezüglichkeit der Bewegung und zweitens die soziale Ächtung derjenigen Personen oder Institutionen, die sich nicht bewegen wollen oder können. Bewegung wird, so Traue, zu einem selbstbezüglichen Begehren: Das Subjekt »versetzt sich in Bewegung, um beweglich zu werden, zu sein oder zu bleiben« (Traue 2010: 276) – jenseits dieser Referenz an die Bewegung um der Bewegung willen bleibt im Nebel, was die Subjekte antreibt, was ihr tatsächliches Begehren ist und was die Effekte dieser kollektiven und persönlichen Rastlosigkeit sind. Noch fataler ist, dass die Semantik der Beweglichkeit »die Beschämung der vorgeblich Unbeweglichen« (Traue 2010: 277) ermöglicht und dass mit dem Beweglichkeitstopos eine Norm etabliert und durchgesetzt wird, an der Einzelne und ganze Gruppen der Bevölkerung scheitern. Die seelische und körperliche Beweglichkeit entscheidet über die Zukunft des Lebens – wer zu unbe-

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weglich ist, zu langsam, wer sich als starr, beharrend oder stur zeigt, wird abgehängt und dem wird die Anerkennung versagt. Eine persönliche »Eigenzeitlichkeit des Bewusstseins und der Lebensführung« kann so nicht gelebt werden; sie wird aufgelöst durch einen Zwang zur marktpolitisch gewollten Beschleunigung. Hier zeigt sich eine »totalitäre Tendenz des Beweglichkeitstopos« (Traue 2010: 277). Die mentale, psychische und körperliche Beweglichkeit wird institutionell eingefordert und durch ein breites Spektrum an Sozialtechnologien gestützt – so auch von zahlreichen Spielarten der Lebensberatung, Gesundheitsberatung und Personalberatung. Ganz im Sinne des Beweglichkeitstopos lassen Beratende und Coaches oft keinen Zweifel daran aufkommen, dass Veränderung das Nonplusultra der Beratung ist. So empfiehlt Björn Migge allen Coaches: »Ihre Veränderungsabsicht [muss] klar erkennbar sein: Sie sind jemand, der nicht nur zuhört, redet, versteht. Sie bringen sich aktiv […] ein, um dem Klienten zu seiner maßgeschneiderten Veränderung zu verhelfen« (Migge 2007: 553). Mit Hans Thiersch (Thiersch 2004) lässt sich zu einem Beratungsverständnis, das sein Heil allein in der Veränderung sieht, eine Alternative formulieren: Beratung läuft, wenn sie sich tatsächlich auf die Sicht des*der Ratsuchenden einlässt, keinesfalls glatt und reibungslos ab: Zögerlichkeiten, Unwilligkeiten, Verweigerung und Widerstand oder prekär anmutende Lebenslügen der Ratsuchenden werden spürbar, sie erzeugen Reibung, sind mühsam und verlangsamen oder verschleppen den Beratungsprozess; in der Beratung käme es nun aber nicht darauf an, diese Hürden aus dem Weg zu räumen, damit ›es wieder läuft‹, sondern es käme darauf an, bewusst über diese Hürden zu stolpern und sich von ihnen aufhalten zu lassen – was meint: Die sich zeigenden Unwuchten anzunehmen und sie auszuhalten. In der gemeinsamen Verlangsamung, dem Anhalten und dem Aushalten, kann ein Raum entstehen, in dem die Sicht des*der Ratsuchenden umfassend Gehör findet, in dem sein*ihr Gewordensein ernst genommen und verstehend einbezogen wird und in dem die spezifischen Lebenskonstruktionen oder Haltungen der*des Ratsuchenden auch sein gelassen werden können, weil sie für die*den Ratsuchende*n bedeutsam sind. Ein gemeinsames Innehalten wird umso tragfähiger, je mehr diese Verlangsamung auch körperlich ermöglicht und für beide Seiten spürbar wird. Der Sicht der*des Ratsuchenden zu folgen meint nun nicht, dass unterdrückt wird, was noch zu sagen wäre. Entsprechend betont Thiersch: »Der Berater verfehlt die Möglichkeiten von Beratung, wenn er sich dem Anspruch, im Namen auch besserer Möglichkeiten zu agieren, entzieht. […] Beratung muss deshalb – pointiert formuliert – immer auch Konfrontation, Provokation, Kampf sein können« (Thiersch 2004: 122). Die Konfrontation nicht zu scheuen und zugleich an-

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zuerkennen, was ist, das ist eine der diffizilen Gratwanderungen, die Beratung im Dienste der*des Ratsuchenden zu meistern hat. Eine weitere Herausforderung liegt darin, behindernde, beschämende und einengende sozialstrukturelle Rahmungen gemeinsam offen zu legen und zu kritisieren – Rahmungen wie die hier skizzierten Normative der ›Selbstoptimierung‹, ›Beweglichkeit‹ und ›Veränderung‹ und sozial wie politisch erzeugte, exkludierende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Um Missverständnissen zu begegnen: ›Bewegung‹ und ›Veränderung‹ sind wichtige Prinzipien alles Lebendigen und das Heil in der Beharrung zu suchen wäre keine Alternative – kritikwürdig wird es aber dann, wenn ›Bewegung‹ zu einer inhaltslosen, selbstreferentiellen Formel verkommt, der atemlos nachzukommen zur Norm wird, wenn Bewegung der Gegenpol – die Ruhe, das Innehalten und Verharren dürfen, das Stillstehen – geraubt wird und wenn Subjekten die Möglichkeit entzogen wird, zwischen diesen Polen selbstbestimmt und im eigenen Rhythmus zu pendeln.

6. D ER K ÖRPER

IN DER

O PTIMIERUNGSFALLE

In der Verschränkung der hier herausgestellten Diskurse drängt sich eine Figur auf, die sich als ›verratener‹ Körper bezeichnen ließe und darin zeigt, dass Beratung auch für den Körper und Körperliches zur ›Optimierungsfalle‹ werden kann. Wie dies – in gut gemeinter pädagogischer Absicht – geschehen kann, soll kurz gezeigt werden. Mit dem neu erwachten Interesse am Körper hat sich auch in pädagogischen Berufsfeldern ein Markt der Bildung und Beratung entwickelt, der die ›Körperkompetenzen‹ der Professionellen verbessern möchte. Hierzu werden Schulungen, Workshops oder Trainings angeboten, die die Teilnehmenden mit den eigenen Körperausdrucksweisen konfrontieren, zur Reflexion dieser Körperausdrucksweisen und ihren Effekten anregen und Erfahrungsgelegenheiten bieten, das Spektrum des eigenen Körperausdrucks zu erweitern oder zu modifizieren. Ein besonderer Fokus liegt auf den emotionalen Wirkungen, den ›alte‹ (habituelle) und ›neue‹ (durch das Training angeregte) Körperbewegungen beim Gegenüber (Fremdwahrnehmung) und bei der Person selbst (Selbstwahrnehmung) erzeugen. Im Rahmen des Trainings mit Lehrer*innen etwa geht es zumeist darum, den Prozess der Vermittlung schulischer Inhalte zu optimieren und einen störungsfreien Unterricht zu ermöglichen, um Zielstellungen also, die Körperverhalten im Dienste eines institutionellen Interesses beeinflussen wollen. Die Personen,

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deren Geschichte und Anliegen, interessieren nicht bzw. nur in dem Maße, wie sie – trotz dieser Geschichten und Anliegen – dazu bewegt werden können, sich funktional zu verhalten. Dazu passt, dass nach einem ›optimalen‹ non-verbalen Verhalten und einer Präsentationsweise gesucht wird, die die Lehrer*innenautorität unterstützt, und dass die Lehr*innenerautorität die Körpersprache der Schüler*innen bewusster wahrnehmen und richtig deuten lernen soll, damit Störungen vermieden und das Unterrichtsgeschehen auf das ›Wesentliche‹ (die Inhalte des Lehrplans) konzentriert werden kann. Um Ordnung in das so schwer fassbare non-verbale Geschehen zu bringen, neigen ›Ratgeber*innen‹ zur Optimierung der Körpersprache dazu, schematische Klassifizierungen von ›guten‹ (funktionalen) und ›schlechten‹ (dysfunktionalen) Körperausdrucksweisen vorzunehmen, wobei ›gut‹ zumeist mit Klarheit, Stärke, Präsenz, Offenheit, Zugewandtheit assoziiert wird und ›schlecht‹ mit Unklarheit, Schwäche, Schüchternheit, Verschlossenheit. Ganz in diesem Sinne merkt Julia Košinár kritisch an, dass viele Programme körpersprachliches Verhalten in ›richtig‹ oder ›falsch‹ kategorisieren und einzelne Körpersignale in einer Checkliste definieren und interpretieren, in dem Glauben, solche stereotypen Verhaltensweisen seien für alle Menschen übernehmbar. »Das jedoch«, so Košinár, »hat vor dem Hintergrund der Annahme, dass jeder Mensch ein individuelles Körpermuster besitzt, keinen Bestand und mit der Erweiterung eines authentischen Körper- und Handlungsrepertoires wenig zu tun« (Košinár 2009: 82). Sicherlich ist es völlig richtig, dass körpersprachliches Verhalten ausschließlich kontextuell und individuell gedeutet und verstanden werden kann – wenn nur noch bestimmte Verhaltensweisen für bestimmte Zwecke zugelassen werden und wenn dies unter Absehung von Geschichte und Bedürfnissen der beteiligten Personen geschieht, so wird soziales Leben zum Abziehbild spezifischer Visionen und Ideale und Menschen zu Marionetten. Leider ist die Sache aber noch etwas vertrackter: Pädagogiken, die sich von einem funktionalistischen und verkürzenden Verständnis von ›Körperkompetenz‹ im Sinne der Optimierung des Ausdrucksverhaltens abgrenzen, und auf die ›Authentizität‹ des*der Einzelnen setzen, müssen sich bewusst sein, dass sie damit auf einem schmalen Grat wandeln. Auch das ›Authentische‹ ist nicht uneinholbar und kann funktional vereinnahmt und verbogen werden. In der Managementliteratur wird das ›Sei ganz du selber‹, ›Sei ganz bei Dir‹, ›Sei echt‹, ›Sei authentisch‹ in fast unerträglicher Weise gepredigt und gesucht, um das kreative Potential des*der Einzelnen auszuschöpfen – damit wird das Einmalige der Person ebenso funktionalisiert wie entwürdigt. ›Authentizität‹ oder authentische Handlungsweisen trainieren zu wollen ist aus dieser ethischen Überlegung heraus problematisch, und auch vom didakti-

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schen Ansatz her zum Scheitern verurteilt. In dem Moment, in dem ›Authentizität‹ als ein professioneller Anspruch erhoben wird – etwa in der Form, im Dienste des*der Klient*in ›authentisch‹ sein zu sollen – und zum Gegenstand eines Trainings wird, wird die Möglichkeit des ›Authentisch-Seins‹ ad absurdum geführt. Denn jedes Training ist angelegt auf Selektion, Zuspitzung und Steigerung, das menschliche Ich und das menschliche Sein aber sind ausgedehnt und amorph und Menschen sind gerade dadurch so besonders und einmalig, dass dieses Sein dunkle Ecken hat, Nicht-Ausgeleuchtetes, Unklares, Schwankendes, Verwirrendes und Unzugängliches. Mit diesem Anteil der Besonderheit oder Authentizität von Personen, dem schwer Durchschaubaren, Sperrigen, Unangemessenen und Widerspenstigen, will der Markt und wollen gesellschaftliche Ansprüche an Professionelle in der Regel allerdings nicht wirklich etwas zu tun haben. Um in einer anspruchsvollen Weise ›authentisch‹ sein zu können, bedarf es eines mühsamen und langwierigen Prozesses der Auseinandersetzung mit den vorbewussten und unbewussten Anteilen der eigenen Person und mit den Ambivalenzen professioneller Ansprüche. Werden diese Auseinandersetzungen umgangen, so bleibt ›Authentizität‹ ein oberflächliches Design oder ein irreführender Anspruch.

7. D EM K ÖRPER Z EIT UND R AUM AUCH IN DER B ERATUNG

GEBEN



Funktionalisierende, schematische und biographisch entleerte Ansprachen des Körpers – so sollte deutlich geworden sein – gehen an der menschlichen Konstitution und grundlegenden menschlichen Bedürfnissen vorbei und machen soziale Begegnungen, wie sie im Rahmen von Bildung und Beratung stattfinden, zu einem technokratischen Akt oder zu einem schlechten Schauspiel. Wenn in der Beratung eine tatsächliche und bereichernde Begegnung stattfinden soll, so kann der Körper nicht auf einen ›Träger von Zeichen‹ reduziert werden, der er sicher immer auch ist, und schon gar nicht in manipulativer Weise im Dienste spezifischer Absichten inszeniert werden (worauf die Vermittlung von Körpertechniken und deren ›optimaler‹ Einsatz abzielt). Nimmt man den Körper und die leiblich-affektive Verfasstheit des Menschen ernst, so ist in Rechnung zu stellen, dass alle Weisen des Fühlens, Denkens, Wollens und sich Ausdrückens von der pränatalen Entwicklung an biographisch erworben werden und in der Leiblichkeit fundiert sind. Alles, was uns begegnet, begegnet uns, weil es (oft auch implizit bleibend) vom Organismus registriert

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wird und (auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen) leiblich-sinnlich erfahrbar ist und weil es in unserem Leib, im Sinne vielfältiger Körperspuren, über die ein Körperwissen aufgebaut wird, einen Anker findet (vgl. Keil/Maier 1984; Rittelmeyer 2005; Keller/Meuser 2011). Insofern ist der Körper bzw. der Leib nicht nur erstes Instrument und Werkzeug des Menschen, sondern auch das Haus, in dem er wohnt oder der Grund, auf dem er ruht – gebaut, gestaltet und beständig umgestaltet aus den vergangenen und gegenwärtigen Widerfahrnissen des je persönlichen Lebens. Der Körper ist aus dieser Sicht also etwas hochgradig Intimes und Bedeutsames – aufgeladen mit der je persönlichen Geschichte und ihren körperlichen Repräsentationen auf der Haut, in den Zellen und Organen, in der Art des Ganges, in Mimik, Gestik und Blick, in der Körperhaltung und Körperspannung, in der Art wie wir atmen, sprechen, lachen und weinen und wie wir uns kleiden. Um diese biographische und hochgradig intime Wucht des Leibes nicht preisgeben zu müssen, sind wir – vielleicht – darauf bedacht, ein angemessenes körperbezogenes »Impression management« (Goffman 1959; vgl. auch Saam 2007) an den Tag zu legen, das einerseits positiv sanktionierten Konventionen, Attitüden oder Moden des jeweiligen Alltags folgt, das andererseits aber auch darauf ausgerichtet ist, Hierarchien in professionellen Kontakten zu markieren, soziale Zugehörigkeiten oder statusbezogene Selbstzuweisungen (als ›überlegen‹ oder ›unterlegen‹) anzuzeigen oder Machtfragen in der Gestaltung kommunikativer Beziehungen auszubalancieren – wie es Michaela Pfadenhauer (Pfadenhauer 2002) für die »Markierung von Ungeduld« in der Ärzt*innen-Patient*innenKommunikation dargestellt hat (vgl. dazu auch Löning/Rehbein 1993). Die Untersuchung Pfadenhauers ist für den hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang interessant, weil sie das Problem der Zeitknappheit – als einer sozialstrukturell erzeugten konstitutiven Bedingung beraterischen Handelns – in den Blick nimmt und weil sie zwischen ›ungeduldig sein‹ als einem authentischen Gefühlszustand (der, wird er entäußert, sozial eher geächtet ist) und dem ›Anzeigen‹ oder »Markieren« von Ungeduld unterscheidet. Beim »Markieren« von Ungeduld bedient sich die Person intentional kulturell bereitstehender körpersprachlicher Muster der Appräsentation von Ungeduld (wie auf die Uhr schauen, sich halb abwenden, aufstehen), um – in diesem Fall – einen im System angelegten Konflikt zu bewältigen. Im Ärzt*innen-Patient*innen-Verhältnis zeigt sich eine chronische Konfliktlinie darin, dass der*die Ärzt*in unterstellt, über ein überlegenes Wissen zu verfügen, zugleich aber gehalten ist, sich die Sichtweise des*der Patient*in anzuhören; in Kombination mit Zeitknappheit gerät der*die Ärzt*in dann in Bedrängnis, wenn der*die Patient*in die Diagnose nicht akzeptiert, längere Erläuterungen verlangt oder auf seiner*ihrer Sichtweise

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besteht. Das dosierte Markieren von Ungeduld gibt dem*der Patient*in nonverbal zu verstehen, dass die Kommunikation zum Ende kommen sollte und adressiert den*die Patient*in als handlungsmächtig; zugleich enthebt sie den*die Ärzt*in der Gefahr einer peinlichen Entgleisung, die dann gegeben wäre, wenn er*sie dem*der Patient*in das Wort abschneiden und autoritär die Sitzung für beendet erklären würde. Diese Konstellation dürfte auf viele andere Beratungssituationen übertragbar sein, wobei der zeitliche Spielraum im Gesundheitswesen (Medizin, Pflege) – also ausgerechnet da, wo es um so etwas Sensibles wie den Körper geht – besonders eng ist. Dies verweist wiederum auf eine klassische symbolische Ordnung, in die der Körper gestellt ist: In Medizin und Pflege wird der Körper nach wie vor als ›Ding‹ behandelt – weitgehend abgekoppelt von den persönlichen Bedürfnissen, Empfindungen und Erfahrungen seines*seiner ›Träger*in‹. Wer Einblick in das mörderische Zeit- und Kontrollregime in der ambulanten und der stationären Pflege hat, kann ermessen, wie wenig Spielraum hier für eine zwischenmenschliche Begegnung und die Entfaltung professioneller beraterischer Aktivitäten bleibt. Inwiefern ist nun die bewusste Einbeziehung des Körpers und der leiblichaffektiven Ebene in der Beratung bedeutsam und wie kann sie gestaltet werden – dazu abschließend einige Überlegungen: (a) Das Zeigen und Verstehen körpersprachlicher Zeichen ist sicherlich eine wichtige Ebene des beraterischen Handelns – es greift aber deutlich zu kurz, wenn die Bedeutung des Körpers und der Körperlichkeit auf das professionell gerahmte Aussenden und Dechiffrieren dieser Zeichen reduziert wird. Mit dem ›Körperleib‹ stehen oder sitzen immer die gesamte Geschichte, das Gefühlsleben, die Antriebe und die inneren mentalen Bilder und Glaubenssätze eines Menschen vor uns – manche Anteile dieser Geschichte und dieser Mitgiften und Dispositionen werden sichtbar, andere werden spürbar, und wieder andere sind da und wirken, bleiben aber unzugänglich. Dies gilt für beide Seiten des beraterischen Geschehens – für die*den Ratsuchende*n wie die*den Beratende*n – und macht die Begegnung so kompliziert, aber auch so spannend und im glücklichen Fall fruchtbar. Die Bedeutung der körperlichen Präsenz und der Schwingungen und »Resonanzen« (Maurer/Täuber 2010), die hier zwischenleiblich ausgetauscht werden, ist nicht hoch genug anzusetzen und sie beeinflussen das Beratungsgeschehen auch dann, wenn sie unbemerkt bleiben.

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(b) Eine produktive Einbeziehung des Körpers kann m.E. nur dann stattfinden, wenn sich die Beratenden ihrer leibgebundenen Existenz bewusst werden und sich vergegenwärtigen, welcher Reichtum an Erlebens- und Ausdrucksformen, aber auch welche Verletzlichkeiten und Ängste mit dieser Existenzform gegeben sind. Von dieser Gewahrung und Vergegenwärtigung aus, die das Beglückende ebenso einbezieht wie das Unzulängliche, kann es gelingen, auch den Anderen in seiner leibgebundenen Existenzweise und in seinen vielgestaltigen Schattierungen anzusehen und anzunehmen. Damit wäre ein sehr wichtiger Schritt in der Begegnung getan: die Annahme einer Ähnlichkeit, die sich aus den spezifischen Vulnerabilitäten und Bestrebungen unserer leiblich-affektiven Existenzweise ergibt und die etwas Verbindendes darstellt – auch wenn die jeweiligen biographischen Ausformungen und Attitüden dann recht unterschiedlich ausfallen und aufgrund kulturell etablierter Ressentiments und Abgrenzungen, etwa entlang sozialer Differenzlinien wie Geschlecht, Alter, Ethnie, Schicht, zu mitunter heftigen Spannungen führen können. Diese möglichen oder akut sich zeigenden Spannungen wären dann aber nicht als ›Unfall‹ oder ›Komplikation‹ aufzufassen, sondern als Anlass und Gelegenheit der noch aufmerksameren, zugewandten und spürenden Wahrnehmung und sie wären bei der Gestaltung von Beratung systematisch mit zu bedenken und mit zu reflektieren. (c) Eine zentrale Form der ›Einbeziehung‹ des Körpers ist in der Tat das Gewahren der unterschiedlichen ›Botschaften‹, die der Körper des anderen aussendet, weil sie wertvolle und mitunter nicht ›sagbare‹ Mitteilungen über biographische Erfahrungen und Zusammenhänge, den aktuellen Gefühlszustand und mögliche Intentionen und Wirkungsabsichten geben können. Die ›Sprache‹ des Körpers kann Gefühlszustände zur Anschauung bringen, wo sprachliche Diskursivierungen versagen oder nicht angemessen sind. Zum Gesamtverständnis der Person, ihres aktuellen Zustands, ihrer Anliegen und Bestrebungen sowie ihrer Möglichkeiten, ist die Einbeziehung dieser nichtdiskursiven »präsentativen« Ebene (vgl. Langer 1965) unerlässlich. (d) Ein weiterer gewichtiger Aspekt ist die Reflexion der Wirkungen, die die Gestaltung des zeitlichen, räumlichen und atmosphärischen Arrangements der Beratungssituation sowie die beratende Person selbst in ihrer Erscheinung und ihrem Verhalten auf die ratsuchende Person haben kann. Zu fragen wäre etwa, was auf die*den Ratsuchende*n entlastend, ermunternd und anregend wirkt oder in welcher Hinsicht sich Gefahren der Einschüchterung, der Anspannung oder des Ärgers ergeben. Die ›Botschaften‹, die von den materialen und symbolischen Arrangements sowie von der Haltung, dem Ausdruck und der Sprache des*der Berater*in ausgehen und von dem*der Ratsuchen-

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den leiblich aufgenommen werden, spielen eine große Rolle und nicht selten wird der Erfolg oder das Scheitern der Beratungssituation auf dieser leiblichen Ebene ausgetragen und entschieden. (e) Eine bedeutsame und im beraterischen Handeln meines Wissens nach bisher noch wenig ausgearbeitete und genutzte Möglichkeit der Einbeziehung des Körpers besteht schließlich darin, Themen, Konflikte und Gefühle zu ›vergegenständlichen‹ oder zu ›verkörpern‹ – in körperpsychotherapeutischen Verfahren, wie der Konzentrativen Bewegungstherapie, gibt es hierzu einen breiten Fundus an Erfahrungen (vgl. Schmidt 2006). Mit diesem Konzept ist verbunden, dass die Ratsuchenden Gelegenheit erhalten, ein sie bewegendes Problem über Gegenstände und deren Qualität, Anordnung und Symbolfunktion sichtbar zu machen und/oder nach körperlichen Resonanzen und körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten für dieses Problem zu suchen. Dabei kann das Problem auch ›in Bewegung‹ gebracht und es können über das Experimentieren mit unterschiedlichen Bewegungsausführungen und -qualitäten neue Gestaltungsspielräume entdeckt werden (exemplarisch Stolze 2006). Der*die Beratende übernimmt nicht die ›Deutung‹ des Gezeigten, sondern der*die Ratsuchende selbst verschafft sich – mit Hilfe des*der Beratenden – einen neuen Blick auf das Phänomen, indem er*sie bisher unentdeckte Zusammenhänge, Leerstellen, Überraschungen und ungekannte Stimmungen und Gefühlslagen wahrnimmt, verbalisiert und einordnet. Auf diese Weise werden neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die dem*der Ratsuchenden jedoch nicht übergestülpt werden, sondern die er*sie aus seinen Möglichkeiten schöpft und die er*sie in seinen*ihren Möglichkeitsraum einbaut. Auf diese Weise werden zentrale subjekt- und lebensweltorientierte pädagogische Prinzipien eingelöst: Respekt vor den Selbstdeutungen des Subjekts und Vertrauen in seine Selbstgestaltungskräfte.

8. F AZIT Beratung kann ihre Funktion im Dienste des Subjekts und der Gesellschaft wahrnehmen, wenn sie zum einen soziologisch wie politisch gut informiert, kritisch und kampfbereit ist, und zum anderen den Körper als Grund menschlichen Lebens respektiert. Dem Körper ›Zeit‹ und ›Raum‹ zu geben bedeutet die Eintragung und Verlebendigung einer anderen symbolischen Körper-Ordnung und einer anderen Ordnung von Beratung – einer Ordnung, die sich gegen eine leere Beschleunigung und die chronische Verknappung von Zeit richtet und die soziale Orte der (professionell gerahmten) Begegnung zu lebenswerten Räumen

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SYMBOLISCHEN

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macht, in denen Menschen in ihrer ganzen Verletzlichkeit und Potenz gesehen, angenommen und ausgehalten werden. Die Verlangsamung und das Innehalten, das Gewahren und Spüren von Resonanz und der Respekt vor dem leiblich verankerten biographischen Gewordensein können wichtige Koordinaten bei einer solchen Kurskorrektur sein.

L ITERATUR Abraham, Anke (2002): Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag, Wiesbaden: WDV. — (2011): »Der Körper als heilsam begrenzender Rastgeber? Körperverhältnisse in Zeiten der Entgrenzung«, in: Keller/Meuser, Körperwissen, S. 31-52. Abraham, Anke/Müller, Beatrice (2010a) (Hg): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript. — (2010b): »Körperhandeln und Körpererleben – Einführung in ein ›brisantes Feld‹«, in: dies., Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, S. 9-39. Alheit, Peter/Dausien, Bettina/Fischer-Rosenthal, Wolfram/Hanses, Andreas/ Keil, Annelie (Hg.) (1999): Biographie und Leib, Gießen: PsychosozialVerlag. Alkemeyer, Thomas (2009): »Körpersozialisationen. Über die Körperlichkeit der Bildung und die Bildung über den Körper«, in: Journal für politische Bildung 13 (2), S. 12-20. Baudrillard, Jean (1981): »Der schönste Konsumgegenstand: Der Körper«, in: Claudia Gehrke (Hg.), Ich habe einen Körper, München: Matthes & Seitz, S. 93-128. Bette, Karl-Heinrich (1989): Körperspuren. Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit, Berlin/New York: de Gruyter. Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dimbath, Oliver (2008): »Symbolische Ordnungen«, in: Herbert Willems (Hg.), Lehr(er)buch Soziologie, Wiesbaden: VS-Verlag, S. 269-288.

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D ER K ÖRPER IN

SYMBOLISCHEN

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KörperLeib – Theoretische Auseinandersetzungen, Aneignungen und Weiterentwicklungen

Der Körper als Grenze S USANNE M AURER

»Wir sehen sie noch vor uns – in ihrer feinsinnigen Präsenz und ihrer hohen Konzentration, mit ihrem leidenschaftlichen Interesse an Fragen von existentieller Bedeutung. Der Körper als Grenze, die Verletzlichkeit der Menschen als widerspenstiges Moment – darauf hat Anke Abraham insistiert. Wir haben eine hoch geschätzte Kollegin verloren, die uns mit ihrem Denken inspiriert hat. Wir werden sie schmerzlich vermissen.«

Mit diesen Worten haben die Kolleg*innen des Marburger Zentrums für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung ihrer Trauer um Ankes Tod Ausdruck verliehen. Anke war eine wunderbare Kooperationspartnerin. Das zeigte sich auch in der gemeinsamen Kreation von Tagungen als Reflexions-Räumen, als Denk-, Sprech-, Bewegungs-, Ausdrucks- und Spür-Sinn-Räumen. Als wir uns auf die – mit Jasmin Scholle, Lea Spahn und Bettina Wuttig zusammen ausgedachte Tagung [UN]Möglich! Verkörperte und bewegte Heterotopien als Orte der Bildung1 vorbereiteten, entwickelten Anke (A) und ich (S) die Idee, das Thema in unserer gemeinsamen Eröffnung gewissermaßen zu ›verkörpern‹. Wir wollten die Tagung damit ›auf etwas andere Weise‹ eröffnen, nicht vorne (unten) stehend, sondern hinten (oben), dann Schritt für Schritt, Stufe für Stufe, auf beiden Seiten des Raumes herab schreitend, dabei abwechselnd Gedanken sprechend, Sätze rezitierend. Wir hatten uns eine Regel gegeben: Jede von uns sollte für zehn kurze Momente sprechen, und nicht mehr. Anke sollte beginnen. Keine von uns wusste überdies vorher, was die andere sagen würde.

1

Vgl. Spahn, Lea/Scholle, Jasmin/Wuttig, Bettina/Maurer, Susanne (Hg.) (2018): Verkörperte Heterotopien. Zur Materialität und [Un-]Ordnung ganz anderer Räume, Bielefeld: transcript.

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Und so entstand das im Folgenden nun schriftlich und zeichnerisch nicht wirklich Dokumentierbare – und doch versuchsweise, annäherungsweise Dokumentierte ... für Anke.

K ÖRPER S PRACHLICHER E RÖFFNUNGS -D IALOG EINER T AGUNG L (A) Eine offene, interessante Frage: ›Zwischen-Räume‹. Was ist zwischen (den) Räumen? Was ist ein Raum? (S) Bewegung als fortwährender Ortswechsel Fahrt des Narrenschiffs Bewegung ist Un-Ruhe, ihr Ort ist die Heterotopie In der Medizin: die Bildung von Gewebe am falschen Ort Überraschendes Auftauchen an unerwarteten Oberflächen (A) »Wir leben, wir sterben und wir lieben nicht auf einem rechteckigen Blatt Papier. Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten.«2 (S) Die ›Grenzhaltung‹ bei Baudelaire Das Ordnungsgefüge des gesellschaftlichen Raumes in Bewegung bringen ›un-doing‹ Bewegung verknüpft Zeit und Raum Bewegung ist immer gegenwärtig Bewegung geschieht Mikro-Piraterie ...

2

Foucault, Michel (2009 [1966]): Die Heterotopien. Der utopische Körper: Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 5.

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(A) Was für Räume? Zeit-Räume? Geistige Räume? Lokalisierte, konkrete, materiale Räume? Aber: Gehört das nicht alles zusammen? Verweist das nicht aufeinander? Geht denn das eine ohne das andere überhaupt? (S) Bewegung aus der Zeit heraus – mit der herkömmlichen Zeit brechend verdichtete / flüchtige Zeit ›aus der Ruhe gebracht‹ wirkliche Orte, wirksame Orte (A) Normierungen treffen auf Körper und auf Selbstverhältnisse. Sie konstruieren ein ›richtig‹ und ›falsch‹, ein ›in-der-Norm‹ und ›außerhalb-der-Norm‹. Welche Topien, Heterotopien, U-topien entstehen hier? (S) Bewegung an den Rändern, an den ›leeren Stränden‹ Bewegung als Anders-Sein Der Garten, die Anstalt, das Theater, das Kino (A) »Spieglein, Spieglein an der Wand …« WER sieht da, wenn ICH in den Spiegel sehe? (S) Aufbruch zu einem anderen Ort? (A) Gesellschaften unterhalten ›Gegenräume‹: a. als ›Abweichungsheterotopien‹, für Menschen, die vom Durchschnitt oder der Norm abweichen – Sanatorien, psychiatrische Anstalten, Gefängnisse, Bordelle, Altersheime, Friedhöfe; b. als reale Räume, die zum Spiel, zur Phantasietätigkeit einladen – alte Gärten, Theater-Proben, Betten, Schiffe. (S) »Leise Bewegung bebt in der Luft.«3

3

Aus einem Volkslied: »Frühzeitiger Frühling«, zit. n. Johann Wolfgang Goethe (1827): Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Stuttgart/Tübingen: Cotta, S. 82.

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(A) Schiffe sind »ein Stück schwimmender Raum«, »Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert« – wie Körper, wie Ich. »Das Schiff ist die Heterotopie par excellence« und »das größte Reservoir für die Phantasie«.4 (S) Bewegung als Abweichung (weg von, hin zu) Bewegung als Umkehrung Verdrehung Wendung (A) Wenn ›Proben‹ probieren meint, dann ist ein Experiment mit offenem Ausgang möglich – dann wage ich mich an etwas Ungewisses. Dann habe ich die Chance, die Probe zu einem heterotopen Ort werden zu lassen – wäre da nicht der beharrliche Körper, der seine Routinen und Normalisierungen sucht und immer wieder findet … (S) Orte, die der Norm entwischen (Widerlager) die in der Norm nicht aufgehen die nach eigenen Regeln funktionieren ›eigentlich unvereinbar‹ (A) Wenn Körper Räume sind, dann sind Körpererfahrungen Raumerfahrungen, Sozial-Raum-Erfahrungen – und damit auch - Grenzerfahrungen / Begrenzungserfahrungen, sowie - Grenzerweiterungs- / Grenzüberschreitungs- / Potenzerfahrungen Körper: ein ›politischer Text‹, ein heterotopischer Ort! (S) »Nur in der Bewegung, so schmerzlich sie sei, ist Leben.«5

4

Foucault, Michel (2007): »Von anderen Räumen«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorien. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 327.

5

[Der vollständige Satz lautet: »Das Verharren würde zur Erstarrung und zum Tode; nur in der Bewegung, so schmerzlich sie sei, ist Leben.«] Jacob Burckhardt (2000 [1905]): Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte, München/Basel: Beck/Schwabe, S. 147.

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(A) Heterotopien stellen alle anderen - herkömmlichen, - vertrauten, - der Norm gehorchenden Räume in Frage. (S) »Der Ursprung des Daseins ist die Bewegung.«6

*** Abbildung 1: Zeichnung der Bewegung im Raum

Die Tagung, der Raum der Tagung, wurde also auf diese Weise von uns beiden eröffnet. Anke und ich waren zu diesem Zeitpunkt beide krank. Sie ›hielt durch‹, ich selber musste nach den ersten Vorträgen aufgeben – mein fiebriger und schmerzender Körper machte sich einfach überdeutlich als Grenze bemerkbar. Unsere Kolleg*innen und andere Teilnehmende erzählten uns später, dass sie die

6

Ibn Arabi zit. n. Richard Riess (2006): Auf der Suche nach dem eigenen Ort: Mensch zwischen Mythos und Vision, Stuttgart: Kohlhammer, S. 223.

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hier erinnerte dialogische Praxis des Raum-Durchschreitens und -Eröffnens als sehr eindrücklich erlebt haben, weil wir damit die üblichen Eröffnungs-Praktiken und -Rituale einer wissenschaftlichen Tagung durchkreuzten. Dazu passen auch einige fragmentarische Notizen, die mir von der Tagung geblieben sind: (Körper-)Materie in Bewegung, Materialismus der Begegnung … Leere als deren Voraussetzung. »Leere«, durch ihre Ränder gefüllt (Althusser). Die Belebung, die Abweichung – sie machen Potentialität(en) erkennbar … Umgangskörper (Gebauer) – mit dem Körper um(her)gehen, etwas umgehen, ausleuchten. Bildlichkeit der Bewegung, Reflexivität des Körpers, somatische Präsenz … The nexus of doings and sayings (Schatzki) … Etwas schlägt Wellen in der Interaktion …

Ich bin dankbar dafür, dass ich Ankes Kollegin sein konnte. Wenn ich jetzt an sie denke, so fällt mir ein Gedicht von Mascha Kaleko ein: »Mein schönstes Gedicht? Ich schrieb es nicht. Aus tiefsten Tiefen stieg es. Ich schwieg es.«7

7

Mascha Kaléko (2007): Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte (12. Auflage), München: dtv, S. 147.

Der Leib in der Soziologie. Eine Würdigung R OBERT G UGUTZER 1

Zu den besonderen wissenschaftlichen Verdiensten von Anke Abraham zählen allen voran ihre vielfältigen Arbeiten zum Körper. Mit ihren Körperstudien hatte Anke Abraham sowohl die »Wiederkehr des Körpers« (Kamper/Wulf 1982) in der deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaft mit angestoßen (vgl. Abraham 1984, 1986) als auch maßgeblich an dem daran anschließenden body turn in der Soziologie (Gugutzer 2006) mitgewirkt (vgl. Abraham 1992, 1998, 2010, 2011; Abraham/Müller 2010a, 2010b). Aufgrund ihres ausgeprägten Interesses an der Phänomenologie – vor allem jener von Maurice Merleau-Ponty und Hermann Schmitz – ging es Anke Abraham jedoch nie nur allein um die soziale und personale Relevanz des Körpers, sondern gleichermaßen um jene des Leibes (vgl. Abraham 2002, 2006a, 2006b, 2013). Mein Eindruck ist, dass ihr der Leib in wissenschaftlicher Hinsicht (und womöglich nicht nur in dieser) letztlich sogar wichtiger war als der Körper, zieht sich doch die Auseinandersetzung mit leiblichen Erfahrungen, sinnlichen Wahrnehmungen und dem Sich-Spüren wie ein roter Faden durch ihr gesamtes Werk. Selbst dort, wo in ihren Texten scheinbar ›nur‹ vom Körper die Rede ist, ist der Leib in aller Regel zumindest implizit präsent. Mit diesem dezidierten Fokus auf den Leib zählt Anke Abraham bis heute zu einer Minderheit in der Soziologie, die mehrheitlich mit dem Leib nicht allzu viel anzufangen weiß. Angesichts dieses Umstands versteht sich der vorliegende Beitrag als eine Würdigung des Leibes und der Leibthematisierung durch Anke Abraham. Ich werde zunächst einige Gründe nennen, die in der Soziologie typischerweise gegen den Leibbegriff ins Feld geführt werden, und versuchen, diese zu

1

Der Text basiert auf zwei Vorträgen, die ich im November 2011 an der Universität Bern und im Januar 2013 an der Universität Erlangen gehalten habe. Teile des Artikels sind veröffentlicht in Gugutzer (2012) und Gugutzer (2015).

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entkräften (1.). In Fortführung dessen werde ich die Erkenntnismöglichkeiten skizzieren, die sich für die Soziologie aus der empirischen Thematisierung und theoretischen Integration des Leibes ergeben (2.). Illustrieren möchte ich diese Erkenntnisoptionen, indem ich zwei zentrale körpersoziologische Positionen einer kritischen Lektüre unterziehe und Vorschläge für eine präzisere, weil leibphänomenologisch fundierte, Begrifflichkeit unterbreite: Zum einen betrifft das die Praxissoziologie (3.), zum anderen die Wissenssoziologie (4.). Der Text endet mit einem kurzen Fazit (5.).

1. S PÜRBARE W IDERSTÄNDE GEGEN G RÜNDE UND G EGENARGUMENTE

DEN

L EIB :

Spätestens seit dem so genannten body turn zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Körper ein anerkannter Gegenstand empirischer Forschung in der deutschsprachigen Soziologie (vgl. als Übersicht Alkemeyer 2015; Gugutzer 2015; Gugutzer/Klein/Meuser 2017); auch die zeitgenössische Sozial- und Gesellschaftstheorie behandelt mittlerweile den Körper als basale Kategorie (vgl. exemplarisch Rosa 2016; Knoblauch 2017). Verglichen damit hat der Leib bis heute einen schweren Stand in der Soziologie. Das gilt sowohl für den Leib als sozial relevantem Phänomen, als auch und ganz besonders für den Leib als soziologischem Grundbegriff, wenngleich es hier selbstredend Ausnahmen gibt (vgl. Gugutzer 2012, 2017a; Jäger 2014; Lindemann 2014; Uzarewicz 2011). Dass die Soziologie den Körperbegriff gegenüber dem Leibbegriff präferiert, kann jedoch durchaus überraschen. Vergegenwärtigt man sich beispielsweise die Etymologie der beiden Wörter ›Körper‹ und ›Leib‹, zeigt sich, dass ›Leib‹ das deutlich ältere Wort ist. Berücksichtigt man des Weiteren, dass mit ›Leib‹ der lebendige Körper und mit ›Körper‹ der corpus im Sinne des toten oder dinghaften Körpers gemeint ist, läge es ebenfalls nahe, den Leibbegriff dem Körperbegriff vorzuziehen, hat es die Soziologie doch nahezu ausschließlich mit lebenden menschlichen Körpern zu tun. Aber auch unabhängig von der Frage, ob einer der beiden Begriffe Vorrang vor dem anderen haben sollte, lässt sich mit Bernhard Waldenfels grundsätzlich sagen, dass die »Ausdrücke ›Leib‹ und ›Körper‹ [...] ein sprachliches Kapital [bilden], das man nicht einfach verschleudern sollte, indem man vom ›Körper‹ spricht, wenn man den ›Leib‹ meint« (Waldenfels 2000: 15). Die Soziologie aber – einschließlich der Körpersoziologie – verschleudert dieses sprachliche Kapital im Großen und Ganzen, indem sie so tut, als sei es hinreichend, einzig und allein vom Körper zu sprechen. Dass die – zumeist mit Verweis auf Helmuth Plessner gewählte – Unterscheidung von Leibsein und

D ER L EIB IN DER S OZIOLOGIE. E INE W ÜRDIGUNG | 47

Körperhaben durchaus geläufig ist, ändert nichts an dem Sachverhalt, dass die begriffliche Unterscheidung von Leib und Körper in der Soziologie selten analytisch genutzt wird. Woran könnte diese Zurückhaltung gegenüber dem sprachlichen Kapital liegen, das die deutsche Sprache mit ihren Ausdrücken ›Leib‹ und ›Körper‹ bereithält? Und vor allem: Aus welchen Gründen scheint insbesondere der Leibbegriff bei vielen Soziolog*innen einen spürbaren Widerstand auszulösen, aufgrund dessen sie ihn als analytisches Instrumentarium verschmähen? Sieht man von der generellen, nicht nur die Soziologie kennzeichnenden Entwicklung der zeitgenössischen Wissenschaftssprache ab, die Fremdwörter und englische Ausdrücke präferiert, weshalb ein so deutsches Wort wie ›Leib‹ zwangsläufig einen schweren Stand haben muss, werden in der Soziologie typischerweise zwei Argumente gegen den Leibbegriff ins Feld geführt: Zum einen heißt es, der Leib verweise auf etwas Wesenhaftes am oder des Menschen oder habe zumindest eine substanzialistische Konnotation. Der Leib ist in dieser Sichtweise ein anthropologischer oder ontologischer Begriff, der die historische, kulturelle und biographische Variabilität der physischen Existenz menschlicher Individuen nicht fassen kann und daher soziologisch untauglich sei. Zum anderen wird gesagt, der Leibbegriff werde in Abgrenzung zum Körperbegriff eingeführt und damit der cartesianische Dualismus reproduziert. Wer zwischen Leib und Körper differenziert, nimmt dieser Auffassung zufolge eine ontologische Trennung vor, die gleichbedeutend ist mit der cartesianischen Trennung von res cogitans und res extansa. Ein Feld wie die Körpersoziologie, die zumindest in ihren programmatischen Texten entschieden dafür eintritt, den cartesianischen Dualismus zu überwinden, widerspräche damit sich selbst, wenn sie den LeibKörper-Dualismus unterstützt. Diese beiden Vorwürfe sind weit verbreitet, nichtsdestotrotz aber unangemessen. So lässt sich erstens der Substanzialismuskritik entgegenhalten, dass sie einem Soziologismus das Wort redet, der a priori das Vor- oder Nichtsoziale als soziologisch irrelevant oder gar inexistent ausklammert. Die Annahme, dass der Leib »die Natur« ist, »die wir selbst sind« (Böhme 1992), ist dieser Sichtweise zufolge entweder falsch, weil es ›die Natur‹ nicht gibt, oder soziologisch nicht von Belang, weil Soziales im Durkheim’schen Sinne ausschließlich durch Soziales zu erklären sei. Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, dass leibliche Regungen wie Hunger, Durst, Angst, Wut, Schmerz, Ekel, Scham, Freude, Begehren, Lust etc. kulturunabhängige und in diesem Sinne natürliche Phänomene sind, so wie es auch leibliche Befindenszustände wie Müdigkeit, Kopfweh, Aufregung, Erregung, Unsicherheit oder Langeweile in allen Epochen und Kulturen gibt. Wann, wie, wo, wer, warum solche leiblichen Regungen verspürt und

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wie er oder sie damit umgeht, ist damit natürlich nicht festgelegt, vielmehr variiert dies je nach Epoche, Kultur, Gesellschaft, Milieu, Biographie. Der Leib ist damit sowohl Natur als auch Kultur. Phänomenologisch lässt sich das konkretisieren, wenn man mit Hermann Schmitz davon ausgeht, dass die Natur des Leibes dessen räumlich-dynamische Struktur ist (vgl. Schmitz 2011). Schmitz beschreibt die Struktur des Leibes mit Hilfe kategorialer Gegensatzpaare, als deren wichtigstes er den Gegensatz von »Enge« und »Weite« bezeichnet. Im Wachzustand bewegt sich das leibliche Befinden des Menschen stets zwischen dem Enge- und dem Weitepol, mal stärker zur Enge-, mal stärker zur Weiteseite hin pendelnd. Unabhängig von Kultur und Epoche fühlen sich etwa der Schreck, ein Muskelkrampf oder Atemnot eng an, während Erleichterung, das gemütliche Dösen in der Sonne oder der Moment kurz vor dem Einschlafen als weit(-end) empfunden werden. Diese und andere räumlich-dynamische Strukturmerkmale des Leibes – beispielsweise der leibliche Rhythmus von Enge und Weite oder die zu- und abnehmende Intensität leiblicher Regungen – sind universell vorfindbare Phänomene. Die räumlich-dynamische Struktur des Leibes und damit die Natur des menschlichen Leibes existiert allerdings nie in Reinform, stattdessen immer nur historisch-kulturell gebrochen, überformt, vermittelt. Der Leib ist daher immer auch und jederzeit ein kulturelles Phänomen. Dass der eigene Leib als räumlichdynamische Struktur erfahrbar ist, besagt ja nicht, wie er individuell und situativ erfahren wird. Eine vorgesellschaftliche Erfahrung des eigenen Leibes gibt es nicht. Wann jemand wie, wo und aus welchen Gründen ein Enge- oder Weitegefühl spürt, ist in der Struktur des Leibes nicht angelegt. Ob eine gespürte Weite »lust- oder unlustvoll« (Rappe 2012: 138ff.) besetzt ist, ihre subjektive Erfahrung also positiv oder negativ bewertet wird, ist ebenso sozial und personal relativ wie die gespürte Enge eines Schmerzes, dessen Empfinden von der individuellen Biographie wie auch dem (sub-)kulturellen und/oder situativen Kontext abhängt. Der Leib ist, um es noch einmal zu betonen, beides: Aufgrund seiner räumlich-dynamischen Struktur ist er ein Naturphänomen, aufgrund seiner je spezifisch gelebten Form ein Kulturphänomen. Die erste Kritik am Leibbegriff ist damit entkräftet. Der zweiten Kritik, der zufolge die Trennung von Leib und Körper eine ontologische Differenzierung sei, die den cartesianischen Dualismus reproduziere, lässt sich wiederum entgegnen, dass es sich hier um eine phänomenologische Unterscheidung handelt, mit der auch kein hierarchisches Verhältnis von Leib und Körper einhergeht, so wie dies die cartesianische Relation von Seele/Geist und Körper impliziert. Leib und Körper stellen keinen Dualismus dar, sondern eine Dualität im Sinne einer Zweiheit-in-Einem. Das bedeutet: Leib und Körper sind Phänomene je für sich,

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mit dem Leib als die spürbar pathische2 und dem Körper als die von außen wahrnehmbare, aktive Dimension menschlicher Existenz. Zugleich sind diese beiden Dimensionen immer aufeinander bezogen, durchdringen sich Leib und Körper wechselseitig, solange der Mensch lebt. Erst wenn der Mensch tot ist, sind Körper und Leib voneinander getrennt; der Mensch ist dann nur noch Körper, nicht mehr jedoch Leib. Im lebendigen Dasein hingegen sind der pathische Leib und der aktiv tätige Körper ineinander verschränkt: Das leibliche Spüren beeinflusst das körperliche Tun, so wie das körperliche Tun Auswirkungen auf das leibliche Empfinden hat, wobei der leibkörperliche ›Ort‹ dieser Verschränkung das Sich-Bewegen ist. Für die Soziologie, insbesondere die soziologische Handlungstheorie, folgt daraus, dass ihr Subjekt gleichermaßen der*die (körperliche) Akteur*in und der*die (leibliche) Patheur*in ist (vgl. Gugutzer 2017a, 2018).

2. S OZIOLOGISCHE E RKENNTNIS › DURCH ‹ DEN L EIB Eine Soziologie, die den Leib als Phänomen und Begriff ernst nimmt, kann davon in mehrerlei Hinsicht profitieren. Erstens, in empirischer Hinsicht erweitert der Fokus auf die Leiblichkeit des Menschen das thematische Spektrum der Soziologie, eben um eine Soziologie des Leibes. Eine Soziologie des Leibes gibt es bislang nur in Ansätzen, etwa als Soziologie der Sinne (vgl. Göbel/Prinz 2015) oder als Soziologie der Emotionen (vgl. Senge/Schützeichel 2013). Allerdings sind Sinne und Gefühle nicht dieselben Phänomene wie der Leib (vgl. Hasse 2005), weshalb eine genaue Differenzierung hier vonnöten ist. Georg Simmels Soziologie der Sinne (Simmel 1992) oder Helena Flams Soziologie der Emotionen (Flam 2002) beispielsweise thematisieren zwar soziale Sinnesleistungen und die soziale Relevanz von Gefühlen, nicht jedoch das sozial bedingte und folgenreiche Sich-Spüren etwa in Situationen der Angst, Trauer, Müdigkeit, Scham oder durch kollektive Atmosphären. Es liegt hier ein weites empirisches Feld brach, das zweitens für zivilisationsund kulturkritische Analysen moderner Disziplinierungs- und Rationalisierungsprozesse, Kontroll- und Machtmechanismen genutzt werden kann. Die »Mikrophysik der Macht« (Foucault 1976) beispielsweise schreibt sich nämlich weniger in den Körper als vielmehr in den Leib ein. Die Disziplinarmacht der Schule et-

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Pathisch ist der Leib im Sinne des spürbaren Betroffenseins von etwas oder jemandem. Hunger, Schmerz, Lust, Angst, Seitenstechen, Verliebtsein etc. sind Phänomene, die das betroffene Subjekt erleidet, die es als leibliches Widerfahrnis spürt.

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wa besteht darin, den spürbaren Bewegungsdrang der Schüler*innen zu unterdrücken. Sichtbar wird diese in den Schüler*innenleib eingreifende Disziplinarmacht im ruhigen Dasitzen und Zuhören; ohne die leibliche Selbstkontrolle gäbe es diese sozial erwartete Körperkontrolle nicht. Der Leib ist aber nicht nur der ›Ort‹, an dem sich gesellschaftliche Machtmechanismen besonders gut zeigen, sondern gleichermaßen ein Medium, um ihnen zu entkommen. Zeitgenössische Leibpraktiken der Selbstsorge (z.B. Atem- und Achtsamkeitsübungen, Tai-Chi, Feldenkrais) können in diesem Sinne als gegen die vorherrschenden, instrumentellen und ästhetischen Körperpraktiken gerichtete widerständige Praktiken interpretiert werden. Mit Böhme gesprochen handelt es sich bei solchen Leibpraktiken um eine »Selbstsorge nicht als Sorge für ein Selbst, sondern als Lebenspraxis, sich selbst im Leibe zu finden.« (Böhme 2003: 270) Drittens eignet der Leibbegriff für eine kritische Lesart theoretischbegrifflicher Konzepte der Soziologie im Allgemeinen und der Körpersoziologie im Besonderen. Eine leibphänomenologische Perspektive hilft, gängige soziologische Topoi auf ihre begriffliche Schärfe hin zu befragen. Im Ergebnis lässt sich so zeigen, dass vermeintlich selbstverständliche körpersoziologische Formulierungen wie ›Diskurse formen Körper‹, ›Wissen wird inkorporiert‹, ›die Klassenstruktur prägt den Körperhabitus‹ oder der Körper ist ein ›Speicher des Sozialen‹ ungenaue begriffliche Bezeichnungen sind. Wie die körperliche Formung durch Diskurse für das Subjekt konkret erfahrbar wird, wie Wissen inkorporiert wird und sich als subjektive Kompetenz zeigt, wie die soziale Klassenzugehörigkeit individuell einverleibt wird und im habituellen Verhalten ihren Ausdruck findet etc., all das lässt sich begrifflich-konzeptionell genauer fassen, wenn nicht vom sicht- und tastbaren Körper die Rede ist, sondern vom spürbar-spürenden Leib. Viertens ist es mit einem elaborierten Leibbegriff möglich, jenes Vorhaben zu realisieren, für das Gesa Lindemann bereits vor 20 Jahren plädiert hatte, das aber weiterhin bestenfalls ansatzweise realisiert worden ist (u.a. von ihr selbst: Lindemann 2014; siehe auch Gugutzer 2012, 2017a), nämlich den Übergang von einer Soziologie des Körpers hin zu einer verkörperten Soziologie zu bewerkstelligen. Damit ist eine Soziologie gemeint, die nicht mehr nur den Körper als Forschungsgegenstand, sondern darüber hinaus den Leib als konstitutive Bedingungen des Sozialen ernst nimmt. Eine solchermaßen verkörperte Soziologie ist eine Alternative zur bewusstseinsphilosophisch geprägten Mainstream-Soziologie, die sich Lindemann zufolge ja eher mit »Engeln« (Lindemann 2005: 114) als mit Menschen ›aus Fleisch und Blut‹ beschäftigt. Eine verkörperte Soziologie geht demgegenüber von der basalen Annahme aus, dass Menschen leiblichkörperliche Wesen sind und daher jedes menschliche Handeln ein leiblich fundiertes und körperlich ausgeführtes Handeln ist; entsprechend ist auch jedes so-

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ziale Handeln leiblich-körperlich fundiert und sind folglich die aus dem Zusammenspiel sozialer Handlungen resultierenden sozialen Ordnungen leibkörperlich her- und dargestellt wie auch sozialer Wandel leibkörperlich initiiert ist (siehe dazu Kapitel 4). Dies impliziert, dass auch das soziale Handeln von Soziolog*innen leiblich-körperlich fundiert ist, woraus unter anderem folgt, dass Leib und Körper wichtige Quellen bzw. Instrumente soziologischer Erkenntnisproduktion sind (vgl. Abraham 2002: 182-204; Gugutzer 2017b). Im Weiteren stehen die dritte und vierte Option, die sich für die (Körper-) Soziologie aus einer Berücksichtigung des Leibbegriffs ergeben, im Mittelpunkt. Dazu sollen aus einer leibphänomenologischen Perspektive ein kritischer Blick auf die Praxis- und Wissenssoziologie des Körpers geworfen und daraus folgend Vorschläge für begriffliche Präzisierungen formuliert werden.

3. L EIBLICHER E IGENSINN UND W IDERSTÄNDIGKEIT DES L EIBES : K RITIK AN DER P RAXEOLOGIE DES K ÖRPERS Die Praxissoziologie oder Praxeologie – ich verwende beide Bezeichnungen synonym – gehört zu jenen Ansätzen im Feld der Körpersoziologie, die gegen die Vorherrschaft rationaler Akteursmodelle opponieren. Die Praxeologie distanziert sich generell von sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien, insbesondere aber kritisiert sie solche Handlungstheorien, die den*die bewusst und vor allem zweckrational handelnde*n Akteur*in ins Zentrum soziologischer Analysen rücken. In Abgrenzung dazu betont die Praxissoziologie, dass für Sozialität ebenso nichtrationale, vorreflexive und unbewusste Handlungen bzw. Praktiken wesentlich seien. Der Körper gilt der Praxeologie auch in einem nichtinstrumentellen Sinne als sozial relevant. Für dieses nichtinstrumentelle, vorreflexive Körperhandeln schlägt die Praxeologie beispielsweise den Begriff ›Agens‹ vor.3 Der praxissoziologische Ausdruck ›Agens‹ zielt auf den Körper als Handlungssubjekt. Als Subjekt des Handels gilt der Körper insofern, als er spontan, intuitiv situationsgerechtes soziales Handeln ausführt und auf diese Weise soziale Ordnung her- und darstellt. Der Körper-als-Agens trägt aufgrund vorreflexiv ausgeübter Bewegungen und Gesten zur Produktion gesellschaftlicher Strukturen bei, wobei er soziale Strukturen nicht nur reproduziert, sondern auch transformiert. Der Körper-als-Agens initiiert sozialen Wandel, und dies eben nicht im

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Als eine Weiterentwicklung des Agens-Begriff kann das praxeologische Verständnis vom »Vollzugsleib« angesehen werden (vgl. Alkemeyer/Michaeler 2013: 229-233).

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Medium eines absichtsvollen instrumentellen Einsatzes des Körpers, sondern selbsttätig qua nichtintendiert-körperlichem Handeln. Wie aber ›macht‹ es der Körper-als-Agens konkret, selbsttätig agierend soziale Ordnung zu transformieren? Auf diese Frage gibt die Praxeologie keine rechte Antwort. Michael Meuser, einer der prominenten Vertreter der Körperpraxeologie, meint dazu selbstkritisch, dass die Praxeologie hierfür erst die Widerständigkeit des Körpers handlungstheoretisch ausarbeiten müsse. Zu berücksichtigen gelte es nämlich, »dass der Körper bei aller kultureller Formung aufgrund seiner physischen Materialität ein Stück weit ›asozial‹ ist und somit das Potenzial der Widerständigkeit in sich trägt« (Meuser 2006: 112). Das widerständige Potential des Körpers ist entscheidend für sozialen Wandel – zur Widerständigkeit des Körpers hat die Praxeologie jedoch nicht wirklich etwas zu sagen. Das hat damit zu tun, dass der Agens-Begriff insgesamt unklar bleibt. Agens wird entweder umschrieben als »implizites Wissen«, »leibliche Intelligenz«, »automatische Körperreaktion« und ähnliches, oder er wird – mit Rekurs auf Bourdieu, der für den Agens-Begriff primär Pate steht – im Sinne von Merleau-Pontys Begriff der »leiblichen Intentionalität« (vgl. Meuser 2004: 210) verstanden. In diesem vorherrschenden Sinne wird der Agens-Begriff mithin phänomenologisch fundiert. Allerdings bleibt es bei diesem bloßen Verweis auf die leibliche Intentionalität, phänomenologisch ausgearbeitet und verwendet wird der Agens-Begriff jedenfalls nicht. Das wäre theorieimmanent auch widersinnig, geht die Praxissoziologie doch von beobachtbaren körperlichen Bewegungen als kleinsten Analyseeinheiten des Sozialen aus (vgl. Alkemeyer 2004: 45). Die leibliche Intentionalität des Körpers-als-Agens ist jedoch nicht beobachtbar, eben weil es ein leibliches Geschehen ist. Die Praxeologie und ihr Agens-Begriff helfen daher nicht weiter, wenn es um die Frage des nichtrationalen, des vorreflexiven Handelns geht. Zielführender hierfür scheint beispielsweise ein neophänomenologischer Zugang, da es dieser erlaubt, das leibliche Handeln als eigensinniges und widerständiges Handeln zu konzipieren. Im leiblichen Handeln ist der Leib Subjekt statt Objekt des Handelns, wobei die Subjektivität des Leibes darin besteht, dass er eigenständig, autonom agiert und dieses Agieren nichtsdestotrotz sinnhaft (und daher mehr als bloßes Verhalten) ist. Der Leib als Handlungssubjekt zeigt sich als eigenwilliger Akteur insofern, als er sich der bewussten Kontrolle des Selbst entzieht. Als Handlungssubjekt agiert der Leib auf vorreflexive und in diesem Sinne eigensinnige Weise, bzw. als Handlungssubjekt ist der Leib dieser »Eigensinn« (vgl. dazu Barkhaus 2001; Abraham 2002, 2011, 2016; siehe auch Jäger 2014: 54-62).

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Aus Sicht des Individuums ist der leibliche Eigensinn eine subjektive Tatsache, die sich als unwillkürliche und unmittelbare leibliche Wahrnehmung mit einer typischen evaluativen Färbung äußert, nämlich als widerständige oder widerspenstige leibliche Regung. Als widerständig zeigt sich der leibliche Eigensinn in der Hinsicht, dass die im ungehinderten Lebensvollzug gegebene Ich-LeibEinheit aufbricht und dadurch der Mensch mit seiner eigenen Leiblichkeit konfrontiert wird. Diese leibliche Selbstkonfrontation äußert sich als spürbare Störung des üblicherweise unauffälligen Sich-Befindens zwischen Enge- und Weitepol. So zum Beispiel bei schmerzenden Verletzungen und Krankheiten oder in Situationen, in denen man spürt, dass etwas für einen selbst zu schwer, zu laut, zu kalt, unangenehm oder anstrengend ist. Es ist typischerweise eine Störung des ungehinderten Lebensvollzugs, die zur spürbaren ›Entdeckung‹ der eigenen Leiblichkeit führt. Eine wichtige soziale Relevanz hat der eigensinnig-widerständige Leib hinsichtlich sozialen Wandels, da es häufig, wenn nicht gar regelmäßig, der spürbare Leib ist, der am Ausgangspunkt sozialen Wandels steht. Der Leib ist der Initiator sozialen Wandels insofern, als das spürbare Betroffensein von sozialen Umständen typischerweise der Auslöser dafür ist, handlungsaktiv zu werden und die Umstände zu ändern. Sozialer Wandel tritt in den seltensten Fällen zuerst durch rational geplantes, teleologisches Handeln ein. Vielmehr liegt sozialem Wandel in den meisten Fällen eine Unzufriedenheit mit der gegebenen sozialen Ordnung zugrunde, und Unzufriedenheit ist ein leibliches Befinden. Am Beginn eines Transformationsprozesses sozialer Ordnung steht mit anderen Worten ein spürbarer innerer Widerstand gegenüber den strukturellen Gegebenheiten, und das unabhängig davon, ob es sich um mikro-, meso- oder makrosoziale Ordnung handelt. Der leibliche Eigensinn ist als subjektiv relevanter Hinweis darauf zu verstehen, dass sich an der Situation etwas ändern müsse oder solle. Im Anschluss an einen Buchtitel von Hans-Peter Dreitzel (1972) könnte man sagen: Es ist das Leiden an der Gesellschaft bzw. das Leiden an den gesellschaftlichen Leiden, das soziales Handeln motiviert und sozialen Wandel initiiert. Dabei ist die Formulierung »Leiden an der Gesellschaft« nicht als bloße Metapher zu verstehen. Vielmehr handelt es sich hier in einem wörtlichen Sinne um ein Leiden an der Gesellschaft, nämlich um ein spürbares Betroffensein von sozialen Missständen, Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen, Unsicherheiten und Ähnlichem. Das Leiden kann sich konkret als Ärger, Wut, Angst, Ohnmacht, Panik oder auch ›nur‹ als diffuses Missbefinden, Kopf- oder Bauchweh äußern. Handlungswirksam ist das spürbare Leiden an der Gesellschaft dann, wenn der Leidensdruck groß genug ist. Erst wenn der Leidensdruck überhandnimmt, im leiblichen

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Sinne unerträglich wird, beginnen Menschen und Menschengruppen zu handeln, um den Status quo zu ändern. So weiß man von Paaren, dass sie an ihrer Beziehung ›zu arbeiten‹ beginnen oder diese auflösen, wenn der*die eine Partner*in die Seitensprünge des*der anderen nicht mehr erträgt, die wechselseitigen Misshandlungen oder Anfeindungen zu viel oder die Langeweile zu groß geworden ist. Die Transformation der Paarordnung setzt mithin ein, wenn der leibliche Eigensinn in Gestalt von Wut (auf den*die Partner*in), Angst (vor dem*der Partner*in), psychophysischen Schmerzen (verursacht durch den*die Partner*in), innerer Leere oder Verzweiflung (ob der Gesamtsituation), wenn also der leibliche Eigensinn so dominant geworden ist, dass nur noch eine entschiedene Aktion (ein Gespräch, die Scheidung) hilft, um der belastenden Situation zu entkommen. Vergleichbare Zusammenhänge zwischen dem spürbaren Leiden an einer Situation und dem daraus resultierenden sozialen Wandel finden sich ebenso auf meso- und makrosozialer Ebene. So ist zum Beispiel die Unzufriedenheit von einem*einer oder mehreren Mitarbeiter*innen in einer Abteilung nicht selten der Startpunkt zur Neugestaltung der Gruppenordnung. Auch soziale Bewegungen wie Frauen- oder Umweltschutzbewegungen wären nicht entstanden und hätten nicht zu den bekannten gesellschaftspolitischen Veränderungen geführt, hätte es nicht Menschen gegeben, die am gesellschaftlichen Status quo gelitten haben. Ebenso basieren soziale Aufstände und Revolutionen oder religiöser und politischer Terrorismus mit ihren bekannten (welt-)gesellschaftlichen Strukturtransformationen ganz entscheidend auf kollektiv wahrgenommenen, spürbaren Missständen, Ungerechtigkeiten oder Benachteiligungen. Es ist die Wut, der Ärger, die Frustration oder gar der Hass auf die Repräsentant*innen sozialer Macht, die von vielen Menschen empfunden werden, aufgrund derer es zu sozialen Handlungen kommt, die zur Aufhebung der bestehenden Ordnung führen können. Es ist mit anderen Worten der*die (kollektive) soziale Patheur*in, der*die in solchen Fällen sozialen Wandel initiiert (vgl. Gugutzer 2017a: 160).

4. L EIBLICHES W ISSEN UND L EIBGEDÄCHTNIS : K RITIK AN DER W ISSENSSOZIOLOGIE DES K ÖRPERS Neben der Praxissoziologie zählt im deutschsprachigen Raum die Wissenssoziologie zu jenen soziologischen Teilbereichen, in denen der Körper prominent diskutiert wird; Anke Abraham hat hierzu einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet (siehe vor allem Abraham 2002). Ganz allgemein interessieren die Wissenssoziologie am Körper zwei Aspekte: zum einen das Wissen vom Körper, zum

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anderen das Wissen des Körpers (vgl. Keller/Meuser 2011). Mit dem Wissen vom Körper ist ein manifestes, objektiviertes, explizites, kognitives Wissen gemeint, für das es spezialisierte Institutionen und Personen (Expert*innen) gibt, zum Beispiel die Medizin und ihre Ärzt*innen. Mit dem Wissen des Körpers ist hingegen ein vor- oder unbewusstes, ein unausgesprochenes, vorreflexives oder implizites Wissen bezeichnet. Nach Hubert Knoblauch ist es dieses implizite Wissen, das »sozusagen in den Körper eingeschrieben ist« (Knoblauch 2005: 100), welches in wissenssoziologischer Hinsicht vor allem beachtenswert sei. Im Anschluss an Alfred Schütz und Thomas Luckmann nennt Knoblauch »Fertigkeiten« als lebensweltlich besonders bedeutsames Beispiel für dieses unausgesprochene Körperwissen. Fertigkeiten sind nach Schütz und Luckmann »gewohnheitsmäßige Funktionseinheiten der Körperbewegung«, in denen sich die »Verbindung von Körper, Bewusstsein und Gesellschaft« (ebd.: 101) auf besondere Weise zeigt. Den Vorzug der Wissenssoziologie gegenüber anderen soziologischen Zugängen zum impliziten Wissen sieht Knoblauch darin, dass die Wissenssoziologie imstande sei, die Genese des impliziten Körperwissens zu analysieren. Wie sieht diese Genese des impliziten Körperwissens aus? Aus wissenssoziologischer Sicht bilden sich Fertigkeiten zum einen über »Habitualisierungen« aus, die wiederum auf routinisierten »Typisierungen« von Ereignissen basieren. Zum Zweiten bedürfe die Habitualisierung des Übergangs von »polythetisch durchgeführte[n] Handlungen, bei denen jeder Schritt überlegt sein will und einzelne Schritte sogar mehrfache Überlegung erfordern« (ebd.: 102f.), hin zu einem »monothetischen« Handlungsvollzug, der durch das Absinken der bewusst ausgeführten Handlungsschritte ins Unbewusste gekennzeichnet ist. »Dieser Übergang von der polythetischen Handlung zu ihrem monothetischen Vollzug impliziert zusätzlich die Fähigkeit zur Sedimentierung, zur Ablagerung typisierter Erfahrungen und Handlungen in den Hintergrund des Bewusstseins (und des Körpers)« (ebd.: 103). In wissenssoziologischer Perspektive ist das implizite körperliche Wissen also gleichbedeutend mit Fertigkeiten, Routinen und Habitualisierungen, die das Ergebnis bewusster Typisierungen sind, welche sich im ›Hintergrund des Bewusstseins und des Körpers‹ abgelagert bzw. in den Körper eingeschrieben haben. Gesellschaftliches Wissen schreibt sich vermittelt über das Bewusstsein in den Körper ein und wird so handlungsrelevant. Aus leibphänomenologischer Perspektive stellen sich hier mindestens zwei Fragen. Erstens, besteht die Praxisrelevanz des Körperwissens wirklich überwiegend oder gar ausschließlich darin, habitualisiertes und routinemäßiges Handeln anzuleiten? Wo aber ist dann der theoretische Ort für spontanes, intuitives, kreatives Handeln? Wie erklärt die Wissenssoziologie Handeln in ungewohnten und

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überraschenden Situationen, deren Bewältigung ein Handeln jenseits von Routine und Typisierung bedarf? Eine Antwort auf diese Fragen ist wichtig, da sich Menschen regelmäßig in Situationen befinden, die sich in den Worten von Schmitz durch eine »chaotischmannigfaltige Ganzheit« und »vielsagende Eindrücke« (Schmitz 1990: 65ff.) auszeichnen, zu denen sich der*die Einzelne spontan verhalten muss, ohne analytisch-rational oder gewohnheitsmäßig handeln zu können. Exemplarisch dafür ist »die Leistung des Autofahrers, der auf regennasser, dicht befahrener Straße einem drohenden Unfall durch geschicktes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen schlagartig entgeht. Er hat die Situation ganzheitlich erfasst und bewältigt, oft präpersonal, ohne sich zu besinnen, aber erst im Rückblick aus personaler Perspektive wird sie ihm zum einzelnen Ereignis.« (Schmitz 2005: 22)

Das Handeln dieses Autofahrers als Routinehandeln zu bezeichnen, die auf Typisierungen basiert, ist mindestens dann unzutreffend, wenn der Fahrer diese Situation zum ersten Mal erlebt. Gerade in solchen »kritischen Situationen« (Böhle/Fross 2009: 123), die aufgrund ihres plötzlichen Auftretens problematisch sind, helfen Routinehandlungen schwerlich weiter. Stattdessen bedarf es in solchen Fällen eines »leiblich-kreativen Agierens« (Gugutzer 2018: 52), um die überraschende Krisensituation zu bewältigen. Leiblich-kreativ ist dieses Handeln dabei in dem Sinne, dass das situativ auftretende Problem vorreflexiv wahrgenommen und durch körperliches Agieren (intuitiv, improvisierend) gelöst wird.4 Zweitens wirft die wissenssoziologische Perspektive das begriffliche Problem auf, dass hier von einem körperlichen Wissen die Rede ist, ohne dass gesagt wird, was mit Körper gemeint ist. Von welchem Körper ist die Rede, wenn er als ›Träger‹ des Wissens bezeichnet wird? Wo oder wie ›trägt‹ der Körper Wissen? In den Genen, den Nerven, den Hormonen, dem Fleisch? Wenn typisierte Erfahrungen ›im Hintergrund‹ des Körpers (und des Bewusstseins) abgelagert sind, wo genau ›lagern‹ dann die Erfahrungen? Was hat man sich darunter vorzustellen, dass Fertigkeiten »gewohnheitsmäßige Funktionseinheiten der Körperbewe-

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Das leiblich-kreative Agieren ist eine der vier analytischen Dimensionen kreativen Handelns, die die neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie unterscheidet; die drei anderen Dimensionen sind das »hermeneutisch-kreative Agieren«, das »hermeneutisch-kreative Denken« und das »analytisch-kreative Denken« (Gugutzer 2018: 51-54).

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gung« sind? Sind solche ›Funktionseinheiten‹ der Aufbewahrungsort des Körperwissens? Ähnlich diffus bleibt der Körperbegriff bei Bourdieu, den man in diesem Fall als Wissenssoziologen bezeichnen darf, wenn er vom Körper als ›Speicher‹ von klassenspezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern spricht. Da Bourdieu zum Ort und zur Beschaffenheit des Speichers nichts sagt, muss man sich offensichtlich mit der Einschätzung von Alois Hahn zufriedengeben, dass die Rede vom Körper als Speicher lediglich »metaphorisch« zu verstehen ist (Hahn 2010: 99). Wirklich zufriedenstellend ist das jedoch nicht. Zufriedenstellender, weil begrifflich genauer, erscheint hier deshalb der Rückgriff auf den neophänomenologischen Leibbegriff. Das verkörperte Wissen wird dann zum leiblichen Wissen, und als ›Speicher‹ bzw. ›Ort‹ des leiblichen Wissens fungiert das Leibgedächtnis, wobei leibliches Wissen und Leibgedächtnis wie die zwei Seiten einer Medaille untrennbar miteinander verbunden sind. Leiblich ist dieses Wissen, da es weder dem Körper im naturwissenschaftlichen Sinne noch der Seele im psychologischen (oder theologischen) Sinne zugehört. Und leiblich ist das Gedächtnis, da es ebenfalls weder im Unbewussten oder Unterbewusstsein noch an einer konkreten Körperstelle sitzt, auch nicht im Gehirn. Dazu der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs: »Unser Gedächtnis ist […] nicht in einem verborgenen Inneren oder in einem anatomischen Substrat beheimatet. Sein ursprünglicher phänomenaler Ort ist der Leib, ja sogar die Außenwelt, insofern sie als vertraute und gewohnte ebenso Teil unserer Leiblichkeit ist. Erst die Explikation führt zur imaginativen, leibfreien Vergegenwärtigung der Gedächtnisinhalte. Aber selbst die explizite, reflexive Erinnerung muss noch eine Ich-Tönung, eine ›Wärme‹ und Vertrautheit besitzen, um als persönliche erlebt zu werden.« (Fuchs 2000: 325)

Das implizite, leibliche Wissen, das es einem ermöglicht, ohne nachzudenken Fahrrad zu fahren oder ein Gespür für die sozial angemessene Begrüßungsform zu besitzen, sitzt so wenig in einem Muskel, Organ oder der Seele wie die implizite, leibliche Erinnerung an ein früheres Erlebnis, das durch einen vertrauten, aber vergessenen Geruch, eine Stimme oder eine Geste gegenwärtig wird. Der ›Speicher‹ des impliziten Wissens und Erinnerns ist nicht der Körper, zum Beispiel die Hände einer Pianistin, weil das bedeuten würde, dass die Fähigkeit, Klavier zu spielen, bei einer Transplantation der Hände dieser Pianistin erhalten bliebe und die Empfängerin der Hände genauso gut Klavier spielen könnte wie die ehemalige Pianistin (vgl. Uzarewicz 2011: 164, Fußnote 1030). Und das ist selbstredend nicht der Fall.

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Ebenso wenig ist es das Gehirn, das das Wissen aufbewahrt, wie zum Beispiel Schreibmaschineschreiben geht. Das Gehirn könnte »das Erlernte ohne die Gegenwart des Körpers nie mehr aktivieren [...]; es gehört vielmehr dem gesamten Organismus an« (Fuchs 2000: 392, Fußnote 3). Der ›Speicher‹ leiblichen Wissens und Erinnerns ist auch nicht das Unbewusste. Denn was ist das Unbewusste? In der gängigen Vorstellung wohl eine Art Behälter, der im Laufe des Lebens mit immer mehr Wissen gefüllt wird. Wörtlich zu nehmen ist das aber nicht. Das Unbewusste ist vielmehr eine Metapher für das stillschweigende Vergessen eines ehedem expliziten Wissens. ›Stillschweigend‹ ist dieses Vergessen im wörtlichen, phänomenologischen Sinne, da das explizite Wissen nicht wahrnehmbar, gleichwohl existent ist. Man erkennt das am Unterschied zwischen einem*einer Bewegungskönner*in und einem*einer Bewegungsanfänger*in. Der*die Könner*in zeichnet sich dadurch aus, dass er*sie die bewusst gelernten Bewegungen vergessen und in sein*ihr motorisches Körperschema integriert, das heißt, im Leibgedächtnis abgelegt hat. Dazu Schmitz: »Überall, wo der Könner eines speziellen Machens sich zur vollen Kompetenz des Virtuosen ›freischwimmt‹ – beim Sport, im Tanzen, Musizieren, Erlernen und Beherrschen einer Sprache –, verliert er die Fähigkeit, von seinem Vollbringen schrittweise Rechenschaft zu geben: das Werk gelingt ihm ganzheitlich, er montiert es nicht mehr wie unbeholfen übende Anfänger Zug um Zug.« (Schmitz zit. n. Uzarewicz 2011: 164)

Sinngleich habe ich an anderer Stelle ausgeführt, dass sich das Leibgedächtnis von Balletttänzer*innen dadurch aufbaut, dass sie ihre durch wiederholtes Trainieren und Üben bewusst erlernten mechanischen Bewegungen in der Weise vergessen haben, dass diese ihnen zu einer leiblichen Disposition geworden sind, die im körperlichen Können ihren Ausdruck findet (vgl. Gugutzer 2002: 263ff.). Das Leibgedächtnis aktualisiert je nach situativem Erfordernis ein leibliches Bewegungswissen, ohne dass die Tänzer*innen darüber nachdenken müssten, was sie zu tun haben. »Das ›Können‹ besteht also gerade darin, das explizite Wissen wieder zu vergessen, d.h. es in das implizite leibliche Gedächtnis eingehen zu lassen. Vergessen kann also paradoxerweise gerade eine Form des Behaltens sein, nämlich als Implikation oder Einschmelzung von Erlebtem und Gewusstem in die unbewusste Leiblichkeit.« (Fuchs 2000: 317; Herv. weggelassen)

Das im Leibgedächtnis verankerte leibliche Wissen ist, wie das Tanzbeispiel zeigt, ein soziales Wissen in der Hinsicht, dass es aus »wiederholten motori-

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schen, perzeptiven und interaktiven Erfahrungen« (Fuchs 2008: 38) resultiert, die kultur-, gesellschafts- oder milieuspezifisch sind. Leibgedächtnis und leibliches Wissen meinen dabei selbstredend nicht nur Bewegungsgedächtnis und Bewegungswissen. Die Leiblichkeit des Gedächtnisses und des Wissens ist sozial geformt und sozial wirksam in einem generellen Sinne: Eine sozial handlungsfähige Person wird man, indem man in sozialen, zwischenleiblichen Prozessen soziale Handlungskompetenzen dergestalt erwirbt, dass man wie selbstverständlich weiß, was sich gehört und was nicht, was man zu tun und was bleiben zu lassen hat, ohne sich das in jeder Situation aufs Neue vergegenwärtigen oder interaktiv aushandeln zu müssen. Das soziale Wissen und Können ist einverleibt. Andernfalls ist es ebenfalls der eigene Leib, der auf das fehlende soziale Wissen oder Können aufmerksam macht, etwa als spürbare Peinlichkeit aufgrund eines soeben begangenen Fauxpas.

5. F AZIT Der Beitrag hatte das Ziel, die soziale und damit auch die soziologische Relevanz des Leibes zu verdeutlichen. Hierfür wurde gezeigt, wie die Integration eines phänomenologischen Leibbegriffs zur begrifflichen Präzisierung der Praxisund Wissenssoziologie beitragen kann: Die Praxissoziologie profitiert von der Leibphänomenologie, insofern sie mit deren Hilfe die Vorreflexivität, Eigensinnigkeit und Widerständigkeit sozialen Handelns begrifflich genauer fassen kann, und die Wissenssoziologie in der Hinsicht, dass mit der Leibphänomenologie die kreative Dimension des Handlungswissens in den Blick kommt sowie eine phänomengerechte Beschreibung des ›Wissensspeichers‹ (dem Leibgedächtnis) möglich ist. Zusammenfassend lassen sich damit leibliche Praxis und leibliches Wissen als begriffliche Analyseinstrumente verstehen, die den soziologischen Werkzeugkasten gewinnbringend erweitern. Darüber hinausgehend kann generell gesagt werden: Wenn sich die Soziologie als eine Humanwissenschaft versteht, der es um Menschen und die für das menschliche Zusammenleben relevanten Themen und Probleme geht, dann kommt sie nicht umhin, die leiblichen Dimensionen des Sozialen zu thematisieren. Denn relevant ist für Menschen ganz besonders das, wovon sie affektiv betroffen sind, was ihnen spürbar nahegeht und sie leiblich ergreift. Sorgen und Ängste, Wut und Hass, Unsicherheit und Not, Freude und Vergnügen, Liebe und Begehren etc., all solche leiblichen Empfindungen und Regungen beeinflussen menschliches und damit auch soziales Handeln und sind deshalb soziologisch

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bedeutsam. Anke Abraham wusste das. All jenen, die das nicht wissen oder glauben mögen, seien wärmstens Anke Abrahams Texte zur Lektüre empfohlen.

L ITERATUR Abraham, Anke (1984): »Anmut und Angst«, in: Michael Klein (Hg.), Sport und Körper, Reinbek: Rowohlt, S. 76-88. — (1986): Identitätsprobleme in der Rhythmischen Sportgymnastik. Eine Untersuchung zur Auswirkung sportartspezifischer Identitätskonstitutionen auf die Identitätsfindung nach Beendigung der leistungssportlichen Laufbahn, Schorndorf: Hofmann. — (1992): Frauen – Körper – Krankheit – Kunst. 2 Bände: Zum Prozess der Spaltung von Erfahrung und dem Problem der Subjektwerdung von Frauen. Dargestellt am Beispiel des zeitgenössischen Tanzes, Oldenburg: bis. — (1998): Lebensspuren. Beiträge zur Geschlechterforschung und zu einer Soziologie des Körpers und der ästhetischen Erfahrung: Aufsätze und Vorträge 1995-1998, Erfurt: PH Erfurt. — (2002): Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag, Opladen: WDV. — (2006a): »Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmerkungen zu übersehenen Tiefendimensionen von Leiblichkeit und Identität«, in: Robert Gugutzer (Hg.), body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript, S. 119-140. — (2006b): »Schmerzerleben im Spitzensport – Überlegungen zur psychosozialen und biographischen Bedeutung von Belastung, Schmerz und Qual«, in: Klaus Moegling (Hg.), Über die Grenzen des Körpers hinaus. Überforderungen, Verletzungen und Schmerz im Leistungssport, Immenhausen: PrologVerlag, S. 32-54. — (2010): »Körpertechnologien, das Soziale und der Mensch«, in: dies./Beatrice Müller (Hg.), Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript, S. 113-138. — (2011): »Der Körper als heilsam begrenzender Ratgeber? Körperverhältnisse in Zeiten der Entgrenzung«, in: Reiner Keller/Michael Meuser (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden: VS-Verlag, S. 31-52. — (2013): »Wie viel Körper braucht die Bildung? Zum Schicksal von Leib und Seele in der Bildungsgesellschaft«, in: Reiner Hildebrandt-Stramann/Ralf Laging/Klaus Moegling (Hg.), Körper, Bewegung und Schule. Teil 1: Theorie, Forschung und Diskussion, Immenhausen: Prolog-Verlag, S. 16-35.

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— (2015): »›Da fahr’ ich aus der Haut‹. Der Körper als Ort der Identitätsbildung im Jugendalter«, in: Robert Gräfe/Marius Harring/Matthias D. Witte (Hg.), Körper und Bewegung in der Jugendbildung. Interdisziplinäre Perspektiven, Hohengehren: Schneider, S. 44-53. — (2016): »Biographische Rekonstruktion und leibliche Erfahrung. Ansatzpunkte zum Verstehen und zur Bearbeitung von Erschöpfung«, in: Reinhold Esterbauer/Andrea Paletta/Philipp Schmidt/David Duncan (Hg.), Body time. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg/München: Karl Alber, S. 176-196. Abraham, Anke/Müller, Beatrice (Hg.) (2010a): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript. — (2010b): »Körperhandeln und Körpererleben – Einführung in ein ›brisantes Feld‹«, in: dies. (Hg.), Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript, S. 9-38. Alkemeyer, Thomas (2004): »Bewegung und Gesellschaft. Zur ›Verkörperung‹ des Sozialen und zur Formung des Selbst in Sport und populärer Kultur«, in: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript, S. 43-78. — (2015): »Verkörperte Soziologie – Soziologie der Verkörperung. Ordnungsbildung als Körper-Praxis«, in: Soziologische Revue 4, S. 470-502. Alkemeyer, Thomas/Michaeler, Matthias (2013): »Die Ausformung mitspielfähiger ›Vollzugskörper‹. Praxistheoretisch-empirische Überlegungen am Beispiel des Volleyballspiels«, in: Sport und Gesellschaft 10 (3), S. 213-239. Barkhaus, Annette (2001): »Körper und Identität. Vorüberlegungen zu einer Phänomenologie des eigensinnigen Körpers«, in: Sabine Karoß/Leonore Welzin (Hg.), tanz politik identität, Münster: Lit, S. 27-49. Böhle, Fritz/Fross, Dirk (2009): »Erfahrungsgeleitete und leibliche Kommunikation und Kooperation in der Arbeitswelt«, in: Thomas Alkemeyer/Kristina Brümmer/Rea Kodalle/Thomas Pille (Hg.), Ordnung in Bewegung. Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung, Bielefeld: transcript, S. 107-126. Böhme, Gernot (1992): »Leib: Die Natur, die wir selbst sind«, in: ders., Natürlich Natur. Über Natur im technischen Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 77-93. — (2003): Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen: Die Graue Edition.

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Dreitzel, Hans-Peter (1972): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens, Stuttgart: Enke. Flam, Helena (2002): Soziologie der Emotionen, Konstanz: UVK (UTB). Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fuchs, Thomas (2000): Leib, Person, Raum. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart: Klett-Cotta. Fuchs, Thomas (2008): »Das Gedächtnis des Leibes«, in: ders., Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Kusterdingen: Die Graue Edition, S. 37-64. Göbel, Hannah K./Prinz, Sophia (Hg.) (2015): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung materielle Kultur, Bielefeld: transcript. Gugutzer, Robert (2002): Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologischsoziologische Untersuchung zur personalen Identität, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. — (Hg.) (2006): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript. — (2012): Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld: transcript. — (2015): Soziologie des Körpers (5., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage), Bielefeld: transcript. — (2017a): »Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie«, in: Zeitschrift für Soziologie 46 (3), S. 147-166. — (2017b): »Leib und Körper als Erkenntnissubjekte«, in: ders./Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.), Handbuch Körpersoziologie. Band 2: Forschungsfelder und Methodische Zugänge, Wiesbaden: Springer VS, S. 381394. — (2018): »Situationsprobleme und kreatives Handeln. Neopragmatismus und Neophänomenologie im Dialog«, in: ders./Charlotte Uzarewicz/Thomas Latka/Michael Uzarewicz (Hg.), Irritation und Improvisation. Zum kreativen Umgang mit Unerwartetem, Freiburg/München: Alber, S. 28-57. Gugutzer, Robert/Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hg.) (2017): Handbuch Körpersoziologie (2 Bände), Wiesbaden: Springer VS. Hahn, Alois (2010): Körper und Gedächtnis, Wiesbaden: Springer VS. Hasse, Jürgen (2005): Fundsachen der Sinne: Eine phänomenologische Revision des alltäglichen Erlebens, Freiburg/München: Karl Alber.

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Uzarewicz, Michael (2011): Der Leib und die Grenzen des Sozialen. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen, Stuttgart: Lucius & Lucius. Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Die Abwertung von Care als relational-leibliche Arbeit B EATRICE M ÜLLER 1

Dieser Aufsatz ist eine Zusammenfassung meiner Dissertation (Müller 2016), die Anke Abraham betreut und begleitet hat. Anke verdanke ich Vieles, aber im Besonderen, die Bedeutung von Leiblichkeit und Zwischenleiblichkeit im CareProzess wahrnehmen zu können.

1. E INLEITUNG In diesem Beitrag will ich, im Anschluss an meiner Dissertation, mit dem Konzept der Wert-Abjektion jene Verhältnisse analysieren, die zu einer Abwertung von Care-Arbeit führen. Dieses marxistisch-feministische Konzept, das ich im Anschluss an und in Abgrenzung zu Roswitha Scholz (1992, 2004, 2011) entwickelt habe, versucht eine theoretische Begründung für die Abwertung der CareArbeit in die Diskussion einzubringen. Zunächst werde ich konzeptionell den meinen Analysen zugrundliegenden Care-Begriff beleuchten und zeigen, dass Care und Care-Arbeit, im Anschluss an Anke Abraham und leibphänomenologische Perspektiven, verstanden wird als relational-leibliche Arbeit. Care-Arbeit in dem Sinne ist außerdem zwar historisch unterschiedlich strukturiert,2 also Care im neoliberalen Kapitalismus ist an-

1

Dieser Beitrag ist eine leicht veränderte Version meines Beitrags in Scheele/Wöhl 2018. Ich danke den Herausgeberinnen und dem Verlag für die Genehmigung des Wiederabdrucks.

2

Oftmals verwende ich die Begriffe Care und Care-Arbeit wie einen Begriff im Singular, um die Nähe zwischen beiden zu verdeutlichen und dennoch aufzuzeigen, dass die

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ders als im Fordismus organisiert. Jedoch – und so lautet meine These – stellt die permanente und konstitutive Abwertung großer Teile von Care und Care-Arbeit eine Konstante im patriarchalen Kapitalismus dar. In der Folge kann die kapitalistische Gesellschaftsformation als ›sorge(n)freie‹ Gesellschaft (vgl. Müller 2014) charakterisiert werden, die in vielfältiger Weise auf der Abjektion also der Verwerfung und damit dem Ausschluss von Care bzw. den relational-leiblichen Elementen von Care basiert. Wie ich anschließend illustrieren werde, zeigt sich die Konstante der Abwertung und Verwerfung auf ökonomischer und kulturellsymbolischer Ebene in der Abspaltung, Abwertung, Unsichtbarmachung, Sexualisierung und Rassifizierung dieser Arbeiten, die oftmals un- bzw. unterbezahlt getätigt werden. Diese Abjektion, die ich im Folgenden theoretisch entfalten werde, lässt sich weiterhin an der Zuweisung dieser Arbeit als unbezahlte Arbeit an Angehörige und damit meistens an Freundinnen, Ehefrauen und Töchter verdeutlichen. Der Umfang der unbezahlten Arbeit in Deutschland hat sich zwar im Vergleich zu den 1990er Jahren verringert, jedoch wird im Jahr 2013 immer noch 35 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Arbeit aufgewendet als für bezahlte Erwerbsarbeit (vgl. Schwarz/Schwahn 2016). Sie lässt sich aber auch an der Delegierung bestimmter Elemente der Care-Arbeit an schlecht entlohnte, irregulär beschäftigte Migrant*innen verdeutlichen. Die Abjektion zeigt sich aber ebenfalls – und das ist mein empirischer Fokus hier – in der bezahlten Care-Arbeit im öffentlichen Sektor, nämlich indem hier die relational-leiblichen Elemente von Care ausgeklammert und abgespalten werden. Dadurch kommt es zu einer Reduktion der Komplexität der Arbeit auf nur bestimmte Elemente, die dann im Sinne rein körperlicher Arbeit eine Abwertung erfahren oder als medizinische Elemente als das Eigentliche der Arbeit betrachtet werden. Aufschlussreich dabei ist m.E., dass die abgespaltenen und unsichtbar gemachten Anteile der Care-Arbeit dann allerdings als meist unbezahlte bzw. als zusätzliche Arbeit geleistet werden. Unbezahlte Arbeit ist daher das Resultat der Abjektion von Care auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und zeigt sich

Begriffe nicht in eins fallen. Zwar verstehe ich unter Care meistens Arbeit, andererseits betont dieser Begriff noch eine andere Dimension, nämlich Care im Sinne einer Weltsicht, die davon ausgeht, dass Menschen miteinander in Beziehung stehen und nicht autonome Subjekte sind und daher Fürsorge, auch im Sinne von CareArbeit/fürsorgliche Praxis, benötigen (vgl. Gilligan 1982). Ich versuche daher mit dem Begriff Care und Care-Arbeit im Singular diese beiden Dimensionen in einem Begriff einzufangen.

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nicht nur in der Verschiebung dieser Arbeit ins Private, sondern auch innerhalb des professionellen Pflegesektors.

2. D IE B EDEUTUNG VON C ARE UND C ARE -ARBEIT – C ARE -E THISCHE P ERSPEKTIVEN Um die Bedeutung der Abjektion zu entwickeln, soll zunächst der normative Gehalt von Care philosophisch – mit Bezug auf die angloamerikanische CareEthik-Debatte – ausbuchstabiert werden. Dazu entwickle ich drei Dimensionen von Care, mit denen Care und Care-Arbeit gefasst werden sollen. 2.1 Die erste Dimension von Care In der ersten Dimension von Care geht es im Sinne der Care-Ethik ganz grundlegend um menschliche Verletzbarkeiten und Abhängigkeiten von Fürsorge und Beziehungen. Im Gegensatz zu der die bürgerlich-patriarchale Gesellschaft prägenden Konstruktion von autonomen, körperlosen, männlichen Subjekten sind in diesem Verständnis alle Menschen verletzbar und durch Gebrechlichkeit, Bedürftigkeit und letztlich auch durch Mortalität geprägt. Verletzliche Menschen sind daher nicht ungewöhnlich, sondern selbst bei guter Gesundheit bedürfen alle Menschen der Fürsorge und Beziehungen zu anderen Menschen. Menschen sind nicht autonom sondern im Sinne einer ontology of relationality in einem Netzwerk aus Care und Abhängigkeit zu betrachten (vgl. Schües 2016: 253), Care und Care-Arbeit wird daher permanent beansprucht (Gilligan 1982; Tronto 1993; Conradi 2001; Conradi/Vosman 2016). Diese feministische Erkenntnis ist keineswegs banal, denn die Abstraktion von dem hier skizzierten permanent bedürftigen Subjekt ist die Grundprämisse des modernen androzentrischen Denkens. Mit der bisher angestellten Argumentation wird die fundamentale Angewiesenheit der Menschen aufeinander und damit die Notwendigkeit von Care betont. Allerdings ist Care und Care-Arbeit in diesem Verständnis nicht als »anthropologische Konstante« (Chorus 2013: 21) markiert, sondern als gesellschaftliche Praxis und notwendige Beziehung, die nicht natürlicherweise gegeben ist, sondern hergestellt werden muss und dabei spezifische Qualifikationen erfordert (vgl. auch Day 2013: 28). Wie und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen diese Care-Beziehung hergestellt wird, wer diese Beziehung eingeht und wer scheinbar losgelöst von diesen Beziehungen agiert, ist nicht naturgegeben, sondern herrschaftsförmig strukturiert und auch durch Ungleichheiten markiert.

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Ebenso ist die normative Vorstellung von Care (z.B. die besondere Eignung von Frauen, v.a. bestimmten rassistisch markierten Frauen) Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse. Von diesen hängt ab, ob die Care-Verantwortung in der Familie und damit bei Frauen gesehen wird, welche Care-Tätigkeiten fokussiert werden und ob die Bereitstellung von Care öffentlich oder privat im Sinne von privatwirtschaftlich propagiert wird (vgl. auch Day 2013; Conradi 2001: 50). Darauf werde ich weiter im dritten Abschnitt des Beitrags eingehen. Mit der hier beschriebenen Dimension wird die Interdependenz und notwendige Beziehung der Menschen untereinander herausgestellt, die nicht jenseits dieses gesellschaftlichen Zueinander-Verhaltens zu denken ist. »Innerhalb dieses Rahmens der ›gesellschaftlichen Praxis‹ entfaltet sich Care insbesondere in Form sozialer Interaktionen« (Conradi 2001: 50), die bestimmte beziehungsmäßige Aspekte wie etwa die Anteilnahme und emotionale Zuwendung und moralische Komponenten beinhalten. 2.2 Die zweite Dimension von Care In der nächsten Dimension wird Care als eine solche interaktive Beziehungspraxis konkreter in den Blick genommen. Hier wird betont, dass der Care-Prozess gleichzeitig die Entwicklung der Beziehung zwischen Care-Gebenden und CareNehmenden beinhaltet und auf der Beteiligung aller Involvierten basiert, wenn diese auch nicht immer reziprok sein muss. Berenice Fisher und Joan Tronto (1990) identifizieren vier Phasen des Care-Prozesses die sie lediglich als analytische Unterscheidung verstehen. Tronto (1993, 2011: 165) verknüpft diese mit vier moralischen Qualitäten, die in ihrer Vorstellung das Konzept von »engagierter Care-Arbeit« bzw. Caring ausmachen: In dieser Konzeption besteht der Prozess zunächst aus Caring about, was Conradi (2001) als »Anteilnahme« übersetzt. Diese erste Phase betont besonders die emotional-affektive Seite. Hier werden Care-Bedürfnisse erkannt und sich empathisch in die Lage der anderen Person hineinversetzt. Diese Phase »erfordert Aufmerksamkeit als moralisches Element« (Tronto 2000: 27). In der zweiten Phase dem taking care of bzw. caring for – auf Deutsch »Unterstützung« – geht es darum, Verantwortung für die Befriedigung der vorher festgestellten Bedürfnisse zu übernehmen. In der dritten Phase des caregivings, also des »Versorgens«, wird direkte Care-Arbeit geleistet, die körperliche Arbeit wie auch das In- Kontakt-Treten umfasst und Kompetenz benötigt. Hier spielen die affektive Zuwendung sowie die Arbeit, die auf den Körper gerichtet ist, eine bedeutende Rolle. Die Reaktion auf die Versorgung ist in der vierten Phase des Care-Erhalts von Bedeutung, hier wird responsiveness, also Resonanz bzw. Empfänglichkeit

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benötigt. Dabei geht es darum, die Reaktion der Person zu berücksichtigen, die Care erhält, denn nur so kann deutlich werden, ob der Care-Prozess erfolgreich und z.B. die Unterstützung angemessen und ausreichend war (vgl. Tronto 2011: 165). Die Phasen dienen insgesamt der Darstellung der Komplexität von Care und gleichzeitig können sie auch die Spaltung von Care in abgewertete und höher bewertete Care-Tätigkeiten aufzeigen. Die Trennung verläuft oftmals im Sinne einer Spaltung in Hand und Kopfarbeit, aber auch in Fürsorgearbeit und »dirty work«, z.B. Reinigungsarbeit (vgl. Tronto 2014). In diesem Caring-Prozess, indem sich Care als Beziehung entwickelt, und den ich hier als zweite Dimension dargestellt habe, spielt die körperliche Involviertheit eine bedeutsame Rolle und wird hier jetzt als dritte Dimension beleuchtet. 2.3 Die dritte Dimension von Care Care-Arbeit ist damit nicht nur kognitive, sondern, im Anschluss an (leib-) phänomenologische und care-ethische Zugänge, relational-leibliche Arbeit, die die körper-leibliche Dimension der Care-Nehmenden und Care-Gebenden mit einbezieht. Monique Lanoix unterscheidet zwischen thinly und thickly embodied labour: Thinly embodied labour wird dabei mehr als physikalischer, rein körperzentrierter und mechanischer Akt verstanden, der am Beispiel von robotic care illustriert wird. Hier macht Lanoix deutlich, dass Care im Sinne von thinly embodied keine verkörperlichte (und wie ich im Folgenden zeigen werde, leibliche) Interaktion und Resonanz umfasst. Der Roboter kann zwar auch angemessen und vorsichtig den Pflegebedürftigen aus dem Bett in den Stuhl heben, es fehlt aber eine leibliche Berührung, die sich etwa durch die Wärme der Haut zeigt sowie eine tatsächliche beziehungsförmige Interaktion die auch auf Resonanz baut. So kann der Roboter weder auf eine leibliche Reaktion des Pflegebedürftigen, wie etwa Gänsehaut oder auch Schamesröte reagieren, noch kann er jenseits der Programmierung flexibel und spontan auf andere situative Ereignisse reagieren (vgl. Lanoix 2013: 92ff.) Unter thickly embodied labour versteht Lanoix hingegen eine Bewegung von Care-Gebenden und -Erhaltenden die auf einer umfassend verkörperlichten Interaktion basiert und etwa Zuneigung, Mitgefühl, Spontanität und manchmal auch Schmerz umfassen kann. Care ist in diesem Sinne eine Beziehung, die die körperlich-leibliche Dimension umfasst (vgl. Lanoix 2013: 94ff.). Lanoix erläutert ihre Unterscheidung am Beispiel der Berührung:

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»touching is far more complex than simply executing gestures that will protect a worker’s back and will not cause injury to the person being helped. This illustrates the manner in which care is thickly embodied. There is warmth to the skin of both parties; the person being helped may be happy and convey this by smiling.« (Lanoix 2013: 95)

Die Bedeutsamkeit der Unterscheidung von Lanoix wird noch ersichtlicher, wenn sie systematisch in die leibphänomenologischen Analysen des Körpers als doppelseitiges Phänomen eingeordnet wird. In diesem Kontext wird deutlich, dass der Körper Objekt und Subjekt zugleich ist und als Körper-Haben und Leib-Sein konzeptioniert wird (vgl. Plessner 2003; vgl. auch Abraham 2002; Jäger 2004; Lindemann 1994). Anke Abraham zufolge sind Körper und Leib »keine material voneinander trennbaren Systeme, sondern radikal verschiedene Aspekte ein und desselben ›Dings‹«, »der Körper [ist] das ›Gesehene‹ und der Leib das ›Seiende‹« (Abraham 2002: 94). Mein ›eigener‹ Körper zeigt sich mir gegenständlich, so wie andere Objekte, die ich anfassen oder sehen kann (vgl. Abraham 2002; Jäger 2004: 104). Als Leib bin ich zugleich dieses Objekt. Der Leib ist das, was ›wir‹ sind und fühlen. Aus der leiblichen Perspektive erlebt sich das Subjekt als direktes Zentrum der Wahrnehmung: Schmerzgefühle, Urindrang oder Hungergefühle werden beispielsweise von Hermann Schmitz als »leiblichen Regungen« oder das leiblich Gespürte bezeichnet (vgl. Schmitz 1990: 115; vgl. auch Jäger 2004: 61). Wenn hier erstmals vom leiblichen Spüren die Rede ist, erscheint es mir allerdings zentral zu betonen, dass nicht von naturhaften Reflexen gesprochen werden kann, da sich Gefühle ausschließlich über den gesellschaftlich strukturierten Körper vermitteln (Körperwissen und Leiberfahrungen), aber nicht komplett in jenem aufgehen. So kann der Körper als Teil der symbolischen Ordnung und der Leib als mit dem Körper verflochtene Erfahrung betrachtet werden (vgl. Jäger 2004: 165). Die Leiberfahrung bezieht sich nach Jäger allerdings nicht nur auf die passiven Erfahrungen (Schmerz, Lust etc.), sondern der Leib wird auch aktiv z.B. als Mittel zur Bewältigung der Welt verstanden (vgl. ebd.). Der »Verschränkungsthese« von Gesa Lindemann folgend sind »sowohl der Körper als auch die leibliche Erfahrung als sozial strukturiert zu verstehen und entsprechend haben sowohl der Körper als auch die leibliche Erfahrung eine Geschichte […] wie Ökonomie oder Formen politischer Herrschaft« (Lindemann 1994: 133f.). Wenn also weiter oben von Care-Arbeit als thickly embodied labor gesprochen wurde, dann bedeutet das m.E. leibliche Arbeit im Gegensatz zu rein körperzentrierter, denn Care-Arbeit reagiert und interagiert oftmals bezogen auf eher unstrukturiert-leibliches Befinden und auf diffusere leiblich-affektive Di-

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mensionen wie Schmerz, Scham und Wohlbefinden, welche allerdings nicht losgelöst von kulturell etablierten Grenzen wie etwa Schamgrenzen bestehen. Mindestens genauso bedeutsam wie etwa die Sauberkeit des Körpers (körperliche Ebene) als Resultat der Unterstützung z.B. beim Waschen, ist das Spüren von Nähe und Wärme der Haut des Anderen (leibliche Ebene). Daher ist engagierte Care-Arbeit im Sinne des hier ausgeführten Ansatzes eine relational-leibliche Praxis. Die Betonung der Doppelseitigkeit von Körper und Leib ist vor allem für die folgende empirische Analyse aufschlussreich. Die Care-Arbeit ist leibliche Arbeit, die sich allerdings immer auch auf den objektivierbaren Körper bezieht. Sie beschränkt sich allerdings nicht auf die körperliche Dimension und auf mechanische Anwendungen, dies wäre dann eher im Sinne von thinly embodied labor zu verstehen. Dagegen spielt im hier ausgearbeiteten Verständnis von Care neben der Beziehung die umfassend-verkörperlichte oder, wie ich es hier nennen würde, die leibliche Arbeit eine bedeutende Rolle. Die drei ausgearbeiteten Dimensionen resümierend kann daher Care und Care-Arbeit als wechselseitige Angewiesenheit, Care-Arbeit als komplexer Prozess und letztlich als relational-leibliche Arbeit verstanden werden. Damit sind die Bedeutung und der Inhalt von Care skizziert. Da ich die Abwertung von Care im Sinne dieser drei Dimensionen im patriarchalen Kapitalismus analysieren will, nehme ich im Folgenden die strukturellen Dynamiken der Abwertung auf gesellschaftlicher Ebene in den Blick und werde Care – im oben dargelegten breiten Sinne – im Kontext der Bedingungen der kapitalistischen Produktionsund Reproduktionsweise analysieren und damit versuchen, die grundlegenden Rahmenbedingungen, die zur Abwertungen führen, freizulegen.

3. ABJEKTION , W ERT & W ERT -ABJEKTION Auf Grundlage von älteren marxistisch-feministischen Debatten zum Thema Hausarbeit, und in Anlehnung an das sogenannte Wert-Abspaltungstheorem der Wertkritikerin Roswitha Scholz, habe ich das Konzept Wert-Abjektion entwickelt (vgl. Müller 2016; Scholz 2011), mit dem diese grundlegenden Dynamiken der Abwertung analysiert und erklärt werden sollen. Dieses Konzept entfaltet und begründet die grundsätzliche Abwertung von Care auf einer hohen Ebene der Abstraktion und geht davon aus, dass der patriarchale Kapitalismus eben nicht nur auf Ausbeutung von Lohnarbeit im Marx’schen Sinne, sondern ebenso grundsätzlich auf der kulturellen und ökonomischen Abspaltung und Verdrängung von Care, als grundlegender Abhängigkeit und Sterblichkeit der Menschen und ebenso auf der Auslagerung und

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Abspaltung der damit Zusammenhängenden Care-Arbeit basiert. Ich fasse die Abspaltung und Abwertung mit dem psychoanalytischen Konzept Abjektion als Verwerfung von Uneinheitlichem und Unstrukturiertem (vgl. ausführlich Müller 2016). 3.1 Wert und Werttheorie Die folgende Argumentation basiert auf der Marx’schen Analyse sozialer Formen (vgl. Hirsch 1994: 161) und seiner Kritik an der Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Dabei liegt seine zentrale Kritik der bürgerlichen Ökonomietheorie in der Erkenntnis, dass den Waren kein intrinsischer Wert zukommt, sondern vielmehr der Wert nur innerhalb eines gesellschaftlichen Verhältnisses entsteht (vgl. Heinrich 1999: 2), das auf eine spezifische Vergesellschaftungsweise der Arbeit zurückzuführen ist (vgl. Brentel 1989; Kannankulam 2008: 42). Die Grundlage der Wertproduktion ist damit Arbeit im Kontext eines gesellschaftlichen Verhältnisses, dem Klassenverhältnis als Herrschaftsverhältnis. Dieser Sachverhalt wird aber grundlegend verkannt; den Waren und v.a. der Geldware scheint ein intrinsischer, ›natürlicher‹ Wert zuzukommen und sie scheint Wert unabhängig der gesellschaftlichen Praxis zu haben und daher nicht erklärungsbedürftig zu sein. Diese ›Naturalisierung‹ gesellschaftlicher Verhältnisse ist jedoch das notwendige Resultat einer Gesellschaftsformation »worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert« hat (Marx 1962: 95) und in der ihre »eigne gesellschaftliche Bewegung […] für sie die Form einer Bewegung von Sachen [besitzt], unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren« (ebd.: 89). Dieser Naturalisierung entgegenwirkend wird von Marx Lohnarbeit als Grundlage und der Klassengegensatz als Antrieb, hier verkürzt und vereinfacht ausgedrückt, der kapitalistischen Produktionsweise herausgearbeitet. Mit dieser Marx’schen Einsicht sind wir also in der Lage, die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie, um Helmut Brentel (1989: 154) zu zitieren, als »spezifische soziale und historische Verhältnisbestimmung der Menschen in ihren Arbeiten« zu entschlüsseln. Der Wert ist also nicht einfach da, sondern existiert nur innerhalb eines gesellschaftlichen Verhältnisses, dem Klassenverhältnis. Der Verbrauch der Ware Arbeitskraft – die durch den Klassenantagonismus in Gang gehalten wird – wurde von Marx als »Brennstoff« (vgl. Kannankulam 2008: 43; Brentel 1989) der Produktionsverhältnisse herausgearbeitet; dadurch ist es möglich, dass sich der

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Wert bzw. Mehrwert realisiert. Die einzige Ware, die zur »Quelle von Wert« wird, ist das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft als »Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert« (Marx 1962: 181). Die Bedingung, dass die Arbeitskraft in dieser Form als Ware vorgefunden werden kann, ist allerdings, dass die Arbeiter*innen, als Ergebnis eines historischen Prozesses auch im Unterschied zum Feudalismus, doppelt frei sind (vgl. Marx 1962: 182f.). Als »doppelt freie Lohnarbeiter« können die Arbeiter*innen ihre Arbeitskraft verkaufen, indem sie einen Vertrag abschließen; sie müssen sie andererseits aber auch verkaufen, da sie keine Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt auf eine andere Weise zu sichern. Die Inhaber*innen der Ware Arbeitskraft sind damit doppelt frei, einerseits im legalen Sinne und andererseits frei von Produktionsmitteln und anderen verkaufsfähigen Waren. Damit können die Arbeiter*innen ihre Waren für eine bestimmte Dauer (z.B. zwölf Stunden wie zu Marx’ Zeiten) an die Kapitalist*innen verkaufen und darüber einen Kauf- bzw. Arbeitsvertrag abschließen. Hinsichtlich der Frage, welchen Wert nun die spezifische Ware Arbeitskraft hat, wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass sich dieser wie bei anderen Waren auch durch die zur Produktion dieser Ware verwendete durchschnittliche Arbeitszeit bestimmen lässt: »Die Arbeitskraft existiert nur als Anlage des lebendigen Individuums. Ihre Produktion setzt also seine Existenz voraus. Die Existenz des Individuums gegeben, besteht die Produktion der Arbeitskraft in seiner eigenen Reproduktion und Erhaltung. Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln.« (Marx 1962: 185)

Aber auch die Sterblichkeit der Ware Arbeitskraft wurde zumindest in einer bestimmten Weise von Marx in die Analyse einbezogen: Die durch »Abnutzung« und Tod dem Markt nicht mehr zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte müssen ersetzt werden. Daher schlussfolgert Marx, dass die Lebensmittel, die zur Produktion der Arbeitskraft notwendig sind auch »die Lebensmittel der Ersatzmänner ein[schließen], d. h. der Kinder der Arbeiter, so daß sich diese Race eigentümlicher Warenbesitzer auf dem Warenmarkte verewigt« (Marx 1962: 186). Damit kann hier klassisch im Marx’schen Sinn festgehalten werden, dass der Wert der Arbeitskraft sich durch die historisch unterschiedlich angesetzten »notwendigen Lebensmittel« und Bedürfnisse bemisst, die zu ihrer Produktion und Reproduktion notwendig sind. Außerdem können wir mit Marx festhalten, dass die Ware Arbeitskraft die einzige Ware ist, die Quelle von Wert und auch

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Mehrwert ist. Dieser entsteht dort, wo die Ware Arbeitskraft über ihren eigenen Wert hinaus arbeitet: Marx nimmt an, dass die tägliche Erhaltung der Ware Arbeitskraft einen halben Arbeitstag kostet (sechs Stunden). Der Lohn der Arbeiter*innen entspricht daher auch diesen sechs Stunden. Der Arbeitsprozess bzw. der Arbeitstag wird jedoch nicht nach Ablauf der sechs Stunden beendet, sondern dauerte zu Marx’ Zeiten wie erwähnt etwa zwölf Stunden. Dies führt dazu, dass »der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist wie ihr eigener Tageswert« (Marx 1962: 208). Die offene und umkämpfte Flanke in diesem Verhältnis ist die Länge des Arbeitstages. An dieser Argumentation setzt die feministisch-psychoanalytische Erweiterung an: Unter den gegebenen patriarchal-kapitalistischen Verhältnissen wird nämlich nicht nur das wertproduzierende Klassenverhältnis verkannt und der erst durch Arbeit geschaffene Wert naturalisiert. Im Anschluss an feministische Kritik, die auf einen ›blinden Fleck‹ bei Marx selbst reagiert, argumentiere ich, dass die Abjektion von Care und Care-Arbeit sowie ihre Etablierung als unbezahlte Arbeit die konstitutive Voraussetzung für die Realisierung des Werts ist. Damit ist nicht nur das Klassenverhältnis als Motor der Wertproduktion und der gesamten Gesellschaft zentral, sondern ein weiteres Verhältnis, nämlich das Abjektionsverhältnis, das Care abspaltet, unsichtbar macht und damit verdeckt, dass Care-Arbeit notwendige Arbeit zur Reproduktion der Gesellschaft und des Kapitalismus ist. 3.2 Wert-Abjektion Die Begründung der Notwendigkeit (der Abjektion)3 von Care geht in zweierlei Richtungen: Das erste logische Argument zeigt auf, inwiefern unbezahlte CareArbeit und deren Abjektion die Grundlage des Kapitalismus ist. Der zweite Punkt beleuchtet die finanzielle Notwendigkeit der Abjektion von Care und Care-Arbeit und knüpft auf einer andere Ebene der Abstraktion an die Arbeiten von Mascha Madörin (z.B. 2007) im Rahmen der Care-Ökonomie-Debatte an, und berücksichtigt auch ältere Ansätze aus der Hausarbeitsdebatte. Hier zeigt sich die konstitutive Notwendigkeit der Abjektion von Care-Arbeit in aktuellen Berechnungen, die verdeutlichen, wie viel Care-Arbeit unbezahlt geleistet wird und in welchem Umfang dies zum Wohlstand der Gesellschaft beiträgt, sowie die schwierige Rationalisierbarkeit von Care (vgl. Müller 2016; Madörin 2007; Klinger 2012; Haug 1996; Tronto 2011; Himmelweit 2008).

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Die Abjektion steht hier in Klammern um zu verdeutlichen, dass nicht nur Care-Arbeit benötigt wird sondern gleichzeitig auch die Abjektion von Care und Care-Arbeit.

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3.2.1 (Die Abjektion von) Care und Care-Arbeit als konstitutive Grundlage der kapitalistischen Gesellschaftsformation Wenn Arbeit, wie vorangehend festgehalten, die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft ist, so wäre es stark verkürzt, wenn die Analyse nur auf die Lohnarbeit fokussieren würde. Vielmehr muss die gesamte Arbeit die notwendig ist, um die Arbeitskraft, aber auch die gesamte Gesellschaft zu erhalten, in die Analyse mit einbezogen werden (vgl. auch Armstrong/Armstrong 1983: 27; Beer 1984: 140; Seccombe 1975). Denn die Lohnarbeiter*innen können nicht als einfach gegeben angenommen werden, sondern sie müssen gezeugt, ausgebildet, ernährt und emotional versorgt werden. Dazu muss Care-Arbeit permanent geleistet werden (vgl. auch Chorus 2013). Der tatsächliche Einbezug dieser Tätigkeiten würde aber die Ware Arbeitskraft um ein vielfaches teurer machen, denn zur Herstellung der Ware müssten weitaus mehr Stunden berechnet werden, als der bloße Einbezug von Lebensmitteln, die Marx berücksichtigte. Dies würde den Wert der Arbeitskraft um ein Vielfaches erhöhen und so die Mehrwertrate entsprechend senken oder aber die Staatsausgaben extrem vergrößern (vgl. Gardiner/Himmelweit/Mackintosh 1975). In einer etwas breiteren gesellschaftlichen Perspektive, die sich nicht nur auf die Ware Arbeitskraft, sondern auf die gesamte Gesellschaft bezieht, zeigt sich ebenfalls die Notwendigkeit von Care-Arbeit, um den Mensch als Gattungswesen am Leben zu halten. Denn im Sinne der ontology of relationality als grundsätzlicher menschlicher Angewiesenheit sind alle Menschen verletzbar und auf Care angewiesen. Eine Analyse der Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft zeigt aber nicht nur die Notwendigkeit von Care sondern auch deren Abjektion. Dabei besteht die Abjektion von Care nicht ausschließlich in der im ökonomisch-strukturellen Sinn gedachten Exklusion bestimmter Elemente der CareArbeit vom Markt,4 sondern darüber hinaus findet sich die Abjektion der unstrukturierten Leiblichkeit und Abhängigkeit im Kapitalismus auch auf der kulturell-symbolischen Ebene wieder. Nämlich in der Verwerfung von Care als einem Prozess der Abjektion des ›In-Beziehung-Stehens‹, der Verletzbarkeit und Kontingenz. So wie im Prozess der Abjektion – den Julia Kristeva (1982) beschreibt – das Unstrukturierte aus der Sprache ausgeschlossen wird, ist Care und Care-Arbeit aus der Gesellschaftsanalyse und der patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft verworfen. Die feministische Philosophin Cornelia Klinger begründet diesen Prozess sehr treffend folgendermaßen:

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Selbst wenn Care kommodifiziert wird, werden nur bestimmte Elemente, nämlich die messbaren/abrechenbaren Elemente in-wertgesetzt.

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»In der modernen Gesellschaft, die ni dieu, ni maître kennt, sollen Menschen voneinander nicht abhängig, aufeinander nicht angewiesen sein. In der politischen Semantik der Moderne mit ihren Postulaten von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten ist der Gedanke des Dienens diskreditiert mitsamt den entwürdigenden Begleiterscheinungen von Zwang und Gewalt, Abhängigkeit und Hörigkeit, kurzum, dem ganzen Schmutz und Elend menschlicher Kontingenz.« (Klinger 2012: 258, Herv. i.O.).

Abjektion von Care und Care-Arbeit bedeutet eine deutliche Verwerfung auch körperlich-leiblicher Verletzbarkeiten. Wie schon Mary Douglas im Jahr 1966 konstatiert, werden oftmals vielfältige Tabus gegen den gefährlich scheinenden Körper bzw. seine Körperöffnungen, -flüssigkeiten und -grenzen aufgestellt (vgl. auch Twigg 2000). Bedrohlich scheinen insbesondere die »leiblichen Regungen« zu sein, die ich in der dritten Care-Dimension herausgearbeitet habe. Diese ›müssen‹ in einer patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft in vielfältiger Weise ausgeschlossen werden, während der Körper gleichzeitig durch gesellschaftliche Markierungen normiert bzw. normalisiert und damit weniger ›bedrohlich‹ gemacht wird. Damit ist der »doppelt freie Lohnarbeiter« – und dies ist die zentrale Erkenntnis meiner Analyse – eigentlich dreifach frei: Er ist nicht nur durch das Frei-Sein von Care-Arbeit markiert wie Ariane Brensell und Friederike Habermann (2001) treffend herausgearbeitet haben, sondern vor allem auch durch die Befreiung von den Irrationalitäten des Leibs. Wird Care und Care-Arbeit, wie zu Anfang des Beitrags dargelegt, ganzheitlich als Angewiesenheit, als komplexer Prozess und als relational-leibliche Arbeit verstanden, dann wird hier deutlich, dass die dreifache Freiheit eben nicht nur aus dem Freisein von CareArbeit besteht, sondern dass die ›Befreiung‹ von Care in diesem weiten Sinne auch die ›Befreiung‹ von diesen Abhängigkeiten und letztlich von menschlicher Kontingenz und Sterblichkeit bedeutet. In diesem Sinne zeigt sich hier, wie die Grundfigur der kapitalistischen Produktionsweise der »doppelt freie Lohnarbeiter« – als zweckrationale Figur – schon auf der Abjektion von Relationalität und Leiblichkeit beruht. Die konstitutive Notwendigkeit von Care(-Arbeit) symbolisiert sehr eindeutig die menschliche Verletzbarkeit und Mortalität. Es kommt dabei im Kern auf die direkte Arbeit mit jenen an, die mit dem Abjekten in Zusammenhang stehen: ältere oder kranke Menschen etwa, deren Abhängigkeit und Verletzbarkeit deutlich hervorsticht. Diejenigen, die Care als relational-leibliche Arbeit tätigen – ob nun bezahlt oder unbezahlt– werden als abjekte und abgewertete Andere konstruiert. Nicht nur durch ihren Kontakt mit der leiblichen Abhängigkeit, sondern auch mit den als negativities of the body betrachteten Elementen wie Exkrementen, Körperflüssigkeiten, Schmutz oder sogar mit dem Leichnam. Daher bilden

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Care-Gebende auch immer die Grenze zur als ›einheitlich‹ konstruierten Gesellschaft im Sinne von Mary Douglas, überschreiten diese aber gleichzeitig permanent (vgl. Holmes/Rudge 2010: 250). Der patriarchale Kapitalismus basiert daher, um es zusammenfassend zu sagen, auf der Abjektion von Care und darin v.a. bestimmter Elemente von Care. Damit wird gleichzeitig die damit im Zusammenhang stehende Arbeit unsichtbar und als unbezahlte und abgewertete Arbeit erst konstituiert. Evident wird dann in letzter Konsequenz die »Sorglosigkeit« des Kapitalismus (vgl. Aulenbacher/Dammayr/Décieux 2015) als »sorge(n)freie Gesellschaft« (Müller 2014). 3.2.2 Resümee Wert-Abjektion Die bisher angestellten Theoretisierungen verdeutlichen, dass die Wertform nicht als ›reine‹ Form existiert, sondern sich immer auf Basis der Abjektion der CareArbeiten realisiert und diese daher als unbezahlte und verdeckte Arbeit erst entsteht. Dadurch, dass die Abjektion von Care und Care-Arbeit – wie eben ausgearbeitet – die Bedingung dafür schafft, dass sich die gesamte Gesellschaft reproduzieren und die Arbeitskraft Mehrwert erzeugen kann, ist der Antrieb des Kapitalverwertungsprozesses, den Marx als Klassengegensatz ausmacht, zusätzlich durch einen grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet zwischen denjenigen, die als abhängig angesehen werden und die abjekte Care-Arbeit leisten, und jenen, die sie nicht leisten (müssen), oder anders gesagt: zwischen abjekten Anderen und Nicht-Abjekten. Dieser Widerspruch besteht quer zum Klassenantagonismus und kann sich aber – wie oftmals der Fall – auch mit diesem verknüpfen (oftmals sind Frauen mit niedrigem sozioökonomischen Status diejenigen die niedrigentlohnte oder unbezahlte Care-Arbeit leisten). Wer als die einen oder die anderen konstruiert wird, ist allerdings Ergebnis von konkreten Kämpfen und Kräfteverhältnissen und kann nicht logisch aus der Wert-Abjektionsform abgeleitet werden. Aus dieser ergibt sich konstitutiv nur die Abjektion von CareTätigkeiten und Care im Sinne eines deutlichen Zeichens von Angewiesenheit, Unkontrolliertheit und letztlich Vergänglichkeit. Dass im patriarchalen Kapitalismus i.d.R. (rassistisch markierten) Frauen diese Arbeit zugewiesen und diese Überantwortung gleichzeitig ›naturalisiert‹ wird, kann als historische Allianz zwischen patriarchalen, rassistischen und kapitalistischen Strukturen bezeichnet werden. Historisch wird daher die Abjektion von Care und Vergänglichkeit ›weiblich‹, rassistisch und klassenspezifisch ungleich besetzt. Mit dem Theorem der Wert-Abjektion kann analysiert werden, dass im Kapitalismus unstrukturierte Leiblichkeit, Mortalität und Abhängigkeit und damit auch Care als permanente Voraussetzung des kapitalistisch-patriarchalen Systems verworfen werden. Konkrete Verhältnisse können jedoch nicht direkt aus

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der Wert-Abjektion erklärt werden. Zwar kann mit ihr verdeutlicht werden, dass es eine Tendenz zur Abspaltung von Care gibt, die logisch erklärt und auch historisch in verschiedenen Ausprägungen nachgezeichnet werden kann. Doch ergibt sich daraus keine Kausalität, die besagt, dass jegliche Care-Arbeiten und -prozesse immer gleichermaßen abjekt strukturiert sein müssen. Care und CareArbeit sind dabei in den verschiedenen historischen Phasen der kapitalistischen Formation unterschiedlich organisiert. In der Tendenz spielt aber die Abwertung von Care und die Nicht-Anerkennung als Arbeit eine bedeutende Rolle.

4. W ERT -ABJEKTION UND DIE KONKRETE O RGANISATION VON C ARE UND P FLEGEARBEIT IN DER AMBULANTEN V ERSORGUNG Wert-Abjektion als soziale Form materialisiert sich jedoch nicht im Sinne einer Wesens-Erscheinungsrelation in den Institutionen. Sie kann eher als Handlungsorientierung verstanden werden, die gesellschaftliche Entwicklung mitprägt und Institutionalisierung mitformt. Die hier angeführten Theoretisierungen sind daher keine empirische Analyse, helfen aber dabei, empirische Analysen zu strukturieren und zu rahmen. Wie die Verknüpfung von Theorie und Empirie aussehen kann, wird im letzten Abschnitt dargelegt. Ohne hier auf den Vermittlungsprozess theoretisch eingehen zu können, zeige ich im Folgenden die Vermittlung der Wert-Abjektion mit der konkreten Organisation von Care und Care-Arbeit im neoliberalen, ökonomisierten Pflegesektor in Deutschland auf. Hier stellt sich die Abjektion von Care quasi in ›Reinform‹ dar, weil die Pflegeversicherung (vgl. zur Pflegeversicherung z.B. Naegele 2014) viele Bereiche ausschließt, die mit relationaler Leiblichkeit in Verbindung stehen und den eigentlichen Inhalt von Care ausmachen.5 Hier wird deutlich, dass die Bedingung für die Kommodifizierung von Care im Rahmen der Pflegeversicherung im Wegstreichen der relationalen Elemente liegt. Übrig bleibt dann eine Pflegearbeit, die die Erledigung einzelner oft körperzentrierter ›Verrichtungen‹ fokussiert, die wiederum einer Zeitbegrenzung zugewiesen werden, um die

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Reformen, v.a. die neueste Pflegereform (Pflegestärkungsgesetze) und v.a. der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, erweitern den anspruchsberechtigten Personenkreis und verändert die Fixierung auf körperliche Gebrechen. Die hier angestellte Analyse bezieht sich auf den alten Pflegebedürftigkeitsbegriff. Aber auch der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ändert nicht grundlegend die hier verdeutlichte Problematik im ambulanten Pflegesektor.

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Pflegearbeit rentabel zu machen. Als Resultat wird dieser relationale Care-Inhalt häufig als unbezahlte Arbeit geleistet. Außerdem wird z.B. über die Taylorisierung der Arbeit versucht, diese aus Sicht der Kapitalseite zu vergünstigen. Ziel dabei ist es, so viele ›Verrichtungen‹ wie möglich von einer Pflegekraft ausführen zu lassen, weil nur so der Lohneinsatz ›sich rechnet‹. Die Analyse von Interviews mit Pflegekräften der ambulanten Pflege zeigt konkret, dass einerseits inhaltlich bestimmte Bereiche ausgeschlossen sind, nämlich die, die sich eher auf Relationalität und Leiblichkeit beziehen. Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass und wie die Struktur der Pflegeversicherung und der ambulanten Pflege alles Unstrukturierte, Diffuse und Spontane usw. verhindert. Denn auch für alles, was nicht geplant und gekauft ist besteht kein Spielraum in der ambulanten Pflege. Ich begrenze mich hier auf eine kleine Auswahl aus der Analyse von Interviews mit ambulanten Pflegerinnen, die ich im Rahmen meiner Dissertation geführt habe. »Mittlerweile hat sich ganz viel geändert. Ich, wir haben nur noch Module, die gekauft werden. Alles, was nicht gekauft ist, darf ich nicht machen, auch wenn ich es sehe […] ich darf es einfach nicht tun, weil es nicht bezahlt wird, und ich muss auch mittlerweile in einer ganz bestimmten Zeit fertig sein und darf diese Zeit nicht überschreiten.« (B04, Abs. 2)

Als ausgeschlossen kann hier das bezeichnet werden, was zwar als notwendig und als implizites Bedürfnis der zu Pflegenden betrachtet wird, aber eben nicht verordnet, vereinbart oder gekauft ist. »Solche Sachen, ja, wenn die Leute halt eben nur eine kleine Pflege gekauft haben und eh, was weiß ich, ist halt eben ein Malheur passiert und die Füße sind mit schmutzig, dann darf ich im Prinzip noch nicht einmal mehr die Füße waschen oder ich muss dann sagen: Es ist aber dann heute teurer, ja? Das, das ist einfach dieses Ding« (B04, Abs. 10c).

Zum Abjekt werden daher anscheinend die Bedürfnisse, die nicht modularisierbar und damit kontrollier-, objektivier-, planbar und abrechenbar sind. In diesem Sinne wird das Unstrukturierte im Sinne von Kristeva und Douglas, das sich häufig an den körperlichen Grenzen manifestiert, wie am Beispiel der schmutzigen Füße deutlich wird, sowie die Beziehungsdimension des Care-Prozesses, die sich etwa auch durch Resonanz zeigt – abgespalten und verworfen und daher zum Abjekt.

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Als Konsequenz der Abjektion zeigt sich nicht nur, dass die eigentlich ausgeschlossene relational-leibliche Arbeit trotzdem und oftmals als unbezahlte Arbeit geleistet wird. Darüber hinaus versuchen Pfleger*innen, die durch die relationale Arbeit verlorengegangene Zeit wieder reinzuholen und zwar durch riskante Praxen: »Ich meistens, um ehrlich zu sein, klicke ich es früher aus [gemeint ist das Smartphone mit dem die Zeitverausgabung kontrolliert wird, B.M.], also diese zehn Minuten, die ich habe, die mache ich aus, und wenn er mit seinem [Haustier] noch fünf Minuten reden will, dann kann er fünf Minuten mit seinem [Haustier] reden, das werde ich ihm um Gottes Willen nicht nehmen, dafür fahre ich schneller durch die Stadt, dafür, zum Glück rauche ich nicht. Also, die Zeit muss ich nicht auch noch irgendwie unterbringen […] und ich, also wahrscheinlich auch leider, aber ich, wenn ich eine andere Patientin habe, wo ich 45 Minuten habe, die ich anschließend habe, klicke ich die früher an, obwohl ich eigentlich noch durch die Stadt fahre, weil diese Frau, die bekommt es bezahlt, sie braucht nur 10 Minuten von ihren 40 Minuten ungefähr, also schenke ich von den 40 Minuten, schenke ich dem Mann fünf, damit er mit seinem [Haustier] reden kann. Nicht erlaubt und total Kündigungsgrund natürlich, ja, weil ich die Krankenkassen betrüge, ich betrüge meine Arbeitsstelle und die Patienten.« (B02, Abs. 36)

Ihre Strategie kann daher als subversive Umverteilung von Zeit betrachtet werden, als Widerstand oder subversive Praxis gegen die sorgenfreie Gesellschaft. Die Strategie kann aber auch als »erzwungener Altruismus« (vgl. Land/Rose 1985) gedeutet werden, da das deutsche Pflegesystem auf dem Anspruch der Pfleger*innen aufzubauen scheint, Pflegearbeit als relational-leibliche Care-Arbeit zu verstehen. Der Gesetzgeber, aber auch die Pflegeunternehmen, können sich daher nicht nur unbezahlter Arbeit im ›Privaten‹ sicher sein, sondern auch der Mehrarbeit und der unbezahlten Arbeit von Pfleger*innen in der ambulanten Pflege. Als wichtigstes Ergebnis der empirischen Analyse kann festgehalten werden, dass die Ökonomisierung und Kommodifizierung der Pflege besonders die relational-leiblichen Elemente verwirft und teilweise wieder als unbezahlte Arbeit strukturiert. Wie das im Arbeitsalltag gehandhabt wird und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, wurde beispielhaft gezeigt.

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5. F AZIT Zusammenfassend und als Fazit lässt sich festhalten, dass die in diesem Kontext entwickelte soziale Form der Wert-Abjektion zum einen die gesellschaftliche Bedeutung von Care und Care-Arbeit deutlich macht und zum anderen die herrschaftsförmig organisierte Notwendigkeit ihrer permanenten Abjektion entfaltet: und zwar im Sinne einer Auslagerung der Care-Arbeiten zur Verringerung der Kosten und gleichzeitig einer Verwerfung der ›Bedrohlichkeiten‹, die mit diesem verletzbaren, care-bedürftigen Sein im Zusammenhang steht. Die Strategien für ein ›besseres Leben‹ und für bessere Care-Bedingungen müssen daher langfristig auf die Überwindung dieser Herrschaftsform zielen, damit »das Leben als Zweck, als Selbstzweck« (Klinger 2013: 103) anerkannt werden kann.

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Der Eigensinn des Leibes als Erkenntnisquelle Soziale Ordnungen leiblich erkunden und verstehen U LLE J ÄGER & T OMKE K ÖNIG »Es könnte doch sein, dass sich der Körper herzlich wenig darum schert, wie wir ihn sehen oder deuten – er reagiert auf kulturelle Herausforderungen in seiner Sprache und er macht, was ihm gemäß ist.« ABRAHAM/MÜLLER 2010: 14 »The language is part of culture and history, but the body is always freshly here again, and can say ›no‹, even when culture and reason say ›yes‹.« GENDLIN 2004B: 132

E INLEITUNG : L EIBLICH - AFFEKTIVE W AHRNEHMUNG JENSEITS DISZIPLINÄRER G RENZEN Anke Abraham beschreibt als eine der ersten innerhalb der deutschen Körpersoziologie die Potentiale qualitativer Sozialforschung, wenn diese sich auf den Körper als Quelle der Erkenntnis einlässt – zuerst in einem kurzen Abschnitt in Frauen, Körper, Krankheit, Kunst (Abraham 1992)1, dann in einem Exkurs zum Thema Der Körper als Erkenntnisquelle in ihrer Habilitationsschrift (Abraham

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Siehe dort S. 213-225. Für diesen Hinweis danken wir Lea Spahn.

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2002), später immer wieder in verschiedenen Aufsätzen und Vorträgen,2 zuletzt in ihren Beiträgen (Abraham 2017a, b) zum Handbuch Körpersoziologie (Gugutzer/Klein/Meuser 2017). Abraham selbst hat vor allem mit qualitativ ausgerichteten biographisch-narrativen Interviews gearbeitet und diese als besonders geeignet für körperbezogene Fragestellungen erachtet, da Erzählungen dem Erleben und leiblich-emotionalen Erfahrungen besonders nah stünden (Abraham 2017b). Sie plädiert immer wieder dafür, zur Einbeziehung der körperlichen – oder besser gesagt: leiblich-affektiven – Ebene die disziplinären Grenzen der Sozialwissenschaften zu überschreiten und sich für Beiträge aus den Körper- und Bewegungstherapien zu öffnen. So schreibt sie bereits 2002: »In meinen Augen täte es gut, wenn in jenen Bereichen der Sozialwissenschaft, die sich daran machen, andere Menschen, menschliche Sinngebungen, interaktive Strukturen oder soziale Konstellationen verstehen zu wollen, die leiblich-affektive Selbsterfahrung (ergänzt durch therapeutisches Wissen und Erfahrung gerade in Übertragungssituationen) intensiv geschult sowie systematisch eingesetzt und kontrolliert würde. Im Bereich der Körper- und Bewegungstherapien gibt es aussichtsreiche Ansätze, wie eine Sensibilisierung der leiblichen Wahrnehmung angeregt und zum persönlichen ›Inventar‹ gemacht werden kann« (Abraham 2002: 196).

Abraham hat keine Berührungsängste gegenüber Methoden anderer Disziplinen. Es entspricht ihrer Offenheit im Denken, dass sie mehr an der Frage interessiert war, wie wir Zugang zu Körpererfahrungen und leiblichem Erleben sozialer Akteur*innen und »Erkenntnisse über diese existenzielle Grundlage menschlichen Seins gewinnen« können (Abraham 2017a: 458), als an der Einhaltung disziplinärer Grenzen. Sie schlägt dementsprechend vor, klassische Methoden der Soziologie wie Interviews, Beobachtung oder auch Ethnographie mit »Zugängen aus dem Bereich der subjektorientierten psychologischen, sozialpsychologischen und medizinpsychologischen Forschung« (Abraham 2017a: 463) zu ergänzen. Denn: »In Bezug auf die Wahrnehmung und Interpretation leiblich-affektiver Resonanzen kann die sozialwissenschaftliche Forschung von körpersensiblen therapeuti-

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Der Körper als Erkenntnisquelle – Potenziale, Rahmungen und Übersetzungen, gemeinsame Tagung der Sektionen Soziologie des Körpers und des Sports und Methoden der Qualitativen Sozialforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie DGS Der Körper als Subjekt qualitativer Sozialforschung, Goethe Universität Frankfurt, 6./7. März 2015. Der Körper als Erkenntnisquelle. Methodische Implikationen für die sozialwissenschaftliche Forschung und die Erforschung von Geschlecht, Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung (IZG), Universität Bielefeld, 25. Mai 2016.

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schen Settings lernen« (Abraham 2017a: 469). Durch solche Bezüge wird es möglich, den Körper in einem erweiterten Sinne als Erkenntnisquelle einzusetzen, wenn es darum geht, soziale Ordnungen in ihren subjektiven Verkörperungen in Individuen zu erkunden und zu verstehen. Wenn Abraham vom Körper als Erkenntnisquelle spricht, meint sie damit zwei verschiedene Körper in einer Begegnung. Da ist zum einen der Körper der Forschenden, über dessen systematischen, methodisch kontrollierten und selbstreflexiven Einsatz ein zusätzliches, anderes Wissen generiert werden könne. Dieser forschende Körper »ist ein Speicher von Erfahrung und Wissen ganz besonderer Art und er kann uns so auch zu anderen Erkenntnissen führen – insofern ist er eine ›Quelle‹ von Erkenntnis« (Abraham 2002: 194, Herv. i.O.). Im Zentrum ihres Interesses steht dabei »die Beschaffenheit und die Fähigkeit des Leibes zum Verstehen des anderen in interaktiven Situationen« (Abraham 2002: 196). Diese Fähigkeit kann die Forscherin nutzen, um ihr Gegenüber in der körperlich-leiblichen Begegnung zu spüren und zu verstehen. Und da ist zum anderen der Körper des Gegenübers, auf den die Forscherin trifft, zum Beispiel in einer Interviewsituation. Die Begegnung von zwei konkret leiblich Anwesenden in einer Sprechsituation bezeichnet Abraham als »Urtyp« zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation, die methodisch genutzt werden könne (Abraham 2017a: 460, Herv. i.O.), um Zugang zu einer anderen, erlebensbezogenen Dimension des Körpers zu finden, die sie als vorsprachlich bezeichnet. Es gibt etwas, das noch nicht sprachlich gefasst, aber in der Begegnung bereits präsent ist: »In der konkreten Begegnung sind neben sprachlichen Äußerungen immer auch Empfindungen und Artikulationen des Körpers beider Akteure zugegen, die wechselseitig aufeinander reagieren und einen Zugang zur vorsprachlichen Ebene gewähren können: zu (noch) nicht in Sprache gefassten leiblichen und emotionalen Erinnerungsspuren, die das menschliche Fühlen, Denken und Handeln in massiver und zumeist unterschätzter Weise beeinflussen« (Abraham 2017a: 460).

Abrahams Plädoyer, einen Zugang zu diesem Vorsprachlichen zu eröffnen und so den Körper als Erkenntnisquelle zu nutzen – und dabei disziplinäre Grenzen zu überschreiten – schließen wir uns an. Unsere eigenen Überlegungen zum Körper als Erkenntnisquelle sind an einer Schnittstelle von Geschlechterforschung, (Körper-)Soziologie, Beratungswissenschaft, Psychologie und Philosophie entstanden und schöpfen darüber hinaus aus Erfahrungen, die wir als Soziologinnen und Geschlechterforscherinnen in qualitativen Interviews und als Supervisorinnen in Beratungsgesprächen gesammelt haben. Zugleich sind sie Zwi-

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schenergebnis eines professionellen und persönlichen Dialogs, den wir seit vielen Jahren miteinander führen. Unser methodischer Vorschlag steht im Kontext verschiedener Stränge aktueller Diskussionen rund um die Erforschung von Körper/Leib und Geschlecht. Ausgangspunkt ist die Bezugnahme auf den Begriff des Leibes, so wie Gesa Lindemann ihn bereits 1993 unter Rückgriff auf Konzepte aus Phänomenologie (Schmitz) und Philosophischer Anthropologie (Plessner) in die Soziologie eingeführt (Lindemann 2011 [1993]) und damit deren Gegenstandsbereich um die Dimension der Leiblichkeit erweitert hat (Lindemann 2016; Gugutzer 2017, 2012). Zur Erweiterung dieser bereits vorliegenden Konzepte nehmen wir Bezug auf den Philosophen Eugene T. Gendlin und seinen erlebensbezogenen Ansatz, der bislang in der Körpersoziologie und in der Geschlechterforschung nur sehr zaghaft rezipiert wird (Jäger 2014; König 2016). Die von Gendlin entwickelte Methode des Thinking at the Edge wird im Deutschen mit »Denken, wo Worte (noch) fehlen« übersetzt (Deloch 2017, 2010). Hier geht es genau darum, das, was körperlich bereits spürbar, aber noch nicht sagbar ist, zur Sprache zu bringen. Gendlins erlebensbezogener Ansatz zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus. Erstens verzichtet er in seinem Konzept von Körper, Sprache und Situation (Gendlin 1993) auf naturalistische Setzungen und versteht den Körper als immer schon in Interaktion, im Prozess. Gleichzeitig erlaubt sein Konzept einen Zugriff auf die materiell-eigensinnige Dimension des Leibes, die immer auch über eine bereits bestehende Ordnung hinausgeht. Zweitens bewegt er sich bei der Entwicklung seines Körperkonzepts ebenfalls, wie von Abraham gefordert, zwischen den Disziplinen, in seinem Fall der Philosophie und der Psychologie bzw. Psychotherapie. Drittens erfasst er mit seinem Körperkonzept nicht nur Erinnerungsspuren, so wie Abraham das nennt, die über den Körper zugänglich werden, sondern auch Entwicklungstendenzen. Damit bietet er sich in besonderer – unserer Ansicht nach einzigartiger – Weise an, nicht nur Aspekte der Reproduktion, sondern auch Aspekte des Wandels sozialer Ordnungen zu beschreiben. Und last but not least hat Gendlin nicht nur eine Theorie entwickelt, sondern auch zwei Methoden, Focusing (Gendlin 1978, 1998) und Thinking at the Edge (Deloch 2010, 2017; Gendlin 2004a; Gendlin/Hendricks 2004), die unseres Erachtens gerade in Bezug auf qualitative Forschung neue Möglichkeiten eröffnet, den Körper zum Sprechen zu bringen. Diesen methodischen Ansatz zu Denken wo Worte (noch) fehlen möchten wir in einen Dialog mit den Überlegungen von Anke Abraham zum Körper als Erkenntnisquelle bringen. Dazu führen wir in einem ersten Schritt in Gendlins Methoden des Focusing und des Thinking at the Edge ein. Durch die Bezugnahme auf das Erleben im Hier und Jetzt wird es möglich, implizites Wissen syste-

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matisch zu explizieren (1). Dann skizzieren wir am Beispiel Geschlecht, wie in qualitativen Interviews mit Elementen erlebensbezogener Gesprächsführung auf das Neue und damit auf Phänomene des Wandels und der Veränderung Bezug genommen werden kann. Wir stellen verschiedene Elemente erlebensbezogener Interviews vor (2) und beschreiben, wie dabei immer auch der Leib der Forscher*innen als Erkenntnisquelle genutzt wird. Im Zentrum unseres Erkenntnisinteresses steht dabei, neue geschlechtliche Existenzweisen im Spannungsfeld hegemonialer Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und jenseits dieser Vorstellungen sichtbar und sagbar zu machen. Abschließend fassen wir zusammen, wie durch den Erlebensbezug nicht nur die Persistenz, sondern auch und gerade Veränderungen sozialer Ordnungen beschreibbar werden und welche Möglichkeiten für eine sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung durch den erlebensbezogenen Ansatz und dessen Einsatz in qualitativen Interviews entstehen (3). Hier versuchen wir einen Schritt weiter zu gehen als Anke Abraham, die bezüglich der Möglichkeiten der Versprachlichung des körperlich-leiblichen Erlebens immer auch skeptisch geblieben ist. Gendlins Theorie und Praxis eines erlebensbezogenen Denkens und Forschens eröffnet hier eine völlig neue Perspektive, die über gängige leibtheoretische Bezüge hinausgeht.

1. I MPLIZITES W ISSEN EXPLIZIEREN : D ENKEN WO W ORTE ( NOCH ) FEHLEN 3 Eugene Gendlin (1926-2017) hat sich als Philosoph zeitlebens mit der Frage beschäftigt, wie es möglich ist, mit einer bereits bestehenden Sprache etwas Neues zu sagen, das über diese Sprache und die mit ihr vorgegebenen Strukturen hinausgeht (Gendlin 1991, 1997). Er lokalisiert dabei das leibliche Erleben als Quelle für neue Bedeutungen. Seine Philosophie des Körpers und sein Verständnis von Körper, Situation und Sprache als Prozess (Gendlin 1993, 2015) bieten theoretische und methodische Anknüpfungspunkte für eine Exploration des leiblichen Eigensinns. Da sein Werk nicht nur aus einer eigenen Theorie bzw. Philosophie des Impliziten besteht, sondern auch eine eigene Praxis umfasst, bietet es sich in besonderer Weise für einen methodischen Übertrag in qualitative Interviews an. Focusing (1978) und Thinking at the Edge (2004a) sind zwei systematische und erlernbare Techniken erlebensbezogener Gesprächsführung, deren

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Die hier und unter Punkt 2 folgenden Ausführungen zu erlebensbezogenen Interviews basieren auf Überlegungen, die wir bereits an anderen Orten veröffentlicht haben. Siehe Jäger 2014 und Jäger/König 2017.

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Elemente sich auf qualitative Interviews übertragen lassen. Damit wird es in einem doppelten Sinne möglich, implizites Wissen zu explizieren. Zum einen wird explizit benennbar, was viele Forscher*innen bislang eher intuitiv oder unbewusst bereits in qualitativen Interviews tun, wenn sie ihrem Gegenüber folgen und versuchen, es zu verstehen. Zum anderen bietet eine erlebensbezogene Gesprächsführung konkrete Anleitungen dazu, ein Gegenüber dabei zu unterstützen, körperliches Erleben und darin enthaltenes implizites Wissen zu erfassen und so ›etwas‹ zur Sprache zu bringen, das sich an der Grenze von Bewusstem und Unbewusstem zuallererst körperlich bemerkbar macht. Da dieser Bereich in bisherigen Theorien nicht gefasst und sprachlich zum Ausdruck gebracht worden ist, hat Gendlin einen neuen Begriff dafür geprägt: Er nennt dieses ›etwas‹ einen Felt Sense. Bei der Entfaltung dieses Konzepts spielen seine Begegnungen mit Methoden und Praxen der Psychotherapie und Beratung eine zentrale Rolle, die er als Doktorand in den 1960er Jahren durch Carl Rogers kennenlernt, den Begründer des personzentrierten Ansatzes und einen der bedeutendsten Vertreter der humanistischen Psychologie. Auch für therapeutische Prozesse ist die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Veränderung relevant, und so beginnt über disziplinäre Grenzen hinweg eine enge Zusammenarbeit zwischen Gendlin und Rogers, in deren Rahmen Gendlin eine umfangreiche empirische Untersuchung zu den Bedingungen von Veränderung in therapeutischen Prozessen leitet (Gendlin 1966). In den Begegnungen zwischen Therapeut*innen und Patient*innen fällt ihm vor dem Hintergrund seiner philosophischen Überlegungen ein besonderes Selbstverhältnis bestimmter Patient*innen auf: Diejenigen, die während der Sitzungen immer wieder innehalten, sprachlich ins Stocken geraten und nach den richtigen Worten suchen, um das zum Ausdruck zu bringen, was für sie in diesem Moment wahrnehmbar, erlebbar ist, haben eine größere Aussicht auf Erfolg in ihrer Therapie oder, mit anderen Worten: auf Veränderung. Die Beobachtung dieser besonderen Art des Innehaltens beim Sprechen bestärkt Gendlin darin, dem körperlichen Erleben und der Entschleunigung, die notwendig ist, um mit diesem Erleben in Kontakt zu treten, auch in seinen psychologischen Forschungen einen besonderen Stellenwert beizumessen, so wie in seiner Philosophie. Ein zweiter Strang von Veröffentlichungen entsteht parallel zu Gendlins philosophischen Schriften. In psychologischen Fachzeitschriften (1964, 1966, 1968), einem Selbsthilfebuch (1978) und einer Monographie (1998) entwickelt Gendlin aus dem personzentrierten Ansatz heraus eine eigene, erlebensbezogene, focusing-orientierte oder auch experientielle Psychotherapie (siehe Stumm/Wiltschko/Keil 2003). Im Anschluss an Wittgensteins sprachphilosophische Kernaussage, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch in der Sprache, betont Gendlin, dass die

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Sprache selbst eine Kreativität in sich trage, die »mehr-als-logisch« sei (Gendlin 2004b: 128). Das Neue ließe sich dementsprechend nicht durch logische Schlüsse aus dem Alten ableiten, sondern machte sich zuallererst körperlich bemerkbar. Gendlin beschreibt, dass es in lebendigen Prozessen immer ›etwas‹ gibt, das über die bereits vorhandenen Konzepte und sprachlichen Möglichkeiten hinausgeht und körperlich als Felt Sense, als gespürte Bedeutung, wahrgenommen werden kann. Im Unterschied zu verschiedenen dekonstruktivistischen Ansätzen insistiert er darauf, dass der Körper zwar immer in Sprache und in Situation ist, gleichzeitig aber nie in den bereits existierenden sprachlichen Konzepten aufgeht. Der Körper ist Teil einer symbolischen Ordnung und er ist mehr als diese symbolische Ordnung. Er ist ein Ort des leiblichen Eigensinns. Jedes Selbst, so führt er weiter aus, hat ein körperlich spürbares Empfinden für das, was neben bereits formulierten Erkenntnissen in einer bestimmten Situation von Bedeutung ist, was aber noch nicht gesagt werden kann. Beim Innehalten entsteht ein Felt Sense, der im Grenzbereich zwischen bewusst und unbewusst spürbar ist, bevor er sprachlich und konzeptionell gefasst und symbolisiert werden kann. Der Felt Sense »ist die Schicht des Unbewussten, die wahrscheinlich als nächstes an die Oberfläche kommt. Dies wird zuerst körperlich gespürt, ist noch nicht bekannt oder geöffnet, noch nicht im ›Vorbewussten‹« (Gendlin 1998: 37). Wichtig ist, dass Gendlin die implizite Bedeutung nicht als außersprachlich versteht. Der Körper ist immer schon in der Sprache und er ist immer in einer Situation (Gendlin 1993). Gleichzeitig ist er mehr als das, was sprachlich bereits konzeptionell gefasst ist: »The implicit meaning does not exist before or without language. In animals the inwardly sensed body exists before language. But the human body is never before language. But the implied meaning is not the result only of language. The relation of language to the body is more intricate than just with or without. Your body understands well the language and the phrases it rejects. But it can generate a bodily implying that goes beyond what the alreadyshared common meanings could imply. The body knows the language, and it always moves on freshly again, beyond the already existing meanings« (Gendlin 2004b: 132).

Aus der empirischen Beobachtung der Bezugnahme auf das körperliche Erleben als Quelle neuer Bedeutung in therapeutischen Prozessen entwickelt er in einer Pendelbewegung zwischen Philosophie und Psychologie eine erlebensbezogene Methode, die systematisch darin anleitet, einen Felt Sense entstehen zu lassen und damit Bezug auf das Implizite zu nehmen. Diese Methode und den Prozess der Bezugnahme auf das, was noch nicht klar gesagt werden kann, aber bereits spürbar ist, nennt er Focusing (1978). Er beschreibt sechs idealtypische Schritte,

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um einen Felt Sense entstehen zu lassen und mit diesem zu arbeiten: 1. einen inneren (Frei-)Raum schaffen, 2. einen Felt Sense zu einem bestimmten Thema kommen lassen, 3. eine erste sprachliche Symbolisierung, einen »Griff«, wie Gendlin das nennt (im englischen Original: »handle«, Gendlin 1978), finden, 4. überprüfen, ob diese Symbolisierung passt, 5. den Felt Sense befragen, in Dialog mit ihm treten, herausfinden, was er braucht und 6. abschließend würdigen, was sich gezeigt hat (Gendlin 1978).4 Auf dieser Grundlage entsteht in den 1990er Jahren eine zweite Methode, Thinking at the Edge, kurz: TAE (Gendlin 2004a; Gendlin/Hendricks 2004), die der systematischen Entwicklung neuer Sichtweisen und Begriffsverwendungen im wissenschaftlichen Kontext dient. Im TAE wird gezielt auf das persönliche, oft nur schwer artikulierbare Erleben konkreter Problemsituationen Bezug genommen, aus dem heraus die Entwicklung eigener, originärer Denkansätze und Ideen erfolgt. Dieser Prozess wird durch die systematische Begleitung der Selbstexploration eines Gegenübers durch erlebensbezogene Denkbewegungen unterstützt (Deloch 2010). Beiden Methoden ist gemein, dass sie im Rahmen einer gezielten Entschleunigung das Zustandekommen eines Explikationsprozesses unterstützen, innerhalb dessen etwas, das bereits spürbar, aber noch nicht sagbar ist, zur Sprache gebracht werden kann. Abraham geht davon aus, dass diese vorsprachliche Ebene sich einem objektivierenden Zugriff weitgehend entziehe (Abraham 2017a: 459). Mit Bezug auf den Leibbegriff von Hermann Schmitz stellt sie fest, dieser biete zwar mit seinem »Leib-Verständnis eine Vorstellung an, die das registrierende, analytische Denken suspendiert und sich auf einer Ebene des Gewahrens, Spürens, Merkens bewegt, die uns unmittelbar erlebbar ist, die aber sprachlich nur unter großer Anstrengung und mit hohen Reibungsverlusten ›zu haben‹ ist« (Abraham/Müller 2010: 18). Dennoch sei die Dimension der Leiblichkeit für sozialwissenschaftliche Untersuchungen relevant, denn sie sei geprägt »durch individuelle Anmutungen und Atmosphären« und zu ihr »gehören leiblich-sinnliche Empfindungen, Affekte und Gefühle, existenzielle Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte, auftauchende Bilder und Assoziationen, Gedankenblitze oder auch Versprecher, die anzeigen, dass das rationale Denken gespeist und irritiert wird aus einem vorbewussten oder unbewussten Bereich, der größer, wirkmächtiger und reichhaltiger ist, als es Sprache und Denken vermitteln können« (Abraham 2017a: 459).

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Eine Anleitung zum Focusing in Kurzform findet sich unter An Introduction to Focusing: Six Steps, The International Focusing Institute: www.focusing.org/sixsteps.html.

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Auf die besondere Bedeutung impliziten Wissens für sozialwissenschaftliches Verstehen hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Spätwerk Das Elend der Welt (1997a) hingewiesen. In einem Nachwort zum Verstehen betont er die Notwendigkeit, implizites Wissen zu explizieren, um soziale Ordnungen zu verstehen. Denn: »Die realen Ursachen ihres Missbehagens oder ihrer Unzufriedenheit [...] können nur dann bewusst und damit auch explizit gemacht werden, wenn daran gearbeitet wird, die vergrabenen Dinge in jenen ans Tageslicht zu bringen, die diese Dinge erleben, aber nichts darüber wissen, andererseits jedoch mehr darüber wissen als irgend jemand sonst.« (Bourdieu 1997a: 796)

Um diese Dimension des Impliziten, wie auch Abraham das nennt, zugänglich zu machen, braucht es nach Abraham besondere Herangehensweisen: »Die wissenschaftliche Suche nach Sprachformen und sprachlichen Zugängen zum Körper sollte sich dieser impliziten, unbewussten und vor der Sprache liegenden Ebene verstärkt zuwenden und nach Brücken suchen, die von der Fülle des leiblich und emotional verankerten Unbewussten zur Sphäre der analytisch klaren Sprache führen – und auch wieder zurück« (Abraham 2017a: 460).

Beide Ansätze, die Gendlin entwickelt hat, Focusing und Thinking at the Edge, stellen eine solche Brücke dar. Sie liefern Elemente eines systematischen Erlebensbezugs, die zur detaillierten Exploration der Ebene des noch nicht Sagbaren (Neuen) in qualitativen Interviews genutzt werden können. Wie das aussehen kann, möchten wir im Folgenden am Beispiel Geschlecht illustrieren.

2. E RLEBENSBEZOGENE I NTERVIEWS AM B EISPIEL »G ESCHLECHT «

FÜHREN

Erlebensbezogenes Denken ist vor allem dann einsetzbar, wenn Probleme nicht mehr innerhalb bestehender Paradigmen aufgelöst werden können, wenn etablierte Paradigmen sich so verfestigt haben, dass sie der Formulierung neuer Einsichten im Wege stehen (Gendlin 2004a). Gendlin selbst bezieht sich auf Geschlecht und Geschlechterverhältnisse als Beispiel für eine Umbruchsituation, in der die alten Muster nicht mehr ohne weiteres funktionieren: »Being a parent today, for example, doesn’t work if we try to do it as our parents did, yet no other form is established for us to follow. We have to make it up as we go along.«

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(Gendlin 1978: 184) Rund um geschlechtliche Seinsweisen gibt es Definitionen, Rollen, Fachbegriffe, Kategorien, Konventionen, Gefühle, die explizit, bekannt und damit leicht sagbar sind. Bezogen auf ein je konkretes Geschlecht in einer bestimmten Situation, auf ein eigenes Geschlecht kann es aber ›etwas‹ geben, das mit dem Expliziten nicht gefasst werden kann, ein ungutes Gefühl, eine Unstimmigkeit, die implizit spürbar, wahrnehmbar ist, die das Selbst aber noch nicht oder nicht genau zum Ausdruck bringen kann. Oder auch ein wohliges Gefühl, etwas, das guttut, ohne dass schon gesagt werden kann, was genau es ist. Hier sind Umdeutungen gefragt, oder, wie Gendlin das nennt, »frische« Formulierungen, die das vorantragen, was am eigenen, einzigartigen, neuen, anderen Erleben von Geschlecht zum Ausdruck gebracht werden soll (Gendlin 2004b). Aktuelle Studien zu Familie, Sexualität, Arbeitsteilung in Paarbeziehungen oder auch zu Vatersein machen deutlich, dass Altes und Neues in der Geschlechterordnung zurzeit nebeneinander bestehen (Baumgarten et al. 2012; Grisard/Jäger/König 2012; König 2012; König/Jäger 2011; Maihofer 2014b). Maihofer bezeichnet diese paradoxe Gleichzeitigkeit von Persistenz und Wandel als wesentliches Merkmal aktueller Geschlechterverhältnisse. Diese Gleichzeitigkeit durchzieht auch die Individuen selbst (König 2018, 2016, 2012). Um dieses Strukturmerkmal im Blick zu behalten, ohne einem Aspekt – dem Wandel oder der Persistenz – den Vorrang zu geben, braucht es theoretische Perspektiven und Methoden, die es erlauben, das Neue in der Geschlechterordnung zu erkennen und empirisch beschreibbar zu machen. Für diejenigen, die ihr Geschlecht trotz allem als Frauen und als Männer innerhalb der binären Ordnung verkörpern, sich selbst also nicht als andersgeschlechtlich begreifen, ist es nicht leicht, dieses Neue jenseits der binären Ordnung sprachlich zum Ausdruck zu bringen, weil ihnen hierfür (noch) die Worte fehlen. Um das auszudrücken, was sie spüren, müssen sie über diejenigen Begriffe und Konzepte hinausgehen, die bislang in der Sprache vorhanden sind. Wir verstehen die zweigeschlechtliche Ordnung als ein Paradigma im Wandel: Etwas, das auf der Ebene des Erlebens von Frauen und Männern bereits spürbar relevant für deren geschlechtliche Existenzweisen ist, kann noch nicht ohne Weiteres sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Die Geschlechterordnung selbst bewegt sich sozusagen »at the edge«. Mit Bezug auf den Leib als Erkenntnisquelle könnte das noch nicht Sagbare und damit »bedeutungsvolle Erlebensanteile, die aufgrund der herrschenden Denk- und Sprachkonventionen bislang nicht adäquat in Worte gefasst werden können« und in denen »wir um Worte ringen für das, was wir aufgrund unserer komplexen Erfahrungen als bedeutsam erleben, was aber mit den etablierten Routinen nicht sagbar ist« (Deloch

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2010: 270) in Bezug auf Geschlecht und geschlechtliche Selbstverhältnisse zum Ausdruck gebracht werden. Zur Erläuterung einer erlebensbezogenen Vorgehensweise im Interview nehmen wir Bezug auf das Beispiel Geschlecht, da uns besonders interessiert, wie Individuen ihre Geschlechtlichkeit in ihrer ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit erleben und leben. In der Tradition des Habituskonzepts von Pierre Bourdieu wird der Leib vornehmlich als »Speicher« gesellschaftlicher Ordnung verstanden (Bourdieu 1976, 1997b). Der Fokus bei dieser sozialwissenschaftlichen Betrachtung liegt auf dem Beitrag, den die körperlich-leibliche Verfasstheit des Menschen zur Reproduktion sozialer Ordnung beiträgt. Auch in der Geschlechterforschung werden vor allem Strukturgebundenheit, Historizität und Gesellschaftlichkeit des leiblichen Erlebens und die mit diesem Erleben verbundenen Affekte und Gefühle aufgezeigt (Ahmed 2010, 2014 [2004]; Maihofer 2014a). Der Leib wird als Raum oder Ort verstanden, »an dem ein bestimmtes Körperwissen wirksam wird« (Jäger 2004: 212). Darüber hinaus kann der Leib jedoch auch als Ort des Widerstands verstanden werden: »Unwohlsein mit einer gegebenen Ordnung (äußert sich) zuallererst leiblich« (Jäger 2004: 221). Diese Perspektive wird auch in leiborientierten Ansätzen der Körpersoziologie vertreten. So stellt Robert Gugutzer fest: »Die Leiblichkeit sozialer Akteure ist die wesentliche Quelle sozialen Wandels, da das spürbare Betroffen sein von sozialen Umständen typischerweise der Auslöser dafür ist, handlungsaktiv zu werden und die Umstände zu ändern. [...] Unzufriedenheit ist ein leibliches Befinden« (Gugutzer 2014: 102). Welche neue Existenzweisen (Maihofer 1995) und welche neuen Selbstverhältnisse werden im Spannungsfeld von Geschlecht, Alter, Klasse, ethnischer Herkunft, Krankheit/Gesundheit, Religion und anderen Differenzkategorien sichtbar, wenn auf den Felt Sense und damit auch auf den Leib als einen Ort des Widerstands Bezug genommen wird? Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor, in qualitativen Interviews Elemente einer erlebensbezogenen Gesprächsführung einzusetzen, um den Felt Sense und damit den Eigensinn des Leibes gemeinsam genauer zu erkunden und zu verstehen. Diese Elemente umfassen verschiedene Haltungen bzw. Vorgehensweisen, mit denen die interviewführende Person ihr Gegenüber bei der Exploration der eigenen geschlechtlichen Seinsweise begleitet: 1. Das Unklare willkommen heißen und den Prozess verlangsamen, 2. den Bezug auf das Erleben einschätzen und unterstützen, 3. auf Metaphern und auf den Bezug auf ›etwas‹ achten; 4. zu einer genaueren Erkundung einladen, 5. Widersprüche suchen, 6. erste Symbolisierungen ergebnisoffen begleiten, 7. den eigenen Sprachgebrauch spezifizieren lassen, 8. auf nicht sprachliche Ausdrucksformen achten, 9. den ei-

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genen Felt Sense als Erkenntnisquelle nutzen und 10. die Stimmigkeit der Symbolisierung immer wieder überprüfen. Diese Elemente werden im Folgenden beschrieben. 2.1 Das Unklare willkommen heißen und den Prozess verlangsamen Ziel eines erlebensbezogenen Interviews zum Thema Geschlecht ist es, neue, oft noch flüchtige und unklare Ideen und sprachlich schwer fassbare Impulse rund um das Thema zum Ausdruck zu bringen, die sich zunächst nur auf der Ebene des Körpers in Form eines Felt Sense zeigen. Dafür ist es wichtig, zu Beginn des Interviews die Formulierung von noch Unklarem explizit willkommen zu heißen. Es ist hilfreich, wenn die interviewführende Person deutlich signalisiert, dass es in Ordnung ist, auch unklare Ideen und zunächst vielleicht verrückt anmutende Impulse und Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Da Neues, noch Unklares oftmals der Selbstkritik unterliegt oder aus anderen Gründen schnell wieder aufgegeben wird, ist es wichtig, als Begleitperson eine freundliche und wertschätzende Haltung einzunehmen, die den leicht zu störenden Prozess durch aufmerksames und aktives Zuhören begleitet. Wichtig ist es dazu auch, den Prozess zu verlangsamen, denn ein Felt Sense braucht Zeit, um entstehen zu können. In einem beschleunigten Prozess ist es den meisten Menschen unmöglich, Bezug auf das eigene Erleben im Hier und Jetzt zu nehmen. Im Gespräch kann immer wieder danach gefragt werden, was das Gegenüber körperlich empfindet, während es über etwas berichtet. Auch nach Gesprächspausen kann auf das Erleben Bezug genommen werden. Zur Verlangsamung des Gesprächs können wichtige Ausdrücke wiederholt und Schlüsselworte und besondere Formulierungen zurückgesagt werden. Damit wird zum einen ausgedrückt, dass man gehört hat, was gesagt wurde. Zum anderen kann es sein, dass das Gegenüber bei dem angesprochenen Aspekt bleibt und ihn vertieft oder weiter differenziert. Auch Bourdieu betont die Bedeutung von Wiederholungen: »So habe ich immer wieder beobachtet, dass der Befragte mit einer sichtbaren Befriedigung ein Wort oder einen Satz wiederholte, mit Hilfe dessen er sich über sich selbst, also über eine Position, klar geworden war« (Bourdieu 1997a: 792, Fußnote 8). Er spricht von »sokratischer Arbeit der Unterstützung beim ZumAusdruck-Bringen«, indem die Interviewer*innen explizite Angebote und Formulierungsvorschläge machen, ohne den Befragten etwas aufzuzwingen. Es gehe darum »den Äußerungen des Befragten, seinen Zweifeln und seiner Suche nach dem richtigen Ausdruck vielfältige und offene Anschlussmöglichkeiten zu bieten« (Bourdieu 1997a: 792, Fußnote 7).

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In diesem Sinne können auch Gefühle, die sich zeigen, explizit angesprochen werden: »Das macht Sie ärgerlich/froh/ratlos ...«. Wenn sich etwas schwer Sagbares andeutet, ist es hilfreich, dies zunächst einmal zu markieren: »Da ist noch etwas Unklares, das Sie beschäftigt.« »Da ist noch etwas, das noch schwer in Worte zu fassen ist.« »Da ist noch mehr?« Das unmittelbare Erleben des Gegenübers kann dabei angesprochen oder erfragt werden: »Das ist schwer sagbar, aber irgendwie spürbar für Sie.« »Wie fühlt es sich an, wenn Sie so darüber sprechen?« »Was könnte dieses Empfinden für Sie bedeuten?« Dabei ist es wichtig, im Interview immer wieder Zeit zu geben, zu verlangsamen und so einen Freiraum zu schaffen, in dem überhaupt erst ein Felt Sense entstehen kann. 2.2 Den Bezug auf das Erleben einschätzen und unterstützen Um das eigene Gespür für den Erlebensbezug eines Gegenübers zu schärfen, hat Gendlin gemeinsam mit Kolleg*innen die sogenannte Experiencing Scale entwickelt (Klein/Mathieu/Gendlin/Kiesler 1969). Dieses Modell umfasst sieben Stufen der unterschiedlichen Bezugnahme auf das eigene Erleben im Sprechen, die von einer gänzlich unpersönlichen, oberflächlichen, abstrakt-intellektuellen Art des Redens über einen mittleren Bereich mit dem Ausdruck von Gefühlen und eigenen Erfahrungen bis hin zur gezielten Erkundung des eigenen Erlebens im Hier und Jetzt als Bezugspunkt für Problemlösungen und das eigene Selbstverständnis reichen. Diese Skala kann der interviewführenden Person dazu dienen, vor, während und nach dem Interview eine genauere Einschätzung des Erlebensbezugs ihres Gegenübers zu bekommen. 2.3 Auf Metaphern und auf die Benennung von ›etwas‹ achten Abraham verweist in ihren methodischen Hinweisen »zur Überbrückung des Hiatus« zwischen Vorsprachlichem und Sprachlichem auf die besondere Bedeutung von Metaphern. Sie spricht von präverbalen »Symbolisierungsformen, die in besonderer Weise geeignet sind, Brücken zwischen den Sinnstrukturen herzustellen« (Abraham 2017a: 468) und zählt dazu neben Metaphern Sprachbilder, poetisches Sprechen, Bilder, Klänge, Gerüche und Träume. Sie stellt fest, dass die »Forschungssubjekte«, wie sie das nennt, diese Formen nutzen, um dem Bereich zwischen Bewusstem und Unbewusstem Ausdruck zu verleihen: »Forschungssubjekte nutzen häufig Sprachformen und emotionale wie körperliche Artikulationsweisen, die dem Bereich zwischen Bewusstem und Unbewusstem bzw. zwischen

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Rationalität und Affektivität/Leiblichkeit angehören und liefern damit bedeutsame Anknüpfungspunkte zur Erschließung latenter Sinnschichten« (Abraham 2017a: 468).

Zugleich verweist sie darauf, dass die Forscherin gezielte Angebote machen kann, um solche Äußerungen anzuregen: »[I]m Forschungsprozess können gezielt Angebote gemacht werden, über präverbale Wahrnehmungen und präverbale Ausdrucksformen Erinnerungen und Erzählungen anzuregen bzw. zu vergegenwärtigen« (Abraham 2017a: 468). Bei Gendlin wird das, was sich hier zeigt, nicht nur als Erinnerung verstanden. Er versteht den Felt Sense als implizite Bedeutung, über die sich die Aktualisierungstendenz eines Selbst zeigt. Wird die implizite Bedeutung des Felt Sense expliziert, wird etwas »vorangetragen«. Hierfür verwendet Gendlin den Begriff des »carrying forward« (Gendlin 2004b). In Form einer metaphorischen Beschreibung (»Das ist irgendwie so wie ...«) wird die Sprachbarriere durchbrochen, etwas Neues wird symbolisiert. Mit dem Felt Sense und seinen Veränderungen in Form des Felt Shift wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Strukturgebundenen, wie Gendlin das nennt, und der Aktualisierungstendenz sichtbar. So kann auch rückblickend exploriert werden, wie ein Gegenüber sich in Bezug auf diese Situation als Ganzes fühlt, welche Ambivalenzen spürbar sind, welche Impulse zur Veränderung spürbar werden, was einen davon abhält, diesen Impulsen zu folgen, und was einen dabei unterstützt, den eigenen Entwicklungswünschen Raum zu geben. So können stimmige Bedeutungen und Entwicklungsimpulse jenseits der strukturgebundenen Ordnung erkundet und expliziert werden. Das Potential des Körpers, etwas zu empfinden, was durch die bestehende symbolische Ordnung noch nicht oder zumindest nicht im hegemonialen Diskurs abbildbar ist, wird in der Geschlechterforschung bislang vornehmlich mit Bezug auf queere und transgender Körperpraxen, Seinsweisen und Begehrensrelationen thematisiert. Die Kontingenz der zweigeschlechtlichen Ordnung ist vielfach anhand von Existenzweisen sichtbar gemacht worden, die explizit jenseits des Binären verortet sind (Butler 1991). Auch das einzig uns bekannte Beispiel für eine empirische Untersuchung, die systematisch mit einem ›etwas‹ arbeitet, das in Interviews auftaucht und mit dem das symbolisiert wird, das für die Befragten sprachlich noch schwer zu fassen ist, stammt aus diesem Bereich: Schirmer (2010) verwendet in einer mikrosoziologischen Untersuchung von Praxen des Drag Kinging den Begriff des ›etwas‹ gezielt als Instrument der Analyse der Interviews. Im Material finden sich Momente, »in denen um treffende Bezeichnungen gerungen wird [...] oder in denen in einer Weise von ›es‹ oder ›etwas‹

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gesprochen wird, die keine klare Referenz dieser Verweise impliziert« (Schirmer 2010: 69). Schirmer fasst dieses ›etwas‹ konzeptionell ähnlich wie Gendlin. Sie bezeichnet damit »Grenzbereiche des (möglichen) Wirklichen« und »das, was sich einer begrifflichen Fixierung, einer Repräsentation im ›Wirklichen‹ bzw. als Wirkliches zunächst entzieht, aber dennoch als existent erscheint bzw. erfahren wird« (Schirmer 2010: 69). So wird – wie bei Gendlin – der Blick auf etwas gerichtet, das sich bereits zeigt, ohne schon ganz klar zu sein, das gleichzeitig schwer artikulierbar und bedeutsam ist. Auch Schirmer betont, dass es sich hierbei um ›etwas‹ handelt, das unter bestimmten Bedingungen seinen Weg in die Sprache finden und somit wirklich werden kann. An diesem Beispiel wird deutlich, dass das Neue, noch Unklare, lediglich körperlich Wahrnehmbare auch dann in qualitativen Interviews aufscheinen kann, wenn nicht gezielt danach gefragt wird. Unabhängig von der Methode wird es in vielen Interviews Passagen geben, in denen nach Worten gesucht, gestammelt, innegehalten, etwas gespürt und auch versucht wird, ›etwas‹ zum Ausdruck zu bringen. Schirmer geht solchen Passagen in der Auswertung systematisch nach, das ›etwas‹ wird als »kleines heuristisches Instrument« benutzt (Schirmer 2010: 69), um die Grenzbereiche des Wirklichen in den Blick zu nehmen. Werden Elemente erlebensbezogener Gesprächsführung gezielt im Interview eingesetzt, kann dieses Ausloten des Grenzbereichs von Sagbarem und noch nicht Sagbarem bereits in der Interviewsituation selbst geschehen. Die Aufmerksamkeit, die Schirmer auf »Überschüsse, Ränder und Ausschlussmechanismen dessen, was sich als ›wirklich‹ zu qualifizieren vermag« (Schirmer 2010: 17) lenkt, könnte so auch auf Gespräche mit geschlechtlich eindeutig identifizierten Frauen und Männern übertragen werden. Auch hier kann es um Körperpraxen und Erfahrungen des geschlechtlichen In-der-Welt-Seins gehen, die jenseits des Binären liegen. Da das allerdings weniger offensichtlich ist, besteht hier – im Unterschied zu alternativen geschlechtlichen Seinsweisen – eine Tendenz, vom binären Muster abweichende Erfahrungen, Praxen, Körperstile und Selbstverhältnisse wieder in die binäre symbolische Ordnung einzusortieren. Eindeutig identifizierte Frauen und Männer sind nicht notwendigerweise mit einer expliziten Suchbewegung nach anderen geschlechtlichen Seinsweisen befasst. Insofern bedarf es seitens der interviewführenden Person gerade hier einer besonderen Aufmerksamkeit für Verweise auf das Neue, noch nicht Sagbare.

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2.4 Das Gegenüber zu einer genaueren Erkundung einladen Merkmale des spontan stattfindenden Erlebensbezugs wurden bereits genannt: Das Gespräch gerät ins Stocken, das Gegenüber sucht nach Worten, insgesamt findet eine Entschleunigung statt. Ein weiteres Merkmal ist, dass oftmals zunächst metaphorische Ausdrücke gewählt werden, um das, worum es geht, zu benennen. Das möchten wir an einem Beispiel erläutern. Grundlage ist ein Interview, das ohne expliziten Erlebensbezug geführt wurde (König/Wojahn 2016). Eine Mutter, die einige Tage in der Woche nicht bei ihrer Familie ist, weil sie zu ihrem Arbeitsort pendelt, beschreibt mehrfach, dass sie sich nach dem Wechsel von der Arbeit ins familiäre Umfeld »wie eine Hülle« fühlt. Dieser Ausdruck wird im Interview nicht weiter in seiner genauen Bedeutung für das Frausein im Spannungsfeld zwischen Beruf und Familie erkundet. In einem erlebensbezogenen Interview wäre dies ein Ansatzpunkt für eine erlebensbezogene Exploration. Die befragte Mutter könnte zum Innehalten rund um diesen Begriff »wie eine Hülle« eingeladen werden. Dabei würde allerdings nicht genauer auf das Problem geschaut, sondern auf das Neue, das rund um das Thema Vereinbarkeit für diese Frau von Bedeutung ist. Die Befragte könnte darin begleitet werden, das Thema und all das, was für sie damit zusammenhängt, noch einmal frisch zu formulieren, und zwar so, wie es gerade aktuell für sie relevant ist. Wenn es gelingen würde, einen frischen Felt Sense einzuladen, könnte sich über den Prozess des körperbezogenen Explorierens auch ein Felt Shift einstellen und die Symbolisierung einer ersten Idee dazu, wie es sich verändern könnte, um gut zu sein. 2.5 Den eigenen Sprachgebrauch spezifizieren lassen So wie im TAE kann im Interview immer wieder nach der persönlichen Bedeutung von etwas gefragt werden: »Worum geht es Ihnen in diesem Zusammenhang?« »Was ist das Schwierige für Sie daran?« »Was ist das Besondere für Sie an diesem Thema?« Ein weiteres zentrales Element im TAE ist die Einladung dazu, den eigenen Sprachgebrauch im jeweiligen Kontext, bezogen auf eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Thema oder Problem zu spezifizieren. Das kann im Interview zur Exploration von Schlüsselbegriffen, die immer wieder auftauchen oder wichtigen Ausdrücken, die in Bezug auf einen bestimmten Aspekt verwendet werden, genutzt werden: »Wenn Sie sagen [...], was ist für Sie in diesem speziellen Kontext damit gemeint? Und was ist mit [...] nicht für Sie gemeint?«

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2.6 Widersprüche suchen Im TAE wird das Gegenüber immer wieder aktiv dazu aufgefordert, Widersprüche aufzuspüren und damit ›Denkverbote‹ aufzuheben: »Gibt es etwas an dem, was Sie über ... gesagt haben, das der üblichen Denkweise zu widersprechen scheint?« »Können Sie das, worum es hier für Sie geht, vielleicht in Form eines paradoxen Satzes formulieren?« »Was ist das Schwierige für Sie daran?« Weiterhin wird dazu eingeladen, verschiedene Fallbeispiele für das, worum es geht, zu sammeln, also das Gesagte in Beziehung zu konkreten Erfahrungen zu setzen: »Welche Erfahrungen haben Sie zu diesem Thema gemacht?« »Fällt Ihnen dazu ein konkretes (positives und negatives) Beispiel ein?« »Können Sie das, wie Sie es dort gemacht haben, in einem Satz als Einsicht oder Muster zusammenfassen?« 2.7 Erste Symbolisierungen ergebnisoffen begleiten Die neue Bedeutung von ›etwas‹ am Rande des Gewahrwerdens, wie Rogers (1977) das nennt, für das eigene geschlechtliche Sein ist nicht bereits da und muss nur entschlüsselt/interpretiert/... werden, sondern kann nur von der befragten Person selbst entwickelt werden und entsteht überhaupt erst im Prozess. Es ist eine der Besonderheiten von Gendlins Denken, darauf hinzuweisen. Das ist das Mehr-als-Logische, von dem er spricht. Im Wechselspiel der Bezugnahme auf ›etwas‹ und dem Versuch, es treffend/stimmig zu symbolisieren, wird das explizit, was zwar implizit, aber noch nicht benennbar war. Übertragen auf den Forschungskontext bedeutet das, dass Wissenschaftler*innen einen Raum eröffnen, in dem es den Beforschten möglich ist, sich selbst zu erkunden und Neues zu explizieren. Die Beforschten werden in dieser Erkundung von den Forscher*innen begleitet. Die zugrundeliegende Begleithaltung zeichnet sich dadurch aus, dass die Forscher*innen sich ihrem Gegenüber freundlich und interessiert zuwenden und immer wieder deren Blickwinkel einnehmen. Sie folgt allem, was gesagt wird, empathisch und erkennt es bedingungslos an. In diesem Sinne begleitet sie die Symbolisierung ergebnisoffen.5 Bourdieu denkt methodisch in eine ähnliche Richtung, wenn er die Soziolog*innen als ›Geburtshelfer*innen‹ bezeichnet, die dabei unterstützen, vergrabene Dinge ans Tageslicht zu bringen. Wenn es gelänge, so die Erfahrung Bour-

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Diese Aufforderung der Befragten, ihre eher abstrakten oder verallgemeinernden Aussagen und Formulierungen zu konkretisieren, findet sich auch in bereits etablierten Methoden wieder (Steinert 1998).

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dieus in Das Elend der Welt, durch Wertschätzung und Empathie eine außergewöhnliche Gesprächssituation herzustellen, werde diese von den Befragten als »Selbstanalyse« genutzt. Es sei für sie dann eine »besondere Gelegenheit«, bei der sie »ihre eigene Sichtweise von sich selbst und der Welt« explizieren können und sich Fragen über sich selbst stellen. Im Interview finde dann manchmal »ein klärendes und aufdeckendes Abarbeiten« statt, das »gewinnbringend und schmerzhaft zugleich« sein kann. »Manchmal kamen dabei lange zurückgehaltene und unterdrückte Erfahrungen und Gedanken mit einer unglaublichen Ausdruckskraft zur Sprache« (Bourdieu 1997a: 792). 2.8 Auf nichtsprachliche Ausdrucksformen achten Bourdieu betont im selben Aufsatz, wie wichtig es im Prozess des Verstehens ist, dass die interviewführende Person auch auf nonverbale Ausdrucksweisen achtet: Körperhaltung, Mimik, spontane Bewegungen, Atmung, Blick, Klang der Stimme und andere körperliche Reaktionen des Gegenübers werden aufmerksam wahrgenommen und je nach Kontext offen angesprochen. Auf diese Dimension hat auch Abraham verwiesen. Sie verweist zwar immer wieder auf den Körper als ›sprachlos‹ und nimmt dabei Bezug auf die Phänomenologie, in der davon ausgegangen wird, dass die Leiblichkeit systematisch dem Bewusstsein entzogen ist, »weil der Körper bzw. der Leib in Dimensionen des Lebens und Erlebens hineinreicht, die vor der Sprache liegen« (Abraham 2017a: 457). Eine weitere Facette der Sprachlosigkeit ist damit verbunden, dass der Körper alltagstheoretisch allzu vertraut ist, um zugänglich zu sein und aus »psychoanalytischer Sicht handelt es sich beim Körper um ein Phänomen, das massiven Prozessen der kulturellen Abspaltung, Verdrängung und Tabuisierung ausgesetzt war und ist« (Abraham 2017a: 458). Diese Vorstellungen ›korrigiert‹ sie dann aber, wenn sie auf andere Formen des Ausdrucks verweist, über die der Körper verfügt: »Der Körper ›spricht‹ sehr wohl – wenn auch auf eine andere und ihm eigene Art. Im Hinblick auf Spannung, Temperatur, Herzschlag, Atmung, Hautbeschaffenheit, Schmerz usw. erhalten wir vielfältige Signale vom Körper« (Abraham 2017a: 458). Und diese Signale können im Interview gezielt wahrgenommen und genutzt werden. 2.9 Den eigenen Felt Sense als Erkenntnisquelle nutzen Auch die eigene körperliche Resonanz der forschenden Person auf das, was im Gespräch zum Ausdruck kommt, kann erspürt und eventuell angesprochen werden. Der wichtigste Zugang zu den nichtsprachlichen Ausdrucksformen eines

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Gegenübers ist nach Gendlin der eigene Felt Sense, der im Gespräch entsteht. Wir haben bislang beschrieben, wie ein Gegenüber im erlebensbezogenen Interview dabei unterstützt werden kann, das noch nicht oder schwer Sagbare rund um das Thema Geschlecht-Sein zu entfalten. Hinzuzufügen ist nun, dass bei diesem Vorgehen der Körper der interviewführenden Person selbst eine bedeutende Rolle spielt. Die begleitende Person arbeitet vor, während und nach dem Interview mit ihrem eigenen Felt Sense. Wir gehen davon aus, dass erfahrene Forscher*innen ihren Felt Sense in dieser Weise in der Arbeit mit Interviews nutzen, auch wenn das methodisch nicht expliziert wird. Vieles, was als ›Gefühl für ...‹ umschrieben wird, basiert unseres Erachtens nach auf Methoden der Selbstbezugnahme, die dem ähneln, was im Focusing beschrieben wird. Durch die Bezugnahme auf den Körper als Erkenntnisquelle ist das erlebensbezogene Vorgehen auch für aktuelle Überlegungen der Körpersoziologie interessant, die den Leib nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Instrument der Forschung versteht und deshalb von »verkörperter Soziologie« und »Körper als Erkenntnissubjekt« spricht (Abraham 2017a, 2002; Gugutzer 2017, 2012). Das betont Abraham bereits 2002, wenn sie von der »soziologischen Relevanz leiblicher Wahrnehmung und leiblichen Erkennens« spricht (Abraham 2002: 188), und Gugutzer und andere gehen davon aus, dass die Leiblichkeit des*der Soziolog*in den soziologischen Forschungsalltag prägt (Gugutzer 2012; Gugutzer/Klein/Meuser 2017 Band I und II). Gendlin stellt ein spezielles Instrumentarium zur systematischen Einbeziehung des Körpers der forschenden Person zur Verfügung und er führt in seinem gesamten Werk vor, wie es auf diese Weise in der Wissenschaft möglich wird, auch vom Körper her zu denken. Übertragen auf eine Interviewsituation bedeutet das, hier sind immer (mindestens) zwei Körper anwesend, und in jedem Körper kann ein Felt Sense in Bezug auf das Thema und die Situation des Interviews entstehen. Letztendlich lässt sich diese Haltung, die der psychoanalytischen »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« ähnelt, auf die auch Abraham Bezug nimmt, nur durch Übung erlernen. Wir gehen davon aus, dass eine Vielzahl von Interviewer*innen das eigenleibliche Empfinden bereits implizit im Interview nutzt. Mit Gendlin ist es möglich, diese Vorgehensweise zu explizieren. Während des Interviews kann der Felt Sense der Interviewer*innen dazu dienen, Momente zu identifizieren, bei denen im Gespräch innegehalten wird und das Gegenüber zu einer Erkundung eines Themas, eines Begriffs, ... eingeladen wird. Auch im Nachhinein können Aspekte des Interviews ausgehend von einem Felt Sense vertiefend exploriert werden.

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2.10 Die Stimmigkeit der Symbolisierung immer wieder überprüfen Die Stimmigkeit der jeweiligen Symbolisierung für einen Felt Sense kann nur von der jeweiligen Person, die diese Symbolisierung vorgenommen hat, selbst überprüft und bestätigt werden. Im Focusing wird die Stimmigkeit einer Symbolisierung mit Bezug auf das eigene Erleben überprüft. Wenn es eine Kongruenz von Körpererleben und Symbolisierung gibt, ist etwas zu spüren, das Gendlin als Felt Shift bezeichnet, ein körperliches »Ja, so ist es!«, das auch oft mit von außen sichtbaren Reaktionen wie Ausatmen, Entspannen, Lächeln, einem Loslassen des gesamten Körpers verbunden ist. So kann auch im Interview überprüft werden, ob das, was gesagt wurde, wirklich ›stimmt‹ und dem subjektiven Erleben des Gegenübers entspricht.

3. F AZIT : J ENSEITS BESTEHENDER O RDNUNGEN UND V IELFALT SPÜREN

DENKEN

Wir schlagen also vor, auf der Grundlage von Gendlins Philosophie und Praxis mit Elementen erlebensbezogener Gesprächsführung in Untersuchungen von Körper und Geschlecht auf die Ebene des Leibes, genauer: auf die Dimension des Erlebens Bezug zu nehmen. Wir möchten damit neue Existenzweisen sichtbar machen, die jenseits stereotyper binärer Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit gelebt oder zumindest gewünscht werden. Wenn wir danach fragen, wie diese Veränderungen im Denken, Handeln und Fühlen sowie in den Selbstverhältnissen erlebt und gespürt werden, dann mit dem Ziel, diese neuen Existenzweisen besser zu verstehen. Damit schließen wir an Bourdieus Konzept des Verstehenden Interviews an, so wie er es in seinem Spätwerk entwickelt hat (Bourdieu 1997a; Schultheis/Schulz 2005; Jäger/König/Maihofer 2012). Bourdieu geht davon aus, dass diejenigen, die eine bestimmte soziale Position einnehmen, in gewisser Weise am besten Auskunft über diese Situation geben können, auch wenn sie nichts im sozialwissenschaftlichen Sinn darüber ›wissen‹: »Die realen Ursachen ihres Missbehagens oder ihrer Unzufriedenheit [...] können nur dann bewusst und damit auch explizit gemacht werden, wenn daran gearbeitet wird, die vergrabenen Dinge in jenen ans Tageslicht zu bringen, die diese Dinge erleben, aber nichts darüber wissen, andererseits jedoch mehr darüber wissen als irgend jemand sonst« (Bourdieu 1997a: 796).

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Das Ziel einer erlebensbezogenen Interviewführung ist es, die Interviewten dabei zu begleiten, etwas noch nicht oder schwer sagbares Neues zu erkunden und zum Ausdruck zu bringen. Dabei kann es sich um etwas rund um das Thema ›Geschlecht‹ (Frau sein/Mann sein/... sein) handeln, es kann aber auch um andere Kategorien sozialer Ordnung gehen. Wenn sich im Interview ›Etwas‹ (Implizites, Körperliches) am Rande des Gewahrwerdens zeigt, kann dies von der interviewführenden Person wahrgenommen werden. Das gilt besonders dann, wenn die interviewführende Person ihren Körper als Erkenntnisquelle versteht und Zugang zu ihrem eigenen Erleben während des Interviews – und danach – hat. Die interviewführende Person kann darüber hinaus das Entstehen eines ›Etwas‹ in Bezug auf ein bestimmtes Thema – zum Beispiel Frau sein/Mann sein in einer bestimmten Situation – gezielt einladen, indem sie ihr Gegenüber dabei begleitet und unterstützt, an bestimmten Stellen innezuhalten und die Aufmerksamkeit auf das eigene Erleben in Bezug auf diese Situation, dieses Thema zu richten, so wie es im Hier und Jetzt spürbar wird. So wird es bereits im Interview möglich, das noch Unklare, Neue sprachlich zu fassen. Die Befragten bringen in frischen Formulierungen dann genau das zum Ausdruck, was – körperlich – als stimmig erlebt wird. So wird beschreibbar, wie Geschlecht auf der leiblichen Ebene erfahren wird und welche Widersprüche zwischen hegemonialen Vorstellungen von Geschlecht und eigenen Wünschen, Praktiken und Erfahrungen bestehen, vielleicht auch erst am Rande des Gewahrwerdens. Dieses ›Etwas‹ kann seinen sprachlichen Ausdruck finden. Ob und wie es das tut, ist je unterschiedlich. Die zentrale Aufgabe der Interpretation durch die Wissenschaft besteht unserer Ansicht nach darin, im Anschluss an das Interview das, was sich im Interview gezeigt hat, in den Kontext des »fundierten Vorabwissens« (Bourdieu 1997a: 788) zu stellen und so das Strukturelle oder auch Allgemeine des Individuellen und je Einzigartigen herauszuarbeiten. Angeleitet ist diese Analyse des Materials von der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für neue Aspekte von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen. So hat Schirmer bei den beschriebenen geschlechtlichen Existenzweisen des Drag Kinging gezeigt, dass dies von vielen Faktoren abhängig ist, die situativ und kontextuell bedeutsam sind. Ähnlich wie bei Schirmer geht es grundsätzlich darum, »den Bewegungen dieses ›etwas‹ nachzugehen – zu versuchen zu verstehen, wie es zur Existenz kommt (und zu welcher); ob es Formen der Repräsentation findet (und wenn ja, welche); ob es die Qualität des ›Wirklichen‹ annimmt (und wenn ja, für wen, auf welche Weise, mit welcher Stabilität)« (Schirmer 2010: 70). In diesem Zusammenhang wäre nach Schirmer zu untersuchen,

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»ob, wo und wie sich in den Ritzen und an den Rändern einer zunächst zweigeschlechtlich strukturierten ›Alltäglichkeit‹ Praxen, Selbstverhältnisse und Bezugnahmen ausmachen lassen, in denen sich ein anderes Verständnis von Geschlecht abzeichnet – und unter welchen Bedingungen dieses ›Andere‹ tatsächlich einen Unterschied zu machen vermag« (Schirmer 2010: 411).

Unsere Anregungen, Geschlecht erlebensbezogen zu erforschen, richten sich an diejenigen, denen es ein Anliegen ist, bereits gelebte und vielleicht noch nicht gelebte Möglichkeiten sichtbar zu machen, Geschlecht anders zu gestalten. Diese Überlegungen sind work in progress. Zukünftig gilt es, vor allem in Bezug auf konkretes Material, das auf diese Weise erzeugt wird, kritisch zu reflektieren, welche Möglichkeiten und Grenzen es für den Einsatz von erlebensbezogenen Interviews gibt und welche neuen Fragen und Perspektiven auftauchen, wenn vom Erleben aus auf (aktuelle Veränderungen der) Geschlechterordnungen geschaut wird. Klar scheint uns allerdings schon jetzt, dass es mit Gendlin und erlebensbezogenem Forschen möglich wird, den sozialwissenschaftlichen Blick von der binären Ordnung zu lösen. Statt im Erleben zum Beispiel lediglich Enge oder Weite zu finden und diese binäre Struktur dann wiederum weiblich oder männlich zu konnotieren, wird der Blick auf die Vielfalt des sich materialisierenden Erlebens gerichtet – die so groß sein kann, dass Geschlecht in seiner binären Struktur darin verschwindet. Ein gutes Beispiel dafür, was mit einem in ähnlicher Weise geweiteten Blick sichtbar werden kann, stellt Kinseys umfangreiche Untersuchung zu Sexualität in den USA der 1950er Jahren dar, in der vor dem Hintergrund einer überraschenden Bandbreite an sexuellen Praktiken, Präferenzen und Orientierungen eine Kategorisierung der Bevölkerung in Homo- und Heterosexuelle am Ende kaum noch Sinn ergibt (Kinsey/Pomeroy/ Clyde 1967). Ein Ergebnis von erlebensbezogenem Forschen zu Geschlecht könnte dementsprechend sein, dass Frau sein und Mann sein im Erleben so vielfältig ist, dass sich andere Cluster ergeben als ›Frauen‹ und ›Männer‹. Wie diese Cluster genau aussehen und ob/wie sich die verschiedenen Differenzkategorien darin überschneiden, muss zukünftige Forschung zeigen. Kurz: Gendlin stellt mit seiner Theorie und Praxis des Impliziten ein Werkzeug zur Verfügung, das es erlaubt, jenseits des Binären zu denken. Anders zu denken. Uns in der Vielfalt zu spüren. Und es ist offen, welche Muster sich dann abzeichnen. Der Bezug auf Methoden der Gesprächsführung aus Therapie und Beratung ist in sozialwissenschaftlichen Kontexten nicht unumstritten. Ein Einwand lautet, dass hier zu stark die affektive Ebene angesprochen werde (Helfferich 2004). Anke Abraham hat diese Einwände, Ängste und Abwehrmechanismen innerhalb der Sozialwissenschaften offensichtlich gekannt. Denn sie betont am Ende ihres

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Beitrags zum Handbuch Körpersoziologie zum Thema ›Sprechen‹, der Einsatz dieser Methoden bedeute nicht, dass Sozialwissenschaft zur Psychoanalyse werde. Es müsse weder deren Vokabular noch deren Deutungstradition übernommen werden. »Die hier vorgestellten methodischen Vorgehensweisen können und sollen vielmehr dazu dienen, den Körper und das Phänomen des Leib-Seins in seinen durch soziale Konstruktionsprozesse hervorgerufenen ›Verkörperungen‹, Gestaltungen, Effekten und Verweisungen auf Soziales zu erschließen – wobei diese sozialen und kulturellen Verweisungen immer auch in Daseinsbereiche hineinreichen und sie strukturieren, die vor der Sprache und vor dem Bewusstsein liegen« (Abraham 2017a: 469).

Die Ausgrenzung des Affektiven kann aus der Perspektive der Geschlechterforschung noch einmal anders problematisiert werden. Versteht man Geschlecht als Existenzweise (Maihofer 1995), ist davon auszugehen, dass die Dimension des Fühlens konstitutiv für geschlechtliche Selbstverhältnisse ist. Dementsprechend ist es bei deren Erforschung in qualitativen Interviews sehr wahrscheinlich, dass emotional ›etwas aufgerührt‹ wird, wie Helfferich das nennt. So gesehen kann es auch ein ethisches Problem sein, auf diese Reaktionen nicht einzugehen und das Gegenüber damit allein zu lassen. Bourdieu spricht in Bezug auf diese Haltung der Soziolog*innen von symbolischer Gewalt (Bourdieu 1997a). Eine abstinente Haltung der interviewführenden Person kann als Desinteresse wahrgenommen, im schlimmsten Fall als verletzend empfunden werden. Und es kann sein, dass Befragte sich verschließen, wenn jemand ihnen so begegnet. Besonders dann, wenn gleichzeitig die Einladung ausgesprochen wird, das Gegenüber möchte doch bitte ganz offen über sich, das Leben als Frau, als Mann, als Trans und über damit verbundene, oftmals intime oder persönliche Themen sprechen. Zumindest ist es so eher unwahrscheinlich, dass ein Gegenüber das anspricht, was widersprüchlich oder noch nicht ganz klar ist. Unklare Impulse, Veränderungswünsche, Abweichungen von hegemonialen Vorstellungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit und somit Aspekte des Wandels bleiben so eher unausgesprochen.

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Eine umfangreiche Zusammenstellung von Gendlins philosophischen und psychologischen Schriften findet sich allgemein zugänglich in der Gendlin Online Library des International Focusing Institutes unter http://www.focusing.org/ gendlin/.

Soma Studies: Entwurf einer Theorie zur körperlichen Materialität B ETTINA W UTTIG

E INLEITUNG »Wie [müssen] soziologische Theorien beschaffen sein, wie [muss] soziologisches Denken erweitert [werden], um der Tatsache Rechnung tragen zu können, dass Akteure sozialen Handelns oder Interagierens mit einem Körper in einem materiellen Sinne ausgestattet sind?« (ABRAHAM/MÜLLER 2010A: 10)

Soma Studies sind eine geistes- und sozialwissenschaftliche Theorie von der körperlichen Materialität. Diese beschäftigt sich aus normierungskritischer Perspektive mit der Einbindung des Körpers in Sozialität, und bringt dabei diskurstheoretische, körpersoziologische, (queer-)phänomenologische Ansätze sowie (neu-)materialistische und kritisch-lebenswissenschaftliche Epistemologien in Anschlag. Während poststrukturalistische Körpertheorien Assoziationen wie auch Kritik(-en) des Körpers als passive Einschreibungsfläche von Macht, Sozialität, Diskursen hervorbrachten, gehen Theorien der Einkörperung und Verkörperung des Sozialen von einer Eigensinnigkeit des Körpers aus, sowie von einer prozesshaften Formierung des materiellen und empfundenen Körpers uno actu gesellschaftlicher Normen, Verhältnisse, Bedingungen. Soma Studies speisen sich aus den Rezeptionen wie auch den Kritiken an poststrukturalistischen und anthropologischen Körperkonzepten und schließen sich insbesondere neumaterialistischen Denkbewegungen an. Sie greifen die Frage (wieder) auf, wie das (Körper-)Subjekt im Kontext von Sozialität und in Bezug auf eine Widerständigkeit, die sich auch aus einer eigensinnigen Dimension des Physischen ableitet, jeweils gedacht werden kann. Sie stellen diese Frage vor dem Hintergrund

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einer theoretischen Ausrichtung, innerhalb derselben Subjektivierung als den Körper (auch) in seiner Materialität formierender Prozess fassbar wird; und Widerständigkeit in einer Liminalität des Körperlichen liegen kann, die gegen Zumutungen aufbegehrt, vor dem Hintergrund eines Verständnisses, das den Körper nicht vollends im Diskursiven, Sozialen aufgehen lässt, sondern gerade in der somatischen Dimension und in den Möglichkeiten, über diese zu reflektieren, einen Ankerpunkt für Absetzungen gegenüber zusetzenden kulturellen Praktiken setzt. Über eine somatische Dimension zu reflektieren, die in soziale Prozesse nicht nur eingebunden ist, sondern selbst ›agiert‹ – im Sinne eines SichSperren gegen Zumutungen, sich verletzlich zeigen, sich entziehen, mithin auch im Sinne einer eigenen Intensität und Energie – bedarf meines Erachtens eines, wenn auch kritischen, Aufgreifens lebenswissenschaftlicher Konzeptionen und Denkhorizonte, die ›eine Sprache des Somatischen‹ sprechen. Salopp: Allein in soziologischen Begriffen lässt sich nicht über Organe, Blut, Nerven, Faszien usw. nachdenken. Es lässt sich immer nur die Seite der sozialen Orchestrierung des Körpers denken. Darüber findet aber genau jene Kolonialisierung des Körpers statt, die insbesondere die Körpersoziologe kennzeichnen und machtkritisch herausarbeiten möchte.1 Es ist völlig klar, dass auch lebenswissenschaftliche Begrifflichkeiten und Körperkonzepte, die die Funktionalität des somatischen Betonen – sich also einer Sprache der somatics (Hanna 1995) bedienen – nichts weiter sind als Perspektiven und Theorien. Sie produzieren keine ›Wahrheit‹ über den Körper. Dennoch trägt ihre Verwendung meines Erachtens zu einer umfassenderen Betrachtung der Kräfte und Verletzbarkeiten, die aus einer somatischen Materialität der Existenz (ob diese nun menschlich, tierisch, android ist, und ob man diese Unterscheidung überhaupt vorrausetzungslos treffen will, sei hier offen gelassen) herrühren, bei. Dabei scheinen lebenswissenschaftliche Konzepte durchaus anschlussfähig an eine im weitesten Sinnen kritischsoziologische Theorie vom Körper zu sein. In Bezug auf die Debatte um die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit zeigen sogar biologische Wissensproduktionen den Konservatismus der Sozialwissenschaften auf. Während in der Biologie nicht mehr ungebrochen von einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen wird, scheint sich die Theorie einer präfigurativen Zweigeschlechtlichkeit besonders in der Entwicklungspsychologie, als Teilbereich sozialwissen-

1

Zu den Aporien der körpersoziologischen Theoriebildungen in Bezug auf die Reproduktion eines impliziten Geist-Körper-Dualismus im affirmativen Rekurs auf die philosophische Anthropologie Helmuth Plessner siehe Wuttig 2014. Diese Debatte kann hier in dieser Ausführlichkeit nicht wiederholt werden.

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schaftlicher Forschung hartnäckig zu halten (vgl. Voss 2011; Wagel 2013; Wuttig 2014). Um ein umfassenderes Bild davon zu bekommen, wie Sozialität und Körperlichkeit, auch und besonders im Zuge zunehmender Digitalisierung und Technologisierung von Körpern einander bedingen, richtet sich die Genderforschung seit einigen Jahren transdisziplinär aus. Unter den Label New Materialisms, Feminist Neuro Cultures und/oder Science and Technology Studies (STS) firmieren Denkrichtungen, die sich um eine systematische Vermittlung zwischen Naturund Technikwissenschaften einerseits und Sozial- und Geisteswissenschaften andererseits bemühen. Als Brückenwissenschaften lockern sie die in der soziologischen wie der bildungstheoretischen Diskussion lange Zeit währenden Rezeptionssperren gegenüber naturwissenschaftlicher Konzeptionen. Soma Studies verstehen sich als eine gender-, differenz- und machtanalytische Brückenwissenschaft. In diesem Beitrag wird das Verhältnis von Sozialität bzw. Diskursivität und dem Körper vor dem Hintergrund des poststrukturalistischen Verständnisses von Judith Butler, der materialistischen Körperkonzepte von Friedrich Nietzsche (1988, 1988a, 1993, 1999, 2006, 2007) und Gilles Deleuze/Felix Guattari (2002) sowie angesichts aktueller neurowissenschaftlicher Theorien zu (Neuro-)Plastizität (nicht nur) des Gehirns herausgearbeitet. Dies geschieht vor dem Hintergrund der These, dass die Eigensinnigkeit von Körpern, fassbar als somatische Dimension, entlang ihrer sozialen Durchdringung in den Mittelpunkt geraten kann, und so der Blick frei wird für das Anerkennen von körperlicher Materialität in ihrem sozialen, stets brüchigen Geworden-Sein und ihrem politischwiderständigen Potential (vgl. Wuttig 2016; Abraham 2010). Das Verhältnis von körperlicher Materialität zur Sozialität wird so womöglich neu justiert; nicht zuletzt, indem somatische Eigenlogiken vorstellbar werden, die sich den Anrufungen und Zumutungen auch zu entziehen vermögen bzw. sich immer bereits entziehen. Fragen, die die Soma Studies begleiten, sind: Wie kann körperliche Materialität (neu) gedacht werden, ohne den Körper zu essentialisieren? Wie lässt sich erklären, wie genau Sozialität sich einverleibt? Wie bekommt man einen möglichen Körpereigensinn zu fassen? Weiter sollen hier also Grundlegungen der Soma Studies (Wuttig 2014, 2016) anhand der hier genannten Argumentationslinien dargelegt und die Suche nach theoretischen Positionen, die es möglich machen, einen anti-essentialistischen und zugleich materiellen und gegebenen Körper – als genealogischen Körper – zu denken, anhand der Theorien von der Neuroplastizität des Gehirns fortgeführt werden. Bezugspunkt in der Klärung ist das Verhältnis von Sozialität, körperlicher Materialität und Natur. Dies soll exemplarisch anhand der Frage, wie aus einem Menschen ein Geschlechtssubjekt wird, geklärt werden. Kurz:

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Wie kommt Geschlecht (als soziale Kategorie) in die Körper? (vgl. Wuttig 2014: 20). Natur ist dabei ein umstrittener Topos. Er ist besonders anfällig für (Re-)Essentialisierungen. Aller diesbezüglichen Warnung zum Trotz wird dieser Beitrag sich von dem philosophischen Gespür Anke Abrahams (2010) leiten lassen, in dessen Horizont eine technologie- und optimierungskritische Skepsis vor einer Desavouierung des Topos Natur warnt (vgl. Abraham 2008, s.u.). Denn: Wie lässt sich sonst eine mögliche Verletzbarkeit entlang, mit und gegenüber technologischen, kriegerischen, gewaltsamen Eingriffen reklamieren, wenn nicht von einer genealogischen (keiner deterministischen) ›Natur des Menschen‹ ausgegangen wird? Kann also die Dimension Natur als stets eingebunden und verwoben in soziale Prozesse als Fluchtpunkt eines Werdens in Anspruch genommen werden? Die folgenden, die Soma Studies begründenden Denkbewegungen, navigieren in groben Zügen von Aspekten der Theoriebildungen des performative turn zum new materialist turn, um von dort aus an neurowissenschaftliche Wissensproduktionen anzuknüpfen. Diese Nachzeichnungen sind nicht zuletzt von der Idee geleitet, die mögliche Bedeutung der Soma Studies für eine sozialwissenschaftliche Theoriebildung zu körperlicher Materialität einzuschätzen.

P ERFORMATIVE

TURN

Eine der Fragen, die die Genderforschung antrieb und antreibt, die in Anlehnung an Simone de Beauvoir (2007) etwa so lautet: Wie wird man zur ›Frau‹ (oder zu einem ›Mann‹), wenn man nicht als solche(r) zur Welt kommt?, wurde seit dem performative turn in den 1990er Jahren vor allem vor dem Hintergrund der Performativitätstheorie Judith Butlers (insbesondere 1990, 1997) diskurstheoretisch untersucht. Sozialisationstheorien gingen von einer Unterscheidung in sex = biologisches Geschlecht und gender = sozial hergestelltes Geschlecht aus, und dachten sex als zwei biologisch determinante physiologisch und phänotypisch voneinander komplementär unterschiedene Geschlechter,2 die zudem unterschiedliche Funktionen aufweisen (z.B. die Fähigkeit Kinder zu gebären einerseits und Kinder zu zeugen anderseits); der performative turn hingegen zielte in der Geschlechterforschung darauf ab, dass sowohl gender als auch sex sprach-

2

In Wuttig 2014, 2016 habe ich im Rekurs auf eine historische Geschlechterforschung ausführlich nachgezeichnet, dass die Rationalität eines Zwei-Geschlecht-Modells eine relativ neue Erscheinung ist, die sich erst mit Beginn der Verbreitung schulmedizinischen Wissens im 18. Jahrhundert durchzusetzen begann. Diese Debatte kann hier nicht wiederholt werden.

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lich, d.h. über sich wiederholende diskursive Praxen kontingent als ein Zeichensystem der Zweigeschlechtlichkeit hervorgebracht werden. Das bedeutet, nicht nur Erziehungspraktiken oder die soziale Situation (de Beauvoir)3 – also eine die Existenz in ihrem Empfinden und Verhalten konfigurierende soziale Matrix – machen aus biologisch-determinierten unterschiedlichen zwei Geschlechtern additiv Menschen mit sogenannten geschlechtsspezifischen Eigenschaften (Vorlieben, Fähigkeiten, Lebensorientierungen, Verhaltensweisen), sondern bereits die Idee, es gäbe (nur) zwei inkommensurable biologisch voneinander zu unterscheidende Geschlechter entspreche einer diskursiven Rationalität, die Butler (1990, 1997, 2009) als zwangsheterosexuelle Matrix bezeichnet. Butler postuliert eine diskursive Rationalität als a priori, welche die Wahrnehmungsschemata der Einzelnen lenkt, eine soziale Wirklichkeit, die eine als natürlich erscheinende Zweigeschlechtlichkeit samt heterosexueller Begehrensmodi – und damit alle anderen Formen der Existenz als nicht lesbar, randständig, abseitig, prekär – orchestriert. Genau diese Orchestrierung all derjenigen als abseitig, die sich nicht zu einem Geschlecht zuordnen können oder wollen, bzw. sich nicht in heterosexuellen Begehrensweisen wiederfinden, bestätigen die heterosexuelle (Wahrnehmungs-)Matrix als eine Art stumme Sakralisierung (Foucault 1999) der sozialen Ordnung. Sie erscheint als natürlich, bzw. wirkt über ihre beständige Wiederholung (iterative Sprechakte, Körperakte) als glaubwürdig, unausweichlich, alternativlos. Butlers philosophisches Gerüst entspricht einer Ontologie der Vielheit des Subjekts, die sich auf eine Weiterführung der derridaischen Philosophie der Differenz, die »an indefinite number of sexes« beinhaltet (Derrida zit. n. Nagl-Docekal 2001: 50, eig. Herv.) aufsetzt. Die diskursive Praxis der performativen Wiederholung von Zweigeschlechtlichkeit stellt hier einen Zwang dar, der darin besteht, dass das Subjekt sich, um anerkannt zu sein, entsprechend der dominanten diskursiven Schemata zu erkennen geben muss, d.h. eine kohärente geschlechtliche Identität (per-)formieren soll. Diese Unterwerfung unter das System der Zweigeschlechtlichkeit ermöglicht dem Subjekt erst, als zurechenbares Subjekt anerkannt zu sein. Werdung und Unterwerfung fallen im Begriff der Subjektivierung (franz. assujettissement) (vgl. Butler 2007: 34) zusam-

3

Bei de Beauvoir (2007) sind es insbesondere die sozialen Situationen umfassender sozialer Bedingungen und Gefüge, die dem Individuum sein Geschlecht zuweisen: »Es gibt keinen Menschen, der nicht sexuell bestimmt ist; das Geschlecht kommt dem Menschen als notwendiges Attribut zu. Aber das anatomische Geschlecht ist nicht Ursache der Geschlechtsidentität, und die Geschlechtsidentität lässt sich nicht als Widerspiegelung oder als Ausdruck des Geschlechts verstehen.« (de Beauvoir zit. n. Butler 1990: 166).

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men. ›Der Preis, den das Subjekt (dafür) zahlt‹, ist seine Vielschichtigkeit, die Möglichkeit, verschiedene Identifikationen und die Verschränkungen dieser Identifikationen zu leben. Theatralisch gesprochen: Gleich einem Akt nahezu unmerklicher Grausamkeit geht es gegen sich selbst vor, um in der Welt anerkanntermaßen zu sein. Bei Butler heißt es: »Das Beharren auf kohärenter Identität als einem Ausgangspunkt setzt voraus, dass schon bekannt, schon festgelegt ist, was ein Subjekt ist, und dass jenes vorgefertigte ›Subjekt‹ die Welt betreten kann, um seinen Platz neu auszuhandeln. Wenn allerdings das gleiche Subjekt seine Kohärenz auf Kosten der eigenen Vielschichtigkeit herstellt, den Verschränkungen und Identifizierungen, aus denen es sich zusammensetzt, dann schließt jenes Subjekt anfechtende Verbindungen, die sein eigenes Wirkungsfeld demokratisieren könnten, vorab aus. [...] Denn sie [die Reformulierung des Subjekts, B.W.] berührt die Frage der stillschweigenden Grausamkeiten, die eine kohärente Identität aufrechterhalten, Grausamkeiten, die Grausamkeit gegen sich selbst ebenfalls einschließen, die Demütigung, durch die Kohärenz fiktiv erzeugt und gewahrt wird.« (Butler 1997: 165)

Wie ist nun diese Ontologie der Vielschichtigkeit mit Blick auf das Somatische vorstellbar? Und wie kann man diese Form der Grausamkeit fassen, mit der das Subjekt (auch) gegen sich selbst vorgeht?

K ÖRPERLICHE M ATERIALITÄT Eine bedeutende Rolle in der performativen Hervorbringung von Zweigeschlechtlichkeit spielt bei Butler der Körper bzw. körperliche Materialität. Dadurch, dass Butler den Körper als diskursiv hervorgebrachte Materialität reklamiert, bzw. körperliche Materialität in ihrer Diskursivität betont, wenn sie mit Bezug auf Louis Althusser darlegt, dass der Sprechakt (bspw. immer wieder als Junge oder Mädchen und nicht bspw. als ›Lesbe‹ angerufen zu werden) selbst ganz und gar körperlich ist, also sprachliches Ereignis und körperliche Materialität in eins fallen, kann sie plausibilisieren wieso Natur keine die soziale Dimensionen bestimmende Variable sein kann (vgl. dazu besonders Butler 1990, 1997, 1998; Wuttig 2016). Körperliche Materialität, Körper in ihrer physiologischen Gegebenheit, haben nicht nur keine Bedeutung und Aussagekraft aus sich heraus, sie sind diskursiv geformte Materialität selbst, da Form (Formierung) und Materie bei Butler allzeit koextensiv sind (vgl. Wuttig 2016). Soll heißen: Körperliche Materialität geht in dieser Perspektive in der sprachlichen Dimension auf. So reagiert sie bspw. auf Foucaults affirmative Nietzsche-Rezeption: »Wie

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prägen sich dem Leib die Ereignisse ein?« (Foucault zit. n. Butler 1997: 191) mit einem Naturalisierungsvorwurf an die Adresse Foucaults: Diese Redewendung lege einen materiellen Leib als dem Diskurs vorgängig nahe (vgl. Butler 1997: 192). Allerdings lässt sich fragen: Wie kann etwas, das ich anfassen kann, das sogar von selbst schwitzt, das ›rot werden kann‹, das ich empfinde, das andere anfassen können, das man aufschneiden kann, das bestimmte Fähigkeiten hat und andere nicht (so z.B. in vielen Fällen laufen, fliegen aber nicht, usw.) in der sprachlichen Dimension aufgehen? Oder anders gesagt: Wie kann diese hier vermutete somatische Dimension wissens-rekonstruktiv gefasst werden, ohne den Körper mit Bedeutungen auszustatten, die das Subjekt essentialisieren? Denn: Ist es nicht gerade eine immer auch somatisch verfasste Vielschichtigkeit des Subjekts, die es diskursiv hervorgebrachte Normen als Unbehagen empfinden lässt? Trifft die Grausamkeit von der Butler spricht (s.o.) nicht tatsächlich auf eine immer auch somatische Vielschichtigkeit? Und lässt sich Widerspenstigkeit angesichts der Kohärenz evozierenden Grausamkeit dann nicht, und vor allem, als eine somatische Widerständigkeit denken? Darauf lassen sich bei Butler selbst Hinweise finden – auch wenn diese sich zu anderen Postulaten antinomisch verhalten (vgl. ausführlich dazu Wuttig 2014, 2016). Beispielhaft hierfür ist ihre Aussage: »Bodies never quite comply with the norms by which materialisation is compelled« (Butler 1997: 2, eig. Herv.). Hier scheinen es nun die Körper selbst zu sein, die sich der Materialisierung von Zwängen entziehen. Wie kann man diese Dynamik aber genau verstehen, ohne das Subjekt erneut in einen zweigeschlechtlichen ›natürlichen‹ Körper einerseits und eine kulturelle Sozialisation andererseits zu spalten? Und vor allem ohne Natur selbst zu desavouieren. In dem Moment, wo angenommen wird, dass ein ganz und gar fleischloses Subjekt der Sprache von einer Grausamkeit heimgesucht wird, läuft jede politische Intervention zur Vermeidung der Grausamkeit ins Leere. Was hätte es für einen Sinn, ein blutleeres, sich in den endlosen Zirkeln der Rationalität subjektivierendes Selbst zu rehabilitieren, wenn es nicht an einen Topos gebunden ist, der es Schmerzen empfinden und leiden lässt, von dem aus ein Schrei aus einem physisch verfassten Körper abgesetzt werden kann. Soma Studies folgen also insoweit den Geschlecht dekonstruierenden Ausführungen Butlers, wo machtvolle diskursive Praxen den Möglichkeitsraum des Subjekts einengen und suchen darüber hinaus zu ergründen, wie es denn genau zu einer Materialisierung des somatisch verfassten Subjekts als Prozess kommt, der dasselbe Subjekt (immer wieder) heimsucht. Damit dies möglich ist, muss erstens der Körper in seiner Materialität als gegeben und zugleich durch soziale Prozesse werdend verstanden werden, und zweitens wird gefragt, was unter dem

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Körper bzw. unter einer somatischen Dimension genau zu verstehen ist. Hierfür bieten die vitalistischen Philosophien Friedrich Nietzsches und von Gilles Deleuze/Felix Guattari (2002) als Spielarten eines materialist turn einen Anknüpfungspunkt.

M ATERIALIST

TURN

»Ich halte es für keine gute Idee, den Topos Natur zu desavouieren.« (Anke Abraham4)

Materialist turn5 heißt in Bezug auf körperliche Materialität, den Körper im Spannungsfeld von ›gegeben sein‹ und zugleich ›durch soziale Prozesse werdend‹ zu sehen (vgl. Coole/Frost 2010: 3ff.). In der vitalistischen Philosophie nietzscheanischer oder deleuzianischer Prägung bedeutet das, Materialisierung von sozialen Ordnungen als prozesshaft, kontingent, unberechenbar und unterbrechbar zu verstehen (vgl. Wuttig 2014: 286ff.). Materialisierung der sozialen Ordnung wird hier als wechselseitiges Durchdringungsverhältnis von Körper und Sozialität verstanden. Ähnlich eines Möbiusstreifen sind physiologische Prozesse dabei mit sozialen Prozessen ineinander verhakt und bedingen einander (vgl. Grosz 1994). Bei Nietzsche (1988, 1988a, 1993, 1999, 2006, 2007) wie bei Deleuze/Guattari (2002) ist der Körper nicht als singuläre Entität sondern als Vielheit, als amorphe Kräfte und Intensitäten konzipiert (vgl. Wuttig 2016). Das bedeutet der Leib6 wird nicht als Träger eines ipso naturalis kohärent verfassten

4

Vortragsmitschrift: Tagung Körperdiskurse. Institut für Sportwissenschaften und Motologie der Philipps-Universität Marburg, 2008.

5

Der materialist turn ist assoziiert mit den feminist new materialisms. Diese stellen eine heterogene Denkbewegung dar. Nicht immer steht der Körper im Mittelpunkt der Überlegungen, einmal ist es eher Natur (Coole/Frost), ein anderes Mal posthumane Körper (Braidotti) oder Mensch-Maschine-Relationen (Haraway), bzw. quantenphysikalisch inspirierte onto-epistemologische Perspektiven auf Identität oder der Entwurf einer queer-phänomenologischen Theorie machtinformierter Orientierungsprozesse (Ahmed).

6

Nietzsche unterscheidet in seiner Philosophie nicht zwischen Körper und Leib, wie die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts. Er spricht meist von Leib und meint eine physiologische Dimension, die z.B. Nerven miteinschließt, die aber auch eigenempfindungsfähig ist, z.B. Schmerzempfinden. Ich folge dieser Definition im Rahmen meiner Nietzsche-Rezeption, führe also an dieser Stelle anders als in meinen Plessner-

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Subjekts gedacht, sondern als »verschiedene leibliche Zustände« die, als »Kraft« (Kalb 2000: 107) verstanden, eine eigensinnige Ontologie ohne teleologische Bindung bilden. Der Leib ist für Nietzsche gleich Natur, und diese Natur ist nichts weiter als »Chaos des Willens und der Kräfte« (Nietzsche zit. n. Kalb 2000: 107). Sie ist inhaltlich nicht determiniert, schon gar nicht zweigeschlechtlich imaginiert, sie beinhaltet abgesehen von dem Willen zum Überleben, zur Ausdehnung, der Offenheit Schmerzen zu empfinden und Gedächtnisse ausbilden zu können, überhaupt keine eigenschaftsubiquitären, die Sozialität determinierenden Aspekte. Vielmehr kennzeichnet sich ›der Körper‹ (›der‹ im Singular = grammatikalischer Artefakt) im Modus von Kraftlokalisierungen, sich beständig verändernden energetischen Loci, als »eine Vielheit von Kräften, verbunden durch einen gemeinsamen Ernährungsvorgang, [den] wir Leben [heißen]« (Nietzsche 2007: 443, Ergänzung B.W.). Das Subjekt ist hier radikal dezentriert gedacht. Das heißt: Es ist nicht Herr im eigenen Haus, es gibt keinen »AutorSchöpfer« (Derrida 1976: 355). Es ist nicht eins. ›Identität‹ bzw. jegliche Annahme eines singulären Bewusstseins, welches als geistige autonome Schaltzentrale den Körper regiert, entlarvt Nietzsche als eine (platonische) Illusion. Er hält fest: »Es giebt [sic!] also im Menschen so viele ›Bewusstseins‹ als es Wesen gibt, und in jedem Augenblicke seines Daseins, – die seinen Leib constituieren« (Nietzsche zit. n. Kalb 2000: 106). Das kohärente, autonome Subjekt wird hier aus einem historisch kontingenten Geist der Gewalt geboren: Dieses making of (des Subjekts) ist der eigentliche Macht- und Herrschaftsmechanismus. Die Vielheit wird unmerklich in der Fiktion des einen Subjekts gebannt: »Als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären: aber wir haben erst die ›Gleichheit‹ dieser Zustände geschaffen« (Nietzsche zit. n. ebd., eig. Herv.). Es ist unschwer zu erkennen, dass Nietzsches philosophisches Erbe, und seine Abrechnung mit der platonischen Befähigungslogik sich ebenso in Butlers dekonstruktivistischer Philosophie der Vielschichtigkeit des Subjekts niederschlägt, ohne jedoch den Körper in gleicher Weise relevant zu setzen. Daher kann der Bezug auf die nietzscheanische Philosophie in den Soma Studies auch als eine Art Archäologie des materiellen Körpers verstanden werden. Wie stellt sich Nietzsche dieses »Schaffen« nun vor? Einmal ist es die Sprache selbst, die eine Identität des Leiblichen setzt, bzw. ein »Schema einer Selbstauslegung vor[gibt]« (Kalb 2000: 106). Sie »verdichtet verschiedene Phänomene des Bewusstseins synthetisch zu einem Wesen oder Vermögen zusammen« (ebd.) und setzt ex post ein Selbst als Ursache all dieser Phänomene an. Es ist aber auch der

und Merleau-Ponty-Rezeptionen keine Körper-Leib-Unterscheidung ein. Ausführlicher dazu siehe Wuttig 2014 und 2016.

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Modus der Erinnerung bzw. der traumatischen Erinnerung (der sich wiederum über die normativen Gewaltverhältnisse als Zuschreibungen, Positionierungen, sprachliche Hierarchisierungen speist), der die Illusion des kohärenten Subjekts ausmacht. Subjekt-Werdung umreißt Nietzsche als einen unterschiedliche Wahrnehmungskanäle miteinander assoziierenden Prozess, der die Illusion einer Einheit erzeugt. Dies geschieht dadurch, dass »angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hintereinander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe sondern als Einheiten empfunden werden« (Nietzsche zit. n. Kalb 2000: 105). Kurz: Subjektivierung (SubjektWerden) wird bei Nietzsche als Unterwerfung des ›Energiebündels‹ Körper unter einen semantisch-assoziativen Prozess fassbar, als eine Art metonymischen Hineinversenkung der sprachlich vermittelten sozialen Ordnung. Es geht hier also nicht um ein Denken in reinen Körpermetaphern bzw. um eine vielzitierte leibliche Realität ex nihilio, sondern um den Entwurf einer prozesshaften Metonymie sozialer Verhältnisse in den Leib (vgl. Wuttig 2014: 286). Hinzu kommt, dass sich über Erinnerungsspuren Assoziationen im Laufe des Lebens im Sinne der gesellschaftlichen Rationalitäten (›dessen was jeweils als Wahrheit gilt‹) (vgl. Wuttig 2016: 219ff.) verfestigen. In dem Maße, wie sich das Denken und Fühlen verfestigt, das Denken, Fühlen, Erfahren zunehmend und besonders im Modus einer (schmerzhaften) Unterwerfung unter Macht- und Herrschaftsverhältnisse – die immer auch zwangsidentitäre Verhältnisse sind, – zu einem bloßen Erinnern wird (ein Tasten auf dem Grund der ehemaligen Erfahrung) (vgl. Wuttig 2016; Nietzsche 2007), zeigt sich, dass eine soziale Ordnung Körper in ihrer Fähigkeit sich zu erinnern ›dazu nutzt‹, um das Subjekt uno actu, d.h. in Abstimmung7 zur sozialen Ordnung zu produzieren. Deleuze und Guattari (2002) folgen dieser Spur, wenn sie Subjektivierungsprozesse als (un-) mögliche Orientierung an einem männlich, weißen Standard in den Augenschein nehmen.8 Diese sind vital und materiell gefasst: Partikel, Kräfte, Intensitäten

7

Einen ganz ähnlichen u.a. durch Nietzsche beeinflussten Gedanken findet sich bei Pierre Bourdieu (1987, 1982, 2005) in der Figur der Doxa, der Abstimmung zwischen Akteur*in und Feld.

8

»Es gibt kein Mann-Werden, weil der Mann die molare Entität par excellence ist, während die Arten des Werdens molekular sind. Die Funktion der Gesichthaftigkeit hat uns gezeigt, in welcher Form der Mann die Mehrheit gebildet hat, oder vielmehr den Standard, auf dem diese Mehrheit beruht: weiß, männlich, erwachsen, ›vernünftig‹ etc., kurz gesagt, der Durchschnittseuropäer, das Subjekt der Äußerung. Nach dem Gesetz der baumartigen Ordnung ist es dieser zentrale Punkt, der [...] jedesmal einen deutlichen Gegensatz hervorbringt [...]: männlich – (weiblich), Erwachsener –

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werden in den dualen Maschinen einander entgegengesetzt, um einen kohärenten Organismus (›weiblich‹, ›männlich‹ usw.) zu machen: »Denn es ist nicht, oder nicht ausschließlich, eine Frage des Organismus, der Geschichte und des Aussagesubjekts, durch die weiblich und männlich in den großen dualen Maschinen einander entgegengesetzt werden. Es ist zunächst eine Frage des Körpers – des Körpers, den man uns stiehlt, um daraus Organismen zu bilden, die man einander entgegensetzen kann« (Deleuze/Guattari 2002: 398, Herv. i.O.).

Sowohl bei Nietzsche (1988, 1988a, 1993, 1999, 2006, 2007) als auch bei Deleuze/Guattari (2002) wird sehr deutlich, dass es gerade das ontologische Aufklaffen von körperlicher Materialität einerseits und den Anforderungen und Zumutungen der sozialen Welt andererseits ist, welches eine buchstäbliche Materialisierung des somatisch verfassten Subjekts entlang von Sozialität orchestriert. Bei Nietzsche liegt der Fluchtpunkt des Unterlaufens der sozialen Ordnung in einem Zustande, den er als »Grundtext homo natura« bzw. als »originale[r] Text des Leibes« (Iwawaki-Riebel 2004: 82, Herv. i.O.) beziffert. Als radikale Vorurteilslosigkeit des Leibes verstehbar ist hier kein Rousseau’sches ›zurück zur Natur‹ als deterministischer Urzustand gemeint, sondern Natur ist ein Ort, der »ganz anders als das [ist], was wir beim Nennen ihres Namens empfinden« (Nietzsche zit. n. ebd.: 84). Genau dieses Motiv, der immerwährenden Vereinnahmung des somatisch-leiblichen Empfindungspotentials durch eine machtinformierte Sprache – eine Sprache, die willkürlich klassifiziert, also etwas bevorteilt und etwas anderes benachteiligt – findet sich auch in Butlers Diskursontologie der Geschlechter wieder – nur, dass es hier keinen Topos zu geben scheint, der sich zu entziehen vermag, das Somatische ist hier unter der Last der diskursiven Diktionen schon immer bereits verfestigt. Bei Deleuze/Guattari (2002) und Nietzsche hingegen scheint es einen Fluchtpunkt des Entkommens (auch aus der Geschlechterordnung) zu geben: Dieser besteht in einer Hingabe an ein konstantes »Werden und Vergehen« (ebd.: 82); gleichsam ein Zustand, in dem die Leibesregung noch nicht interpretiert ist (vgl. ebd.; Wuttig 2014: 417). Werden ist hier, poststrukturalistisch gesprochen, das Auflösen der menschlichen Körperorganisation als zugewiesene und einverleibte Subjektposition.9 Es handelt sich

(Kind), weiß – (schwarz, gelb oder rot), vernünftig – (Tier).« (Deleuze/Guattari 2002: 398, Herv. i.O.). 9

Bei Deleuze/Guattari (2002) wiederum ist es das »Tier-Werden« als Bewegung hin zu einer »(un)möglichen Unmenschlichkeit, die am Körper selbst erlebt wird« (Deleu-

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dabei, in der nietzscheanischen Philosophietektonik gedacht, um ein endloses Werden, ohne dass jemals geworden wird (vgl. ebd.: 372). Mit Bezug auf die vitalistische Philosophie Nietzsches und Gilles Deleuze’/Felix Guattaris kann körperliche Materialität nun als eigensinnige, vitale, nicht-determinierte, offene Intensität gefasst werden, die durch diskursive Prozesse und soziale Ordnungen vereinnahmt wird, die aber ebenso, in einem reflexiven und gelebten Prozess des Werdens zwar nicht pars pro toto, aber doch im status viatoris reklamiert werden kann. Dasjenige was bei Nietzsche als Modus der Subjektivation gilt, nämlich ein Schema einer sich in den Körper hineinversenkenden Selbstauslegung entlang von sozialen Ordnungen (s.o.), findet sich ebenso in den aktuellen neurowissenschaftlichen Theorien in der Figur des Embodiment/Embodying wieder. Hier geht es darum, dass soziale Erfahrungen und Beziehungserfahrungen sich in den Leib einschreiben. Um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, wie »Geschlecht in den Körper kommt« (s.o.), und was diese Frage für eine Verhältnislokalisation von Sozialität und Körper bzw. Kultur und Natur auszusagen vermag, kann hier nun – ohne eine Vollständigkeit oder gar Abgeschlossenheit des Forschungsterrains zu behaupten – postuliert werden, dass Geschlecht sich über soziale Praxen und Ereignisse (mimetische Prozesse, Einübungen von Bewegungsabläufen, Widerfahrnisse, sprachliche und praktische Disziplinierungen) in den Körper einschreibt, und dort zu einer mehr oder weniger brüchigen, leiblich empfundenen Existenzweise wird (vgl. dazu ausführlicher Wuttig 2016). Dies soll im Folgenden anhand neurowissenschaftlicher Theorien und der Theoriebildungen der feminist neuro cultures ausgeführt werden.

F EMINIST N EURO C ULTURES UND DIE E INKÖRPERUNG DES S OZIALEN IN DEN N EUROWISSENSCHAFTEN Im Zuge der feminist neuro cultures (Fausto-Sterling 2000; Schmitz 2014; Schmitz/Degele 2010) hat sich eine Theorie der Einverleibung oder der Einkörperung von Sozialität als sogenannter Embodiment-Ansatz ergeben, der den Vorgang der Einspeicherung von sozialen Erfahrungen vor dem Hintergrund kritisch-neurowissenschaftlicher Epistemologien spezifiziert. Feminist Neuro Cultures schließen sich dabei an neurowissenschaftliche Wissensproduktionen an, die von der Neuroplastizität des Gehirns ausgehen. Dies besagt, dass Gehirne nicht biologisch oder natürlich determiniert sind (z.B. wie früher angenommen

ze/Guattari 2002: 372), die »außerhalb des programmierten Körpers« (des Organismus) stattfindet (ebd.: 372).

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zweigeschlechtlich determiniert und daher zu unterschiedlichen Begabungen befähigt), sondern, dass sich Gehirne entlang ihrer Beanspruchung ausbilden (Hüther 2001). Gehirnbeschaffenheiten, so weiß man heute, verweisen nicht auf einen ›ursprünglichen‹‚ präfigurativen Naturzustand, Natur (z.B. Gehirne) bilden sich vielmehr entlang der sozialen Erfahrungen aus, der zwischenmenschlichen Interaktionen, die Menschen im Laufe ihres Lebens machen bzw. einzugehen in der Lage sind. So werden bspw. motorische Fähigkeiten u.a. über mimetische Prozesse erlernt und dabei ebenso Körperbilder der (bedeutsamen) Anderen eingekörpert. In Bezug auf soziale Normen bedeutet das: Wenn eine Gesellschaft den Geschlechtern separate Aufgaben und Verhaltenscodices zuweist – etwa über die Konstruktion von Körperbildern in den Medien –, entwickeln sich neuronale Verknüpfungen und Affekte entsprechend diesen Zuweisungen (vgl. dazu auch Walsh 2014). Sie sind also nicht ›von sich aus‹ da; schon gar nicht präfigurativ vergeschlechtlicht (vgl. Fausto-Sterling 2000: 115ff.; Schmitz/Degele 2010: 91ff.; Voss 2011; Wuttig 2016). Das bedeutet weiter: Mit dem Erwerb von bestimmten (motorischen) Fähigkeiten werden zugleich Geschlechternormen oder andere – etwa statusbezogene Normen – habituell eingekörpert. Die Herausbildung eines spezifischen klassen- oder geschlechterbezogenen Habitus bzw. dessen somatischer Dimension, bei Bourdieu ist das die Hexis (Bourdieu 1987, 1982), kann somit aus der Perspektive derzeitiger neurowissenschaftlicher Wissensproduktionen nicht nur abgesichert werden, sondern auch im Hinblick auf ihren Vollzugscharakter präzisiert werden. Anders: Der Vorgang der Einspeicherung von sozialen Erfahrungen, der Abstimmung mit dem Feld, wird vor dem Hintergrund kritisch-neurowissenschaftlicher Epistemologien konkret fassbar.10 Genau um den Prozesscharakter der Einkörperung von Sozialität hervorzuheben, sprechen Sigrid Schmitz und Nina Degele (2010) statt von Embodiment von Embodying. Embodying als Konzept der Einkörperung von Sozialität generiert ein Verständnis davon, wie soziale Erfahrungen auf körperliche und körperinterne Strukturen wirken (welche wiederum lebenswissenschaftlich-theoretisch konzeptionalisierbar sind) (vgl. Schmitz/Degele 2010: 28). Mit körperinternen Strukturen sind hier bspw. gemeint: Hirnplastizität, Nervensystem, Knochen, Muskeln, Körperbau, Faszien usw. (vgl. ebd.). Von Interesse ist nun, dass in diesem Verständnis medizinisches Wissen nicht ausgeklammert, sondern systematisch in eine Soziologie des Körpers einbezogen wird, und zu deren Klärung beiträgt. Eine essentialistische Sichtweise auf Geschlechterkörper kann hier deswegen vermieden werden, weil auch die naturwissenschaftlichen Disziplinen kaum noch von

10 Zur Synopse von Bourdieus Habitustheorie mit neurowissenschaftlichen Ansätzen siehe Wuttig 2014.

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der »Entwicklung des individuellen, natürlichen Körpers ausgehen, der einem evolutionären Determinismus folgt« (Schmitz/Degele 2010: 26). Beispielhaft hierfür ist, wie man bei Anne Fausto-Sterling (2000) nachlesen kann, dass der medizinisch-reduktionistische Diskurs über die Entstehung von Osteoporose bei Frauen, der die Ursache in einer Hormonumstellung bei Frauen sieht, hin zu einem multifaktoriellen Prozess verschoben wird. Fausto-Sterling (2000) zeigt, dass die Knochenentwicklung nicht biologisch determinierten Mustern folgt, sondern biologische und soziale Systeme (Interaktionen), Erfahrungen in verschiedenen Lebensphasen ineinanderwirken – Materialität und gesellschaftlicher Diskurs/Sozialität sich in dem Phänomen Osteoporose ko-konstitutiv verhalten (vgl. auch dazu Schmitz/Degele 2010). Beispielhaft sind auch die Studien von Nina Lykke (2010, 2013) zur Entwicklung von Krebserkrankungen bei Frauen, die sie mit Bezug zu Karen Barad in ein Verständnis von kicking back of materiality setzt sowie die Studie von Gregor (2015) zur Konstruktion von Intersexualität. Gregor (2015) verdeutlicht im Rahmen dieser qualitativen Forschung und im Rekurs auf feminist neuro cultures, dass Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie eine Verletzung des somatisch verfassten Subjekts darstellt, die sich in der Praxis der operativen Zurichtung als Folge der zweigeschlechtlichen Norm zeigt, und die sich zudem aus dem Spannungsverhältnis einer eigensinnigen körperlichen Materialität und den sozialen Anforderungen an die Körper speist. In Wuttig (2016) konnte ich wiederum mit Bezug auf vitalistische Körperkonzeptionen sowie mit Bezug auf meine genderkritische Rezeption der Neurowissenschaften und der Traumaforschung zeigen, auf welche Weise Subjektivationen als Verletzungspraxis, als somatischer Einbruch, lesbar werden. Trauma hingegen wurde jenseits pathologisierender Kategorien als ein Modus der Subjektivation sichtbar. Dies war nicht zuletzt dadurch möglich, dass neurowissenschaftliche Traumatheorien zur Körpergedächtnisbildung, darin besonders Theorien zur Assoziation und Dissoziation von Wahrnehmungskanälen, mit einem materialistisch philosophischen Verständnis des Subjekts verglichen, abgeglichen, miteinander verknüpft und empirisch überprüft wurden. So ergab sich, dass dasjenige, was bei Nietzsche als Modus der Subjektivation gilt, nämlich ein Schema einer sich in den Körper hineinversenkenden Selbstauslegung entlang von sozialen Ordnungen (s.o.), in aktuellen neurowissenschaftlichen Theorien als traumatische Erinnerung konzeptualisiert ist. Eine Einfädelung neurowissenschaftlicher Wissensproduktionen in geistes- und sozialwissenschaftliche Diskurse kann neue Sichtweisen auf Subjektivierungsprozesse, die Einkörperung von Sozialität sowie Kultur-/Natur-Verhältnisse eröffnen. Eine Einfädelung philosophischer Wissensproduktionen in den medizinischen Diskurs hingegen ermöglicht das Subjekt in seiner ›ganzheitlichen‹ sozialen Informiertheit zu betrachten, bedeutet

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(non-)metaphorisch gesprochen eine Art Osteopathie der politischen Verhältnisse am Körper vorzunehmen. Phänomene, wie bspw. das Trauma, die in einem Gestus szientistisch reduktionistischer Vereinnahmung durch einseitig medizinische Erklärungsrationalitäten als Krankheiten mit individualisiertem Behandlungsbedarf konzipiert werden, können über eine Reintegration kritisch-biologischer Wissensproduktion in den sozialwissenschaftlichen Diskurs und vice versa als Residuen eines verletzbaren Subjekts gefasst werden, die neben einer Behandlung auch die gängigen Praktiken der Subjektivation sowie die Situiertheit der Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext mit einbezieht und auf den Prüfstand stellt. Die Soma Studies bzw. die feminist neuro cultures bilden einen theoretischen Knotenpunkt für einen transdisziplinären Brückenschlag, indem bspw. die neuronale Plastizität des Gehirns, aber auch anderer Körperteile (Knochen, Faszien, Hormone, Nervensysteme), als körperlich transformierbare Materialität fassbar werden, die nur gebührend verstanden werden kann, wenn soziale Prozesse der Ausformung dieser Materialität in den Blick geraten (vgl. auch Scholle/Wuttig 2016).

S CHLUSS Dass Eingangszitat aufgreifend, fragte dieser Beitrag danach, wie soziologische Theorien beschaffen sein müssen, um die körperliche Materialität von Akteur*innen bzw. des Subjekts in den Blick zu bekommen. Mit den Soma Studies wurde ein Vorschlag gemacht, vor dem Hintergrund einer Vermittlung und Verknüpfung von poststrukturalistischer, neu-materialistischer sowie lebenswissenschaftlicher Wissensproduktion nach dem Verhältnis von Sozialität und körperlicher Materialität zu fragen. Dabei steht die soziale Vereinnahmung wie auch die Eigensinnigkeit des Subjekts im Zentrum der Diskussion. Am Beispiel der Frage »Wie kommt Geschlecht (als soziale Kategorie) in den Körper?« wurde das Verhältnis von Sozialität, Körper und Subjekt als prozesshafte Materialisierung entworfen. Embodiment-Theorien können einen Aufschluss darüber geben, wie sich Geschlecht als leiblich empfundene körperbezogene soziale Praxis materialisiert. Indem eine Soziologie des Körpers sich neurowissenschaftlichen Theorien somatischer Plastizität öffnet, können umfassendere Erkenntnisse über Subjektwerdungen eingeholt werden, als dies etwa ein diskurstheoretisches Konzept zulässt. Umgekehrt: Öffnen sich die Lebenswissenschaften gegenüber geisteswissenschaftlichen Wissensproduktionen, etwa denjenigen zur diskursiven Produktion von Machtverhältnissen, so kann das Subjekt in seiner semiotischmateriellen Verwobenheit mit sozialen Verhältnissen in den Blick geraten. Im

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besten Fall laufen Soma Studies dann auf eine transdisziplinäre kritisch-reflexive Wissenschaftspraxis hinaus.

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(Nicht-)Orientierende Skizzierungen Einkörperung von Sozialität zwischen KörperTheorie und KörperPraxis J ORIS A. G REGOR

Den Körper angemessen in sozialwissenschaftlicher Theorie zu berücksichtigen und empirische Forschung entsprechend zu konzipieren, waren zentrale Ziele der Forschungsbemühungen Anke Abrahams. Sie fragte an verschiedenen Stellen danach, »wie soziologische Theorien beschaffen sein müssen bzw. wie soziologisches Denken erweitert werden muss, um der Tatsache Rechnung tragen zu können, dass Akteure sozialen Handelns oder Integrierens mit einem Körper in einem materiellen Sinne ausgestattet sind« (Abraham/Müller 2010b: 10). Meine Forschungen zielen in eine ähnliche Richtung: Bei der Auswertung biographischer Interviews im Rahmen meiner Dissertation stellte ich fest, dass eine rein sprachbasierte Systematisierung dem Material nicht gerecht wurde, weil der Körper der Befragten nicht nur zentrales Bezugsmoment in den Erzählungen war, sondern der Körper selbst die Interviews eigen_sinnig mitgestaltete (vgl. Gregor 2015). Mit dem vorliegenden Artikel stelle ich erste Skizzierungen einer Einkörperung von Sozialität als gesellschafts- und kulturwissenschaftliches Konzept dar, das die eigen_sinnige Beteiligung von menschlichen Körpern an Sozialität systematisch zu fassen sucht und sie als Scharnier zwischen Individuum und Gesellschaft konzipiert. Ich stelle damit erste Überlegungen an, wie konkrete1 und sich im Vollzug des Daseins verändernde Materialität systematisch in Gesellschaftstheorie zu integrieren wäre.

1

Ich spreche hier und im Folgenden von konkreter Materialisierung/Materie etc., um die neomaterialistisch orientierten Begriffe von der linguistisch fundierten Materialisierung Butlers zu unterscheiden.

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Ich ziehe Ansätze zu Rate, die – je nach Perspektive – als new materialisms (Braidotti), neomaterialisms (DeLanda) oder material feminisms (Alaimo/ Hekman 2008) eingeordnet werden können. Diese Strömung hat es sich zum Ziel gesetzt, im Anschluss an den und unter Berücksichtigung der Erträge des linguistic turn die Materie als aktive Größe zu rehabilitieren. Somatische Materialität ist durch die Berücksichtigung poststrukturalistischer Errungenschaften gerade nicht als statisch-ontologische Entität definiert, sondern als moving target (Fausto-Sterling 2000) oder becoming-with (Haraway 2008), das an der Konzeption von Gesellschaft aktiv beteiligt und untrennbar wechselseitig-konstitutiv mit dem Nicht-Materiellen (dem Wissen, den Diskursen) verbunden ist.

1. B AUSTEIN I: P OSTSTRUKTURALISTISCHE ANSCHLUSSTHESEN Dass Sprache wesentliches Moment der Erzeugung von Wirklichkeit ist, ist eine der zentralen Prämissen poststrukturalistischer Theorien. Die Annahme einer ›ursprünglichen‹ Materialität wird dementsprechend zurückgewiesen, da diese immer nur mittels Sozialität (Sprache) zugänglich und eine gleichsam ontologische Existenz somit nicht nachweisbar sei. Der sogenannte linguistic turn war und ist besonders durch die Kritiken am cartesianischen Dualismus und die Dekonstruktion etablierter Wissenskategorien äußerst produktiv für die Entwicklung feministischer Theorien, und so auch im vorliegenden Fall: Während Michel Foucaults Disziplinierungsmacht mit dem Dispositiv als auch materielle Repräsentation der Macht mich den Körper als eines der Scharniere denken lässt, das Individuen mit Gesellschaft (und Gesellschaft mit Individuen) in Beziehung setzt, liefert Butlers Performativitätstheorie den passenden Ausgangspunkt, um die prinzipielle Denkbewegung zu umreißen, mittels derer sich die Genese sozialer Bedeutung durch die Subjektivation systematisieren lässt. 1.1 Verkörperte Vergesellschaftung (Foucault) Foucaults Disziplinierung, verstanden als Machttechnik und Teil des Bündels von ›Kräftelinien‹, die dem Dispositiv seine (sich stetig wandelnde) Form verleihen (vgl. Deleuze 1991), liefert Anknüpfungspunkte, um den Körper als gesellschaftstheoretisch relevante Größe zu konzeptualisieren. Dispositive der Macht sind definiert als »heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder phi-

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lanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst« (Foucault 1978: 119f.). Foucault rekurriert mit den nicht-diskursiven Praktiken des Dispositivs zudem explizit auf konkrete Materialität, die durch Vergesellschaftung (An-)Teil an (Bio-)Macht hat: Die Disziplinierung des Körpers wirkt durch die materielle Konstruktion der ›objektiven Welt‹, durch Architektur und mechanischer sowie technischer Artefakte, die konkret-materielle Gestalt2 einer Gesellschaft ist dabei immer auch Ergebnis der Orientierung an normativen Diskursen über die Beschaffenheit von menschlichen Körpern. Die Vorstellungen davon, welche Eigenschaften ein Körper ›normalerweise‹ aufweist, werden über die (Bio-)Macht an/in die Körper von Individuen einer Gesellschaft vermittelt und schreiben sich als erstrebenswerte Ideale in die so konstituierten Subjekte ein; der Körper als Adressat und Repräsentant gesellschaftlicher Normen ist also ein bedeutender Aspekt von Subjektivierung. (Bio-)Macht wird hier im Sinne Foucaults verstanden als produktive Macht, die sich »in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt« (Foucault 1977: 94) erzeugt. Die somatische Materialität bleibt von dieser produktiven Macht nicht unbeeinflusst: Die vermittelten Normen schreiben sich produktiv in die Körper der Individuen ein und werden von den Individuen als erstrebenswert erachtet. Macht umfasst damit zwar nicht alles, kommt aber ›von überall‹, und ist deshalb allgegenwärtig (vgl. ebd.). Menschliche somatische Materialität ist damit ebenso konstitutiv für die konkret-materielle Gestalt von Gesellschaft, wie sie durch diese konstituiert wird. Diese Wechselwirkung zu berücksichtigen eröffnet die Möglichkeit, den sozialen Raum vor dem Hintergrund verschiedener Ungleichheitskategorien auf seine Zugänglichkeit (accessibility) zu prüfen: Indem herausgearbeitet wird, welche Körper zu welchen (materiellen wie immateriellen) Räumen in welcher Weise Zugang haben, lassen sich auf der subjekttheoretischen Ebene konkrete Auswirkungen für die betreffenden Individuen nachzeichnen, während sich auf der gesellschaftstheoretischen Ebene über die somatische Materialität als Medium oder ›Scharnier‹ damit wechselseitig verbunden jene Machtstrukturen analysieren lassen, die die accessibility normativ konstituieren.3

2

Gestalt fasst das, was wir physikalisch wahrnehmen können (insbesondere durch Anschauung oder die Erfahrung physikalischen Widerstands) immer auch als ›Produkt von (gesellschaftlicher) Organisation‹ und damit als Ergebnis der »Irrtümer, falschen Einschätzungen und Fehlkalkulationen […], die hervorgebracht haben, was für uns existiert und Geltung besitzt« (Foucault 2002 [1971]: 173).

3

Die Kategorie dis_ability beispielsweise lässt sich so in sozialen Begrifflichkeiten konzipieren, statt sie medizinisch oder als individuelles Problem zu rahmen (vgl. Kafer 2013). Behinderung wird so zu einem Phänomen, das auch über eine bestimmte

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Körper und Gesellschaft stehen in einem Wechselverhältnis, bei dem ihre materielle Konstitution abhängig ist vom jeweils anderen – der Körper bleibt in Foucaults Verständnis letztendlich jedoch eine Art ›Container‹ für Sozialität, die von extern in ihn eingeschrieben und durch die er entsprechend vergesellschaftet wird. Der Eigen_Sinn somatischer Materialität, ihre (zwar nicht intentionale, aber grundsätzliche Befähigung zur) agency, bleibt mit diesem Modell der Einschreibung unberücksichtigt. Bevor das Konzept agency jedoch durch den Einsatz neomaterialistischer Theorien im zweiten Abschnitt konkretisiert wird, wird zunächst Judith Butlers DeMaterialisierungsthese herangezogen, um die Einkörperung von Normen als performativ-materialisierenden Prozess zu erklären. Der hier zu würdigende Einsatz Butlers ist, Subjektivation nicht nur als ›passiven‹ Prozess der Einschreibung zu verstehen, sondern ihn als beidseitigen Prozess zu konzipieren, an dem die Subjekte immer auch ›aktiv‹ beteiligt sind. 1.2 DeMaterialisierung und Parodie (Butler) Butlers Performativitätstheorie bietet neben einer Systematisierung des Prozesses, durch den Individuen soziale Bedeutung erlangen, zudem eine Möglichkeit, das dynamisch-widerständige Moment der Einkörperung von Sozialität fassen zu können. Dieser Aspekt ist für mein Verständnis von Sozialität von Bedeutung, weil er ermöglicht, Sozialität ›vom Verworfenen her‹, ihren Grenzen aus zu denken. Butler entwirft ihre Theorie orientiert an der Foucault’schen Machtkonzeption, schreibt Geschlecht (bei ihr: ›Gender‹) jedoch zu, ein der Foucault’schen Macht bereits intrinsisches ›Spannungsverhältnis‹4 zu sein, weil »Gender sein eigenes, unverwechselbares regulatorisches und disziplinarisches Regime erfordert und einführt« (Butler 2009: 73). Diese vergeschechtlichte produktive Macht ist nach Butler die Instanz, die den vernetzten Strukturen der Summe aller (historisch gewachsenen) Normen des Diskurses, die Menschen in einer Gesellschaft sozial positionieren – den kulturellen Matrices – ihre Gestalt gibt. Soziale Matri-

materielle Struktur einer Gesellschaft konstituiert wird und bei dem die materielle Struktur der Gesellschaft wiederum je unterschiedliche Auswirkungen auf Menschen hat je nachdem, in welcher Weise ihre Körper den impliziten Anforderungen, die die Nutzung dieser materiellen Struktur stellt, (nicht) entsprechen. 4

Butler arbeitet ihr Konzept zunächst entlang der Kategorie Geschlecht aus und definiert es als heterosexuelle Matrix (vgl. 1991, 1997, 2009). Später (2010) überträgt sie das Modell auf weitere Kategorien.

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ces stellen Regulationsprinzipien (Normen) für die Individuen zur Verfügung, mittels derer eine kulturell je spezifische Subjektivation erst ermöglicht wird.5 Der gesamte Prozess der performativen Materialisierung ist ein genuin sprachlich organisierter. Das Subjekt wird durch wiederholte Anrufungen in Form von Sprechakten (Austin 1986) konstituiert, ihm wird eine Identität(-skomponente) zugeschrieben, die es anerkennbar macht. Die Anrufbarkeit des Subjekts, also dass es diese Anrufungen hört, als soziale Konvention (an-)erkennt und sich in der Folge ›aktiv‹ an seiner Wiederholung beteiligt, steht mit der passiven ›Einschreibung‹ in engem Wechselverhältnis. Auf den Körper wirken also bestimmte Machtstrukturen, die seine soziale Bedeutung konstituieren, ihn ›lesbar‹ machen. Körper sind in Butlers Theorem keine vordiskursiven Tatsachen, sondern werden ebenso wie das Soziale erst durch normative soziale Prozesse anerkennbar (›lesbar‹) und also als über sprachliche Mittel ›veräußerlicht‹ gedacht. Auf ›innere Vorgänge‹, anatomisch verankerte Vorgänge ebenso wie ›leiblich-affektive Erfahrungen‹ (Lindemann 2011 [1992]) gibt es mit Butler keinen Zugriff, der nicht schon Teil ihrer Materialisierung wäre (vgl. Gregor 2016: 23). Die Performativitätstheorie kann, so habe ich in den bereits genannten, vorangegangenen Arbeiten konstatiert, aus neomaterialistischer Perspektive als DeMaterialisierungsthese gelesen werden, weil sie keine hinreichenden Mittel für das Erfassen konkreter Materie zur Verfügung stellt und somit innerliche, somatisch verortete Vorgänge nicht als materiell-diskursiv verschränkt erfassen kann. Der Körper »steht mit der Sprache in einem ständigen Zusammenhang« (Butler 1997: 104) – ohne jedoch in der Sprache aufzugehen. Er ist das Medium, über das Individuen ihr Selbstverständnis (›Identität‹) nach außen vermitteln und dessen materielle Realität bei der Androhung von Gewalt ebenso wie bei liebevollen Berührungen adressiert wird. Der Prozess der Performativität ist für die hier angestellten Überlegungen jedoch insofern von Bedeutung, als dass er sich, wie ich im zweiten Abschnitt des Textes zeigen werde, als auch in und mit Materie ablaufender sowie von der (somatischen) Materie ausgehender Vorgang fassen lässt. Butlers sprachzentrierter (diskursiv fundierter) Ansatz wird ›konkrete Materialität verliehen‹, indem der Körper gerade eben nicht nur im Sinne eines ›Mitdenkens‹ erfasst,6 sondern als agentielle, aktive Beteiligung somatischer Materie an Gesellschaft entwickelt wird.

5

An dieser Stelle zeigt sich der gesellschaftstheoretische Gehalt des Bulter’schen Theorems deutlich.

6

Einem weiterhin in der Kognition verhafteten ›Eingeständnis‹ Butlers in Körper von Gewicht (1997).

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Wird auch der performative Akt der Iteration als ebenso verkörperter/körperlicher wie sozialer Vorgang verstanden, lassen sich erste Impulse für die Möglichkeit zur Gesellschaftskritik setzen: Der performative Akt der Iteration, also die versprachlichte Wiederholung kultureller Normen, ist in sich temporalisiert und wird erst durch das Abrufen bereits vorhandener Erfahrungen ermöglicht. Die Wiederholung enthält »immer ein Moment der Neuproduktion« (Moebius/Reckwitz 2008: 17), weil das Ideal, an dem sie sich orientiert, als ›übertragbares Phantasma‹ fungiert. Mit Butlers Konzept der Parodie (verstanden als gebrochene Wiederholung) wird das Phantasma als Illusion enttarnt. Die Parodie ist damit ein Mittel, die innere Mobilität von Normen sichtbar zu machen und einen Raum für Verschiebungen zu öffnen. Soziale Normen werden mithin als in sich beweglich und Subjektkonstitutionen als in sich ›unruhige‹ Konstruktionen aus sich aufeinander beziehenden performativen Akten verstanden. Diese ›Unruhe‹ lässt sich auch auf die materielle Konzeption von Gesellschaft übertragen: Wenn es immer auch die Subjekte sind, die durch ihre soziale Aktivität den Normen Gehalt verleihen, dann ist es bis zu einem gewissen Grad möglich, mittels kritischer Praktiken – zum Beispiel das Sichtbarmachen sozialer Normen als Ausschlussmechanismen – Gesellschaft zu gestalten.7

2. B AUSTEIN II: N EOMATERIALISTISCHE R E M ATERIALISIERUNG Katrina Roen (2009) unterstreicht, dass sich körperliche Erfahrungen der Versehrung notwendigerweise überlappend in die (immaterielle) Entwicklung des Selbst einordnen8 und stellt so den Körper als Ort und Verortung des embodied becoming heraus (vgl. O’Rourke und Giffney 2009: X). Mit anderen Worten: Die Häufigkeit und die Art und Weise der zwischenmenschlichen Kontakte, de-

7

Ein eindrückliches Beispiel jüngster Vergangenheit ist der in der BRD 2019 eingeführte dritte positive Geschlechtseintrag ›divers‹. Er kann interpretiert werden als das Ergebnis politischer Aktivitäten von betroffenen Einzelpersonen, die sich in verschiedenen Zusammenschlüssen dafür eingesetzt haben. Eine gesellschaftliche Norm (Zweigeschlechtlichkeit als Strukturprinzip im deutschen Recht) wird damit aufgrund der Aktivität marginalisierter Individuen auch als gesellschaftlich relevantes Moment sicht- und diskutierbar gemacht.

8

»The scarring, the aesthetic difference and the chances of sensation [caused by ›corrective‹ surgical procedures of intersexed bodies; JAG] are necessarily imbricated in the process of the emerging self« (ebd.: 21).

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nen Individuen ausgesetzt sind, wird eingekörpert und hat konstitutiven Einfluss auf die Entwicklung des Selbst. Eine solche Perspektive ist mit einem rein linguistisch-diskursiven Zugang nicht zu fassen, denn »[m]atter feels, converses, suffers, desires, yearns and remembers« (Barad zit. n. Dolphijn/van der Tuin 2012: 59). Um der Materie eine entsprechende wirklichkeitskonstituierende Rolle zuweisen zu können, bedarf es einer ReMaterialisierung der dargestellten poststrukturalistischen Theorien, die es erstens erlaubt, die (für die moderne ›westliche‹ Epistemologie) maßgeblichen Dualismen neu zu fassen, ohne eine der Seiten als unter die andere subsummiert zu denken oder ihr einen statisch-ontologischen Gehalt zuzuweisen und zweitens die aktive Beteiligung von (somatischer) Materialität an der performativen Materialisierung des Selbst und der Sozialität zu beschreiben. Während ich mit Anne Fausto-Sterlings Konzept des embodiment die Brücke zwischen Materialität und Sozialität schlage und eine Denkbewegung anbiete, Dualismen als dynamisch aufeinander bezogen zu denken statt als getrennte Gegenstücke, bietet Karen Barads agentieller Schnitt (agential cut) die Möglichkeit, die (nicht-intentionale) agency somatischer Materie als Differenzierungsleistung zu denken. 2.1 Embodiment (Fausto-Sterling) Mit der theoretischen Figur des embodiment legt Fausto-Sterling ein Umdenken in Bezug auf die Relevanz biologischer Organismen für die körperliche Integration der sozialen Ordnung nahe. Das Konzept bezieht sozialwissenschaftliche und biologische Erkenntnisse ebenso ein wie den Körpers als Akteur der Subjektivation. Teile aller wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Gesellschaft, so Fausto-Sterling, sind beteiligt an politischen, sozialen und moralischen Auseinandersetzungen, gleichzeitig werden diese Auseinandersetzungen je individuell und verschieden stark eingekörpert in die Physis der in dieser Gesellschaft lebenden Individuen. Das Verständnis von sozialen Klassifizierungskategorien und deren intersektionaler Abhängigkeit hilft, näher zu bestimmen, wie das Soziale eingekörpert wird. Die dahinter stehenden Machtstrukturen müssen damit spätestens jetzt als äußerst bedeutsam für die soziale Ordnung definiert werden. Es wird deutlich, inwiefern soziale Ungleichheit nicht nur Gesellschaft ordnet, sondern diese Klassifizierung immer auch in/an die Körper der Individuen schaltet. Embodiment, so Fausto-Sterling, sei kein rein sozialisatorischer, sondern ein ebenso körperlich fundierter Prozess, entsprechend muss alles menschliche Verhalten

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als gleichermaßen tiefgreifend konstruiert und ›natürlich‹9 verstanden werden (vgl. 2014: 11). Körperliche Prozesse können sich als höchst widerständig gegen soziale Einflüsse erweisen (von mir begrifflich gefasst als Eigen_Sinn10), gleichzeitig sind Körper bis zu einem gewissen Grad äußerst anpassungsfähig; auf Herausforderungen, die ihre bisherigen Fähigkeiten übersteigen, können sie höchst individuell reagieren. Sie sind damit, so Fausto-Sterling, sich zugleich ›natürlich‹ und ›unnatürlich‹ entwickelnde Systeme, »unique developmental events« (FaustoSterling 2000: 27, eig. Herv.). Körper sind keine passive Masse, die sozial ›beschrieben‹ wird, sondern immer aktiv an der Gestaltung von Sozialität beteiligt. Der Einfluss von Natur und Kultur auf biologische Organismen lässt sich nicht systematisch trennen, weil der Prozess, mit dem Sozialität verinnerlicht wird, immer gleichzeitig und untrennbar verbunden ist mit dem genuin körperlichen Aspekt von Sozialität und hier dementsprechend bereits als Einkörperung gefasst wird. Biologische Organismen sind dementsprechend zu verstehen als aktive, offene Prozesse – als moving targets (ebd.: 235). Mit diesem dynamischen Verständnis des Verhältnisses von Sozialität und somatischer Materialität zueinander und im Verhältnis zur Entwicklung des menschlichen Organismus als soziales Wesen entgeht Fausto-Sterling einer statischen Ontologisierung des ›Natürlichen‹ oder ›Materiellen‹. Sie verbildlicht die Beschreibung des Verhältnisses von Sozialität und biologischem Organismus in Anlehnung an Elisabeth Grosz (1994) mit dem Möbiusband. Dies entsteht, wenn ein zweidimensionales Band um 180° eingedreht und die Enden des Bandes miteinander verbunden werden. Die Figur hat nur eine Fläche und eine Kante. Die entstehende dreidimensionale Figur ist, mathematisch gesprochen, eine nichtorientierbare Fläche:

9

Wenn ich in diesem Abschnitt von ›natürlich‹ oder ›unnatürlich‹ spreche, handelt es sich um indirekte, von mir übersetzte Zitate Fausto-Sterlings und damit um ihre Wortwahl.

10 Der Eigen_Sinn des Körpers verweist dabei auf eine Verschränkung von Zellen, Organismus, Psyche, den Beziehungen zwischen Menschen, Kultur und Geschichte, ist also immer diskursiv-materiell verortet und nicht als ontologische Setzung der Agentialität von Körpern zu verstehen.

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Abbildung 1: Möbiusband.

(Eigene Darstellung; digital realisiert von Anne-Jasmin Bobka).

Das Möbiusband als Metapher erscheint mir äußert geeignet, um den Prozess der Einkörperung von Sozialität darzustellen. Auf der einen Seite lässt sich die Sozialität des Wissens (als partikularer Zugriff auf Wirklichkeit; vgl. Haraway 1995) anordnen, auf der anderen Seite der Vorgang, durch den Sozialität verkörpert wird. Durch die dem Möbiusband innewohnende Dynamik verliert der Dualismus seine Orientierung und es vollzieht sich eine wechselseitige, sich in Bewegung befindliche Verschränkung von diskursivem und materiellem Anteil. Die ›Vermittlung‹ zwischen der Sozialisierung/Sozialität des Körpers und der Verkörperung der Sozialität kann als ›nichtorientierbare Denkbewegung‹ verstanden werden, die es unmöglich macht, eine der beiden Komponenten als der anderen vorgängig oder vorrangig zu denken. Körper und Sozialität »verschränken sich in dieser Perspektive zu einem System, in dem beide gegenseitig aufeinander einwirken – wird eines verändert, verändert sich auch das andere« (Gregor 2016: 26). Beide haben damit am beständigen Werden (›Entwicklung‹) der somatischen Materialität teil, ohne dass der Grad der Beteiligung einer der Komponenten an den Entwicklungsschritten bestimmt werden könnte. Die ›Antriebsquelle‹ für eine solche Denkbewegung ist die Beziehung der beiden zueinander, nicht ihre Komponenten.11 Elizabeth Grosz (1994) stellt zum Ende ihres Buches die Grenzen der Metapher des Möbiusbandes heraus. Sie konstatiert, dass mit diesem Bild Prozesse des Werdens und Modi der Transformation nicht abgebildet werden könnten (vgl. ebd.: 210). Sigrid Schmitz und Nina Degele (2010) schlagen dementsprechend eine Verzeitlichung des Fausto-Sterling’schen embodiment vor und führen den Begriff des embodying ein, um so »Prozesse der Verkörperung von Gesellschaft und Vergesellschaftung körperlicher Materialität zwischen/jenseits von Konstruiertheit und Determinierung« (ebd.: 31; Herv. i.O.) abbilden zu können.

11 Erste Konzeptionen der ›nichtorientierbaren Denkbewegungen‹ finden sich in Gregor 2016.

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Aus meiner Sicht macht Fausto-Sterling mehrmals deutlich, dass es sich beim embodiment um ein Konzept mit Prozesscharakter handeln muss, wenn sie Körper als moving targets oder unique developmental events fasst; das Möbiusband kann, werden die richtigen methodologischen Prämissen gesetzt, durchaus als angemessene bildliche Repräsentation dieses Verständnisses gesetzt werden. Eine zentrale Prämisse für eine solche Konzeption von somatischer Materie ist die Ontologisierung von Unbestimmtheit, wie Karen Barad sie einführt (vgl. 2007: 140), die gekoppelt ist an ein relationales Verständnis von Ontologie. Mit dem Agentiellen Realismus liefert Karen Barad darüber hinaus einen Ansatz, um die aktive und bedeutsame Beteiligung von Materie an der Konstitution von Welt zu beschreiben. 2.2 Sozialität vom Schnitt her denken (Barad) Barad versteht Subjektivität und agency als eingebunden in intra-aktive, relationale Verschränkungen, die sie in ihrer jeweiligen Gesamtheit als Apparate fasst. Apparate sind dabei »nicht bloß Beobachtungsinstrumente […], sondern grenzziehende Praktiken – spezifische materielle (Re- )Konfigurationen der Welt –, die sich materialisieren und Relevanz erlangen« (Barad 2012: 21, Herv. i.O.). Der Begriff der Intra-Aktion stellt eine konzeptuelle Verschiebung dar, die das Verhältnis zwischen zwei (menschlichen oder nichtmenschlichen) Akteuren in den Blick nimmt. Sie kann beschrieben werden als ein Vorgang innerhalb eines Apparates (oder Phänomens), bei dem sich sowohl die sich wechselseitig beeinflussenden materiellen Beschaffenheiten (Relata) als auch ihre partikulare, situative Beziehung zueinander (Relation) konstituieren. Apparate bringen also durch komplexe Handlungsintraaktionen differenzielle Relevanzmuster (Phänomene) hervor. Für solche »kausalen Intraaktionen« (ebd.) ist keine Beteiligung kognitiv fundierter Handlungen notwendig, stattdessen »werden durch solche Praktiken die unterschiedlichen Grenzen […] zwischen Kultur und Natur […] erst konstituiert« (ebd.). Diese Konstitution geschieht mittels agentiellem Schnitt, ein Vorgang innerhalb eines Phänomens, der durch Intraaktion die Relata zusammen mit ihrer Relation hervorbringt. Die Relata existieren nicht vor ihrer Beziehung zueinander, sondern sind mit ihr gleichursprünglich. Agentielle Schnitte werden in sozialen Zusammenhängen beständig wiederholt, um über Differenzierung Ordnung herzustellen, indem etwa Menschen anhand bestimmter, sozial etablierter Kriterien voneinander unterschieden und in der Folge sozial kategorisiert werden. Sie sind damit die materiell-diskursive Erweiterung der Butler’schen Performativitätstheorie und als solche an der Gestaltung und dem Erhalt sozialer Ordnung beteiligt. Der agentielle Schnitt als Differenzierungsleistung eignet sich

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damit nicht nur, um die agency von somatischer Materialität beschreiben zu können, er liefert zudem eine Möglichkeit, die Grenzen des Möbiusbands als prozesshaft, als Repräsentation eines zwingend dauerhaft unabgeschlossenen Werdens zu verstehen, ohne ihren Wert als theoretisches Orientierungsmoment herzugeben. Somatische Materialität, um die bisherige, recht abstrakte Darstellung des Barad’schen Einsatzes empirisch herunterzubrechen, ist bereits durch ihre bloße Anwesenheit aktiv an der Gestaltung der (materiellen und immateriellen) Welt beteiligt – schon allein, indem sie sich im beständigen atomaren Austausch mit der sie umgebenden Materie befindet. Wenn auch ein für die folgende Argumentation hilfreiches Bild, ist dieser Aspekt aus soziologischer Sicht jedoch von nachrangiger Relevanz. Der daraus folgende, entscheidende Punkt ist, dass Körper als Apparate und damit ›spezifische materielle (Re-)Konfigurationen der Welt‹ zu verstehen sind, als Praktiken, die mittels agentiellem Schnitt Differenzierungen vollziehen. Somatische Materialität ist als solche beispielsweise befähigt, zwischen giftigen und genießbaren Nahrungsmitteln zu unterscheiden (indem reflexhaft Übergeben evoziert wird, sie erkrankt, fiebert oder stirbt) oder über ihre Belastungsgrenzen zu entscheiden (indem sie bei Überanstrengung durch Leistungssport in ein Hungerloch fällt und/oder andere Anzeichen von existenziellem Stress zeigt). Diese Differenzierungsleistung ist dabei zu verstehen als eine sowohl konkret-somatische als auch diskursive: Die Herkunft, soziale Positionierung und die damit verbundenen bisher eingekörperten Erfahrungen sind konstitutiv für die jeweilige Reaktion eines Körpers auf aktuelle Anforderungen. Agentielle Schnitte bleiben damit bis zu ihrem Vollzug unbestimmt und konstituieren das zeitlich und räumlich abhängige Verhältnis von menschlichem Körper und Welt erst mittels Intra-Aktion. Eine quasi-identische (bspw. im Labor erzeugte) Situation hat vor und nach der Einkörperung einer Erfahrung (verstanden als ein für das Selbstverständnis konstitutives Erlebnis; vgl. Dewey 1988) unterschiedliche Auswirkungen, das Körpergedächtnis wird jeweils unterschiedlich aktiviert. Die Folgen einer Traumatisierung lassen sich hier als vielleicht eindrücklichstes Beispiel anführen: Wenn das Körpergedächtnis (recht unberechenbar) aktuelle Erfahrungen mit jenen Erfahrungen in Verbindung setzt, die einen traumatischen Gehalt aufweisen und reagiert, als befände er sich noch in der damals als höchst bedrohlich empfundenen Situation, dann werden bislang ›harmlose‹ Situationen für das Individuum unberechenbar. Dieses Wissen beeinflusst die Haltung zu den Handlungsoptionen in einer Situation ebenso wie die Traumatisierung als solche. Handlungsschema und Traumatisierung stehen da-

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mit in einem untrennbar-wechselseitigen Verhältnis und in einer materielldiskursiven, dynamischen Beziehung zueinander.12 Generalisiert kann festgehalten werden, dass Erfahrungen, je nach sozialer Positionierung, die Haltung des ebenso materiell wie diskursiv konstituierten Subjekts verändern und die körperlich-kognitiven Reaktionen als Repräsentation der bisherigen Erfahrungen und körperlichen Zurichtungen zu verstehen sind. Der körperliche Eigen_Sinn wiederum beeinflusst im Vollzug seiner Weltbeziehung auch die mit ihm intraagierenden Relata, indem etwa durch Reaktionen die jeweilige Gestaltung einer sozialen Situation von ihm abhängt oder durch den kollektiven Umgang mit Diskriminierungserfahrungen Umdeutungen, Kritik oder politische Forderungen sichtbar gemacht werden und so das ›Kräftenetzwerk‹ einer Gesellschaft beeinflussen. Um eine angemessene theoretische Repräsentation des körperlichen Eigen_Sinns zu leisten, so die These, muss Sozialität vom Schnitt her gedacht werden. Die Soziologie muss bei der Interpretation von Sozialität explizit ihr Augenmerk auf Differenzierungsoperationen und die daraus resultierenden Auswirkungen richten. Auf der Strukturebene meint dies, soziale Segregation als Machtbeziehung zu denken, die materiell-diskursive Auswirkungen ebenso auf die Gestaltung einer Gesellschaft wie die in ihr lebenden Individuen hat. Auf der Ebene der Individuen bedeutet dies (beispielsweise für empirische Forschung), das sich (körperliche) Reaktionen je unterschiedlich und in Abhängigkeit von den für das Individuum bedeutsamen, sozial relevanten Differenzierungskriterien in der Situation konstituieren. Zugleich sind sie immer Produkt von Erfahrungen und Herkunft und dadurch Produkte einer je individuellen und gleichzeitig in gesellschaftliche (Macht-)Strukturen eingebundene Existenzweise und nehmen als solche in ihrem Vollzug Einfluss auf die beteiligten Relata.

3. Z USAMMENSCHAU : D ER K ÖRPER ALS › ANWESENDE ANWESENHEIT ‹ 13 Mit der Wendung hin zur Anwesenheit des Körpers und der Anerkennung und dem Einbezug seiner Agentialität eröffnen sich aus meiner Sicht neue, fruchtbare

12 In früheren Arbeiten habe ich diesen Punkt ausführlicher empirisch belegt (vgl. zentral Gregor 2015). 13 Ich möchte hier anspielen auf die Redewendung der ›abwesenden Anwesenheit‹, die auch als ein Befund für die Stellung der konkreten Materialität des Körpers in der Soziologie erhoben werden könnte.

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Perspektiven. Menschliche Körper sind in der Zeitspanne ihrer Existenz (von der Zellverschmelzung bis zum Abschluss der Verwesung) im Prozess des Werdens und verändern sich (auch) durch den Einfluss sozialer Faktoren. Menschliche Körper als solche sind aktive und soziale Materialität. Sie sind umgeben von konkret-physikalischer Materie (ihrer Umwelt), Materie ist damit unvermeidlich Teil sozialer Wirklichkeit. Menschliche Körper werden durch Materie am Leben erhalten (H2O; Lebensmittel; das komplexe Gemisch von chemischen Elementen, das wir als Atemluft benötigen); sie befinden sich in dauerndem Austausch mit der materiellen Welt, auch, indem sich ihre atomare Struktur beständig mit ihrer Umwelt austauscht (Menschen sind Sternenstaub)14. Sie nehmen Raum ein, bewegen sich im Raum und werden im Vollzug ihres sozialen Daseins durch kulturell je spezifische Normen geprägt (hier mit Foucault verstanden als produktive Macht der Disziplinierung). Gleichzeitig gestalten sie diese Normen mit, indem sie laufend partiell an ihrer Zitation scheitern (Butler) und so eine innere Mobilität von Normen gewährleisten, die Einfallstor für Verschiebungen sein kann. Körper haben damit als agent matter ein widerständiges und emanzipatorisches Potential und sind auf komplexe Weise in die Genealogie von Sozialität eingebunden. Individuen benötigen ihre somatische Materialität, um an Sozialität teilnehmen zu können, sie ermöglicht die Interaktion (resp. Intra-Aktion) mit anderen Individuen. Die materielle Umwelt wird durch menschliche Manipulation und Produktion angepasst, um sie für die den geltenden Normen entsprechenden Körpern weithin zugänglich resp. nutzbar zu gestalten. Die sozio-ökonomische (und geographische!) Verortung hat zudem Einfluss auf die Zugänglichkeit zu sozialen Räumen und die Wahrscheinlichkeit, durch systematisch verankerte und normalisierte Gewalt für Versehrungen oder den vorzeitigen Tod exponiert zu sein (vgl. Fütty 2019). Der Körper ist nicht zuletzt »der unabdingbare Resonanzboden des Gehirns« (Abraham 2010: 130) sowie weiterer neuronaler Verdichtungen wie des Darms und auf untrennbare Weise mit ihnen verbunden; den Zugang zur Welt als einen rein kognitiven zu konzipieren, muss damit immer zu kurz greifen. Ohnehin ist der menschliche Organismus keine klar abgrenzbare biologische Einheit; er steht in komplexen, lebensnotwendigen Beziehungen zu anderen biologischen Organismen (Mikroorganismen wie Pilze, Bakterien u.a. Mikroben); und auch der stetig stattfindende Austausch von Atomen mit der Umwelt verweist auf den menschlichen Körper als ein quasi-offenes System bestehend aus Beziehungen zwischen und in beständigem Austausch mit seinen Komponenten. Körper sind

14 Herzlichen Dank an Hannah Scherreiks für dieses ebenso wunderschöne wie exakte Bild.

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deshalb mit Fausto-Sterling zu verstehen als dynamische, sich in Bewegung, Wandlung und Entwicklung befindliche moving targets, die sich unablässig in materiellem Austausch mit ihrer Umwelt befinden und diese ebenso mitgestalten, wie diese sie in ihrem Werden beeinflussen. Eine Trennung von Geist und Körper schränkt damit entsprechende (Forschungs-)Perspektiven in ihrer Aussagekraft in bedeutender Weise ein. Ein neomaterialistischer soziologischer Zugang erkennt die aktive Beteiligung von Materie an sozialer Wirklichkeit an und trägt so zur Multiplikation von Perspektiven auf Körper bei. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Perspektiven nicht auch weiterhin partikular blieben – auch das (wissenschaftliche) Sprechen ist immer an die Perspektive (Positionierung) der jeweiligen Forschenden gebunden und unterliegt damit zwingend den Begrenzungen der jeweiligen Reichweite und Richtung ihrer Betrachtung. Der menschliche Organismus kann damit verstanden werden als eine komplexe Anordnung von Verweisungen, dessen äußerliche Grenzen nicht letztgültig, sondern immer nur situativ-partiell bestimmt werden können. (Konkrete) Materialisierung wird daran anschließend an und abweichend von Butlers Konzeption verstanden als komplexer, pluralistischer, relativ offener Prozess. Menschen müssen als Komponente der produktiven Kontingenzen von Materie verstanden werden, deren Disziplinierung, Intra-Aktion und Subjektivation immer auch materiell strukturiert ist. Somatische Materie ist mit ihrem eigen_sinnigen Potential an der Konstitution von Sozialität beteiligt, indem sie agentielle Schnitte setzt, während sie Sozialität gleichzeitig in einem untrennbaren Wechselspiel einkörpert. Eine statische ontologische Setzung von somatischer Materialität als Ausgangspunkt für Sozialisation ist aus dieser Perspektive widersprüchlich und kontraintuitiv, stattdessen werden die Momente der Unbestimmbarkeit oder Orientierungslosigkeit ontologisiert und so ein relationales Verständnis von Ontologie eingeführt.

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(NICHT -)O RIENTIERENDE S KIZZIERUNGEN | 145

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Bewegung und (kulturelle) Bildung

»when the fire dances between two poles«1: Die Tänzerin und Choreographin Anke Abraham K ONI H ANFT

Anke Abraham war nicht nur eine herausragende Geisteswissenschaftlerin, deren zentrales Thema die Leiblichkeit und deren Bedeutung für die personale und soziale Identität war. Sie selbst war von Kindheit an als Leistungssportlerin in der Rhythmischen Sportgymnastik und später als Tänzerin und Choreographin auf intensivste Weise mit ihrem leiblichen Dasein verbunden und auch konfrontiert. Ihrem zweiten Lebensabschnitt als Tänzerin und Choreographin des Kölner Tanzensembles Maja Lex möchte ich die nachfolgende ›Rückblende‹ widmen.

D IE S OLISTIN Deutsche Sporthochschule Köln, Wintersemester 1982/83. Die Tür zur Umkleide steht offen, aus dem Saal der Halle 4 dringt Musik: Buenos Aires Hora Zero – ein Tango von Astor Piazzolla. Der Spiegel an der Stirnseite des Saales wirft fragmenthaft die Bewegung einer Tänzerin zurück. Und in den Bruchteilen von Sekunden, in denen diese Bilder sichtbar sind, wird klar: Diese Tänzerin bewegt sich nicht zu einer Musik, sie verkörpert diese Musik vollständig. Anke Abraham tanzt. Das möchte, das muss ich in Gänze sehen. Ich betrete leise den Saal, setze mich am Rand auf die dem Spiegel gegenüberliegenden Stufen und werde Zeugin einer Soloprobe für das Abschlussexamen im Schwerpunktfach »Elementarer Tanz«. Und zwei Wahrnehmungen in dieser Probe sind ebenso berührend

1

Dieser ursprüngliche Filmtitel über die Ausdruckstänzerin Mary Wigman trifft unbedingt auch auf die – drei Generationen später wirkende – Anke Abraham zu.

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wie fesselnd: Die Tänzerin ist so tief in ihre Welt der Gestaltung, in die Suche nach Stimmigkeit und Vollendung von Bewegung, Tempo und Raum vertieft, dass sie die Außenwelt – wie mögliche Zuschauer – komplett ausblendet. Und: Sie gibt in jedem Augenblick bedingungslos Alles! Abbildung 1: Anke Abraham, Prüfungssolo für das Schwerpunktfach Elementarer Tanz, WS 1982/83

Foto und Copyright: Archiv Tanzgruppe Maja Lex (TGML)

Es ist offensichtlich, dass Anke von der musikalischen Polarität dieser Tangomusik, dem spannungsvollen Wechsel von Staccato und Legato, den treibenden und zügelnden Rhythmen, dem klanglich-melodischen Zusammenspiel von Bandoneon, Geige, Klavier und Kontrabass ebenso fasziniert ist wie von der diesem Musikstil innewohnenden Ambivalenz: der gleichzeitigen Sehnsucht nach und Angst vor (intimer) Nähe, dem scheinbaren Schutz durch Distanz, der Leidenschaft, in der sich Lust und Schmerz gegenseitig ablösen, des Hin-undHergetrieben- (manchmal auch ›Gerissen‹-) Seins in dieser permanenten Spannung von Anziehung und Entfernung, Bindung und Lösung.

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Zu dieser Musik entstand ein Prüfungssolo von dreieinhalb Minuten, welches jenseits aller Theatralik – allein durch seine abstrakte Bewegungssprache von höchster Intensität und Präzision – das Publikum in seinen Bann ziehen konnte und atemlos zuschauen ließ. Dies war nicht nur bei der Premiere an der Deutschen Sportschule Köln sondern auch bei allen weiteren Vorstellungen der hochschulinternen Tanzgruppe Maja Lex im In- und Ausland zu erleben. Dessen damalige Leiterin Graziela Padilla hatte die tänzerisch und choreographisch hochbegabte Studentin instinktsicher schon vor Abschluss der Prüfung ins Ensemble geholt. Was aber machte – genau betrachtet – die herausragende Qualität dieses Solos aus? Anke verfügte über ein ›Körper-Instrument‹, auf welchem sie nicht allein durch die Vorgeschichte der Rhythmischen Sportgymnastik auf höchstem physischen Leistungsniveau spielen konnte, sie hatte – und das kam ihr vor allem choreographisch zugute – eine unglaubliche Sensibilität für die Qualität von Form und Gestalt. In ihrem Solo Buenos Aires Hora Zero tanzte sie in permanent unvorhersehbarem Wechseln von kleinsten, fast binnenkörperlichen bis hin zu raumgreifenden Bewegungen in allen Ebenen vom Sprung bis zur Fortbewegung am Boden. Ankes Schrittfolgen, ihre Rumpfbewegungen konnten atemberaubend schnell sein; sie kreierte präzise Körper- und Raumlinien, die sie abrupt in sich zusammenbrechen ließ. Ankes Bewegungsfrequenz – und damit sind nicht nur die sichtbaren Bewegungen gemeint – lag immer einen winzigsten Bruchteil oberhalb dessen, was in der Regel als harmonisch empfunden wird. Was sie damit schaffte, war eine spürbare ständig präsente Spannung, die selbst den Ausgangs- und Endpunkt einer Choreographie, in welcher ihre Bewegung noch nicht begonnen hat oder schon abgeklungen ist, zu einer unerhört eindrucksvollen Generalpause machte. Pause deshalb, weil Ankes Tanz schon längstens begonnen hatte, bevor sie auf der Bühne stand und auch mit dem Applaus nicht beendet war. Dieser Intensität standzuhalten oder gar zu folgen, war für die Mitglieder des Tanzensembles Maja Lex, dessen künstlerische Leitung ihr zwischen 1989 und 1993 oblag, mitunter eine echte Herausforderung.

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Abbildung 2: Anke Abraham, Bühnenprobe »Sedianka – abendliches Treffen«

Foto und Copyright: Archiv Tanzgruppe Maja Lex (TGML) 1990

D IE C HOREOGRAPHIN Die erste Süddeutschland-Tournee nach der Trennung des Ensembles von der Deutschen Sporthochschule Köln im Herbst 1988 brachte mit Anke Abrahams Concerto Grosso – einem Sextett nach Musik von Arcangelo Corelli – und Schattenzeit (Choreographie: Koni Hanft) die Beachtung der bundesdeutschen Tanzkritik und eine über Köln hinaus reichende Öffentlichkeit. Der nächste Schritt war die Teilnahme am dritten Choreographischen Wettbewerb in Hannover 1989, bei welchem Concerto Grosso auf Anhieb den dritten Preis und die Tanzgruppe Maja Lex damit weitere Aufmerksamkeit erhielt.

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Jochen Schmidt, der damalige Tanzkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, stellte sich in seinem Artikel Ohne Geld, folglich ohne Ideen – Neue Stücke für die freien Tanzgruppen in Nordrhein-Westfalen hinsichtlich der Auslobung eines NRW-Tanztheaterpreises die Frage, »ob es auf der freien Tanzszene in Nordrhein-Westfalen [...] Produktionen gibt, die einen Preis von 20.000 Mark, immerhin soviel wie der Mülheimer Dramatikerpreis, wert sind?« Und er beantwortete die Frage gleich selbst: »[I]mmerhin hat es während der letzten 12 Monate zwei neue Stücke gegeben, deren Qualität für einen solchen Preis ausreichen könnte: Anke Abrahams ›Sedianka‹ für die Kölner Tanzgruppe Maja Lex und Claudia Lichtblaus erste freie Arbeit ›Schwarz Rot Gold.‹« (Schmidt 1991: 4) Aus dieser Einschätzung resultierte wohl auch die Nominierung von Ankes zweiter Choreographie für die Tanzgruppe Maja Lex Sedianka – abendliches Treffen – ein Frauenquintett zur Musik von Mystère des Voix Bulgares – als nationale Auswahl zum IXX. Internationalen Choreographenwettbewerb nach Bagnolet/Paris im Juni 1991. Ob die Juroren mit dieser Auswahl eine glückliche Hand hatten, sei dahingestellt. Anke Abraham bekam für Sedianka zwar einen extra ausgelobten Anerkennungspreis, die Mention spéciale pour la qualitée des Interprêtes überreicht, glücklich war sie darüber jedoch nicht. Das Stück wurde vom Pariser Publikum mit einem Beifall bedacht, der »gerade nur die allernotwendigste Höflichkeitszeit [währte]« (Bopp 1991), wie die Journalistin Annette Bopp, die das Ensemble während des Wettbewerbs begleitete, in ihrem (leider) unveröffentlichten Beitrag für die ZEIT 1991 erwähnte. Und Anke war seit jeher selbstkritisch genug, sich zu fragen, »ob ich auf dem rechten Weg bin mit meiner Arbeit, wenn ich über die Reaktion des Publikums nachdenke [...]. Ich will ja wissen, ob ich etwas Wertvolles, etwas von Bestand zustande gebracht habe.« (ebd.) »Ist das zu ästhetisch, zu fein geschliffen oder zu aufgeblasen? Muss man den Menschen immer auch häßlich zeigen, seine Schattenseiten? Darf diese Harmonie nicht so stehenbleiben?« (ebd.) Sie nimmt dabei Bezug auf den während des Wettbewerbs sichtbaren Zeitgeist im zeitgenössischen Tanz, den Annette Bopp bezeichnend wie folgt beschreibt: »und in der ›Zeitgeist‹-Charakteristika Disharmonie, Hässlichkeit, Überzeichnung steckt schon der Keim des Konventionellen, der Langeweile. Wer sich vom Herkömmlichen abheben will, sollte nicht darauf zurückgreifen müssen. In Paris war das jedoch bei der Mehrzahl der Stücke der Fall.« (ebd.)

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Abbildung 3: Anke Abraham (links) und Birgit Rüschstroer, Duett »Tochter und Mutter« in »Sedianka – abendliches Treffen«

Foto: HanKo 1990, Copyright: Koni Hanft

Anke Abraham hatte bis dato nie danach gefragt, ob ihre Choreographien den Zeitgeist treffen. Sie hat, meist inspiriert (oder auch berührt) von einer Musik, diese in unglaublich kurzer Zeit in Bewegung umgesetzt, der akustischen eine gleichwertige visuelle Ebene hinzugefügt. Gleichwertig schon allein dadurch, dass sämtliche ihrer Choreographien – unabhängig ob Solo oder Ensemble – auch ohne Musik als eigenständige Kompositionen funktionierten. Ich erinnere mich beispielsweise an die Entstehung ihres Concerto grosso in vier Sätzen für sechs Tänzerinnen nach Arcangelo Corellis Concerto grosso, cmoll: Anke hörte sich einen Satz an, improvisierte anschließend zu der Musik, erinnerte sich im Stillen an einzelne Bewegungsmotive und Motivfolgen, die sie dann zunächst rhythmisch und technisch ausarbeitete, bevor sie die ›Gegenprobe‹ hinsichtlich deren Stimmigkeit wieder mit der Musik durchführte. Fiel die Gegenprobe positiv aus, bekamen Motive und Folgen eine räumliche Struktur, wenn nicht, wurde wieder improvisiert. Wenn das motivische und räumliche Grundgerüst stand, kamen die einzelnen ›Stimmen‹ hinzu, die ineinander verschmolzen, sich wieder voneinander trennten, miteinander kontrastierten, sich gegenseitig hervorhoben und als basso continuo begleiteten.

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All das geschah nicht zwangsweise im Studio, sondern oft auch im häuslichen Wohnzimmer, in der Küche, im Flur. Auf diesen vier bis sechs Quadratmetern entstanden die wesentlichen Teile ihrer Stücke. Es konnte geschehen, dass sie, von ihrem Schreibtisch aufstehend, einer spontanen Bewegungsidee folgend, mal eben – schwups – in den ›Birkenstocks‹ eine doppelte Pirouette hinlegte. Und eine ebenso große Gabe wie Erkenntnis war ihr als Choreographin eigen: Anke erkannte die Notwendigkeit des Anderen2, sie verstand es, jedem Ensemblemitglied die Wertigkeit und Verantwortung einer Solistin zu geben, die sich als Tänzerin auf Augenhöhe mit der Choreographin befand, eigene Ideen oder Variationen einbringen und so in einen kreativen Austausch treten konnte; was wohl auch daran lag, dass Anke Abraham in ihren Choreographien selbst mittanzte. Das Ensemblegefüge wurde dadurch keineswegs gestört, eher noch gestärkt. Die Gruppe, so heterogen die sieben Frauen in ihrer körperlichen Erscheinung waren, wirkte auf der Bühne als geschlossene Einheit. Annette Bopp fasste Ankes Credo, den Eigenwert des Tanzenden und der Musik zu respektieren, im Hinblick auf das Bühnengeschehen treffend zusammen: »Genau diese Stiltreue bewirkte jedoch, was nur wenige Kompanien beim ›Concours de Bagnolet‹ in diesem Maß vorzuweisen hatten: Ausstrahlung, Bühnenpräsenz, innere Identifikation mit der Darstellung, tragenden Atem. Und nur wenige Stücke, die dort gezeigt wurden, hatten eine ähnlich durchgearbeitete, in sich ruhende und stimmige Choreographie.« (Bopp 1991)

D IE E NSEMBLETÄNZERIN Neben ihrem choreographischen Wirken in den drei, für das Tanzensemble Maja Lex, kreierten Stücken Concerto Grosso (1988), Sedianka – abendliches Treffen (1989) und Maigesang (1990) war Anke Abraham bis 1991 auch in Choreographien anderer Ensemblemitglieder als Tänzerin präsent. So in Schattenzeit von Koni Hanft (1988), Tarot Ensemblechoreographie, Leitung: Béatrice Goetz/Birgit Rüschstroer (1990), Deséquilibre von Béatrice Goetz (1990) und Spiel, Johanna! Spiel! von Koni Hanft (1991). Wer die Chance hatte, mit Anke Abraham als Tänzerin zu arbeiten, hatte es mit einem musikalisch, motorisch und thematisch hochsensiblen Menschen zu tun, der sich – bei aller Bescheidenheit in persönlichen Dingen – niemals mit ei-

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Vgl. dazu Jaspers’ Gedanken über die existentielle Bedeutung des Anderen für jedwede Kommunikation (Jaspers 1932).

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ner mittelmäßigen Leistung zufrieden gegeben hätte. Diese Haltung führte dazu, dass Anke auch in den Choreographien anderer nicht aufhörte, an ihrer Rolle zu arbeiten, nach immer noch mehr Qualität und Intensität zu suchen. Oft kam sie, nachdem die Premiere längst vorbei war, mit einer neuen Idee oder einer anderen Musik, die ihrer Meinung nach der Thematik der jeweiligen Szene besser entsprechen würde. Nach Rücksprache mit der jeweiligen Choreographin3 wurde dann – und mitunter zum Leidwesen der Ensemblekolleginnen – die Szene meist neu gestaltet. Ihre Solorolle als ›Eremit‹ im Tanzstück Tarot hat sie in der Spielzeit 1990/91 musikalisch, choreographisch und dramaturgisch zweimal umgestaltet, natürlich einschließlich Kostümentwurf und Lichtkonzept. Ihr Ehrgeiz, an die Grenze des Möglichen zu gehen, zeigte sich auch in einer Szene der Schattenzeit: Anke tanzte ein Solo, welches in einem durch massive am Boden liegende Holzstangen begrenzten Raum stattfand. Thematik dieser Szene war die stilisierte Darstellung von Entwurzelung, Orientierungslosigkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht. Als Musik hatte Anke sich ein Stück von Arvo Pärt mit dem Titel Fratres herausgesucht, als Kostüm diente ein schlichtes, grobes Leinenkleid. Ihre Bewegungen waren geprägt von einem unglaublich schnellen, scheinbar orientierungslosen Hin-und-Her-Getriebensein innerhalb dieser Grenzen: Rennen, Stehen, Zittern, Drehen, Rollen am Boden ... alles in einem Tremolo, dass es dem Betrachter schwindlig werden konnte. Die Auflösung dieser Dramatik erfolgte in fließendem Übergang zum Trio mit zwei Mittänzerinnen, die der Getriebenen Richtung, Halt und Sicherheit geben sollten. Die schnellen Richtungswechsel und die in unmittelbarer Nähe zu den am Boden liegenden, nicht fixierten (!) Holzstangen stattfindenden Drehungen waren für die Tänzerin eine anspruchsvolle Herausforderung und erzeugten beim Publikum höchste Spannung. Eines Tages kam Anke zur Probe und legte sich für diese Szene eine Augenbinde in Form eines Baumwolltuches um. Sie wollte versuchen, diese Szene blind zu tanzen. Sprachlosigkeit der Anwesenden und Äußern von großen Bedenken hinsichtlich des Verletzungsrisikos: »Und was, wenn Du aus Versehen auf so eine Stange trittst?« Darauf ihre Antwort: Sie glaube nicht, dass das geschehen könnte, wir sollten uns aber ruhig zur Sicherheit (eher unserer als ihrer!) außen vor die Stangen stellen, um im Notfall eingreifen zu können.

3

Die Tanzgruppe Maja Lex war zwischen 1989 und 1992 ein reines Frauenensemble.

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Abbildung 4: Anke Abraham, Solo in »Schattenzeit«

Foto und Copyright: K. Hanft 1989

Das Experiment wurde gemacht, und man konnte erkennen, dass sie wohl wirklich ›blind‹ tanzte. Die Bewegungen waren vorsichtiger, weniger ausladend, zum Teil auch etwas langsamer, vor allem dann, wenn sie in die Nähe der Stangen kam. Woher sie wusste, wo ungefähr die Stangen liegen mussten, wurde sie später gefragt. Sie hätte zwar nicht die Stangen sehen, aber die unterschiedlichen Lichtverhältnisse wahrnehmen und sich somit eine Orientierung schaffen können. Ausgehend von ihrem Ausgangspunkt im Zentrum wusste sie, wo vorne und hinten war und wie die Stangen dann liegen würden. Aus Rücksicht auf die Nerven ihrer Kolleginnen ließ sie zwar in allen weiteren Vorstellungen mit der Augenbinde einen kleinen Sichtspalt frei, dennoch war verblüffend, wie sich diese ›Blindsein-Erfahrung‹ auf die Qualität der Szene auswirkte: Abgesehen davon, dass die Augenbinde dem Bild eine zusätzliche symbolische Kraft gab, hatten Ankes Bewegungen – obgleich verhaltener ausgeführt – eine noch höhere Intensität.

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D IE V ISIONÄRIN Anke Abraham brachte die nachfolgenden »Gedanken zum Tanz« am 28. November 1983 in einem Probentagebuch zu Papier: »Jeder Mensch sollte zu der ganzen Vielfalt seiner Bewegungsmöglichkeiten gelenkt werden, seine ganz individuelle Form des Ausdruck finden dürfen und diesen Ausdruck zeigen – aber das in voller Beherrschung und überzeugender Perfektion. Darin besteht die Leistung, das unterscheidet den Tanz vom freien Bewegen. Alle Stile sind leere Hüllen, von den einzigen Menschen, denen sie jemals paßten (den Schöpfern), längst verlassen, sie brennen gut – mehr auch nicht! Ich spüre kontrollierende Blicke auf den Körper und stelle mir vor, wie es wäre, wenn diese Blicke Interesse, Beachtung und Wertschätzung ausdrückten! Ich sehe überspannte und unfreie Bewegungen und stelle mir vor, wie es wäre, wenn jeder für einen Moment seine Selbstkritik ausschaltete und mehr an sich duldete. Ich sehe hohle Wangen und gekniffene Münder und stelle mir vor, wie es wäre, wenn dort ein funkelndes Lachen über das Gesicht huschte ... Ich sehe verspannte Schultern und gequälte Gesichter und stelle mir vor, wenn die Arme locker herabhingen von den Schultern, frei getragenen Schultern und gelöste Gesichter, die Freude durchscheinen ließen. Ich spüre einen gepreßten Atem und stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich laut keuchend die Anspannung heraustanzte! Ich sehe schmale, runde, breite, hohe weiche, feste Körper und stelle mir vor, wie es wäre, wenn sie alle akzeptiert würden... Vielleicht stelle ich mir zuviel vor? Vielleicht stellt sich aber auch heraus, dass es doch nicht zuviel war, wenn wir uns alle etwas vorstellen, etwas, was uns zu einem positiven Sehen, Hören und Spüren nicht zuletzt auch unserer Körper bringt.« (Abraham 1983)

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie als Mitglied der damals hochschulinternen Tanzgruppe Maja Lex schon etliche Auftritte als Solistin bei nationalen und internationalen Gastspielen und Festivals absolviert und von mehreren Seiten die Rückmeldung bekommen, dass sie außerordentlich begabt sei und unbedingt tänzerisch weitermachen sollte. Gleichzeitig schrieb sie an ihrer Diplomarbeit mit dem Titel Identitätskonstitutionen in der Rhythmischen Sportgymnastik, worin es um die »Auswirkung sportartspezifischer Identitätskonstitutionen nach Beendigung der leistungssportlichen Laufbahn« ging. Die kritische Analyse dieser dem Thema wie ihrer eigenen Biographie innewohnenden Problematik, sensibilisierte sie natürlich auch für die parallel statt-

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findenden Aktionen in der Lebenswelt ›Tanz‹. Für diese Diplomarbeit erhielt sie 1984 den Junior Scholar Award der ICSS (International Committee for Sociology of Sport); ein Preis, der üblicherweise für Promotionsarbeiten vergeben wird. Es muss ein kräftezehrender Drahtseilakt gewesen sein, zwischen Kunst und Wissenschaft hin- und herzuwechseln, sich beiden Bereichen selbst dann gleichermaßen hingebungsvoll zu widmen, wenn die Widersprüche offenkundig waren. Aber es wäre nicht Anke Abraham gewesen, wenn sie beide Bereiche nicht bis zum Maximum ausgelotet hätte. So schrieb sie an ihrer Dissertation Frauen – Körper – Krankheit – Kunst (Abraham 1992), während sie weiter in und für die Tanzgruppe Maja Lex choreographierte, tanzte und nach Ablösung des Ensembles von der Sporthochschule auch noch die Künstlerische Leitung innehatte. Parallel zu den Erfolgen bei choreographischen Wettbewerben und der zunehmenden Gastspieltätigkeit des Ensembles im In- und Ausland bewegte sich Anke Abraham auch auf der wissenschaftlichen Erfolgsleiter nach oben, gefördert und gefordert von ihrem damaligen Mentor und späteren Ehemann Prof. Dr. Michael Klein.

D IE I DEALISTIN

UND

R ATIONALISTIN

So charismatisch die Tänzerin Anke Abraham auf der Bühne war, so pragmatisch verhielt sie sich im alltäglichen Leben: Dinge, die ihrer Meinung nach keine Perspektive eröffneten, legte sie – auch wenn es emotional schmerzte – ad acta. Ein Doppelleben als Künstlerin und Wissenschaftlerin – noch dazu in verschiedenen Bundesländern – verbrauchte ihrer Ansicht nach zu viel wertvolle Zeit. Dazu kam eine Stagnation im künstlerischen Bereich: Trotz international positiver Resonanz auf die Gastspiele u.a. in Paris, Charkow und Atlanta, die mit Hilfe des Goethe-Instituts und des Auswärtigen Amtes durchgeführt wurden, konnte kommunal keine sichere Grundfinanzierung in Form von Produktionsund der so dringend notwendigen Betriebsförderung für die Tanzgruppe Maja Lex erreicht werden. Wie in vielen deutschen Städten gab es in Köln zwar eine zunehmend vielfältigere freie Tanzszene, aber noch keinerlei ausreichendes Tanzförderkonzept. Anke Abraham hatte schon als Leistungssportlerin erfahren, was es bedeutet, vom Wohlwollen (oder der Willkür) einer*s Sportfunktionär*ins abhängig zu sein. Diese Erfahrung wollte sie auf der künstlerischen Ebene – mit je nach politischem Wind wehenden Fahnen und damit einhergehenden Amtsträger*innen – nicht wiederholen. Erwähnenswert ist hierbei auch, dass die ersten zwei Abend-

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programme u.a. mit den Stücken Concerto Grosso und Sedianka – abendliches Treffen ohne öffentliche Förderbeiträge produziert wurden. Drei weitere Faktoren dürften ihre Entscheidung, das Tanzensemble Maja Lex Ende der Spielzeit 1991/92 nach der Premiere von Spiel, Johanna! Spiel! zu verlassen und damit auch ihre Laufbahn als Tänzerin zu beenden, eine Rolle gespielt haben: Zum einen machte sich der hohe körperliche Einsatz über fast drei Jahrzehnte in zunehmenden Hüftgelenksschmerzen bemerkbar. Dazu kam die Einsicht, dass eine finanzielle Absicherung über eine geisteswissenschaftliche Hochschultätigkeit weitaus realistischer war als über die künstlerische Arbeit und zum anderen drängte es sie, ihren Wunsch nach Familie und Kindern zu erfüllen. Ihr Abschied vom Tanz als Choreographin und Tänzerin war für das bis 1998 weiterbestehende Tanzensemble Maja Lex, wie auch für die freie Tanzszene in Deutschland, ein herber Verlust. Für die Wissenschaft jedoch, insbesondere die Sportsoziologie, wurde es ein großer Gewinn.

D IE

BEWEGEND

B EWEGTE

So wie Anke Abraham neben ihrer künstlerischen Arbeit im Tanz ihre dort gewonnenen Erfahrungen unter anderem an der Deutschen Sporthochschule Köln, dem Institut für Tanztherapie in Monheim, der Medau-Schule in Coburg und bei zahlreichen Lehrgängen an Professionelle und Amateur*innen weitergegeben hat, so hat sie auch als Forschende und Lehrende an den Universitäten Magdeburg, Erfurt, Graz und zuletzt an der Philipps-Universität Marburg dafür gesorgt, dass ihre Erkenntnisse veröffentlicht, diskutiert und weiterentwickelt wurden. Sie war nicht nur selbst sowohl geistig, als auch physisch auf zahlreichen Vortragsreisen ständig unterwegs, sie hat immer auch dafür gesorgt, dass Menschen, die mit ihr zu tun hatten, in Bewegung blieben. Auch wenn sie ab 1992 mehr sprachlich als tänzerisch in der Öffentlichkeit agierte, hat Anke nie den Bezug zum Thema ›Körper, Kunst, Bewegung‹ – zum Tanz – verloren. Ihren letzten Tango tanzte sie am 28. April 2017 mit einem unausweichlichunumgänglich-übermächtigen Tanzpartner, der ihr von einem bekannt-unbekannten Regisseur zugeteilt wurde. Dass sie auch in diesem – ihrem letzten – Stück für die Choreographie verantwortlich zeichnete und das Beste gegeben hat, darf als sicher gelten!

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Q UELLEN Abraham, Anke (1983): unveröffentlichte Aufzeichnung, 28. November 1983. Abraham, Anke (1992): Frauen – Körper – Krankheit – Kunst. 2 Bände, Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg. Bopp, Annette (1991): »Tanzgruppe Maja Lex« – unveröffentlichter Beitrag für die Süddeutsche Zeitung. Jaspers, Karl (1932): Philosophie 2, erster Hauptteil. Schmidt, Jochen (1991): »Ohne Geld, folglich ohne Ideen – Neue Stücke für die freien Tanzgruppen in Nordrhein-Westfalen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 8 (Feuilleton) vom 10. Januar 1991, S. 4.

Künstlerisch Forschen im Mixed-abled Dance – leiblich, partizipativ, transformatorisch S USANNE Q UINTEN

K ÜNSTLERISCHES F ORSCHEN

IM

M IXED - ABLED D ANCE

Künstlerisches Forschen kann als eine Strategie der Wissensbildung verstanden werden, die im Wesentlichen auf die Mittel der Kunst zurückgreift und ihr Wissen vor allem aus der künstlerischen Praxis bezieht. Die besondere Stärke eines solchen künstlerischen Wissens ist seine leibliche Gegründetheit. Das hat Anke Abraham (2016) in ihrem Aufsatz Künstlerisches Forschen in Wissenschaft und Bildung. Zur Anerkennung und Nutzung leiblich-sinnlicher Erkenntnispotenziale differenziert herausgearbeitet. Ausgehend von einem weiten Forschungsverständnis, wie es in der Definition der UNESCO formuliert worden ist, versteht Anke Abraham Forschung »als eine kreative, etwas Neues, Anderes erzeugende – mithin schöpferische – Tätigkeit […], die ein Wissen generiert, das bisher nicht existiert hat.« (Abraham 2016: 20) Diese weite Definition erlaubt es, auch sogenanntes künstlerisches Wissen mit einzubeziehen, dessen Stärke sich »vor allem durch ein leiblich-sinnlich-affektives Vermögen und durch leibliche Resonanzen« (ebd. 2016: 21) auszeichnet. Besonders gut lässt sich dieses Potential des künstlerischen Forschens im Tanz beobachten. Denn Tanzimprovisation, Exploration, Imitation oder auch die sogenannten somatischen Verfahren erweitern die klassischen Methoden der Wissensgenerierung um aisthetische Dimensionen, welche Bewegung, Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Affekte mit einschließen (Quinten/Schroedter 2016a: 9). Eine zeitgenössische Tanzkunstform, in der künstlerische Forschung quasi Programm ist, ist der Mixed-abled Dance – im deutschsprachigen Raum häufig mit fähigkeitsgemischtem oder inklusivem Tanz übersetzt. Er versteht sich als eine Form des zeitgenössischen Tanzes, in dem Tänzer*innen mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam tanzkünstlerisch tätig sind. Charakteristisch sind die

164 | SUSANNE Q UINTEN

oftmals sehr unterschiedlichen körperlich-motorischen, perzeptiven, kognitiven, sprachlichen, selbstregulativen und kommunikativen Voraussetzungen der Gruppenmitglieder. Ohne eine kontinuierliche forschende Grundhaltung wäre das gemeinschaftliche künstlerische Schaffen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung kaum möglich. Damit die praktische Zusammenarbeit gelingt, müssen vielerlei Probleme gelöst bzw. Herausforderungen bewältigt werden, was folgende Beispiele gut veranschaulichen können: (1) Teilhabeförderliche Interaktion und Kommunikation: Interaktionen und die Kommunikation müssen so gestaltet werden, dass in einer Gruppe mit stark unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen Teilhabe für alle möglich ist. Hierbei geht es beispielsweise um folgende Fragen: Wie kann sich ein gehörloser Tänzer in einer Gruppe ohne Gebärdendolmetscher verständigen? Wie kann ein Dozent oder eine Dozentin einer Tänzerin mit Lernbeeinträchtigung einen komplexen Sachverhalt vermitteln? Welche Bewegungslösungen können zwei Tänzerinnen in einer gemeinsamen Improvisation entwickeln, bei der eine der beiden Gehilfen nutzt, usw.. Tänzer*innen im Mixedabled Dance entwickeln im Rahmen ihrer Arbeit nicht selten eine besondere Expertise für Kommunikation und Kooperation in stark heterogenen Gruppen, sie sind Expert*innen in eigener Sache. (2) Modifikation von Methoden zur Gewährleistung einer qualitativ gleichwertigen Zugänglichkeit für alle: Tradierte Vermittlungsmethoden und bekannte Aufgabenstellungen im Tanz müssen so angepasst bzw. modifiziert werden, dass sie für Personen mit verschiedensten Beeinträchtigungen qualitativ gleichwertig zugänglich sind. Hier stellt sich beispielsweise die Frage, wie ein für den Stand konzipiertes Aufwärmtraining für eine Person, die Gehhilfen nutzt, angepasst werden kann oder wie eine Bewegungsaufgabe modifiziert werden muss, damit sie qualitativ gleichwertig für eine blinde Teilnehmerin und einen gehörlosen Teilnehmer zugänglich ist. – Zwar existieren vor allem im angloamerikanischen Raum viele Lehrmanuale und Methodenbücher für die Tanzvermittlung in inklusiven Gruppen (z.B. Kaufmann 2006; vgl. Quinten/Schwiertz 2014). Dennoch wird durchgängig gefordert, an der Weiterentwicklung von inklusiven Vermittlungsmethoden zu arbeiten. In dem internationalen Forschungsprojekt Creability – Creative methods for an inclusive cultural work in Europe1 werden derzeit kreative2 Methoden im

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Projektpartner des von ERASMUS+ geförderten Projektes sind der Verein der Freunde und Förderer des Sommertheater Pusteblume e.V. (Köln), das Synergeio Mousikou Theatrou Astikimi Kerdoskopiki Etaireia (Larissa/Griechenland) sowie das Fachgebiet

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Rahmen inklusiver künstlerischer Forschungsaktivitäten entwickelt, dokumentiert und in einer zweiten Phase hinsichtlich ihres Potentials zur sozialen und kulturellen Inklusion von Jugendlichen mit und ohne Behinderung evaluiert. (3) Neuinterpretation von Beeinträchtigungen und Überführung in künstlerische Ausdrucksformen: Individuelle Voraussetzungen bzw. spezifische Beeinträchtigungen der Tanzenden bergen kreativ-künstlerisches Potential, indem sie neu gedeutet und in künstlerische Ausdrucksformen überführt werden können. So erforschen Tanzende mit und ohne Beeinträchtigung beispielsweise, wie ›ein besonderer Körper‹, eine ›individuell-einzigartige‹ Bewegungsqualität oder bestimmte kognitive Voraussetzungen eines Gruppenmitgliedes als innovative künstlerische Ausdrucksform verwendet werden können. Beeinträchtigungen verweisen nicht – wie im traditionellen Verständnis von Behinderung üblich – auf Bedürfnisse oder auf beeinträchtigte Menschen als Objekte der Fürsorge. Sondern das Verständnis von Tanz (sowie der Blick auf Menschen mit Beeinträchtigung) wird einer grundlegenden »Re-Vision« (Elin/Boswell 2004) unterzogen. Professionell arbeitende Ensembles wie die AMICI Dance Theatre Company, die Candoco Dance Company, die DIN A13 Dance Company oder die internationale mixed-abled UnLabel Performing Arts Company belegen das eindrücklich. (4) Künstlerische Umdeutung von technischen Hilfsmitteln, Assistent*innen und Dolmetscher*innen: Auch technische Hilfsmittel wie ein Rollstuhl, assistierende Personen oder Dolmetscher*innen können in den künstlerischen Schaffensprozess als innovative Ausdrucksformen mit einbezogen werden. – Derzeit lässt sich ein Trend beobachten, bei dem in der künstlerischen Arbeit in fähigkeitsgemischten Gruppen untersucht wird, wie Assistent*innen, Dolmetscher*innen oder technische Hilfsmittel neu gedeutet werden können – im Sinne von ›Barrierefreiheit‹ in Kunst und kultureller Bildung – wie es in dem jüngst gestarteten Kulturprojekt ImPArt3 der Fall ist: »Hilfsmittel wie Übertitelungen, Audiodeskriptionen oder Gebärdensprachedolmetscher wer-

Musik und Bewegung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung an der TU Dortmund (Dortmund) (Reuter 2018). 2

Kreative Methoden meint in diesem Projekt sämtliche Vermittlungsweisen, die in Musik, Tanz, Akrobatik, kreatives Schreiben, Schauspiel, u.ä. in künstlerischen und pädagogischen Arbeitsprozessen eingesetzt werden.

3

Das Projekt ImPArt steht unter der Leitung von Lisette Reuter/Sommertheater Pusteblume e.V., und wird gefördert von dem EU-Programm Creative Europe (Un-Label o.J.).

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den unmittelbar zum Teil der Inszenierung. Sie erscheinen nicht länger als Fremdkörper sondern geben Impulse für Innovationen im künstlerischen Prozess und werden letztlich selbst zu Kunst.« (Un-Label Performing Arts Company 2018) Die Tanzpraxis im fähigkeitsgemischten Tanz ist voll von solchen Fragen, denn die vielfältigen körperlich-motorischen, kognitiven, emotionalen und sprachlichen Voraussetzungen in dem Gruppengefüge stellen alle Gruppenmitglieder vor große Herausforderungen. In einem gemeinschaftlichen Forschungsprozess wird systematisch nach Lösungen gesucht. Dabei spielen ästhetisch-sinnliche Erkenntniswege eine bedeutende Rolle. Zu weiten Teilen wird Wissen im Mixedabled Dance im praktischen Vollzug gewonnen. Die Forschungstätigkeiten basieren auf dem praktischen Erfahrungswissen und auf spezifischem Körperwissen der Beteiligten. Auch wenn Reflexionen, sprachlicher Austausch und ggf. auch schriftliche oder audiovisuelle Dokumentationen mit verwendet werden, sind es doch vor allem die ästhetisch-sinnlichen Erkenntniswege, die neues Wissen beispielsweise über alternative Kommunikations- oder Kooperationsmöglichkeiten oder über Umdeutungsmöglichkeiten einer spezifischen individuellen körperlichen Voraussetzung hervorbringen können. Nicht jede tanzkünstlerische Tätigkeit ist gleichzeitig auch Forschung. In dem Moment jedoch, in dem die forschende Tätigkeit »auf eine insistierende (sprich: systematische) Weise an einem Prozess des Entdeckens und der Gewinnung von neuen Einsichten interessiert sind, um diese (ggf.) für weitergehende Entwicklungen fruchtbar zu machen« (Abraham 2016: 20) ist das tanzkünstlerische Schaffen auch Forschung. Im Mixed-abled Dance ist eine solche forschende Haltung dem künstlerischen Schaffen quasi immanent. Der vorliegende Beitrag untersucht charakteristische Merkmale der künstlerischen Forschung im Mixed-abled Dance. Zur Einführung in dieses Untersuchungsfeld und zum besseren Verständnis seiner künstlerischen Forschungsstrategien wird zuerst der Entstehungskontext des Mixed-abled Dance dargestellt. Anschließend werden zentrale Merkmale der künstlerischen Forschung im Mixed-abled Dance herausgearbeitet: die körperlich-leibliche Verfasstheit der Forschenden, die partizipativ-kooperative Forschungssituation sowie das transformatorische Potential einer solchen Forschung. Abschließend wird die Relevanz des Mixed-abled Dance für die schulische Bildung skizziert.

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E NTSTEHUNGSKONTEXT

DES

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Der Mixed-abled Dance entwickelte sich in den 1960er und 1970er Jahren in den USA. In dieser Zeit herrschte ein gesellschaftliches Klima, in dem in der Frauenbewegung, der Studentenbewegung, der Behindertenbewegung u.a. für die Gleichberechtigung von Menschen in benachteiligten Lebenslagen und gegen deren Diskriminierung gekämpft worden ist. Die Künste insgesamt reagierten auf diese sozialen und politischen Strömungen. Sie rebellierten gegen bestehende traditionelle Werte und sie stellten das Soziale ins Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit (Zobl/Lang 2012). Die gesellschaftlichen Strömungen dieser Zeit führten schließlich auch zu einer »Rückbesinnung auf den Körper« (Abraham 2002: 16) und Sinnlichkeit und Körpererfahrung hielten Einzug in die pädagogischen und therapeutischen Diskurse. Leitend für die gesellschaftlichen Strömungen in dieser Zeit war nach Abraham »der Wunsch nach einer emanzipatorischen Rückgewinnung von Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, bei der die Enttabuisierung und Befreiung des Körpers, die Erschließung sinnlicher Potenziale und die Hinwendung zur eigenen Subjektivität und Innerlichkeit eines besondere Rolle spielte.« (Abraham 2002: 16) Die neuen Sichtweisen auf den Körper beeinflussten auch die Entwicklungen in der Tanzkunst, die damit in ihre postmoderne Phase eintrat und sich gegen die bisherige »aristokratisch-bürgerliche Indienstnahme« (Huschka 2002: 247) des tanzenden Körpers richtete. Tänzer*innen haben sich in dieser Zeit in Kollektiven zusammengeschlossen, als deren bekannteste das Judson Church Theater (1960-1964) in New York und die freie Improvisationsgruppe Grand Union (1970-1976) gelten (Huschka 2002). Eine forschende Grundhaltung der Tänzer*innen war symptomatisch; ihre tänzerische Arbeit war von einem »experimentell-anarchistischen Geist« (Kaltenbrunner 2009: 46) getragen. Tanz wurde vor allem als Bewegungsforschung verstanden (Huschka 2002). Tanzende nutzten ihren Körper als Erkenntnisinstrument, um Prinzipien des Miteinander-Tanzens zu erforschen oder um Gesetzmäßigkeiten sich bewegender Körper in Auseinandersetzung mit Schweroder Fliehkräften systematisch zu untersuchen. Die Tanzexperimente von Steve Paxton, Trisha Brown und vielen anderen liefern eindrückliche Beispiele. Im Vordergrund ihrer Bewegungsforschung stand »die Physikalität von Bewegung« (Bruns 2000: 14) und die »Demokratisierung der Sinne« (Bruns 2000: 14). »Die Priorität des visuellen Sinnes wurde aufgegeben, während die anderen Sine und ihre Bedeutung beim Tanzen zunehmend erforscht und entwickelt wurden« (Bruns 2000: 14f.). Bruns führt weiter aus, dass besonders der Tastsinn erforscht wurde, und dass »die genaue Körperwahrnehmung, das unmittelbare Erleben von Berührung und Bewegung und das Spiel mit den Reflexen« (Bruns 2000:

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15) Auslöser von Tanz waren. Weiterhin rückte die Arbeit mit einfachen alltäglichen Bewegungsabläufen wie Gehen, Stehen, Hinsetzen, Laufen in den Forschungsfokus. Es wurde mit dem Scheitern von Bewegungen, mit Hinken, Stolpern und Fallen experimentiert und diese Bewegungen wurden auch Gegenstand tanzästhetischer Produktionen. Die bis dahin vorherrschenden Konzepte von Virtuosität und Grazie im Tanz wurden verworfen (Fischer 2011). Die künstlerische Arbeitsweise in der postmodernen Phase war überwiegend interdisziplinär ausgerichtet, d.h. meistens arbeiteten nicht nur Tänzer*innen, sondern auch Musiker*innen, Schauspieler*innen, Schriftsteller*innen gemeinsam an Projekten. Choreographische Lösungen wurden in der gesamten Gruppe diskutiert und der Arbeitsstil war durchgehend demokratisch (Huschka 2002; Kaltenbrunner 2009). Die damaligen gesellschaftlichen Bedingungen sowie vor allem die von Steve Paxton entwickelte Kontaktimprovisation – welche auf einem »direkten, sinnenintensiven und weitflächigen Körperkontakt« (Huschka 2002: 274) basiert – bereiteten den Boden, auf dem der Mixed-abled Dance entstehen konnte. Alito Alessi griff diese Grundidee auf, um sie – vor dem Hintergrund eigener persönlicher und familiärer Erfahrung mit Behinderung – auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen (DanceAbility international o.J.). Da sich in der Tanzpraxis die Idee der Kontaktimprovisation auf das gemeinsame Tanzen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung nicht ohne Weiteres umsetzen ließ, wurde in der Folge nach solchen Methoden und Übungen geforscht, die niemanden ausgrenzten. Aus diesem Forschungsprozess heraus entwickelte Alito Alessi Ende der 1980er Jahre die Methode DanceAbility – anfangs gemeinsam mit der Tänzerin Karen Nelson. DanceAbility versteht sich als eine Forschungsmethode, die der Frage nachgeht, welche Situationen im gemeinsamen Tanzen Ausgrenzung hervorrufen, wie mit solchen exkludierenden Situationen umgegangen werden kann und wie diese vermieden werden können (Holzer 2010). Aus dem damaligen Zeitgeist heraus haben sich weltweit Menschen mit und ohne Behinderung zusammengeschlossen, um (auch professionell) zu tanzen. Nicht alle waren von der Kontaktimprovisation beeinflusst. Einige gründeten ihre Arbeitsweise auf den kreativen Errungenschaften des deutschen Ausdruckstanzes zwischen 1920 und 1930 (Quinten 2017a), so auch Hilde Holger (19052001), eine Schülerin der österreichischen Ausdruckstänzerin Getrud Bodenwieser (1890-1955). Sie gründete in den 1960er Jahren in London eine inklusive Tanzgruppe für Menschen mit geistiger Behinderung, um ihrem eigenen Sohn, der mit Trisomie 21 auf die Welt kam, tanzen zu ermöglichen. An ihrem Unterricht nahmen mit Wolfgang Stange (Gründer der AMICI Dance Theater Company) und Roystom Maldoom (Community Dance) zwei aktuelle Vertreter der mixed-abled Szene teil (Hirschbach/Takvorian 1990). Ein anderes Beispiel ist

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das Kölner Tänzerkollektiv MOBIAKI, in der Menschen mit und ohne Rollstuhl gemeinsam tanzten und choreographierten. Die Arbeitsweise in dieser Gruppe wurde vom Elementaren Tanz geprägt, wie er in den 1970er und 1980er Jahren an der Deutschen Sporthochschule in Köln gelehrt wurde. Aus MOBIAKI ist Mitte der 1990er Jahre die DIN A13 Tanzcompany unter der Leitung von Gerda König hervorgegangen, die bis heute mixed-abled Tanzkunst auf hohem künstlerischem Niveau international performt.

M ERKMALE DER KÜNSTLERISCHEN F ORSCHUNG IM M IXED - ABLED D ANCE Die Gestaltung von Kommunikation und Kooperation zwischen Tänzer*innen mit und ohne Beeinträchtigung, die Entwicklung von nicht-ausschließenden Methoden der Tanzvermittlung oder auch die Transformation individueller Voraussetzungen in der Gruppe in künstlerische Ausdrucksformen wurden eingangs als typische Herausforderungen im Mixed-abled Dance genannt. Folgerichtig lässt sich die Praxis des Mixed-abled Dance zu weiten Teilen als ein künstlerisches Forschungslabor verstehen, in dem systematisch nach Lösungen für die Vielzahl an Problemen gesucht wird. Anhand dreier Merkmale wird im Folgenden das Forschen im Mixed-abled Dance näher beschrieben. Körperlich-leibliche Verfasstheit der Forscher*innen und ihre sinnlich-ästhetischen Erkenntniswege Der historische Exkurs über die Entstehung des Mixed-abled Dance aus dem Postmodernen Tanz heraus zeigte, dass bei der Bewegungsforschung vor allem mit den körpernahen Sinnen wie dem Tasten oder Berühren sowie mit dem Bewegungsempfinden (kinästhetischer Sinn), experimentiert worden ist. Als typisch wurden außerdem disziplinübergreifende Arbeitsweisen unter Einbezug von Musik, Sprache u.v.a.m. herausgearbeitet. Diese Forschungsstrategie basiert auf der durch Verknüpfung mehrerer Sinne entstehenden intensiven polyästhetischen Erfahrung als »Mehrwahrnehmung« (Roscher 1976: 290). Zwei wichtige Prinzipien einer solchen interdisziplinären künstlerischen Arbeitsweise sind die Analogiebildung und die Transformation (vgl. Hallmann 2016). Analogiebildung meint dabei das Herausarbeiten von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Sinnesmodalitäten bzw. zwischen den einzelnen Künsten, wie beispielsweise das InBeziehung-Setzen von Farbwahrnehmung und Ton oder von Rhythmus und Bewegung. Bei der Transformation handelt es sich um eine Form ästhetischer Um-

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wandlung eines künstlerischen Mediums in ein anderes wie beispielsweise das Aufmalen von Eindrücken aus einer Tanzimprovisation auf Papier. Dadurch kann Wissen von einem Ausdrucksmedium in ein anderes umgewandelt werden. »Da jedes künstlerische Medium über eigene spezifische Stimulierungs- und Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, werden durch die Transformationen jeweils neue Perspektiven auf das Wissen eröffnet. Der intermedial geführte Forschungsprozess führt so zu immer neuen, vertiefenden und differenzierten Erkenntnissen« (Quinten 2016b: 4). Für die künstlerische Forschung im Mixedabled Dance sind diese Transformationsmöglichkeiten von besonderer Bedeutung, da mit ihrer Hilfe Lösungsmöglichkeiten für Interaktions- oder Kooperationsbarrieren generiert werden können und somit Teilhabe auch für sinnesbeeinträchtigte Menschen möglich wird. Ein historisches Beispiel kann das gut veranschaulichen. Im Jahr 1954 nahm die blinde und gehörlose Schriftstellerin Helen Keller Tanzunterricht bei der amerikanischen Tänzerin Martha Graham (18941991). Durch Tasten und Mitbewegen in direktem Körperkontakt konnte sie Tanzbewegungen erfassen und lernen (Seham/Yeo 2015). Auch half ihr die Wahrnehmung von Vibrationen, eine Vorstellung von Rhythmus und Musik zu entwickeln. Kinästhetisch-taktile Methoden der Tanzvermittlung wie das physical guiding oder das tactile modeling (Seham/Yeo 2015) eröffnen sehbeeinträchtigten und blinden Menschen – neben Verbalisierungen – soziale und künstlerische Teilhabe. Im Mixed-abled Dance dienen polyästhetische Zugänge nicht nur als Kompensation für eine beeinträchtigte oder fehlende Sinneswahrnehmung, sondern können auch Anlass für die Gestaltung neuer Ausdrucksformen sein. In diesem Sinne äußert sich auch der blinde Soziologe Siegfried Saerberg: »Im Grunde sind Sehende in ihrer Wahrnehmung viel eingeschränkter als Blinde, weil sie sich fast nur auf ihre Augen verlassen. Dabei bieten die anderen Sinne so viele Potenziale, die ungenutzt bleiben.« (zit. n. Stiftung Lebensspur e.V. o.J.). Die beschriebenen Beispiele zeigen eindrücklich, dass die mit der Kontaktimprovisation verknüpfte Idee der »Demokratisierung der Sinne« (Bruns 2000: 14) einen fruchtbaren Rahmen für die Entwicklung eines Tanzgenres (Paxton) geliefert hat, die alle Menschen unabhängig von ihren jeweiligen Voraussetzungen inkludieren kann. Sie zeigen auch, dass die körperlich-leibliche Verfasstheit der Tanzenden im Mixed-abled Dance das Fundament für ihre Forschungstätigkeit darstellt. Anke Abraham hat sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit explizit mit der körperlich-leiblichen Dimension von Erkenntnistätigkeit beschäftigt (z.B. Abraham 2002, 2016). Ihre Ausführungen liefern wertvolle Anregungen zum besseren Verständnis der künstlerischen Forschung im Mixed-abled Dance als einer Form leiblichen Forschens. In ihrem Buch Der Körper im biographischen Kon-

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text. Ein wissenssoziologischer Beitrag (Abraham 2002) hat sie sich mit der Bedeutung der körperlich-sinnlichen Erkenntnisform für die sozialwissenschaftliche Forschung auseinandergesetzt. Das Hauptanaliegen besteht für sie darin, das Repertoire der sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden »um die leiblichaffektive Wahrnehmung« zu bereichern (Abraham 2002: 189). In diesem Zusammenhang arbeitet sie auch die Bedeutung der Körperresonanz für die sozialwissenschaftliche Forschung heraus und gründet ihre Überlegungen vor allem auf die leibphänomenologischen Konzeptionen der »Zwischenleiblichkeit« von Maurice Merleau-Ponty und der »wechselseitigen Einleibung« von Hermann Schmitz (Abraham 2002: 192; Gugutzer 2017: 390). Diese leibphänomenologischen Ansätze stellen das Konzept des Leibes in den Mittelpunkt, welches die unmittelbare Einbindung des Menschen in sein soziales und ökologisches Umfeld begrifflich fasst und die Spaltung von Körper, Seele und Geist überwinden will. Durch seine Leiblichkeit ist dem Menschen ein unmittelbarer und primärer Zugang zur Welt und zu anderen Menschen gegeben. Schon präreflexiv kann jeder Mensch über seinen Leib an der Welt teilhaben, ohne Sprache mit anderen leiblich kommunizieren und sie verstehen (Merleau-Ponty 1966: 405; Schmitz 1972). Möglich wird das durch die dem Leib eigenen sensorischen Funktionen wie beispielsweise die visuelle, auditive, taktile oder kinästhetische Wahrnehmung. Der Körper eines*einer tanzenden Bewegungsforscher*in kann – in Anlehnung an Anke Abraham – als ein komplexes leibliches Sensorium verstanden werden, das als Quelle der Erkenntnis genutzt wird (Abraham 2002: 182ff.). Mit dem »komplexen leiblichen Sensorium« wird zum Ausdruck gebracht, dass alle Sinnesmodalitäten gleichwertig an der handelnden und reagierenden Auseinandersetzung mit den jeweiligen situativen Bedingungen beteiligt sind. Das Besondere am Erkenntnisgewinn durch das »körperleibliche Sensorium« liegt nach Anke Abraham darin, dass diese Erkenntnisse »ontogenetisch wie symboltheoretisch vor der Sprache liegen. Gemeint ist damit der riesige Bereich des Empfindens, Fühlens und Ahnens, der sich speist aus multiplen sich überlagernden, verdichtenden und wieder verflüchtigenden Eindrücken, aus Empfindungen in den Eingeweiden, taktilen Sensationen, huschenden inneren Bildern, einem plötzlichen Aufmerken oder Innehalten, einer inneren Anziehung, einer schroffen Abwendung« (Abraham 2016: 26).

Für das Forschen in fähigkeitsgemischten Tanzkollektiven, in denen Menschen mit ganz unterschiedlichen körperlich-motorischen, kognitiven, sprachlichen Voraussetzungen kooperieren, kann ein solches leiblich-sinnliches Wissen, das auch »ohne kognitive Unterstützung oder verbale Übersetzung« (Abraham 2016:

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21) auskommt, als ein common ground fungieren. Besonders im Hinblick darauf, dass in fähigkeitsgemischten Tanzkollektiven auch heterogene kognitive und sprachliche Voraussetzungen vorliegen können, ist es wichtig zu betonen, dass künstlerisches Wissen zu weiten Teilen auch »ohne kognitive Unterstützungen oder verbale Übersetzungen« (Abraham 2016: 21) auskommt. Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung können unter Zugrundelegung eines solchen – nicht an Rationalität oder Logik geknüpften – Wissensbegriffes (vgl. Fornefeld 2004) an (künstlerischer) Forschung partizipieren. Die an die Bewegungserfahrung des Leibes gebundene Erkenntnis bezeichnet Merleau-Ponty als Praktognosie. Dem Menschen ist eine motorische Intentionalität zu eigen, die es ihm erlaubt, »[…] sich kinästhetisch – ›bewegend-wahrnehmend‹ – im Raum zu orientieren, sich darin spontan auf die Dinge und die anderen Lebewesen zu beziehen und im direkten Kontakt mit ihnen ihren Sinn zu erfahren« (Fischer 2010: 171). Kooperativ-partizipative Forschungssituation Die Forschungsaktivitäten im Mixed-abled Dance finden häufig zwischen Tanzenden mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen statt. Grundsätzlich sind sie kooperativ angelegt, da sie an gemeinsamen Zielen ausgerichtet sind. Somit kann der Mixed-abled Dance auch als gutes Beispiel einer kooperativen Praxisforschung im Tanz (Fleischle-Braun 2016) verstanden werden. Die Forschungssituation im Mixed-abled Dance ist immer eine interaktive, bei der Forschende mit und ohne Behinderung gleichwertig miteinander kooperieren. Menschen mit Beeinträchtigungen sind Spezialist*innen für spezifische Wahrnehmungs-, Bewegungs-, Denk- und Ausdrucksweisen. Sie haben individuelle Lernwege, spezifische Kommunikations- und Kooperationsweisen entwickelt. Ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Perspektiven fließen in den Forschungsprozess, in die Entwicklung von Forschungsfragen und Lösungen mit ein. Forschung im Mixedabled Dance ist somit immer auch »partizipative Forschung« (Bergold 2013; Unger 2014) – ein Forschungsaspekt, welcher der Philosophie und der künstlerischen Arbeitsweise des Postmodernen Tanzes, vor allem der Kontaktimprovisation entstammt (s.o.). Im Zuge einer kooperativ-partizipativen Forschung spielen Körperresonanzen eine wichtige Rolle. Im bewegten Miteinander lassen sich die Bewegungsforscher*innen berühren, sie sammeln Erfahrungen im Umgang mit ›anderen‹ Körpern, mit unbekannten Bewegungsmustern oder ›eigenartigen‹ Bewegungsqualitäten. In dieser Auseinandersetzung bilden sich auch leibliche Resonanzen, die sowohl die künstlerische Kreativität anregen, als auch für die Verständigung

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der Gruppenmitglieder untereinander von Bedeutung sind. Für das Kommunikationsgeschehen sind leibliche Resonanzen ein wichtiger Mechanismus, um »die Spuren eines unbelebten wie belebten Gegenübers aufzunehmen und sich in Letzteres einzufühlen. Dieses empathische Vermögen ist eine wesentliche Voraussetzung für ein Verstehen des Anderen wie für ein Selbstverstehen« (Abraham 2016: 25). Allerdings betont Abraham, mit Bezug auf Hermann Schmitz, dass der Prozess der Einfühlung in einen Anderen immer auch ›gebrochen‹ ist: »das ›Ich‹ ist stets ein Anderer als das ›Du‹ und das spezifische Erleben des Anderen bleibt uneinholbar – es kann allenfalls in Annäherung erfasst werden.« (Abraham 2002: 198). Dieser Gedanke ist besonders wichtig, wenn es um leibliche Resonanzvorgänge in Gruppen geht, deren Mitglieder sich durch sehr starke Unterschiede in den individuellen Voraussetzungen auszeichnen. Auf jeden Fall ist es – um einen anderen Menschen in einer interaktiven Forschungssituation leiblich zu verstehen – grundsätzlich notwendig, dass die Forschenden Nähe untereinander zulassen können und dass sie auch bereit dazu sind, sich von der jeweiligen Forschungssituation berühren zu lassen (Gugutzer 2017: 390). Transformatorisches Potential Die Kooperation von Menschen mit und ohne Behinderung bringt alle Beteiligten oftmals an Grenzen der eigenen Möglichkeiten, wenn beispielsweise die Verständigung nicht gelingt oder wenn trotz einer langen Zeit des gemeinsamen Suchens und Experimentierens für das gemeinsame Lösen einer Bewegungsaufgabe kein zufriedenstellendes Ergebnis gefunden wird. Die beteiligten Gruppenmitglieder sind immer wieder mit neuen Bedingungen, anderen Reizen konfrontiert, die entsprechend starke Differenzerfahrungen und leiblich-affektive Reaktionen wie z.B. ein Staunen oder ein Unbehagen hervorrufen können – sowohl bei den Mitgliedern ohne, als auch mit Behinderung. Gleiches gilt für den kreativen Umgang mit Objekten, Rollstühlen, Gehhilfen u.v.a.m. Neben den für die Beteiligten manchmal unangenehmen Gefühlen oder schwer zu bewältigenden Herausforderungen gilt es festzuhalten, dass leiblich-affektive Regungen eine wichtige Erkenntnisquelle sein können. Darauf verweist Gugutzer (2017) mit Bezug auf Anke Abraham (2002): »Eine Quelle der Erkenntnis sind leiblich-affektive Regungen wie Staunen, Stutzen, Unbehagen oder Ärger insofern, als sie das Forschungssubjekt aufmerken lassen und dadurch dessen kontinuierlichen Denkprozess ins Stocken bringen oder ganz unterbrechen. Allgemein gesagt besteht das Erkenntnispotential solcher Leibregungen somit darin, dass sie einer Differenzerfahrung entsprechen, und Differenzerfahrungen die Grundlage von Er-

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kenntnis sind [...] [E]ine Erkenntnisquelle sind leiblich-affektive Differenzerfahrungen dabei vor allem dann, wenn sie sich dem Forschungssubjekt als leibliche Irritation bzw. als spürbare Widerständigkeit aufdrängen (…)« (Gugutzer 2017: 386).

Im Mixed-abled Dance können solche leiblich-affektiven Differenzerfahrungen, die sich »als spürbare Widerständigkeit aufdrängen« (ebd. 2017: 386) Erfahrungsprozesse in Gang setzen, die zu einem veränderten Welt- und Selbstverständnis führen – ganz im Sinne eines transformatorischen Bildungsverständnisses, wie es von Koller (2012) herausgearbeitet worden ist. Dieses versteht Bildung als einen Erfahrungsprozess »aus dem ein Subjekt ›verändert hervorgeht‹« (Koller 2012: 9), und zwar sowohl was sein Denken, als auch sein gesamtes Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst betrifft. Ein Beispiel für einen solchen Veränderungsprozess hat Sarah Whatley (2007) auf der Basis einer qualitativen Forschungsstudie über den Verlauf von Wahrnehmungs- und Einstellungsänderungen von Studierenden herausgearbeitet, die Videos mit inklusiven Tanzaufführungen angeschaut haben: Während in der Anfangsphase ein am klassischen ästhetischen Körper- und Bewegungsideal orientierter Blick auf die Tänzer*innen mit Behinderung überwiegt (einhergehend mit einer voyeuristischdistanzierenden und abwertende Grundhaltung) verringert sich im weiteren Verlauf die innere Distanzierung und Behinderung wird allmählich als selbstverständlicher Teil von Vielfalt betrachtet. Die Zuschauer*innen gehen aus diesem Erfahrungsprozess (einstellungs-)verändert heraus.

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B ILDUNGSLANDSCHAFT

Auch in der schulischen Bildungslandschaft spielt der Mixed-abled Dance zunehmend eine wichtige Rolle bei der Umsetzung von Inklusion. Bei der schulischen Inklusion geht es in Anlehnung an Boban/Hinz (2003) vor allem um den »Abbau von Barrieren für das Lernen und die Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen aller Nationen, Ethnien, Religionen, Herkunftsfamilien, Geschlechts etc. So soll individuellen, sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Lernzugängen von Kindern und Jugendlichen entsprochen werden« (Boban/Hinz 2003: 10). »(1). Jeder Schüler soll mit anderen Schülern in der Gemeinschaft lernen können und in seiner Individualität Akzeptanz und Wertschätzung erfahren (Boban/Hinz 2003).« (Quinten 2016a: 369). Aufgrund seiner spezifischen kreativen Arbeitsweise, die ein hohes Maß an Differenzierung im Unterricht erlaubt, eignet er sich besonders dazu, Lern- und Teilhabebarrieren für Schüler*innen mit Behinderung

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bzw. mit Förderbedarf abzubauen. Inklusiven Tanzangeboten wird häufig das Potential zugesprochen, die Entwicklung eines toleranten, demokratischen, solidarischen und friedlichen Miteinanders fördern zu können. Dies geschieht vor allem über den Abbau von Vorurteilen und Einstellungsänderung gegenüber Menschen mit Behinderungen (Quinten 2014a). Der Einstellungswandel kann dabei sowohl rezeptiv, d.h. durch das Anschauen von Tanzaufführungen, an denen Tänzer*innen mit Behinderung teilnehmen, als auch aktiv, d.h. durch die eigene aktive Teilnahme an fähigkeitsgemischten Tanzensembles gefördert werden (vgl. Elin/Boswell 2004: 9ff.). Mixed-abled Tanzangebote in Schulen sind im Sinne der UN-BRK Teil der Bildungskette, die zu einem Bewusstseins- und Einstellungswandel der Gesellschaft und damit zur Verbesserung der sozialen Teilhabechancen behinderter Menschen beitragen können. Unter erziehungswissenschaftlicher Perspektive lassen sich fähigkeitsgemischte Tanzangebote dem Konzept der »Diversity-education« (Georgi 2017: 17) zuordnen, welche »die Vielfalt der Kulturen als Reichtum und Potenzial« (Georgi 2017: 17) betrachten, ohne dass sie die nicht selten auftretenden Konflikte leugnen. Entsprechend ist die kontinuierliche Förderung des sozialen Miteinander in den meisten Lehrbüchern und Manualen der fähigkeitsgemischten Tanzvermittlung ein zentraler curricularer Baustein (Quinten 2014b).

F AZIT Anke Abraham hat mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten über das körperlichleibliche Erkenntnispotential des menschlichen Körpers wichtige Grundlagen geschaffen, um das künstlerische Forschen im Tanz als leiblichen Forschungsansatz näher beschreiben zu können. Auf diesen Grundlagen wurden im Beitrag die Forschungsaktivitäten im Mixed-abled Dance anhand dreier Merkmale genauer charakterisiert. Erstens basieren die Forschungsaktivitäten auf der körperlichleiblichen Verfasstheit aller Beteiligten und generieren Wissen primär mittels sinnlich-ästhetischer Erkenntnisweisen. Zweitens sind die Forschungsaktivitäten als kooperativ-partizipativ zu bezeichnen, da sich in der Regel mindestens zwei Forscher*innen gleichwertig an der Lösungssuche beteiligen. Drittens bergen die Forschungsaktivitäten in fähigkeitsgemischten Kollektiven hohes transformatorisches Potential, da sie aufgrund der vorherrschenden Vielfalt an Differenzen Erfahrungsprozesse initiieren, die zu Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Einstellungsänderung aller Beteiligten führen können. Die vorliegenden Ausführungen weisen den Ansatz des leiblichen Forschens im Mixed-abled Dance mit seinen leiblich-sinnlichen Forschungszugängen als bil-

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dungsrelevant aus. Die Partizipation an Forschungstätigkeiten im Mixed-abled Dance kann neue Möglichkeiten im Zugang zur Welt und zu sich selbst sowie im Umgang mit Welt und sich selbst erschließen. Sie kann zur Wertschätzung von Vielfalt der Kulturen, zu einem Bewusstseins- und Einstellungswandel der Gesellschaft und damit zur Verbesserung der sozialen Teilhabechancen behinderter Menschen beitragen.

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Bewegung, Bildung und leibliche Erfahrungen Das pädagogische Potential sportlicher Bewegungshandlungen R ALF L AGING

1. V ORBEMERKUNGEN Der Beitrag diskutiert die körperliche Bewegung im Kontext sportlichen Handelns als Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse. Bildungs- und erziehungstheoretische Diskurse zur Bedeutung von Körperlichkeit und Bewegung haben in jüngster Zeit wieder an Aktualität gewonnen. Die Theoriediskurse zur körperlichen Bewegung und leiblichen Erfahrung sind lange Zeit vernachlässigt, ignoriert oder marginalisiert worden. Die unterschiedlichen Konjunkturen der Pädagogischen Anthropologie verweisen auf die jeweilige Bedeutung des performativen Körperausdrucks in den je aktuellen Bildungsdiskursen (vgl. Wulf 2015). Dabei scheint die Bedeutung des Körperlichen als unhintergehbar im Bildungsprozess durchaus über die Pädagogische Anthropologie hinaus konsensfähig zu sein; offen ist jedoch, wie Körper und Bewegung zum Thema einzelner wissenschaftlicher Zugänge gemacht werden und was davon im Verweisungszusammenhang von körperlicher Erkenntnis und Menschen-Welt-Bezug (Franke 2008: 16) für Erziehungs- und Bildungsprozesse sowie für die pädagogische Praxis Bedeutung erlangt und erlangt hat. In diesem Kontext hat Anke Abraham (2013) in einem lesenswerten Aufsatz danach gefragt: Wie viel Körper braucht die Bildung? Hier problematisiert sie sehr anschaulich, wie Lernen und Bildung rationalen Optimierungsprozessen unterzogen werden, deren Programme nicht mehr erkennen können, was Menschen gewinnen, wenn sie ihre Körperlichkeit systematisch in Bildungsprozesse einbringen. Der vorliegende Beitrag thematisiert im

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Sinne Anke Abrahams unsere leiblich-affizierte Verfasstheit als Besinnung und Reflexion im zunehmend kognitivistisch-rationalen Bildungsdiskurs der Schule und im Speziellen des Schulsports. Er fokussiert auf Körperbewegungen in einem doppelten Sinne: Zum einen geht es um die körperlichen Bewegungen im Kontext sportlichen Handelns und zum anderen um die hierauf bezogenen Bildungskonzepte.

2. K ÖRPERBEWEGUNGEN – Z WISCHEN M ATERIALISIERUNG UND ÄSTHETISCHER E RFAHRUNG Was sind nun Körperbewegungen und wie werden sie zu bildenden Bewegungen? Körperbewegungen sind zunächst einmal leiblicher Ausdruck unserer Existenz.1 Im Alltag suchen wir die sichere Beherrschung des Körpers in all unseren zweckrationalen Bewegungen (beim Gehen und Treppensteigen ebenso wie beim Umgang mit Messer und Gabel). Diesem instrumentellen Körpergebrauch lassen sich gleichsam übersteigend weitere funktionale Bedeutungen der menschlichen Bewegung hinzufügen, wie der symbolische Ausdruck durch Bewegung, die soziale Begegnung und Empathie im gemeinschaftlichen Bewegungshandeln oder die Sensibilisierung zur Identitätsbildung in der körperlichen Selbsterfahrung (vgl. Funke-Wieneke 2010: 195ff.). Diese funktionalen Bedeutungen der Bewegung spielen in vielen Situationen von Schule und Unterricht sowie in außerschulischen pädagogischen Kontexten eine für unser Handeln leitende Rolle; sie sind oft genug Anlass unterschiedlicher Körperpraktiken sowie Selbst- und Fremddeutungen und fordern zugleich zur Reflexion über den Umgang mit Körperlichkeit und körperlichen Aufführungen in pädagogischen Interaktionen auf (vgl. Lang 2017; Wulf 2015; Z.f. Erziehungswissenschaft, Heft 1 2015). Sie sind insofern Mittel der Selbstfindung, Positionierung im Sozialen und Klärung eigener Entwicklungsprozesse oder aber einer funktionalen Alltagsbewältigung geschuldet. Es geht hierbei um die Suche nach emotionaler und motorischer Sicherheit im Umgang mit der eigenen Körperlichkeit und dem eigenen Bewegungsvermögen.

1

Körperbewegungen folgen einem substantiellen Verständnis von Leiblichkeit, das auf eine veräußerlichte physisch-mechanische Betrachtungsweise fokussiert ist. »Leiblicher Ausdruck« steht dagegen im anthropologischen Sinne für eine relationale Betrachtung von Leiblichkeit mit einer intentionalen Bezogenheit des Menschen auf seine Welt (vgl. Tamboer 1994; Gebauer/Wulf 1998).

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Dieser Beitrag thematisiert hingegen solche Bewegungen, für die die Unsicherheit im Gelingen einer Bewegung sowie die Offenheit im Ausgang konstitutiv ist und die ausschließlich einem selbstbezüglichen autotelischen Sinn folgen, wie dies in Spiel und Sport der Fall ist und selbst erlebt werden kann. Es geht also nicht um die wiederkehrenden, routinierten und auf einen sicheren Ausgang zielenden Körperbewegungen mit ihrem Gebrauchswert im Alltag und auch nicht um solche Bewegungen, deren Körperausdruck und -praktiken in pädagogischen Interaktionen bedeutsam sind (vgl. z.B. Reh/Fritsche/Idel/Rabenstein 2015; Pille/Alkemeyer 2016). Körperbewegungen in Spiel und Sport unterscheiden sich zunächst einmal durch ihre Sinnlosigkeit in einem sinngenerierenden ästhetischen Erfahrungsprozess. Ommo Grupe hat in seinen frühen leibanthropologischen Studien mit Bezug auf Plessner und Gehlen die Dimension der Leiblichkeit im Sport herausgearbeitet und auf dieser Grundlage die Selbstbezüglichkeit sportlichen Handelns begründet: »Was den Sport betrifft, ist er […] der Inbegriff von Situationen, die nicht von Natur aus da sind, keine Lebensnotwendigkeit im strengen Sinn darstellen, sondern als selbstgeschaffene Situationen eine immer wieder neue Herausforderung an den Menschen darstellen, seinem Leben Spannung zu erhalten und größere Fülle zu geben, unser Leben und die Welt, in der wir leben, nicht auf ihre rationalen, zweckhaften, technischen Möglichkeiten reduzieren zu lassen, sondern neue herauszufinden […]. Sport ist in diesem Sinne nicht nur Vergnügen, Erholung, Entspannung, Spiel – das natürlich auch; er ist aber immer auch eine Möglichkeit, uns die freiwillige Selbsterschwernis unseres Lebens zuzumuten, aus der Kultur entsteht« (Grupe 1982: 106ff.).

Diese selbstgeschaffenen Situationen der Erschwernis folgen einer anderen Logik als die von Alltagsbewegungen und alltäglichem Bewegungsausdruck. Die Differenz zwischen sportlicher Bewegung und Alltagsbewegung zeigt sich in der Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation: »Es wird […] nicht gesprungen, weil ein Hindernis im Wege steht, sondern man stellt sich ein Hindernis in den Weg […], um springen zu können […] Das ›Hindernis‹ ist hier keine widerfahrende ›Störung‹ des funktionellen Bewegungsablaufs als Mittel für einen bestimmten Zweck, sondern eine absichtlich hergestellte Bedingung der Möglichkeit einer spezifischen Erfahrung des Bewegungsprozesses durch Verunsicherung des Bewegungserfolgs« (Prohl/Scheid 2012: 25ff., Herv. i.O.).

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Der Zweck liegt nun in der Bewegung selbst: im Überspringen eines Hindernisses. Damit gewinnt die Bewegung im Vollzug ihre je eigene autotelische Qualität, die als ästhetisches Erfahrungsfeld gefasst werden kann. In diesem Sinne lässt sich auch die Beschreibung von Gebauer zum Springen deuten: »Das einzige Interesse des Springers am Springen ist sein Vergnügen, die einzige Rechtfertigung ist die berauschende Freude« (Gebauer 1971: 79). Damit erlangt das SichBewegen eine – wie Elk Franke (2007: 177) schreibt – »quasi ästhetische Bedeutungsstruktur«, die nicht der subjektiven ›Willensentscheidung‹ des*der Akteur*in zuzurechnen ist, sondern im Kant’schen Sinne als ›interesseloses Wohlgefallen‹ bzw. ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ dem Kriterium ›ästhetisches Œuvre‹ folgt (Franke 2001: 22). Sportliche Bewegungshandlungen sind nach Franke im Kant’schen Sinne ›Geschmacksurteile‹, die sich »auf ein allgemeines Wohlgefallen« stützen (ebd., Herv. i.O.). In diesem Sinne wird Ästhetik zu »einer spezifischen Erfahrungs- und Erkenntnisweise von Welt« (Franke 2001: 24, Herv. i.O.). So zeigt sich, dass bei einer Handlung »die Sinnhaftigkeit nicht über die Ziele [bzw. Zwecke, R.L.] definiert wird, sondern die Wahrnehmung oder die Bewegung selbst – gleichsam ›reflexiv‹ – auf sich verweisend, im Mittelpunkt der Betrachtung steht« (Franke 2001: 24). Erst in diesem reflexiven Prozess einer »ästhetischen Urteils-Bildung« im Kontext des »allgemeinen Wohlgefallens« (ebd.: 22, Herv. i.O.) lassen sich unter den je spezifischen Konstitutionsbedingungen überhaupt erst sportliche Bewegungen als Bildungsmöglichkeit interpretieren. Um nun sportliche Bewegungen in der selbstbezüglichen Verweisung als Bildung zu deuten, ist noch ein Zwischenschritt erforderlich, der eine Unterscheidung von Körperbewegungen und bildenden Bewegungen vornimmt. Die Bewegungswissenschaft, die sich mit dem Phänomen Bewegung aus wissenschaftlicher Perspektive befasst, folgt recht divergenten Traditionslinien. Die Galilei’sche Denktradition versteht den Körper quasi materialisiert als Substanz, die als messbare Ortsveränderung in Raum-/Zeitkoordinaten unter dem Blick von Ursache und Wirkung empirisch-analytisch untersucht wird. Der Körper ist eine in sich geschlossene Entität, die als isolierbare Gegebenheit im Hinblick auf Gesetzmäßigkeiten in Erscheinung tritt. Tamboer (2005: 85) spricht in diesem Zusammenhang von einem substantiellen Körperbild, das einer Maschinenmetapher wie ›Uhrwerk‹, ›Dampfmaschine‹ oder ›Computer‹ entspricht und kontextunabhängige Untersuchungen von Körperbewegungen ermöglicht, dabei körperliche von nicht-körperlichen Faktoren unterscheidet und unter der Fragestellung von Ursache-Wirkungszusammenhängen auf die Trennung von Innen und Außen angewiesen ist. Die Modelle sind neben einer mechanischen Betrachtung am Paradigma der Informationsverarbeitung oder auch an den Theorien der

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dynamischen Systeme orientiert, die auf die Selbstorganisation setzen und davon ausgehen, dass »das Bewegen ›wie von selbst‹« geschieht (Tamboer 2005: 85; vgl. auch Künzell 2015). Körperbewegungen kennen kein Subjekt, keinen konstitutiven Kontext, keine Intentionalität und kein In-Beziehung-Treten zur Welt. Körperbewegungen wie Armbeugen, Rumpfheben oder Beinstrecken sind Muskelkontraktionen, denen ein physiologisches Substrat auf der Ebene von Muskelfasern zugrunde liegt. Der Begriff ›Körperbewegungen‹ ist daher wenig geeignet, Bildungsprozesse zu fassen und zu beschreiben. Dies erfordert ein anderes Körperbild mit einem anderen Menschenbild, das auf einem relationalen Verständnis von Mensch und Welt fußt. Tamboer (2005: 87ff.) begründet mit Bezug auf anthropologisch orientierte Studien, wie sie Buytendijk (1956), von Weizsäcker (1973) oder Merleau-Ponty (1966) vorgelegt haben, im Kontext aristotelischer Denktradition ein relationales Körperbild, das Leiblichkeit als intrinsische Bezogenheit auf die Welt interpretiert. Im Gegensatz zur empirisch-analytischen Perspektive auf den Körper geht es hier um eine handlungstheoretische Perspektive, die in ihrer Intentionalität Bewegen als Bezogenheit auf etwas in der Welt deutet und zugleich das Bewegen in seiner Bedeutungsdimension versteht: Wir beziehen uns in unserem Bewegen nicht nur auf etwas außerhalb unserer selbst, sondern nehmen unser Bewegen unmittelbar als etwas wahr (vgl. Bietz 2005: 91). Tamboer (2005) spricht in diesem Sinne von Bedeutungsrelationen des Bewegungshandelns, die sich zuallererst aus den raum-zeitlichen Veränderungen des Bewegens selbst konstituieren. Das Beispiel des Springens über ein Hindernis verweist dann darauf, dass es nicht nur im Vergleich zu Alltagsbewegungen um die Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation geht, sondern vor allem um Bedeutungen, die sich aus der Aufgabe des Springens selbst ergeben, nämlich 1.) ein Hindernis in der Höhe als ›springbar‹ oder als ›zu hoch‹ bzw. ›zu niedrig‹ wahrzunehmen, 2.) die Erkenntnismöglichkeit einer primär auf ›Überspringen‹ gerichteten Intentionalität zu nutzen und 3.) das Springen selbst als Gestalt eines raum-zeitlichen Geschehens zu interpretieren. In dieser Relationalität bekommt die Ortsveränderung des menschlichen Körpers eine völlig andere Qualität; es entstehen auf diese Weise Bewegungshandlungen, die als ästhetisches Erfahrungsfeld Anschlüsse an den Bildungsdiskurs eröffnen – Bewegung ist immer ein Sich-Bewegen oder wie Erwin Straus (1956: 243) schreibt: »Der Muskel gerät in Bewegung, der Mensch bewegt sich.«

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3. B EWEGUNGEN

ALS

M EDIUM

VON

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Mit der Unterscheidung von Körperbewegungen und Bewegungshandlungen ist eine Differenzierung gefunden, die es ermöglicht, in Abhebung von mechanistischen oder biologistischen Körperkonzepten die menschliche Bewegung als Medium der Selbsthervorbringung im Zwischen von Mensch und Welt zu verstehen. Damit werden die Erfahrungs- und Erkenntnisqualitäten des Sich-Bewegens in das Bewegen selbst verlagert und nicht nach Subjekt/Objekt- oder Mensch/WeltKategorien unterschieden. Die Studie Spiel, Ritual, Geste von Gebauer und Wulf (1998) eröffnet mit einem Blick auf die Medialität des bewegenden Subjekts Anschlüsse an eine Bildungsperspektive der Bewegung. Dort heißt es: »Mit Hilfe ihrer Bewegungen nehmen Handelnde gleichsam Abdrücke von der Welt, formen diese zugleich und machen sie zu einem Teil von sich selbst. In der umgekehrten Richtung wird das Subjekt bei dieser Aktivität von der Umwelt ergriffen und seinerseits von dieser geformt. Das Grundprinzip dieser Welterzeugung im gegenseitigen Austausch ist die Bewegung, die sowohl die Plastizität des Körpers als auch die Formbarkeit der Umwelt ausnutzt. Sie ist in dieser Perspektive ein Medium, in dem beide Seiten ineinandergreifen […]. Im Medium der Bewegung nehmen Menschen an den Welten anderer teil und werden selber Teil der Gesellschaft« (Gebauer/Wulf 1998: 24; vgl. auch Schürmann 2018: 166ff., Herv. i.O.).

In sozialen Handlungen werden in mimetischen Prozessen Körperausdruck, sportliche Bewegungsformen und Umgang mit Dingen und Gegenständen in einer Weise gelernt, die keine Abbildungen äußerer Ähnlichkeiten, sondern je eigene Konstruktionen des Menschen sind: »der mimetische Prozess führt zu einer Differenz, die die Eigenständigkeit und den kreativen Charakter seiner Ergebnisse ausmacht« (Wulf 2013: 17). Der hier angesprochene Formungsgedanke schafft gleichsam die Voraussetzung dafür, das Sich-Bewegen als Vollzug zu verstehen, aus dem heraus erst Sinn entsteht, sich also »Sinn an Sinnliches bindet« (Hildenbrandt 2000: 19). Im Prozess des aktiven Sich-Anähnelns verweist die Differenz zum jeweils Anderen gleichsam auf den*die Akteur*in selbst zurück. Im Sehen sehe ich, dass ich sehe. Dieser von Franke (2005, 2015; vgl. auch Hildenbrandt 2000; Bietz 2005) umfänglich in Anlehnung an Cassierer, Schwemmer, Gebauer/Wulf, Bourdieu und Menke herausgearbeitete Gedanke eines mimetisch angelegten Formungsprozesses menschlichen Handelns kulminiert in der begründeten Annahme, dass die Reflexion »als eine wesentliche Basisbedingung von ästhetischen Prozessen anzusehen ist« (Franke 2015: 239). Das Erkenntnis- und Erfahrungspotential sportlichen Bewegungshandelns ergibt

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sich demnach erst aus dem Prozess des Sich-Bewegens als kulturelle Formung der Bewegung selbst und in der Zeitlichkeit des Bewegungsvorgangs (ebd.: 240). Der Sinn des Bewegens entsteht folglich nicht aus einer Zwecksetzung wie im Alltag, sondern »aus dem reflektorischen Bezug zur Handlung während des Handlungsprozesses« (ebd.: 241). Im Anschluss an das skizzierte Bewegungsverständnis lassen sich nun Bezüge in bildungstheoretischer Absicht herstellen, die auf das pädagogische Potential leiblich-sinnlicher Erfahrungen im sportlichen Bewegungshandeln verweisen und eine Bewegungsbildung im pädagogischen Kontext gut begründen können. Konstitutiv hierfür sind Differenzerfahrungen z.B. zwischen Spüren und Bewirken, Können und Nicht-Können, Ausführungs- und Idealformen, die an leiblich gebundene Handlungsbedingungen wie Zeit, Raum, Gleichgewicht, Rhythmus, Rotation usw. gebunden sind (vgl. ebd.: 242).

4. B ILDUNG IM B EWEGEN – AM B EISPIEL TURNERISCHEN B EWEGENS Sinnliche Differenzerfahrungen im Bewegen sind die Bedingung der Möglichkeit für Bildungsprozesse – so jedenfalls lassen sich die bisherigen Ausführungen in bildungstheoretischer Absicht weiterführen. Es geht dabei um die »Wechselwirkungen zwischen Mensch und Welt, in denen Welterfahrungen bildend auf ein Selbst zurückwirken und dieses sich verändert, indem es lernt, Weltverhältnisse differenziert zu erfassen« (Benner 2008: 221). Die Negativität der Erfahrung2 durch Differenz, Krise oder Irritation schafft gleichsam die Voraussetzung für Bildungsprozesse. Was geschieht nun im Prozess des Sich-Bewegens, um von Bildung sprechen zu können? Worin besteht die ästhetische Erfahrung, die gleichsam so etwas wie Bildung ermöglicht? Ich greife zur Erläuterung auf ein praktisches Beispiel des Turnens zurück. Zunächst soll beschrieben werden, worin die Bedingung der Möglichkeit besteht und was die spezifischen Herausforderungen des turnerischen Bewegens sind, die als ästhetische Erfahrung im

2

›Negative Erfahrung‹ meint in einem anthropologischen und bildungstheoretischen Sinne die Überschreitung der Wertdifferenz von umgangssprachlich gemeinten ›schlechten‹ und ›guten‹ Erfahrungen. Es geht um eine »Negativität anderer Art«, die dadurch zustande kommt, »dass Lernen Bekanntes in Unbekanntes und Unbekanntes in Bekanntes transformiert«; es geht um irritierende negative Erfahrungen, die Herausforderungen der Weltbegegnung und das Lernen überhaupt erst evozieren (Benner 2005: 7ff.; Meyer-Drawe 1999b).

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Handlungsvollzug zugänglich werden können: Welche Differenzerfahrungen in Zeit-Raum-Kategorien bzw. im Rhythmus und Gleichgewicht, in rotierenden und translatorischen Bewegungen sind möglich und was erschließt sich für das Subjekt in diesem »reinen Geschehen« und im Genuss der »Unwägbarkeit unserer körperlichen Natur«, wie es Martin Seel (1996: 198) in seiner Ästhetik des Sports ausdrückt? Er schreibt: »Sport ist körperliche, um ihrer selbst willen ausgeübte Aktion […]. Der Sinn dieser Anstrengung liegt darin, körperliches Tun als reines Geschehen erfahrbar werden zu lassen […]. Denn das Telos des Sports ist kein anderes als dieses ästhetische Telos – für eine bestimmte Zeit die Unwägbarkeit unserer körperlichen Natur zu genießen« (Seel 1996: 200).

Wie ist nun diese Unwägbarkeit unserer körperlichen Natur in das turnerische Geschehen eingebunden? Dazu eine knappe Beschreibung der problemhaltigen Bedingungen turnerischen Bewegens: Das Turnen ist wesentlich ein raumorientiertes Bewegen an Geräten. Auf diese Weise entstehen in enger Gebundenheit an ein Gerät Bewegungshandlungen, bei denen Turnende kopfüber stehen, um eine feste Achse rotieren, von hier nach da fliegen, schwingen oder schaukeln, auf schmalen oder wackeligen Unterstützungsflächen das Gleichgewicht zu halten versuchen, in die Luft steigen und wieder landen, sich in der Luft drehen und sich auf ebenen Flächen rollend oder überschlagend vorwärts, rückwärts, aufwärts oder abwärts bewegen. Diese Beschreibung verweist auf den strukturellen Kern des turnerischen Bewegens: sich vom Boden lösen und in raum-zeitlicher Dimension gerätebezogene funktionale Bewegungskunststücke formen und aufführen. Im Turnen stellen sich insofern Aufgaben aus dem je spezifischen Selbstverhältnis der Turnenden zum Gerät und dessen Bewältigungsanforderung: Wie muss ich auf das Gerät einwirken, es mir zu Nutze machen oder mich raumzeitlich zum Gerät positionieren, um die jeweils sich aus der situativen Beziehung zum Gerät stellende Aufgabe bewältigen zu können? (Vgl. Brodtmann/Landau 1982; Tholey 1987) Übersetzt in leiblich-sinnliche Erkenntnisund Erfahrungsqualitäten heißt dies z.B.: Was muss ich tun, um mein Bewegen so zu strukturieren und zu ordnen, dass mich das federnde Gerät in die Luft katapultiert und hoch auf eine Matte fliegen und in Wohlgefallen landen lässt? Oder (mit Bezug auf Seel 1996: 200): Was muss ich tun, um dieses ästhetische Telos als leibliche Erfahrung genießen zu können? Bildungstheoretisch geht es um die unterschiedlichen Positionierungen und Verhältnisse in der Raum-Zeitdimension zwischen Turner*in und Gerät als strukturellem und systematischem Kern des turnerischen Bewegens an Geräten.

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UND LEIBLICHE

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Turnende setzen sich mit den körperlichen Möglichkeiten des raum- und zeitorientierten Bewegens an Geräten auseinander und klären dabei ihr körperliches Selbstverhältnis in der Gerätebeziehung. Sie erfahren dabei, welche körperlichen Aktionen welche Effekte erzeugen und wie die Effekte zurückwirken auf die Formung ihrer Bewegungskunststücke. Dabei geht es immer auch um Gestaltoptimierung, Schwierigkeitssteigerung und Variationsverbreiterung. Turnerisches Bewegen erschließt insofern einen Möglichkeitsraum für die Entwicklung eines raum- und zeitorientierten Bewegungsvermögens bei Kindern und Jugendlichen. Als bildende Bewegung erschließt sich Turnenden die Welt in ihrer ästhetischen Erfahrungsqualität als raum-zeitliche Beziehung des Körperlichen im geschmeidigen, kreativen, gekonnten, widerständigen und geschickten Bewegen an Geräten. Es geht dabei um kategoriale Einsichten und Erfahrungen turnerischen Bewegens in der wechselseitigen Erschließung von Turnenden und Gerät bzw. im Sinne transformatorischer Bildung um die krisenhafte und irritierende Differenzerfahrung von raum-zeitlichen Variationen in Lage und Höhe, Weite und Enge im Rhythmus und Gleichgewicht des Bewegens, es geht um das »Unvermögen« (Seel 1996) der Turnenden, die Herausforderungen und freiwilligen Selbsterschwernisse – wie Grupe (1982: 106ff.) Sport definiert – sicher, genussvoll und mit Vergnügen (vgl. Gebauer 1971: 79) bewältigen zu können. Die Differenzerfahrung in der lagebezogenen Positionierung zum Gerät und in der Erzeugung eines Flugs basiert nun auf einer leiblichen Reflexion körperlicher Erfahrung (vgl. Franke 2008: 204) durch rhythmisches Springen, Halten und Verlieren von Gleichgewicht im Bewegungsvollzug. Dies verlangt einen Klärungsprozess im körperlichen Selbstverhältnis zur Aufgabe, gemeint als arrangierte Umwelt, die als Aufforderung zum Turnen wahrgenommen wird, die intentional auf ›Bewegungskunststücke‹ gerichtet ist und als raum-zeitliche Ortsveränderung eine turnerische Gestalt erfährt, die leiblich erfahren wird.

5. F AZIT : B EWEGEN

ALS

B ILDUNGSPROZESS

Die Argumentation zur Fundierung von Bewegungen als selbstbezügliche Formung der Weltbegegnung im Medium leiblich grundierter Erfahrungen zielt auf eine Vergewisserung des leiblich-sinnlichen Potentials im aktuellen Bildungsdiskurs. Während Meyer-Drawe (1999a: 149ff.) noch Ende der 1990er Jahre bemerkt, dass »Leiblichkeit eine kaum in Bildungstheorien zu integrierende Dimension« darstelle, könnte man heute angesichts zahlreicher Beiträge zum Körperdiskurs möglicherweise einen Wandel annehmen, der Körper und Leiblichkeit eine verstärkte Aufmerksamkeit zuerkennt. Die Hoffnungen, die sich mit der

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Zuwendung zu Fragen der Körperlichkeit verbinden, hat Anke Abraham (2013) darin gesehen, auf neue Weise »für den eigenen Körper zu sensibilisieren« (ebd.: 31), vor allem um auf die Problematik einer biotechnischen Vereinnahmung für die Erweiterbarkeit körperlicher Möglichkeiten aufmerksam zu machen (ebd.: 32). Sie hat ein wichtiges Bildungsanliegen darin erkannt, in »einer konkreten, umfänglichen und stetigen Praxis der Körpererkundung und der Bewegungserprobung ein praktisches Wissen« aufzubauen und zugleich »die beglückenden Seiten des Körpererlebens zu entdecken« (ebd.: 31). Eine solche Sensibilisierung scheint in sozial-, kultur- und tanzpädagogischen Settings eine neue Praxis zu befördern, aber in schulischen und didaktischen Zusammenhängen noch in weiter Ferne zu liegen. Dies wird besonders deutlich, wenn Studien herangezogenen werden, die beispielweise aus ethnographischer oder auch praxistheoretischer Sicht die Körperlichkeit von Kindern und Jugendlichen in Schulklassen reflektieren und insofern für eine neue Sensibilität zu Fragen der Körperlichkeit in der Schule beitragen (vgl. Reh/Fritsche/Idel/Rabenstein 2015). Hingegen sind die Vorstellungen zum Lehren und Lernen im Schulunterricht zu kritisieren, die den Formaten der Bildungsstandards und Kompetenzorientierung folgen. In diese Kritik reihen sich neuere anthropologisch begründeter Konzepte zum schulischen Lernen (z.B. Göhlich/Zirfas 2007) ebenso ein wie Ansätze zur Bewegungsorientierung von Schule und Unterricht (vgl. Laging 2017). Besonders deutlich wird diese Kritik an der kognitionsorientierten Wende der Kompetenzorientierung mit der Fokussierung auf die kognitive Aktivierung. Nicht, dass dies für den schulischen Unterricht nicht wichtig sein könnte, aber unter der Dominanz der Pädagogischen Psychologie erfährt Bildung eine völlig andere, jenseits der pädagogischen Anthropologie liegende Auslegung, die auf kognitive Prozesse mit dem Ziel der Erzeugung und Überprüfung von situationsspezifischem Anwendungswissen begrenzt bleibt und den Körper auf eine biowissenschaftliche Materialität reduziert. Dies ist besonders dort fatal, wo es explizit um ästhetische Erfahrungen im Bildungsprozess geht, wie in der Musik, in der Kunst oder im Sport.3 Dominierende Kompetenzmodelle der Sportpädagogik trauen der leiblich-sinnlichen Erfahrung im Bewegen keinen Beitrag zur Bildung des Menschen zu. Das Sich-Bewegen im Sportunterricht ist nicht das Medium selbst – im Sinne von Reflexion im Prozess –, um Bildungsprozesse anzustoßen, sondern nur noch Mittel, um Wissen über Bewegung und Sport zu generieren, das dann auf eine bewegungskulturelle Kompetenz verweisen soll. So geht es in Anleh-

3

Vgl. hierzu auch die Konzepte und Beispiele zur Kulturschule mit ihrem Potential für kulturelle Bildung und ästhetische Erfahrung im Kontext der Schule (Klinge 2018; Ackermann/Retzar/Mützlitz/Kammler 2015; Liebau/Jörissen/Klepacki 2014).

B EWEGUNG , B ILDUNG

UND LEIBLICHE

E RFAHRUNGEN | 191

nung an Gogoll (2014) um eine Erschließungskompetenz über körperliche Regungen beim sportlichen Handeln, um eine Orientierungskompetenz für mentale Konstruktionsprozesse und um Partizipationskompetenz zur Anwendung des Wissens in der Sportpraxis. Das ästhetische Œuvre einer raum-zeitlichen Erfahrung in leiblich-sinnlicher Auseinandersetzung mit Rhythmus, Gleichgewicht, Rotation oder Translation spielt im kognitivistischen Modell der Sportpädagogik keine Rolle mehr – es dominiert die Leibvergessenheit unserer Existenz. Mit Anke Abraham soll dieser Beitrag dazu ermutigen, ein »umfassendes ›Curriculum der Körper-Bildung‹« zu begründen, das »Bildung vom Körper und den Bedingungen des Leibes aus denkt« (Abraham 2013: 32). Im Sinne einer Bewegungsbildung sollte aufgezeigt werden, welches Potential Bewegung als Differenzerfahrung in der Weltbegegnung im Kontext von Bildung bereithält.

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B EWEGUNG , B ILDUNG

UND LEIBLICHE

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Die Bedeutung bewegungskultureller Praktiken im Bildungsprozess Jugendlicher J ÖRG B IETZ 1

Wie in keiner anderen Lebensphase kann für die Jugendphase angenommen werden, dass sie von krisenhaften Veränderungen und Umbrüchen in allen Dimensionen jugendlicher Existenz bestimmt ist. Gerade auch auf der körperlichen Ebene treten diese Veränderungen sicht- und spürbar hervor und stellen Jugendliche vor große Herausforderungen, besonders da die Veränderungen und Umbrüche aus den komplexen Zusammenhängen eng verschränkter und sich überlagernder Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse sowie vielfältigen Bildungsvorgängen resultieren. In der Eigenwahrnehmung der Jugendlichen ist dies kaum nachvollziehbar und hat insofern zumeist irritierende Wirkungen. Insgesamt werden die beobachtbaren Prozesse der Veränderung während der Jugendphase in sozialwissenschaftlicher Perspektive zumeist als Vorgänge beschrieben, die als gegenwartsbezogenes Moratorium verstanden und konzeptualisiert werden können. Ein Moratorium, in dem den entwickelten juvenilen Lebensstilen ein eigener kultureller Wert zugestanden wird, an dem sich sogar auch andere Altersgruppen orientieren. Insbesondere aber bietet sich durch die existentielle Entlastung der Raum dafür, diese Lebensphase nach eigenen Bedürfnissen in vielfältiger Weise gestalten und dadurch personale Identität und Autonomie gewinnen zu können. Diesem Modell des existentiell entlasteten Verweilens in den jugendlichen Lebenszusammenhängen sind Transitionskonzepte gegenübergestellt, die eher auf Zukunft ausgerichtet sind und die Jugendphase als mehr oder weniger flüchtiges Übergangsstadium markieren (vgl. z.B. Reinders 2003, 2006). In ihrem Zukunftsbezug wird Jugend als Zeit der vorausschauenden

1

In den vorliegenden Beitrag gehen auch Ausführungen aus früheren Texten des Autors ein.

196 | J ÖRG B IETZ

Orientierung an den Strukturen und Standards der Erwachsenengesellschaft verstanden, unter der Perspektive, die später zu vollziehende Eingliederung in entsprechende kulturelle, politische und ökonomische Felder des künftigen Lebens anzubahnen und zu erleichtern. In der Gemengelage beider gegenläufigen Orientierungen, die nicht selten gleichzeitig Geltung beanspruchen, entstehen für die Lebensphase Jugend unüberschaubare, höchst vielschichtige und spannungsgeladene Lebensentwürfe voller Ambivalenzen und Unsicherheiten. Im sozialisatorischen Prozess der habituierenden Realitätsverarbeitung entstehen fortlaufend Spannungen zwischen den sozialen Passungserfordernissen in Bezug auf gesellschaftliche Formationen (vgl. Hurrelmann 2002; Hurrelmann/Quenzel 2013) und der impliziten, teilweise subversiven Reklamation von Freiräumen und Experimentierfeldern für persönliche Anliegen und individuelle Deutungs- und Umgangsweisen (vgl. Zinnecker 2000). Die Folge sind diskontinuierlich verlaufende Biographien mit kaum kontrollierbaren Dynamiken, die von hybriden Formierungsprozessen aus Sozialisations- und Bildungsvorgängen getragen werden. Eine besondere Rolle kommt in diesen Prozessen gerade im Zusammenhang mit auftretenden Orientierungs- und Identitätsproblemen bei Jugendlichen deren Körperpraktiken und Bewegungsaktivitäten zu. Derartige Probleme der Identitätsbildung im Jugendalter bearbeitete Anke Abraham in einer Vielzahl von Projekten und Schriften aus einer körper- und wissenssoziologischen Perspektive hinsichtlich des biographischen Niederschlags der spezifischen körperlichen Verschränkung Jugendlicher mit ihren Umwelten und den sozialen Ordnungen, in die sie eingelassen sind. Angeregt durch diese Arbeiten und in Erinnerung an diese Arbeiten soll im folgenden Beitrag eine kulturanthropologisch begründete bildungstheoretische Sicht aufgezeigt werden, in der ebenfalls die Prozesse körperlich-leiblicher Auseinandersetzung in sozio-kulturellen Kontexten als Ausgangspunkt für die Klärung von Selbst- und Weltverhältnissen erscheinen. In diesem Klärungsprozess kommt ästhetischen Erfahrungen eine besondere Bedeutung zu, die sich in bewegungskulturellen Praktiken vermitteln und empraktisches Wissen über die jeweiligen Selbst- und Weltverhältnisse sowie über die soziokulturellen Strukturen hervorbringen, in die diese eingelassen sind und aus denen sie hervorgehen.

D IE B EDEUTUNG

BEWEGUNGSKULTURELLER

P RAKTIKEN | 197

1. D IE

GRUNDLEGENDE B EDEUTUNG VON K ÖRPER UND B EWEGUNG FÜR P ROZESSE PERSÖNLICHER E NTWICKLUNG UND B ILDUNG

Mehr noch als Erwachsene agieren Jugendliche auf der Grundlage multidimensionaler, kontingenter und diversifizierter Prozesse, die kaum von bewussten Reflexionsvorgängen begleitet und an kognitive Subjekte gebunden sind. Jugendliche sind keinesfalls verkopfte Rollenträger, die sich aus Vernunftsgründen in die Erwartungen und Erfordernisse der Erwachsenenwelt einfügen (vgl. HübnerFunk 2003). Sie entwickeln sich in rekursiv-konstruktiven Prozessen, die in weiten Teilen von einer fundamentalen Körpergebundenheit und leiblichen Verankerung geprägt sind (z.B. Benner 2005; Bourdieu 1987; Cassirer 1994; Gebauer/Wulf 1998; Merleau-Ponty 1966; Meyer-Drawe 1987). In solchen Prozessen also, die ihren Ausgang gerade nicht von rein geistigen Ordnungsleistungen eines intentionalen Bewusstseins nehmen und die nicht auf ein ideelles, vorgängig Bedeutung zuschreibendes ›Ich‹ zurückgehen. Das kulturelle Agieren Jugendlicher und das Herausbilden kultureller und individueller Identität erfolgt offenbar in wesentlichen Anteilen in performativer Form (vgl. Marcia 1989; Erikson 1991). Dabei gehen die grundlegenden Bildungs- und Sozialisationsprozesse aus den reziproken Bedingungsverhältnissen hervor, die die konkreten Vollzüge kultureller Praktiken ausmachen. Im praktischen Tun emergieren primäre Orientierungen gewissermaßen aus wechselseitigen Resonanzen zwischen individuellen Erfahrungsstrukturen und den objektiven Strukturen der sozio-kulturellen Gegebenheiten und Erwartungen – und konstituieren Mensch und Welt in ursprünglicher und nicht auflösbarer Weise. Allgemeiner Hintergrund dafür ist ein relationales Wirklichkeitsverständnis, welches sich in »diakritischer« Sicht (vgl. Fikus/Schürmann 2004), also in wechselseitiger Bedingtheit, als ganzheitlich funktionaler Ansatz konstituiert, um Wirklichkeit in ihrer inhärenten Prozessdynamik zu fassen. Einerseits ist der Subjektivität und Körperlichkeit des Menschen dessen jeweilige Umwelt inhärent, da der Mensch strukturell in jeder Hinsicht auf seine Umwelt bezogen ist und fortlaufend deren Einflüsse verarbeitet. Andererseits ist der Mensch in seiner Individualität und Körperlichkeit auch immer Teil der Welt, auf die er einwirkt und in der er Resonanzen hervorruft. Gebauer/Wulf (vgl. 1998) sprechen in diesem Zusammenhang von einer »doppelten Inklusion«. Dabei geht die Herausbildung individueller Weltverhältnisse keinesfalls auf individuell beliebige und private Gestaltungsleistungen zurück, sondern sie weist von Anfang an soziale Prägungen auf (vgl. Meyer-Drawe 2002; Wulf 1994, 2002). Auch für das Entstehen jeweiliger eigenständiger Identitäten der Indivi-

198 | J ÖRG B IETZ

duen im Sinne ihrer Subjektivierung ist die kulturell verankerte persönliche Welterfahrung konstitutiv und von entscheidender Bedeutung. Die Bestimmung der individuellen und kulturellen Identität bzw. der Selbstbestimmung des ›Selbst‹ ist ein emergenter Prozess der Subjektivierung von sozio-kulturellen Erscheinungsformen und der Inkorporierung kollektiver Erfahrungen und gesellschaftlicher Strukturen. Die ausagierte, reflexive Herausbildung von Geschlechtsidentität und deren Konzeptualisierung in der »Performativität des Geschlechts«, die Judith Butler (vgl. 2003) ausführt, sind ein prominentes Beispiel hierfür (vgl. auch King 2011). In seiner individuellen Identität ist der Mensch insofern immer das Produkt seiner eigenen, kulturell eingebetteten und durch soziale Bezüge imprägnierten Lebenspraxis (vgl. Gebauer 1997; Schwemmer 1997; Alkemeyer 2001, 2003; Elias 2001; Foucault 1977; Mauss 1989; Bourdieu 1976, 1987; Meyer-Drawe 1987). »Das Individuum, das Ich, die Person sind genuine soziale Konstrukte. Sie setzen zwar materielle, biologische, natürliche Bedingungen voraus, aber sie gehören von Anfang an zur gesellschaftlichen Welt« (Gebauer/Wulf 1998: 58).

In kulturanthropologischer Perspektive sind die Momente der Bildsamkeit und der Unbestimmtheit des Menschen, die in einer prinzipiellen Umweltentbundenheit gründen, als struktureller Hintergrund dieser Selbsthervorbringung zu betrachten (vgl. Benner 2005; Herder 1966 [1772]; Gehlen 1995; Scheler 2007; Plessner 1970; Heidegger 2010; Cassirer 1996). Der Mensch ist in reflexiver Distanz aus der Unmittelbarkeit der Umweltbedingungen und der Reize, die von ihnen ausgehen, herausgelöst und befreit. Die Welt ist ihm nicht direkt und unmittelbar gegeben, sondern erst durch eigenes Handeln artikuliert sich die je eigene Wirklichkeit. Umgekehrt ist auch der Mensch in seiner eigenen Subjektivität zunächst unspezialisiert und unbestimmt. Er muss sich selbst in seiner eigenen Lebenspraxis und durch eigenes Handeln eine Bestimmung geben und sich in nicht abschließbaren Prozessen immer wieder als Subjekt neu spezifizieren. In diesem Sinne sind Menschen reflexive Realitätsverarbeiter (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2013), die Verhaltensweisen hervorzubringen vermögen, mit denen die situativen Gegebenheiten einer jeweiligen kulturellen Praxis kompetent bewältigt werden können. Es ist jedoch kein Handlungswissen im eigentlichen Sinne, das in diesen relationalen Bezügen hervorgebracht wird, sondern eher das, was Bourdieu (vgl. 1976) als »sens pratique« konzipiert hat und in dem Konzept des »tacit-knowing-view« als implizites Können verstanden wird (vgl. Polany 1985; Neuweg 2004).

D IE B EDEUTUNG

BEWEGUNGSKULTURELLER

P RAKTIKEN | 199

Insofern ist auch gerade die Bewegungstätigkeit ein wichtiger Teil der Handlungspraxis des Menschen. Sie ist ein fundamentaler Modus der Gestaltung konkreter Weltbezüge und bietet eine Grundlage dafür, sich in der Dimension des Leiblichen als Subjekt spezifizieren und zur Bestimmung bringen zu können. Durch das jeweilige Bewegen werden die Beziehungsverhältnisse funktional spezifiziert und es werden konkrete Bedeutungsrelationen realisiert (vgl. Tamboer 1991, 1997; Cassirer 1996; Gehlen 1995; Plessner 1970; Merleau-Ponty 1966). Sinn und Bedeutung sind dabei gerade keine bloßen subjektiven Zuschreibungen und auch nicht an die sprachliche Ebene gebunden, sondern generieren sich ursprünglich als Momente der Gestalt- und Strukturbildung im Handlungsfeld. Das Bewegen ist gleichsam der fundamentale Modus, in welchem sich Bedeutung konstituiert und in welchem sich eine Mensch-Welt-Relation konkret als konzeptualisierte Form des Zur-Welt-Seins artikuliert und gestaltet (Cassirer 1994 II: 187f.). So gliedert sich in der Artikulationsfunktion durch das Bewegen ein jeweiliger individueller Weltbezug in einer aktiven Mensch-Welt-Auseinandersetzung, bei der sich dem Formungswillen des intentionalen Handelns der Formungswiderstand der Welt entgegenstellt, an dem er sich bricht (vgl. Bietz 2004, 2005; Cassirer 1994, 1995). In dem Zusammenspiel derartiger individueller Formungsprozesse entfaltet sich dann gewissermaßen auch eine »Soziomotorik« (vgl. Elias 2001; Foucault 1977; Mauss 1989), die die Strukturen der sozialen und materialen Welt wie auch die eigene Subjektivität konkret zum Ausdruck bringt (vgl. auch Alkemeyer 2012). Dabei ist der Körper selbst in der Jugendphase oft dramatischen Veränderungsvorgängen unterworfen, die in der Teilhabe an bewegungskulturellen Praktiken im eigenen Bewegen reflexiv werden können und nicht zu hintergehen sind. So findet etwa die Entwicklung der Geschlechtsidentität nicht allein in den gesellschaftlichen Normen und Konventionen ihre Leitplanken. Die Jugendlichen müssen gleichzeitig die körperlichen Wandlungsprozesse, die dadurch hervorgerufenen Resonanzen in sozialen Umfeldern und das je gegebene eigene Körperbewusstsein als komplexes Gefüge verarbeiten. Oftmals inszenieren Jugendliche in der Art ihrer Körperpräsentation in eigenen Bewegungspraktiken selbst erlebte oder durch Medien vermittelte gesellschaftliche Interaktionsformen und agieren gesellschaftliche Rollenmuster strategisch aus. Der jugendliche Körper gibt die Projektionsfläche dafür ab, gleichzeitig die Zugehörigkeit zu spezifischen gesellschaftlichen Konventionen und die Abgrenzung davon zu inszenieren (King 2011). In den inszenierten Aufführungen des Körpers im Bewegen verleihen Jugendliche gleichsam den Ambivalenzen und der Spannung ihrer Lebenswelten konkrete Gestalt.

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2. B ILDUNGSTHEORETISCHE P ERSPEKTIVEN In bildungstheoretischer Hinsicht impliziert das zuvor entfaltete diakritische Wirklichkeitsverständnis und das Handlungsapriori in der Mittelbarkeit menschlicher Weltbezüge ein Verständnis relationaler Bildung, welches eine dialektische Verschränkung von subjektiven Formungsaspekten und objektiven Struktur- bzw. Inhaltsaspekten betont und auf der tätigen Auseinandersetzung von Mensch und Welt basiert (vgl. Benner 2005). Bildungsprozesse basieren demnach gewissermaßen auf einer Formangleichung zwischen den individuellen Erfahrungsstrukturen einerseits, in denen die eigenen Handlungspraktiken symbolisch zu einem systematischen Gesamtzusammenhang synthetisiert werden und den gegebenen Strukturen der sozio-kulturellen Gegebenheiten andererseits, auf die gestaltend eingewirkt wird. Durch eigenes aktives Tun in kulturell gegebenen Praxen werden Menschen zu den Individuen, die sie sind. Es ist ein Vorgang der andauernden Subjektivierung und Selbsthervorbringung, der zu keinem Abschluss oder Endpunkt in der Art kommt, dass sich ein überdauerndes Subjekt herausbilden würde, sondern es ist vielmehr eine Prozessdynamik der ständigen Über- und Umformung gegeben, die in reflexiver Bezugnahme auf das eigene Tun beständig andauert. In diesem Sinne ist von einem prinzipiell nicht lokalisierbaren »systematisch flüchtigen« (Ryle 1969: 251 zit. n. Neuweg 2015: 55) Subjektverständnis auszugehen. Gleichzeitig veräußert sich das Handeln auch objektivierend in kulturellen Formungsprozessen, aus denen Objekte, Werte, soziale Strukturen, tradierte Bewegungspraxen usw. als gesellschaftliche Wirklichkeit hervorgehen. Strukturell beschreibt Bildung zunächst nicht bloß im transitiven Sinne das Herstellen eines Ergebnisses bzw. das Herausbilden einer bestimmbaren Persönlichkeitsform oder eines bestimmten Kompetenzprofils. Bildung basiert vielmehr im Sinne reflexiver Bildung allein auf dem Prozess der ›Auseinander-Setzung‹ im wörtlichen Sinne, welcher der Herausbildung von Etwas2 zugrunde liegt. Dieser Vorgang ist getragen von Differenz- und Distanzbildungsprozessen, die ein fungierendes Prinzip markieren. Differenzierung als Prinzip der Reflexivität ermöglicht es, in einem dynamischen Entwicklungsprozess Etwas von etwas Anderem zu unterscheiden und damit Etwas als Etwas zu identifizieren. Dabei wird der Fluss einer je gegebenen Kontinuität durch die Differenzbildung durchbrochen und etwas Unterscheidbares hebt sich hervor. Indem in diesen Prozessen der Differenzierung stets eine Differenzierung von etwas Anderem erfolgt, bildet sich gleichzeitig eine Beziehung heraus, die zwischen den differenzierten Mo-

2

Siehe auch den Beitrag von Ulle Jäger und Tomke König in diesem Band.

D IE B EDEUTUNG

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menten entsteht und die in eine komplex vernetzte und profilierte Erfahrungsstruktur einmündet.3 Durch derartige Differenzierungsprozesse kann sich eine fortlaufende Überschreitung persönlicher Grenzen und der permanente Entwurf der Subjekte in ihren Möglichkeitsraum hinein erfolgen. Mit dem Eintritt in die Möglichkeitsräume und mit der Umsetzung der Fiktion verbindet sich im Prozess der Bildung eine eigenartige Entfremdung von Vertrautem, die aber beim Subjekt gleichzeitig zu einem starken Bestreben nach einer Heimkehr zu Vertrautem auf einer neuen Ebene führt.4 Derartige Grenzüberschreitungen werden von der Erwartung getragen, in dem Neuen auch neue Erfüllung zu finden und deshalb alle Anstrengung zu unternehmen, Neues für sich zu erschließen. Gerade die artifiziellen Praktiken der bewegungskulturellen Felder bieten häufig solche Erfüllungen und fordern zu bildungsrelevanten Grenzüberschreitungen heraus. Grundsätzlich geht es in Bildungsvorgängen aber nicht darum, unter Nützlichkeitsgesichtspunkten Kompetenzen für spezifische Anwendungsbereiche einer jeweiligen Lebenswirklichkeit hervorzubringen, wie es etwa im krisenhaften Übergang zum Erwachsenenalter oder in der Vorbereitung auf eine spätere Berufstätigkeit zugespitzt der Fall sein kann. Bildung ist zunächst frei von transitivem Nützlichkeitskalkül. Sie folgt lediglich der Perspektive, Menschen in einer je eigenen Subjektivität zu entfalten und ihnen im emanzipatorischen Sinne die Möglichkeit zu bieten, Autonomie im Sinne des von Seel ausgeführten Konzepts einer »aktiven Passivität« (2014) zu erlangen und das eigene Leben auf sinnvolle Weise bereichern zu können. Dies gilt in besonderer Weise in Krisenzeiten und in Zeiten lebensweltlicher und identitätsbezogener Orientierungsverluste, wie es in der Jugendphase die Regel ist. Es bedarf insofern gerade in der Jugendphase eines entsprechenden Moratoriums mit Freiräumen für Auseinandersetzungen und für die Teilhabe an vielfältigen kulturellen Praxen. Die Zwänge und die strikte Zukunftsfokussierung reiner Transmission lassen für wichtige Prozesse der Selbstbildung und der Hervorbringung individueller und kultureller Identität wenig Raum.

3

Dieser Aspekt von Bildung wurde von Schürmann (2008) und Müller (1997) in einer gehaltvollen Herderrezeption aufgearbeitet.

4

Diese strukturelle Grundfigur von Bildungsvorgängen wird insbesondere von Hegel (1986) und Gadamer (1960) herausgearbeitet und betont.

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3. ÄSTHETISCHE E RFAHRUNG VON B ILDUNG

ALS

D IMENSION

Die angedeutete Bildungsrelevanz der bewegungskulturellen Praktiken ergibt sich natürlich zunächst daraus, dass die menschliche Existenz prinzipiell eine leibliche Existenz ist und dass sich die individuellen Weltverhältnisse fundamental im Sinne reflexiver Bildung durch die ausführungsimmanenten Formungsprozesse des Bewegens konstituieren. Die artifiziellen Praktiken unserer Bewegungskultur sind mehrheitlich solche Praktiken, die ästhetische Bewegungsformen zum Gegenstand haben und aufgrund ihrer selbstreferentiellen Bezüge und Bedeutungsstrukturen ästhetische Erfahrungen vermitteln (vgl. zusammenfassend Franke 2001, 2003, 2005; Bietz 2005; Scherer/Bietz 2013). Während Alltagsbewegungen in einem transitiven Zukunftsbezug auf die Bewältigung gegebener Anforderungen der Alltagspraxis zielen und in ihrer instrumentellen Bedeutungsstruktur bestimmte Zwecke zu erfüllen haben, entwickeln ästhetische Bewegungsformen eine gewisse Eigenweltlichkeit mit eigenen Formlogiken und einem expliziten Gegenwartsbezug, der existentiell entlastete Schonräume bietet. In ästhetischen Bewegungspraktiken geht es insgesamt um das sinnlich-konkrete Erleben von Weltbezügen, die in der leiblichen Dimension in spezifischer Weise geformt, ins Außergewöhnliche zugespitzt und wertmäßig aufgeladen werden. Mit der Zuspitzung ins Außergewöhnliche ist die Bedingung für eine vollzugsimmanente Reflexion und für das Einnehmen einer ästhetischen Perspektive gegeben, die in der Aktion selbst eine Distanz zum eigenen Tun entstehen lässt. Es ergeben sich ›Stolpersteine‹ und es werden aufmerksamkeitsbindende Brüche und Irritationen in den gewohnten Erfahrungsstrukturen hervorgerufen, die das eigene Bewegen und den darin hervorgebrachten Weltbezug überhaupt erst selbstbezüglich zum Gegenstand des Erlebens werden lassen. Im Unterschied zu den profanen und eher beiläufigen Bewegungen des Alltags binden solche Bewegungsformen die Aufmerksamkeit und ermöglichen spezifische Erlebnisgehalte. Man kann sich selbst als Subjekt des Bewegens erleben, und es ergeben sich Möglichkeiten, die eigenen habituierten Bewegungsweisen in modifizierender oder gar kontrastierender Weise in den Raum des zunächst bloß Möglichen zu transformieren. Das Nichtalltägliche ist auf diese Weise die Konfrontation mit etwas Ungewöhnlichem, das hervorsticht und die Akteur*innen aufmerken lässt. Auch die Thematisierung des Ungewissen, das für ästhetische Bewegungspraktiken typisch ist, zielt darauf, auf vielfältige Weise Brüche mit der lebensweltlichen Wirklichkeit hervorzurufen und ästhetische Erfahrungen zu vermitteln, die resultierend zu einer Anpassung impliziter Handlungsstrukturen führen und im Zuge ihrer Vergegenwärtigung dauerhaft im sym-

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bolischen Bewusstsein ihren Niederschlag finden. Perspektivisch kann dies das Wahrnehmen und Bewegen eines Individuums und damit dessen Welt- und Selbstzugang insgesamt verändern. Im Erleben der eigenen Weise des Wahrnehmens und Bewegens und deren kultureller Geformtheit kann ein Individuum sich selbst in seiner Subjektivität spezifizieren und sich die Welt, die ihm zunächst gar nicht unmittelbar gegeben ist, als eigene Umwelt erschließen und spezifizieren. Ästhetische Bewegungspraxen bieten in solchen Prozessen den Rahmen dafür, die kategorialen Strukturen der Welt hinsichtlich ihrer Widerständigkeiten, Affordanzen, Constraints, Machtverhältnisse, Abhängigkeiten, disparaten Entwicklungslinien und kontingenten Bezüge, aber auch der eigenen Verstrickung und Eingebundenheit in die soziokulturellen Gegebenheiten sowie deren Inkorporierung in die Strukturen der eigenen Persönlichkeit in der Dimension des Leiblichen in Erfahrung bringen zu können. Letztlich kommt der ästhetischen Erfahrung damit eine emanzipatorische Bedeutung zu, da sie die Voraussetzung für eine mögliche Selbstbestimmung bei der individuellen Gestaltung leiblicher Weltbezüge schafft und weil Menschen sich in ihrer jeweiligen Subjektivität und Kulturalität zunehmend selbst bewusst werden können. Ästhetische Bewegungspraktiken vermitteln in ihrer Eigenweltlichkeit ähnlich der Malerei, Musik oder Literatur geteilte Erfahrungshintergründe, derer man sich gemeinschaftlich vergewissern und über die man sich kommunikativ austauschen kann (vgl. Seel 2007). Gerade in der krisenhaften und oft von Selbstzweifeln geprägten Zeit der Jugend kommt dem Bewusstsein des Vorhandenseins gemeinschaftlich geteilter Erfahrungshintergründe, derer man sich gegenseitig versichern kann, eine vergewissernde Bedeutung zu. Diese artifiziellen Praktiken bieten zudem die Perspektive der Erkundung von Möglichkeitsräumen, des Ausagierens von Fiktionen und thematisieren insgesamt die eigenen persönlichen Grenzen. Ästhetische Bewegungspraktiken sind insofern soziokulturelle Praktiken, die aus ihrer jeweils kontingenten Gegenwart heraus Subjektivität und Kulturalität als fortlaufende Prozesse des Selbst- und Weltgewinns konstituieren. Unter der Bildungsperspektive geht es in der ästhetischen Praxis des Bewegens gerade darum, sich von vertrauten Ordnungen zu lösen und gegebene Habituskonzepte zu verunsichern, um neue Ordnungen hervorbringen und sich neue Möglichkeitsräume wertbesetzten Tuns und persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten erschließen zu können. Insgesamt können durch ästhetische Erfahrungen die kontingenten Bezüge und disparaten Hintergründe individueller wie gesellschaftlicher Wirklichkeit in sehr konkreter Weise in den Vollzügen selbst erfasst werden und es vermittelt sich durch diese Art der Auseinandersetzung mit bestimmten bewegungskulturellen Praktiken in den persönlichen Erfahrungsstrukturen ein fundamentales Bewusstsein für die Diversität und Veränder-

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barkeit lebensweltlicher Bezüge sowie für die prinzipielle Relativität und Konstruktivität des menschlichen Daseins und Erlebens (vgl. Seel 2007). Vor diesen Hintergründen relativiert sich auch das krisenhafte Moment im Erleben der Umbrüche der Jugendzeit als etwas, das nicht etwas grundsätzlich Problematisches ist, sondern lediglich als eine besondere Zuspitzung erscheint, die durchaus auch Entwicklungs- und Orientierungsperspektiven bietet.

4. ÄSTHETISCHE B EWEGUNGSPRAKTIKEN ALS AUSGANGSPUNKTE VON B ILDUNGSPROZESSEN IM J UGENDALTER In der Vielfalt, Differenziertheit, Vernetztheit und Strukturiertheit individueller Erfahrungsstrukturen, die in bewegungskulturellen Praktiken im eigenen Handeln generiert werden können, kann sich in sehr konkreter Weise die »Selbstbildung des Selbst« realisieren (vgl. Bietz 2002, 2005). Dies ist meist verbunden mit der Herausbildung personaler Kompetenzen, die individuelle Handlungsspielräume gewähren und den Gewinn von Autonomie mit sich bringen. In handelnder Auseinandersetzung mit der Welt ergibt sich eine Durchdringung der Logik und komplexen Beziehungsstruktur kultureller Praktiken, die insgesamt eine selbstbestimmte Teilhabe an den Prozessen ihrer Erzeugung und individuellen Rekonstruktion möglich machen kann (vgl. Cassirer 1994; Hildenbrandt 2005). Das Besondere an Bildungsprozessen, die in der beschriebenen Weise auf ästhetischen Erfahrungen aus bewegungskulturellen Praktiken gründen, ist, dass sie die Welt gerade nicht in vereinheitlichenden Begriffen erfassen und allgemeine, fraglose Orientierungen bieten. Für Jugendliche bleiben derartige Orientierungen in ihrer Allgemeinheit eher nichtssagend, wirken in einer Situation der umgreifenden Zerrissenheit zusätzlich verunsichernd und erscheinen in ihrer Fraglosigkeit und subtilen Normativität leicht als unangemessene Bevormundung, gegen die es sich zu verwahren gilt. Demgegenüber können in der ästhetischen Perspektive des Erlebens spielerischer, sportlicher oder auch tänzerischer Bewegungsaktivitäten die Anschauungslust und die Hinwendung zum zunächst bloß Möglichen vor der Geborgenheit transzendentaler Orientierungen bewahrt werden. Es geht in solchen Bewegungspraktiken ausdrücklich darum, sich auf vielfältige Weise mit der Welt zu verwickeln, Ambivalenzen zu schaffen und Erfahrungen zu machen, die dazu gerade keine Distanz aufbauen und die Ambivalenzen gerade nicht verallgemeinernd auflösen, sondern sie konkret sinnlich erlebbar machen. In ihrer Konkretheit vermitteln ästhetische Erfahrungen die sub-

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jektive Gewissheit, dass die erfahrenen Zusammenhänge und Ereignisse tatsächlich so sind, wie sie erscheinen, weil sie selbst als solche sinnlich erlebt wurden und damit subjektiv real sind. Für das eigene Handeln, das eigene Selbstverständnis und das Verstehen der eigenen Kultur ist eine solche Gewissheit fundamental und unverzichtbar und es bietet genau die Orientierungen, die in den vielfältigen und uneindeutigen Umbrüchen und Veränderungen gesucht werden. Gerade die Umbruchphase der Jugend bringt eine Reihe von Orientierungsproblematiken mit sich, die damit verbunden sind, dass sich die Jugendlichen ihrer Einbindung in kulturelle und gesellschaftliche Kontexte bewusst werden und sich zu sozial kompetenten, verbindlichen und verantwortlichen Teilhaber*innen an einer gesellschaftlichen Praxis entwickeln müssen, die als extrem spannungsgeladen, widersprüchlich und unvorhersehbar erlebt wird. Zugleich müssen sie aber auch persönliche Freiräume für die Entfaltung von Subjektivität und für die Herausbildung einer persönlichen Identität gewinnen und nach subjektiv empfundener Autonomie streben. Beide Perspektiven müssen vereinbart werden, kommen in den körperlichen Praxen zum Ausdruck und werden spannungsgeladen in den körperlichen Aufführungen ausgetragen. Unter der Perspektive der Inszenierung von Zugehörigkeit erlauben es ästhetische Bewegungspraxen ihren Akteur*innen, einen sozialen Status der Verbindlichkeit zu gewinnen, erforderliche emotionale Kompetenzen zu entwickeln und Gefühle der Bindung an soziale Kontexte zu erleben. Sie halten für Jugendliche Handlungsfelder vor, die angesichts des sonst in ihrer Lebenswelt umgreifenden Sinnvakuums und sonstiger Inkonsistenzen von diesen überhaupt als sinnvoll betrachtet werden können und eine gewisse Verbindlichkeit ausstrahlen. Für die handelnden Subjekte bedeutet die ›Einverleibung‹ kulturell verankerter Bewegungswelten eine Erweiterung von individuellen Möglichkeitsräumen wertbesetzten Tuns und von persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten, die zu einer Pluralisierung individueller Seinsoptionen in kultureller Einbettung führen können. Vor dem Hintergrund des sinnlichen Erlebens der je persönlichen Verstrickung in soziale Strukturen, gesellschaftliche Erwartungskomplexe und kulturelle Verhaltensmuster bieten ästhetische Bewegungspraxen Gelegenheiten, eigene Interessen zu entwickeln und auszuloten, Sicherheit bei der Selbstorganisation in ambivalenten und intransparenten Situationen zu gewinnen und damit insgesamt eigene Identitätsmerkmale zu spezifizieren, sie im eigenen Handeln zum Ausdruck zu bringen und damit Resonanzen im eigenen Interaktionsumfeld hervorzurufen. Angesichts der Allgegenwärtigkeit fungierender Idealbilder einerseits und des im Gestaltwandel begriffenen, die gewohnte Vertrautheit verlierenden eigenen Körpers andererseits, liegt gerade für Jugendliche in derartigen Selbstund Weltklärungen eine wesentliche Bildungsaufgabe. Jugendliche müssen

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durch die Herausbildung eines flexiblen und zugleich eindeutigen Subjektstatus in der Spannung zwischen dem Bemühen um Individualisierung und der Integration in gesellschaftliche Muster eine ihnen entsprechende Balance finden. Eigenweltlichkeit und Konkretheit ästhetischer Bewegungspraxen bieten dafür ideale Handlungsfelder und enthalten die spezifische Perspektive sinnlicher Erkenntnismöglichkeiten.

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Wissen, kulturelle Bildung und ästhetisches Lernen C HRISTIAN K AMMLER 1

1. E INLEITUNG Kultur macht stark. So jedenfalls lautet die Behauptung in der Titelung des 2013 vom BMBF mit einem Budget von 230 Millionen Euro aufgesetzten Programms Kultur macht stark – Bündnisse für kulturelle Bildung (BMBF 2016: 4-6). Doch warum und wofür sollte Kultur stark machen? Für den gezielten Aufbau eines speziellen, gesellschaftlich bedeutsamen Wissens (Nowitny 2006: 24f.) oder für das Erlernen von »Lebenskunst«, um »Wege der Teilhabe und social inclusion zu eröffnen?« (Bockhorst 2011: 50, Herv. i.O.). ›Nutzt‹ es überhaupt, sich mit der Perspektive gesellschaftlicher Verwertbarkeit im Feld der kulturellen Bildung zu bewegen und kann das in der kulturellen Bildung enthaltene ästhetische Lernen der Aneignung von gegenwartsrelevantem Wissen dienen? Oder geht es nicht vielmehr im Sinne Hugo Gaudigs um die werdende Persönlichkeit (Reble 1979: 73) und darum, dass eben jenes ästhetische Lernen im Kontext ästhetischer Erfahrungen für die Bildung des Menschen und seiner Identität (Kirchner 2006) sowie zur »Weltaneignung« (Mollenhauer, Grundfragen ästhetischer Bildung 1996: 253) unverzichtbar ist? Hinter diesen dichotomisierenden Fragestellungen verbirgt sich das Problem, welche Formen des Wissens und der Weltaneignung durch kulturelle Bildung und ästhetisches Lernen erzeugt werden und welche gesellschaftliche Legitimität sie erhalten. Daher wird im Folgenden der Frage nachgegangen, was eigentlich Ästhetisches Lernen heißt, inwiefern es sich von anderen Formen des Wissens-

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Wiederabdruck (siehe Kammler 2016).

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erwerbs unterscheidet und was den besonderen Beitrag Ästhetischen Lernens zum Wissenserwerb darstellt.

2. F ORMEN

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Formen des Wissens sind vielfältig und vielfältig klassifizierbar. Eine gängige und weit verbreitete Unterscheidung differenziert Faktenwissen, intellektuelles Wissen, Verfahrenswissen und relationelles Wissen (vgl. Chiesa 2002: 130f.): • Das faktische Wissen (»know what«) nimmt traditionell in der abschlussorien-

tierten Bildung (Schule) den größten Raum ein: etwa das Wissen um die Zuordnung von Musiker*innen und ihren Werken. • Das intellektuelle Wissen (»know why«) hilft bei der Lösung von Problemen, weil der*die Anwendende Gesetzmäßigkeiten kennt und dadurch Lösungen generieren kann: etwa die Bildung eines Vierklangs. • Das ›gewusst wie‹ (»know how«) ist Wissen darum, wie etwas zu tun und zu bewerkstelligen ist. So sind Kompetenzen »Selbstorganisationsdispositionen physischen oder psychischen Handelns. [...] Kompetenzen sind folglich handlungsorientiert und primär auf divergent-selbstorganisierte Handlungssituationen bezogen« (Erpenbeck/Rosenstiel 2003: XXIX): etwa die Bewältigung von Lampenfieber bei einem Konzertauftritt. • Das relationelle Wissen (»know who«) bezeichnet das Wissen um die Komplexität der Wissensbasis und das Kennen und Nutzen von Bezügen zwischen Menschen und Feldern: etwa die Verbindung unterschiedlicher Professionen, die zum Beispiel im Rahmen einer Aufführung einer Oper Anteil am ›Gesamtkunstwerk‹ haben. Über die so bezeichneten Kategorien von gesellschaftlich relevantem Wissen hinaus stellt sich die Frage, ob damit bereits alle für Mensch und Gesellschaft bedeutsame Wissensformen ausreichend Betrachtung finden. Der Mensch als ein körperlich-leiblich verfasstes Wesen, dessen Bildungsprozesse »immer konkrete und leiblich-affektive, seelisch irgendwie gestimmte Anwesenheit des sich Bildenden« (Abraham 2013: 17) voraussetzen, eignet sich spezifische Formen des Wissens auch und gerade durch das »sinnliche Wahrnehmen, Erfahren und Erkennen« (Fett 2004: 83, Herv. i.O.) an. Sie sind das Fundament jener Bildung, die im Sinne von »Bildung als Lebenskompetenz« gemeint ist, die eine »spezifische Disposition, sich in der Welt zu verorten« (Fuchs 2006: 20) bezeichnet und die in einem »substanziellen Wechselverhältnis von Ich und Welt steht, in dem

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der Mensch sich Welt zueignet und in dieser Zueignung nicht nur auf sich selbst, wiederum auch auf die Welt zurückwirkt, sie so auch mitbildet.« (Euler 2010: 131, eig. Herv.) Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth führt dies in ihrem Vortrag Menschenbildungsziele (Süßmuth 2007: 11-18) aus, indem sie feststellt, dass »Wahrnehmung, Ausdrucksformen, Sprachformen [...] zu den Potentialen und den Grundbedürfnissen des Menschen gehören« (ebd.: 13) und diese sowohl im akademischen Raum wie im Zusammenhang des gesellschaftlichen Zusammenlebens eine zentrale Rolle im Sinne von Wissenserwerb spielen.

3. ÄSTHETISCHES L ERNEN ALS T EIL VON K ULTURELLER B ILDUNG Diese wahrnehmungs-, eindrucks- und ausdrucksbezogenen Formen des Wissens stehen in engem Zusammenhang mit Prozessen ästhetischen Lernens. Ästhetisches Lernen ist »nicht auf künstlerisch-ästhetische Phänomene begrenzt« (Vorst/Grosser/Eckhardt/Burrichter 2008: 8), sondern Ausdruck einer grundlegenden ganzheitlichen Weltaneignung. Ästhetisches Lernen setzt auf die Schulung der Sinne und auf das Lernen mit allen Sinnen. Dabei entwickeln sich Vorstellungskraft und Empfindungen (Wulf 2007: 42) und damit auch Phantasie und Kreativität, welche im Sinne von ästhetischer Schaffenskraft angeregt und reflexiv verarbeitet werden. Ästhetisches Lernen als Aneignung der Welt »Ästhetische Erfahrung bezieht sich nicht auf Kunsterfahrung, sondern ist ein Modus, Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren.« (OTTO 1994: 56-58)

In der Auseinandersetzung mit der Frage des ästhetischen Lernens lässt sich festhalten, dass zunächst die ästhetische Erfahrung den Ausgangspunkt jeglichen ästhetischen Lernens darstellt und dieser sich, wenn auch anders als später dann ausgestaltet, bereits beim Kleinkind vollzieht. Dabei ist die Nähe von Alltagserfahrung und ästhetischer Erfahrung, wie sie von Dewey (Dewey 1988) beschrieben und als wertfrei »um ihrer selbst willen gemacht« wird, besonders zu betonen (Mattenklott 2004: 15). Das Ereignis, dessen Fokussierung und die daraus entstehende Erfahrung werden sinnlich verarbeitet. »Im Aufmerksamwerden auf

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eine sinnliche Erscheinung, eine Farbe, eine Form, einen Klang, eine Körperhaltung wird das Subjekt zugleich seiner eigenen Wahrnehmungsfähigkeit gewahr.« (Dietrich/Krinninger/Schubert 2012: 77) »Ästhetische Erfahrungen sind (daher) nicht Mittel zum Zweck der Kunsterfahrung, vielmehr kommt ihnen ein Wert an sich zu.« (Grosser 2008: 29) Aus dem neugierig auf die Welt zugehenden Kind, das diese mit allen Sinnen erobert und ganz subjektiv den Geschmack, den Geruch, das, wie sich etwas anfühlt, aussieht oder anhört, für sich selbst interpretiert und eine eigene Aufmerksamkeit entwickelt, wird dann ein durch diese Erfahrungen geprägter Mensch, dessen Wahrnehmung geschärft ist. »Im Sinne einer verstärkten Aufmerksamkeit für bestimmte Phänomene« (Spinner 2008: 31) verfügt er dann über die Möglichkeit, sich selbst, sein Gegenüber oder seine Umwelt anders wahrzunehmen, dies zu reflektieren und sich auf diese Weise die Welt zu eigen zu machen. Das bedeutet auch, dass aus »der sinnlichen Empfindung, die in den Fokus der Aufmerksamkeit tritt und aus der heraus sich ein Spiel mit möglichen Bedeutungen entwickelt, die Sinnestätigkeit zur Sinnfiguration« wird (Dietrich/Krinninger/Schubert 2012: 77). Anders als im Erwachsenenalter, hat das Kleinkind für die sinnlich gemachten Erfahrungen noch keine Deutungsmuster, sondern alle – mit z.B. dem Gegenstand Tür gemachten Erfahrungen – gehören zu diesem Gegenstand: Farbe, Beschaffenheit, Geräusche. Diese erlauben dem Kind einen spielerischen Umgang, seine Eindrücke »frei zu gestalten, zu ordnen und sogleich alles wieder in Frage zu stellen.« (ebd.: 78) Erst später können dann diese ersten Sinnesfigurationen aufgrund von Sozialisationsfaktoren »überformt, begrenzt oder konfrontiert werden.« (ebd.) Schärfung der Wahrnehmung Ästhetisches Lernen setzt eine grundsätzliche und gleichzeitig geschärfte Wahrnehmungsfähigkeit voraus. Das »Lernen mit allen Sinnen« nutzt in den angelegten Lernprozessen nicht nur das ästhetische Moment zur Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand, sondern verbindet »zur wechselseitigen Intensivierung der Sinneseindrücke« (Spinner 2008: 11) oftmals mehrere unterschiedliche Sinneserfahrungen. Gleichzeitig geschehen auch gerichtet und ungerichtet vielfach synästhetische Effekte in der Kunst wie in der alltäglichen Auseinandersetzung mit der eigenen Umgebung. Als Beispiel kann hier der Dunkle Raum von Tino Segal (dOCUMENTA 13) dienen. Die Besucher*innen, die den Dunklen Raum betraten, waren – bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten – faktisch ›blind‹ für das Geschehen, bei dem sich die Tänzer*innen schnipsend, trommelnd und singend im

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Raum bewegten. Aus dieser Bewegung im Raum entstanden für die Besucher*innen immer neue sinnliche Erfahrungen von Nähe und Ferne zu den durch die Tänzer*innen hervorgerufenen Sinneseindrücken. Dabei wurde ihre Wahrnehmung geschärft und entsprechend der Dauer ihres Aufenthalts gelang es den Besucher*innen immer besser, sich auf das sie umgebende Geschehen einzulassen, Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen, welche Interaktionen im Raum vor sich gingen. Erst jetzt konnten sie Aussage und Inhalt der Performance reflektieren und interpretieren. Auch im Bereich der Alltagserfahrungen lassen sich leicht Beispiele für die Notwendigkeit einer Schärfung der Sinne finden, wie es z.B. beim Essen stattfindet. Nicht das Essen selbst steht für die sinnlichen Erfahrungen, die im Zusammenwirken von Faktoren die Sinne auf unterschiedliche Weise schärfen. Erste Eindrücke können sein: das Arrangement des Raumes, das Zusammenwirken von Stuhl, Tisch, Farben und Licht, welches bestimmte Aspekte verstärkt oder abschwächt. Ähnlich einer künstlerischen Installation wirken sie auf den*die Besucher*in bewusst oder unbewusst. Diesen Eindrücken schließt der optische Eindruck der auf dem Tisch stehenden Speisen an, um von dem dazugehörigen Duft ergänzt zu werden und mit der passenden ›Tafelmusik‹ die Sinne zu berühren. Diese Wahrnehmungsebenen zuzulassen, erschließt dem*der Einzelnen die Möglichkeit, eine neue Art der Interaktion mit sich selbst, seinem*ihrem Gegenüber sowie der Umwelt zu erfahren und dadurch in diesem Moment wie auch in der Reflexion darüber einen bis dahin noch unbekannten Erkenntnisgewinn zu erhalten. Steht bei den angeführten Beispielen die Schärfung der Sinne im Vordergrund, gibt es darüber hinaus noch weitere Einflussfaktoren, die die Wahrnehmung im Sinne des ästhetischen Lernens beeinflussen. Durch die das synästhetische Wahrnehmen ergänzende Vorstellungskraft gelingt es im »Wechselspiel zwischen subjektiver Imagination und genauer Wahrnehmung« (Spinner 2008: 14), die Komplexität und Intensität der Auseinandersetzung mit dem Betrachtungsgegenstand zu erhöhen. Dies geschieht z.B. beim Hören, Nacherzählen und Ausschmücken einer Geschichte. Anderes und doch auch Ähnliches geschieht im Kontext der ästhetischen Zeit-Erfahrung. »Es ist ein Grundzug aller ästhetischen Verhältnisse, dass wir uns in ihnen, wenn auch in ganz verschiedenen Rhythmen, Zeit für den Augenblick nehmen: In einer Situation, in der ästhetische Wahrnehmung wachgerufen wird, treten wir aus einer allein funktionalen Orientierung heraus.« (Seel 2000: 44f.) Gemeint ist hiermit der Moment der Betrachtung, in dem Zeit und Raum vergessen werden und sich der Augenblick des Erlebens jenseits der Taktung des Tages befindet.

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Um zu einer veränderten und intensivierten Wahrnehmung zu gelangen, geht es immer wieder darum, »ästhetische Erfahrungen durch ein Unterbrechen von Alltagsroutinen« auszulösen. (Spinner 2008: 14) Neben dem Betrachten, Zulassen, Aushalten kann auch die Verfremdung des Gewohnten ein Zugang sein, um von vorhandenen Mustern und Routinen Abstand zu nehmen. Durch das Brechen der Routinen (egal ob in der Verfremdung eines Textes oder in der Verfremdung der Landschaft durch den Jahreszeitenwechsel) werden vorhandene Muster hinterfragt und verändert und damit die Neugier auf das Unbekannte, das noch zu Entdeckende oder zu Erforschende geweckt. Dies gilt gleichermaßen für das Alltägliche, die direkte, das Individuum selbst betreffende Umgebung wie auch für die Neugier auf andere Welten und deren kulturelle Vielfalt. Ästhetisches Lernen als Verbindung von Rezeption, Produktion und Kommunikation Die Möglichkeiten, die sich aus ästhetischen Lernprozessen ergeben, sind vielfältig. Wenn es um die eingangs benannte »Weltaneignung« geht, ist die Rezeption des Gegenstandfelds im Fokus des Interesses. Auch sind Wahrnehmung und Achtsamkeit zentrale Bestandteile. Gleichzeitig sind aber auch die Neugier, das Aufbrechen zum Unbekannten und das Finden einer eigenen Fragestellung von großer Bedeutung. Anders als beim naturwissenschaftlichen Forschungsgedanken wird bei der »Ästhetischen Forschung« (Kämpf-Jansen 2012) oder dem »Forschenden Lernen in Kunst und Kultur« (Blohm/Heil 2012) auch dem subjektiven Blickwinkel des Fragenden Raum gegeben, was als subjektive Wahrheit zu einer neuen Erkenntnis beitragen kann. Dabei werden unterschiedlichste Felder in den Forschungsraum mit einbezogen. »Ausgangspunkt ästhetischer Erfahrung ist die spezifische, singuläre Gestalt eines alltagsästhetischen, literarischen, künstlerischen Objekts oder religiösen Symbols. Materialität (Farbe, Form, Töne, Sprache usw.), Vielschichtigkeit der strukturellen Zusammenhänge, Einbindung in künstlerische, religiöse, metaphysische Bezugssysteme sowie subjektive Anteile im Rezeptionsprozess sind konstitutiv für ästhetische Erfahrung.« (Kirchner 2006: 12)

Ästhetisches Lernen bleibt aber nicht beim bloß Beschreibenden und Verknüpfenden stehen. Es geht immer auch um den Gestaltungsprozess, indem die Erkenntnisse aufgenommen, verarbeitet und in eine neue Form mit einer ganz eigenen Aussage gebracht werden. Da ist etwa das szenische Spiel, in dem es um mehr geht, als um das Abbilden von Klischees. Da kann z.B. aus der Beobach-

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tung im Stadtteil eine eigene Interpretation des Stadtteilgeschehens werden und so recherchiertes Faktenwissen – zusammen mit der eigenen Wahrnehmung von Menschen und Stadtraum – zu einer szenischen Interpretation des eigenen Lebensraums werden. Und da ist schließlich die aus der Beobachtung entstehende Erkenntnis, die in eigene Worte gefasst und als Liedtext verarbeitet wird. In der Passung von Beobachtung, Interpretation, eigenem Wortausdruck und passender Musik vollzieht sich der Prozess der Weltaneignung und der Aufbau von Wissen. In all diesen Beispielen ist »nicht nur das Klären und Verarbeiten von Wirklichkeit, sondern auch das konstruktive, sinnstiftende Neuformulieren von Bedeutung tragenden Symbolen das Ziel der ästhetischen Bildung.« (Kirchner 2006: 13) Während dieser Produktionsprozess in Rückkoppelung zur eigenen Person stattfindet, sich auf sich selbst bezieht und aus der zeitlichen Rasterung als persönlich und emotional bedeutsames Erleben hervortritt, vollzieht sich fast unmerklich die persönliche Teilhabe an der Welt. Dies geschieht allerdings nur da, wo die künstlerische Strategie, das Werken und Gestalten nicht als bloßer Produktionsprozess verstanden werden, sondern als Ausdruck des individuellen Prozesses oder eigenen Überlegungen. Auswahl von Material und Kunstform haben dann nicht pragmatische Gründe, sondern folgen der eigenen Vorstellungskraft. Zeit und Raum treten dabei in den Hintergrund, und der Gestaltungsprozess selbst wird zum ästhetischen Erleben (vgl. Mollenhauer 1986). Das Ästhetische Lernen bleibt schließlich nicht beim individuellen Gestaltungsprozess stehen, sondern geht über in den Austausch mit anderen. Da sind z.B. die staunenden Teilnehmenden, die sich mit der Photographin über die Kosten einer einzigen Bildplatte bei der Lochkamera austauschen und erkennen, wie wichtig der Prozess der Urteilsfindung im Austausch mit anderen für das eigene Handeln und den daraus entstehenden Gestaltungsprozess ist. Mehr noch: In der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Anderen über den Prozess und das Produkt stellen sich die eigene Person und Erkenntnis zur Diskussion. Ästhetisches Lernen und der damit verbundene Erkenntnisgewinn kann daher nur mit Hilfe von Rezeption, Produktion und Kommunikation vollständig sein. Dabei ist zu beachten, dass auch »ästhetisches Erleben nicht ohne eine evaluative Dimension zu denken ist« und insofern die Urteilsfindung »immer auch auf soziale Hierarchien und gesellschaftliche Machtverhältnisse« eingeht bzw. von diesen beeinflusst wird (Dietrich/Krinninger/Schubert 2012: 85).

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4. D IE G EFAHR DER I NSTRUMENTALISIERUNG DES ÄSTHETISCHEN L ERNENS Im Programm Kultur macht stark wird der Kulturellen Bildung nachgesagt, dass sie die Persönlichkeit und die sozialen Kompetenzen im hohen Maße fördert. Solche Behauptungen sind vielfach und in unterschiedlichsten Ausformungen zu finden. Als Beispiel sei hier der Enquete-Bericht Kultur in Deutschland angeführt, in dem es heißt: »Eine ganzheitliche Bildung, die Musik, Bewegung und Kunst einbezieht, führt, wenn diese Komponenten im richtigen Verhältnis stehen, im Vergleich zu anderen Lernsystemen bei gleicher Informationsdichte des Unterrichts für den Lernenden zu höherer Allgemeinbildung. [...] Durch kulturelle Bildung werden grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, die für die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen, die emotionale Stabilität, Selbstverwirklichung und Identitätsbildung von zentraler Bedeutung sind.« (Enquete Kommission 2008: 379)

Gewiss sind Aspekte dieser Ausführungen zutreffend und sicher werden auch soziale Kompetenzen durch Prozesse ästhetischen Lernens begünstigt. Doch ist dies das vornehmliche Ziel von Ästhetischem Lernen und Kultureller Bildung? Tobias Fink macht unter Bezugnahme auf Baader und ihren Artikel Weitreichende Hoffnung der ästhetischen Erziehung – eine Überfrachtung der Künste? (Baader 2007) deutlich, dass es hier durch die Geschichte hindurch von der Romantik zu Schiller über die Reformpädagogik bis hin zur kritischen Theorie immer wieder eine Überfrachtung der Ästhetischen Bildung mit unterschiedlichsten Erziehungszielen gab. Gleichzeitig wird von ihm unter Bezugnahme auf Bilstein als unmittelbare Gefahr dieser Überfrachtung die sich immer wieder ereignende Instrumentalisierung der Ästhetischen Bildung benannt und verurteilt (Fink 2012: 26). Auch gegenwärtig scheint der gesellschaftliche Trend einer wissensverwertenden Nutzenperspektive die Prozesse eines kreativen und ergebnisoffenen Erlebens zu gefährden. So stehen Kulturelle Bildung und Ästhetisches Lernen in der Gefahr, unter dem Einfluss von Lernstanduntersuchungen, Vergleichsevaluationen und Kompetenzvermessungen in das Schema der gesellschaftlichen Verwertbarkeit von Wissen eingepasst zu werden. Demgegenüber ist immer wieder auf die Unverfügbarkeit des Lernens hinzuweisen, auf die produktiven Verzögerungen, Um- und Seitenwege, auf den überschüssigen, verwertungssperrigen Eigensinn einer sinnen- und sinnhaften Aneignung von Welt.

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Verkörperte Utopien – utopische Körperlichkeiten

Ein Ort zum Verweilen L AURA S TUMPP UN LLOC ON QUEDAR-SE1 Un ocellet aleteja sobre el banc on estic assegut. »Vine, company!« el convido. Després d'observar-me un moment, s’apropa. Ara veig que té una branqueta al bec. »Busques lloc per al niu?« li pregunto, somrient. L’ocell vola cap al meu cap – un altre arriba, se’n van i venen i van tota la tarda. Ara ja s’ha fet fosc. El niu, al meu cap, està preparat. Somric. Tinc el cap ple de pardals. EIN ORT ZUM VERWEILEN Ein Vögelchen flattert über die Bank, auf der ich sitze. »Komm her, kleines Kerlchen«, lade ich es ein. Nachdem es mich einen Moment angeschaut hat, nähert es sich. Jetzt sehe ich, dass es ein Ästchen im Schnabel hat. »Suchst du einen Platz für dein Nest?«, frage ich es lächelnd. Das Vögelchen fliegt auf meinen Kopf – ein anderes kommt dazu, sie kommen und gehen den ganzen Nachmittag. Jetzt ist es schon dunkel geworden. Das Nest auf meinem Kopf ist fertig. Ich lächle. Jetzt habe ich wohl einen Vogel.2

1

Diese katalanische Kürzestgeschichte ist die Gewinnerinnengeschichte des Wettbewerbs IRLats des Institut Ramon Llull; dieser war 2019 dem vielseitigen katalanischen Dichter-Künstler Joan Brossa (1919-1998) gewidmet.

2

Der letzte Satz lautet im Original wörtlich: »Ich habe den Kopf voller Spatzen«, ein Sprichwort das in etwa bedeutet: »Ich habe nur Flausen im Kopf.«

Ver-wickelungen Eine phänomenologisch-feministische Perspektive auf Forschen als leibliche Praxis L EA S PAHN

E INLEITUNG »The world ›holds‹ the memory of all traces; or rather, the world is its memory (enfolded materialisation)« (Barad 2014: 182).

Erinnern, mich erinnern, etwas erinnern, während ich hier sitze im Schreiben für Anke; für den Augenblick ist es Teil des Hier und Jetzt, eine Verbindung zurück ins Hier und Jetzt, Spuren der Erinnerung. In diesem Beitrag folge ich einer Spur, die durch Anke Abraham gelegt wurde: die Eigenleiblichkeit der Forscher*in ist Voraussetzung und Teil des Forschungsprozesses. In diesem Artikel werde ich dieses Teil- und Mitsein der Forschenden zum Gegenstand machen – insbesondere mit Blick darauf, wie sich Forschungspraxis und Erkenntnisprozess verschränken und wechselseitig hervorbringen. Im ersten Teil benenne ich dies als leibliche Verwickelungen im Anschluss an Anke Abrahams Arbeiten, um im zweiten Teil die zwischenleibliche Dynamik materialistisch um die Dimension der Intra-aktion zu erweitern. Meinen Forschungsprozess nachzeichnend, rahme ich die Praktiken des Improvisierens als heterotopische, sodass diese Bewegungspraktiken auch als kollektive Subjektivierungsprozesse des ›becoming different‹ gelesen werden können.

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(L EIBLICHE ) V ERWICKELUNGEN »Der Einsatz der leiblich-affektiven Wahrnehmung legt in zweifacher Hinsicht eine ›Spur‹ aus, der man folgen kann« (Abraham 2002: 189).1 In meinem ethnographisch angelegten Dissertationsprojekt forsche ich in einer Frauen*2-Tanzimprovisationsgruppe, in der sich die Teilnehmerinnen wöchentlich treffen. Nach einer Ankommensphase, während der sich die Teilnehmer*innen einfinden, umziehen und selbstständig bewegen können, bildet sich immer ein Kreis, in dem sich jede äußern kann, wie sie in diesem Moment ›da‹ ist.3 Eine Teilnehmerin sitzt mit ausgestreckten Beinen zur Kreismitte hin und schaut während sie spricht verschiedene Teilnehmerinnen an: »Ich habe mit meinem Körper zu tun, da, wo ich nie dachte, das würde mir mal passieren«, beginnt sie und berichtet von körperlichen Beschwerden, ohne genauer zu berichten, um welche Körperregion bzw. Körperteile es sich handelt. Sie hört auf zu sprechen und wendet ihren Kopf zur Nachbarin als Zeichen, dass diese nun sprechen kann: »Ich fühle mich heute wie verwundet, wund…« und fasst sich während des Sprechens an den Nacken und den unteren Rückenbereich. ›Wund‹ wird im Folgenden noch von zwei weiteren Frauen* aufgegriffen: Der eigene Körper fühlt sich verwundet an. Wieder eine andere erzählt, sie habe im Garten gearbeitet – »mir geht es gut« – und bewegt während sie spricht ihre Finger in kleinen Be-

1

Ich werde in diesem Beitrag vor allem auf Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag (2002) rekurrieren; für eine Einführung und einen Überblick in Ankes Schaffen sei insbesondere auf die Einleitung verwiesen sowie auf die vielfältigen Bezüge in den Beiträgen dieses Bandes.

2

Die hier gewählte Schreibweise ist Ausdruck für die Vielfalt der beforschten Frauen*gruppe und markiert die Altersunterschiede, (Selbst-)Positionierungen sowie die stetige Auseinandersetzung mit dem Thema Frau*-Sein.

3

Das hier vorgestellte Forschungsprojekt ist methodologisch und methodisch durch die Grounded Theory (1967 von Barney Glaser und Anselm Strauss publiziert) inspiriert. Im Verständnis der Grounded Theory vollzieht sich Forschung als iterativ-zyklischer Prozess (vgl. Strübing 2018), in dem die Phasen der Materialgenerierung, -analyse und Theoretisierung parallel verlaufen bzw. ineinander greifen, sodass die schrittweise und gegenstandsbezonene Theorieentwicklung (auch) auf Prozessen leiblichen (Mit-) Vollzugs der (differenten) Bewegungspraxis basiert – in dem hier eingebrachten Prozess als Teil der Bewegungspraktiken und als Ko-Akteurin der kollektiven Praxis des Sich-aufeinander-Beziehens.

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wegungen vor ihrem Oberkörper auf und ab; »Ich bin heute mit meinen Befindlichkeiten einverstanden, das ist gut«, sagt eine abschließend mit ausgestreckten Beinen und einem Blick in die Runde. 4 An diesen szenischen Einblick sind einige Anschlüsse möglich; ich werde mich vor allem auf die Art der Adressierung des eigenen Körpers, die kollektive Dynamik dieser somatischen Äußerungen sowie den verletzlichen bzw. vergänglichen Körper beziehen.5 Was hier auffällig wird ist ›der eigene Körper‹ als ›gespürter Körper‹ – die Sprechenden sprechen über den Körper, der sie sind.6 Eine ›hat mit ihrem Körper

4

Für eine ausführliche Darstellung dieser Phase des kollektiven Austauschens vgl. Spahn 2019: Des/Orientierung – ein leibliches, somatisches Moment in (k)einer Beratungssituation.

5

In Anlehnung an Mecheril verstehe ich den »interpretativen Transformationsvorgang als einen Prozess« (2003: 32) der Übersetzung von Text zu Text: der Prozess des leiblichen Involviertseins wird übersetzt in einen Ausdruck als Text – sowohl die erstellten Protokolle, Beschreibungen oder Transkripte, aber auch Video- und Audiomaterial münden letztlich in einem Text um konstant gelesen, analysiert, re-interpretiert und re-formuliert zu werden. Dieser begleitende Prozess des Schreibens ist stets ein Scheitern an der Komplexität des Wahrgenommenen, Erahnten oder Erlebten, des Gesagten und zugleich die leibliche Brücke zwischen Verstrickung, Analyse, Differenzierung und Konstruktion von Theorien. Das Mit-Sein ist als Prozess auch ein Navigieren (vgl. Meißner 2019), in dem Übersetzung als soziale Praxis letztlich nicht nur einen neuen Text produziert, sondern auch eine kontextualisierte, interessierte und ambitionierte Sprecher*innenposition markiert (vgl. Mecheril 2003: 32). Im Zusammenwirken phänomenologischer und ethnographischer Zugänge sind so unterschiedliche Materialsorten entstanden, die in drei Kernkategorien münden und zugleich Praktiken des beforschten Feldes bündeln – nämlich ›Kreuzen‹, ›Kreisen‹ und ›Spüren‹. Diese drei Praktiken wurden im weiteren Prozess auf ihre diskursiv-praktisch emergierenden Thematiken hin analysiert. Die Thematik des Alterns stellt eine dieser Thematiken dar und soll nun in der Verflechtung von empirischem Material und theoretisierender Interpretation entfaltet werden.

6

Stimme und Sprache sind in diesem Zusammenhang auch eine motorisch-sinnliche Dimension des körper-leiblichen Experimentierens, in dem die Stimme das Erleben in den kollektiven Austauschraum übersetzt und durch die Perspektivität der Sprecher*in Differenz-erfahrungen erzeugt. Vergleiche auch Schützeichel (2011), der die Stimme als leibliches Ausdrucksphänomen mit der Funktion des »(Sich-)»Zeigens« herausstellt oder Mersch (2006), der auf die Gegenwärtigkeit der Stimme durch ihre Mate-

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zu tun‹, er überrascht sie, tut etwas, worauf sie nicht gefasst war. Eine andere ›fühlt sich verwundet‹ und berührt dabei wie selbstverständlich die Körperbereiche, die sich ›wund‹ anfühlen. Der eigene Körper wird jede Woche in anderen Worten beschrieben, es ist ein sich verändernder Körper – dies insbesondere, da die Teilnehmerinnen der Gruppe Anfang 30 bis Mitte 60 Jahre alt sind und der eigene Körper auch als älterer oder jüngerer Körper, als sich verändernder präsent ist. Immer wieder macht sich der eigene Körper bemerkbar, oft dann, wenn er schmerzt, weh tut, verspannt ist und damit nicht unbemerkt ›mitläuft‹, sondern sich ›äußert‹. In den Aussagen zeigt sich immer wieder, dass der Körper meist dann bemerkt/adressiert wird, wenn ›ich es eigentlich SO nicht kenne‹ – nämlich im Erleben von Differenz(-en). Fragen, die sich mir stellten waren: Welches Körperwissen wird hier aktiviert, um den eigenen körperlichen Zustand zu artikulieren? Wie stehen das Erleben des eigenen Körpers und das Reden über den eigenen Körper in diesem Prozess des kollektiven Bewegens und Sprechens in Zusammenhang? Inwiefern ist der Kurs ein Ort, an dem der (schmerzende, alternde, verspannte, belebte, …) Körper als mein Körper erlebbar wird? In dieser forschenden Auseinandersetzung war und bin ich inspiriert durch Anke Abraham als Forscherin, Lehrende und Denkerin.7 Ihr Wirken entfaltet sich für mich durch ihren Bezug zum Körper als Erkenntnisquelle, in dem sie das körper-sinnliche und leiblich-affektive Sensorium zentral gestellt sieht (vgl. 2002: 188; 2010a; 2011; 2016b; Abraham/Müller 2010b). Ich möchte dies als Ausgangspunkt dieses Beitrags nehmen. Ich folge der von ihr angelegten zweifachen Spur in der Reflexion und der Praxis qualitativer Sozialforschung. So hat sie insbesondere das ›Wir‹ und ›uns‹ als konstitutiv herausgehoben, da »der Prozess (leiblichen) Verstehens nicht nur in eine Richtung verläuft (der[*die] Beobachter[*in] versteht den[*die] Beobachteten), sondern als ein Wechselspiel zu denken ist« (ebd.: 192, Anm. LS). Es ist demnach der Prozess des Forschens selbst, der hier in den Fokus gerückt wird: Forschende und Beforschtes befinden sich in einem ›Wechselspiel‹, gedacht als ein fortlaufender Prozess der Ko-

rialität verweist und die damit einen Bogen zwischen der Leiblichkeit des Sprechenden und der Beziehung zum Anderen spanne. 7

Diese Begriffe können die persönliche Geschichte nur in Ansätzen abbilden. Ich möchte mit diesem Beitrag insbesondere den unabgeschlossenen Dialog (um einen Buchtitel zu paraphrasieren) zwischen Anke und mir würdigen und weiterführen, um den Forschungsprozess der Dissertation, der durch sie immer wieder inspiriert und begleitet wurde, in Beziehung zu ihr zu diskutieren und die gewonnenen Einblicke und Perspektiven zu transplantieren.

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Konstitution, das ich mit der Frage nach Materialisierungsprozessen im Forschungsprozess verbinde. Für den Forschungsprozess, der hier diskutiert wird, heißt das Schreiben dieses Artikels zudem eine Perspektive einzunehmen, die Anke Abraham auch als Zwang zur Artikulation und Wahrnehmung der eigenen Person beschreibt (vgl.: 192). Diesen Bezug zum Eigenen sieht sie als das größte Erkenntnispotential des*der Forschenden an – als »Fähigkeit, die eigenen leiblichen, sinnlichen und bewusstseinsmäßigen Erfahrungen ins Spiel zu bringen und als Erkenntnisquelle zu nutzen« (2002: 194, Herv. i.O.). Sie rekurriert auf Gesa Lindemann, die dies im Sinne einer doppelte Gerichtetheit beschreibt, die sich dadurch auszeichne, dass ein Erleben des Erlebens der Umwelt als auch ein Erleben der eigenen Zuständlichkeit zugleich existiere (vgl. ebd.: 198): Einerseits ist Leiblichkeit demnach Medium und Instrument des Weltzugangs, andererseits ist das Potential der (Eigen-)Leiblichkeit, ebenso als »›Quelle‹ der Erkenntnis«, als »Speicher von Erfahrung und Wissen ganz besonderer Art« zu fungieren – wenn die*der Forschende im Verstehensprozess »die Dinge so nah an sich herankommen lässt, dass er[*sie] von ihnen ergriffen wird und sie in ihm[*ihr] etwas auslösen« (ebd.: 194, Anm. LS). Auf diese Nähe werde ich im Weiteren noch eingehen; zunächst sei jedoch herausgehoben, dass, wenn etwas in den Forschenden ausgelöst wird, ein Moment von Differenz entsteht und Anke Abraham diese Erfahrung von Differenz als Voraussetzung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Verstehen setzt (vgl. ebd.: 194).8 Der fortlaufende Prozess des Forschens ist entsprechend ein fortlaufender Prozess des Differenzerlebens – innerhalb dessen sich Wahrnehmen, Erkennen und Verstehen ereignen.9 Leibliche Wahrnehmung ergänze das, »was man am Anderen wahrnimmt, durch das, was man in der Begegnung mit dem Anderen an sich wahrnimmt« (ebd.: 196, Herv. i.O.). Dieser Prozess kann auch mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit gefasst werden, wie er durch Maurice Merleau-Ponty geprägt wurde

8

Mit Gesa Lindemann ließe sich diese Nähe als »Sensibilisierung« (2014) ausdeuten, durch welche bestimmte Phänomene erst wahrnehmbar werden. Dies ist ein ontologischer Balanceakt, da Sensibilisierung als historisch-kulturell eingebetteter Prozess Phänomene als solche erst konstituiert; zugleich kann aus feministisch-materialistischer Perspektive Karen Barads (2003) onto-epistemologischer Zugang diese Nähe einholen als »intra-aktion«.

9

Es gehe, so Anke Abraham, um »In-Beziehung-setzen« (vgl. ebd.) verschiedener Datenquellen – was das eigenleibliche Differenzerleben m.E. nicht nur um unterschiedliche qualitative Datenquellen wie Interviews, ethnographisches Material oder Literatur erweitert, sondern auch um Differenzen zwischen anderen Beteiligten des Prozesses.

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und einen Raum leiblicher Resonanz zwischen leiblichen Selbsten und den Bezug des eigenen Leibs auf Andere (vgl. Merleau-Ponty 1984; Waldenfels 2016) bezeichnet.10 Der Leiblichkeit selbst ist das Zwischen immanent (vgl. Waldenfels 2016).11 In der Verbindung von leiblichen Dispositionen und Gefühlen, wie Anke Abraham mit Hermann Schmitz ausführt, ereignet sich einerseits das wahrnehmende Fühlen von Gefühlen und andererseits die Ergriffenheit von Gefühlen als »›ein am eigenen Leibe spürbares Betroffensein von der ergreifenden Macht des atmosphärischen Gefühls‹« (Schmitz 1996: 28 zit. n. Abraham 2002: 197). Gerade in ihrer Differenz fasst Anke Abraham die Dimension leiblich-affektiver Wahrnehmung im Forschungsprozess als ›gebrochen‹ (vgl. ebd. 202f., 213) – und markiert darin das Moment der Verwickelung. Es handelt sich jedoch um eine mehrfache »Brechung« (ebd.) – sowohl in Bezug auf die Differenz von Forschenden und Beforschten/m, als auch, wie die Szene veranschaulicht, in Bezug auf das je eigene Körperwissen und eigenleibliche Erleben innerhalb der beforschten Gruppe.

I N -B EZIEHUNG -S EIN : Z WISCHENLEIBLICHKEIT ALS RAUM - ZEITLICHES , MATERIELLES G EFÜGE An dieses Moment der Differenz anschließend, verstehe ich den Leib als Grenzort; Leiblichkeit wäre so der Knotenpunkt von machtvoller Betroffenheit durch eine Begegnung mit (Um-)Welt und machtvollem Betroffen-sein wechselhafter, differenter und widersprüchlicher – leiblicher – Situationen (vgl. Abraham 2002,

10 In diesem Beitrag nehme ich Bezug auf verschiedene phänomenologische Ansätze, deren Bezüge zueinander hier nicht dargestellt werden können. Einen zentralen Bezugspunkt bildet das Werk Maurice Merleau-Pontys (vgl. u.a. 1974 [1945], 1984) sowie neuere Auseinandersetzungen mit diesem (vgl. u.a. Coole 2010; Alloa et al. 2012; Bedorf/Gerlek 2017), da Bewegungsprozesse m.E. über seine Schriften durch Begriffe wie Körperschema, Zwischenleiblichkeit beschrieben und (kritisch) reflektiert werden können. 11 So schreibt Merleau-Ponty: »Wenn ich ›vom eigenen Leib aus‹ den Körper und die Existenz des anderen verstehen kann, wenn die Kompräsenz meines ›Bewusstseins‹ und meines ›Leibes‹ sich in der Kompräsenz des anderen und meiner selbst fortsetzt, so deshalb, weil das ›Ich kann‹ und das ›Der andere existiert‹ schon bereits zur selben Welt gehören« (1984: 61).

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2010b; Abraham/Müller 2010b; Landweer/Marcinski 2016; Bedorf/Gerlek 2017; Wuttig 2016). Was Anke Abraham als Verwickelung beschreibt, bedeutet sich der Situation leiblich-affektiv auszusetzen (vgl. Abraham 2002); Wahrnehmen, Erkennen und Verstehen sind dann als situiert und situativ zu verstehen.12 Mit Anke Abraham sind die Arten der leiblich-affektiven Wahrnehmung des Anderen ›ein ErgriffenSein‹ oder ein ›Sich-Hineinversetzen‹. Während diese Dynamik zunächst auf menschliche Akteur*innen bezogen scheint, kann das Andere im leiblichen Modus des Ergriffen-Seins auch nicht-menschliche Akteure und Materialitäten umfassen, wie es auch Henkel und Lindemann (2017) in ihrer Diskussion um Sozialität fordern. Wenn Akteur*innen in ihrer Leiblichkeit und Materialität ernst genommen würden, sei es Aufgabe »materialitäts- und leibinteressierte[r] Forschung […] Gesellschaft und gesellschaftlichen Wandel« (2017: 131), also die Reichweite dieser Perspektive, mit zu reflektieren. Insbesondere phänomenologische Ansätze können sich »im Angesicht der Herausforderung einer Einbeziehung von Materialität« (ebd.: 133) auf verschiedene Art und Weise weiterentwickeln, was im Folgenden einzulösen ist. Standen in der ersten Szene exemplarisch die menschlichen Teilnehmerinnen im Fokus der Beschreibung, könnte die Szene auch ganz anders geschrieben werden. Zu Beginn betreten alle den Raum durch die große Holztür; es ist ein Kommen und Gehen zwischen der Eingangstür und dem Durchgang in den hinteren Raum zum Umziehen. Dabei gehen die Teilnehmerinnen zielstrebig durch den Raum, die Wege sind bekannt, werden unterbrochen, um im Durchqueren des Raums andere zu begrüßen oder kreuzen sich, weil eine andere wieder vor die Türe geht, um Wasser zu holen. Bänke werden herausgetragen, der Vorhang vor der Spiegelwand zugezogen, die Fenster aufgemacht, Stadtgeräusche tönen in den Raum. Es gibt eine Musik zum Ankommen. Die Teilnehmerinnen betreten den Raum nach und nach in Tanzkleidung, bewegen sich durch den Raum, meist an einen Ort um dort einzeln ›anzukommen‹: sie legen sich auf den Boden, reiben sich über den Körper, schütteln sich lockernd und Arme schwingend, dehnen sich oder machen Yoga-Übungen, manche reagieren auf die Musik und bewegen sich dazu – alles ohne groß miteinander zu sprechen. Der Boden ist ein alter

12 Diese Formulierungen schließen an kritisch-feministische Positionen an, wie sie prägend z.B. durch Donna Haraway (1988) und Karen Barad (2003, 2012) vertreten wurden und werden; insbesondere der Begriff der »diffraction« (Haraway 1992; Barad 2003, 2014) wird für diesen Text fruchtbar gemacht.

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Parkettboden, zum Teil sind Holzteile abgesplittert oder überklebt mit silbernem Tape. Viele haben die Augen geschlossen. […] Um ›viertel nach‹ geht die Musik aus, die Teilnehmerinnen stoppen ihre Bewegungen und kommen in einem Sitzkreis zusammen. Es entsteht sofort ein Austausch, Körper richten sich im Sitzen ein, suchen eine Position relativen Stillstands. Die Blicke schweifen suchend in und durch den Raum bis alle sitzen. »Wie bist du heute hier?«, ist die Frage, aus der sich eine Runde entwickelt, in der jede etwas zu sich sagt. Dabei ist besonders auffallend, dass das Sagen auch ein Zeigen ist für die Einzelne und das Sagen und Zeigen zugleich für andere ein Moment ist, sich in Bezug zu setzen. Sich in Bezug setzen, heißt, sich in Bezug setzen zu dem, was gerade gesagt wurde, was in der vorigen Woche erlebt wurde oder wie der eigene Körper in diesem Moment gespürt wird. Es ist kein Gespräch, es wirkt wie eine Abfolge von Momenten, in denen das Sprechen ein Spüren ist. Dies zeigt sich in den (Hin-) Wendungen der Körper, den kleinen Gesten und Bewegungen während des Sprechens oder Zuhörens, den Blicken, die wechselnd in den Raum wandern, etwas fokussieren und wieder in den Kreis zurückschweifen, der Stimme, die sich als Laut- und Klangraum ausbreitet und in Resonanz zu dem Gesagten steht. Die Körper sitzen am Boden und doch gibt es viele Momente, in denen sich Teilnehmerinnen mit den Händen massieren, reiben, am Boden aufstützen, sich aufrichten. Diese zweite Szenenbeschreibung fokussiert das Beobachtete mehr unter der Perspektive des In-Beziehung-Seins. Dabei kommt nicht nur das Sprechen im Sinne einer »leiblichen Verankerung« (Schützeichel 2011: 99) in den Blick, sondern auch die Materialität des Raums, die Lautlichkeit, die einzelnen Körper in ihrer Bezogenheit rücken in den Blick. Leiblichkeit kann entsprechend als Verankerung und Verschränkung zugleich verstanden werden: »Und doch muß mein Körper selbst mit der sichtbaren Welt verschränkt sein: sein Vermögen bezieht er gerade von daher, daß er einen Standort hat, von dem aus er sieht. Er ist also eine Sache, aber eine Sache, der ich innewohne. Er steht, wenn man will auf seiten des Subjekts, aber ist der Örtlichkeit der Sachen nicht fremd: zwischen ihm und ihnen besteht eine Beziehung des absoluten Hier zum Dort, des Ursprungs aller Entfernung zur Entfernung. Er ist der Bezirk, in dem mein Wahrnehmungsvermögen lokalisiert ist« (Merleau-Ponty 1984: 52).13

13 In Der Philosoph und sein Schatten befragt Merleau-Ponty Husserls Schriften und formuliert »das Ungedachte« (1984: 45) seiner Phänomenologie.

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So stellt Merleau-Ponty das Hier meines Körpers als bereits ›verschränkt‹ mit seiner wahrnehmbaren Umwelt dar – und zwar als Wahrnehmungsvermögen, da »die Sachen sich vor uns nur halb öffnen, gleichzeitig enthüllt und verborgen« (ebd.: 53). Dieser Spur folgt Diana Coole aus neu-materialistischer Perspektive und betont dabei Merleau-Pontys Untersuchung von Wahrnehmung mit der konsequenten Hervorhebung von »corporeality as productive negativity« (2010: 93). In der Folge sei Materialität als generativ, selbst-transformierend und schöpferisch zu denken (vgl. ebd.). Dies zeigt sich im Speziellen in Merleau-Pontys Spätwerk, in dem er mit der Konzeption des »chair« (dt. Fleisch) evoziert, »that there is an immanent and irreducible relationship between creating and created that renders matter a lively process of self-transformation« (ebd.: 98). In seiner Konzeption ist leiblicher Raum (corporeal space) »lived spatiality, oriented to a situation wherein the lived/living/lively body embarks on an architectural dance that actively spatializes (and temporalizes) through its movements, activities, and gestures. The body introduces patterns, intervals, duration, and affects into Cartesian or Euclidian space from within it, and it continuously reconfigures its own corporeal schema in responding to and recomposing its milieu (Umwelt)« (2010: 102, eig. Herv.).

In dieser fortlaufenenden responsiven und rekomponierenden Auseinandersetzung hebt Coole hervor, »(t)he body-subject must have a perspective because it is situated, enveloped in space and time« (ebd.: 105). Merleau-Pontys Vorhaben einer antihumanistischen Ontologie des Fleischs hielt daher diese Perspektivität aufrecht und umging zugleich dessen subjektivistische oder anthropozentrische Bedeutung, dadurch dass er Perspektiven multiplizierte – »a move made feasible by the recognition that bodies and objects are simultaneously seeing and seen, such that the rays or arcs of vision/visibility that crisscross the visual field emanate simultaneously from each profile of every object, all jostling together and intersecting to gestate and agitate the dense tissue of relationships that constitute the flesh and to place the philosopher everywhere and nowhere« (2010: 106, eig. Herv.).14

14 Für diese immanente Generativität von Existenz verweist sie auf den Begriff der Falte; Coole rekurriert hier vergleichend auf andere Philosophen wie Leibnitz, Deleuze und Foucault, um Merleau-Pontys Denken vernetzt zu deuten und expliziert sein »sensuous, visual / tactike, pluri-dimensional flesh [as that], where matter is a fabric coiled over and over in its more material or ethereal laverings and gatherings« (Coole 2010: 111) – und damit eröffnet sich die Möglichkeit ›Wahrnehmung als Perspektive‹

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Versteht man dieses ›Durchkreuzen‹ als ein komplexes, relationales und emergierendes Feld, prägt es nicht nur die Weise, wie Situationen wahrgenommen werden, sondern auch wie sie zwischen den Situationsteilheiten verhandelt werden – damit ist das Zwischen in seiner Differenz ein politischer Raum (vgl. ebd. 113).

D YNAMIKEN DER M ATERIALISIERUNG IN B EWEGUNG

UND DES

E RLEBENS

Hier kann der Begriff der Verwickelung wieder aufgegriffen werden – nun auch mit Blick auf das, was in der Gruppe verhandelt wird. »The self is itself a multiplicity, a superposition of beings, becomings, here and there’s, now and then’s. … Entanglements are not unities. They do not erase differences; on the contrary, entanglings entail differentiatings, differentiatings entail entanglings. One move – cutting together-apart« (Barad 2014: 176). Als raum-zeitliches Geschehen ist Bewegung stets konstitutiv für den wahrgenommenen und wahrnehmbaren (Eigen-)Raum und dies in einem komplexen und situativen Gefüge von Propriozeption und Kinästhesie im Umgehen mit/Ausgesetzsein gegenüber physikalischen Kräften (wie z.B. Gravitation), dem Betroffensein von Atmosphären (Hasse 2007; Schmitz 2007) und Energien (vgl. Huschka/Gronau 2019) sowie Materialitäten von menschlichen und nicht-menschlichen Situationsteilheiten. Es sind letztlich nicht Situationsteilheiten, sondern vielmehr Situationen, die durch die (De-)Sensibilisierungen leiblicher Selbste (vgl. Lindemann 2014) als leibliche Grenzräume gefasst werden müssen. Wahrnehmen als leibliches Phänomen hat körperliche Grenzen im Sinne von »konvergierende[n], aber diskontinuierliche[n] Ansichten« (Merleau-Ponty 1984: 66) und sinnlich konstituierten Wahrnehmungen und verweist dadurch auf die Situiertheit der Wahrnehmenden als leiblich-somatische Teile des Gefüges. Die Materialität des Körpers ist einerseits eine lebenslange ›natürliche‹ Gegebenheit und zugleich ein leibliches Widerfahrnis, in dem sich die somatische Dimension auch entgegen des Gewollten, Angestrebten, Normalen spürbar macht. So zeigt sich der eigene Körper als »symbolische und materiale Realität« (Keller/Meuser 2017: 6) – der stets eine »subjektiv fühlbare Realität« (Villa 2000: 182 zit. n. Keller/Meuser 2017: 6) ist. Das Sprechen von Materialitäten

nicht subjekt-zentriert zu denken, sondern als dichtes Feld, welches von vielen Perspektiven gekreuzt wird, die von unterschiedlichen Punkten ausströmen und sich schneiden (vgl. ebd.).

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suggeriert oft eine Beständigkeit, der Prozess der Materialisierung oft eine Gerichtetheit auf etwas hin; sogar das Werden suggeriert in seinem diffusen Wandel eine Entwicklung. Die hier beschriebenen leiblichen Phänomene sind ebenso Materialisierungen in Körpern (Materialisierungen in Materialitäten), die zeitlich teilweise von Dauer sind, teils jedoch ein momenthaftes oder kurzweiliges Phänomen, teilweise nicht materiell im eigentlichen Sinne, denn bei Kopfschmerz kann der Schmerz in einer Körperregion lokalisiert werden, ist jedoch tatsächlich keine Verletzung, sondern ein diffuses Schmerzen, das das leibliche Sein ergreift. Dass diese unmittelbar erfahrene, leibliche Zuständlichkeit zugleich auf sozio-kulturelle, einverleibte Diskurse und Praktiken verweist, ist in den Äußerungen wenig präsent bzw. reflektiert. Implizit deutet jedoch die gemeinschaftliche Veräußerung darauf hin, dass sich im Zusammentreffen ein Raum bildet, in dem eben dieser Austausch von Zuständlichkeiten als geteilte Erfahrung auch in ihren Differenzen gesucht wird. Am Beispiel der hier fokussierten Praktiken zeigt sich, dass Körpererleben als gespürte Realität zugleich in symbolische und materiale Realitäten – und Normalitäten – eingelassen ist und trotzdem als physische Materialität auch eine Dimension von Unkontrollierbarkeit und Eigensinnigkeit hat (vgl. Abraham 2011, 2016b, dieser Band). Gerade Phasen der Veränderung, die zeitlich verdichtet die Veränderungsdynamik des menschlichen Körpers sichtbar werden lassen, können hier Einblicke geben. Barads Perspektive greift dies auf: »Difference itself is diffracted. […] Each bit of matter, each moment of time, each position in space is a multiplicity, a superposition/entanglement of (seemingly) disparate parts. Not a blending of separate parts or a blurring of boundaries, but in the thick web of its specificities, what is at issue is its unique material historialities and how they come to matter« (2014: 176).

Hier wird nun relevant, dass die beobachteten Körper sich über die Zeit verändern. In der Berücksichtigung von Zeit zeigt sich nicht nur, dass sich Körper als raum-zeitliche Phänomene verändern, sondern auch, wie sie sich im leiblichen Erleben als andere Körper konstituieren. Das geschieht im hier analysierten Material im Wechsel von sich (kollektiv) bewegen und sich als Gruppe austauschen. Phänomenologisch lässt sich dies durch Äußerungen der Teilnehmerinnen nachzeichnen, die in Bezug auf den eigenen Körper (erlebte) Wandlungen beschreiben und äußern. Die Teilnehmerinnen sprechen von ihrem ›wunden‹, ›steifen‹, ›ungewohnten‹ Körper, der sich aufdrängt und sie als erfahrene Zuständlichkeit unmittlelbar ergreift im Sinne leib-körperlicher Grenzerfahrungen. Im Sprechen werden die benannten Körperbereiche berührt, angezeigt, massiert o-

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der gehalten; es sind leiblich erfahrene Körperbereiche, die teils bekannt sind, teils diffuse Bereiche, die gar nicht spezifisch benannt werden können. Im Rahmen des Kurses stehen die sprachlichen Äußerungen stets in Beziehung – einerseits in einem Verhältnis zu den anderen Teilnehmerinnen: In Austauschmomenten äußern sich alle zu ihren Erfahrungen und dies in Rekurs auch auf andere Erfahrungsperspektiven.15 Andererseits entstehen sie in und durch Bewegungsprozesse, in denen der eigene Körper oder/und mehrere Körper zusammenwirken. Körper als Materialisierung sozialer Verhältnisse zu verstehen, veranschaulichen Schmitz und Degele im Begriff des »embodying« (2012) und initiieren dadurch eine Perspektive auf Verkörperung, welche mehr den Prozess leiblicherlebter Einkörperung betrachtet (vgl. dazu Wuttig 2016; Gregor 2015, in diesem Band). In diesem Sinne formulieren auch Keller und Meuser, dass »Körper als eigenständige Träger von Wissen fungieren« (2011: 10) und konturieren Körper als physisch-biographische, kulturell und historisch spezifische sowie leiblich erlebte Materialitäten, wodurch Körperwissen und leibliches Erleben in einem dynamischen Verweisungszusammenhang stehen (vgl. Jäger 2004; Lindemann 2017).

I MPROVISATION ALS HETEROTOPISCHE , KÖRPER - LEIBLICHE P RAXIS DER D IFFERENZ »to respond, to be responsible, to take responsibility for that which we inherit (from the past and the future), for the entangled relationalities of inheritance that ›we‹ are, to acknowledge and be responsive to the noncontemporaneity of the present, to put oneself at risk, to risk oneself (which is never one or self), to open oneself up to indeterminacy in moving towards what is to-come« (Barad 2014: 183).

Improvisation beschreibt in diesem Forschungsprozess einen Rahmen, in dem freiwillig und routinisiert immer wieder mit Ungewissheit und Kontingenz experimentiert wird. Improvisieren ist eine vielgestaltige »Praxis des Umgangs mit dem notwendig und immer schon Unvorhersehbaren« (Bormann/Brandstetter/Matzke 2010: 14) und ist damit zugleich in seiner Mehrdeutigkeit wie auch seinem prekären Charakter konturiert.16

15 »Sie [die Sprache, LS] tragt ihren Sinn, so wie die Spur eines Schrittes die Bewegung und die Anstrengung eines Körpers bedeutet« (Merleau-Ponty 1984: 74). 16 Vgl. Lampert (2007) für eine historische und theoretische Einbettung sowie Darstellung von Improvisationsverfahren im (anglo-amerikanischen und europäischen) Tanz.

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Es geht den teilnehmenden Frauen* in ihrer Teilnahme nicht um die Erarbeitung choreographischen Materials, sondern um einen ZeitRaum, in dem sie sich kollektiv bewegen und Kontakt zum eigenen Körper auf spezifische Weise inszeniert wird – dies im Medium leiblicher Praktiken. Dabei gilt es die Praktiken, die ›doings‹ dieses Improvisationsraums, immer wieder auf ihre normativen Rahmungen hin zu befragen. In einer mikrologischen Analyse, die die Erfahrungsebene einholt, bilden sich auch gesellschaftliche Verhältnisse ab, die durch eine intersektionale Perspektive in ihren Verweisungszusammenhängen untersucht werden (vgl. Degele/Winker 2008).17 Verwickelungen sind die Grundlage dieser Zusammentreffen: »Difference is understood as differencing: differences-in-the-(re)making. Differences are within; differences are formed through intra-activity, in the making of ›this‹ and ›that‹ within the phenomenon that is constituted in their inseparability (entanglement)« (Barad 2014: 175). In der Improvisationspraxis ereignet sich Bewegung aus dem leiblichen Hier/Jetzt. Zwar konstituiert sich ein Bewegungsraum aus ›diesem‹ und ›jenem‹, welches sich differenzieren lässt (bspw. als beobachtbare Aktanten einer Praxis), dennoch verweist Barad auf die Dynamik des ›differencing‹ in fortlaufender Intra-Aktivität. Damit sind die sich bewegenden Körper stets ›Andere im Werden‹. Die beobachteten und mitvollzogenen Praktiken können demnach nur im Wissen um die Multiplizität innerhalb phänomenaler Konstellationen analysiert werden. Dennoch gibt es Perspektiven und Perspektivierungen, wie oben argumentiert, sodass die leibkörperlichen Praktiken auch als biographische Materialisierungen von raum-zeitlichen Verwickelungen mit diskursiv-materialen Praktiken im Sinne gesellschaftlicher Verhältnisse zu lesen sind. Mit Fritz-Hoffmann (2017) können diese auch als Berührungsphänomene verstanden werden, die leib-körperlich fundiert sind. Berührung versteht er »als affektive Betroffenheit durch die Art und Weise, in der man sich auf geometrische, adaptive, leibliche und soziale Kontaktformen bezogen, in diese verstrickt oder mit diesen konfron-

Als Medium der Auseinandersetzung und Gestaltung findet Improvisation in unterschiedlichsten Settings Einsatz, wie z.B. kulturellen Bildungsangeboten, der Aus- und Weiterbildung von Vermittler*innen und Pädagog*innen in der künstlerischen Arbeit, in therapeutischen Kontexten wie auch bewegungskulturellen Gruppen und Initiativen; zugleich ist Improvisation auch ein tanzwissenschaftlicher Topos (vgl. Bormann/Brandstetter/Matzke 2010, darin Brandstetter sowie Lampert; Gehm/Husemann/ Wilcke et al. 2007). 17 Dies kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden, vgl. dazu Klinger/Knapp (2008), darin Degele/Winker.

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tiert findet« (2017: 21) – es sind ihm zufolge unterschiedliche Berührungsformen zu unterscheiden, die als »Modi der Grenzrealisierung« (ebd.: 20) gefasst werden. Es ist also immer wieder zu fragen: Was ist im Kontakt/in Berührung? So sind Kontakt- und Berührungsformen »nicht entlang der Trennungen in fünf Sinnesbereiche orientiert« (ebd.: 94) und können für die Analyse des »Erfahrungsraums sozialer Praxis« (ebd.) angelegt werden. Die Frage nach der Materialität sozialer Praxis lagert Fritz-Hoffmann als Gegenstand einer forschenden Auseinandersetzung (vgl. ebd.: 147) und entwickelt ein Konzept der prozessualen Gegenwart, das aus dem »Zusammenspiel der Eigenlogik der Unmittelbarkeit mit jenen des Vermittelten und des sequentiellen Aufbaus« (ebd.: 197) entsteht. In der Improvisation, so betont auch Brandstetter, eröffnet sich ein Widerspruch des Lernens und Verlernens, in dem das (Er-)Finden von Bewegung stets auch auf biographisch, bewegungs- und körpertechnisch Gewusstes/Gekonntes verweist (vgl. 2010). Sie betont Effekte von Emergenz, die sich aus einer »Poiesis des Imperfekten« (ebd.: 193) speist. Gerade diese Verknüpfung von Berührungen/Berührt-Sein durch und der kollektiven Akzeptanz des Imperfekten im Prozess der Improvisation markiert den beforschten Raum als einen heterotopischen (Foucault 2014 [1966]). Die Teilnehmerinnen des Improvisationsraums begegnen sich als generationale und biographische Multiplizität im Improvisieren. In einem Altersspektrum von 30 bis Mitte 60 Jahren generieren die Teilnehmerinnen in dem szenisch beschriebenen Kreis als auch in den Bewegungssequenzen kollektiv und prozessual Momente der Gegenwart, in denen der »erund durchlebte Leib […] Medium und Gegenstand des Erlebens zugleich ist […][und] immer auch Körper bleibt« (Alloa 2016: 137). Anschließend an Merleau-Ponty und Waldenfels spricht er von »einer irreduziblen Unverfügbarkeit des Leibes, wobei im Aneignungsversuch stets auch das Fremdwerden des vermeintlich Eigenen erfahren wird« (ebd.: 140). Alloa hebt auf prozessuale Ereignisse ab, »bei denen dasjenige, was die Veränderung durchmacht, immer auch an dieser Veränderung beteiligt ist« (ebd.: 144). Philosophien alteritärer Affizierung, gedacht als Geschehen, in die wir verwickelt sind, verweisen darauf, dass Leiblichkeit im Sinne einer Medialität verstanden werden muss (vgl. ebd.: 146). Dann ist die Affizierbarkeit als Responsivität zu verstehen und »geht über Sinnhorizonte und Regelsysteme hinaus« (Waldenfels 2016: 369). Mit Waldenfels bedeutet Responsivität, dass »der Leib selber in sich eine Andersheit [hat], eine Differenz in bezug [sic!] auf sich selbst, und zugleich ist er auf andere Leiber [und Umwelt, LS] bezogen« (ebd.: 372). In der Auseinandersetzung mit Welt ereignen sich demnach ständig Situationen, die Aufforderungscharakter haben.

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Dies im Sinne eines »Quasi-Gesprächs« (ebd. 375), das immer mehrere Möglichkeiten zulässt und Antworten situativ aushandelt. Auf den Forschungskontext bezogen lassen sich also Interferenzen (Überschneidungen) sowie Diffraktionen (Streuungen) feststellen: Die beobachteten Situationen verweisen auf die leibliche Responsivität in Auseinandersetzung mit Umwelt. Das Zusammenkommen im Kreis, der Austausch, die Improvisationssequenzen – immer sind es Situationen, die ein körper-leibliches Erleben kennzeichnen, das sich in der Auseinandersetzung konstituiert und dennoch nicht darin erschöpft. Der verletzliche, sich verändernde Körper ist eine spezifische Thematik, die auf ein (geteiltes) Erleben einerseits, aber auch auf (diskursives) Wissen verweist, welche Leiblichkeit als kulturell und historisch eingebunden herausstellt. Barad stellt in einem performativen Verständnis »matters of practices/doings/actions« (2003: 802) zentral und verweist immer wieder auf die Un (-ter-)bestimmtheit von Grenzziehungen: »[it] is not a static relationality but a doing – the enactment of boundaries – that always entails constitutive exclusions and therefore requisite questions of accountability« (ebd.: 803). In ihrer Performativitätstheorie bedeutet sie Materialität aktive Teilnehmer*innenschaft im weltlichen Werden – seiner Intra-Aktivität – zu, sodass jede Theorie die Materialisierung von Körpern betrachten müsste »how the body’s materiality – for example its anatomy and physiology – and other material forces actively matter to the process of materialization« (ebd.: 809, Herv. i.O.). Performativität versteht sie als Diffraktion. Für den Forschungsprozess heißt das, immer wieder agentielle Entscheidungen innerhalb »the ongoing reconfiguring of locally determinate causal structures with determinate boundaries, properties, meanings, and patterns of marks on bodies« (ebd.: 817) zu treffen – dies durch agentielle Schnitte, die aus der ontologischen Unbestimmtheit etwas Spezifisches machen. Im Rahmen dieses Artikels habe ich leibliche Verwickelungen als konstitutiv für Forschungsprozesse im Anschluss an Anke Abraham diskutiert. Dabei markiert Leiblichkeit einen Ort, um gesellschaftliche Verhältnisse als materielldiskursive Praktiken in ihrer Gewordenheit zu benennen und damit auch machtvolle Grenzziehungen zu adressieren.18 »We do not obtain knowledge by standing outside of the world; we know because ›we‹ are of the world« (2003: 829, Herv. i.O.) – Dieses utopische Moment

18 Barad verweist mit Foucault darauf, dass diskursive Praktiken lokale, soziohistorische, materielle Bedingungen sind, die Wissenspraktiken ermöglichen und beschränken: »discursive practices are causal intra-actions […] are boundary-making practices that have no finality in the ongoning dynamics of agential intra-activity« (2003: 821).

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leiblichen Involviertseins heißt Teil (noch und immer wieder) unbestimmter Phänomene im Werden zu sein;19 sich darin zu verorten, hieß für Anke sich als Forscherin betroffen zu zeigen.

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19 »On an agential realist account of technoscientific practices, the ›knower‹ does not stand in a relation of absolute externality to the natural world being investigated – there is no such exterior observational point. It is therefore not absolute exteriority that is the condition of possibility for objectivity but rather agential separability – exteriority within phenomena. ›We‹ are not outside observers of the world. Nor are we simply located at particular places in the world; rather, we are part of the world in its ongoing intraactivity« (Barad 2003: 828, Herv. i.O.).

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Zeit – Beschleunigung – Alter Einige soziologische Aspekte1 M ICHAEL K LEIN

V ORREDE Was also ist die Zeit? Vorbewusst selbstverständlich und wirkmächtig allgegenwärtig und gleichwohl sowohl der Wahrnehmung wie einer analytischen Reflexion immer wieder entzogen: »Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Das jedoch kann ich zuversichtlich sagen: ich weiß, dass es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüber ginge, keine zukünftige, wenn nichts da wäre. Wie sind nun aber jene beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wo ja doch die Vergangenheit nicht mehr ist, und die Zukunft noch nicht ist?« (Augustinus 1888: 5)

Ich werde also im Folgenden in drei großen Bögen Aspekte sammeln und werde versuchen, diese pointilistisch zu einer Collage zusammenzufügen.

1

Dieser Beitrag ist ein gekürzter, leicht abgeänderter, Wiederabdruck aus dem Band Bodytime: Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen (Esterbauer et al. 2016). Der zugrundeliegende Vortrag wurde in Graz gehalten – auf der letzten Tagung, auf der Michael Klein und Anke Abraham beide als Vortragende eingeladen waren. Die Universität Graz ist zudem der Ort, an dem Anke Abraham ihren ersten Lehrauftrag hatte und damit ein Eckpunkt ihrer Biographie als Wissenschaftlerin.

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1. Z EIT In der Vorstellung der/des Menschen ist die Zeit eine objektive Gegebenheit, die als transzendentale Bedingung der menschlichen Existenz wie allem Existierenden vorgelagert ist. Die soziale Zeit jedoch ist fluide und flexibel, wobei die Zeitvorstellungen in verschiedenen Kulturkreisen ausgebildet werden und wechselnde Modelle der Menschen von der Zeit hervorbringen, die sich allerdings überlappen und ergänzen. Diese Zeit ist eingelassen in existentielle Grundgegebenheiten, die universell beschaffen sind, beim Menschen aber natürlich anthropologisch entwickelt, aufgebaut, angeeignet, erlebt und interpretiert werden. Dabei lassen sich zwei Formen oder Qualitäten unterscheiden, die sowohl konträr sind, wie sie aber auch ineinander übergehen – resultierend aus dem, was der Mensch • in seiner lebensweltlichen Umgebung beobachtet, was dort in einer Abfolge

geschieht und abläuft, • was ihm selbst in der Abfolge seines Lebens kreatürlich, sozial, kulturell vor-

gegeben ist. a) Eine zyklische Sichtweise oder ein zirkuläres Modell: Wechsel von Tag und Nacht, Wiederkehr der Jahreszeiten, Gliederung in Epochen, die sich zu wiederholen scheinen, Wanderung der Gestirne etc. b) Eine final bestimmte, linear orientierte Grundauffassung in der Abfolge des endlichen Lebens: Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Greisenalter, Tod, die aber immer in einem komplexeren Zusammenhang, der über das Leben des Einzelnen hinausweist, in Zirkularität übergeht: Geburt von Nachkommenschaft, Platz machen für eine neue Generation, Generationenabfolge, Weiterreichen von sozialem und kulturellem Wissen (Ahnenerbe, oder heute im Glauben an die Determiniertheit durch die Gene). Beide Grundformen der Zeitvorstellungen sind bestimmt durch Eindrücke der Naturerscheinungen und natürlichen Gegebenheiten, die sozial und kulturell verarbeitet und interpretiert werden und die dabei in Einteilungen gegliedert und mit Bedeutungen belegt werden: Tagesablauf, Jahreszyklus, Lebenszyklus, Jahrhundert, Ära, Epoche, Periode, Zeitalter, wobei in vielen Kulturen ein Jahrhundert als Kulturepoche gedeutet wird und um die Jahrhundertwenden nach Neuanfängen zu suchen ist (mit Ausnahme natürlich des kulturlosen Tausendjährigen Reichs!).

Z EIT – B ESCHLEUNIGUNG – A LTER | 249

So ist der subjektive Zeitbegriff emotional erfüllt und bestimmt von der erfüllten Zeit, der verstreichenden und schwindenden Zeit, Altern und Todesfurcht oder -sehnsucht, der verblassenden oder aber übermächtigen Erinnerung, der Sehnsucht nach dem zeitlich Entfernten, das biographisch akzentuiert wird. Quer dazu steht die mathematische oder astronomische Chronologie und die quantifizierende Vermessung der Zeit. Wobei aber auch in der quantifizierenden Vermessung die Reichweite kulturell massiv divergieren kann. So wurde noch zu Goethes Zeiten (oder generell in der Vor-Darwin-Zeit) im Common Sense und in der Religion, aber teilweise auch in der Wissenschaft in Anlehnung an die Chronologie der Bibel die Geschichte der Menschheit auf ca. 6.000 Jahre ausgelegt (eine Vorstellung, die auch heute noch fundamentalistisch gestimmte Kreationist*innen selbst in der Schulbildung durchzusetzen trachten), heute geht man eher davon aus, dass die Welt mindestens 4,5 Milliarden Jahre und die Menschheit mindestens 2,5 Millionen Jahre alt ist. Im weitesten Sinne ist das zyklische Zeitmodell pazifizierend, indem es den Menschen und das Universum in eine harmonische und analoge Beziehung setzt, das final bestimmte und linear gerichtete Zeitmodell ist geprägt von der Unerbittlichkeit des dem göttlichen Willen ausgesetzten Menschen: Schöpfung, Sündenfall, Apokalypse, Weltuntergang, Weltgericht (wo auch Rechenschaft zu geben ist). Exemplarisch hierfür Kohelet 3,1-8: »Alles hat seine Stunde und jedes Geschehen unter dem Himmel hat seine Zeit: eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Bauen und eine Zeit zum Niederreißen, eine Zeit zum Lachen und eine Zeit zum Weinen, eine Zeit zum Trauern und eine Zeit zum Tanzen, eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit der Umarmung und eine Zeit der Enthaltung, eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Bewahren und eine Zeit zum Verwerfen, eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen, eine Zeit zum Reden und eine Zeit zum Schweigen, eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit zum Krieg und eine Zeit für den Frieden.«

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In beiden Zeitmodellen wird aber seit jeher eine Ordnung und Strukturierung der Zeit vorgenommen, die von Alltagsnotwendigkeiten zu religiösen Bräuchen oder sozialen und politischen Gliederungen reichen. Kulturell prägend waren die wiederkehrenden Zeitabläufe, die sowohl gemessen wie mythisch-religiös interpretiert wurden: Sonnenauf- und Sonnenuntergänge, Mondwechsel (Wiederkehr der Vollmondnächte), Abfolge der Jahreszeiten. Auch die linear orientierten Kalender wurden mit Namen, Bildern und Festen versehen, die zyklische Folgen und deren soziale Korrelate einprägen. Die Ordnung und Strukturierung der Zeit transportiert die Disziplinierung des Menschen durch die Zeit: • ausgehend von den Klöstern einerseits, • andererseits durch ökonomische Faktoren: Zeitverabredungen der Handels-

beziehungen (großräumig) oder Märkte (kleinräumig). Die Uhrzeit wird dabei zum Zeitgerüst des Tagesablaufs (seit der Frühzeit der Uhr werden jedoch auch schon astronomische Uhren und Weltzeituhren konstruiert), wobei Raum und Zeit in Zusammenhang gesetzt werden: Gottesdienst, Arbeits- und Gebetszeit, Marktbeginn, Öffnung der Tore, Gerichtsstunden. Dieses Zeitgerüst schafft Erwartbarkeit und Reziprozität, wie die Durchsetzung der Kalender der Koordinierung des Staatswesens und der religiösen und weltlichen Sphären diente. Aber: Mit der Erweiterung der Komplexität und Reichweite der Strukturierung der Zeit ergibt sich quasi naturwüchsig (oder: inhärent) der Zwang zu immer genauerer Detaillierung und feinerer Präzision, die die Funktionen von Maschinen und koordinierten Prozesse sozialer Systeme bestimmen und auf die Lebensführung des Menschen als Zeitfesseln zurückwirken: Turmuhr, Werksuhr, Stechuhr, Armbanduhr. Es ist kein Zufall, dass mit dem Einsetzen der forcierten Dynamisierung der Zeit ca. ab dem 16. Jahrhundert die antiken Zeitgötter (Kronos, Saturn, Kairos) in Allegorik, bildender Kunst wie in der Schriftstellerei wieder belebt werden (Ottomeyer 1999: 330-374): • die Unerbittlichkeit des Barock: Vergänglichkeit und Vanitas, • Kronos wie der Tod als Greis mit Sense und/oder Stundenglas bewehrt, um al-

les, was entsteht, dahin zu raffen (»Die Zeit vernichtet ihre Geschöpfe.« [Ottomeyer 1999: 344]), • als die sich selbst verzehrende Zeit,

Z EIT – B ESCHLEUNIGUNG – A LTER | 251

• Saturn, der das Rad der Zeit unaufhaltsam dreht (Ottomeyer 1999: 332), • »mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen« (Martin Luther 1524) »Die Herrlichkeit der Erden Muß Rauch und Aschen werden, Kein Fels, kein Erz kann stehn. Dies was uns kann ergetzen, Was wir für ewig schätzen, Wird als ein leichter Traum vergehn. Was sind doch alle Sachen, Die uns ein Herze machen, Als schlechte Nichtigkeit? Was ist der Menschen Leben, Der immer um muß schweben, Als eine Phantasie der Zeit.« (Gryphius 1986: 92)

»Lust und Leid« – mit diesem Leitthema der Affekte im Barock versucht die Steirische Landesaustellung 1992 auf Schloss Trautenfels, diese von tiefen Spannungen und kontrastreichen Widersprüchlichkeiten durchzogene Periode der europäischen Geschichte, die aber gleichzeitig vom leidenschaftlichen Willen erfüllt ist, diese in universalistischen Ordnungssystemen zum Einklang zu bringen, anschaulich zu machen (Biedermann et al. 1992). Dabei aber stellt sich die Frage: Wer ist imstande, die Zeit zu besiegen? Und so fragt diese Epoche notwendigerweise auch nach dem Gegenpol zum Leid der Zeit, die alles Gewordene dahinrafft. Und sie stößt – kaum verwunderlich – auf das Wechselspiel von der Langlebigkeit des Vergehens in der Zeit und der Kurzlebigkeit der Liebe als Inbegriff der Intensität der Gegenwärtigkeit in der Sinnlichkeit. Amor erfreut die Jugend mit seinem Flötenspiel, während die Greisenhaftigkeit der Zeit in Gestalt des Saturns schläft (Ottomeyer 1999: 330-374).

2. B ESCHLEUNIGUNG Nicht nur die Zeit selbst, sondern auch ein wissenschaftliches Konzept von Beschleunigung ist keinesfalls so eindeutig, wie es oft ausgegeben wird – vor allem dann, wenn es als sozialer Parameter verstanden sein will:

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»Unklar ist indessen nicht nur, was man sich unter sozialer Beschleunigung vorzustellen hat, sondern auch, worauf sie sich eigentlich bezieht, d. h., was ihren Gegenstandsbereich ausmacht. In den bisher vorliegenden sozialwissenschaftlichen, alltags- und hochkulturellen Zeit-Diagnosen werden, zumeist ohne weitere Begründung, eine ganze Reihe von Kandidaten präsentiert: es beschleunigt sich die Geschichte, die Kultur, die Gesellschaft, das Tempo des Lebens oder gar die Zeit selbst, […] wobei sich diese Diagnosen beliebig kombinieren lassen und die Begriffe in aller Regel zur Bezeichnung der gleichen Phänomene, d. h. nahezu als Synonyme und ohne jede analytische Diskriminierungskraft, verwendet werden.« (Rosa 2005: 53)

Gelegentlich wird so getan, als beschleunige sich in der modernen Gesellschaft buchstäblich alles. Rosa insistiert jedoch – in meinen Augen zu Recht – darauf, dass den Aspekten der Beschleunigung und den Beschleunigungsphänomenen auch solche der Beharrung oder der Verlangsamung gegenüberstehen. Wenn er jedoch darauf verweist, dass sich eine Reihe von Prozessen hartnäckig jedem Beschleunigungsversuch entziehen – »am spürbarsten sind hier solche, die sich auf den eigenen Körper beziehen, etwa Erkältungen oder Schwangerschaften« (Rosa 2005: 54) –, dann fragt sich verschärft (was Rosa nicht tut): Was sind die Folgen, wenn genau diese Phänomene unter Beschleunigungsdruck geraten oder gesellschaftlichem Beschleunigungsdiktat unterworfen werden? Entgegen der unbestreitbaren Feststellung, dass es Phänomene der Verlangsamung, der Verzögerung und des Beharrens gibt, belegen eine Vielzahl von kulturhistorischen Untersuchungen und sozialgeschichtlichen Analysen, dass sich das kulturelle Selbstverständnis der Moderne als Reaktion auf eine veränderte Grunderfahrung und Deutung von Zeit und Raum interpretieren lässt, die mit dem Begriff der Beschleunigung belegt werden müsste. Den geisteswissenschaftlich verarbeiteten Erfahrungsbeginn eines Zustandes der unaufhörlichen Dynamik kann man mit Rousseaus »tourbillon social« (Rousseau 1789: 125) einsetzen lassen oder mit Goethes Faust, wo Philemon und Baucis – die Figuren der alten, untergehenden Welt des Beharrens – im letzten Akt dem Schaffensdrang Fausts zum Opfer fallen (Goethe 1950: 192-195). »Alles ist beweglich geworden, oder wird beweglich gemacht, und in der Absicht, oder unter dem Vorwand, Alles zu vervollkommnen, wird Alles in Frage gezogen, bezweifelt und geht einer allgemeinen Umwandlung entgegen. Die Liebe zur Bewegung an sich, auch ohne Zweck und bestimmtes Ziel, hat sich aus den Bewegungen der Zeit ergeben und entwickelt. In ihr und in ihr allein, sucht man das wahre Leben.« (Koselleck 1989: 328 unter Bezug auf Berman 1988)

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Zum Ende des Jahrtausends wird Paul Virilio (1998) dann vom rasenden Stillstand sprechen. Auf jeden Fall ist klar: Die Begründungslast wird in dieser Umkehrung von der Bewegung und Veränderung zur Beharrung und Bewahrung verschoben: Nicht der*die Veränderer*in und Beschleuniger*in hat zu begründen, sondern der*die Bewahrer*in und Verlangsamer*in, ja, das Langsame selbst ist suspekt und korrekturbedürftig. Wenn man die Dynamik der Beschleunigung als soziales Phänomen zeichnet, so zeigt sich rasch, dass die scheinbare Eindimensionalität und Eindeutigkeit einer physikalischen Fassung in bezeichnender Weise unzulänglich ist. Vielmehr ist soziale Beschleunigung als mehrdimensionales Phänomen zu fassen, das sich – folgt man Rosa, der die Verlaufsstränge der sozialwissenschaftlichen Diskussion nachzeichnet und mit den Bereichen der empirischen Phänomenwelt in Beziehung setzt, – zumindest in drei Formen oder Sphären der sozialen Beschleunigung greifen lässt: a) Technologische Beschleunigung = intentional und zielgerichtet. Z.B. Leistungssteigerungen im Sport, Transportgeschwindigkeiten, Mengenzunahme pro Zeiteinheit, Zahl der produzierten Güter, Rentabilität und Produktivität etc. Technische bzw. technologische Beschleunigung sind jedoch nicht die alleinigen oder auch nur wichtigsten Triebfedern sozialer oder kultureller Beschleunigung. b) Beschleunigung des sozialen Wandels und deren Korrelate im menschlichen Leben. Z.B. Partner*innenwechsel pro Jahr, News, Verfallszeit und Entwertung von Qualifikationen, Bildungsabschlüssen und Bildungsgütern etc. c) Darüber hinaus aber gibt es ein Phänomen, das sich nicht aus diesen zwei Sphären allein und auch nicht aus deren Koinzidenz erklären lässt. Wenn nämlich trotz oder gerade wegen der technologischen Beschleunigung (die ja Zeit erspart) die Zeit selbst knapp wird, so ist diese Verknappung der Zeitressource, die zur Zeitnot des Menschen in der Moderne wird, ein an sich selbst erklärungsbedürftiges Paradoxon. Es ist sozusagen das Metaphänomen der sozialen Beschleunigung; denn hierin basiert eine allgemeine Erhöhung des Lebenstempos durch eine Steigerung der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro unterschiedlichster Zeiteinheiten. Muster wie Fast Food, Speed-Dating, Drive-In-Beichte, Multitasking etc. versuchen durch Verkürzung und Verdichtung der Handlung selbst den Zeitaufwand zu minimieren, um mehr Handlungen oder Handlungssequenzen platzieren zu können. Und hier ist nun das zentrale Problem für den Menschen angesiedelt:

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Alle diese Handlungsweisen, Beziehungsformen, Lebenspraktiken (wie z.B. Essen) sind in langen Zeiträumen gewachsen und kulturell eingebettet. Damit haben sie ein hochkomplexes Wirkungsgefüge und Bedeutungsspektrum, mit denen Gefühle, Kognitionen, Ich-Umwelt-Bezüge, Erfahrungen, Erinnerungen und vielfältige Entwicklungsimpulse aufeinander bezogen und miteinander vernetzt werden. Mit der Erhöhung des Lebenstempos durch Handlungsverdichtung wird in der Regel auf ein Ereignis, eine Episode, eine Wirkungsweise reduziert und isoliert. Verloren geht die subtile Vernetzung und das komplexe Wirkungsgeschehen wird ausgeschlossen. Zu vergleichen wäre dies in etwa mit der Wirkungsweise der Drogeneinnahme und/oder dem Doping im Hochleistungssport. Gleichzeitigkeit und Eigenzeit Die qualitativen Veränderungen in der Zeitwahrnehmung und Zeitverwendung in gesellschaftlicher wie individueller Strukturierung der Zeit und die hierzu eingesetzten Technologien streben eine Zeitersparnis an und zugleich einen weltweiten Zustand der Gleichzeitigkeit, worauf insbesondere Helga Nowotny (1995: 17-45) hinweist: Nachrichten übermitteln, Waren und Güter just in time zu bedienen oder finanzielle Transaktionen zu tätigen. Aber gerade aus diesem forcierten Bemühen ist auch massiv Gegenteiliges erwachsen: • Verbrauch von Zeit, • Verbrauch und Zerstörung natürlicher Ressourcen, • Überforderung von Natur, Gesellschaft und Individuum (Reheis 1998).

Aber auch eine extreme Steigerung von neuen Ungleichzeitigkeiten; und diese Ungleichzeitigkeiten produzieren Ungleichheiten in bisher nicht bekanntem Ausmaß. Der Zusammenhang zwischen Zeit und Macht wird qualitativ in eine neue Dimension gestellt; Zeit ist sozial ohne Macht nicht mehr verhandelbar. »Eine Gegenwart, die auf beschleunigte Innovation ausgerichtet ist, beginnt die Zukunft zu verschlingen. Probleme, die früher in die Zukunft verlegt werden konnten, reichen ihrerseits in die Gegenwart hinein, drängen auf Lösungen, die zwar erst morgen anstehen mögen, aber heute behandelt sein wollen. Die Durchlässigkeit der Zeitgrenze zwischen Gegenwart und Zukunft wird durch Technologien [der Produktion und Kommunikation] gefördert, die zeitliche Entkoppelung und Dezentralisierung ermöglichen und die andersartige, auf die Gegenwart bezogene Zeitmuster erzeugen, die sich von der Linearität weitgehend abgelöst haben. Doch der Prozeß der fortlaufenden ›schöpferischen Zerstörung‹,

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wie Schumpeter die Innovationstätigkeit nannte, führt zu einem anderen Zivilisationsproblem: […] dem Altern von Technologien, der Produktion von Abfall. Die Vergangenheit kann den Abfall nicht schnell genug aufnehmen. Durch die Schaffung von immer mehr Neuem nimmt zwangsläufig das zu, was beseitigt werden muß. Beide Prozesse bedürfen einer veränderten Balance – in einer erstreckten Gegenwart.« (Nowotny 1995: 12)

Zeitdiagnostisch ist jedoch statt einer neuen Balance eher ein Zwiefaches zu registrieren: a) Eine einseitige Ausrichtung auf Zeitmuster, Zeiterwartungen und Zukunftsinteressen der ökonomischen Gewinner*innen, sodass keinerlei Zeit und Ressourcen mehr bleiben zur Bearbeitung der aktuellen Anliegen und Nöte der normalen Bevölkerung. Nicht durch Zufall herrscht immer mehr der Eindruck vor, die Politik nehme die Probleme der Menschen gar nicht mehr zur Kenntnis (Frank Plasberg kann seine Sendung in der ARD ganz unironisch nennen: »Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft«). b) Eine ungleiche Verteilung von Gewinn und Verlust durch eine private Aneignung des Reichtums, wobei die Bandbreite der privaten Gewinner*innen immer enger wird, und eine breite private und öffentliche Verarmung dadurch, dass die sozialen und ökologischen Kosten des privaten Gewinns der Wenigen sozialisiert und zu öffentlichen Aufgaben deklariert werden, womit sich nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter vergrößert, sondern der Mittelstand, der atemlos und dennoch aussichtslos hinterherhechelt, immer stärker ausgedünnt, sozial ausgehöhlt und psychisch überstrapaziert wird. Auf jeden Fall aber ersetzt die Erzeugung von Abhängigkeiten durch die durch Ungleichzeitigkeit angelegten Differenzen unter dem Postulat der Gleichzeitigkeit den Zukunftshorizont, der die letzten 200 Jahre den Fortschrittsglauben als Differenz zwischen Erfahrung und sich immer wieder erneuernder in eine offene Zukunft strebende Erwartung von Verbesserung modulierte, durch die Undurchlässigkeit einer alternativlosen und damit hoffnungslosen, sich ewig erstreckenden breiigen Gegenwärtigkeit. Bei aller Macht des Zwanges zur Gleichzeitigkeit, auch heute gibt es – wie jeher – im sozialen Leben eine Eigenzeit (Nowotny 1995: 37), die jeder Mensch als seinen Rhythmus und seine Strukturierung der Zeit zur individuellen Lebensführung in sich trägt, deren je eigene Ausprägungen sich aber auch in den Segmenten der sozialen Differenzierungslinien eingerichtet haben: nach Geschlecht, Altersgruppen, nach arbeitsteiligen Tätigkeiten, nach Status, nach Macht und nach den je spezifischen Zeitordnungen sozialer Aktivitäten. Selbst wenn die

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faktischen Differenzen letztlich nicht so gravierend sind, wie sie gelegentlich erscheinen mögen (Dollase/Hammerich/Tokarski 1999), so konkretisieren sich diese doch als soziale und biologische Rhythmen. Ich denke, das Hauptproblem für Individuen wie soziale Gebilde besteht nicht in erster Linie in der Bewältigung der rasanten Beschleunigungsprozesse, sondern in der Überforderung des Ausbalancierens der unterschiedlichen Zeitordnungen, wo es keinen Legitimitätsanspruch hierfür und keine sozial etablierten und akzeptierten Maßstäbe gibt. Um solche Maßstäbe zu entwickeln und zu tradieren, benötigt der Mensch jedoch ein Leben in Zeitentwürfen, die Erinnerung und Geschichte als zentrale Momente transportieren. Aleida Assmann (2013) insistiert: Um Identität auszubilden, benötigen wir eine Vergangenheit, die uns angeht, eine nicht zu kurze Gegenwart, in der wir uns einen Platz suchen können, und eine Zukunft, die uns aus dieser Perspektive noch etwas zu bieten hat (Assmann 1992). Der fiktive Anspruch der Gleichzeitigkeit aber verzehrt alle drei Dimensionen und konstituiert damit die durchgängige Krise der spezifischen Auffassung von Zeit in der Moderne. Bereits Alexander von Humboldt hatte zuerst in seiner Antrittsrede als ordentliches Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften am 21. November 1805 erklärt, man müsse die Erscheinungen der Dinge in ihrem vertikalen und horizontalen Zusammenhang sehen, um alles Existierende im Himmel und auf Erden zu verstehen. Sein Anliegen war damit, »in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, die unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt« (Humboldt 1845: 6; vgl. auch Pieper 2009). Humboldt sah die Gesamtheit der Phänomene als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes an, das sich in einem dynamischen Prozess entwickelt (Humboldt 2004). Dieser Prozess und diese Entwicklung aber sind rhythmisiert, langfristig und nachhaltig. Die heutige Welt zeichnet sich aber dadurch aus, dass Spezialist*innen unter dem Vorwand der Wissenschaftlichkeit und der ökonomischen Utilitarität die Wirklichkeit in winzige Teile zerlegen, und die Welt in die Kurzfristigkeit des Augenblicks gestürzt ist und sich darin verliert – auch indem der Zusammenhang und damit der Sinn verloren geht.

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3. ALTER Im Alter gewinnt die Zeit eine übermächtige Kraft in eigentümlich veränderter Gestalt; nicht einmal als temps perdu oder schwindende Zeit, sondern eher als endende Zeit. Zyklische wie lineare Lebenszeit kommen zum Ende. Die Zeit der großen Feiern und Zeremonien, die Festlichkeiten sind vorbei (Kommunion, Konfirmation, Ausbildungsabschluss, Hochzeit, Kindstaufen etc.). Die letzte große Zeremonie, in der man selbst im Mittelpunkt von Lobpreisungen und Erinnerungen steht, naht rasend schnell, nur erlebt man sie selbst nicht mehr mit. Die Begierde nach und die Freude über Erreichtes wird allmählich abgelöst durch Bedauern über Verpasstes, Vermiedenes, nicht Geklärtes, nicht Abgeschlossenes, nicht Gelebtes und wendet sich allzu häufig gegen das gelebte oder nicht gelebte Leben, gegen die Menschen und gegen sich selbst. So sagt der Autor und Regisseur Helmut Dietl in dem ZEIT-Interview (Nr. 49, 28. November 2013), in dem er seine (inzwischen hoffnungslose) Krebserkrankung öffentlich macht: »Wollen Sie damit sagen, ab einem gewissen Alter kann man die Menschen nicht mehr mögen? Ja, das hat damit zu tun – mit einer Sammlung von schlechten Erfahrungen und mit einer wachsenden Skepsis. Gegenüber wem? Sich selbst gegenüber und auch der Umwelt. Es fällt einem langsam auf, was man alles falsch gemacht hat. Man mag sich selber immer weniger. Aber irgendwann kommt dann auch der Moment, wo einem manches, was einen früher beschäftigt und gequält hat, gleichgültig ist.« (di Lorenzo 2013)

Jean Améry, der seinem Leben durch Selbstmord ein Ende setzte, beschreibt in seinem Essay Wie viel Heimat braucht der Mensch? den Unterschied zwischen einem jungen und einem alten Mann. Der junge Mann – so Améry – sei immer er selbst plus der Mann, der er einmal sein werde. Hingegen sei der alte Mann nur noch der alte Mann – er verkörpere keine Zukunft mehr, dafür Verfall und Verlust. Gerade in den Zwängen der Multioptionsgesellschaft (Gross 1994) ist die Thematik, was nicht gewesen ist und nicht mehr geht, nicht nur Thematik des alten Menschen, sondern wird quasi im Vorgriff immer stärker Lebensthema der Jungen.

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Der Hit von Asaf Avidan: »One day baby we’ll be old oh baby, we’ll be old And think of all the stories we could have told.«2

wird von Julia Engelmann aufgegriffen und wurde in rasendem Tempo zum gerade von jungen Menschen am meisten angeklickten Poetry-Slam: »One day, baby, we’ll be old, Es gibt zu viel zu tun, meine Listen sind so lang, ich werd das eh nie alles schaffen, also fang ich gar nicht an. […] Mein Dopamin – das spar ich immer, falls ich’s noch mal brauch. […] Wenn wir dann alt sind und unsere Tage knapp – und das wird sowieso passieren […].« (Engelmann 2014: 24f., 27)

So dürfte es zwar auch, aber nicht nur dem demographischen Wandel und dem generellen Altern der Gesellschaft geschuldet sein, dass in den letzten Jahren die Produktionsquote von Büchern über alternde Menschen – seien es Frauen oder Männer – von Autor*innen eruptiv angestiegen ist: als seriöse Analyse, populärwissenschaftlicher Essay, als larmoyante Klage, als Farce, spöttische, satirische oder zynische Komödie, als Trostbuch, Mutmacher oder gar Gegenrechnung (Schmid 2014), aber auch in der Belletristik (u.v.a.m.: Berg 2013; Bovenschen 2006; Gerster 2007; Maron 2005; Mika 2014; Walser 2006; Westermann 2013). Der Hauptgrund dürfte wohl darin liegen, dass angesichts der Monopolstellung der Lebensform der Beschleunigung in der Moderne die Balancierung der verschiedenen Ebenen der Lebenszeit außer Kraft gesetzt und damit der Le-

2

Asaf Avidan & The Mojos: »The Reckoning Song«, online: http://www.song texte.com/songtext/asaf-avidan-and-the-mojos/reckoning-song-43fd2f83.html [abgerufen am 11.01.2015].

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benssinn selbst abhandengekommen ist, sodass sich auch oder gerade junge Menschen aufgefordert sehen, à la recherche du temps perdu (Proust 1946) zu sein oder bereits den verbissenen Kampf gegen die Absurdität des Todes (Canetti 2014) zu beginnen. Um die Palette der damit verbundenen Erlebnis- und Gefühlskonnotationen aufzuhellen, soll deshalb zum Abschluss nicht auf wissenschaftliche Untersuchungen zurückgegriffen werden, sondern einige – in meinen Augen signifikante – Passagen aus aktueller Literatur quasi als erzählende Collage geboten werden. Literarischer Exkurs Ich erspare mir an dieser Stelle vielfältig mögliche Begründungsargumente und umständliche Erörterungen darüber, warum – wovon ich überzeugt bin – literarische Kreationen der sozialwissenschaftlichen Analyse zumeist vorausgehen und auch die dichterische Schöpfung gegenüber dem sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn oft überlegen, zumindest heuristisch ergiebiger ist (u.a. Zoll 2005; Schimank/Kron 2004), erlaube mir nur zwei kleine Hinweise. Der eigentliche Sinn der Literatur – hat der kürzlich verstorbene Siegfried Lenz geschrieben – besteht darin, die Endlichkeit der menschlichen Existenz jederzeit bewusst zu machen (Lenz 1983: 42; Lenz 1982). Vor allem aber ist wissenschaftliches Argumentieren und Reflektieren nur ein kognitiver Vorgang, auch deren Veranschaulichung in Bildern bedient lediglich die Kognitionen. Lesen und Hören eines literarischen Textes hingegen ist eine Tätigkeit, die Bewegungen in Gang setzt: Zu einem Abstraktum muss etwas hinzugedacht, hinzugesehen, hinzugefühlt, kurz: imaginiert werden, was eigene Erinnerungen, Assoziationen und heuristische Gedankenketten hervorruft. Texte »Gelegentlich lese ich mal ein Buch übers Alter, und die Verfasser schreiben meistens, wie großartig es sei, alt zu sein. Es sei großartig, weise und abgeklärt zu sein; es sei großartig, an einem Punkt angelangt zu sein, wo man versteht, was im Leben wirklich wichtig ist.« (Ephron 2007:14) »Natürlich stimmt es, dass ich weise und abgeklärt bin, seit ich älter bin. Und es stimmt auch, dass ich verstehe, was im Leben wirklich wichtig ist. Aber wissen Sie was? Wirklich wichtig ist mein Hals.« (Ephron 2007: 15)

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»Laut meiner Hautärztin verabschiedet sich der Hals mit dreiundvierzig, und daran lässt sich nichts ändern. Aufs Gesicht kann man Make-up schmieren und Abdeckstift unter die Augen, und die Haare kann man färben. In die Falten kann man Collagen, Botox und Restylane spritzen, aber abgesehen von einer Operation gibt es nichts, was man gegen einen faltigen Hals unternehmen kann. Den Hals kann man nicht austricksen. Unser Gesicht ist die Lüge, der Hals ist die Wahrheit. Man muss einen Mammutbaum aufschneiden, um zu sehen, wie alt er ist. Das bräuchte man nicht, wenn er einen Hals hätte.« (Ephron 2007: 11) »Der letzte Geschlechtsverkehr – ein Unterschied zum ersten ist zum Beispiel, dass man sich an den ersten Beischlaf meist erinnern kann, wohingegen man beim letzten oft nicht weiß, dass es der letzte war, und also, während er geschieht, nicht weiß, dass die Umstände besondere sind und sich ein Abschied vollzieht, der im Moment nicht als Abschied begriffen wird. Erst viel später wird klar, dass da ein Ende war. E., um die es hier geht, dämmerte es nämlich, dass ihr Beischlafleben abgeschlossen war, ohne dass sie das richtig mitgekriegt hatte.« (Sander 2011: 51) »E. war nicht nur, sondern fühlte sich inzwischen selber wie eine soziologische Unterkategorie. Das war ein merkwürdiges Gefühl, weil sie sich umstellt sah von Begriffsfeldern, von Ideengeschichten, die ihr Handeln und Fühlen zumindest beeinflussen, ob sie wollte oder nicht. ›Gebildete Mitteleuropäerin der Mittelklasse, zwischen sechzig und siebzig, Teilnehmerin am sexuellen Aufbruch in den Sechzigern‹.« (Sander 2011: 57) »Er musterte sich im Spiegel. Die weißen Haare auf der Brust, die Altersflecken und -warzen am ganzen Körper, der Speck um die Hüfte, die dünnen Beine und Arme. Der Kopf mit dem schütteren Haar, die tiefen Furchen über der Stirn, zwischen den Brauen und von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln, der schmallippige Mund, die leere Haut unter dem Kinn. Er fand in seinem Gesicht nicht Schmerz oder Trauer oder Zorn, sondern nur Verdruß. Der Verdruß fraß in ihm und zehrte in kleinen Bissen sein vergangenes Leben auf.« (Schlink 2000a: 117) »Auf sie wirkte sein Charme nicht mehr. Zuerst dachte sie, er habe sich abgenutzt – wie sich etwas eben abnutzt, wenn man es lange um sich hat. Aber eines Tages merkte sie, daß sie seinen Charme leid war. Leid. Sie machte mit ihrem Mann Urlaub in Rom, saß mit ihm auf der Piazza Navona, und er strich einem streunenden, bettelnden Hund mit derselben liebevoll-zerstreuten Geste über den Kopf, mit der er auch ihr manchmal über den Kopf strich, und trug dabei dasselbe liebevoll-verlegene Lächeln, mit dem er die Geste auch begleitete, wenn sie ihr galt. Sein Charme war nur eine Weise des Sichentziehens und -versagens. Es war ein Ritual, mit dem ihr Mann überspielte, daß er sich belästigt fühlte.

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Wenn sie es ihm vorgeworfen hätte, hätte er den Vorwurf nicht verstanden. Ihre Ehe war voller Rituale, und eben das war der Grund ihres Erfolges. Leben nicht alle guten Ehen aus ihren Ritualen? […] Sie hatten sich das Leben in seinen Ritualen durchaus vernünftig und befriedigend eingerichtet. Nur das Ritual des Miteinander-Schlafens war verlorengegangen. Er wußte nicht, wann und warum. […] Irgendwann machte keiner von beiden mehr einen ersten Schritt, obwohl jeder von beiden Lust gehabt hätte, sich auf einen ersten Schritt des anderen einzulassen. Ein bißchen Lust, gerade so viel, daß es für den zweiten Schritt gelangt hätte, aber nicht für den ersten langte. […] In den Jahren, in denen die Ehe ausgebrannt war, hatte es zwei Nächte mit anderen Frauen gegeben, die eine mit einer Dolmetscherin und die andere mit einer Kollegin, beide nach viel Alkohol und mit einem Morgen danach voller Fremdheit und Peinlichkeit, und gelegentlich Momente freudloser Selbstbefriedigung, meistens auf Reisen in Hotels. […] Als er sich selbst befriedigen wollte, um sich seine Potenz zu beweisen, gelang es nicht.« (Schlink 2000b: 287-292) »Sie fuhr los. Er weinte weiter. Er weinte über seinen Traum, über die Angebote, die ihm das Leben gemacht und denen er sich versagt und entzogen hatte, über das Unwiederbringliche und Unersetzbare in seinem Leben. Nichts kehrte wieder, nichts konnte er nachholen. Er weinte darüber, dass er, was er wollte, nicht stärker wollte und daß er oft nicht wußte, was er wollte. Er weinte über das, was in seiner Ehe schwer und schlecht war, ebenso wie über das, was in ihr schön war. Nichts, was ihm in den Sinn kam, zeigte nicht eine traurige, schmerzliche Seite, und sei es bei allem Schönen und Glücklichen nur dessen Vergänglichkeit. Die Erinnerung schob ihm Bild um Bild vor das innere Auge, aber noch ehe er ein Bild richtig zu betrachten begonnen hatte, schlug ein Stempel darauf, und dann stand es da in dicken Buchstaben und mit dickem Rand: Vergangen.« (Schlink 2000b: 305)

Und natürlich immer wieder John Updike (1932-2009), der sicherlich die letzten zwanzig Jahre seines Lebens stets auf der Nominierungsliste zum Literaturnobelpreis stand, den er freilich nie erhielt. Über dessen nachgelassene Erzählungen (Updike 2011) schreibt Dieter Hildebrandt in seiner Rezension in der ZEIT vom 13.1.2011 – dem Letzten wiederum, was dieser vor seinem Tode verfasst hat: »Die letzten Erzählungen zeigen den Meister der melancholischen Sinnenfreude bei der Trauerarbeit des Alterns. Die Storys sind eine immer neu ansetzende Suche nach der verlorenen Zeit, sie reiben sich wund an deren Unwiederbringlichkeit. […] Wir sehen eine Phalanx alter Männer – pensionierte Lehrer, wohlsituierte Exbanker, Prediger, Tüftler –, die vom Leben auf der Sandbank des Ruhestands abgesetzt worden sind. […] Das Zentrum des ganzen Buches ist der Satz: ›Die Haut erinnert sich‹.« (Hildebrandt 2011)

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Hieraus daher nur eine einzige Passage: »Er hatte kürzlich einen alten Freund, einen korpulenten Golfkumpel, der einen Herzinfarkt gehabt hatte, im Krankenhaus besucht. Al lag da, mit Schläuchen in der Nase und im Mund, die für ihn atmeten. Seine Brust hob und senkte sich mit einer mechanischen Regelmäßigkeit, die von hüpfenden grünen Linien auf dem Monitor an der Wand aufgezeichnet wurde: eine TV-Show, Als letzte Stunden. Es war fesselnd, obschon der Plot dünn war, nur diese unentwegt in einem Sorbetgrün hüpfenden Linien. Als Hand, gedunsen wie ein aufgepumpter Gummihandschuh, wackelte auf dem weißen Laken. Craig nahm sie in seine, vorsichtig, um die intravenösen Schläuche am Handgelenk nicht zu verrücken. Die Hand war warm und fühlte sich seidig an, wie eine Frauenhand – sie hatte seit einigen Jahren keinen Golfschläger mehr geschwungen –, aber sie schien ohne Leben, obwohl sie den Druck von Craigs Hand erwiderte. Unsere Körper, dachte Craig, sind ein schwerfälliges Überbleibsel, das der Geist zurücklässt.« (Updike 2011: 36f., Herv. i.O.)

N ACHREDE Es ist zwar mancherlei geplaudert worden, und wir ahnen zwar: »Nichts hat auf der Welt Bestand, was da kommt muss scheiden. Und so reichen sich die Hand immer Freud und Leiden.« (Hoffmann von Fallersleben 2009: 102)

Bei der Frage aber, was die Zeit sei, sehen wir uns eher auf die in der Vorrede zitierte Feststellung von Augustinus zurückverwiesen: »Wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären wollte, so weiß ich es nicht.« (Augustinus 1888: 1) Oder aber wir wissen es an anderer Stelle und auf andere Weise, wie z.B. Wolfgang Herrndorf es in seinem nachgelassenen Roman an einer kurz vor seinem Selbstmord niedergeschriebenen Passage sagt: »Du weißt nicht, was Zeit ist. Du weißt es nicht. Aber bald wirst du es wissen, und dann liegst du einen Meter fünfzig unter der Erde.« (Herrndorf 2014: 82)

Aber wir erfahren den Trost, den uns die argutia der schlesischen Barockliteratur angesichts der Tatsache spendet, dass der*die Moralist*in, wenn er*sie

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sich der in Unordnung befindlichen Welt zuwendet, in seiner*ihrer Kritik und Klage niemals ein Ende finden kann: »Weißt du, was in dieser Welt mir am meisten wohlgefällt? Dass die Zeit sich selbst verzehret und die Welt nicht ewig währet.« (von Logau 1872: 45)

L ITERATUR Assmann, Aleida (2013): Die Zeit ist aus den Fugen, München: Hanser. Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck. Augustinus, Aurelius (1888): Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, Leipzig: Reclam. Berg, Sibylle (2013): Die Damen warten. Ein Schauspiel, Reinbek: Rowohlt EBook Theater. Berman, Marshall (1988): All That Is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity, New York: Penguin. Biedermann, Gottfried/Eberhart, Helmut/Valentinitsch, Helfried/Schwarzkogler, Ileane (Hg.) (1992): Lust und Leid. Barocke Kunst. Barocker Alltag. Steirische Landesausstellung 1992 auf Schloß Trautenfels, Graz: Verlag für Sammler. Bovenschen, Silvia (2006): Älter werden, Frankfurt a.M.: Fischer. Canetti, Elias (2014): Das Buch gegen den Tod, München: Hanser. Dollase, Rainer/Hammerich, Kurt/Tokarski, Walter (1999): Temporale Muster. Die ideale Reihenfolge von Tätigkeiten, Opladen: Leske+Budrich. Engelmann, Julia (2014): Eines Tages, Baby. Poetry Slam Texte, München: Goldmann. Ephron, Nora (2007): »Der Hals lügt nie«, in: dies. (Hg.), Der Hals lügt nie. Mein Leben als Frau in den besten Jahren, München: Limes, S. 9-15. Esterbauer, Reinhold/Paletta, Andrea/Schmidt, Philipp/Duncan, David (Hg.) (2016): Bodytime: Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg/München: Karl Alber, online: https://static.uni-graz.at/filead min/projekte/bodytime/OPEN_ACCESS_DATEI_BODYTIME.pdf [abgerufen am: 21.08.2019]. Gerster, Petra (2007): Reifeprüfung. Die Frau von 50 Jahren, Reinbek: Rowohlt.

264 | M ICHAEL K LEIN

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Z EIT – B ESCHLEUNIGUNG – A LTER | 265

Pieper, Herbert (2009): Ungeheure Tiefe des Denkens, unerreichbarer Scharfblick und die seltenste Schnelligkeit der Kombination. Zur Wahl Alexander von Humboldts in die Académie royale des Sciences et Belles-Lettres zu Berlin (= Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung 17) (4., überarbeitete Auflage), Berlin. Proust, Marcel (1946): À la recherché du temps perdu, Paris: Gallimard. Reheis, Fritz (1998): Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rousseau, Jean-Jacques (1789): Les Confessions, Genf: Launette. Sander, Helke (2011): »Der letzte Geschlechtsverkehr«, in: dies. (Hg.), Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern, München: Kunstmann, S. 51-64. Schimank, Uwe/Kron, Thomas (Hg.) (2004): Die Gesellschaft der Literatur, Opladen: Budrich. Schlink, Bernhard (2000a): »Der Andere«, in: ders. (Hg.), Liebesfluchten, Zürich: Diogenes, S. 97-149. — (2000b): »Die Frau an der Tankstelle«, in: ders. (Hg.), Liebesfluchten, Zürich: Diogenes, S. 283-308. Schmid, Wilhelm (2014): Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden, Berlin: Insel. Updike, John (2011): »Archäologie in eigener Sache«, in: ders. (Hg.), Die Tränen meines Vaters und andere Erzählungen, Reinbek: Rowohlt, S. 25-38. Virilio, Paul (1998): Rasender Stillstand, Frankfurt a.M.: Fischer. Walser, Martin (2006): Angstblüte, Reinbek: Rowohlt. Westermann, Christine (2013): Da geht noch was. Mit 65 in die Kurve, Köln: Kiepenheuer&Witsch. Zoll, Ralf (Hg.) (2005): Raum und Zeit, soziale Ungleichheit, demographische und biologische Aspekte (= Gesellschaft in literarischen Texten. Ein Leseund Arbeitsbuch 1), Wiesbaden: VS.

wohl.visionär.wirksam. Labore ästhetischer Erfahrung als Annäherungen an Felder der Zukunft B RIGITTE H EUSINGER VON W ALDEGGE

0. G EGENWART

ERSPÜREN

– Z UKUNFT

ERPROBEN

Die zweite Regionalkonferenz Nachhaltig handeln – Wirtschaften fürs Gemeinwohl 20171, hat mich zutiefst inspiriert und zur Mitwirkung bewogen. In vielerlei Formaten informierten sich die Besucher*innen über Inhalte und Perspektiven der Gemeinwohlökonomie2. Bestehende models-of-good-practice sowie Entwürfe zu nachhaltigem Wirtschaften und alternativer Landwirtschaft wurden vorgestellt und diskutiert. Dabei fanden Input und Austausch vornehmlich auf kognitiver Ebene statt. Als ein neuartiger Beitrag zum nachhaltigen Handeln hat sich die Initiative wohl.visionär.wirksam. gebildet, um zu erforschen und zu erproben, was der Körper zum Thema beizutragen hätte, würden wir ihn bewusst

1

Veranstaltet von Region Burgwald-Ederbergland e.V., Stadt Frankenberg, Regionalgruppe Gemeinwohlökonomie unter der Schirmherrschaft des OB der Stadt Marburg und der Landrätin des Landkreises Marburg-Biedenkopf.

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In der Gemeinwohlökonomie dient alle wirtschaftliche Tätigkeit dem in den meisten Verfassungen verankerten Gemeinwohl. Ihr Ziel liegt darin, den Wertewiderspruch zwischen Wirtschaft und Gesellschaft aufzulösen: Vertrauen, Wertschätzung, Kooperation, Naturverbundenheit, Solidarität und Teilen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen wichtig sind, sollen auch für die Wirtschaft leitend sein. Ihr Grad der Umsetzung in Unternehmen, Kommunen oder Verwaltungen wird mit der GemeinwohlMatrix gemessen anhand der Strukturelemente Menschenwürde, Solidarität, Nachhaltigkeit, Transparenz und Teilhabe.

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VON

W ALDEGGE

wahrnehmen und ausdrücklich sprechen lassen: Inwiefern würden sich die Menschen wohl fühlen, wenn sie ihren Körper mit ins Spiel bringen dürften? Welche visionären Perspektiven auf das Thema könnten sie gewinnen? Und inwiefern könnten auf diese Weise Modelle entwickelt werden, mit denen Menschen gesellschaftlich wirksam werden? Inwiefern wäre also eine andere Zukunftsentwicklung möglich, wenn über die kognitiven Informationen hinaus ein körperliches Teilhaben ermöglicht würde? Um mich diesen Fragen anzunähern, entfalte ich vier spezifische Merkmale unserer Zeit, erläutere die Bedeutung des Körpers für Prozesse des Wahrnehmens und Gestaltens und gebe Einblick in beispielhafte Labore ästhetischer Erfahrung.

1. M ERKMALE

DER

Z EIT

Die hier ausgewählten Merkmale unserer momentanen globalen Situation machen deutlich, wie dicht gesellschaftliche, wirtschaftliche, ökologische und persönliche Faktoren miteinander verknüpft entstehen. Da wir Menschen Teil der gewachsenen Gesellschaftsstrukturen sind, ist es schwierig und gleichzeitig essentiell, dieses Wechselverhältnis von Welt und Ich, von ›bestimmt sein‹ und ›selbst mit gestalten‹ sowohl kritisch, als auch erwartungsvoll zu betrachten. Globale Zerstörung als Folge des Wirtschaftens Die Menschheit ist längst in der Lage sich selbst auszulöschen. Nach dem zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges machte die Technik der Kernspaltung erstmalig eine Selbstauslöschung der Menschheit möglich. Dieser Grad an Machbarkeit von Zerstörung veranlasste seit dem ersten Weltkrieg zwar grundsätzlich zur Auseinandersetzung mit der Macht der Technik; nicht hinreichend erkannt wurde derzeit jedoch die Gefährdung durch alltäglich gebrauchte Techniken wie die fossile Energiegewinnung, die die ökologischen Probleme kulminieren ließ (Schmid 2008: 41). Joanna Macy und Molly Brown, Theoretikerinnen und Aktivistinnen der Tiefenökologie3, weisen eindringlich darauf hin, dass das Verfügen der Menschheit

3

Tiefe Ökologie ist eine Philosophie, die auf den Erkenntnissen der wechselseitigen Bedingtheit allen Lebens beruht. Sie sieht die Erde als lebendigen Organismus, in dem alles miteinander verbunden und voneinander abhängig ist und in dem jedem Lebewesen sein Eigenwert zukommt. Sie steht heute vor allem für eine radikale Kritik an den Grundüberzeugungen unserer Kultur und Gesellschaft. Ihr Anliegen ist es, der Ent-

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über große technische Möglichkeiten, anstatt zur Erforschung und zum Erhalt von Leben, in einer bisher nie dagewesenen Dimension zur Zerstörung genutzt wird: »Heute sterben ganze Arten aus, ganze Kulturen und das Ökosystem in globalem Ausmaß sind betroffen« (Macy/Brown 2017: 35). Sie machen die aktuelle Wirtschaftspolitik für die ständig steigende Ausbeutung und den wachsenden Verbrauch von Ressourcen verantwortlich: »Die Logik der ewig weiter steigenden Nachfrage nach Ressourcen und Märkten verursacht das, was zunehmend als globales Wirtschaftsimperium wahrgenommen wird, abgesichert durch Militär, Intervention und Besatzung« (Macy/Brown 2017: 36). Christian Felber, Initiator der Gemeinwohlökonomie, zufolge sprachen sich im Jahr 2010 in einer Umfrage 88 Prozent der befragten Deutschen für eine neue Wirtschaftsordnung aus. Klimawandel wie aktuelle Finanzblasen und Sinnkrisen werden von den meisten als Symptome einer umfassenden Systemkrise wahrgenommen. Das grundlegende Problem: »In der kapitalistischen Machtwirtschaft werden Ziel und Mittel verwechselt« (Felber 2017: 7). Das Ausmaß der inzwischen erreichten Zerstörung der Welt ist Ausdruck einer Wirtschaftsphilosophie, die in erster Linie technische Machbarkeit und Profitmaximierung im Fokus hat. Es bedarf also neuer Werteorientierungen, neuer innerer Haltungen, um die Welt zu erhalten. Gespür für die eigene Eingebundenheit in die Welt Die ökologische Problematik wird bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von herausragenden Wissenschaftlern wie Eduard Suess (1831-1914), Ernst Haeckel (1834-1919), Wilhelm Ostwald (1853-1934) und Jacob von Uexküll (*1944) wissenschaftlich thematisiert (Schmid 2008: 27ff.). Aufgrund der sich anbahnenden konkreten Bedrohungen in der zweiten Jahrhunderthälfte wurde sie zunehmend Inhalt politischen Engagements und damit zur persönlichen Sache der Menschen. Eine Brücke zwischen Wissenschaft und politischem Engagement schlug der Club of Rome, der 1971 in seinem Bericht entgegen der landläufigen Wachstumsbeschwörungen auf die Begrenztheit der Rohstoffressourcen hinwies. Wie zerbrechlich unser Planet ist, konnte durch die Außenperspektive auf die Erde aus großer Distanz, die seit 1961 mit der Raumfahrt möglich wurde, plötzlich für alle Menschen sichtbar gemacht werden. Sie hat tatsächlich eine »erneuerte Sensibilität für die Bedingungen der menschlichen Exis-

fremdung der Menschen von sich selbst und von der Gemeinschaft aller lebenden Wesen der Erde entgegenzuwirken: https://tiefenoekologie.de/texte [abgerufen am: 18.8.2018].

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tenz, ein Gespür für die Besonderheiten und Eigentümlichkeiten des gesamten Planeten, der die menschliche Existenz ermöglicht«, angestoßen (Schmid 2008: 15, Herv. i.O.). »Auf der Oberfläche dieses empfindlichen Systems, unter der hauchdünnen Glocke eines bläulichen Schleiers, inmitten der planetenumspannenden biogeochemischen Zyklen von Energie, Wasser, Sauerstoff, Kohlenstoff, Mineralien und Organismen lebt der Mensch, der die Zusammenhänge zu verstehen sucht, die er zugleich selbst beeinflusst« (ebd.: 17f.).

Gerade dieses physische Distanznehmen, das durch den »neue[n] Kulminationspunkt technologischer Macht« (ebd.: 18) ermöglicht wurde, hat gleichzeitig einen imaginativen Raum der Selbstreflexion geöffnet: Die Möglichkeit des Blicks von außen, mit dem sich der Mensch plötzlich als inmitten der globalen Zusammenhänge erkannte, die die Bedingungen seines eigenen Lebens sind. Er eröffnet auch die Möglichkeit, ein Gespür der persönlichen Mit-Verantwortung für die Erhaltung des uns allen gemeinsamen Planeten zu entwickeln. Jeder Mensch sieht und kann spüren, dass er nicht in einer ihm gegenüber stehenden Umwelt lebt, sondern er Teil dieser Welt ist und seine Existenz an diese Welt gebunden ist (ebd.: 20, 35). Der Philosoph Wilhelm Schmid setzt den Bericht des UNKlimarats von 2007 als markantes Datum, mit dem die Aufmerksamkeit eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung für ökologische Zusammenhänge wuchs und damit einhergehend ihre grundsätzliche Bereitschaft, das gesellschaftliche und ihr individuelles Leben nachhaltiger zu gestalten (ebd.: 9), m.a.W. sich mit verantwortlich zu fühlen. Verantwortlichkeit für persönliches Handeln Entsprechend der oben skizzierten und von vielen wahrgenommenen Verwobenheit von Mensch und Welt lässt sich die Lösungsfindung für ökologische Probleme nicht länger auf eine vermeintlich neutrale Wissenschaft abschieben, sondern stellt die Frage an jede einzelne Person nach ihren Werten und ihrer konkreten Lebensführung. Gemäß ihres Konzepts des Großen Wandels bedarf es nach Macy/Brown neben der Transformation der Systeme unseres Zusammenlebens vor allem genau dieses grundlegenden Bewusstseins- und Wertewandels (Macy/Brown 2017: 49). Jede einzelne Person ist damit aufgefordert, sich der eigenen inneren Haltung bewusst zu werden und sie gegebenenfalls weiter zu entwickeln. Dabei geht es nicht nur um die Einstellung zu Inhalten, sondern gerade auch zu der Art des Zusammenwirkens. Zurzeit ist diese in unserer globalen

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Wirtschaftsordnung bis in alle Ebenen hinein primär durch Konkurrenz geprägt. Die feministische Volkswirtschaftlerin Friederike Habermann spricht von strukturellem Hass, der sogar eine strukturelle Selbstfeindschaft beinhalte, da er auch jede*n individuell fortwährend zu mehr und vermeintlich besserer Leistung antreibe. Eine solche Haben-Orientierung führt letztlich zu Feindseligkeit, Betrug und Angst. Allerdings sieht der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm als mindestens genauso bestimmend für das menschliche Wesen ein »tief verwurzeltes Verlangen zu sein: unseren Fähigkeiten Ausdruck zu geben, tätig zu sein, auf andere bezogen zu sein, dem Kerker der Selbstsucht zu entfliehen« (Fromm 1976: 118 zit. n. Habermann 2016: 19). Habermann spricht sich deshalb vehement für eine UmCare aus, in der die Beteiligten nicht länger gegeneinander arbeiten, sondern beispielsweise in commonsbasierte Peerproduktion eine neue Form des Miteinanders erproben (Habermann 2016: 17-26). Diese Anregung legt nahe, Möglichkeiten zu entwickeln, sich im Miteinander entspannt, freudig, sich aneinander reibend und mutig zu erproben und so neue Entwürfe für eine andere Zukunft zu wagen. Offene Felder der Zukunft Wie lässt sich Zukunft vorstellen? Sie liegt noch unbestimmt vor uns – in allen Lebensbereichen wie des Wohnens und Wirtschaftens oder der Landwirtschaft und Bildung. Sie zu gestalten erfordert innere Haltungen und konkrete Qualitäten des Handelns, die zu entwickeln sind. Das Ausmaß an Zerstörung zeigt, dass den Herausforderungen der Zukunft mit vertikalem Fortschrittsdenken und sich abgrenzendem Spartendenken nicht mehr begegnet werden kann. So werden die Felder der Zukunft charakterisiert sein durch einen Wandel hin in eher verbindende Netze und in ein »vibrierendes System von sich gegenseitig potentiell zur Verfügung stehenden Möglichkeiten« (Bertram 2012a: 21). Fachübergreifende Symposien, vernetzte Studiengänge sowie eine große Bandbreite von fach- und generationenübergreifenden Bildungsprojekten zeugen bereits davon, dass sich diese zukunftsweisenden Felder quer legen zu den bisher getrennten Fachgebieten und Vernetzungen bilden, um Zukunft zu bewältigen. Im Mittelpunkt wird die persönliche Kompetenz der Agierenden stehen mit ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, sich als Mitverantwortliche und Mitgestaltende der Welt zu empfinden und sich entsprechend visionär, interdisziplinär, mitempfindend, beherzt und miteinander verbunden einzubringen. Inspiriert von Ursula Bertram, Künstlerin, Professorin an der TU Dortmund und Mitgründerin der ›[ID]factory‹, die neue Wege des Transfers künstlerischen Denkens in außerkünstlerische Felder beschreitet (ebd.: 22), stellt sich die Frage,

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wie sich Prozesse anregen lassen, die Raum geben für die Wahrnehmung der IstSituation und darüber hinaus für die Mitgestaltung von Feldern der Zukunft – in einer Gesellschaft, die zurzeit zwar von Zerstörung und strukturellem Hass gekennzeichnet ist, aber in der auch starke Bestrebungen spürbar werden, Begrenzungen zu überwinden, ökologisches Bewusstsein für einen Wandel einzusetzen, eine geschärfte Sensibilität für die Bedingungen menschlicher Existenz zu erwerben und im Miteinander für eine lebendige Welt zu agieren.

2. D ER K ÖRPER IN PERSÖNLICH UND POLITISCH WIRKSAMEN B ILDUNGSPROZESSEN In Bildungsprozessen kann der Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation, dem Kreieren anderer Entwürfe und der Gestaltung von Feldern der Zukunft Raum gegeben werden. Bereits 2013 hat Anke Abraham in ihrem Aufsatz Wie viel Körper braucht die Bildung? sowohl auf die politische Brisanz der Umgangsweisen mit dem empfindenden und fühlenden Körper hingewiesen, als auch auf seine Bedeutsamkeit für Bildungsprozesse (Abraham 2013: 31). So wie der Körper durch gesellschaftliche Prozesse zurechtgestutzt wird, so kann er auch der Ort der Wahrnehmung und Veränderung sein. Mit dem Körper erfahren wir die Welt und uns selbst in der Welt. Mit diesem Erfahren wie es ist, ist zugleich die Möglichkeit verbunden zu erproben, wie es anders sein könnte, also mit visionären Haltungen und zukunftsweisenden Handlungsweisen zu experimentieren. Welche Art von Bildungsprozessen könnte hier fruchtbar sein? Sich mit dem Körper bilden Aus bildungstheoretischer Perspektive bezeichnet Bildung einen Prozess, der sich im tätigen Umgang zwischen Mensch und Welt vollzieht und auch beim Erwachsenen weiterhin von Bedeutung ist. Vielfach unterliegen wir der Annahme, dass sich der Mensch gerade durch sein Denkvermögen hervorhebt. Darauf gibt der Sozialphilosoph Ernst Cassirer eine eindeutige Antwort: »Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit seinen Ausgang nimmt« (Cassirer 1994, II: 187 zit. n. Bietz 2005: 92).

Die wechselseitige Durchdringung von Mensch und Welt, die im ersten Kapitel in ihren ökonomischen und ökologischen Verknüpfungen beschrieben wurde,

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wird im Bewegen durch das Benutzen der Sinne als Widerständigkeit konkret spürbar. Sie ist als »unhintergehbare Grundschicht individueller Weltbezüge« (Cassirer 1994, III; auch Schürmann 2001a zit. n. Bietz 2005: 92) zu verstehen. Insofern kann das Sich-Bewegen niemals auf eine bloß physikalische Ortsveränderung reduziert werden, sondern ist immer eine individuell gestaltete Form der Auseinandersetzung mit einem bestimmten Ausschnitt von Welt und ist mit Gefühlen und Empfindungen verbunden, die dazu beitragen, sich und die Welt zu strukturieren. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Wenn ich mich vom Liegen zum Stehen bewege, habe ich dazu in der Regel eine bereits funktionierende Gewohnheit ausgebildet. Wenn ich durch extremes Verlangsamen jedoch genau beobachte, wie eine Bewegung aus der anderen folgt, kann ich sowohl etwas über meinen Körper, seine Vorlieben und seine Beschaffenheit (hier: Dehnbarkeit der Muskeln, Durchlässigkeit der Gelenke) in Erfahrung bringen als auch über die Welt. Hier werden in besonderem Maße die Schwerkraft, die es zu überwinden gilt, und der kühle und glatte Boden, der einen bestimmten Halt gibt, spürbar. In der Bewegung werde ich aufmerksam, wie ich Gewicht verlagere, mich abdrücke, stütze und immer wieder auf verschiedene Weise Gleichgewicht aufbaue. Wenn ich also im Einwirken auf die Welt passende Bewegungsgestalten herausbilde, erhalte ich ein Wissen über die Umgangsmöglichkeiten mit der Welt und damit Wissen über die Welt selbst. Sind die Bewegungsgestalten nicht passend, erlebe ich eine Differenz zu der erwarteten Bewegung. Verliere ich in meinem Beispiel mein Gleichgewicht und müssen meine Bewegungen angepasst werden, differenziert sich mein Bewegungsvermögen aus. In beiden Fällen bringe ich etwas über mich und die Welt in Erfahrung und bilde ich mich (Bietz 2005: 95). Bildung ereignet sich also in der lebendigen Beziehung zwischen einer spezifischen Sache – einem Thema oder Phänomen – und einem individuellen Subjekt (Euler 2010: 136ff. zit. n. Abraham 2013: 24). Je nach eigenen Vorlieben setzt sich das Subjekt mit einem Gegenstand ins Verhältnis, um ihn sich zu erschließen, sich daran zu erproben und gegebenenfalls daraus etwas Neues zu kreieren. Derlei Prozesse sind also höchst individuell, sensibel und ergebnisoffen. Sie bergen dabei nicht lediglich das Potential, den Verlust von Sinnlichkeit, Individualität oder Miteinander festzustellen, sondern bieten gerade im Kontext kultureller und ökologischer Krisen auch ein Feld der Kritik und der Entwicklung von Handlungsalternativen (Klepacki/Zirfas 2012: 75). Insofern sie auf sinnengetragener Wahrnehmung beruhen und sich selbst zum Gegenstand der Reflexion haben, handelt es sich um sogenannte ästhetische Prozesse, die der Ästhetischen Bildung zuzuordnen sind, der Bildungsform, »die in besonderer Weise die prozessualen Möglichkeiten für Übergänge, Verknüpfungen und das

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In-Beziehungs-Setzen von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Imaginationen auf der einen und Kunst, Schönheit und die mit ihr verbundenen Zeichen und Symbole auf der anderen Seite betrifft« (Liebau/Zirfas 2008: 11). In ästhetischen Bildungsprozessen Visionäres ersinnen Laut dem Philosophen und Pädagogen Otto Friedrich Bollnow (1903-1991) bedarf es für das Er-Sinnen von Neuem der Beschäftigung mit Kunst. Da Kunst einen besonders verdichteten Ausdruck des jeweiligen Selbst- und Weltverhältnisses darstellt, birgt die Auseinandersetzung mit künstlerischen Formen und Prozessen besonders intensive Möglichkeiten des Spürens und des Ausdifferenzierens der Sinne. Dadurch überhaupt erst kann laut Bollnow das eigene Menschsein entfaltet werden (Bollnow 1988 zit. n. Liebau/Zirfas 2008: 12). Dabei kann zeitgenössische Kunst mit ihrem Prozesscharakter, der tradierte Formen in Frage stellt und immer nach neuen Formen und Formungsprozessen sucht, einen besonderen Beitrag liefern. Im eigenen Eintauchen in künstlerische Prozesse steckt das Potential, andere Welten selbst zu schaffen. Jenseits einer sofortigen Alltagstauglichkeit können mit Übertreibungen, Mehrdeutigkeiten und feinen Differenzierungen eigene Potentiale erspürt und sowohl quere als auch dissonante Formen gewagt werden. Insofern birgt gerade die Kunstform des Zeitgenössischen Tanzes ein enormes Potential für neuartige, zukunftsweisende Entwürfe mit dem Körper. Das besondere Potential des improvisierten Tanzes hebt die Sportwissenschaftlerin Antje Klinge hervor: »Als ein von gesellschaftlichen Zwecken weitestgehend freies und befreites Feld liefert er vielfältige Gelegenheiten für die Entgrenzung bestehender Ordnungen, die Erprobung neuer Möglichkeitsräume und die Entdeckung neuer Themen. Tanz enthält insofern auch eine kritische Dimension, als der performative Überschuss von Bewegungen auf Bestehendes verweist und /oder Zukünftiges hindeutet und neue Erfahrungsräume eröffnet, die praktische erforscht und erprobt werden können.« (Klinge 2010: 86)

Das Verlassen vorgegebener Wege, das Experimentieren mit ungewöhnlichen Bewegungen, das Reflektieren ihres Ursprungs und ihrer Wirkung, das Einlassen auf die Mittanzenden und das Gestalten im Miteinander – all diese Merkmale von Zeitgenössischem Tanz ermöglichen das Vorhaben, mit dem Körper sowohl für sich persönlich als auch politisch Neues zu kreieren und damit gesellschaftlich wirksam zu werden. Ein zentrales Element kreativer Prozesse – in der Kunst wie auch in außerkünstlerischen Feldern – ist die Unsicherheit. Oftmals verführt sie dazu, als Ge-

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genpol Sicherheit zu schnell wieder herstellen zu wollen. Bertram verweist auf die gemeinsame Erkenntnis von Naturwissenschaftler*innen und Philosoph*innen, dass gerade im Ungewissen und Diffusen die Chancen liegen für künstlerisches Schaffen und kreatives Handeln. Entsprechend fordert sie dazu auf, Unsicherheiten ausdrücklich aufzusuchen und zu nutzen anstatt zu versuchen sie aufzuräumen: »Unsicherheiten sind noch immer negativ konnotiert, trotz aller Erkenntnisse, dass instabile oder flexible Systeme zur Selbstorganisation des Lebens gehören.« (Bertram 2012b: 35) Auch aus bildungstheoretischer Perspektive sind Irritationen, die uns überhaupt erst einmal aus unseren Routinen aufmerken lassen, Voraussetzung für Brüche mit dem Gewohnten und für den Beginn kreativer Prozesse. Gleiches vertritt die Pädagogin Käte Meyer-Drawe: »Unstimmigkeit, Irritation, Ausweglosigkeit, Staunen, Wundern, Stutzen, Ratlosigkeit, Verwirrung und Benommenheit unterbrechen den Fluss des Selbstverständlichen und drängen auf Verständnis. … Verzögerung, Innehalten, Nach-Denken schaffen Raum für etwas Neues, das sich dem Gewohnten widersetzt und sich nicht in das Gängige einfügen lässt.« (Meyer-Drawe 2008: 202)

In Anlehnung an Bertrams Überlegungen (Bertram 2012b: 35f.) könnten ästhetische Zugangsweisen im Tanz davon geprägt sein, sich vorurteilsfrei zu bewegen, ohne schon zu wissen, was eine Bewegung bedeutet und wofür sie benötigt wird, ohne darüber zu urteilen, wie sie aussieht. Das würde dazu einladen, sich fallen zu lassen, sich zu entspannen, aufmerksam und neugierig zu sein. Aus innerem Antrieb neuen Impulsen folgend, Begeisterung zu empfinden und aus Gestaltungslust an der Entwicklung von Strukturen mitzuwirken, deren Ergebnisse sich erst im gemeinsamen Prozess ergeben. Sich dem Stolpern und Scheitern auszusetzen in dem Vertrauen, keine Zeit verschenkt zu haben, aber vielleicht etwas völlig Unerwartetes zu finden. Was hier idealistisch und utopisch klingen mag, wurde bereits 2006 in Anne Bamfords Untersuchungen bestätigt: »Die Innovationsqualität steigt mit der Partizipation an Kunst und Kultur.« (ebd.: 37) Dazu sei betont, dass nicht zu befürchten ist, dass sich dieses prozessorientierte und ergebnisoffene Arbeiten sogleich als neue Kreativtechnik instrumentalisieren lässt, denn seine individuelle Wirksamkeit ist ganz unterschiedlich und lässt sich nicht linear berechnen und steuern. »Das Muster der Kunst, das uns Bilder gibt, Bewegung, Tanz, Klänge, Farben und unsere Fantasie entfacht, ist kein Kleid, es ist eine Haut. Es lässt sich nicht einfach ausziehen und weitergeben. Das Muster muss mit der Person wachsen, ganz langsam, Schicht für

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Schicht. Es existiert nicht als käufliches Produkt, auch nicht in der Verpackung einer Kreativtechnik. Es bedarf eines Prozesses, der eine Haltung hervorbringt.« (ebd.: 37)

Hieran wird auch erkennbar, dass das persönliche Wohlfühlen, das visionäre Entwerfen und das konkrete Wirksam-Werden nicht drei voneinander getrennte, sondern miteinander eng verknüpfte Merkmale ästhetischer Prozesse sind. Das heißt nicht, dass der Anspruch besteht, dass sich die Agierenden jederzeit wohlfühlen oder dass jeder Entwurf umsetzbar ist. Es heißt aber, dass sie im Geiste ihrer Verwobenheit geschehen – mit der Freiheit, mal das eine, mal das andere zu fokussieren – und auch zu scheitern. Es ist eine Zugangsweise, die dem Feld der Kunst entwächst, vor allem basierend auf non-linearen Denk- und Handlungsoptionen, auf dem Umgang mit dem Ungewissen und Unbestimmten, dem Einbezug des Subjektiven, der individuellen Erfahrung und auch der Begeisterung (ebd.: 38). Diese Art des künstlerischen Handelns ist essentiell für Gärungsprozesse eigener Positionierung (ebd.: 43) und damit zur Entwicklung einer anderen persönlichen Haltung und neuer gesellschaftlich relevanter Konzepte. Um diese Suchprozesse zu beginnen und Entwürfe zu wagen, fordert der zeitgenössische Komponist Heiner Goebbels Labore der Zukunft als Modelle zeitgenössischer Produktionsweisen (ebd.: 44) einzurichten.

3. L ABORE

ÄSTHETISCHER

E RFAHRUNG

Die Ende 2017 ins Leben gerufene Initiative wohl.visionär.wirksam. verfolgte die Idee, mit dem Körper und in Bewegung zukunftsweisende Perspektiven auf Themen des nachhaltigen Handelns zu entwickeln. Sie wollte ein Forschen ermöglichen, das eine kreative, etwas Anderes erzeugende, schöpferische Tätigkeit ist4 und deren Stärken darin liegen, neue Einfälle zu entwickeln und dabei das gesamte Spektrum menschlicher Erkenntnisfähigkeiten einzusetzen (Abraham 2016: 20). Dafür sollten nicht Übungen entwickelt werden, mit denen man durch Wiederholung etwas erlernt. Die Herausforderung bestand darin, Aufgaben zu entwickeln, die ästhetische Erfahrungen im Kontext der oben beschriebenen Mensch-Welt-Beziehung ermöglichen und die in der Nachhaltigkeitskonferenz 2018 erprobt werden könnten. Dafür sollte sich ein Team finden, das diese in

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Forschung nach Definition der UNESCO: »jede kreative systematische Betätigung zu dem Zweck, den Wissensstand zu erweitern [...] sowie die Verwendung dieses Wissens in der Entwicklung neuer Anwendungen« (OECD Glossary of Statistical Terms 2008 zit. n. Klein 2001: 1 zit. n. Abraham 2016: 20).

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Selbsterfahrung entwickeln würde. Die damit verbundene langfristige Perspektive war, solcherart Aufgaben später in nachhaltigkeitsorientieren politisch tätigen Arbeitsgruppen nutzbar werden zu lassen. Prägend für Prozess und Ergebnis waren schließlich die Menschen, die sich angesprochen fühlten bei dieser Initiative mitzuwirken: Drei Männer und acht Frauen zwischen 32 und 79 Jahren, Pensionär*innen und Berufstätige aus unterschiedlichen Feldern wie Finanzbuchhaltung, Ernährungsberatung, Therapie, Politikwissenschaft und Pädagogik.5 Diese heterogene Gruppe hat in sechs EinTages-Laboren unterschiedliche Aufgaben entwickelt und erprobt. Um zu verdeutlichen, welcherlei Aufgaben sich die Initiative gestellt hat, sei hier in drei Labore Einblick gegeben. I. Ich – Du – Welt. Individuell wahrnehmen und miteinander gestalten Die Akteur*innen gehen kreuz und quer im Raum umher, jede*r des eigenen Weges. Allmählich lösen sich die Augen vom Boden. Einzelne wagen den Blickkontakt mit Entgegenkommenden. Ein Lächeln, ein Zwinkern, ein Weggucken. Allmählich beruhigen sich die Gesichtszüge; nicht jeder Blickkontakt wird mehr mimisch kommentiert. Verschiedene Raumwege nehmend – umeinander herum, aneinander vorbei, Wege schneidend, Wegen folgend. Wechseln zu direktem aufeinander zu, Hände schütteln und weitergehen, im eigenen Fluss bleibend. Im Weiteren den Handkontakt halten, sich auf einen imaginären Hocker setzen und das Gewicht so weit zurück verlagern, dass ein sanfter Zug zwischen beiden entsteht. Sich kraftvoll zueinander ziehen und mit diesem Impuls den eigenen Weg im Raum fortsetzen. Zügiger werdend. Beide Handgelenke greifen und im Halt des Gegenzugs, im Hinunter und Hinauf, im Verwringen und Neigen entstehen unzählige Bewegungsvariationen. Langsam, schneller und dann beinahe stillstehend in der Schwebe... Laufen und rennen, mit plötzlichem Zug, so dass eine Person eine andere aus der Balance zieht, mitzieht, rutschend, schliddernd, drehend, wirbelnd. Lachen und nach Luft schnappen und wieder in gemeinsamer Schwebe verweilen...

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Ich danke von Herzen Ulrich Fritsch, Ulrike Hamel, Gabriele Henkel, Heike Lotte Jacobs, Helmut Johann, Sigrid Mösko, Oda von Pflug, Lea Spahn, Margot und Rüdiger Vogt, Ina Weppler und Claudia Wittmann, die die Initiative wohl.visionär.wirksam. inhaltlich mit entwickeln und gestalten.

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Wenn sich Menschen in der Welt bewegen, kommen sie mit ihr in Berührung, so wie sie ist: mit der Luft, dem Boden und dem Raum. Es ist die Welt, wie sie die anderen mit ihren Körpern und Raumwegen jetzt in diesem Moment bilden. Sie begegnen darin einander, lassen sich halten und geben Halt: ein Spiel mit Kräften – Schwerkraft und Gegenzug – aus dem neue Bewegungen entstehen, und mit denen sich die Welt ständig verändert: weit, eng, flach, hoch, dynamisch, ruhig, still. Aus unterschiedlichen Bewegungsweiten, Impulsstärken und in Resonanz zur Beschaffenheit des Bodens entsteht ein gleichzeitiges gemeinsames Hervorbringen und Nutzen dieser Welt. Dabei ist dieses körperliche Agieren nicht auf das Körperliche beschränkt, vielmehr ist es der ganze empfindende, fühlende und denkende Mensch, der sich in der Welt bewegt und sie mit seinem Handeln hervorbringt. Die Agierenden stellen einander ihre spontanen Impulse zur Verfügung und kreieren damit das Miteinander. Im Kräftespiel mit dem*der Partner*in hat jede*r die Wahl, das Geschehen auf eigene Weise mitzugestalten.

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II. BewegungsSchwarm. In Resonanz sein Zwei Gruppen von sechs und sieben Personen haben sich auf dem Hofgelände des Tagungshauses jeweils nah zusammengestellt: Die eine unten zwischen den Spielplatzgeräten mit Blick zum Zaun, die andere oben in der Nähe des Kuhstalls, mit Blick zu den Kühen, die die Szene ihrerseits neugierig beäugen. Die vorn stehende Person der unteren Gruppe wiegt sich von Fuß zu Fuß und beinahe gleichzeitig wiegen sich die hinter ihr stehenden mit. Sie breitet die Arme weit aus und lehnt den Rücken so weit zurück, dass sich der Blick gen Himmel richtet. Während die anderen die Bewegung mitvollziehen, rennt eine von hinten durch die Gruppe hindurch, mit rudernden Armen im großen Bogen am Zaun entlang und hoch Richtung Wippe. Alle rennen unmittelbar rudernd mit, hocken sich nun wie sie bis zu den Fersen nieder – da fällt jemand ganz um. Sofort lassen sich alle auf den feuchten Boden fallen, lachen, und die nun vorderste Person imitierend, krabbeln sie auf allen Vieren weiter... Die obere Gruppe lehnt sich derweil gerade mit ganzem Körpergewicht an die Stallmauer, Oberkörper und Köpfe weit nach vorn gereckt, so dass die Kühe zurückgewichen sind. Eine Person streckt langsam einen Arm nach dem anderen aus, entspannt die Finger als wenn sie das weiche Fell der Tiere aus der Ferne sanft berühren wollte, geht ebenso langsam rückwärts und dreht sich dabei in Richtung Innenhof. Die nun vorn stehende Person hüpft auf dem Hofpflaster von Stein zu Stein, das alle aufnehmen und das sich allmählich in ein rhythmisches Stampfen verwandelt. Plötzlich bricht eine Person zur Seite heraus und fliegt quasi mit flachen Sprüngen Richtung krabbelnder Gruppe und umkreist sie. Alle dreizehn fliegen nun flach dahinspringend über den Rasen zwischen den Spielgeräten, immer wieder ändert jemand die Richtung, so dass die Gruppe mit wechselnder Führung in großen Schleifen weiterzieht – Schwarm gleich.

In Resonanz zu den beobachteten Bewegungen, gesehenen Formen und gehörten Geräuschen lässt die vorn stehende Person ihre Bewegungen entstehen. Die sie imitierenden Personen verstärken diese Resonanz zu der Welt, deren Impulse sie

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aufnehmen, in Resonanz zu den anderen in der Gruppe, mit denen sie sich gemeinsam bewegen und in Resonanz zu sich selbst, aus dem ihre Bewegung entsteht. Sie lassen sich auf das Gegebene ein, indem sie es so detailliert wie möglich wahrnehmen, und gleichzeitig gestalten sie etwas Neues, das zwar in Resonanz zum Vorhandenen steht, aber nicht dasselbe ist. Dabei ist die Freiheit gegeben, die Rolle als Führende*r oder Folgende*r selbständig zu wechseln, wobei beide Rollen zwei unterschiedliche Versionen des In-Resonanz-Seins sind: Jede*r der Mitwirkenden trägt Mitverantwortung für den Verlauf des Prozesses und gestaltet ihn mit – Impulse einbringend oder imitierend und mitschwärmend. Das Bewegungsschaffen ist intuitiv und ergebnisoffen. Bei gleichzeitiger Bindung an den gegebenen Ausschnitt Welt und die gegebene Gruppe gibt es einen individuellen Gestaltungsspielraum, der insofern visionär ist, als er nicht vorher ausgedachte, sondern überraschende Neuschöpfungen ermöglicht. III. Facetten eines Themas – Vielschichtig spüren und Bewegungsentwürfe wagen Still und konzentriert sitzen die Akteur*innen auf dem Boden verteilt, jede*r mit einem Blatt Papier vor sich und einem Stück Ton in den Händen. Im Rollen, Schlagen, Drücken wird er weicher und gibt den Bewegungen der Hände zunehmend nach. Während S aus dem ganzen Klumpen von innen nach außen formt, rollt K verschiedene Klümpchen und Wülste, die sie auslegt, ansetzt und andrückt bis sich daraus allmählich eine dreidimensionale Formung herausschält. Bei H lassen sich zwei sich gegenüber sitzende, weit vorgebeugte menschliche Figuren ausmachen, die sich an je einer Schulter berühren. Z ordnet Kugeln, Röllchen und flache schalenartige Gebilde in unterschiedlichen Abständen und Winkeln zueinander an, sodass sich eine mehrteilige Gesamtskulptur ergibt. Die Gruppe hat sich inzwischen auf Zs Skulptur fokussiert, mit der sie gemeinsam in mehreren Schritten weiterarbeitet. Jede*r versucht jetzt, Ausschnitte der Skulptur mit den Händen nachzuformen. Als nächstes setzen sie den ganzen Körper ein und wechseln dabei bewusst zwischen Stand-, Hock- und Liegepositionen und deren Ausrichtung im Raum: vertikal, horizontal, diagonal. Ohne sich sprachlich zu verständigen, bilden nun je drei Personen gemeinsam einen Ausschnitt der Skulptur mit ihren Körpern nach. Dafür steigen sie übereinander, lehnen sich aneinander, ergreift jemand eine freie Hand, stützt jemand eine gehobene Hüfte... Sich bewegend und beobachtend und schließlich zum Stillstand kommend, als alle Form und Ort gefunden haben, die sie als stimmig empfinden. Zu derselben Knetskulpturvorlage sind drei sehr unterschiedliche Körperskulpturen im Raum sichtbar geworden. Nun kommt noch einmal Bewegung in die

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Skulpturen: sich fortbewegend, zerrreißend, implodierend und neu zusammenfindend, zuckend, hüpfend, rollend. Zu dem gemeinsamen Thema: ›Die Lust, für zukünftige Generationen zu gestalten‹, wollten die Mitwirkenden in der tänzerischen Improvisation herausfinden, welche Wünsche und Unsicherheiten sie damit verbinden und wie sie sie in ihrer Vielschichtigkeit zunächst spüren und für das Entwerfen von Ideen handhabbar machen könnten. Vor allem waren sie neugierig darauf, welche bisher verborgenen Perspektiven in der körperlichen Formung und in der spontanen Bewegung zutage treten würden.

4. K URZ VOR Z UKUNFT Fühlten sich viele in den letzten Jahren der Bedrohung durch den Klimawandel individuell ausgeliefert, empfinden sie sich möglicherweise inzwischen durch vielerlei Mitwirkungsmöglichkeiten häufiger als selbst-bewusste Menschen, die sich im Geiste nachhaltiger Verhältnisse im sinnvollen Tun wechselseitig inspirieren (Schmid 2018: 120). Die Initiative wohl.visonär.wirksam. wird mit den ersten Ergebnissen aus ihren Forschungsprozessen im November 2018 wirksam, wenn sie gemeinsam mit den Konferenzteilnehmenden in Bewegung und Tanz weitere Prozesse des intensiven Spürens und In-Kontakt-Seins erproben und ästhetische Entwürfe zu brennenden Fragen an Zukunft wagen. In welcher Weise sich daraus gerade für gesellschaftlich engagierte Gruppen Zugänge für eine Zusammenarbeit im Modus des Miteinanders entwickeln lassen, wird die Zukunft zeigen.

L ITERATUR Abraham, Anke (2013): »Wie viel Körper braucht die Bildung?«, in: Reiner Hildebrandt-Stramann/Ralf Laging/Klaus Moegling (Hg.), Körper, Bewegung und Schule. Teil I, Kassel: Prolog, S. 16-35. — (2016): »Künstlerisches Forschen in Wissenschaft und Bildung. Zur Anerkennung und Nutzung leiblich-sinnlicher Erkenntnispotenziale«, in: Susanne Quinten/Susanne Schroedter (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis, Bielefeld: transcript, S. 19-36. Bertram, Ursula (2012): Kunst fördert Wirtschaft. Zur Innovationskraft des künstlerischen Denkens, Bielefeld: transcript.

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— (2012a): »The Missing Link«, in: dies., Kunst fördert Wirtschaft. Zur Innovationskraft des künstlerischen Denkens, S. 20-26. — (2012b): »Ein Muster für die Zukunft«, in: dies., Kunst fördert Wirtschaft. Zur Innovationskraft des künstlerischen Denkens, S. 32-44. Bietz, Jörg (2005): »Bewegung und Bildung – Eine anthropologische Betrachtung in pädagogischer Absicht«, in: Jörg Bietz/Ralf Laging/Monika Roscher (Hg.), Bildungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik, Baltmannsweiler: Schneider, S. 85-122. Felber, Christian (2017): Gemeinwohl-Ökonomie (erw. Neuausgabe), Wien: Deuticke. Habermann, Friederike (2016): Ecommony. UmCare zum Miteinander, Sulzbach: Helmer. Klepacki, Leopold/Zirfas, Jörg (2012): »Die Geschichte der Ästhetischen Bildung«, in: Hildegard Bockhorst/Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss/Wolfgang Zacharias (Hg.), Handbuch Kulturelle Bildung, München: kopaed, S. 68-77. Klinge, Antje (2010): »Bildungskonzepte im Tanz«, in: Margit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld: transcript, S. 79-94. Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hg.) (2008): »Die Sinne, die Künste und die Bildung«, in: dies., Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld: transcript, S. 7-15. Macy, Joanna/Brown, Molly (2017): Für das Leben! Ohne Warum. Ermutigung zu einer spirituell-ökologischen Revolution (4. überarb. Auflage), Paderborn: Junfermann. Meyer-Drawe, Käthe (2008): Diskurse des Lernens, München: Wilhelm Fink. Schmid, Wilhelm (2008): Ökologische Lebenskunst. Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun kann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2018): Selbstfreundschaft. Wie das Leben leichter wird, Berlin: Insel.

Publikationen Prof. Dr. Anke Abraham

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2 H ERAUSGABEN Abraham, Anke/Müller, Beatrice (Hg.) (2010): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript.

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P UBLIKATIONEN P ROF . D R . A NKE A BRAHAM | 285

Tanz«, in: Jahrbuch Tanzforschung Band 3, Wilhelmshaven: Noetzel, S. 120-133. 1993 Abraham, Anke (1993): »Der moderne Tanz heute, ein Tanz der Frauen?«, in: Gitta Martens et al. (Hg.), Feministische Tanz- und Musikpädagogik, Remscheid: Rolland, S. 33-42. 1996 Abraham, Anke (1996): »Ästhetische Erfahrungen – im Sport? – in der Gymnastik? – im Tanz?«, in: Leibesübungen – Leibeserziehung 50 (5), S. 3-5. — (1996): »Das Männerbündische des Sports und der Körper der Frauen«, in: Frauen in der Literaturwissenschaft, Rundbrief 47: Sport und Kult, Hamburg: Universität Hamburg, S. 44-49. — (1996): »Sportlerinnen erleben Gewalt«, in: Georg Anders/Elisabeth Braun (Red.), Frauen im Leistungssport (= Berichte und Materialien des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, Band 7), Köln: Strauß, S. 45-56. — (1996): »Tanz als erlebte Bewegungsgestalt«, in: Hans-Jochen Medau/Peter Röthig/Paul E. Nowacki (Hg.), Ganzheitlichkeit, Schorndorf: Hofmann, S. 27-38. 1998 Abraham, Anke (1998): »Der Beitrag der Psychomotorik bzw. einer körperbezogenen Arbeit in der Ausbildung für SozialpädagogInnen«, in: Anke Abraham, Lebensspuren (= Erfurter Beiträge zur Soziologie, Band 2), Erfurt, S. 191-206. — (1998): »Die Inszenierung des Basalen? Der ›Elementare Tanz‹ im Spannungsfeld zwischen Kunst und Pädagogik«, in: Jahrbuch Tanzforschung Band 8, Wilhelmshaven: Noetzel, S. 184-196. — (1998): »›Geschlecht‹ als Strukturdimension sozialer Ungleichheit – auch im Sport«, in: Klaus Cachay/Ilse Hartmann-Tews (Hg.), Sport und soziale Ungleichheit. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde, Stuttgart: Naglschmid, S. 27-48. — (1998): »›Mein liebster Feind – mein Körper‹. Körperbezug und Körpererleben im weiblichen Lebenszusammenhang«, in: Anke Abraham, Lebensspuren (= Erfurter Beiträge zur Soziologie, Band 2), Erfurt, S. 172-183. — (1998): »Sozialpsychologische Theorien und Methoden als Forschungszugang im Tanz«, in: Anke Abraham, Lebensspuren (= Erfurter Beiträge zur Soziologie, Band 2), Erfurt, S. 207-216.

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— (1998): »Wann ist eine Frau eine Frau? Die Grenzen weiblicher Identität und die Konsequenzen ihrer Überschreitung«, in: Anke Abraham Lebensspuren (= Erfurter Beiträge zur Soziologie, Band 2), Erfurt, S. 51-62. Abraham, Anke/Klein, Michael (1998): »Aktuelle Diskussionsstränge in der Frauenforschung«, in: Anke Abraham: Lebensspuren (= Erfurter Beiträge zur Soziologie, Band 2), Erfurt, S. 1-29. 1999 Abraham, Anke (1999): »Grenzverletzungen. Anmerkungen zur diskursiven und praktischen Zerstörung des Körpers«, in: Michael Klein (Hg.), Spiel ohne Grenzen? – Bedeutung und Entwicklungstendenzen des Sports in der Gegenwartsgesellschaft (= Erfurter Beiträge zur Soziologie, Band 5), Erfurt, S. 22-40. 2000 Abraham, Anke (2000): »Bewegung und Körperlichkeit im biographischen Rückblick«, in: Wolfram Schleske/Barbara Schwaner-Heitmann (Hg.), Bewegung als Weg, Immenhausen: Prolog-Verlag, S. 47-70. — (2000): »Die Unordnung der Geschlechter. Probleme mit dem Konstrukt ›Geschlecht‹ als sozialwissenschaftlicher Analysekategorie«, in: Michael Klein (Hg.), ›Guter Sport‹ in ›schlechter Gesellschaft‹? – Heilsversprechen, Legitimationskrisen und strukturelle Probleme des Sports nach dem Ende des 20. Jahrhunderts (= Erfurter Beiträge zur Soziologie, Band 8), Erfurt, S. 128141. — (2000): »Einführung in die Konzentrative Bewegungstherapie (KBT)«, in: Wolfram Schleske/Barbara Schwaner-Heitmann (Hg.), Bewegung als Weg, Immenhausen: Prolog-Verlag, S. 158-168. 2001 Abraham, Anke (2001): »Bewegung und Biographie«, in: Klaus Moegling (Hg.), Integrative Bewegungslehre, Teil 1: Gesellschaft, Persönlichkeit, Bewegung, Immenhausen: Prolog-Verlag, S. 179-198. — (2001): »Der Körper (und der Sport) im biographischen Kontext. Prämissen und Methoden einer sozialwissenschaftlichen Biographieforschung«, in: Michael Klein (Hg.), Sportsoziologie – Funktionen und Leistungen (= Erfurter Beiträge zur Soziologie, Band 9), Erfurt: Universität Erfurt, S. 211-224. — (2001): »Sport und Bewegung im biographischen Kontext. Aktivitätsprofile im Alter vor dem Hintergrund des gelebten Lebens«, in: Reinhard Daugs et

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al. (Hg.), Aktivität und Altern (= Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, Band 107), Schorndorf: Hofmann, S. 329-344. 2002 Abraham, Anke (2002): »Lebensgeschichten und Körpergeschichten. Theoretisches, Methodologisches und Empirisches zur biographischen Rekonstruktion körper- und bewegungsbezogener Bildungsprozesse«, in: Peter Elflein et al. (Hg.), Qualitative Ansätze und Biographieforschung in der Bewegungsund Sportpädagogik, Butzbach-Griedel: Afra-Verlag, S. 30-49. — (2002): »Weibliche Lebenslagen im Spiegel der Körperlichkeit«, in: Veronika Hammer/Ronald Lutz (Hg.), Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung, Frankfurt a.M.: Campus, S. 266-287. — (2002): »Zum Verhältnis von Gymnastik und Tanz in einer ›pluralisierten Moderne‹«, in: Klaus-Jürgen Gutsche/Hans-Jochen Medau (Hg.), Gymnastik im neuen Jahrtausend, Schorndorf: Hofmann, S. 207-217. 2006 Abraham, Anke (2006): »Das Selbstverständliche neu entdecken – Aktualität und Bildungswert der Gymnastik heute«, in: Klaus-J. Gutsche (Hg.), Aktualität und Bildungswert der Gymnastik, Berlin: Reichmuth, S. 73-84. — (2006): »Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmerkungen zu übersehenen Tiefendimensionen von Leiblichkeit und Identität«, in: Robert Gugutzer (Hg.), Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript, S. 119-140. — (2006): »Schmerzerleben im Spitzensport – Überlegungen zur psychosozialen und biographischen Bedeutung von Belastung, Schmerz und Qual«, in: Klaus Moegling (Hg.), Über die Grenzen des Körpers hinaus. Überforderungen, Verletzungen und Schmerz im Leistungssport, Immenhausen: Prolog-Verlag, S. 32-54. — (2006): »Tanzschritte – Lebenswege – Grenzgänge. Sortiertes und Unsortiertes zur biographischen und gesundheitlichen Bedeutung des Tanzes«, in: Elke Willke (Hg.), 25 Jahre DGT-Jubiläumskongress. Sonderausgabe Forum Tanztherapie, S. 139-152. 2007 Abraham, Anke (2007): »Der Körper in der pädagogischen Arbeit«, in: Jasmin Hofmeister/Arthur Kröhnert (Red.), Kinder – Körper – Kinderschutz. Das Verständnis des Körpererlebens von Kindern für die Arbeit im Kinderschutz,

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Köln (hg. v. Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e.V.), S. 29-45. — (2007): »›Der‹ Tanz? Inspektion eines geschlechtlich aufgeladenen Phänomens«, in: Kathrin Bonacker/Sonja Windmüller (Hg.), Tanz! Rhythmus und Leidenschaft. Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung Band 42, Marburg: Jonas Verlag, S. 86-96. 2008 Abraham, Anke (2008): »Identitätsbildungen im und durch Sport«, in: Kurt Weis/Robert Gugutzer (Hg.), Handbuch Sportsoziologie (= Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport, Band 166), Schorndorf: Hofmann, S. 239-248. — (2008): »Körperlichkeit und Bewegung im biographischen Kontext – Zur Notwendigkeit einer körper- und bewegungsbezogenen biographischen Perspektive in der Gerontologie«, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 41 (3), S. 177-181. 2009 Abraham, Anke (2009): »Körperverhältnisse. Die Beziehung zum Körper im Alter im Horizont der persönlichen Geschichte«, in: Psychotherapie im Alter, Gießen: Psychosozial-Verlag), 6 (23), 3, S. 279-289. 2010 Abraham, Anke (2010): »Körpertechnologien, das Soziale und der Mensch«, in: Anke Abraham/Beatrice Müller (Hg.), Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript, S. 113-138. — (2010): »Mut zur Intervention – zentrale Forschungsfragen und ein empirisches KörperTheorie-KörperPraxis-Projekt«, in: Anke Abraham/Beatrice Müller (Hg.), Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript, S. 365-384. — (2010): »›Wir waren hier auf eine so wunderbare Art gleich‹. Erfahrungen mit der Konzentrativen Bewegungstherapie in der universitären Lehre«, in: Motorik. Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie 33, Schorndorf: Hofmann, S. 55-58. — (2010): »Zum Verhältnis von Gymnastik und Tanz in einer ›pluralisierten‹ Moderne«, in: Klaus-Jürgen Gutsche (Red.), Über Bedeutung und Bildungswert von Gymnastik und Tanz in der modernen Gesellschaft. Kieler Hefte zur Gymnastik 5, S. 5-15. [Nachdruck].

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Abraham, Anke/Müller, Beatrice (2010): »Körperhandeln und Körpererleben – Einführung in ein ›brisantes Feld‹«, in: Anke Abraham/Beatrice Müller (Hg.), Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript, S. 9-38. 2011 Abraham, Anke (2011): »Biographie, Bewegung und menschliche Subjektivität in Zeiten der ›Entgrenzung‹«, in: Monika Roscher (Hg.), Bewegung der Form. Prozesse der Ordnungsbildung und ihre wirklichkeitskonstituierende Bedeutung, Berlin: lehmanns media, S. 19-40. — (2011): »Der Körper als heilsam begrenzender Ratgeber? Körperverhältnisse in Zeiten der Entgrenzung«, in: Reiner Keller/Michael Meuser (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden: VS-Verlag, S. 31-52. — (2011): »Geschlecht als Falle? Körperpraxen von Mädchen und Jungen im Kontext begrenzender Geschlechternormen«, in: Yvonne Niekrenz/Matthias Witte (Hg.), Jugend und Körper, Weinheim: Juventa, S. 241-255. — (2011): »Körper und Geschlecht«. Eröffnungsvortrag anlässlich der Tagung ›Männerleiber – Körperlichkeit zwischen Tun und Sein‹, am 05.11.2011 in Berlin, online: https://www.gwi-boell.de/en/node/21915 [abgerufen am: 16.07.2019]. 2012 Abraham, Anke (2012): »Emanzipatorische Ambivalenzen in den Körperpraxen von Mädchen und Frauen. Plädoyer für ein alternatives Emanzipationsverständnis«, in: Carmen Birkle/Ramona Kahl/Gundula Ludwig/Susanne Maurer (Hg.), Emanzipation und feministische Politiken. Verwicklungen, Verwerfungen, Verwandlungen, Sulzbach/Taunus: Helmer, S. 283-300. — (2012): »Wie viel Körper braucht die Bildung? Zum Schicksal von Leib und Seele in der Wissensgesellschaft«, in: www.schulpaedagogik-heute.de. 2013 Abraham, Anke (2013): »›Der Körper als Bühne adoleszenter Konflikte‹. Entwicklungstheoretische Überlegungen für die tanzpädagogische Arbeit mit Jugendlichen«, in: Marianne Bäcker/Verena Freytag (Hg.), Tanz – Spiel – Kreativität. Jahrbuch Tanzforschung 2013, Leipzig: Henschel, S. 185-200. — (2013): »Wie viel Körper braucht die Bildung? Zum Schicksal von Leib und Seele in der Bildungsgesellschaft«, in: Reiner Hildebrandt-Stramann/Ralf Laging/Klaus Moegling (Hg.), Körper, Bewegung und Schule. Teil 1: Theorie, Forschung und Diskussion, Immenhausen: Prolog-Verlag, S. 16-35.

290 | D EN L EIB K ÖRPER E RFORSCHEN    

2014 Abraham, Anke (2014): »Das Prozesstagebuch als eine wissenschaftlichästhetische Methode zur Reflexivierung der Entwicklung innovativer Programme«, in: Susanne Maria Weber/Michael Göhlich/Andreas Schröer/Jörg Schwarz (Hg.), Organisation und das Neue. Beiträge der Kommission Organisationspädagogik, Wiesbaden: Springer VS, S. 311-319. 2015 Abraham, Anke (2015): »›Da fahr’ ich aus der Haut‹. Der Körper als Ort der Identitätsbildung im Jugendalter«, in: Robert Gräfe/Marius Harring/Matthias D. Witte (Hg.), Körper und Bewegung in der Jugendbildung. Interdisziplinäre Perspektiven, Hohengehren: Schneider, S. 44-53. 2016 Abraham, Anke (2016): »Biographische Rekonstruktion und leibliche Erfahrung. Ansatzpunkte zum Verstehen und zur Bearbeitung von Erschöpfung«, in: Reinhold Esterbauer/Andrea Paletta/Philipp Schmidt/David Duncan (Hg.), Body time. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg/München: Karl Alber, S. 176-196. — (2016): »Der Körper und die Frage nach dem ›guten Leben‹ – Herausforderungen für die (feministische) Normativitätsdebatte«, in: Karolina Dreit/Nina Schuhmacher/Anke Abraham/Susanne Maurer (Hg.), Ambivalenzen der Normativität in kritisch-feministischer Wissenschaft, Königstein/Taunus: Helmer, S. 69-89. — (2016): »Der ›unfreie‹ Leib als Weg zur ›Freiheit‹? Überlegungen entlang einer existenziellen Paradoxie«, in: Barbara Grubner/Carmen Birkle/Annette Henninger (Hg.), Feminismus und Freiheit. Geschlechterkritische Neuaneignungen eines umkämpften Begriffs, Sulzbach/Taunus: Helmer, S. 302-318. — (2016): »Ein universitäres Modell. Der Weiterbildungsmaster ›Kulturelle Bildung an Schulen‹«, Vortrag auf der Tagung ›Strukturen für eine kulturelle Schulentwicklung. Politische, wissenschaftliche und praktische Aspekte‹ der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel am 26. Januar 2016, online: Videoaufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=CC3f_ico Nmk, Präsentationsfolien: https://www.bundesakademie.de/dokumentatio nen/kulturelle_schulentwicklung/06abraham.pdf [abgerufen am: 02.07. 2019]. — (2016): »Künstlerisches Forschen in Wissenschaft und Bildung. Zur Anerkennung und Nutzung leiblich-sinnlicher Erkenntnispotenziale«, in: Susanne Quinten/Stephanie Schroedter (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als

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Forschungspraxis. Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016: transcript, S. 19-36, online: https://www.transcriptverlag.de/chunk_detail_seite.php?doi=10.14361%2F9783839436028-002 [abgerufen am: 02.07.2019]. — (2016): »Unverbrüchliches, Strittiges und Fragiles in feministischen Normativitätsdiskursen – eine kritisch-reflexiv orientierte und utopisch motivierte Bestandsaufnahme«, in: Karolina Dreit/Nina Schumacher/Anke Abraham/Susanne Maurer (Hg.), Ambivalenzen der Normativität in kritischfeministischer Wissenschaft, Sulzbach/Taunus: Helmer, S. 265-283. 2017 Abraham, Anke (2017): »Forschungsfelder: Lebenslauf und Biographie«, in: Robert Gugutzer/Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.), Handbuch Körpersoziologie. Band 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven, Wiesbaden: Springer, S. 131-146. — (2017): »Leiblichkeit als Ort der Bildung im Tanz. Biographie- und bildungstheoretische Überlegungen zur Bedeutung des Leibes im Tanz«, in: Hessische Blätter für Volksbildung 01/2017. Tanz und Leiblichkeit. Hessischer Volkshochschulverband e.V. (Hg.), Bielefeld 2017, S. 11-21, DOI: 10.3278/HBV1701W. — (2017): »Methoden der Erforschung des Körpers: Sprechen«, in: Robert Gugutzer/Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.), Handbuch Körpersoziologie. Band 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven, Wiesbaden: Springer, S. 457-470. — (2017): »Verdinglichter Körper und spürender Leib. Spuren zu einer anderen Sexualität«, in: Helga Krüger-Kirn/Bettina Schroeter (Hg.), Verkörperungen von Weiblichkeit. Körperpsychotherapeutische Perspektiven und Reflexionen, Gießen: Psychosozial Verlag, S. 149-172.

Autor*innen

Bietz, Jörg leitet am Institut für Sportwissenschaft und Motologie der PhilippsUniversität Marburg als außerpl. Professor das Arbeitsgebiet Sport mit Sehgeschädigten und den BA-Studiengang »Bewegungs- und Sportwissenschaft« sowie den Lehramtsstudiengang Sport. Arbeitsschwerpunkte: bildungs- und bewegungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik, pädagogische Bewegungslehre, Sport mit Sehgeschädigten, Spiel- und Sportspieldidaktik. Gregor, Joris A. arbeitet seit April 2012 als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in am Lehrstuhl für allgemeine und theoretische Soziologie (Prof. Dr. Hartmut Rosa). Studium der Pädagogik, Geschlechterforschung und Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Von 2009 bis 2014 erhielt Gregor ein Promotionsstipendium der Doktorandenschule Laboratorium Aufklärung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung (insbes. feministische Theorie, soziologische Geschlechtertheorie[n]), queer theory (u.a. Inter*, queer als Wissenschaftstheorie und -kritik); interpretative Sozialforschung, Biographieforschung; Körpersoziologie, new materialisms. Gugutzer, Robert ist Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Tübingen und LMU München, Promotion an der Universität Halle-Wittenberg, Habilitation an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Körper- und Sportsoziologie, Leibphänomenologie, Neophänomenologische Soziologie. Hanft, Koni lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Süddeutschland. Sie erhielt ihre Tanzausbildung an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Als Künstlerische Leiterin (temporär zusammen mit Anke Abraham und Béatrice Goetz), Choreographin und Tänzerin des Tanzensemble Maja Lex war sie von

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1988-1998 international auf Gastspielen, Festivals und Tourneen unterwegs. Sie hatte Engagements bei diversen Tanz-, Theater- und Musikprojekten in Deutschland, Österreich und der Schweiz und war Jurymitglied des Internationalen Jugend-Tanztheater-Festivas Transit und des ersten Internationalen Choreographen-Wettbewerbs no ballet in Ludwigshafen. 1993 war sie Mitbegründerin der »Kölner Tanzagentur« – einem der ersten Produktionszentren für freien professionellen Tanz in NRW. Von 2003 bis 2005 unterstand ihr die künstlerische Leitung der Reihe TANZhautnah. Heusinger v. Waldegge, Brigitte ist Tanzpädagogin und Dozentin an der Philipps-Universität Marburg mit den Schwerpunkten Zeitgenössischer Tanz und Tanz-in-Schulen sowie Mitgründerin des Weiterbildungsmasters »Kulturelle Bildung an Schulen«. Sie leitet ihr eigenes Institut »Das Potenzialtraining – Institut für Bildung in Bewegung und Tanz« und ist als Referentin u.a. in Italien, Österreich, Japan und USA tätig. Sie veröffentlicht Fachartikel im Bereich Tanzpädagogik in der Kulturellen Bildung. Jäger, Ulle ist seit 2017 Professorin für Psychosoziale Beratung mit dem Schwerpunkt Personzentrierter Ansatz an der Frankfurt University of Applied Sciences. Studium der Fächer Englisch und Sozialkunde für das Lehramt am Gymnasium und Promotion in Soziologie an der Goethe Universität Frankfurt. Oberassistenz am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Ausbildung als Supervisorin und Coach an der Fachhochschule Frankfurt. Mehrjährige selbständige Tätigkeit im Bereich Supervision, Coaching und Weiterbildung. Focusing Professional am International Focusing Institute New York und Ausbilderin für Personzentrierte Gesprächsführung (GwG). Kammler, Christian ist seit 2010 Leiter der Lern- und Forschungswerkstatt des Instituts für Schulpädagogik und Geschäftsführer des Weiterbildungsmaster »Kulturelle Bildung an Schulen« der Philipps-Universität Marburg. Als Projektleiter entwickelte er von 1994 bis 2010 den Lernbereich Kulturelle Praxis an der Steinwaldschule Neukirchen, Versuchsschule des Landes Hessens. Seit 2000 hatte er verschiedene Lehraufträge an den Universitäten Kassel und Marburg zu kultureller Schulentwicklung und ästhetischen Handlungsfeldern in der Lehrerausbildung. Seit seinem Wechsel an die Philipps-Universität Marburg arbeitet er an der Frage ästhetischer Handlungsweisen in der Lehrerausbildung und an der Benennung von Qualitätsbereichen und Indikatoren für Kulturelle Schulentwicklung.

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Klein, Michael ist Professor (em.) für Bildungssoziologie und Mikrosoziologie an der Universität Erfurt; er war Ehemann von Anke Abraham. König, Tomke ist seit 2012 Professorin für Geschlechtersoziologie an der Fakultät für Soziologie und hat die Leitung des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZG) an der Universität Bielefeld inne. Studium der Fächer Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie (Magister) und Promotion in Soziologie an der Goethe Universität Frankfurt. Ausbildung zur DiplomSupervisorin an der Universität Kassel. Forschungsassistenz und Lehrbeauftragte am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Habilitation an der Historisch-Philosophischen Fakultät der Universität Basel zum Thema Familie heißt Arbeit teilen. Transformationen der symbolischen Geschlechterordnung. Laging, Ralf ist Professor (em.) für Bewegungs- und Sportpädagogik an der Philipps-Universität Marburg (seit WiSe 18/19 im Ruhestand), davor Professor für Sportpädagogik an der Universität Magdeburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie und Sportdidaktik, Bewegungstheorie und Pädagogik, Bewegungsgestaltung in Ganztagsschulen, Professionalisierung in der Lehrerbildung. Mehrere Jahre Vorsitzender der DGfE-Kommission Sportpädagogik und bis 2004 Mitherausgeber der Zeitschrift sportpädagogik. Maurer, Susanne ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Philipps-Universität Marburg. Sie hat mit Anke Abraham sowohl im Rahmen des Fachbereichs, als auch im Kontext des Marburger Genderzentrums immer wieder zusammen gearbeitet. Das gemeinsame Interesse galt der Ermöglichung von Themen, die das Leiblich-Körperliche in die wissenschaftliche Reflexion bewusst und entschieden mit einbeziehen. Forschungsschwerpunkte: Feministische Theoriebildung und -geschichte; Bildung und soziale Bewegungen; Gesellschafts- und Geschlechtergeschichte sozialer Arbeit; Geschichte der Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert; körperbezogene Wahrnehmung und Praktiken. Müller, Beatrice ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta. Sie war von 2007 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Anke Abraham. Sie arbeitet zu Feministisch-Marxistischen Theorien, Care-Ethik und Leiblichkeit, Ökonomisierung und Arbeitsbedingungen im Pflegesektor. Seit 2014 forscht sie zu diesen Themen auch in verschiedenen internationalen Projekten. Seit 2018 im Projekt »Imagining Age-Friendly ›Communities within Communi-

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ties‹: International Promising Practices«, das von Tamara Daly, York University/ Canada, geleitet wird. Quinten, Susanne ist seit 2013 Vertretungsprofessorin an der TU Dortmund, seit 2014 für den Lehrstuhl Musik und Bewegung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung. Hier lehrt und forscht sie zu Tanz und Bewegung im Kontext von kultureller Bildung, Therapie und Inklusion. 1984 machte sie ihren Abschluss als Dipl. Sportlehrerin an der Universität Mainz und promovierte 1994 in Sportpsychologie über Identität und Bewegungslernen im Tanz. Seit 1998 arbeitet sie als Trainerin und Supervisorin für die Deutsche Gesellschaft für Tanztherapie und als Tanztherapeutin. Von 1986-1991 war sie Mitglied in der Tanzgruppe Maja Lex (Köln). Spahn, Lea ist seit 2017 Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Soziologie der Bewegung und des Sports in dem Forschungsprojekt »Kulturelle Bildungsforschung im Tanz« an der Philipps-Universität Marburg. Sie war von 2010-2017 zuerst studentische Hilfskraft, dann wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Anke Abraham. Zudem ist sie Teil des Kernteam des Weiterbildungsmasters »Kulturelle Bildung an Schulen« sowie Lehrbeauftragte. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Körpersoziologie, Leibphänomenologie, Biographieforschung, soziale Ungleichheit und Intersektionalität, (materielle) Feminismen, politische Ökologien und Kulturelle Bildung. Sie ist Co-Herausgeberin der Reihe Soma Studies im transcript-Verlag. Stumpp, Laura ist interdisziplinär und statusübergreifend an der Universität Marburg unterwegs: am Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung (langjährig Hilfskraft, jetzt Mitglied und Lehrbeauftragte im Zertifikatsstudium), am Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung (MasterStudentin und Tutorin), in der Romanistik (Katalanisch-Studentin) und in der Erziehungswissenschaft (Lehrbeauftragte). Laura macht ohne oder (lieber) mit Kolleg*innen feministische herrschaftskritische Bildungsarbeit in und außerhalb der Universität, u.a. am Beispiel von Kinderbüchern. 2013-2017 war sie als Hilfskraft für Anke Abraham tätig und hat nun diesen Gedenkband für sie korrekturgelesen. Wuttig, Bettina ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaften und dem Institut für Sportwissenschaften und Motologie der Philipps-Universität Marburg. Sie vertritt dort den Lehrstuhl »Psychologie der Bewegung«. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Poststrukturalisti-

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sche und posthumanistische Theorie, anderes Wissen*, Motologie und Gesellschaft, Gender und Queer Studies, Theorien der Verkörperung des Sozialen (Soma Studies), (soziales und kulturelles) Trauma, machtkritisches therapeutisches Arbeiten, New School Beratungswissenschaften, leibbezogene Gesundheitsförderung im Sport, rassismuskritische Bildung und autoethnographische Forschung. Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit affektiven Grenzziehungen in (post-)digitalen globalen Bewegungen. Sie ist Herausgeberin der Reihe Soma Studies im transcript-Verlag.

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