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German Pages 325 Year 2013
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 176
Demokratische Elemente und Gewaltenteilung im islamischen Staatsorganisationsrecht Von Dalınç Dereköy
Duncker & Humblot · Berlin
DALINÇ DEREKÖY
Demokratische Elemente und Gewaltenteilung im islamischen Staatsorganisationsrecht
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 176
Demokratische Elemente und Gewaltenteilung im islamischen Staatsorganisationsrecht
Von Dalınç Dereköy
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.
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© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
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Meinen Eltern, meiner Familie und all denjenigen, die mich hierbei unterstützt haben
Vorwort Der sogenannte „arabische Frühling“ verdeutlichte, dass sich die Völker der islamischen Welt nach Freiheit, Würde, Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit sehnen. In Tunesien und Ägypten führten die Unruhen und das Aufbegehren des Volkes dazu, dass die alten politischen Regime zusammenbrachen und sich nunmehr – wenn auch langsam – neue politsche Strukturen etablieren. Damit nahm in der arabisch-islamischen Welt ein einmaliger und historischer Prozess seinen Anfang. Wenn sich dieser begonnene Prozess, dessen Folgen mittlerweile in allen arabisch-islamischen Staaten zu spüren sind, durchsetzt und die Völker in anderen Staaten inspiriert, könnte es zu einem unumkehrbaren Wandel in der gesamten islamischen Welt kommen. Vielmehr als im Westen spielt dort die Religion – der Islam – eine größere Rolle im sozialen Zusammenleben und dominiert teilweise auch die politischen Entscheidungen. Daher stellt sich die Frage, wie diese Völker die neugewonnene politische Freiheit nutzen werden und wie der Islam hierauf Einfluss nehmen wird. Bei der Beantwortung dieser Fragen ist es verführerisch – mit Blick auf das Rechts- und Staatsverständnis im Westen – in vereinfachten Schablonen zu denken und eine strenge Säkularisierung des Rechts zu fordern. Die folgenden Fundstellen indizieren aber, dass auch in der islamischen Religion Potentiale und Ansätze existieren, aus denen moderne Staatsformen und Menschenrechtskonzepte abgeleitet werden können, die mit westlichen Staatsformen und Menschenrechtsverständnissen vergleichbar sind. Sie motivierten mich dazu diese Arbeit zu schreiben und mich ins islamische Staats- und Staatsorganisationsrecht sowie in die islamische Staatstheorie einzuarbeiten. Daher möchte ich sie den Lesern nicht vorenthalten. Mashood A. Baderin schreibt in seinem Werk „International Human Rights and Islamic Law“: „While the political and legal philsophy of Islam may differ in certain respects from that of the secular international order, it does not necessarily mean a complete discord with international human rights regime. Removing the traditional barriers of distrust and apathy would reveal that diversity is not synonymous to incompatibility. Mayer has observed that: The Islamic heritage offers many philosophical concepts, humanistic values, and moral principles that are well adapted for use in constructing human rights principles. Such values and principles abound even in the premodern Islamic intellectual heritage. It is those humanistic concepts and values of the Shari’ah that need fully revived for the realization of international human rights within the application of Islamic law in Muslim States“ 1.
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Vorwort
Weiterhin führt er aus: „Judge Weeramantry formerly of the International Court of Justice had also observed in his penetrating work, Justice Without Frontiers, Furthering Human Rights, that although Locke, the founding father of Western human rights, never attended most of his lectures as a student at Oxford, ,he assiduously attended only the lectures of Professor Pococke, the professor of Arabic studies‘. According to the learned judge: ,Those studies may well have referred to Arabic political theory including the idea of rights that no ruler could take away, subjection of the ruler to the law, and the notion of conditional rulership‘. He concluded that: ,When Locke proclaimed his theory of inalienable rights and conditional rulership, this was new to the West, but could he not have had some glimmerings of this from his Arabic studies?‘“ 2.
Frank Rupp erklärt in der Broschüre „Entwicklungszusammenarbeit in islamisch geprägten Ländern“, die von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH3 veröffentlicht wurde, in seinem Artikel „Islam, Demokratie, Menschenrechte, Good Governance – Schlussfolgerungen für die EZ4“, nachdem er auf die Rechtsentwicklung in islamischen Staaten eingegangen ist, folgendes: „. . . Was folgt daraus für die Entwicklungszusammenarbeit? Erstens, dass die vielfach vorgetragene These ,ohne Säkularisierung keine Entwicklung‘ angezweifelt werden muss. ,Säkularisierung‘ meint im europäischen Verständnis die Verbannung des Religiösen aus den staatlichen Domänen in den privaten Bereich und eine strikte Trennung von Staat und Kirche, Politik und Religion. Die historische Praxis in der islamischen Welt zeigt aber, dass es in vielen Sachfragen auch im Islam große Entwicklungs- und Gestaltungsspielräume gibt, ohne dass es zu einer strikten Säkularisierung im westlichen Sinne kommen müsste. Zweitens folgt, dass sich Akteure des interkulturellen Dialogs sowie der EZ keinen Gefallen tun, wenn sie allzu vereinfachten Schablonen über ,den‘ Islam und ,den‘ Westen anhängen. Es geht hier nicht um Begriffsaufweichungen oder die Auflösung von grundlegenden Leitbildern, z. B. des Menschenrechtsverständnisses. Lern- und Bestätigungsfelder erschließen sich aber durch die Offenheit, genauer hinzuschauen, um jenseits islamischer Terminologien Entwicklungsmöglichkeiten für die EZ, z. B. im Sinne der Menschenrechts- und Demokratieförderung, zu erkennen, auch wenn diese in einen anderen historischen und kulturellen Zusammenhang eingebettet sind“ 5.
Mit Blick auf diese Äußerungen bleibt zu hoffen, dass die neugewonnene politische Freiheit dazu führt, dass islamisch-politische Strömungen, die jegliche politische Legitimität aus der Religion rechtfertigen, Staats- und Herrschaftsformen sowie Menschenrechtskonzepte entwicklen, die auf der einen Seite isla1
Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 31. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 31 f. 3 Nachfolgend GTZ. 4 Entwicklungszusammenarbeit. 5 Frank Rupp, Islam, Demokratie, Menschenrechte, Good Governance – Schlussfolgerungen für die EZ, in GTZ (Hrsg.), Entwicklungszusammenarbeit in islamisch geprägten Ländern, 2005, 16–22, 17 f. 2
Vorwort
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misch legitimierbar sind, und auf der anderen Seite aber moderne Ansätze enthalten und vielleicht sogar Ideen aus dem westlichen Staatsrecht übernehmen. Letztlich möchte ich an dieser Stelle meinem verehrten akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz, LL.M., noch einmal besonderen Dank aussprechen, da er mir zum einen ermöglichte zu promovieren, zum anderen mir auch erlaubte mich mit diesen spannenden Fragen, die mich als migrationsstämmigen und muslimischen Deutschen besonders tangieren, zu befassen. Zudem bedanke ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Martin Morlok für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Viele Kollegen und Freunde haben mir in zahlreichen Gesprächen wertvolle Hinweise und Anregungen gegeben, die mir im Rahmen diese Arbeit sehr weitergeholfen haben. Neben diesen konkreten Hilfen muss ich gestehen, dass mir eben diese Kollegen und Freunde sowie meine Familie schlicht durch ihren Glauben daran, dass ich dieser Arbeit gewachsen bin und sie auch tatsächlich zu Ende führen kann, mich in Momenten, in denen ich drauf und dran war aufzugeben, immer wieder erneut motiviert haben, weiterzumachen. Meiner Mutter Frau Ayper S¸ahsine Dereköy und meinem Vater Herrn Kayhan Dereköy möchte ich in diesem Kontext meinen besonderen Dank abstatten. Ohne sie und ihren unendlichen Glauben an mich wäre ich nicht dort wo ich heute bin. Ihnen und meiner Familie widme ich daher diese Arbeit. Es war Teamwork. Düsseldorf, im Winter 2012
Dalınç E. Dereköy
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Islam und das Verhältnis zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die islamische Welt nach der Entkolonialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abstrakte Grundwerte im westlichen Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abstrakte Grundwerte im islamischen Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der früh-islamische Staat aus westlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vergleichsmöglichkeit zwischen westlichem und islamischem Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Hypothese: Parallelen zwischen westlichem und islamischem Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fragestellungen im Kontext der aufgestellten Hypothese . . . . . . . . . . . . . VI. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Westliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Islamisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriffsbestimmung: sharia und fiqh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unterschiede zum westlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Moral und Ethik im Zusammenspiel mit dem islamischen Recht . . . . . . . . . V. Interpretierbarkeit des islamischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rechtsschulen im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Islamisches Recht aus westlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Terminologie: Staats- und Staatsorganisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Der islamische Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Notwendigkeit eines islamischen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Staatsstruktur und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der islamische Staat im Kontext der bestehenden Staatsformen . . . . . . . 2. Ökonomische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unterschiede zu einer Theokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Demokratische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Moderne Staatsformen für den islamischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis III. Beziehung zwischen Staat und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Geltung der sharia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F. Islamisches Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Islamische Staatstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Klassische islamische Staatstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neuere islamische Staatstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Staatsrechtliche Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der früh-islamische Staat als staatstheoretisches Fundament . . . . . . . . . 5. Annäherung zwischen den unterschiedlichen Staatstheorien . . . . . . . . . . III. Quellen des Islamischen Staatsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primäre Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Quran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sunna des Propheten (s. a. w. s.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundäre Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klassische sekundäre Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ijma (Konsens der Rechtsgelehrten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Qiyas (Analogieschlüsse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Al-maslahah al-mursalah (Das öffentliche Interesse) . . . . . . . . . dd) Al-istihsan (Billigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Urf (Sitte, Gewohnheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Al-istishab (Kontinuität, Nützlichkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuzeitliche sekundäre Rechtsquellen: Islamische Verfassungen . . . aa) Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo . . . . . . . . bb) Karachi-Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Saudi-Arabische Staatsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Iranische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Islamische Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Spaltung der Gemeinde und Bildung der islamischen Großreiche . . b) Sozialvertrag zwischen Gemeinde und Kalif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Loyalität gegenüber dem amtierenden Staatsoberhaupt . . . . . . . . . . . d) Ideal und politische Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Westliche Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gemeindeordnung bzw. Verfassung von Medina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Neuzeitliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kernpunkte einer islamischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 1. Wahl des Staatsoberhauptes im früh-islamischen Staat . . . . . . . . . . . . . . a) Wahl des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen aa) Prophet Muhammad (s. a. w. s.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kalif Abu Bakr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kalif Umar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Kalif Uthman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Kalif Ali . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abstrakte Analyse der Wahl des Staatsoberhauptes . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Wahl des Kalifen durch das Volk: baiah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Baiah in rechtlicher Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die juristische Qualifikation des baiah-Vertrages . . . . . . . . . . . . cc) Die öffentliche Partei im baiah-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Das vorausgesetzte Quorum für baiah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Rolle der öffentlichen baiah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Wahl des Nachfolgers durch den Kalifen: istikhlaf al-ahd . . . . . c) Herrschaft durch Militärmacht: al-ghalabah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Absetzung des Kalifen durch Auflösung der baiah . . . . . . . . . . . e) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wahl des Staatsoberhauptes in neuzeitlichen islamischen Verfassungen a) Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo . . . . . . . . . . . . b) Karachi-Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Saudi-Arabische Staatsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Iranische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vergleich mit der Wahl des Staatsoberhauptes im westlichen Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wahl des Staatsoberhauptes in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wahl des Staatsoberhauptes in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wahl des Staatsoberhauptes in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das islamische und das westliche Wahlsystem im Vergleich . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Shura im früh-islamischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abstrakte Analyse des shura-Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umfang von shura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entscheidungsfindung durch Mehrheitsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bestimmung der zu konsultierenden Persönlichkeiten . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis d) Shura als Staatsgewalt/Der shura-Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Shura in neuzeitlichen islamischen Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo . . . . . . . . . . . b) Karachi-Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Saudi-Arabische Staatsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Iranische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vergleich mit dem Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Demokratieprinzip im westlichen Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ursprung und Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Akzeptanz der politischen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Liberale Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Demokratieprinzip und das shura-Prinzip im Vergleich . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten im islamischen Staat . . . . . . . 1. Staatsgewalten im früh-islamischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abstrakte Analyse der Staatsgewalten im islamischen Staat . . . . . . . . . . 3. Staatsgewalten in neuzeitlichen islamischen Verfassungen . . . . . . . . . . . a) Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo . . . . . . . . . . . b) Karachi-Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Saudi-Arabische Staatsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Iranische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vergleich mit der Gewaltenteilung im westlichen Staatsrecht . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263 265 266 266 268 269 270 271 272 272 273 275 277 280 282 283 285 289 293 293 295 295 297 300 300 304
G. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen islamischem und westlichem Staats- und Staatsorganisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 H. Schlussfolgerungen und Aussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Abkürzungsverzeichnis Art. a. s. AV Bd. bzw. D.C. d.h. EEUV EU EZ f. ff. Fn. GG GH GK GM GR h. M. Hrsg. i.V. m. k. D. k. O. O.I.C. Rn. s. a. w. s. u. a. UN USA u. U. VM vol. vs. z. B. z. T.
Artikel ’alayhis-salaam Afghanische Verfassung Band beziehungsweise District of Columbia das heißt Entwurf EU-Verfassung Europäische Union Entwicklungszusammenarbeit folgende fortfolgende Fußnote Grundgesetz Grundgesetz der Herrschaft Gesetz über den Konsultativrat Gesetz über den Ministerrat Gesetz über die Regionen herrschende Meinung Herausgeber in Verbindung mit kein Datum kein Ort Organization of Islamic Countries Randnummer salla-allahu’alayhi wa sallam unter anderem United Nations United States of America unter Umständen Verfassung von Medina Volume versus zum Beispiel zum Teil
A. Einleitung und Grundlagen Die Frage wie ein Staat organisiert sein muss, in dem die Bevölkerung vor Unterdrückung und Willkürherrschaft beschützt wird, in dem die Bevölkerung an der politischen Meinungsbildung partizipiert, in dem die Bevölkerung bei der Ausübung der Staatsmacht Mitsprache, ja sogar Mitbestimmungsrecht hat und in dem Herrschaft im Einklang mit dem Beherrschten ausgeübt wird, ohne die Rechte des Beherrschten zu verletzten, wird seit der Gründung der ersten staatlichen Gebilde in der Menschheitsgeschichte immer wieder diskutiert. Folglich bleibt die allgegenwärtige Frage, wie ein idealer Staat auszusehen hat und welche Merkmale er aufweisen muss, präsent. In diesem Zusammenhang ist auch die Gründung der Vereinten Nationen1, der Europäischen Union2 und anderer überstaatlicher Organisationen zu sehen. Sie ist eine weitere Stufe des Prozesses, eine ideale Herrschaftsform zu etablieren. Das westliche Staatsrecht dient im Kern dem Schutz der individuellen Freiheit und symbolisiert damit als Fundament, die in den westlichen Staaten geltende Werteordnung3. Das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten mit dem islamischen Staatsrecht wird nicht nur bestehende Vorurteile – auf westlicher und islamischer Seite – beseitigen, sondern auch die in westlichen Staaten lebenden Muslime enger an diese Staaten binden. Außerdem wird hierdurch verdeutlicht, dass viele der derzeit bestehenden Regime in der islamischen Welt nicht mit dem Islam im Einklang stehen und folglich auch nicht durch diese Religion zu rechtfertigen sind. Überdies wird dadurch ein besseres Verständnis des islamischen Staatsrechts im Westen ermöglicht. Des Weiteren könnte durch solch eine Arbeit das Verhältnis zwischen dem Westen und den islamischen Oppositionen und den islamisch-politischen Bewegungen in Staaten, in denen der Westen seinen Ansprechpartner bisher in der herrschenden Elite, dem Herrscher oder säkularen Kräften suchte, gestärkt werden4. Folglich könnte somit explizit ein Beitrag zur Deeskalation und zum Dialog geleistet werden. Dieser Dialog ist nach den politischen Revolutionen in der islamisch-arabischen Welt und dem damit einhergehenden Ruf nach Reformen zwingend erforderlich.
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Engl. United Nations, nachfolgend UN. Nachfolgend EU. 3 Vgl. Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 397; Khalid M. Ishaque, Problems of Islamic Political Theory, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 25–37, 27. 4 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 125. 2
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A. Einleitung und Grundlagen
Zwar sind die Muslime kein einheitlicher Block; unter ihnen gibt es nicht praktizierende, nicht religiöse, konservative, „liberale“ oder seit neuestem „säkulare“, aber alle werden sich in dieser Arbeit wiederfinden und sich mit dieser identifizieren. In diesem Kontext sollte die Präsenz der Muslime im Westen nicht als Problem bzw. Gefahr, sondern als Chance begriffen werden. Erstmals in der Geschichte der Menschheit leben Anhänger der drei abrahamitischen Religionen in aufgeklärten demokratischen Rechtsstaaten zusammen. Sofern tatsächlich ein politischer, gesellschaftlicher und religiöser Dialog etabliert wird, der auf Respekt, gegenseitiger Toleranz, Akzeptanz und Anerkennung basiert, könnte dieser Dialog in die ganze Welt ausstrahlen, positive Synergieeffekte nicht nur im Nahen Osten erzeugen, sondern auch dazu beitragen globale Probleme und Konflikte zu konsolidieren. Diese Chance – weise genutzt – könnte letztlich die ganze Menschheit in eine neue friedliche Ära führen. Daher sollten die Aussagen von Christian Wulff, dem ehemaligen Bundespräsidenten Deutschlands, dass der Islam ein Teil Deutschlands und das Christentum Teil der Türkei sei, weder von der Politik noch von anderen nachträglich relativert werden. Die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam, dem islamischen Fundamentalismus und den gewaltbereiten Gruppierungen innerhalb der islamischen Welt wird als die große Herausforderung und die große Gefahr des 21. Jahrhunderts bezeichnet5. Dem ist in dieser Form nicht zuzustimmen. Die großen Gefahren des 21. Jahrhunderts sind die bevorstehende Ressourcenknappheit, die geopolitische und wirtschaftliche Machtverschiebung von West nach Ost, der damit einhergehende Machtverlust des Westens, die Verarmung der Massen, die ungerechtfertigte und ungleiche Verteilung des Reichtums, kommende neuzeitliche Völkerwanderungen, Umweltverschmutzung sowie die demographische Entwicklung. Insbesondere die geo-politische und wirtschaftliche Machtverschiebung von West nach Ost birgt eine große Gefahr für das kommende Jahrhundert, denn diese Entwicklung ist vergleichbar mit dem Zustand kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wo territoriale Großmächte mit der kolonialen Verteilung der Welt nicht zufrieden waren und sich ungefähr gleichstark gegenüberstanden. In Zukunft werden sich wieder hochgerüstete Staaten gegenüber stehen und sich gegenseitig die wenigen noch verbliebenen Ressourcen streitig machen. Der Umgang mit der islamischen Welt ist dabei nur ein Teilaspekt der ganzen zukünftigen globalen Problematik. Oppositionen gegen Willkürregime innerhalb der islamischen Welt sind meist islamische Bewegungen, die das Ende der Dominanz eines Herrschers oder einer Elite verlangen und somit eine politische Veränderung herbeiführen wollen6. Ed5 Günter Lachmann, Tödliche Toleranz, 2006, 13 f.; Fawaz Gerges, Amerika ve Siyasal Islam, 2001, 56 ff., 60 ff. 6 John L. Esposito, Political Islam and Gulf Security, in: John L. Esposito (Hrsg.), Political Islam, 1997, 53–77, 71; vgl. John L. Esposito (Hrsg.), Political Islam, 1997, 4;
A. Einleitung und Grundlagen
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ward Lutwak erklärt diesbezüglich: „Islamisten sind die einzig funktionierende Opposition gegenüber anti-demokratischen Regierungen.“ 7. Murad Hofmann geht sogar noch weiter, indem er schreibt: „Derzeit gibt es jedenfalls in der islamischen Welt weit und breit keine stärkere demokratische Potenz als diese jugendlichen islamischen Gruppierungen“ 8. Anstatt diese Bewegungen gegen Willkürregime und Willkürherrscher zu unterstützen, hat sich der Westen aufgrund von Pragmatismus und wegen bestehender Vorurteile lange Zeit zurückgehalten und die unterdrückte Bevölkerung alleingelassen9. Erst der „arabische“ Frühling führte zu einem Umdenken im Westen. Ein Hauptargument der Kritiker von islamisch-politischen Organisationen ist, dass deren Programme oft keine konkreten Hinweise zu ihren Staatsvorstellungen enthalten und dadurch demokratische Fundamente, die die islamische Religion durchaus enthält, nicht institutionalisiert sind und gegebenenfalls je nach Interpretation völlig außer Kraft gesetzt werden könnten10. In der Regel werden islamisch-politische Bewegungen zudem als Gefahr wahrgenommen. Deshalb unterstützte der Westen lange Zeit in der islamischen Welt pro-westliche Herrscherstrukturen von Eliten oder säkularen Kräften, die bisher nie die vollständige Zustimmung der jeweiligen Völker genossen haben11. Im Gegensatz hierzu genießen islamisch-politische Bewegungen innerhalb der islamischen Welt ein hohes Ansehen und ein hohes Maß an Zustimmung12. Sie würden, sofern tatsächlich freie Wahlen abgehalten werden, wohl auch die Regierungen bilden und die stärksten Parteien in den Parlamenten stellen13. Dies muss vom Westen akzeptiert werden. Eine Trennung von Staat und Religion, wie im Westen vollzogen, ist nach der h. M. von muslimischen Juristen nicht möglich14. Daher muss der John L. Esposito, Islam and Civil Society, in: John L. Esposito/François Burgat (Hrsg.), Modernizing Islam, 2003, 69–103, 71; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 88 ff. 7 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 127. 8 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 127. 9 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 125. 10 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 310. 11 Fawaz Gerges, Amerika ve Siyasal Islam, 2001, 235 ff., 269 ff.; John L. Esposito/ François Burgat (Hrsg.), Modernizing Islam, 2003, 3. 12 Moataz Abdel Fattah, Democratic Values in the Muslim World, 2006, 85 f.; Juan J. Linz, Some thoughts on the Victory and Future of Democracy, in: Dirk Berg-Schlosser (Hrsg.), Democratization – The state of the art, 2007, 133–153, 133; vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 105. 13 Juan J. Linz, Some thoughts on the Victory and Future of Democracy, in: Dirk Berg-Schlosser (Hrsg.), Democratization – The state of the art, 2007, 133–153, 133; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 119, 141. 14 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 92 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, 2006 Bd. 8, 386 ff.; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 195 ff.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 140 ff.; Isma’il Raji al-Faruqi, Viability of the Islamic State, in: Yusuf Abbas
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A. Einleitung und Grundlagen
Westen innerhalb dieser islamisch-politischen Bewegungen diejenigen unterstützen, die ein Staatsverständnis haben, welches dem westlichem Staatsverständnis am nächsten kommt, aber mit dem islamischen Recht im Einklang steht und von diesem abgeleitet wird. Dabei ist offensichtlich, dass dieses Staatsverständnis nicht völlig mit dem westlichen Konzept der liberalen Demokratie übereinstimmen kann, sondern vielmehr eine islamische Variante einer demokratischen Staatsauffassung verkörpert. Dies ist der konstruktive Ansatz, der notwendig ist, um die Entwicklung einer konsolidierten islamischen Staatenlandschaft zu fördern, bei der rechtsstaatliche Elemente etabliert, fundamentale Grundrechte gewährleistet, die politische Partizipation des Volkes bei der Bestimmung der Herrschaft garantiert und demokratische Grundsätze verwirklicht werden.
I. Der Islam und das Verhältnis zum Staat Im islamischen Recht, der sogenannten sharia, gibt die Frage wie ein Staat strukturiert sein soll seit jeher Anlass zu Meinungsverschiedenheiten unter den muslimischen Juristen. Grundlage dieser Meinungsverschiedenheiten sind die Interpretation der staatsrechtlich relevanten Verse des qurans, die Interpretation der staatsrechtlich relevanten Handlungen des Propheten Muhammad (s. a. w. s.)15, und die Interpretation des Beispiels des früh-islamischen Staates von Medina. Muslime fühlen sich dazu verpflichtet ein Staatswesen zu gründen16, das alle Gläubigen umfasst, im Einklang mit der sharia steht und dadurch Gleichheit, Gerechtigkeit, Wohlergehen, Freiheit und Würde gewährleistet17. Ziel ist die Gründung eines Staates, der in der Idee das Gegenteil von Nationalstaaten verkörpert18. Wird der islamische Staatsbegriff unter klassische Staatsdefinitionen wie die Drei-Elemente-Lehre 19, die Integrationslehre20 oder die Wirkungseinheitslehre21 subsumiert, so führt dies zu folgenden Ergebnissen. Die Staatsgewalt und Hashmi (Hrsg.), Shariah, Ummah and Khilafah, 1987, 112–128, 116; Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 32 ff. 15 Jedes Mal, wenn ein Muslim den Propheten Muhammed (s. a. w. s.) erwähnt, fügt er die Grußformel „Möge der Segen und der Frieden Gottes über ihm sein“ (arabisch „salla-allahu ’alayhi wa sallam“; nachfolgend s. a. w. s.) hinzu; vgl. Muhammad Ali AlHashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 20. 16 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 126. 17 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 2 ff.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 49 ff. 18 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 109; vgl. Muhammah Abdullah, Kur’an Devleti, 1976, 68 ff. 19 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 14; Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 2 f. 20 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 14 f. 21 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 15 f.
I. Der Islam und das Verhältnis zum Staat
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Souveränität in einem islamischen Staat gebührt Gott, der Mensch ist nur als Sachwalter tätig und übt die Herrschaft allein in dem von Gott festgelegten Rahmen aus22. Das Staatsvolk besteht im Idealfall aus der gesamten muslimischen Gemeinde, der umma23. Das vereinende Band ist nicht die Ethnie oder die Rasse, sondern der Glaube24. Das Staatsgebiet ist nicht auf irgendein Territorium der Erde begrenzt. Muslime können daher überall, wo es möglich ist einen Staat gründen25. Abgesehen von den heiligen Stätten und einem derzeit in der islamischen Theologie nicht definierten Begriff der arabischen Insel, hat kein Gebiet der Erde einen besonderen Stellenwert für Muslime26. Der integrative Charakter eines islamischen Staates ist die Religion und der Wunsch mit dieser konform zu leben. Alles Wirken nach außen wie nach innen ist darauf ausgerichtet, die gottgewollte Ordnung, in der der Mensch seinem Schöpfungszweck entsprechend leben kann, zu verwirklichen. Die islamische Religion erklärt, dass Gott das Universum geschaffen hat, kontrolliert und beherrscht27. Gott erschuf weiterhin den Menschen und versorgte ihn mit allem Nötigen, damit dieser sich entwickeln, in seinem Verständnis der Wahrheit wachsen und überleben kann28. Um die materiellen Bedürfnisse zu befriedigen füllte Gott das Diesseits mit Substanzen und Materialien, die sich der Mensch dienstbar machen kann29. Um die spirituellen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen entsandte Gott seine Propheten (a. s.)30, damit diese Rechtleitung bringen31. Diese Rechtleitung ist nach dem Verständnis der Muslime die islamische Religion32. Das Leben an sich ist daher eine Einheit, die nicht in verschiedene voneinander separate Abschnitte unterteilt werden kann33. Die Funktion der Religion besteht darin, diesem Leben in seiner Einheit Recht-
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Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 385, 447 f. M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 65 ff. 24 Muhammed Hamidullah, Islam’a Giris ¸, 2003, 166; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 58; Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 49 f. 25 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 155; Muhammed Hamidullah, Islam’a Giris¸, 2003, 166; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 58; Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 49. 26 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 19 ff.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 57 f. 27 Muhammed Hamidullah, Islam’a Giris ¸, 2003, 77 ff. 28 Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 4. 29 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 37. 30 Jedes Mal, wenn ein Muslim einen Propheten erwähnt, fügt er die Grußformel „Friede über ihm“ (arabisch „’alayis-salaam“; nachfolgend a. s.) hinzu; vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 20. 31 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 133; Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 35. 32 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 15. 33 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 3. 23
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A. Einleitung und Grundlagen
leitung zu bringen und auf jeden Bereich des Lebens einzuwirken34. Dies ist der Grund, warum die islamische Religion nicht nur die spirituelle Beziehung zwischen Menschen und ihrem Schöpfer regelt, sondern auch die Fundamente für die nicht-religiösen sozialen und kulturellen Beziehungen der Menschen im Alltag untereinander, die Beziehungen der Menschen zu der Schöpfung bzw. Umwelt und die Beziehungen der Menschen zu ihrem Schöpfer reglementiert und vorgibt35. Der Islam betrachtet das menschliche Leben in seiner Totalität und bietet für jede Situation den Weg bzw. die Rechtleitung36. Das Diesseits und das Jenseits sind eng miteinander verbunden. Jede diesseitige menschliche Handlung wird Auswirkungen im Jenseits haben, und der Mensch wird die Konsequenzen seiner Taten tragen müssen37. Die Aufgabe der Propheten (a. s.) bezog sich somit nicht nur auf das spirituelle Verhältnis zwischen Schöpfer und Mensch, sondern umfasste auch die Purifizierung des Glaubens der Menschen und ihrer Ideen, sowie die Korrektur ihrer Wahrnehmung der Realität38. Hierdurch sollte die Seele von allen negativen Eigenschaften gereinigt werden, so dass diese positive moralische Kraft dazu genutzt werden konnte, die Gesellschaft und das soziale Zusammenleben von Grund auf zu erneuern und zu rekonstruieren39. Dies war die Mission aller Propheten Gottes40, insbesondere die des Propheten Muhammad (s. a. w. s.), da er nach islamischer Sicht der letzte Prophet (s. a. w. s.) war, dem die Rechtleitung zur gottgewollten Ordnung offenbart wurde41. Diese gottgewollte Ordnung ermöglicht aus islamischer Sicht ein ideales Zusammenleben der Menschen42. Der Islam regelt demnach das Leben des Einzelnen, aber auch der Gesellschaft nach der göttlich offenbarten Rechtleitung43. Eine Beschränkung der Religion auf das private Leben des Individuums ist folglich nicht möglich. Allein der Begriff Islam bedeutet Frieden und Unterwerfung unter Gott durch Anerkennung seiner Gesetze und seiner Propheten (a. s.)44. Das Wort Muslim, welches von dem Wort Islam abgeleitet wird, bedeutet: derjenige, der sich einzig und allein Gott unter34
Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 3. Muhammed Hamidullah, Islam’a Giris¸, 2003, 69; Sayyid Abul A’la Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 53. 36 Muhammed Hamidullah, Islam’a Giris ¸, 2003, 65. 37 Hans Küng, Islam, 2007, 84 f. 38 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 29. 39 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 30. 40 Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards Understanding Islam, 1979, 43. 41 Hans Küng, Islam, 2007, 91 ff.; vgl. Abdul Rahman Al-Shea, Muhammad der Gesandte Allah’s, k. D. 9 ff., 63 ff.; Osman Nuri Topbas¸, Muhammad – Der Prophet der Barmherzigkeit, 2004, 47 ff. 42 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 30. 43 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 29 f. 44 Abdur-Rahmaan ibn Salih Al-Mahmood, Man-Made Laws vs. Shari’ah, 2003, 30; Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards Understanding Islam, 1979, 15. 35
II. Die islamische Welt nach der Entkolonialisierung
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wirft45. Die islamische Theologie betrachtet alle Propheten (a. s.) der monotheistischen Religionen und deren Gemeinden als ursprüngliche Muslime46. Die jetzigen Formen dieser monotheistischen Religionen sind aus islamischer Sicht, sofern sie von den Offenbarungen Gottes an seinen letzten Propheten Muhammad (s. a. w. s.) und dessen Beispiel abweichen, von Menschen verursachte Abirrungen von der ursprünglich an diese Gemeinden offenbarten Botschaft Gottes47. Im Westen werden die Politikwissenschaft, die Staatslehre und das Staatsrecht von der Religion getrennt48. Das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und das Zusammenleben der Menschen wird dabei nicht von der Religion bestimmt49. Im Islam ist auch dieser Bereich Teil der Religion50. Islam erlaubt daher keine vollständige Trennung von Staat und Religion51. Der Staat und das Staatsrecht müssen im Einklang mit der Religion stehen52. Konsequent ist somit, dass sich Muslime dazu verpflichtet fühlen an politischen Prozessen zu partizipieren und nach ihrem Verständnis Staaten zu gründen53.
II. Die islamische Welt nach der Entkolonialisierung Die gottgewollte Ordnung zu verwirklichen ist und war Ziel jeder muslimischen Gruppierung, die die islamische Geschichte hervorgebracht hat. Die Abschaffung des Kalifats im Jahr 1924 hat die islamische Welt daher zutiefst getroffen54, auch wenn dieses Amt die politische Einheit des Islams und die gottgewollte Ordnung nur noch schwach symbolisiert hatte55. Die Übernahme des Nationalstaatsgedankens in den vom Kolonialismus diktierten Grenzen war ein 45
Kemal A. Faruki, Islamic Jurisprudence, 1994, 6 f. Vgl. Sayyid Abdul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 188; Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards Understanding Islam, 1979, 42 ff.; Hans Küng, Islam, 2007, 49 ff. 47 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 27 f. 48 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 10 f. 49 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 48. 50 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 123; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 5 f.; Isma’il Raji al-Faruqi, Viability of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shariah, Ummah and Khilafah, 1987, 112–128, 116. 51 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 4; vgl. Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 128 f. 52 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 4; Majid Khadduri, The Islamic Law of Nations, 1966, 10 ff. 53 Muhammad Assad, Principles of State and Government in Islam, 2001, 10 ff.; Majid Khadduri, The Islamic Law of Nations, 1966, 10 ff. 54 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 78; Murad Hofmann, Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 113. 55 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 78 ff. 46
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A. Einleitung und Grundlagen
Resultat, mit dem sich muslimische Gelehrte abfinden mussten56. Das islamische Einheitsideal wurde allerdings von der Einsicht bewahrt, dass es für die Zukunft des Islams weniger auf die Einheit von Staat und Kalifat ankommt als auf die Einheit von Gemeinschaft (umma) und dem islamischen Recht (sharia)57. Dies bedeutete konkret, dass mehrere Staaten nebeneinander existieren konnten, sofern sie islamisch waren, d.h. sofern in ihnen islamisches Recht praktiziert wurde58. Schon Gamal Al-Din Al Afghani und Muhammad Abduh, zwei führende Persönlichkeiten und Vordenker der sich neu bildenden islamisch-politischen Bewegungen im 19. Jahrhundert, akzeptierten, dass der islamische Staat als Territorialgebilde nicht von dem Konzept der umma eingeschränkt wird, da diese als eine moralische Einheit über jegliche Staatsgrenzen hinausreicht59. Die nach der Entkolonialisierung neu entstandenen Staaten übernahmen aber nicht nur die Idee des Nationalstaats vom Westen, sondern sie importierten auch andere politische Ideen wie Säkularismus, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie60. Diese Formen der Staatsgestaltung wurden den muslimischen Bevölkerungen dieser neu entstandenen Staaten je nach Überzeugung der Herrscher aufgedrängt61. Trotz dieser importierten Ideen endeten die meisten neu entstandenen Staaten in Einmann- oder Einpartei-Diktaturen und Willkürherrschaften62. Diese 56 Isma’il Raji al-Faruqi, The Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shariah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 130; Murad Hofmann, Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 113; Dirk Berg-Schlosser (Hrsg.), Democratization – The state of the art, 2007, 17; Bassam Tibi, Das Arabische Staatssystem, 1996, 29; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 39. 57 Isma’il Raji al-Faruqi, The Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shariah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 130. 58 Murad Hofmann, Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 123; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144. 59 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 30 f. 60 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 166 ff.; Bassam Tibi, Das Arabische Staatssystem, 1996, 31 ff.; Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 374; Murad Hofmann, Islam, 2006, 89; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 43. 61 Vgl. Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 89; Sayyid Abul A’La Maudoodi, Islam Today, 2000, 35 ff.; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 85 ff., 88 ff.; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 43. 62 Bassam Tibi, Das Arabische Staatssystem, 1996, 34 ff.; vgl. Smail Balic, Islam für Europa, 2001, 35; John L. Esposito, Islam and Civil Society, in: John L. Esposito/François Burgat (Hrsg.), Modernizing Islam, 2003, 69–103, 74; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 19; Arnold Hottinger, Ideologie und Personenkult – Der Drang zum „Starken Mann“, in: Michael Lüders (Hrsg.), Der Islam im Aufbruch, 1993, 45–63, 45 ff.
II. Die islamische Welt nach der Entkolonialisierung
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Entwicklung kann auch bei den neu entstandenen Staaten im zentralasiatischen Raum, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion gebildet haben, verfolgt werden63. Die einzig ernstzunehmende Opposition zu den fast stalinistisch anmutenden Herrschern dort bilden islamisch-politische Bewegungen, die die Gründung von islamischen Staaten anvisieren64. Die Reaktion der Muslime auf diese Willkürherrschaften war die Suche nach Möglichkeiten, wie diese Regime und Missstände durch die Religion, insbesondere durch die Implementierung des islamischen Rechts, beseitigt werden können65. Dies zeigt, dass durch das Scheitern der importierten politischen Ideen in der islamischen Welt eine Rückbesinnung auf die Religion erfolgt. Lösungen zu den praktischen Problemen von diktatorischen Regimen, von Scheindemokratien, von Armut und von Rückständigkeit wurden nicht wie im Westen in der Trennung von Staat und Religion und der Verwirklichung von Individualrechten gesucht66. Dies ist in dieser Form, wie zuvor aufgezeigt, im Islam aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Religion und sozialem menschlichem Zusammenleben nicht möglich67. Lösungen zu all diesen Problemen werden im Islam innerhalb der Religion sondiert. Diese Rückbesinnung ist allerdings keine neue Strömung oder neue Bewegung. Vielmehr ist sie die Fortsetzung des Ideals, welches schon seit der Offenbarung an den Propheten Muhammad (s. a. w. s.) existiert, die gottgewollte Ordnung im Diesseits praktisch zu verwirklichen. Dieses Ideal der gottgewollten Ordnung wurde im islamischen Staatsrechstverständnis unzweifelhaft in dem vom Propheten Muhammad (s. a. w. s.) gegründeten Staat von Medina verwirklicht68. Bis zu seinem Tode hatte dieses Ideal Bestand. Ab diesem Zeitpunkt sahen sich Muslime jedoch mit dem Problem konfrontiert, wie dieses Ideal praktisch umzusetzen und weiterzuführen ist69. Daher gab es bereits in diesem frühen Stadium verschiedene Ideen und Konzepte, wie der ideale islamische Staat, in dem die gottgewollte Ordnung verwirklicht wird, auszusehen 63 Vgl. Berna Turam, Between Islam and State, 2007, 91; Zhenis Kembayev, The Rise of Presidentialism in Post-Sovjet Central Asia: The Example of Kazakhstan, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 431–446, 438 ff. 64 Berna Turam, Between Islam and State, 2007, 91; vgl. Zhenis Kembayev, The Rise of Presidentialism in Post-Sovjet Central Asia: The Example of Kazakhstan, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 431–446, 436 f. 65 Vgl. Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 53 ff.; Bassam Tibi, Das Arabische Staatssystem, 1996, 45 ff. 66 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 19 ff. 67 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 25 f., 123 ff. 68 Muhammed Hamidullah, Islam’a Giris ¸, 2003, 24 f.; Sayyid Abul A’La Maudoodi, Islam Today, 2000, 13 ff.; Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 41. 69 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 17 f.; vgl. John L. Esposito/François Burgat (Hrsg.), Modernizing Islam, 2003, 3 ff. (Vorwort).
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A. Einleitung und Grundlagen
hat. Diese Frage stellte sich in der 1.400-jährigen Geschichte des Islams, in der zahlreiche Staaten von Muslimen gegründet wurden, immer wieder neu. Die Antwort hierauf suchten, die in der jeweiligen Epoche lebenden Muslime, genau wie heute, in der Religion.
III. Stand der Forschung Trotz einer großen Zahl von Veröffentlichungen im Westen über islamisches Recht sind Werke, die speziell die sharia unter dem Aspekt ihrer Rolle im Verfassungs- bzw. im Staatsrecht untersuchen, äußerst selten70. Insbesondere zu den Fragen der Wahl des Staatsoberhauptes, dem shura-Prinzip, dem Verhältnis der Staatsgewalten zueinander und den fundamentalen Rechten des Individuums in der sharia, den praktisch wohl wichtigsten Anknüpfungsbereichen zwischen der sharia und modernem westlichem Staatsrecht, fehlen eingehende wissenschaftliche Untersuchungen, welche die Standpunkte des islamischen Rechtes hierzu wiedergeben71. Das Fehlen dieser wissenschaftlichen Untersuchungen wiegt umso schwerer, da, wie zuvor geschildert, die staatsrechtlichen Aspekte der sharia nicht nur von Gelehrten, sondern auch von islamisch organisierten Oppositionen immer öfter berücksichtigt werden und der Ruf nach islamischen Staaten und der Implementierung des islamischen Rechts immer lauter wird72. Natürlich hat diese Problematik als isolierter Streitstand der klassischen sharia, Anlass zu zahlreichen Publikationen im arabisch-islamischen Raum gegeben. Angefangen schon in den ersten Jahrhunderten nach der hidschra73, schrieben islamische Gelehrte Werke über Staatsrecht bzw. Staatsführung74 oder erwähnten in ihren Schriften zum islamischen Recht ihre Meinungen diesbezüglich. Hierzu gehören z. B. Muhammad al-Baqir (gest. 731)75, Ebu Nasr El-Farabi (870–950)76,
70 Vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 17 f. 71 Vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 17 f. 72 Christine Schirmacher/Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia, 2004, 56; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 19; Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/ Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 18. 73 Auswanderung des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) von Mekka nach Medina; vgl. Gottfried Hierzenburger, Der Islam, 2006, 28 ff. 74 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 15 f.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 40. 75 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 185 ff. 76 Ebu Nasr El-Farabi, Ideal Devlet, 9.–10. Jahrhundert.
III. Stand der Forschung
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Abu al-Hasan Al-Mawardi (974–1058)77, Abu Ya’la Al-Farra’ (990–1065)78, Hasan Nizamülmülk (1018–1092)79, Muhammed b. Turtusi (1059–1131)80, Takıyuddin Ahmed b. Abdulhalim Ibn Teymiye (1263–1328)81 und Abd-ar Rahman Abu Zayd ibn Muhammad Ibn Khaldun (1332–1406)82. Alle diese Gelehrten versuchten in ihren Werken Konzepte aufzuzeigen, wie in ihrem Umfeld die gottgewollte Ordnung zu verwirklichen ist und der islamische Staat auszusehen hat. Zur Zeit der Kolonialherrschaft entwickelten muslimische Gelehrte und politische Aktivisten Gegenbeispiele zur westlichen Unterdrückungs- und Eroberungspolitik und verstanden nicht nur die territoriale Befreiung der islamischen Gebiete als ihre Pflicht, sondern forcierten auch die Wiedereinführung des islamischen Rechts durch Gründung von islamischen Staaten, um koloniale Einflüsse zu beseitigen83. Hierbei sollten allerdings der technologische Fortschritt des Westens und erfolgreiche Entwicklungen, die im Einklang mit der sharia standen, übernommen werden84. In diesem Zusammenhang ist das Wirken von Gamal Al-Din Al-Afghani (1839–1897), Muhammad Abduh (1849–1905), Rasid Rida (1865–1935), Ajatollah Muhammad Husain Naini (1840–1936) und Hasan AlBanna (1906–1949) zu sehen. Ihre Ideen verleihen, nach Bassam Tibi, dem islamischen Antikolonialismus einen religiös-politischen Charakter85. Die zuvor genannten Persönlichkeiten, mit Ausnahme von Ajatollah Muhammad Husain Naini, sind Teil der sogenannten Salafiya-Bewegung86. Sie verstanden sich als Reformer des Islams, nicht indem sie Dogmen verwarfen und völlig neue Veränderungen herbeiführten, sondern indem sie auf neue Fragen und Sachverhalte Antworten in der Religion – und zwar bei den Primärquellen – suchten und so sharia-konforme, aber zeitgemäße Ergebnisse erzielten, die jedoch teilweise von klassischen Rechtsmeinungen abwichen87. Diese Bewegung unternahm den Ver77 Abu al-Hasan Al-Mawardi (nachfolgend Al-Mawardi), The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert. 78 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 125; Bd. I, 1981, 479, Fn. 200; Hanna Mikhail, Politics and Revelation, 1995, 59. Das staatstheoretische Werk von Abu Ya’la Al-Farra ist faktisch eine Kopie von Al-Mawardis Arbeit. 79 Hasan Nizamülmülk (nachfolgend Nizamülmülk), Siyasetname, 11. Jahrhundert. 80 Muhammed b. Turtus ¸i, Siyaset Ahlakı ve Ilkelerine dair, 11.–12. Jahrhundert. 81 Takıyuddin Ahmed b. Abduhalim Ibn Teymiye (nachfolgend Ibn Teymiye), Siyaset es-Siyasetü’s¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert. 82 Abd-ar Rahman Abu Zayd ibn Muhammad Ibn Khaldun (nachfolgend Ibn Khaldun), The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert. 83 Bassam Tibi, Das Arabische Staatssystem, 1996, 53; Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 14 f. 84 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 15. 85 Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 239. 86 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 14. 87 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 167 ff.; vgl. Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 116 f.
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A. Einleitung und Grundlagen
such, alle Neuerungen und Sonderlehren, die den Islam in den Jahrhunderten seines Bestehens überwuchert haben, mit einem Schlag zu beseitigen und zur ursprünglichen Botschaft des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) zurückzukehren88. Schriften zur Gestaltung eines islamischen Staates nahmen nach der Entkolonialisierung der islamischen Welt und der Abschaffung des Kalifats zu89. Denker, Gelehrte, Juristen und Theologen formulierten ihre Ideen und Gedanken zur Gestaltung eines islamischen Staates bzw. zur praktischen Umsetzung der sharia und der durch diese gewährleisteten fundamentalen Rechte. Dabei haben sich viele Gelehrte ausdrücklich mit diesen Themenbereichen auseinandergesetzt, andere haben im Gefüge von generellen Arbeiten über Islam und islamisches Recht dazu Stellung genommen. Hierzu gehören insbesondere Muhammed Hamidullah, Sayyid Abdul A’la Maududi, Seyyid Qutb, Muhammad Assad, Fathi Osman, Mumtaz Ahmad, Khalid M. Ishaque, Javid Iqbal, Fazlur Rahman, Ahmad Moussavi, Ajatollah Ruhollah Khumayni, Yusuf Al-Qaradawi, M. Bes¸ir Eryarsoy, Hayreddin Karaman, A. Akgündüz, Halil Inalcik, Muhammad Abd Al-Ra’uf, Ismail Raji Al-Faruqi, Hamid Enayat, Servet Armag˘an, Said Ramadan, Vehbe Zuhayli, Halis Demir und unzählige andere Muslime, die sich mit dieser Problematik beschäftigt haben. Auch im englischen Sprachraum wurden mehrere Arbeiten zum islamischen Staatsrecht bzw. Staatsverständnis veröffentlicht. Bei den meisten Werken liegt der Schwerpunkt allerdings auf politischen Fragen. Der rechtliche Aspekt eines islamischen Staates wird oftmals nicht konkretisiert und dargestellt90. Mögliche Gemeinsamkeiten mit westlichem Staats- und Staatsorganisationsrecht werden so gut wie nie herausgearbeitet. Die meisten dieser Autoren gehen nicht ausführlich auf die moderne Problematik ein und beschränken sich meist darauf, abstrakte Fragen zu erörtern und islamisches Staatsrecht und Staatsverständnis in Grundzügen vorzustellen91. Sherman A. Jackson unterteilt diese Arbeiten in seinem Werk „Islamic Law and the State“ grob in drei Kategorien: erstens in den normativ-juristischen Ansatz, zweitens in die historische Betrachtungsweise, und drittens in die diachronisch-theoretische Betrachtungsweise92. Diese Einteilung ist selbstverständlich nicht ausschließlich und viele Schriften enthalten Elemente und Inhalte aus allen 88 Safwat Halilovic, Der Islam und der Westen, 2006, 88; Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 14 f. 89 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 19. 90 Vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 17 f. 91 Vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 17 f. 92 Sherman A. Jackson, Islamic Law and the State, 1996, Introduction, XXXV.
III. Stand der Forschung
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drei Kategorien. So indiziert z. B. das Werk von Hamilton Alexander Roskeen Gibb „Some Considerations on the Sunni Theory of Caliphate“ 93, schon aufgrund des Titels, dass theoretische und historische Inhalte enthalten sind. Aber auch Schriften, die den Anspruch erheben sich eigentlich nur mit einem historischen muslimischen Gelehrten zu beschäftigen, wie Erwin I. J. Rosenthal’s Werk über die Ideen des Ibn Khaldun zum islamischen Recht und Staat, beinhalten Diskussionen über moderne Interpretationsmöglichkeiten und vernetzen moderne Ideen mit klassischen Standpunkten94. Die erste Kategorie, der normativ-juristische Ansatz, wird hauptsächlich von muslimischen Autoren bevorzugt. Dabei konzentrieren sich diese darauf, den Schwerpunkt nicht auf historische Angaben zu legen, sondern quran und sunna, die aufgezeichneten Handlungen und Reden des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) sowie das Beispiel des früh-islamischen Staates neuzeitlich zu interpretieren. Die muslimischen Gelehrten versuchen hierbei, Prinzipien und Konzepte aus den islamischen Hauptquellen der sharia zu verdeutlichen und zu identifizieren, um diese dann auf moderne Staatsstrukturen anzuwenden. Die implizierte Schlussfolgerung ist meist, dass trotz der islamischen Staatengeschichte, welche oftmals autoritäre Staaten hervorbrachte, islamisches Staatsverständnis und Staatstheorie vereinbar sind mit demokratischen Grundsätzen. Beispiele hierfür sind Muhammad Hashim Kamali’s „The Limits of Power in an Islamic State“ 95, Farooq Hassan’s „The Concept of State and Law in Islam“ 96 und Kemal A. Faruki’s „The Evolution of Islamic Constitutional Theory and Practice from 610 to 1926.“ 97 Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass viele historischen Aspekte des islamischen Staates und Staatsverständnisses, die eigentlich von griechischen, persischen und anderen vor-islamischen Quellen beeinflusst wurden und nicht durch die islamische Religion an sich zu rechtfertigen sind, sondern nur im Rahmen von historischen Gegebenheiten übernommen wurden, herausgefiltert werden. Dies hat zur Konsequenz, dass erstens islamisches Staatsverständnis von den Einflüssen der Geschichte befreit wird und zweitens, dass neue Wege zu pragmatischen und funktionalen neuzeitlichen Interpretationen eröffnet werden. Auf der anderen Seite werden in diesen Werken offensichtlich Einflüsse aus dem westlichen Staatsverständnis übernommen und damit eher als islamisch empfunden98. 93 Hamilton Alexander Roskeen Gibb, Some Considerations on the Sunni Theory of Caliphate – Studies on the Civilization of Islam, in: Stanford Jay Shaw/William Roe Polk (Hrsg.), Studies on the Civilization of Islam, 1962. 94 Erwin I. J. Rosenthal, Political Thought in Medival Islam – An Introdoctory Outline, 1958, 84–109. 95 Muhammad Hashim Kamali, The Limits of Power in an Islamic State, in Islamic Studies 28, 1989, 323–353. 96 Farooq Hassan, The Concept of State and Law in Islam, 1981. 97 Kemal A. Faruki, The Evolution of Islamic Constitutional Theory and Practice from 610 to 1926, 1971. 98 Sherman A. Jackson, Islamic Law and the State, 1996, Introduction, XXXVI f.
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A. Einleitung und Grundlagen
Der zweite Ansatz, die historische Betrachtungsweise, setzt die hauptsächlichen Akzente auf die tatsächliche islamische Staatengeschichte. Hier besteht das Ziel darin, das von den muslimischen Gelehrten hervorgehobene Ideal von der realen Geschichte zu trennen und eine objektive, historisch fundierte Gesamtbetrachtung des islamischen Staatsverständnisses und der islamischen Staatsentwicklung zu erlangen. Vertreter dieses Ansatzes sind Hamilton Alexander Roskeen Gibb’s „Constitutional Organization-Law in the Middle East“ 99, Noel J. Coulson’s „The State and the Individual in Islamic Law“ 100, W. Montgomery Watt’s „Islam‘da Siyasal Düs¸üncesinin Olus¸umu“ 101 und Panayiotis J. Vatikiotis’ „Islam and the State“ 102. Dieser Ansatz ist vorteilhaft weil objektiv historische Fakten analysiert und wiedergegeben werden, unabhängig von den durch muslimische Gelehrte formulierten theoretischen sowie idealen Ansprüchen. Auf der anderen Seite ist aber die Schwäche dieses Ansatzes, welchen Albert Hourani als den politisch-institutionellen Ansatz bezeichnet103, dessen zugrunde liegende Vermutung, dass die islamische Gesellschaft durch politische Macht kontrolliert wurde und dass historische muslimische Machthaber frei über Massen von passiven Untertanen herrschten104. Dieser Ansatz basiert zudem auf Theorien von historischen muslimischen Gelehrten, die oft in Krisenzeiten Ausnahmetatbestände für die Staatsherrschaft aufgestellt haben105. Dass diese Ausnahmetatbestände von Machthabern missbraucht wurden, berücksichtigen diese Arbeiten meistens nicht. Meinungen von klassischen muslimischen Gelehrten darüber, wie der Staat eigentlich im Idealfall strukturiert sein sollte, werden in diesem Kontext nicht herangezogen und analysiert. Der Fokus liegt auf tatsächlichen historischen Gegebenheiten, die aber nur einseitig interpretiert werden106. Die dritte Kategorie, die diachronisch-theoretische Betrachtungsweise, zielt darauf ab, Theorien von muslimischen Juristen, Theologen, Gelehrten und Denkern zu analysieren, die in einem Zeitraum von mehreren Jahrhunderten über den Staat und das Staatsverständnis verfasst wurden. Beispiele hierfür sind Ann K. S. Lambton’s „State and Government in Medieval Islam“ 107 und Erwin I. J. Rosenthal’s „Political Thought in Medieval Islam“ 108. Diese Werke enthalten kritische
99 Hamilton Alexander Roskeen Gibb, Constitutional Organization – Law in the Middle East, 1975. 100 Noel J. Coulson, The State and the Individual in Islamic Law, in International and Comparative Law Quarterly Vol. 6, 1957, 49–60. 101 W. Montgomery Watt, Islam‘da Siyasal Düs ¸üncesinin Olus¸umu, 2001. 102 Panayiotis J. Vatikiotis, Islam and the State, 1993, 19 ff. 103 Albert Hourani, History – The Study of the Middle East, 1976, 114. 104 Sherman A. Jackson, Islamic Law and the State, 1996, Introduction, XXXV; Albert Hourani, History – The Study of the Middle East, 1976, 114. 105 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 27. 106 Sherman A. Jackson, Islamic Law and the State, 1996, Introduction, XXXVII. 107 Ann K. S. Lambton, State and Government in Medieval Islam, 1981.
III. Stand der Forschung
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Textanalysen eines breiten Spektrums von muslimischen Gelehrten, die ihre Ideen über einen langen Zeitraum verteilt entwickelt haben. Hierdurch werden die verschiedenen und breitgefächerten Meinungen über Staat und Staatsverständnis im Islam hervorgehoben. Auf der anderen Seite aber ist der Umstand, dass so viele unterschiedliche Meinungen wiedergegeben werden, der Grund dafür, dass die einzelnen Theorien und die historischen Hintergründe nur verkürzt dargestellt werden109. Eine weitere bemerkenswerte Arbeit in englischer Sprache ist das aktuelle Sammelwerk von Rainer Grote und Tilmann J. Röder mit dem Titel „Constitutionalism in Islamic Countries – Between Upheaval and Continuity“ 110. Es beschäftigt sich mit konzeptionellen Fragen der Verfassungstheorie im Islam und geht dabei auf historische Beispiele und neuzeitliche Ansätze und Entwicklungen ein. Hierbei werden aktuelle verfassungsrechtliche Entwicklungen in der islamischen Welt vorgestellt, Themen wie Gewaltenteilung sowie verfassungstheoretische Grundsätze aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und hervorgehoben. Das Werk enthält viele Beiträge von westlichen und muslimischen Juristen. Zu diesen bedeutenden Rechtsfragen ist in Deutschland eher wenig veröffentlicht worden, obwohl Deutschland in der Vergangenheit viele der größten Islamrechtler und Orientalisten hervorgebracht hat111. Es gibt einige Bücher über die sharia, dabei wird islamisches Staats- und Staatsorganisationsrecht aber nur am Rande behandelt. Die Werke deutscher Orientalisten und Juristen haben heute noch eine gewisse Aktualität, allerdings erfassen sie nicht, das breite Spektrum der Interpretationsmöglichkeiten des islamischen Rechts bezogen auf Staatsverständnis und Staatsorganisation. Außerdem geben diese Werke, sofern sie islamisches Staats- und Staatsorganisationsrecht berücksichtigen, meist nur die klassischen Auffassungen wieder. Es fehlt die Berücksichtigung von und die Auseinandersetzung mit modernen Interpretationsansätzen von muslimischen Gelehrten gerade aus der Zeit der Entkolonialisierung und der darauf folgenden Gründung von Territorialstaaten, die für sich den Anspruch erheben islamische Staaten zu sein. Die neueren Texte befassen sich mit politischen Fragen und groben Beschreibungen der Grundkonzepte eines islamischen Staates, nicht aber mit rechtlichen Fragen und Problemen112. Daher ist es nicht verwunderlich, dass 108 Erwin I. J. Rosenthal, Political Thought in Medieval Islam – An Introdoctory Outline, 1958. 109 Sherman A. Jackson, Islamic Law and the State, 1996, Introduction, XXXVIII. 110 Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012. 111 Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 18. 112 Vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 18.
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A. Einleitung und Grundlagen
zwar viele Werke mit dem Titel „Islam und Demokratie“ existieren, diese aber eher den Politik- und Sozialwissenschaften zuzuordnen sind. Rechtsvergleichende Arbeiten, die Vergleiche zwischen islamischen Staaten untereinander oder islamischen Staaten und westlichen Staaten zum Gegenstand haben, in denen Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden, existieren so gut wie gar nicht. Ebenso wenig existiert eine abstrakte umfangreiche Arbeit über islamisches Staatsrecht, welche die Besonderheiten dieses Systems definiert und aufzeigt und der ersten Kategorie, somit dem normativ-juristischen Ansatz, zuzuordnen ist113. Eine normativ-juristische Aufarbeitung dieses komplexen Themas, die zumindest innerhalb der Rechtswissenschaft dem Kampf der Kulturen einen Riegel vorschieben könnte, fehlt. Gudrun Krämer vertritt in ihrer Habilitationsschrift „Gottes Staat als Republik: Reflexionen zeitgenössischer Muslime zum Islam“ die Ansicht, dass sich die politisch-gesellschaftlichen Bewegungen in der islamischen Welt mehrheitlich auf den Islam bezögen, also etwas mit diesem zu tun haben müssten114. Damit stellt sie sich gegen Meinungen, die davor warnen alle Handlungen und Lebensäußerungen von Muslimen mit dem Islam gleichzusetzen115. In ihrem Werk evaluiert sie die Haltung zeitgenössischer religiöser Vertreter zu Islam, Menschenrechten und Demokratie. Hierbei beschäftigt sie sich aber fast ausschließlich mit Interpretationen von als fundamentalistisch kategorisierbaren Persönlichkeiten. Implizit stellt sie diese als Interpreten des Islams dar, da sie in der Einführung ihrer Arbeit schreibt, dass der Islam „überspitzt ausgedrückt, weitgehend das (ist), was Muslime an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit als islamisch definieren und praktizieren“ 116. In zutreffender Weise zeigt sie Schwächen in Staatskonzepten von islamisch-politischen Bewegungen auf. Allerdings beruhen diese Ergebnisse auf der Analyse der Ansichten, die sie in ihrem Werk verwendet. Auf andere Interpretationsmöglichkeiten oder klassische bzw. traditionelle Ansichten geht sie nicht ein. Daher sind ihre Ergebnisse nur in diesem eingeschränkten Kontext gültig und können nicht dazu benutzt werden das politische Entwicklungspotential der islamischen Gesellschaft zu bewerten117. Tilman Nagel zeigt in seinem zweibändigen Werk „Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam“ detailliert die Entwicklung des islamischen Staatsverständ113 Vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 18. 114 Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik: Reflexionen zeitgenössischer Muslime zum Islam, 1999, 22. 115 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 31. 116 Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik: Reflexionen zeitgenössischer Muslime zum Islam, 1999, 25. 117 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 32.
IV. Ziel der Arbeit
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nisses ab dem Tode des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) bis zur iranischen Revolution auf. Dabei geht er auch auf neuere Tendenzen ein und stellt Verknüpfungen zwischen diesen und den klassischen Meinungen her118. Auch in seinem Werk „Islamisches Recht“ widmet sich Nagel in dem Abschnitt „An die Scharia gebundene Ordnungspolitik“ einigen Fragen der islamischen Staatsrechtsproblematik, dies allerdings nur sehr rudimentär119. Mathias Rohe geht in seiner Zusammenfassung „Das Islamische Recht – Geschichte und Gegenwart“ sowohl auf das klassische Verständnis des islamischen Staats- und Verwaltungsrechts als auch auf neuzeitliche Interpretationen des islamischen Staats- und Verwaltungsrechts ein120. Die neuzeitlichen Interpretationen untersucht er dabei insbesondere unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit121. In diesem Kontext ist auch das aktuelle Sammelwerk von Peter Scholz und Naseef Naeem „Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011“ erwähnenswert. Es enthält Rechtsvergleiche von Verfassungen in islamischen Ländern sowie Beiträge von verschiedenen Autoren zu grundsätzlichen Fragen im islamischen Staat122. Eine interessante Arbeit ist die Dissertation von Günter Schaller über die Verfassung von Medina123 als Grundbaustein eines islamischen Staates, obwohl viele muslimische Rechtsgelehrte mit einigen Schlussfolgerungen ihre Probleme haben dürften. Er klassifiziert beispielsweise denn früh-islamischen Staat von Medina nicht als einen islamischen Staat124. Eine äußerst deskriptive deutschsprachige Arbeit über die politische Struktur des islamischen Staatswesens zur Zeit des Propheten Muhammad (s. a. w. s.), existiert von Salah E. Humodi125.
IV. Ziel der Arbeit Ziel dieser Arbeit ist es, Kernbereiche des islamischen Staats- und Staatsorganisationsrechts darzustellen, seinen Einfluss auf das Staatsrecht von einigen ausgewählten Territorial- bzw. Nationalstaaten, die sich als islamisch definieren, hervorzuheben und mögliche Gemeinsamkeiten mit westlichem Staatsrecht und Staatsrechtsverständnis aufzuzeigen. Hierdurch soll bewiesen werden, dass in der 118
Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I–II, 1981. Tilman Nagel, Islamisches Recht, 2001. 120 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 140 ff., 242 ff. 121 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 243 ff. 122 Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011. 123 Günter Schaller, Die Gemeindeordnung von Medina, 1985. 124 Günter Schaller, Die Gemeindeordnung von Medina, 1985, 252 f. 125 Salah E. Humodi, Das islamische Staatswesen – Studien zur politischen Struktur zur Zeit Muhammads, 1983. 119
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A. Einleitung und Grundlagen
islamischen Staatenwelt eine strenge Trennung von Religion und Staat wie im Westen praktiziert, nicht notwendig ist, um fundamentale Rechte für Individuen zu gewährleisten und rechtsstaatliche Strukturen und Institutionen zu etablieren. Dabei werden die sharia-relevanten Teile über Staatsrecht unter Heranziehung sunnitischer, schiitischer, traditioneller und liberaler Ansichten herausgearbeitet. In diesem Kontext wird nicht nur auf die Werke von klassischen Juristen, sondern auch auf neuzeitliche Werke zurückgegriffen. Außerdem werden neuzeitliche Kodifizierungen bzw. Verfassungen von Staaten, die sich als islamisch definieren, unter dem Aspekt untersucht, wie sie die sharia-relevanten Teile, die sich auf das Staatsrecht beziehen, umsetzen. Die Arbeit ist der ersten Kategorie, dem normativ-juristischen Ansatz zuzuordnen. Allerdings versucht die Arbeit nicht zwingend die Vereinbarkeit von westlich-liberaler Demokratie und Islam zu beweisen, sondern hervorzuheben, das im islamischen Staatsverständnis Staatsformen hergeleitet werden können, die islamische Demokratieformen, mithin sui generis-Demokratien darstellen. Letzlich soll diese Forschung, durch das bewusste Aufzeigen von Parallelen im Staatsrecht, auch dazu führen, dass Muslime die im Westen leben, sich mit ihren „neuen“ Heimatsstaaten verbunden fühlen und sich mit diesen identifizieren. Weiterhin wird durch diese Arbeit verdeutlicht, dass die mehrheitlich islamische Welt Willkürherrschaften ausgesetzt ist, die mit dem Islam in keiner Weise zu rechtfertigen sind.
V. Problemstellung Sofern Gemeinsamkeiten im weslichen und islamischen Staats- und Staatsorganisationsrecht ermittelt werden sollen, muss zunächst einmal definiert werden, was Staats- und Staatsorganisationsrecht überhaupt ist, welche Quellen es hat, welche Regelungsinhalte es aufweist und wie diese unterschiedlichen Rechtssysteme mit dem Subjekt Staat umgehen. Ein Vergleich von westlichem Staats- und Staatsorganisationsrecht und islamischem Staats- und Staatsorganisationsrecht ist äußerst schwierig, da es keine Völkerrechtssubjekte gibt, die in diesem Sinne analysiert werden könnten. Weder existiert ein Staat, der von allen Bewohnern des sogenannten westlichen Kulturkreises als der ideale westliche Staat empfunden wird, noch existiert ein Staat, der von den rund 1,3 Milliarden Muslimen auf der Welt als der ideale islamische Staat verstanden wird. 1. Abstrakte Grundwerte im westlichen Staatsrecht Es stellt sich demnach bereits die Frage, ob ein abstraktes westliches Staatsund Staatsorganisationsrecht überhaupt existiert bzw. in westlichen Staaten abstrakte einheitliche Grundwerte verbindlich sind. Es scheint, als spreche allein
V. Problemstellung
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schon das Vorhandensein von verschiedenen Staatsformen – unter den zum westlichen Kulturkreis zählenden Staaten – dagegen. Einige dieser Staaten sind Republiken, andere konstitutionelle Monarchien. Manche sind föderalistisch, andere zentralistisch organisiert. In einigen Staaten wird strenger Laizismus und Säkularismus praktiziert, während andere Staaten den religiösen Charakter bzw. die religiösen Wurzeln hervorheben. In gewissen Staaten wird das Staatsoberhaupt direkt gewählt und hat große Vollmachten und Einfluss, in anderen Staaten hat das Staatsoberhaupt nur eine repräsentative Rolle und wird indirekt durch Vertreter gewählt. Einige Staaten sind präsidiale Republiken, andere Staaten sind parlamentarische Republiken. In manchen Staaten wird eine strenge Trennung der Gewalten praktiziert, während andere Staaten eher ein Modell umsetzen, in dem die Gewalten miteinander verflochten sind und ineinander übergehen. All diese exemplarisch aufgezählten und voneinander abweichenden Formen von sogenannten westlichen Staaten indizieren auf den ersten Blick, dass kein einheitliches westliches Staatsrecht existiert. Auf den zweiten und genaueren Blick offenbart sich jedoch, dass westliche Staaten fundamentale Fragen tatsächlich ähnlich lösen. In fast allen Verfassungen sind z. B. Begriffe wie Demokratie, Menschenrechte und Gewaltenteilung enthalten126. Hieraus kann geschlossen werden, dass in diesen Staaten das Volk an der Herrschaft partizipiert, die von dem pouvoir constituant geschaffene Ordnung Staatsmacht auf verschiedene Gewalten verteilt und der Staat in seinem Verhältnis zum Bürger fundamentale Rechte beachten und gewährleisten muss127. Ist dies verwirklicht, so kann von einem westlichen Staat bzw. westlichem Staatsund Staatsorganisationsrecht ausgegangen werden. Unter dem Begriff westliche Staaten bzw. westliches Staats- und Staatsorganisationsrecht ist somit ein solcher Staat und solches Staats- und Staatsorganisationsrecht zu verstehen, der bzw. das in seinem Kern ein vergleichbares Verständnis von dem Verhältnis der Herrschaft zu den Beherrschten aufweist und eine vergleichbare praktische Umsetzung dieses Verständnisses verwirklicht. In den Verfassungen dieser Staaten sind – wie bereits erwähnt – ähnliche Konzepte, die dieses Verhältnis zwischen Herrschaft und den Beherrschten regulieren, auffindbar. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass alle Staaten diese Begriffe gleich auslegen und die praktische Ausübung identisch handhaben. Die zuvor aufgezählten möglichen Beispiele von Staatsorganisationen, die als westlich bezeichnet werden können, belegen dies. Die Parallele zwischen diesen Staatsmodellen besteht darin, dass in deren Verfassungen Begriffe wie Demokratie, Gewaltenteilung und Menschenrechte enthalten sind und deren praktische Umsetzung gewährleistet wird. Diese formulierten
126 Jürgen Hartmann, Westliche Regierungssysteme: Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles Regierungssystem, 2005, 44 ff.; vgl. Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 526 f. 127 Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 526 ff.
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A. Einleitung und Grundlagen
Grundwerte bzw. Grundprinzipien dienen letztlich im Kern dem Schutz der individuellen Freiheit128. Das westliche Staats- und Staatsorganisationsrecht ist daher als ein Vehikel zu betrachten, durch das hauptsächlich ein Maximum an individuellen Freiheitsrechten eingeräumt und geschützt werden soll. Flankiert werden diese Grundprinzipien von der Lehre des Naturrechts. Arno Barruzzi hebt hervor, dass Naturrecht in der Vergangenheit unterschiedlich definiert wurde, indem er schreibt: „Naturrecht gibt es als das Recht des von Natur aus Stärkeren (sophistisch), als ewiges göttliches Recht (stoisch und christlich), als angeborenes Recht (neuzeitiges und heutiges Menschenrechtsverstädnis), als Vernunftrecht (u. a. Hegel), als politisches Recht (Aristoteles) und schließlich als richtiges Recht (Radbruch)129 “. Nach dem heute geltenden Verständnis ist jeder Mensch unabhängig von Geschlecht, Alter, Ort, Staatsgehörigkeit oder der Zeit in der er lebt mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet130. Diese werden als vor- und überstaatliche „ewige“ Rechte angesehen, die dem possitiven Recht übergeordnet sind131. Zum Schutz dieser Rechte ist die Etablierung einer funktionierenden Staatsgewalt, die sich diesem Ziel widmet, zwingend notwendig132. Dieses Grundverständnis bildet die Basis für das westliche Staats- und Staatsorganisationsrecht. Erst wenn dieser gemeinsame Kernbereich, der zwingend diesem Zweck unterworfen sein muss, verwirklicht wird, kann der jeweilige Staat als westlich, mit westlichem Staatsrecht klassifiziert werden. Der Entwurf für den Vertrag über eine Verfassung von Europa bzw. der EU Verfassung133 z. B. – der mittlerweile zur Rechtsgeschichte der EU gehört – enthält in Art. 1 Abs. 2 EEUV eine Aufzählung von gemeinsamen Grundsätzen, die alle Mitgliedstaaten verbindet und die alle Mitgliedstaaten gemein haben. Dort werden explizit Begriffe wie Demokratie, Wahrung der Menschenrechte und über den Begriff Rechtsstaatlichkeit auch die Gewaltenteilung erwähnt. Die Hervorhebung dieser Begriffe wird als Grundeinstellung definiert, die sich durch eine besondere Festigkeit oder Überzeugung von ihrer Richtigkeit auszeichnet134. In Art. 1 Abs. 2 EEUV werden die bisherigen Bestimmungen, die die Grundsätze der EU betreffen, insbesondere aus der Präambel zum EEUV sowie aus Art. 6 Abs. 1 EEUV, in einer einheitlichen Form zusammengefasst. Die Norm greift den Inhalt von Art. 6 Abs. 1 128
Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 528. Arno Barruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, 2006, 15 ff. 130 Vgl. Jan Rolin, Der Ursprung des Staates, 2005, 27 f.; Arno Barruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, 2006, 21 ff. 131 Vgl. Jan Rolin, Der Ursprung des Staates, 2005, 27 ff.; Arno Barruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, 2006, 21 ff. 132 Vgl. Jan Rolin, Der Ursprung des Staates, 2005, 16 ff. 133 Nachfolgend EEUV. 134 Christian Calliess/Matthias Ruffert, Verfassung der Europäischen Union – Kommentar der Grundlagenbestimmungen, 2006, 35, Rn. 17. 129
V. Problemstellung
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EEUV auf, nach dessen Wortlaut die EU auf den Grundsätzen der Freiheit, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie auf der Rechtsstaatlichkeit beruht. Indem Art. 6 Abs. 1 EEUV gleichzeitig festlegt, dass diese Grundsätze allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, formuliert er ein Homogenitätsgebot zwischen EEUV und mitgliedstaatlichen Verfassungen135. Er hätte, sofern die EEUV in Kraft getreten wäre, eine Art Verfassungskern der EU dargestellt, indem in Form von „Grundsätzen“ eine Wertebasis formuliert wird. Durch diese Formulierung wurde aber nicht verlangt, dass z. B. der Demokratiebegriff in den Mitgliedstaaten gleich umgesetzt wird. Vielmehr ist und wäre die konkrete Ausprägung des Demokratiebegriffs Sache der Mitgliedstaaten. Dabei ist anerkannt, dass es bei der konkreten Umsetzung z. T. erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten geben kann136. Das Gleiche gilt bzw. galt für die Begriffe Achtung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit137. Nachdem die Ratifizierung des EEUV aufgrund von Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden scheiterte, unterzeichneten die Mitglieder der EU den sogenannten „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ 138. Inhaltlich übernahm der VL die wesentlichen Elemente des EEUV139. Anders als der EEUV ersetzt der VL den EU- und EG-Vertrag aber nicht, sondern modifiziert diese nur140. Die Grundwerte Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören sind in Art. 1a VL aufgelistet und es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Werte allen Mitgliedsstaaten gemein sind141. Interesanter Weise efolgt dies sogar noch vor der Norm über die Ziele der Union142. Hierdurch wird explizit zum Ausdruck gebracht, dass die EU und die Mitgliedstaaten ein gemeinsames 135 Christian Calliess/Matthias Ruffert, Verfassung der Europäischen Union – Kommentar der Grundlagenbestimmungen, 2006, 34, Rn. 12. 136 Christian Calliess/Matthias Ruffert, Verfassung der Europäischen Union – Kommentar der Grundlagenbestimmungen, 2006, 38, Rn. 25. 137 Christian Calliess/Matthias Ruffert, Verfassung der Europäischen Union – Kommentar der Grundlagenbestimmungen, 2006, 36 f., Rn. 22 f., 40, Rn. 31. 138 Nachfolgend VL; vgl. Andreas Haratsch/Christian Koenig/Matthias Pechstein, Europarecht, 7. Auflage, 2010, 14, Rn. 34; Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Hermann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2008, 22 f. 139 Andreas Haratsch/Christian Koenig/Matthias Pechstein, Europarecht, 7. Auflage, 2010, 15, Rn. 38. 140 Andreas Haratsch/Christian Koenig/Matthias Pechstein, Europarecht, 7. Auflage, 2010, 15, Rn. 38. 141 Christian Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 86. 142 Vgl. Art. 1a VL und Art. 2 VL; Markus Möstl, Verfassung für Europa, 2005, 33 f.; Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Hermann, Die neue Verfassung für Europa, 2005, 55.
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A. Einleitung und Grundlagen
Wertefundament haben und sich von einem europäischen Staaten- und Verfassungsverbund zu einem Werteverbund, in dem die angestrebte „Kern“-Homogenität eine rechtliche Gestalt erhält, weiterentwickelt haben143. Der Wortlaut hat sich dabei gegenüber der Vorgängernorm insoweit geändert, als der EEUV davon ausging, dass die Union auf Grundsätzen beruht, während im VL normiert ist, dass die Union sich auf diesen „Werten“ gründet144. Hierdurch ergeben sich letztlich keine inhaltlichen Änderungen, es wird allerdings verdeutlicht, dass diese „neue“ Union auf einem gemeinsamen Wertefundament basiert, das sich in korrespondierenden Verfassungsprinzipien rechtlich verwirklicht145. Mit dem Austausch der Formulierung „beruhen“ gegen „gründen“ wird zudem die Wertedimension der EU sichtbar aufgewertet, da die aufgeführten Werte Voraussetzung und Basis für die Existenz der EU an sich sind146. Der VL übernimmt von Art. 6 EEUV die Werte-Quadriga von Freiheit, Demokratie, Grundrechten und Rechtstaatlichkeit. Eine auffallende Neuerung besteht darin, dass die Menschenwürde explizit genannt und den anderen Werten vorangestellt wird, wodurch sie zum „konzeptionellen Bezugspunkt“ für die nachfolgenden Werte wird147. Bei diesen Grundsätzen handelt es sich um die Strukturmerkmale des freiheitlichen Verfassungstaates; sie spiegeln das Menschenbild der Aufklärung wider. Der Kanon der gemeinsamen Werte stellt den Menschen in den Mittelpunkt des Europäischen Aufbauwerkes148. Dieses Beispiel der Mitgliedstaaten der EU, der EEUV und des VL zeigt, dass von einem abstrakten Grundkonzept ausgegangen werden kann, welches Teil aller westlichen Staaten und ihres Staatsrechts ist. Dieser Kern westlichen Staatsrechts kann daher sehr wohl mit anderen Staatsrechtsmodellen verglichen werden. 2. Abstrakte Grundwerte im islamischen Staatsrecht Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob spiegelbildlich zu dem westlichen „Kern“-Staatsrecht ein abstraktes islamisches Staats- und Staatsorgani143 Christian Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 87; Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Hermann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2008, 64. 144 Vgl. Art. 6 EEUV und Art. 1a VL; Christian Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 86; Markus Möstl, Verfassung für Europa, 2005, 33 f. 145 Christian Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 86. 146 Christian Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 86. 147 Christian Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 86 f.; Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Hermann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2008, 64. 148 Christian Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 86 f.
V. Problemstellung
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sationsrecht existiert bzw. allgemeingültige Grundwerte in islamischen Staaten obligatorisch sind. Bereits nach dem Tod des Propheten (s. a. w. s.) gab es Meinungsverschiedenheiten darüber, wer als Nachfolger und als Staatsoberhaupt die Führung des früh-islamischen Staates von Medina übernehmen sollte und wie der Staat gestaltet werden sollte. Es wurde auch darüber gestritten, ob das Staatsoberhaupt Gottes Stellvertreter oder der Stellvertreter des Propheten (s. a. w. s.) sei149. Einige Gruppierungen vertraten die Ansicht, dass eine göttliche Nominierung der Nachfolger vorliege150. So entstanden mit der Zeit innerhalb der jungen muslimischen Gemeinde verschiedene Konzepte, wie der ideale islamische Staat zu verwirklichen ist151. Die, die eine göttliche Nominierung der Nachfolger favorisierten, betrachteten Ali, den Schwiegersohn des Propheten (s. a. w. s.) und dessen Nachfahren, als legitime Herrscher152. Andere glaubten, dass die legitimen Herrscher aus der gesamten Familie des Propheten (s. a. w. s.) stammen konnten153. Wieder andere sahen alle Mitglieder des Stammes der Quraysh, zu dem der Prophet (s. a. w. s.) gehörte, berechtigt den Herrscher zu stellen154. Es wurde auch die Ansicht vertreten, dass die Gemeinde gar keinen Anführer benötige, solange die Religion vollständig praktiziert und implementiert werde155. Der Herrscher, klassisch Kalif oder Imam genannt, wurde als die Gemeinde einende Kraft betrachtet, der sowohl die religiöse als auch die politische Führung ausübte156. Im Idealfall waren unter ihm alle Gläubigen in einem Staat zusammengefasst157. Hierbei war der Herrscher der Bezugspunkt, der die multiethnische Glaubensgemeinschaft in einem Staat zusammenhielt158. Einige der verschiedenen Gruppierungen sahen, ausgehend von ihrem Verständnis der Religion, in der Anerkennung des rechtmäßigen Herrschers eine Heilsvoraussetzung159. Diese Gruppierungen standen oft in Opposition zu den tatsächlichen
149 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 116 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143. 150 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 404 ff. 151 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 140. 152 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 125 f. 153 Mehmet Azimili, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 34 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143. 154 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 177 ff. 155 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 399; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143. 156 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 38; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 141; Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 28 ff. 157 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 37 f. 158 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 38; vgl. Majid Khadduri, The Islamic Law of Nations, 1966, 10 ff. 159 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 184 ff.; Niyazi Kahveci, Mutezile ile S¸i’a arasında Siyasal Tartıs¸ma, 2006, 56 f.
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A. Einleitung und Grundlagen
Herrschern160. Mit der Zeit schwand die politische Herrschaft des Kalifen, und es etablierten sich lokale Herrscherdynastien, die teilweise mit oppositionellen Gruppen agierten161. In einem Teilabschnitt der islamischen Staatengeschichte gab es sogar drei verschiedene Kalifate162: das Umayaden-Kalifat in Andalusien, das Fatimiden-Kalifat in Ägypten und das Abbasiden-Kalifat im Irak163. Jedes für sich beanspruchte die gottgewollte Ordnung zu verkörpern und die legitime Nachfolge des früh-islamischen Staates von Medina zu sein. Zwischen all diesen Entwicklungen versuchten immer wieder muslimische Gelehrte die tatsächlichen Gegebenheiten mit der Theorie in Einklang zu bringen und zu erklären bzw. zu legitimieren164. Herrscherdynastien, die sich die politische Macht zu Eigen gemacht hatten, betrachteten das Kalifat mit der Zeit immer mehr als ein formelles Amt, welches jedoch praktisch keine politische Bedeutung mehr hatte165. Die Anführer dieser lokalen Herrscherdynastien, die sich zu Königreichen und Sultanaten entwickelten, wurden sogar von manchen Gelehrten als von Gott eingesetzte Herrscher betrachtet166. Im Rahmen dieser Entwicklung wuchs unter den Gelehrten auch die Akzeptanz, dass mehrere islamische Staaten nebeneinander existieren konnten167. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung zu verstehen, dass muslimische Gelehrte nicht mehr den Kalif, sondern das islamische Recht als einende Kraft der Gemeinde betrachteten168. Der Kalif war austauschbar, das islamische Recht nicht169. Aus all diesen Überlegungen und verschiedenen Meinungen gingen die zwei Hauptströmungen des Islam, das Schiitentum und das Sunnitentum, hervor, welche in sich wiederum in unterschiedliche Standpunkte und Gruppierungen aufgeteilt werden können170.
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Hans Küng, Islam, 2004, 194 ff. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143. 162 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 283; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142. 163 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142; vgl. Corci Zeydan, Islam Uygarılıkları Tarihi, 2009, 139 ff., 145 ff., 147 ff. 164 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 123 ff., 154 ff. 165 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143. 166 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 127 f. 167 Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 244 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144. 168 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144; Ibn Teymiye, Siyaset, 13.–14. Jahrhundert„33 ff., 48 ff., 73 ff. Ibn Teymiye stellt ganz klar nicht mehr auf den Kalifen ab, sondern legt mehr Wert auf die Achtung des islamischen Rechts; vgl. Murad Hofman, Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 113. 169 Murad Hofmann, Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 113; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 244 ff. 170 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 25 ff. 161
V. Problemstellung
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Trotz divergierender Meinungen kamen aber alle Gruppierungen – in diesem Kontext – auf unterschiedlichen Herleitungswegen zu identischen Ergebnissen. Egal welcher Richtung das erarbeitete oder bestehende Staatskonzept unterworfen war, es musste zumindest durch das islamische Recht legitimierbar sein. Die Herrscher wie auch die Beherrschten mussten dieses befolgen und waren in der Theorie diesem unterworfen. Folglich war die Etablierung von Kontrollmechanismen diesbezüglich zwingend notwendig171. Jede muslimische Strömung zog letztlich, insbesondere aufgrund der negativen Erfahrungen in der historischen Praxis mit Willkürherrschaften, diese Schlussfolgerung. Tilmann Nagel bezeichnet dieses Verständnis, als die moderne islamische Staatstheorie172, die nach seiner Ansicht das Fundament jeder islamisch orientierten politischen Bewegung bildet173. Wie dieses Fundament aber in der Praxis umgesetzt wird, ist völlig offen. Selbstverständlich kann klar gesagt werden, dass aus islamischer Sicht dieses Konzept in der Theorie seit Offenbarung der Religion bestand und besteht. Nach sunnitischer Sicht wurde der gottgewollte Idealzustand des islamischen Staates zur Zeit des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen verwirklicht174. Nach schiitischer Ansicht wurde dieser Idealzustand zumindest in der Zeit des Propheten (s. a. w. s.) und in der Zeit Ali’s, des letzten der vier rechtgeleiteten Kalifen, realisiert175. In diesem Zeitabschnitt galt nach Meinung der Muslime das islamische Gesetz, Herrscher und Beherrschte waren diesem gleichermaßen unterworfen, und der gottgewollte Idealzustand wurde tatsächlich verwirklicht. Die Prinzipien, die durch die Juristen von dem früh-islamischen Staat abgeleitet werden, sind die Souveränität Gottes, die Geltung seines Gesetzes, die Union zwischen Helfern aus Medina und Immigranten aus Mekka, die auf dem Glauben basiert und somit die alten Stammesgefüge auflöst, und der Einklag der Administration mit der sharia176. Der Prophet (s. a. w. s.) wurde zwar durch die Verfassung bzw. die Gemeindeordnung von Medina als Staatsoberhaupt auch von Nicht-Muslimen anerkannt und bündelte die Exekutive und Judikative in seinem Amt, doch seine einzige quasi königliche Prärogative bestand darin, dass sein
171 Sayyid Abdul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 228 ff., 236 ff. 172 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 140, 234 f., 242 ff. 173 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 244 f. 174 Vgl. Ihsan Sürreya Sırma, Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 253 ff.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 81; Mehmet Azimili, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 185 f.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 ff.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 101, 107. 175 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 197; Murad Hofmann, Islam, 2006, 79. 176 Zakaria Bahier, Sunshine at Madinah, 1998, 84 ff.
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A. Einleitung und Grundlagen
Siegel die Legitimität der Staatsdokumente garantierte177. Da der Prophet (s. a. w. s.) im quran bei den Fragen der Herrschaftsausübung zur Konsultation mit den sahaba178 angehalten wurde, tat er dies auch179. Führende sahaba werden dabei als diejenigen beschrieben, die binden und erlassen können, die sogenannten ahl al-hall wa al-‘aqd180. Diese formten einen informellen Senat und stellten eine starke politische Kraft dar181. Das Kriterium, ob ein Staat als islamisch oder nicht-islamisch bezeichnet werden kann, ist folglich davon abhängig, ob in dem jeweiligen Staat die Herrscher islamisch legitimierbar an die Macht kommen, das islamische Recht vollständig umgesetzt, die durch das islamische Recht gewährleisteten fundamentalen Rechte geschützt, die normativen Grundlagen der Religion bezüglich der Staatsführung je nach Überzeugung implementiert werden und somit die gottgewollte Ordnung verwirklicht wird. Gerade in der Zeit nach der Entkolonialisierung entwickelten sich in mehrheitlich muslimischen Ländern islamisch-politische Bewegungen, die damals wie heute die Umsetzung der sharia fordern182. Es gibt derzeit 57 Staaten, die Mitglied in der Organisation der Islamischen Konferenz sind183. Einige von diesen Staaten empfinden sich als islamische Staaten, wie Saudi-Arabien und die Islamische Republik Iran. Andere Staaten, wie z. B. die Türkei, sind zwar Mitglied der O.I.C., empfinden sich jedoch als säkulare Nationalstaaten mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung184. Murad Hofmann schreibt, dass schon die Bezeichnung islamischer Staat irreführend sei, da eine juristische Person keine Religion haben könne185. Nach sei177 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 41; Muhammed Hamidullah, Hz. Peygamber’in Altı Orijinal Diplomatik Mektubu, 1998, 31 f. 178 Sahaba bedeutet Prophetengenossen, wobei technisch gesehen jeder der, den Propheten (s. a. w. s.) gesehen hat, als sahaba gilt. Diejenigen, die tatsächlich im unmittelbaren Umfeld des Propheten (s. a. w. s.) waren und mit ihm persönlichen Kontakt hatten, werden als der enge Kreis der sahaba betrachtet. Auf sie bezieht sich meistens die Bezeichnung sahaba. 179 Achmat bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation and related matters, 2005, 24 f. 180 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146. 181 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 41. 182 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 141; Muhammad M. Al-Hudaibi, The Principles of Politics in Islam, 2000, 13; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 19. 183 Vgl. Murad Hofmann, Islam, 2006, 99; engl. Organization of Islamic Countries, nachfolgend O.I.C; Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 8. 184 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 8. 185 Murad Hofmann, Islam, 2006, 69.
V. Problemstellung
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ner Ansicht sei es besser von einem Staat von Muslimen oder für Muslime zu sprechen, der mit dem Islam im Einklang stehe186. Daher erweist sich die Frage, ob Islam monolithisch ist und abstrakt von islamischem Staatsrecht als Teilbereich eines einheitlichen Islams gesprochen werden kann, für diejenigen als immanent, die ein Staatskonzept entwerfen wollen, das Geltung in der gesamten islamischen Welt beansprucht. Gerade im Westen werden Fragen gestellt wie: „Bedeutete und bedeutet Islam nicht stets Unterschiedliches für verschiedene Leute zu unterschiedlichen Zeiten?“ In diesem Zusammenhang könnte der Leser nun die Frage aufwerfen: „Auf welchen Islam oder welches islamisches Staatsrecht will diese Arbeit hinführen? Das der Sunniten oder der Schiiten, der Sufis oder der Wahhabiten?“ 187. Die islamische Religion enthält in ihren Quellen normative Grundlagen bzw. Grundwerte bezüglich des Staatsrechts, die von allen Muslimen aller Richtungen berücksichtigt werden müssen188. Wie diese normativen Grundlagen im Einzelfall interpretiert werden, liegt bei den Muslimen189. Dabei gibt es wie bei den westlichen Staaten, die den Kernbereich von westlichem Staats- und Staatsorganisationsrecht in der Praxis unterschiedlich umsetzen, selbstverständlich auch Unterschiede bei der praktischen Umsetzung der normativen Grundlagen des islamischen Staats- und Staatsorganisationsrechts. Alle Interpretationen und Umsetzungen müssen allerdings das islamische Recht beachten190, eine islamische Legitimierbarkeit der Bestimmung des Herrschers enthalten191 und das shuraPrinzip, welches vom Herrscher bei der Ausübung seiner Handlungen Konsultationen verlangt, berücksichtigen192. Außerdem müssen die Gewalten in einem Staat bestimmt sowie die von der sharia gewährleisteten fundamentalen Rechte geschützt und umgesetzt werden193. Dieser Kernbereich ist maßgebend und in jedem neuzeitlichen islamischen Staat oder Staatskonzept zu finden194. Daher kann auch von einem abstrakten islamischen Staatsrecht gesprochen werden, welches mit anderen Staatsrechtsmodellen verglichen werden kann.
186 Trotz des berechtigten Einwandes von Hofmann wird vom Verfasser zum Zwecke der Einfachheit an der Bezeichnung islamischer Staat und islamisches Staatsrecht festgehalten. 187 Vgl. Murad Hofmann, Islam, 2006, 10. 188 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 35 ff. 189 Vgl. Muhammad Assad, Principles of State and Government in Islam, 2001, 62. 190 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 48 ff. 191 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 42 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 416 ff. 192 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 39 ff. 193 Vgl. Muhammad Assad, Principles of State and Government in Islam, 2001, 51 ff. 194 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 243.
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A. Einleitung und Grundlagen
3. Der früh-islamische Staat aus westlicher Sicht Die muslimische Wahrnehmung der Herrschaftsausübung des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen wird oft von westlichen Wissenschaftlern kritisiert195. Sie erklären, dass dieser Eindruck die historischen Tatsachen verkläre und ein idealisiertes Bild wiedergebe, das mit der wahren Geschichte nicht vereinbar sei196. Für die Zwecke dieser Arbeit kann diese Argumentation dahinstehen, da für Muslime diese Sichtweise der Wahrheit entspricht und das beschriebene Ideal zu verwirklichen ist197. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im Westen die eigene Urquelle des heutigen Staatsverständnisses, die Athener Demokratie, teilweise in einer ähnlichen Art und Weise idealisiert wird198. Die antike Athener Demokratie hatte mehr Gemeinsamkeiten mit dem süd-afrikanischen Apartheidstaat, als mit den heute im Westen verwirklichten liberalen Demokratien. Auch die Französische Revolution, die wichtige Impulse vorgegeben und hohe Ideale für das westliche Staatsverständnis formuliert hat, mündete in der Schreckensherrschaft der Jakobiner und den napoleonischen Kriegen199. Zudem konnte sie die imperiale Entwicklung Frankreichs und anderer europäischer Staaten nicht verhindern, in der diese Ideale in der kolonialisierten Welt nicht galten und europäische Völker andere Völker unterdrückten200. Ähnliches geschah in Nordamerika, wo die Amerikanische Revolution fundamentale Strukturen und Grundrechte des Individuums hervorbrachte, die den Kern des westlichen Staatsverständnisses bilden201. Diese Grundrechte wurden aber afrikanischstämmigen Menschen, amerikanischen Ureinwohnern sowie Frauen zu Unrecht verweigert und eine Institution wie die Sklaverei jahrzehntelang beibehalten202. Sogar die Abschaffung der Sklaverei brachte keine unmittelbare Gleichberechtigung, sondern führte erst zu einer rassischen Trennungspolitik203. Beginnend mit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam durch die Bürgerrechtsbewegung die volle politische Gleichberechtigung für ethnische
195 Günter Schaller, Die Gemeindeordnung von Medina, 1985, 26; vgl. Bassam Tibi, Der wahre Imam, 1998, 66 ff. 196 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 119 f. 197 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 14 ff.; vgl. Sayyid Abul A’La Maudoodi, Islam Today, 2000, 13 f.; Sayyid Abdul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 6; vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 188. 198 Giovanni Sartori, Demokratietheorie, 2006, 276. 199 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 40 ff. 200 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 50. 201 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 9 ff. 202 Emil Hübner, Das Politische System der USA, 2007, 28 ff.; Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 1999, 51 f. 203 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 13; Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 1999, 52 f.
V. Problemstellung
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und rassische Minderheiten in den USA204. Trotzdem fungieren diese Beispiele der westlichen Staatsentwicklung als Inspirationsquellen für Politiker, Juristen, Politik- sowie Sozialwissenschaftler und werden dabei idealisiert, genau wie der früh-islamische Staat von Medina diese Funktion für Muslime erfüllt und dabei ebenso idealisiert wird. 4. Vergleichsmöglichkeit zwischen westlichem und islamischem Staatsrecht Es kann festgehalten werden, dass es einen Kernbereich bzw. Grundwerte im westlichen- und im islamischen Staats- und Staatsorganisationsrecht gibt. Es existiert folglich abstraktes islamisches und westliches Staats- und Staatsorganisationsrecht. Der Kernbereich von westlichem Staats- und Staatsorganisationsrecht ist keiner Religion zuzuordnen und kann daher nicht mit religiösen Grundsätzen verglichen werden. Der Islam stellt den Anspruch eine Religion zu sein, die den gesamten Lebensbereich regelt und in ihren Quellen normative Grundlagen bzw. einen Kernbereich auch bezüglich des Staats- und Staatsorganisationsrechts enthält, die jeden Muslim zur Einhaltung verpflichten. Aufgrund dieses Anspruchs kann diese Religion bzw. das hierdurch entwickelte islamische Staatsund Staatsorganisationsrecht sehr wohl mit dem westlichen Staats- und Staatsorganisationsrecht verglichen werden. Ein Vergleich zwischen abstraktem westlichem Staats- und Staatsorganisationsrecht und diesen normativen Grundlagen – ergo dem abstrakten islamischen Staats- und Staatsorganisationsrecht – ist folglich möglich. 5. Hypothese: Parallelen zwischen westlichem und islamischem Staatsrecht Fraglich ist allerdings, ob diese Kernbereiche Parallelen und Gemeinsamkeiten enthalten. Insbesondere ist zu klären, ob im islamischen Staats- und Staatsorganisationsrecht äquivalente Prinzipien und Grundbekenntnisse wie Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Wahrung der Menschenrechte, die die fundamentalen Werte des westlichen Staatsrechtes darstellen, existieren205. In dieser Arbeit wird die Hypothese aufgestellt, dass zwischen westlichem und islamischem Staats- und Staatsorganisationsrecht mehr Gemeinsamkeiten bestehen als auf den ersten Blick erwartet. Eine Nicht-Implementierung dieser geteilten Prinzipien und Gemeinsamkeiten in der mehrheitlich islamischen Welt stellt eine klare und nicht zu rechtfertigende Verletzung dieser Parallelen dar. 204
Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 1999, 52 f. Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 117 ff., 121 ff., 124 ff. 205
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A. Einleitung und Grundlagen
Der Westen, der bis jetzt auf säkulare und pro-westliche Kräfte in der islamischen Welt gesetzt hat, muss realisieren, dass, wenn tatsächlich ein konsolidierte islamische Welt bzw. Staatengemeinschaft entstehen soll, in der Rechtsstaatlichkeit, Stabilität, Selbstbestimmung, Individualrechte und Mitbestimmung des Volkes realisiert werden, er in der islamischen Welt religiös-motivierte politische Bewegungen hinnehmen und als Partner akzeptieren, ja sogar unterstützen muss. Der Weg, den der Westen gegangen ist, indem er Religion und Staat getrennt hat, muss und kann nicht der Weg der islamischen Welt sein, um Mitbestimmung des Volkes, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu verwirklichen. Im Westen wird der ideale Staat als Demokratie verstanden, die in jeglicher Hinsicht Individualfreiheiten gewährt und in dem die Religion im Zweifelsfall in die private Domäne des Individuums gedrängt wird206. Die islamische Welt hat allemal das Potential aus sich heraus ein eigenes Staatssystem zu entwickeln, in dem diese Ziele verwirklicht werden und das im Einklang mit der Religion steht, ohne diese völlig auszuhöhlen oder aus dem öffentlichen Leben zu verbannen207. 6. Fragestellungen im Kontext der aufgestellten Hypothese Wie zuvor erwähnt, ist es das Ziel dieser Forschungsarbeit islamisches Staatsund Staatsorganisationsrecht zu analysieren. Insbesondere sollen die Wahl bzw. Legitimierung der Exekutive und falls vorhanden, der Legislative überprüft, das Verhältnis der Gewalten zueinander näher betrachtet und die Staatsorganisation herausgearbeitet werden. Außerdem soll in diesem Rahmen ein Vergleich zwischen westlichem und islamischem Staats- und Staatsorganisationsrecht getätigt werden, durch den konkret an spezifischen Beispielen westlicher Demokratien Gemeinsamkeiten mit abstraktem islamischem Staats- und Staatsorganisationsrecht bestimmt werden. Die Arbeit beschränkt sich dabei auf die ausgewählten Beispiele, das Demokratieprinzip und die Gewaltenteilung. Um den Rahmen nicht zu sprengen werden weder das Demokratieprinzip noch die Gewaltenteilung dabei im Detail wiedergegeben, sondern nur deren Kernpunkte. Außerdem findet eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Menschenrechtsschutz in dieser Arbeit nicht statt. Hierzu wird gegebenenfalls auf die Arbeiten von Mashood A. Baderin208 und Servet Armag˘an209, in denen das islamische Menschenrechtsverständnis herausgearbeitet und Gemeinsamkeiten mit dem westlichem Menschenrechtsverständnis hervorgehoben werden, verwiesen. Letztlich soll die Arbeit auch Beispiele für die Umsetzung der bearbeiteten islamischen Staatsprinzipien bereitstellen, die einerseits den heutigen Ansprüchen gerecht werden, an206 207 208 209
Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 259. Murad Hofmann, Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 116 ff. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005. Servet Armag˘an, Islam Hukukunda Temel Hak ve Hürriyetler, 1992.
VI. Gang der Untersuchung
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dererseits aber mit dem islamischen Recht konform sind. Die folgenden spezifischen Fragen müssen daher innerhalb dieser Forschungsarbeit soweit wie möglich beantwortet und bearbeitet werden: 1. Was bedeutet Verfassung im islamischen Staatsrecht? 2. Gibt es islamische Verfassungstheorien und was besagen sie? 3. Welche staatsrechtlichen Normen beinhaltet die sharia? 4. Gibt es ein islamisches Demokratieprinzip, und wie ist es umzusetzen? 5. Wodurch legitimiert sich die Exekutive im islamischen Staatsrecht? 6. Ist die baiah eine Wahl im westlichen Sinne? 7. Ist der shura-Rat ein Parlament im westlichen Sinne? 8. Wie setzt sich der shura-Rat zusammen? 9. Gibt es ein islamisches Gewaltenteilungsprinzip und wie ist es umzusetzen?
VI. Gang der Untersuchung In diesem Abschnitt werden kurz der Aufbau und der Gang der Untersuchung wiedergegeben, um einen Rahmen für die Arbeit festzulegen. Das Primärziel dieser Untersuchung ist es, Parallelen zwischen islamischem und westlichem Staatsrecht aufzuzeigen und ausgewählte abstrakte Kernbereiche einer islamischen Staatsverfassung darzustellen. Hierzu werden in dieser Arbeit die Grundprinzipien des islamischen Staatsrechtes hervorgehoben. Um dies zu tun, werden die Quellen des islamischen Rechts vorgestellt und die in dieser Arbeit verwendeten staatsrechtlichen Normen aus der sharia, dem islamischen Recht, aufgezeigt. Des Weiteren werden das islamische Staats- und Staatsorganisationsrecht als Ganzes betrachtet und elementare Kernbereiche und mögliche Verfassungstheorien analysiert. Danach wird näher auf die Legitimierung der Exekutive sowie auf das shura-Prinzip und auf das Verhältnis der unterschiedlichen Gewalten zueinander eingegangen. Hierfür ist zunächst das Studium der klassischen und auch der neueren Literatur notwendig. Es muss aber auch auf das erste islamische Staatswesen von Medina, die Nachfolgestaaten sowie auf neuzeitliche Versuche der islamischen Staatengemeinde zur der Findung einer adäquaten Staatsform eingegangen bzw. zurückgegriffen werden, da kein Völkerrechtssubjekt existiert, das von allen Muslimen als der ideale islamische Staat anerkannt wird. Weil alle Staaten, die in der islamischen Geschichte entstanden sind, von sich behaupteten, die gottgewollte Ordnung, die in dem früh-islamischen Staat von Medina unstreitig praktiziert wurde, zu verwirklichen, muss dieser früh-islamische Staat in besonderem Maße wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Auch heutzutage entwickelte Staatskonzepte aller islamischen Richtungen betrachten diesen Staat als
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A. Einleitung und Grundlagen
Quelle der Inspiration, was die besondere Rolle dieses Staates im islamischen Staatsrechtsverständnis verdeutlicht. Als Beispiele für neu entwickelte Staatskonzepte wurden vier von Muslimen herausgearbeitete Staatskonzepte ausgewählt. Der saudi arabische Staat als Beispiel für ein konservativ sunnitisches Staatswesen, die Islamische Republik Iran als Beispiel für einen von Schiiten entwickelten islamischen Staat, der Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität in Kairo, die eine der höchsten religiösen Instanzen im Sunnitentum repräsentiert, und der Vorschlag von pakistanischen Gelehrten, Sunniten wie Schiiten, für die Grundbestimmungen der pakistanischen Verfassung als Beispiel für einen Staat, der nur aufgrund der Religion gegründet wurde und dessen Fundament in der Theorie lediglich die islamische Religion ist. Weder der Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität noch der Vorschlag der pakistanischen Gelehrten wurde in der Praxis je vollständig umgesetzt. Nichtsdestotrotz sind diese Beispiele sehr relevant, da sie als Orientierung für islamisch-politische Bewegungen in allen mehrheitlich muslimischen Ländern fungieren. Diese Beispiele dienen dazu, die praktische Verwirklichung der Kernbereiche des islamischen Staatsrechts aufzuzeigen. Nach der Herausarbeitung der Grundprinzipien des islamischen Staatsrechts bzw. der Bestimmung der ausgewählten abstrakten Kernbereiche einer islamischen Staatsverfassung werden diese mit ähnlichen Prinzipien des westlichen Staatsrechts verglichen und das islamische Staatsrecht auf mögliche Parallelen hin untersucht. Hiernach wird, falls Parallelen vorhanden sind, auf die fehlende Implementierung dieser Parallelen in der islamischen Staatenwelt eingegangen. Das erste Kapitel wird als Einleitung für die Dissertation fungieren, die Hypothese der Forschungsarbeit aufwerfen, Hintergrundinformationen liefern und eine systematische Gliederung der Dissertation beinhalten, indem die Ziele der einzelnen Kapitel definiert werden. Im zweiten, dritten sowie vierten Kapitel werden Grundlagen zum westlichen und islamischen Recht als auch generell zum Staatsund Staatsorganisationsrecht vermittelt. Im fünften Kapitel wird auf die Staatsorganisation und die Beziehung zwischen Religion und Staat im islamischen Staat eingegangen. Im sechsten Kapitel wiederum wird islamisches Staatsrecht herausgearbeitet und es werden dessen elementare Grundprinzipien vorgestellt. Es wird sich explizit mit den Quellen des islamischen Staatsrechts, der islamischen Verfassungstheorie und den Kernbereichen einer islamischen Verfassung, der Wahl des Staatsoberhauptes, dem shura-Prinzip und dem Verhältnis der Staatsgewalten zueinander auseinandersetzen. Hierbei sind in jedem Unterabschnitt Zusammenfassungen enthalten, die die Verbindung zu dem siebten Kapitel bilden. Die Unterabschnitte sind nach folgendem Muster konzipiert: zuerst wird die historische Praxis des bearbeiteten Prinzips wiedergegeben, danach werden die Meinungen der muslimischen Rechtsgelehrten zu diesem abstrakt erörtert, letztlich wird auf die Umsetzung des historischen Beispiels in neuzeitlichen islamischen Staats-
VI. Gang der Untersuchung
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ideen eingegangen und ein Vergleich mit westlichen Verfassungsprinzipien getätigt. Das siebte Kapitel wird die zuvor durchgeführten Vergleiche noch einmal zusammenfassen das islamische Staatsrecht auf Parallelen mit dem westlichen Staatsrecht hin untersuchen, und falls Parallelen vorhanden sind, diese aufzeigen. Das achte und letzte Kapitel wird Schlussfolgerungen enthalten sowie überprüfen, inwiefern die Hauptthesen der Arbeit bestätigt wurden, und dann auf die fehlende Implementierung des islamischen Staatsrechtes in der islamischen Staatenwelt eingehen.
B. Westliches Recht Der wesentlichste und offensichtlichste Unterschied zwischen islamischem und westlichem Recht, welcher sogar bei oberflächlichster Betrachtung auffällt, ist der, dass westliches Recht in seiner Essenz säkular ist, während islamisches Recht in seiner Essenz religiös ist1. Allein hierauf als fundamentalen Unterschied abzustellen ist jedoch inadäquat2. Betrachtet man die Evolution von westlichem Recht, so ist zu erkennen, dass dieses Recht Hand in Hand ging mit der Geburt von Stammes- und Klanbewusstsein3. Gesetzlosigkeit, welche zur Anarchie geführt und den Stamm oder Klan zerstört hätte, musste somit präventiv unterbunden werden4. Das Gesetz bzw. das soziale Verhalten, die Sitte, wurde somit aus einer Notwendigkeit heraus geboren und entwickelte sich immer weiter5. Anfangs hatte der Stammesfürst noch die Kontrolle, erließ verbindliche Normen und sorgte für deren Durch- und Umsetzung6. Diese Eigenart behielten die westlichen Rechtssysteme in ihrem Frühstadium bei. Einhergehend mit der Entstehung eines politischen und sozialen Zusammengehörigkeitsbewusstseins entwickelten sich aus diesem Stammes- und Fürstenrecht mit der Zeit staatliche Rechtsformen7. In diesem Abschnitt des Evolutionsprozesses entfaltete sich das Recht zu einer Regulierungsform des menschlichen Zusammenlebens, die bewusst wahrgenommen, somit als Identität erfasst und durch Reglementierung zu einer Einheitlichkeit geführt wurde8. Verschiedene Handhabungen in unterschiedlichen Stämmen wurden zu dieser Zeit aufgrund von Solidaritäts- und Sicherheitsaspekten zu einem Rechtssystem zu1 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 39; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 7 ff. 2 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 33. 3 Vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2000, 20 ff.; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 2. 4 Vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2000, 25 ff.; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 9. 5 Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 27; vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2000, 268 ff. 6 Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 2; vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2000, 272 ff. 7 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, Rn. 8, 33 f.; Werner Frotscher/ Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 47; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 2. 8 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 47 f.
B. Westliches Recht
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sammengefasst, das Geltung für das gesamte Staatsgebilde hatte9. In einem weiteren Evolutionsprozess bildeten die verschiedenen Staatsgebilde dann Rechtssysteme, die zur Geltung kamen und von der jeweiligen Bevölkerung akzeptiert wurden. Westliche Rechtsphilosophen behaupten, dass heutige Rechtssysteme im Westen auf den Fundamenten von wissenschaftlichen und philosophischen Ideen beruhen und somit konträr zu den in den Stammeskulturen aus einer Notwendigkeit heraus entstandenen Riten und Traditionen sind10. Diese wissenschaftlichen und philosophischen Ideen seien die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit, Gleichheit und universeller Humanismus in den Rechtssystemen verwirklicht sein soll11. Abgesehen von einer derart abstrakten Analyse muss hervorgehoben werden, dass sich die westliche Rechtskultur konkret auf der Grundlage des römischen Rechts entwickelt hat12. Die umfangreichste Kodifizierung des römischen Rechts geschah unter der Herrschaft von Kaiser Justinian, als das Römische Imperium bereits christlich war13. Trotzdem kann nicht von christlichem Recht gesprochen werden, da die justinianische Kodifizierung des Rechts zum Großteil von Juristen der antoninischen Ära, in der zwar der vor-christliche Glauben im Römischen Reich seine Wirkung auf die Gelehrten verloren, aber der christliche Glauben seinen Einfluss noch nicht entfaltet hatte, geprägt wurde14. Folglich repräsentiert westliches Recht ein System, in dem von Menschen Gesetze für Menschen erlassen werden15. Dies ist das Erbe, auf dem heute die Rechtssysteme der kontinental-europäischen Staaten basieren16. Das Fundament dieser Rechtssysteme bilden kodifi9 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 47 f.; vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2000, 296. 10 Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 3; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 42. 11 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 59 ff.; Peter Scholz/ Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/ Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 42. 12 Vgl. Hayreddin Karaman, Islam Hukuk Tarihi, 2004, 36; H. Patrick Glenn, Legal Tradition of the World, 2010, 139 ff. 13 Hayreddin Karaman, Islam Hukuk Tarihi, 2004, 30; James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 2; Stephan Meder, Rechtsgeschichte, 2002, 5 f.; Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2000, 255; Max Kaser/Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 2005, 7 ff. 14 James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 2 f.; Max Kaser/Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 2005, 7 ff. 15 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 35; vgl. H. Patrick Glenn, Legal Tradition of the World, 2010, 137 ff. 16 Hayreddin Karaman, Islam Hukuk Tarihi, 2004, 36.
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B. Westliches Recht
zierte Normen, die durch die Legislative erlassen und durch die Judikative und Exekutive interpretiert und angewendet werden17. Folglich kann z. B. deutsches Staatsrecht, abgesehen von der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz (nachfolgend GG), soweit erforderlich komplett verändert und neu gestaltet werden18. Fast das Gleiche gilt für Staaten, deren Rechtssysteme auf anglo-amerikanischem Recht basieren. Einen Hauptunterschied bildet das sogenannte „case law“ der Gerichte, das in solchen Staaten trotz der zunehmenden Bedeutung der Legislative eine dominante Rolle spielt. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Rechtssysteme im Westen generell auf römischem Recht basieren19. Dieses Recht stellt säkulares, von Menschen für Menschen gemachtes Recht dar und kann daher je nach Notwendigkeit auf dem gleichen Weg, wie es zuvor erlassen wurde, durch das zuständige Organ verändert werden20. Vor diesem Hintergrund ist aus islamischer Sicht auf lange Sicht nicht absehbar, in welche Richtung sich westliches Recht entwickeln wird. Es ist zwar heutzutage durch die Aufklärung, hellenistisches Gedankengut, Humanismus und das Christentum beeinflusst, aber eben die Möglichkeit der fast absoluten Veränderbarkeit, wird von Muslimen als die große Schwäche dieses Rechtssystems angesehen21.
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James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 2 f. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, Rn. 6, 735; Werner Frotscher/ Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 400. 19 James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 2. 20 James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 2; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 35; H. Patrick Glenn, Legal Tradition of the World, 2010, 137 ff. 21 Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 10. 18
C. Islamisches Recht Der Islam wurde vor fast 1.400 Jahren der Menschheit offenbart. In den Fundamenten beinhaltet diese Religion normative Grundlagen1, die von allen Muslimen eingehalten werden müssen2. Der Plan, den die islamische Religion für das menschliche Leben vorsieht, besteht aus einem System von Rechten und Verpflichtungen3. Jeder, der diese Religion annimmt, ist angehalten nach diesen Rechten und Verpflichtungen zu leben. Im Groben kennt das islamische Recht vier Kategorien von Rechten und Pflichten für Menschen: erstens die Rechte Gottes, welche jeder Mensch erfüllen muss; zweitens die von Gott gewährten Rechte jedes Menschen; drittens die Rechte anderer über einen selber; und viertens die Rechte der Schöpfung, die Gott in den Dienst der Menschheit gestellt hat4. Diese Rechte und Pflichten bilden die Grundbausteine bzw. die Eckpfeiler des Islams5. Jeder Muslim muss diese kennen, verstehen und nach ihnen leben6. Das islamische Recht beinhaltet und klärt jedes Recht und jede Verpflichtung im Detail7. Das islamische Recht versteht sich seinem Wesen nach als ein Rechtssystem, dessen Fundamente von Gott selbst gesetzt und dessen wesentliche Hauptanordnungen zeitunabhängig, gewissermaßen ewig gültig sind8.
I. Begriffsbestimmung: sharia und fiqh Die Begriffe sharia und fiqh werden oft bedeutungsgleich benutzt und mit dem Terminus islamisches Recht übersetzt9. Es gibt zwischen diesen Begriffen aber 1
Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 26. Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 43; vgl. Hayreddin Karaman, Islam Hukuku, 2004, 15 f., 17 ff. 3 Sayyid Abdul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 51 ff.; Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 87 ff.; Gottfried Hierzenburger, Der Islam, 2006, 125 f.; vgl. Hayreddin Karaman, Islam Hukuku, 2004, 15 f., 17 ff. 4 Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards Understanding Islam, 1979, 127. 5 Vgl. Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 37 ff. 6 Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards Understanding Islam, 1979, 29, 127 ff. 7 Sayyid Abdul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 53; Yusuf Al-Qaradawi, Erlaubtes und Verbotenes im Islam, 2003, 29. 8 Vgl. Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 36, 88. 9 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 33; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 9; Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 105. 2
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C. Islamisches Recht
deutliche Unterschiede. Sharia bezeichnet im Arabischen wörtlich den Platz rund um einen Brunnenschacht, aus dem man Wasser schöpfen kann, bzw. der Weg zur Tränke10. Sinnbildlich steht das Wasser hier für Lebensquelle, so dass die sharia sprachlich betrachtet das ist, was einem Muslim das Leben im Islam erst ermöglicht11. Die sharia ist die Art zu leben, die Gott den Muslimen vorgegeben hat12. Sie ist daher mehr als bloß eine kodifizierte Rechtsansammlung13. Demgegenüber bezeichnet das Wort fiqh tatsächlich das islamische Recht14. Wortwörtlich bedeutet fiqh: etwas lernen, kennen lernen, und dann begreifen15. Als Fachbegriff hingegen bedeutet fiqh: Islamische Rechtswissenschaft, Islamisches Recht16. Fiqh ist daher ein Teil der sharia, doch diese ist wiederum umfassender im Inhalt als fiqh17. Während die sharia keine Wissenschaft ist, sondern alles beinhaltet, was zum Wesen des Islams und zu dessen Aufrechterhaltung gehört18, ist fiqh eine Wissenschaft mit vielen Unterwissenschaften19. Trotz dieser Unterschiede wird wegen der fast identischen Anwendung in der Praxis im Folgenden der Begriff sharia genutzt, wenn vom islamischen Recht die Rede ist20.
II. Entstehungsgeschichte Aus islamischer Sicht entstand islamisches Recht simultan mit dem Auftreten des ersten Menschen, des Propheten Adam (a. s.), auf der Erde21. Der Prophet Adam (a. s.) war nicht nur der Urahn aller Menschen, sondern auch der erste Prophet (a. s.) Gottes. Gott offenbarte ihm die Teile des islamischen Rechts. die notwendig waren, um das Leben in einem so frühen Stadium zu regeln22. Der Prophet Adam (a. s.) wiederum lehrte die ihm offenbarten Gesetze seinen Nachfahren23. Indem der quran erklärt, dass der Mensch auf Rechtleitung angewiesen ist, um im Diesseits und im Jenseits erfolgreich zu sein und sein Heil zu finden, 10 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 9; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 5. 11 Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 105. 12 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 16. 13 Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 105. 14 Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 5. 15 Vgl. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 33; Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 20 ff. 16 Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 15. 17 Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005 105; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 5. 18 Smail Balic, Islam für Europa, 2001, 39. 19 Vgl. Kemal A. Faruki, Islamic Jurisprudence, 1994, 13. 20 Vgl. Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 16. 21 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 44 f. 22 Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards Understanding Islam, 1979, 42. 23 Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards Understanding Islam, 1979, 42.
III. Unterschiede zum westlichen Recht
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macht er deutlich, wie wichtig und relevant die göttliche Offenbarung des Rechts ist24. Ohne diese Rechtleitung ist es für den Menschen nicht möglich sein Potential zu entfalten und ein mit seinem Schöpfungszweck im Einklang stehendes Leben zu führen25. Auch nach dem Tode des Propheten Adam (a. s.) entsandte Gott Propheten, die der Menschheit seine Gebote und Gesetze verkündeten26. Im quran heißt es, dass diese Gebote und Gesetze in ihrem Geiste und ihren fundamentalen Botschaften einheitlich waren27. Trotzdem lässt sich konsequent verfolgen, dass diese Gebote und Gesetze mit Entwicklung und Wachstum der Menschheit in ihrem Umfang zunahmen und jeweils für bestimmte Abschnitte der menschlichen Geschichte adäquat waren28. Zu diesem Zweck verbesserte Gott bestehende Regeln, indem er sie erweiterte, nicht mehr relevante Teile aufhob, oder neue Teile offenbarte29. Dieser Entwicklungsprozess wurde bis zum Auftreten des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) fortgeführt. Durch ihn wurde das islamische Recht in seinem endgültigen Umfang verkündet30.
III. Unterschiede zum westlichen Recht Islamisches Recht ist von westlichem Recht essentiell zu unterscheiden. Es wird als göttliches Recht betrachtet, das nicht von Menschenhand verändert werden kann, da nachdem Wirken des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) keine göttliche Offenbarung mehr stattfinden wird31. Es wäre jedoch falsch, wegen dieses Grundsatzes davon auszugehen, dass islamisches Recht statisch oder für das alltägliche Leben untauglich ist, da es mit veränderten Bedingungen nicht Schritt halten kann32. Vielmehr gibt dieser Grundsatz nur einen Rahmen vor, der bei notwendigen Regulierungen von neuen Sachverhalten zu beachten ist33. 24 Sayyid Abdul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 3 f.; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 5 f.; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 3. 25 Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 3. 26 Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 6. 27 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 27 f.; Sayyid Abdul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 188. 28 Kemal A. Faruki, Islamic Jurisprudence, 1994, 10; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 15. 29 Abu Ameenah Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 36 f.; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 15. 30 Vgl. Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 27; Kemal A. Faruki, Islamic Jurisprudence, 1994, 11; Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 45. 31 James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 3 ff. 32 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 31. 33 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 31.
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C. Islamisches Recht
Streng genommen setzt sich das islamische Recht aus den normativen Regelungen im quran und der sunna, die unzweifelhaft feststehen, zusammen34. Die sunna beinhaltet dabei die überlieferten Handlungen des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) 35. Diese normativen Regelungen bestanden ab der Offenbarung durch Gott und der Verkündung durch den Propheten (s. a. w. s.) bzw. der dazu durchgeführten relevanten Handlung des Propheten (s. a. w. s.)36. Sie bilden den Kernbereich der sharia37. Er regelt vor allem familien- und erbrechtliche Angelegenheiten in vielen Einzelheiten38. Daneben finden sich einige wenige Vorschriften verfahrensrechtlicher Art, darunter auch zivil- und strafprozessuale Beweisregeln, sowie einige Vorschriften, die sich explizit auf das Staatsrecht und Völkerrecht, die Wirtschaftsverfassung sowie das materielle Strafrecht beziehen39. Dieser Kernbereich ergibt sich unmittelbar aus dem quran und der sunna40. Somit kann tatsächlich gesagt werden, dass der quran und die sunna verhältnismäßig wenige Vorschriften enthalten, die als Gesetze im modernen Sinne klassifiziert werden könnten41. Viele Stellen in quran und sunna, auf die in diesem Rahmen Bezug genommen werden kann, zeigen eigentlich, dass es sich bei diesen Vorschriften eher um Grundsätze des Verhaltens handelt als um konkrete Gesetze42.
IV. Moral und Ethik im Zusammenspiel mit dem islamischen Recht Für einen Muslim ist jedes menschliche Handeln ethisch und moralisch charakterisiert43: auf der einen Seite als qubh (unschön, unpassend, unmoralisch), auf der anderen Seite als husn (schön, passend, moralisch)44. Dieser ethisch-moralische Charakter ist nicht durch Menschen interpretier- und vom islamischen Recht trennbar. Der Mensch ist deshalb eigentlich auf göttliche Offenbarung angewiesen und hat keine Möglichkeit auf diesen ethisch-moralischen Charakter 34
Vgl. Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 42 ff. Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 21 f.; Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 35; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 33; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 61 f. 36 Vgl. Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 38 ff. 37 Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 107 f. 38 Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 16; Murad Hofmann, Koran, 2006, 79. 39 Murad Hofmann, Koran, 2006, 79. 40 Vgl. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 36 f.; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 37. 41 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 41. 42 Vgl. Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 66 ff. 43 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 48 f. 44 James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 3. 35
IV. Moral und Ethik im Zusammenspiel mit dem islamischen Recht
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Einfluss zu nehmen. Das menschliche Handeln ist in fünf Kategorien unterteilt45: verpflichtend, empfohlen46, rechtlich neutral belassen, abgeraten und verboten47. Nur der Bereich, der durch das islamische Recht rechtlich neutral belassen wurde, ist offen für menschliche Gesetzgebung48. Faktisch hat dieser rechtlich neutral belassene Bereich aber den größten Umfang49. Außerdem müssen die anderen Bereiche zum größten Teil doch interpretiert werden, weil sie nicht zwingend zu eindeutigen Richtlinien führen, so dass auch dort ein gewisser Spielraum für menschlichen Einfluss existiert50. Letztlich bilden aber Recht, Moral und Ethik im Islam eine Einheit. Sie sind nicht wie im westlichen Recht voneinander getrennt51. Islam erlaubt alles, was nicht ausdrücklich verboten wurde, oder was nicht auf Umwegen Verbotenes legalisiert52. Der quran warnt sogar vor fehlgeleitetem religiösem Verständnis, welches garantierte Freiheiten und Handlungsweisen beschneidet53. Ziel des Islams ist es, das Leben zu erleichtern, nicht zu erschweren54. Die menschliche Gesetzgebung muss jedoch im Einklang mit dem Kern der sharia stehen bzw. von diesem ableitbar sein55. Weiterhin ist der Geltungsbereich des islamischen Rechts viel weiter als der Geltungsbereich des westlichen Rechts56. Islamisches Recht reguliert die gesamte Handlungsweise eines Menschen57. Wird z. B. ein klassisches Werk zum islamischen Recht untersucht, kann festgestellt werden, dass es sich im ersten Teil mit Ritualvorschriften befasst sowie im zweiten Teil in der Regel Rechtsfra45 Murad Hofmann, Islam, 2006, 57; Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 40; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 14; vgl. Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 132. Reidegeld teilt die Kategorie „verpflichtendes“ zusätzlich in zwei Unterkategorien „absolut verpflichtendes“ und „verpflichtendes“ auf. 46 Jemand der „verpflichtendes“ tut, wird hierfür belohnt. Es nicht zu tun hat aber keine Strafe im Jenseits zur Folge. Das gleiche gilt für „abgeratenes“. 47 Tilman Nagel, Das Islamische Recht, 2001, 27. 48 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 52. 49 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 52. 50 Abdulaziz A. Sachedina, The Creation of a Just Social Order in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 115–133, 127. 51 Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 29 f. 52 Murad Hofmann, Islam, 2006, 57. 53 Vgl. Abu-r-Rida Muhammad Ibn Ahmad Ibn Rassoul, Al-Qur’an Al Karim, deutsche Übersetzung, 2009, 5 (Kapitel):101 (Vers) (nachfolgend Quran 5:101). 54 Vgl. Quran 2:185, 22:78. 55 Vgl. Abdur-Rahman ibn Salih Al-Mahmood, Man-Made Laws vs. Shari’ah, 2003, 177 ff. 56 Gottfried Hierzenberger, Der Islam, 2006, 116; Sayyid Abul A’la Maududi, Islamic Law and Constitution, 1967, 51. 57 Vgl. Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 9; Sayyid Abul A’la Maududi, Islamic Law and Constitution, 1967, 53; Tilman Nagel, Das Islamische Recht, 2001, 93.
58
C. Islamisches Recht
gen abhandelt58. Islamisches Recht erstreckt sich über Privat- und Öffentliches Recht, nationales wie internationales Recht, bis hin zu einem Bereich, der im Westen nicht als Recht im juristischen Sinne betrachtet wird59.
V. Interpretierbarkeit des islamischen Rechts Außerdem ist zu berücksichtigen, das quran und sunna teilweise interpretierbar sind und generelle Aussagen konkretisiert und völlig offen gelassene Aspekte im Geiste des quran und der sunna geregelt werden müssen60. Die aus dieser Tätigkeit gewonnenen Resultate sind ebenfalls Teil eines weiter gefassten Begriffs des islamischen Rechts61. Selbstverständlich genießen diese Ergebnisse nicht den unzweifelhaften Status des engeren islamischen Rechtsverständnisses, welcher sich direkt aus dem quran und der sunna ergibt62. Die Tätigkeit, die Juristen dabei ausüben, d.h. die unabhängige Rechtsherleitung durch qualifizierte muslimische Juristen (mujtahid) aus den Generalklauseln und Grundprinzipien des qurans und der sunna, wird ijtihad genannt, 63. Hierbei haben muslimische Juristen rechtlich nicht erfasste bzw. nicht kodifizierte oder für Interpretation offene Sachverhalte durch Entwicklung von Rechtsmethoden und hieraus abgeleitetem Recht shariakonform gelöst64. Daher ist das islamische Recht nicht statisch oder unflexibel. Zwar wurde für das islamische Recht im 11. Jahrhundert die „Türe der unabhängigen Rechtsfindung“ (bab al-ijtihad) durch die muslimischen Gelehrten geschlossen und die Tätigkeit späterer Juristen auf die Imitation (taqlid) der alten Rechtsgelehrten beschränkt65. Dies betraf aber nur fundamentale Fragen des Glaubens und die wenigen materiellen Aussagen des islamischen Rechts, die hinreichend konkret waren66. Bezweckt war eine Ausuferung von solchen Rechtsmeinungen zu verhindern, die nicht durch das islamische Recht legitimierbar waren67. Völlig neue Sachverhalte und Rechtslagen, die durch das islamische Recht 58
Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 76. James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 4. 60 Murad Hofmann, Koran, 2006, 79 f.; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 6. 61 Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 16; Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 34. 62 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 2 f. 63 Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 62; Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 1; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 9 f., 15; Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 87 f., 138 f. 64 Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 1. 65 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 5; Florian Amereller, Hintergründe des „Islamic Banking“, 1995, 20 f.; Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 38 f. 66 Vgl. Muhammad Ebu Zehra, Islam Hukuk Okuları ve Sekiz Büyük Imam, 2006, 168. 67 Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 65. 59
VI. Rechtsschulen im Islam
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nicht verbindlich und hinreichend konkretisiert oder der Interpretation zugänglich waren, blieben selbstverständlich weiterhin offen für ijtihad 68.
VI. Rechtsschulen im Islam Eigentümlich für das islamische Recht ist das Nebeneinander von verschiedenen Rechtsschulen, die sich im Laufe der Zeit völlig unabhängig voneinander und unabhängig vom Staat entwickelt haben69. Viele verschwanden aber bereits im 3. Jahrhundert nach islamischer Zeitrechnung wieder oder gingen in anderen Rechtsschulen auf70. Heute gibt es innerhalb der beiden Hauptströmungen des Islams, dem Schiitentum und dem Sunnitentum, mehrere unterschiedliche Rechtsschulen, die sich in Rechtsanwendung und Interpretation, Rechtsmethodik und Rechtsherleitung unterscheiden71. Diese Rechtsschulen gehen meist zurück auf große muslimische Rechtsgelehrte und wurden bereits in den ersten Jahrhunderten der islamischen Zeitrechnung gegründet72. Die vier sunnitischen Rechtsschulen, die heute noch existieren, sind die hanefitische, die malikitische, die safitische und die hanbalitische Rechtsschule73. Die wichtigsten schiitischen Rechtsschulen sind die ithna’ Ashari-, die zayidi-, die ismali- und die ibadi- Rechtsschule74. Die Entwicklungen des letzten Jahrhunderts haben gezeigt, dass die Rechtsschulen als solche immer mehr an Bedeutung verloren haben75. Während früher die Zugehörigkeit zu einer Rechtsschule mehr oder weniger streng das Spektrum 68 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 482 f.; Florian Amereller, Hintergründe des „Islamic Banking“, 1995, 21; Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 287 f. 69 Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 6 f.; Shah Wali Allah Al-Dihlawi, Difference of opinion in Fiqh, 2003, 33 ff.; vgl. Maulana Yusuf Talal Ali al Amriki, The Essential Hanafi Handbook of Fiqh, 1985, 20 ff., (als Beispiel für die hanefitische Rechtsschule); Hayreddin Karaman, Dört Risali, 2004, 9 ff.; Abdal Hakim Murad, Understanding the Four Madhhabs, k. D., 3 ff. 70 Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 133 f.; Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 120; Hans Küng, Islam, 2007, 269 ff. 71 Muhammad Jawed Maghniyyah, The Five Schools of Islamic Law, 2003, XV; Gottfried Hierzenberger, Der Islam, 2006, 123. 72 Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 120; vgl. Muhammed Ebu Zehra, Islam Hukuk Okulları ve sekiz büyük Imam, 2006, 181 ff., 246 ff., 297 ff., 368 ff., 440 ff., 514 ff., 613 ff. 73 Hans Küng, Islam, 2007, 269 ff.; Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 119 ff.; Hayreddin Karaman, Dört Risali, 2004, 15; Yas¸ar Nuri Öztürk, Imami Azam Hanafi, 2009, 50 ff. 74 Vgl. Asaf A. A. Fyzee, Outlines of Muhammadan Law, 1974, 40 f.; Murad Hofmann, Islam, 2006, 56; Irfan Abdülhamid, Islam’da Mezhepler ve Akaid Esasları, 1981, 37 ff., 41 f., 42 ff. 75 Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 115.
60
C. Islamisches Recht
der anzuwendenden Rechtsmeinungen regelte, änderte sich dies im 19. Jahrhundert, weil Juristen dazu übergingen Theorien aus verschiedenen Rechtsschulen zu kombinieren76. Damit leiteten muslimische Gelehrte im islamischen Recht Reformen ein, ohne Gefahr zu laufen angeklagt zu werden, sich nicht an den Werken von früheren Juristen orientiert zu haben. Außerdem wurden damit sinnvolle Ergebnisse in der Praxis erzielt, weil sich die verschiedenen Rechtsmeinungen teilweise zu Gunsten der Rechtssubjekte ergänzten77.
VII. Islamisches Recht aus westlicher Sicht Westliche Islamrechtler pflegen die Meinung, dass ein Großteil der Konkretisierung des islamischen Rechts durch muslimische Juristen geschah78. Sie behaupten ferner, dass bestehendes vor-islamisches Recht und Gewohnheitsrecht stückweise einfach übernommen worden sei und hierdurch islamisches Recht sogar un-islamische Aspekte aufweise79. Muslime widersprechen dieser Sichtweise und heben hervor, dass muslimische Gelehrte und Juristen die bereits bestehenden Normen der sharia entsprechend neu interpretiert bzw. konkretisiert haben80. Bei ungeregelten Sachverhalten hätten Juristen im Geiste der generellen Prinzipien des islamischen Rechts legislativ gearbeitet bzw. bestehende vor-islamische Normen islamkonform angewendet81. Islamisches Recht ist demnach auf einen unveränderlichen Wesenskern zurückzuführen, der sich in seinen einzelnen Ausprägungen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen nach Zeit und Ort anpasst82. Daher ist die Übernahme vorislamischen Rechts nicht un-islamisch, sondern im Gegenteil ein Teil des Konzepts, das alles akzeptiert, was seinem Wesenskern entspricht83. Viele westliche Islamrechtler unterschätzen auch die Bedeutung des islamischen Rechts84. Hierbei übersehen viele, dass bereits seit 1948 die sharia als „general principle of law“ vom Internationalen Gerichtshof zu berücksichtigen 76 Vgl. Muhamad Jawad Maghniyyah, The Five Schools of Islamic Law, X ff. In seinem Werk gibt Muhamad Jawad Maghniyyah die Ansichten fünf großer Rechtsschulen zu verschiedenen Sachverhalten wieder und lässt es teilweise offen, welcher Rechtsschule gefolgt werden sollte. 77 Florian Amereller, Hintergründe des „Islamic Banking“, 1995, 24. 78 James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, 1959, 7. 79 Vgl. Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 39 f. 80 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 37 f.; Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 87 f. 81 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 87 f. 82 Murad Hofmann, Islam, 2006, 53 ff., 55 ff. 83 Murad Hofmann, Islam, 2006, 53 ff., 55 ff. 84 Vgl. Christine Schirmacher/Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia, 2004, 20.
VII. Islamisches Recht aus westlicher Sicht
61
ist85. Auch die heftig geführten Diskussionen über die Rolle der sharia bei der Kodifizierung und dem Erlass der neuen Verfassungen von Afghanistan und dem Irak verdeutlichen die Relevanz des islamischen Rechts86. Art. 1 der Afghanischen Verfassung87 z. B. definiert Afghanistan als Islamische Republik88. Gemäß Art. 3 AV darf kein Gesetz den Glaubensgrundsätzen und Regelungen der „heiligen Religion des Islams“ widersprechen. Nach Art. 130 AV müssen Gerichte die Verfassung und andere Gesetze anwenden. Hiermit ist kodifiziertes Gesetzesrecht gemeint. Fehlt dies, müssen die Entscheidungen der Gerichte innerhalb der von der AV gezogenen Grenzen in Übereinstimmung mit den Regeln der hanafitischen Rechtsschule und auf der Suche nach der gerechten Lösung getroffen werden89. Weiterhin bezweifeln westliche Islamrechtler, dass die sharia eine Bedeutung bei der praktischen Rechtsanwendung hat90. So behaupten einige, dass Theorie und Praxis im islamischen Recht weit auseinander fallen und dass gerade die klassischen Werke keine Schlüsse auf die tatsächliche Anwendung des islamischen Rechts zulassen91. Sie sehen im islamischen Recht eher einen moralischen Kodex, eine Pflichtenlehre92. Sie verweisen hierbei darauf, dass strenge Vorschriften im islamischen Recht meist umgangen werden, um somit der Praxis gerecht zu werden93. Schacht unterscheidet deswegen drei Untergruppen der sharia: erstens das Familienrecht, das Erbrecht und das Recht der religiösen Rituale, die sich ungeachtet gelegentlicher Abweichungen aufgrund von lokalen Rechtsbräuchen am strengsten nach dem islamischen Recht richten, zweitens das Verfassungs-, Straf- und Steuerrecht, welche sich am weitesten vom islamischen Recht entfernen, teilweise sogar völlig abweichen, und drittens das Recht der wirtschaftlichen Transaktionen, das irgendwo zwischen diesen beiden Extremen liegt94. Diese Beobachtungen lassen sich nicht so einfach nachvollziehen. Wie Schacht bereits schreibt, werden das Familienrecht, das Erbrecht und das Recht der religiösen Rituale von den Muslimen am strengsten befolgt und in der Praxis 85
Florian Amereller, Hintergründe des „Islamic Banking“, 1995, 20. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 12; vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 251 f. 87 Nachfolgend AV. 88 Mohamed Hashem Kamali, Islam and its Sharia’a in the Afghan Constitution 2004 with special Reference to Personal Law, in: Nadjma Yassari (Hrsg.), The Shari’a in the Constitutions of Afghanistan, Iran and Egypt – Implications for Private Law, 23–43, 24. 89 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 252. 90 Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 12; Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, 1982, 76 ff. 91 Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, 1982, 76 ff.; vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 77. 92 Hans Küng, Islam, 2007, 572; vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 77. 93 Florian Amereller, Hintergründe des „Islamic Banking“, 1995, 25 f. 94 Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, 1982, 76 ff. 86
62
C. Islamisches Recht
umgesetzt95. Tatsächlich stellt dieser Bereich der sharia auch gleichzeitig den umfangreichsten Teil dar96. So kann völlig unproblematisch festgestellt werden, dass der umfangreichste Teil des islamischen Rechts in der Praxis umgesetzt und beachtet wird. Richtig ist auch die Beobachtung, dass die Praxis des Verfassungsrechts heutzutage am ehesten vom islamischen Recht abweicht. Dies wird aber selbst von islamisch-politischen Organisationen kritisiert und eine Änderung gefordert. Zwar haben einige muslimische Juristen in der Vergangenheit hervorgehoben, dass einem schlecht qualifizierten, un-islamisch an die Macht gekommenen Herrscher Gehorsam entgegenzubringen ist, sofern er Sicherheit gewährleistet, die Religion als solche nicht bekämpft, ihre Gebote im Großen und Ganzen beachtet und die Existenz des Staates und seine Bürger sichert97. Diese Meinungen müssen allerdings im historischen Kontext betrachtet werden. Sie entstanden hauptsächlich zur Zeit der Kreuzzüge, der Reconquista und des Mongolensturms, in der die Muslime sprichwörtlich ums nackte Überleben kämpften und Anarchie gang und gäbe war98. So wurden zu dieser Zeit die islamischen Kulturzentren im Osten wie im Westen fast vollständig zerstört, und große Teile der islamischen Welt kamen unter brutalste Fremdherrschaft99. In diesem Zusammenhang nicht auf der vollständigen Umsetzung eines islamisch legitimierbaren Staatskonzeptes zu beharren, sondern primär militärische Aspekte in der Herrschaft zu suchen, erscheint nur allzu verständlich. Ähnliche Argumente lassen sich bezüglich des Strafrechts aufzählen. So hat sogar der zweite rechtgeleitete Kalif Umar in gewissen Situationen das islamische Strafrecht nicht angewandt100. Dies waren aber islamisch legitimierbare Ausnahmezustände. So verlangt Maududi in seinem Werk „The Islamic Law and Constitution“ die Implementierung des islamischen Strafrechts erst, wenn ein islamisch geprägter sozialer Wandel der Gesellschaft vollzogen ist und dadurch alle materiellen Probleme der Bürger gelöst sind, die Religion den zentralen Punkt der Menschen ausmacht und von den Muslimen komplett umgesetzt wird101. Erst dann können nach Maududi die hadd-Strafen102 verhängt werden103. Auch beim Steuerrecht und dem 95
Christine Schirmacher/Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia, 2004,
12. 96
Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 76 ff., 99 ff. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 141. 98 Vgl. Bernard Lewis (Hrsg.), Islam: From Muhammad to the Capture of Constantinople Volume I: Politics and War, 1987, 81 f.; W. Montgomery Watt, Islam’da Siyasal Düs¸üncenin Olus¸ması, 2001, 154 ff., 164 f.; Gottfried Hierzenberger, Der Islam, 2006, 54 ff.; Hayreddin Karaman, Islam Hukuk Tarihi, 2004, 255 f. 99 Gottfried Hierzenberger, Der Islam, 2006, 54 f., 59 ff. 100 Achmat bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 6; Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 104. 101 Sayyid Abul A’la Maududi, Islamic Law and Constitution, 1967, 55. 102 Körperstrafen im islamischen Strafrecht; vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 101; Mohamed S. El-Awa, Punishment in Islamic Law, 1983, 1 f. 103 Sayyid Abul A’la Maududi, Islamic Law and Constitution, 1967, 56. 97
VII. Islamisches Recht aus westlicher Sicht
63
Recht der wirtschaftlichen Transaktionen ist der historische Hintergrund zu berücksichtigen. Allerdings waren Muslime auch in diesen Bereichen bemüht, die in den Rechtswerken enthaltenen Verpflichtungen umzusetzen104. Es muss in diesem Zusammenhang darauf abgestellt werden, ob die Grundprinzipien umgesetzt werden und Abweichungen islamisch legitimierbar sind. Selbstverständlich werden nicht gerechtfertigte Abweichungen von muslimischen Gelehrten angeprangert. In all dem allerdings eine nicht vorhandene Relevanz des islamischen Rechts für die Praxis zu sehen, ist äußerst gewagt, da nur einige bestimmte Beispiele aus der Vergangenheit und der Gegenwart betrachtet und analysiert werden, die zudem aus dem Kontext gerissen sind, und mögliche künftige Veränderungen durch islamisch-politische Bewegungen völlig außer Acht gelassen werden105. Für diese Bewegungen hat das islamische Recht eine erhebliche praktische Relevanz106. Mittlerweile haben jüngere Untersuchungen, auch von westlichen Orientalisten, gezeigt, dass das islamische Recht in weiterem Umfang als vielfach angenommen auch die Rechtspraxis dominiert107.
104
Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 77. Vgl. Baudouin Dupret, A Return to the Shariah, in: John L. Esposito/François Burgat (Hrsg.), Modernizing Islam, 2003, 125–145, 135. 106 Vgl. John L. Esposito (Hrsg.), Political Islam, 1997, 12 f. 107 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 77. 105
D. Terminologie: Staats- und Staatsorganisationsrecht Staats- und Staatsorganisationsrecht ist Teil der Rechtsordnung von Staaten1. In der jeweils geltenden Rechtsordnung nimmt das Staats- und Staatsorganisationsrecht eine wichtige Rolle wahr und erfüllt verschiedene Funktionen2. Staatsund Staatsorganisationsrecht befasst sich nicht allgemein mit dem Staat, sondern ganz konkret mit einem Staat wie z. B. Deutschland oder jedem anderen beliebigen Staat, in dem es gilt. Jeder Staat hat sein eigenes Staats- und Staatsorganisationsrecht, das einerseits von den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen, kulturellen und geistigen Verhältnissen und Vorstellungen seiner Zeit abhängig ist, andererseits aber wiederum seinen Staat in seiner konkreten Erscheinungsart prägt und bestimmt3. Das deutsche Staats- und Staatsorganisationsrecht z. B. ist ein Teil der gesamten deutschen staatlichen Rechtsordnung, nimmt jedoch eine essentielle Stellung ein 4. Es regelt nicht nur die rechtlichen Grundlagen der Staatsgewalt und ihre Ausübung, sondern es legt auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Entstehung und die Geltung der übrigen staatlichen Rechtsnormen fest5. Staats- und Staatsorganisationsrecht ist ein Teilbereich des öffentlichen Rechts6. Folglich sollte zunächst das öffentliche Recht bestimmt werden, damit in diesem Rahmen näher auf das Staatsrecht eingegangen werden kann. Neben dem Begriff Staatsrecht wird immer wieder der Begriff Verfassungsrecht verwendet7. Die beiden Begriffe haben zum Teil die gleiche Bedeutung, werden aber auch unterschiedlich verwendet. Daher soll zudem das Verhältnis dieser beiden Begriffe zueinander geklärt werden. Die gesamte Rechtsordnung kann in zwei große Rechtsbereiche eingeteilt werden, das öffentliche Recht und das Privatrecht8. Allgemein kann gesagt werden, 1
Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 1, Rn. 1. Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 5, Rn. 17 ff. 3 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 1, Rn. 1; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 13 ff.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 26. Auflage, 2010, 1, Rn. 1. 4 Wolfgang Ismayr, Das politische System Deutschlands, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Das politische System Westeuropas, 2009, 515–566, 516 ff. 5 Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 1999, 52 f. 6 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 5, Rn. 17 ff. 7 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 6, Rn. 21 ff. 8 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 6, Rn. 18 f. 2
D. Terminologie: Staats- und Staatsorganisationsrecht
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dass das Privatrecht die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander regelt, während das öffentliche Recht den Aufbau und die Tätigkeit staatlicher Organe sowie die Beziehungen zwischen dem Staat und den Bürgern betrifft9. Diese Unterscheidung ist aber nicht nur für die Rechtsanwendung von Bedeutung, sondern zeigt auch die grundsätzliche Dimension dieser Unterteilung. Das Privatrecht, das die Beziehungen zwischen den Bürgern und sonstigen Privatrechtssubjekten regelt, geht von der Freiheit und der Privatautonomie des einzelnen Menschen aus und hat dementsprechend Vorschriften bereitzustellen, die den Rechtsverkehr zwischen den Privatsubjekten regeln, Interessenkonflikte verhindern oder bereinigen und den sozial Schwachen gegen Ausnutzung oder Ausbeutung schützen. Das öffentliche Recht, das den Staat zum Gegenstand hat, hat dagegen die Aufgabe, die Staatsgewalt, insbesondere die staatlichen Organe und deren Befugnisse, zu begründen, zu lenken und zu begrenzen10. Dabei muss es einerseits die Voraussetzungen für eine effektive Staatstätigkeit schaffen, andererseits aber auch die Freiheiten und Rechte der Bürger gewährleisten11. Festzuhalten bleibt somit, dass Staats- und Staatsorganisationsrecht den rechtlichen Rahmen für die Aktivitäten der Regierungen bereitstellt. Außerdem definiert Staatsrecht die ultimativen Quellen von rechtlichen Handlungen und legt dadurch die Fundamente des öffentlichen Rechts fest. Staats- und Staatsorganisationsrecht ist daher der Ursprung der Legitimität des Staates sowie seiner Tätigkeiten12. Es legt die politischen und rechtlichen Parameter für die Interaktion eines Individuums mit dem Staat fest13. Staatsrecht fungiert somit als ein Manifest, ein Vertrauensbekenntnis. In diesem Zusammenhang begründet und definiert modernes Staatsrecht die Regierung, die Verwaltung und andere Organe des Staates14. Es regelt die Machtverteilung, und die damit einhergehende Beschränkung der Machtverhältnisse, etabliert Konfliktlösungsme-
9 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 4, Rn. 10 ff.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 26. Auflage, 2010, 1, Rn. 1. 10 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 4 ff.; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 492. 11 Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 23 f.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 26. Auflage, 2010, 1, Rn. 1. 12 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 17, Christoph Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 26. Auflage, 2010, 1, Rn. 1. 13 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, Rn. 30 f., 10. 14 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 4 ff.; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 492.
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D. Terminologie: Staats- und Staatsorganisationsrecht
chanismen sowie Prozedere und enthält fast immer einen Katalog von fundamentalen Rechten15. Die primäre Quelle des Staats- und Staatsorganisationsrechtes ist in den meisten Ländern die jeweilige Verfassung16. In dieser wird zwar hauptsächlich Staats- und Staatsorganisationsrecht kodifiziert, aber Verfassungen enthalten auch Normen, die sich nicht auf Staats- und Staatsorganisationsrecht beziehen17. Folglich ist Verfassungsrecht alles Recht, welches in der Verfassung enthalten ist, während Staats- und Staatsorganisationsrecht alles Recht ist, welches den Staat zum Gegenstand hat, dessen Hauptquelle zwar die Verfassung ist aber auch andere unter der Verfassung anzusiedelnde Gesetze als Quelle aufweisen kann18. Verfassungen sind faktisch betrachtet erlassene Gesetze19. Aber sie differieren in ihrem Charakter, ihrem speziellen Status und ihrer Relevanz sehr von anderen Gesetzen20. Sie sind die fundamentalen Gesetze eines Staates21. Der deutsche Begriff Grundgesetz, für die in Deutschland geltende Verfassung, hebt dies besonders hervor22. Erstmalige Verfassungen werden durch den sogenannten pouvoir constituant erlassen23. Der pouvoir constituant ist als vorkonstitutionelle Macht dazu legitimiert, durch einen Erlassungsakt die Fundamente eines Staates zu bestimmen24. Pouvoir constitué sind die durch den pouvoir constituant in der Verfassung etablierten Organe und zuständigen handlungsfähigen Teile des Staa15 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 1; Werner Frotscher/ Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 396 ff.; vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 259. 16 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 1; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 42. 17 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 6, Rn. 21 ff.; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491– 507, 492. 18 Bernd Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, 50; Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 6, Rn. 21 ff.; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 43. 19 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, Rn. 33, 11; vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 213, Rn. 781 ff., 275, Rn. 1024 ff. 20 Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 1999, 19 ff. 21 Vgl. Bernd Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, 50; Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, Rn. 33, 11. 22 Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 44 ff. 23 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 17; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 50. 24 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 17.
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tes25. Heutzutage herrscht insbesondere im Westen die Meinung, dass ein legitimer pouvoir constituant nur dem Volk zukommen kann26. Westliche Verfassungen etablieren meistens einen besonderen Schutz für die Verfassung, um eine mögliche Aushöhlung zu unterbinden, und eine Hierarchie der Normen, in der die Verfassung den höchsten Platz einnimmt27. Der Kernbereich von westlichen Verfassungen kann – wie aufgezeigt – mit den Begriffen Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit umschrieben werden28. Hierdurch soll primär die individuelle Freiheit der Bürger geschützt und gewährleistet werden. Dieser Kernbereich und dieses Ziel sind maßgebend für westliches Staats- und Staatsorganisationsrecht29. Vereinfacht kann gesagt werden, dass Staats- und Staatsorganisationsrecht das jeweilige in einem Staat geltende Recht ist, welches den Staat zum Bezugspunkt hat.
25 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007,12, Rn. 34; Reinhold Zippelius/ Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 51. 26 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 17; vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 11, Rn. 36 ff.; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 50 ff. 27 Vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 213, Rn. 781 ff., 275, Rn. 1020. 28 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 396 ff. 29 Khalid M. Ishaque, Problems of Islamic Political Theory, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 25–37, 27; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 43.
E. Der islamische Staat Alle politischen Bewegungen innerhalb der islamischen Welt sehnen sich prinzipiell nach der Gründung des islamischen Kalifats1. Dies gilt für Schiiten gleichermaßen wie für Sunniten. Während für die Mehrheit der Schiiten dies erst verwirklicht werden kann, wenn der letzte durch Gott entrückte 12. Imam als Mahdi zurückkehrt2, kann dieses Ideal aus sunnitischer Sicht jederzeit realisiert werden, da die Sunniten die Meinung vertreten, dass die Wahl des Kalifen ein Recht der Gemeinde ist und keine göttliche Nominierung der Nachfolge des Propheten (s. a. w. s.) stattgefunden hat3. Kalifat heißt übersetzt „nach jemandem folgen, an dessen Stelle treten, ihn vertreten“ 4. Das Wort Kalif bedeutet dabei „derjenige, der jemandem folgt, derjenige, der ihn vertritt“ 5. Die religiöse und staatspolitische Bedeutung des Kalifen im islamischen Recht basiert auf drei Grundprinzipien6. Erstens: die vier rechtgeleiteten Kalifen, die unmittelbar nach dem Tode des Propheten (s. a. w. s.) das Amt des Staatsoberhauptes übernahmen, vertraten den Propheten (s. a. w. s.) in all seinen Funktionen, die nicht mit der Offenbarungsmission zu tun hatten, da diese mit dem Ableben des Propheten (s. a. w. s.) abgeschlossen war7. Zweitens: da der eigentliche Souverän Gott ist, ist jede Ausführung eines politischen Amtes eigentlich nur dessen Stellvertretung,
1 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 244; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 125 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 393 ff.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 124 ff.; Murad Hofmann, Islam, 2006, 97; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 37 f. 2 Niyazi Kahveci, Mutezile ile S ¸ i’a arasında Siyasal tartıs¸ma, 2006, 50; Ahmad Moussavi, The Theory of Vilayat-i Faqih: Its Origin and Appearance in Shi’ite Juristic Literature, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 97–110, 97; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 24. 3 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 53; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 40. 4 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 125; M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 124 f. 5 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 23; Hans Küng, Islam, 2007, 163; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 1. 6 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 125; vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 157. Maududi hebt aber nur zwei Grundprinzipien hervor. 7 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 125; Hans Küng, Islam, 2007, 163.
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so auch das Amt des Staatsoberhauptes8. Daher ist der Kalif als Staatsoberhaupt theoretisch gleichzeitig der Stellvertreter und Treuhänder des Propheten (s. a. w. s.), der Stellvertreter und Treuhänder Gottes sowie der Stellvertreter und Treuhänder des Staatsvolkes9. Durch diese theoretische Stellvertreter- und Treuhänderposition hat der Kalif aber keine göttlichen oder prophetischen Rechte, die ihn unfehlbar bzw. unkritisierbar machen10. Um dies hervorzuheben schreibt Yusuf AlQaradawi: „The governor or Imam or Caliph in Islam is not the representative of Allah but of his nation that chooses, supervises, questions and may even discharge him of his office if necessary“ 11. Diese Stellvertreter- und Treuhänderposition ist somit nicht als eine göttliche Privilegierung und Legitimierung des Herrschers zu verstehen12. Drittens: diese Stellvertreter- und Treuhänderverantwortung trifft nicht nur das amtierende Staatsoberhaupt, sondern jeden Menschen bzw. insbesondere jeden Muslim, da jeder Mensch der Kalif Gottes ist13. Dies wird praktisch realisiert, indem das islamische Recht umgesetzt und die gottgewollte Ordnung realisiert wird14. Mit der Akzeptanz der Herrschaft eines Kalifen, geäußert durch einen politischen Willen und einen Transferakt, überträgt die Gemeinde diese Verantwortung dem Staatsoberhaupt15. Die Gemeinde bzw. jeder einzelne Muslim ist aber weiterhin dafür verantwortlich, dass der Kalif seine
8 Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 23; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 157; vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 31. Anfangs wurde noch darüber gestritten, ob der Kalif Stellvertreter Gottes oder Stellvertreter des Propheten (s. a. w. s.) ist. Mittlerweile ist dieser Streit obsolet. 9 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 125; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 184 f.; Isma’il Raji al-Faruqi, The Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 136; vgl. Mohammed Djassemi, Macht und Staat im Islam, 2004, 30; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 31, 143. 10 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 159 f.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 77; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 455. 11 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 79. 12 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 394, 426; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 235; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 38 f., 41. 13 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 158; Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 177; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 135; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 71 f.; Mohammed Djassemi, Macht und Staat im Islam, 2004, 22 ff. 14 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 86; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 136; Yusuf Al-Quaradawi, Legislation and Law in Islam, k. D., 36. 15 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 137; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 44.
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Position in diesem Sinne ausübt16. In der Theorie soll der Kalif hierbei die Unterstützung der gesamten Gemeinde erhalten, die Gemeinde und die Religion schützen und den Menschen bei ihren weltlichen Problemen Lösungsvorschläge unterbreiten, die mit der Religion konform sind17. Yusuf Al-Qaradawi erklärt ebenfalls, dass das politische Kalifat auf drei Fundamenten basiert. Seine Einteilung weicht allerdings von dem zuvor Erwähnten ab. Für ihn sind erstens die Einheit der islamischen Länder, die in einer Konföderation organisiert sein können, zweitens die Ableitung der Verfassung vom quran und der sunna und drittens die Ausübung der Zentralmacht bzw. Herrschaft durch ein geeignetes Individuum, welches im Einklang mit dem Islam agiert, von Relevanz18. Die Tätigkeiten des Propheten (s. a. w. s.) sind dabei ein Indiz für das breite Spektrum des Kompetenzbereiches eines Kalifen19. Die Hauptaufgabe des Propheten (s. a. w. s.) war die Verkündung der göttlichen Offenbarung20. Er war aber ebenso Staatsoberhaupt und führte dieses Amt unter Beachtung der religiösen Vorschriften aus21. Des Weiteren war er der qualifizierteste Theologe der islamischen Religion sowie der qualifizierteste Jurist des islamischen Rechts22. Er unterrichtete die Gemeinde und gab sein Wissen weiter23. Die h. M. im islamischen Recht geht davon aus, dass die Gemeinde kollektiv verpflichtet ist, das Kalifat bzw. einen islamischen Staat zu begründen24. Eine Mindermeinung besagt, dass es nicht notwendig, aber begrüßenswert ist, wenn das Kalifat etabliert wird25. Eine weitere Mindermeinung vertritt die Ansicht, 16
Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 78 f. Muhammed Abdullah, Kur’an Devleti, 1976, 100 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, 2006, Bd. 8, 424 ff.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 185 f.; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 154 ff. 18 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 38. 19 Vgl. Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 83 ff.; Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 78. 20 Vgl. Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 177. 21 Ihsan Süreyya Sırma, Islam Teblig ˘ in – Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 20; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 44. Vgl. W. Montgomery Watt, Islam’da Siyasal Düs¸üncenin Olus¸umu, 2001, 17 f.; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 23. 22 Vgl. Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards understanding Islam, 1979, 72; Mohammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 52 ff.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 42; Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 35. 23 Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards understanding Islam, 1979, 44; Mohammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 52 ff. 24 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 126 f.; Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 81; Fazlur Rahman, The Principles of Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 87–97, 87. 25 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 399. 17
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dass das Kalifat nicht notwendig ist, sofern alle Muslime nach der sharia leben und die göttlichen Gebote und Verbote beachten26. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die h. M. die Etablierung des politischen Kalifats als obligatorisch ansieht27. Dies setzt allerdings voraus, dass die Möglichkeit hierzu besteht. Existiert diese nicht, sind Muslime zumindest dazu verpflichtet, für die Gründung des Kalifats zu arbeiten und danach zu streben28. Strittig ist ebenfalls, ob der Kalif nur politische Funktionen ausübt oder auch religiöse Aufgaben übernimmt und somit die oberste religiöse und politische Instanz im Staat darstellt29. Diejenigen, die die Meinung vertreten, dass das Kalifat keine oberste religiöse Instanz sei, erklären, dass es keine Priesterschaft im Islam gibt und daher der Kalif nur politische Kompetenzen innehaben kann30. Dabei verkennen die Vertreter dieser Meinung, dass der religiöse Kompetenzbereich des Kalifen nicht so zu verstehen ist, wie sie es tun, nämlich wie eine oberste religiöse Instanz, die Gut und Böse, Recht und Unrecht definieren kann und somit als Mittler zwischen Gott und den Menschen fungiert31. Die Konsequenz ihrer Überlegungen würde letztlich dazu führen, dass der Staat vollkommen von der Religion getrennt werden könnte. Der Prophet (s. a. w. s.) und die vier rechtgeleiteten Kalifen nahmen aber neben ihren politischen Aufgaben ausdrücklich religiöse Verpflichtungen wahr32. Daher muss ein Kalif die Religion schützen, dieser entsprechend handeln und das islamische Recht praktisch umsetzen sowie ein Kenner desselben sein33. Er hat einen religiösen und einen politischen Aufgabenbereich, die eng miteinander vernetzt sind34. Ihm steht es aber zu, Kompetenzbereiche auf andere Personen zu delegieren35. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der Islamischen Republik Iran. Dort nimmt ein Präsident unmittelbar die Regierungsgeschäfte wahr, während zusätzlich ein Islamisches Oberhaupt, welches über dem Präsidenten steht und sogar die Kontrolle über das 26
Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 13 f. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 394; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 126 f. 28 Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 81. 29 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 23. 30 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 109; Yusuf AlQaradawi, State in Islam, 2004, 75 ff. 31 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 78 ff. 32 Vgl. Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ebubekir, 2003, 183, 186; Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ömer, 2003, 192; Ahmet Emin Temiz, Hazreti Osman, 2003, 75; Haydar Bas¸, Imam Ali, 2010, 831; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 25 f.; Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 72 f.; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 170 ff. 33 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 424 ff.; vgl. Seyyid Abdullah Cemaleddin, Islam’da Idare ve Siyaset, 1995, 88 f. 34 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, 2006, Bd. 8, 424 ff. 35 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 23 ff.; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 135 f. 27
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E. Der islamische Staat
Militär ausübt, die religiösen Aufgaben erfüllt36. Somit teilt die Islamische Republik Iran die Kompetenzen des 12. entrückten Imams auf und weist diese verschiedenen Staatsorganen zu37. Schon im Osmanischen Reich wurde ein ähnliches Konzept angewandt38. Obwohl der Sultan dort gleichzeitig das Amt des Kalifen innehatte, existierte zusätzlich noch die religiöse Institution des Scheih ül’islams39. Dieses Amt wurde von einem qualifizierten muslimischen Rechtsgelehrten wahrgenommen40. Der Scheih ül’islam war nicht nur der oberste Repräsentant der ulama41 am osmanischen Hof, sondern auch für religiöse und rechtliche Fragen mitverantwortlich42. Das Ideal eines islamischen Staates umfasst hypothetisch die gesamte islamische Welt und eint die Gemeinde unter der Herrschaft eines Kalifen43. Dabei ist das Merkmal dieses Staates nicht die Nationalität, die Sprache oder die Kultur, sondern einzig und allein die Religion44. Der Kalif muss das islamische Recht umsetzen und ist diesem genauso unterworfen wie jeder Bürger45. Er ist lediglich Erster unter Gleichen46. Die Strukturierung dieses universellen Kalifatsstaates ist nicht verbindlich definiert47. So ist eine zentralisierte Form genauso möglich wie eine föderative Form, bei der die Oberhäupter der Föderationsteile die nominelle Herrschaft des Kalifen anerkennen48. Dieser universelle Kalifatsstaat soll außerdem keine erbliche Herrschaftsform begründen49. Das historische Kalifat, welches sich nach dem Tod des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten
36 Vgl. Art. 107 Abs. 1, Art. 113 Verfassung der Islamischen Republik Iran (nachfolgend Iranische Verfassung); David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 25. 37 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 99. 38 Ahmed Akgündüz, Osmanlı Kanunnameleri ve hukuku Tahlilleri, Bd. 1, 1990, 224. 39 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 180. 40 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 150 ff. 41 Islamische Rechtsgelehrte. 42 Ahmed Akgündüz, Osmanlı Kanunnameleri ve hukuku Tahlilleri, Bd. 1, 1990, 224 ff. 43 Murad Hofmann, Islam, 2006, 97; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 38; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 118 ff.; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 38; Majid Khadduri, The Islamic Law of Nations, 1966, 10 ff. 44 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 58 ff.; Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 29; Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 112 f.; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 118 ff. 45 Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 29. 46 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 41, 101; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 101 ff., 135 f.; Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 125. 47 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 20 f. 48 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 32 ff. 49 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 43; vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 160 ff.
E. Der islamische Staat
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Kalifen bildete, wurde durch zwei große Katastrophen erschüttert50: zum einen durch die Vernichtung Bagdads und Tötung des amtierenden Kalifen durch die Mongolen im Jahr 1258, wodurch für eine kurze Zeit die islamische Welt ohne Kalif war, zum anderen durch die Abschaffung dieser Institution 1924 durch die türkische Nationalbewegung51. Obwohl das Kalifat nach 1258 weiter beibehalten wurde, hatte es keine politische Macht mehr und existierte nur als Institution weiter52. Mit der Absetzung des letzten Kalifen und der Abschaffung des Kalifats 1924 durch die türkische Nationalbewegung endete für Muslime das letzte greifbare Beispiel dieser Institution53. Durch die Gründung mehrerer Territorialstaaten innerhalb der islamischen Welt rückte die Verwirklichung dieses Ideals noch mehr in den Hintergrund54. Islamisch-politische Bewegungen konzentrierten sich ab diesem Zeitpunkt auf die Etablierung eines islamischen Staates und die Implementierung des islamischen Rechts innerhalb des Gebietes der Staaten, in denen sie aktiv waren und die Muslime die Mehrheit bildeten55. So formierten sich in den letzten neunzig Jahren islamisch-politische Bewegungen innerhalb fast aller Länder, die eine muslimische Bevölkerung haben56. Das nahe Ziel dieser islamisch-politischen Bewegungen ist die Verwirklichung der Prinzipien des universellen islamischen Kalifats innerhalb ihrer Wirkungsgrenzen durch Gründung von islamischen Staaten57. So dienen die Beispiele des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen als Inspirationsquelle für die jeweils anvisierten und zu gründenden islamischen Staaten58. Dabei müssen politische Bewegungen und Gelehrte, die islamische Staaten befürworten, in ihren Werken und Schriften auf zwei wichtige Punkte eingehen; erstens auf die Argumente von Muslimen, die die Etablierung von säkularen
50 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 78; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26. 51 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 78 ff.; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26. 52 Vgl. Murad Hofmann, Islam, 2006, 97; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 173; Halil Inalcık, Islamic Caliphate, Turkey and Muslims, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 14– 35, 17. 53 Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 45. 54 Murad Hofmann, Islam, 2006, 97; Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 113. 55 John L. Esposito, Islam and Civil Society, in: John L. Esposito/François Burgat (Hrsg.), Modernizing Islam, 2003, 69–103, 71 ff.; Sherman A. Jackson, The Islamic Law and State, 1996, XIV. 56 John L. Esposito, Islam and Civil Society, in: John L. Esposito/François Burgat (Hrsg.), Modernizing Islam, 2003, 69–103, 77 ff. 57 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 121 ff.; Sherman A. Jackson, The Islamic Law and State, 1996, XIV. 58 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 27 ff.
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E. Der islamische Staat
Staatsformen anvisieren, und zweitens auf Kritiken, die erklären, dass islamische Staatsformen letztlich zu de facto-Theokratien führen59.
I. Notwendigkeit eines islamischen Staates Die meisten muslimischen Rechtsgelehrten argumentieren, dass ein islamischer Staat erforderlich ist, um den Muslimen die gesellschaftliche Steuerung und die moralische und kulturelle Reform, welche nach ihrer Ansicht erforderlich ist, zu ermöglichen60. Dabei soll der islamische Staat zu einer politischen Einheit führen, die den Muslimen die Unabhängigkeit von der westlichen Dominanz und die Freiheit verleiht61. Hierdurch sollen der Islam praktiziert und islamische Normen institutionalisiert werden62. Der islamische Staat und das islamische Recht ist für viele Muslime damit ein Vehikel zur Selbstbestimmung63. Die Rechtfertigung der Gründung und der Notwendigkeit eines islamischen Staates leiten muslimische Staatstheoretiker aus dem im quran beschriebenen Prinzip „amr bil marouf wa nahy anil munkar“ („Gebiete das Gute und verbiete das Böse“) ab, welches darauf abzielt, die sharia einzuführen64. Dieser Leitsatz ist im Grunde dem quran entnommen: „Und es soll aus euch eine Gemeinde werden, die zum Guten einlädt und das gebietet, was Rechtens ist, und das Unrecht verbietet; und diese sind die erfolgreichen“ 65. „Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen entstand. Ihr gebietet das, was Rechtens ist, und ihr verbietet das Unrecht, und ihr glaubt an Allah . . .“ 66. „Und die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind einer des anderen Beschützer: Sie gebieten das Gute und verbieten das Böse . . .“ 67. „Jenen, die, wenn wir ihnen auf Erden die Oberhand gegeben haben, das Gebet verrichten und die Zakah entrichten und Gutes gebieten und Böses verbieten, (steht Allah bei). Und Allah bestimmt den Ausgang aller Dinge.“ 68
Außerdem verweisen die muslimischen Gelehrten auf die Staatsgründung in Medina durch den Propheten Muhammad (s. a. w. s.), welche ebenfalls herangezogen wird, um die Notwendigkeit der Gründung eines islamischen Staates zu 59
Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 100 ff. Sayyid Abul A’la, Human Rights in Islam, 1995, 7 f. 61 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 1; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 106. 62 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 469; vgl. Muhammad M. Al-Hudaibi, The Principle of Politics in Islam, 2000, 10 ff. 63 Yusuf Al-Quaradawi, Legislation and Law in Islam, k. D., 25 f. 64 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 4; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 92 ff. 65 Quran 3:104. 66 Quran 3:110. 67 Quran 9:71. 68 Quran 22:41. 60
I. Notwendigkeit eines islamischen Staates
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rechtfertigen69. Denn wenn schon der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) einen islamischen Staat gegründet hat, so kann von den Muslimen, die ihm in jeglicher Hinsicht folgen sollen, ebenfalls erwartet werden, soweit möglich einen islamischen Staat zu gründen. Der Gelehrte Abdarraziq behauptete als eine Mindermeinung unter den muslimischen Rechtsgelehrten, dass allein aufgrund der überlieferten Dokumente sowie Traditionen nicht ernsthaft von einer Regierung und deren Organisation zur Zeit des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) die Rede sein könne70. Zwar habe der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) Heerführer, Finanzverwalter, Vorbeter beim Gebet, Abgesandte, Richter und Unterweiser von Offenbarungsversen für die islamische Sache ernannt, aber diese nach Abdarraziq’s Meinung unregelmäßigen Amtseinsetzungen seien nur von kurzer Dauer gewesen71. Außerdem erklärte er, dass es nicht die Aufgabe des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) war, einen Staat zu begründen, sondern die Religion zu verkünden72. Die Gründung eines Staates geschah nur aufgrund der Notwendigkeit hierzu73. So werde gerade im quran die Institution des politischen Kalifats nicht erwähnt74. Die primäre Aufgabe des Islams sei es, sich um das geistige, spirituelle und jenseitige Wohl der Menschen zu kümmern. Die politische Herrschaftsstruktur bzw. eine Regierung müsse und könne nicht aus dem Islam abgeleitet und legitimiert werden75. In diesem Punkt stimmt die sogenannte „Ankaraner Schule“ mit Abdarraziq überein. Die 1948 gegründete Theologische Fakultät der Universität Ankara, auf die die sogenannte „Ankaraner Schule“ zurückzuführen ist und die mittlerweile von dreiundzwanzig Theologischen Fakultäten in der Türkei repräsentiert wird, vertritt die Auffassung, dass aus dem quran eine demokratische Republik abzuleiten sei76. Der quran verkünde, dass mit dem Tod des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) das Prophetentum abgeschlossen sei, und hieraus ergebe sich zwin69
Sayyid Abul A’La Maudoodi, Islam Today, 2000, 13 ff. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 207 ff., 211; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 247. 71 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 108; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 94; Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 244 f. 72 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 248; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 108. 73 Tilman Nagel, Das Islamische Recht, 2001, 325. 74 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 15; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 211; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 247; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 92. 75 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 108; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 15. 76 Vgl. Yas ¸ar Nuri Öztürk, 400 Fragen zum Islam – 400 Antworten, 2001,192 f., 200; Yas¸ar Nuri Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, 82 ff.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 248. 70
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E. Der islamische Staat
gend, dass die Zeitalter beendet seien, in denen Völker von Personen geführt werden, die sich auf Gott berufen. Die Herrschenden seien durch dieses Gebot verpflichtet ihre Legitimation nicht auf Gott oder göttliches Recht zu gründen, sondern auf den Willen des Volkes77. Der prominenteste Vertreter dieser Meinung ist Yasar Nuri Öztürk, der Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Istanbul78. Die „Ankaraner Schule“ ist auch in Deutschland mit einem Lehrstuhl an der Goethe Universität in Frankfurt am Main durch Ömer Özsoy repräsentiert. Um diese Thesen zu belegen, verweisen Vertreter dieser Meinung oft auf historische Beispiele wie die politische Machtergreifung durch türkische Sultane im 11. Jahrhundert, bei der de facto die politische Führung von der religiösen Führung getrennt wurde und dem Kalifen nur eine repräsentative religiöse Stellung eingeräumt wurde79. Eine ähnliche Begründung nutzte schon Mustafa Kemal Atatürk, als unter seiner Führung die Türkische Nationalversammlung das Kalifenamt vom Sultanat trennte80. Diese Argumente sind allerdings in sich nicht schlüssig. Zumindest kann hieraus nicht die Abschaffung der Institution des politischen Kalifats gerechtfertigt werden, wie das von Vertretern der „Ankaraner Schule“ teilweise getan wird. Gerade die Beispiele der türkischen Sultane zeigen, dass sie alle ausnahmslos an der Institution des politischen Kalifats sowie an der Implementierung des islamischen Rechts festgehalten haben und ihre politische Führung von dieser Einrichtung legitimieren ließen81. Selbst Mustafa Kemal Atatürk begründete die Abschaffung des Kalifats durch die Türkische Nationalversammlung nicht mit einem republikanischen Demokratiegebot aus dem quran82. Er erklärte ganz klar, dass die Institution des politischen Kalifats Verpflichtungen bringe, die das türkische Volk und ein von ihm bestimmter Kalif unter den gegebenen Voraussetzungen der imperialen Aufteilung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg nicht erfüllen könnten83. Das politische Kalifat, mithin die politische Herrschaft, stehe ohnehin dem Volk zu, welches wiederum von der Nationalversammlung repräsentiert werde. Das Volk habe den Kalifen diese Stellung zugeteilt und könne daher jederzeit diese Kompetenzen zurückfordern84. Für ihn waren somit hauptsächlich 77 Yas ¸ar Nuri Öztürk, 400 Fragen zum Islam – 400 Antworten, 2001,192 f., 200; Yas¸ar Nuri Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, 82 ff. 78 Yas ¸ar Nuri Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, 83. 79 Vgl. Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 17 ff.; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 80; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 78 ff. 80 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 80 f. 81 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 80; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 78 ff. 82 Vgl. Mustafa Kemal Atatürk, Nutuk, 1927, 470 ff. 83 Mustafa Kemal Atatürk, Nutuk, 1927, 472 f. 84 Mustafa Kemal Atatürk, Nutuk, 1927, 455, 466; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 202 ff.; Halil Inalcık, Islamic Caliphate, Tur-
I. Notwendigkeit eines islamischen Staates
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praktische Gründe, keine theoretischen bzw. religiösen Gründe wie ein republikanisches Demokratiegebot aus dem quran maßgebend, für die Abschaffung des Kalifats85. Wichtig für ihn war einzig und allein das nationale und zivilisatorische Fortkommen des türkischen Volkes, und hierfür war nach seiner Ansicht ein säkularisiertes Staatswesen notwendig86. Die Säkularisierung des Rechts kann er aber mit dieser Begründung nicht überzeugend rechtfertigen87. Obwohl unter seiner Leitung die Türkische Nationalversammlung das Kalifenamt abgeschafft hatte und die Türkei zu einem Nationalstaat umstrukturiert wurde, schrieb bzw. erklärte Mustafa Kemal Atatürk auch, dass wenn alle unter Fremdherrschaft stehenden muslimischen Völker ihre Unabhängigkeit erlangen sowie islamische Staaten gründen, sie in Zukunft eine gemeinsame Institution wie ein Parlament oder eine politische Union etablieren und für diese gemeinsame Institution einen Repräsentanten bestimmen könnten. Dieser Repräsentant könnte in diesem Zusammenhang als Kalif bezeichnet werden bzw. diesen Titel führen, wenn er die Aufgaben und Verpflichtungen, die dieses Amt mit sich bringt, erfüllt und er die Loyalität der muslimischen Völker genießt88. Dies erklärt z. T. die politische Annäherung der Türkei an den Iran und Afghanistan gegen Ende seiner Amtszeit. Relevant ist hierbei, dass Mustafa Kemal Atatürk Begriffe wie islamische Staaten und Kalif verwendete und somit eine zukünftige politische Entwicklung in dieser Richtung nicht per se ausschloss89. Folglich war für ihn die Abschaffung des Kalifats kein religiöser Akt, sondern eine zeitgemäße Notwendigkeit, um die nationale und zivilisatorische Entwicklung des türkischen Volkes zu gewährleisten90. Ist diese nationale und zivilisatorische Entwicklung einmal vollendet, sprach für Mustafa Kemal Atatürk nichts dagegen, dass eine islamische Konföderation unter der Führung eines Kalifen, welcher durch ein Parlament gewählt wird, gegründet werden kann91. Wie dieses politische Konstrukt im Detail aussehen und welche Kompetenzen es haben soll, ließ Mustafa Kemal Atatürk offen. Ob er solch eine Entwicklung befürwortet hat oder nicht, kann in diesem Kontext offen bleiben. Dies ist besonkey and Muslims, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 14–35, 26 f. 85 Mustafa Kemal Atatürk, Nutuk, 1927, 470 ff. 86 Mustafa Kemal Atatürk, Nutuk, 1927, 475. 87 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 204. 88 Vgl. Halil Inalcık, Islamic Caliphate, Turkey and Muslims, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 14–35, 28; Mustafa Kemal Atatürk, Nutuk, 1927, 474. 89 Mustafa Kemal Atatürk, Nutuk, 1927, 474. 90 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 203 f. 91 Vgl. Halil Inalcık, Islamic Caliphate, Turkey and Muslims, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 14–35, 28; Mustafa Kemal Atatürk, Nutuk, 1927, 474.
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E. Der islamische Staat
ders schwerwiegend, wenn berücksichtigt wird, dass die „Ankaraner Schule“ gerade die Abschaffung des Kalifats als einen religiösen Akt betrachtet und aus der Religion heraus dieses Vorgehen zu rechtfertigen sucht, somit kategorisch eine islamische Staatsform ablehnt und dies durch die Taten von Mustafa Kemal Atatürk zu belegen versucht92. Abdarraziq bemängelt des Weiteren das Fehlen vieler grundlegender Institutionen, die eine Organisation der Regierungsgewalt und eines Staates ermöglicht haben würden93. Dabei macht er indes den Fehler, eine im 7. Jahrhundert entstandene Herrschaftsform anhand moderner Maßstäbe zu beurteilen94. Mit seiner Argumentation, die darauf abzielt seine These zu rechtfertigen, dass der Islam zu entpolitisieren ist, um ihn vor Missbrauch zu schützen, steht Abdarraziq mit Ausnahme der „Ankaraner Schule“ und einiger anderer Gelehrter95 im islamischen Staatsverständnis allein da96. Zwar vertreten viele Gelehrte auch die Meinung, dass der Islam in der Geschichte für politische Ziele missbraucht wurde, doch einer Entpolitisierung des Islams und den Schlüssen, die Abdarraziq und die „Ankaraner Schule“ ziehen, stimmen sie deswegen nicht zu97. Gerade die von Abdarraziq aufgezählten Tätigkeiten des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) stellen klassische Handlungen einer politischen Autorität dar. Hinzu kommt noch, dass die Bevölkerungszahl Medinas zu dieser Zeit überschaubar war und innerhalb der verschiedenen Stämme nur wenig Opposition zur Führung existierte98. Daher waren feste, institutionalisierte Organisationsstrukturen der Herrschaft obsolet. Vielmehr bestand eine informelle Ratsversammlung, und relevante Probleme wurden spätestens nach dem Freitagsgebet, bei dem sich die gesamte Gemeinde versammelte, erörtert99. Folglich kann sehr wohl von einer Regierungsform sui generis gesprochen werden100. Außerdem widerspricht Abdarraziq’s Meinung dem Anspruch des Islams, alles Notwendige für die Menschen geregelt zu haben, um im Diesseits und Jenseits erfolgreich zu sein. Der Staat, der das soziale Zusammenleben in seiner ausgeprägtesten Form widerspiegelt, kann hiervon nicht ausgenommen sein. Die Tatsache, dass die sharia den 92
Vgl. Yas¸ar Nuri Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, 83. Tilman Nagel, Das Islamische Recht, 2001, 325. 94 Vgl. Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 49 ff., 226 f., 234 ff. 95 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 75 f. 96 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 91 ff. 97 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 91. 98 Muhammad Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 39; Muhammad Hamidullah Islam’a Giris¸, 2003, 24; Muhammad Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 20; Salah E. Humodi, Das islamische Gemeinwesen – Studien zur politischen Struktur zur Zeit Muhammads, 1983, 49 f. 99 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 41. 100 Vgl. Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 226 f. 93
II. Staatsstruktur und Organisation
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Staat und seine Institutionen nicht hinreichend konkretisiert, spricht nicht dafür, dass der Staat aus dem Geltungsbereich des islamischen Rechts herausfällt, sondern verdeutlicht nur, dass die Konkretisierung des islamischen Staates den Muslimen einer jeweiligen Epoche obliegt. So wird tatsächlich das politische Kalifat im quran, wie Abdarraziq schreibt, nicht erwähnt, aber es gibt sehr wohl einen verbindlichen Konsens unter den meisten Rechtsgelehrten darüber, dass es das Kalifat als politische Institution bzw. eine islamische Staatsform und Herrschaft geben soll101. Außerdem besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Herrschaft im politischen Sinne, also im Staat, sharia-konform ausgeübt werden muss102. Es besteht aber kein Konsens darüber, wie dies im Einzelnen verwirklicht werden kann bzw. soll103. Die Frage, die problematisch ist, ist somit nicht, ob es einen islamischen Staat geben soll, sondern wie dieser Staat im Konkreten strukturiert wird104. Die Grundprinzipien, die im Abschnitt B. V. 2 aufgezeigt wurden, sind in diesem Rahmen verbindlich und beschränken einen islamischen pouvoir constituant105. Genau dies verkennt die „Ankaraner Schule“. Die sharia gibt vor, was Gut und Böse ist, und fordert Muslime zum Rechten und zum Verwehren des Bösen auf106. Folglich müssen Muslime die islamische sharia zur Geltung bringen107. Dies und das Beispiel des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) sind die allgemeinen Rechtfertigungen für den islamischen Staat und wurden im Grunde bereits von Ibn Teymiye im 13. Jahrhundert formuliert108.
II. Staatsstruktur und Organisation Organisation, Strukturierung, Staatsform und Etablierung von Institutionen im islamischen Staat sind in der sharia nicht verbindlich konkretisiert worden109. Daher können Muslime bzw. ein islamischer pouvoir constituant, je nach ihrer 101 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 13 ff.; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 12 ff. 102 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 12 ff. 103 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 20 f. 104 Fazlur Rahman, The Principles of Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 87–97, 87. 105 Vorstaatliche Kraft, die aufgrund ihrer Machtposition den Staat begründet und dabei insbesondere das Ziel verfolgt einen islamischen Staat bzw. einen Staat für Muslime zu gründen. Vgl. Fazlur Rahman, The Principles of Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 87–97, 90 f. 106 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 99 ff. 107 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 83 ff. 108 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 19; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144. 109 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 23 ff.
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E. Der islamische Staat
Interpretation des islamischen Rechts, den pouvoir constitué beliebig gestalten110. Der jeweilig etablierte pouvoir constitué muss allerdings im Einklang mit dem islamischen Recht stehen und aus diesem legitimiert werden111. 1. Der islamische Staat im Kontext der bestehenden Staatsformen Seyyid Qutb z. B. lehnte in seinem Werk „Milestones“ alle bestehenden Staatsformen, darunter auch die westliche Demokratie, ab112 und erklärte, dass die islamische Staatsform eine Staatsform eigener Art sei113. Muslime müssten aber erst wieder zu dem wahren Glauben finden und diesen wahrhaft praktizieren, bevor sie sich mit Organisation, Strukturierung und Staatsform eines islamischen Staates beschäftigen könnten, weil der islamische Glaube gerade keine abstrakte Theorie darstelle, sondern gelebt werden müsse und somit eng mit der Praxis verbunden sei114. Er schrieb diesbezüglich: „Only when such a society comes into being, faces various practical problems, and needs a system of law, then Islam initiates the constitution of law and injunctions, rules and regulations. It addresses only those people who in principle have already submitted themselves to its authority and have repudiated all other rules and regulations. It is necessary that the believers in this faith be autonomous and have the power in their own society, so that they may be able to implement this system and give currency to all its laws. Moreover, power is also needed to legislate laws according to the needs of the group as these present themselves in its day-to-day affairs“ 115.
Konsequenterweise schwieg Seyyid Qutb aber darüber, wie dieser Staat in der Praxis umzusetzen ist. Dies ist beachtlich, da Seyyid Qutb als ein Begründer des fundamentalistischen politischen Islams aufgefasst und somit insbesondere im Westen als Bedrohung angesehen wird116. Aber da sich Seyyid Qutb gerade nicht darüber äußerte, wie der islamische Staat zu organisieren ist und wie er strukturiert sein soll, sondern dies einem islamischen pouvoir constituant überließ, der je nach Interpretation und Notwendigkeit die Staatsstruktur bestimmt, verschloss er sich nicht grundsätzlich gegenüber einer Staatsform, die Ähnlichkeiten mit 110 Fazlur Rahman, The Principles of Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 87–97, 87. 111 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 99 ff.; Alexander Gramsch, Die Umwandlung Bahrains in eine konstitutionelle Monarchie: Einordnung und Bewertung der Verfassungsreform aus dem Jahr 2002; zugleich eine Beispiel für die Anwendung politischer Theologie in islamisch geprägten Staaten, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 159–194, 186 f. 112 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 8 ff. 113 Vgl. Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 11, 50 f. 114 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 33. 115 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 33 ff. 116 Günter Lachmann, Tödliche Toleranz, 2006, 83 ff.
II. Staatsstruktur und Organisation
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den westlichen Staatsformen haben könnte. Selbstverständlich ist aus Sicht Seyyid Qutb’s die westlich-liberale Demokratie nicht im Einklang mit der islamischen Vorstellung von einem Staat, aber dies bedeutet nicht, dass der islamische Staat keine demokratischen Elemente enthalten kann. So kann ein islamischer Staat Wesensmerkmale einer westlichen Demokratie übernehmen und sich zu eigen machen oder an eine Oligarchie erinnern117. Auch ein Königreich in einem islamischen Territorialstaat kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, da der quran Königreiche erwähnt118. Allerdings existieren im islamischen Recht starke Indikatoren, die implizieren, dass die Monarchie als Wahlmonarchie aufzufassen ist119. Der neue König muss zumindest durch Akklamation bestätigt werden. Hierbei soll im Idealfall ein Sozialvertrag zwischen Thronfolger und Volksvertretern zustande kommen, der nicht nur symbolisch ist, sondern beiderseitige Rechte und Pflichten begründet120. Es kann aber genauso gut eine Republik aus dem islamischen Recht, insbesondere aus dem Beispiel der Staatsgründung des Propheten (s. a. w. s.) in Medina, abgeleitet werden121. Dies wird auch heutzutage von vielen muslimischen Gelehrten getan122. Nur ein erbliches universelles Kalifat in Form einer Monarchie wird überwiegend abgelehnt123. Der Staat kann, je nach Ansicht, entweder nur zwei Gewalten aufweisen, Exekutive und Judikative, oder aber auch drei oder vier verschiedene Gewalten, z. B. zusätzlich eine Legislative und eine weitere Staatsgewalt begründen124. Die Legislative ist dann aber in dem Maße eingeschränkt, dass sie keine bereits in der sharia geregelten Sachverhalte neu regulieren könnte125. 117 Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 120; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 258 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 248 ff., 250. 118 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 113; vgl. Quran 27:28–44; Ebu Nasr El-Farabi, Ideal Devlet, 9.–10. Jahrhundert, 89 ff., 94; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 40 f. 119 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 122. 120 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 122. 121 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 44; Khalid M. Ishaque, Problems of Islamic Political Theory, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 25–37, 35. 122 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 114; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 61; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 163. 123 Muhammad Abdullah, Kur’an Devleti, 1976, 83 f., 91; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 102. 124 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 258 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 248 ff., 250. 125 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 112 f.; Isma’il Raji al-Faruqi, The Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and
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E. Der islamische Staat
Folglich können muslimische Rechtsgelehrte keine verbindliche Aussage bezüglich der Staatsform und der Staatsstruktur im islamischen Recht machen. Sie können lediglich ihre diesbezüglichen Interpretationen wiedergeben126. So schreibt Alhaji A. D. Ajijola in seinem Werk „Introduction to Islamic Law“ in diesem Zusammenhang nur: „The Muslim constitutional theory is based upon consideration of democracy and the Ijma“ 127, ohne näher auf seine Aussage einzugehen und dies zu erläutern. Yusuf Al-Qaradawi erklärt in seinem Buch „State in Islam“: „Although the Islamic state is founded on the best principles of democracy, it is not a copy of western democracy. It agrees with it in principle, that a nation should be given the right to choose its rulers . . . It adopts the stand that the ruler is responsible before the state’s representatives of consultation and those in power (Ahl Al-Hil Wa Al-‘Aqd). Moreover, they have the right to dismiss him if he deviates and oppresses them and gives a deaf ear to the advice of their people.“ 128
Außerdem verteidigt er in seinem Werk den islamischen Demokratiebegriff und zeigt auf, dass der Begriff der Demokratie an sich nicht konträr zum islamischen Staatsverständnis steht129. Wie die islamisch-demokratische Staatsform im Detail aussieht und strukturiert sein soll, erläutert er allerdings nicht. Andere juristische Werke behandeln diese Fragen ebenfalls relativ knapp130. Es obliegt einem islamischen pouvoir constituant, der kompetente Juristen, Theologen, Politiker und führende Persönlichkeiten aus allen Gesellschaftsschichten vereinigt und vollkommen frei und ohne Zwang einen islamischen Staat begründet, verbindliche Ausführungen bezüglich der Staatsform und der Staatsstruktur zu machen131. Was aber klar gesagt werden kann, ist, was der islamische Staat nicht ist. So kann der islamische Staat keine absolute Monarchie wie Frankreich zu Zeiten Louis des XIV sein, der mit seiner Aussage „l’etat c’est moi“ das Bild der absoluten Monarchie prägte132, da das Staatsoberhaupt im islamischen Staat dem islamischen Recht genauso unterworfen ist wie der normale Bürger133. Es hat diesKhilafah, 1987, 128–152, 131 f.; Khalid M. Ishaque, Problems of Islamic Political Theory, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 25–37, 35. 126 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 44 ff., 51 ff. 127 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 135. 128 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 44. 129 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 191 ff. 130 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 242. 131 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 30 f.; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 106. 132 Vgl. Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 21; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 54, 102. 133 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 428; Muhammad Ali AlHashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 83 ff.
II. Staatsstruktur und Organisation
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bezüglich keine Privilegien und muss bei Verletzung des Gesetzes von der Justiz hierfür belangt werden134. Außerdem kann das Staatsoberhaupt im islamischen Staat keine beliebigen Gesetze erlassen und bereits im islamischen Recht geregelte Sachverhalte aushöhlen135. Es muss auch die durch die sharia gewährleisteten Rechte beachten und schützen136. Daher ist es nicht möglich, den islamischen Staat als absolute Monarchie zu konstituieren. Trotzdem kann er absolute Züge in seiner Staatsstruktur und Staatsform aufweisen, wenn ein islamischer pouvoir constituant ein die Gewalten bündelndes Staatsorgan begründet137. Staatsstrukturen, die Willkürherrschaft, Unterdrückung und Tyrannei aufweisen, können aber nicht islamisch legitimiert werden138. Einmann- oder Parteidiktaturen, die auf Ideologien basieren, die konträr zu islamischen Grundprinzipien stehen und diese sowie das islamische Recht missachten, sind ebenfalls nicht in Einklang mit einem islamischen Staat zu bringen139. Aus vergleichbaren Gründen kann der islamische Staat auch keine sozialistische, kommunistische oder faschistische Parteiherrschaft befürworten, da diese Ideologien in vielen Punkten im Gegensatz zum Islam stehen140. 2. Ökonomische Aspekte Im ökonomischen Sinne ähnelt der islamische Staat vielmehr einem Sozialstaat, der eine freie Marktwirtschaft umsetzt141. Er muss das Privateigentum und die unternehmerische Freiheit als in der sharia enthaltene Rechte gewährleisten142. Damit steht er zwar im Gegensatz zu sozialistischen und kommunistischen Staaten, er muss sich aber auch gleichzeitig um die Armen und Bedürftigen kümmern, viele soziale Rechte garantieren und die zakah, die islamische Armensteuer für Bedürftige, erheben143.
134 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 128; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 136. 135 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 136. 136 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 425 f. 137 Vgl. Isma’il Raji al-Faruqi, The Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 131 ff. 138 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 48 ff. 139 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 103; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 160. 140 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 8 f. 141 Murad Hofmann, Islam, 2006, 70 f.; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 21. 142 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 107 ff., 115 ff.; Jamila L. Abid, Menschenrechte im Islam, 2004, 40 f.; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 151. 143 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 52 ff.; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 151.
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E. Der islamische Staat
3. Unterschiede zu einer Theokratie Der islamische Staat ist auch keine Theokratie, welches die Bezeichnung für eine Regierung oder einen Staat ist, in dem Gott unmittelbar oder mit Hilfe einer priesterlichen Klasse regiert144. Die Staatsmacht kann nicht für sich in Anspruch nehmen, in einer besonderen Art und Weise von Gott zur Herrschaft berufen zu sein oder direkt mit ihm in Verbindung zu stehen und somit göttlich inspiriert zu sein145. Ein klassisches Beispiel einer Theokratie aus der älteren Geschichte ist Ägypten zur Zeit der Pharaonen146. Diese Herrscher beanspruchten für sich, gleichzeitig Götter und weltliche Staatsoberhäupter zu sein147. Beispiele aus der neueren Geschichte sind Tibet vor der Angliederung an die Volksrepublik China und der Vatikan-Staat148. Der islamische Staat, der auf der göttlichen Offenbarung und dem islamischen Recht basiert, setzt nur Gottes Gesetze um149. Kein Herrscher oder keine Staatsmacht in einem islamischen Staat kann für sich behaupten, göttlich zur Herrschaft bestimmt zu sein150. Das Staatsoberhaupt ist genauso Mensch wie die Propheten (a. s.) und die gemeinen Bürger151. Die Menschen sind dazu verpflichtet, die sharia umzusetzen und sind dabei vom Staatsoberhaupt bis zum Bürger alle gleich152. Es gibt keine Priesterschaft mit besonderen Privilegien im Islam, die für sich in Anspruch nehmen kann, die absolute Wahrheit zu besitzen153. Muhammad Abduh erklärte in diesem Sinne über das Staatsoberhaupt: „Religion doesn’t give him any advantage – in terms of comprehending the Glorious Qur’an or knowing the judgements and rules – or elevating him to a rank higher than anybody else. Rather, he and all other seekers of knowledge and understanding are 144 Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 54 ff.; M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 84 f. 145 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 84; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 455 f. 146 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 183 f.; Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 46. 147 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 183 f. 148 Vgl. Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 46. 149 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 84. 150 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 84 f. 151 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 184 f.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 84 f.; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 455 f. 152 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 41, 78 f.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 66 ff.; Yusuf Al-Quaradawi, Legislation & Law in Islam, k. D., 21 ff. 153 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 21.
II. Staatsstruktur und Organisation
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equal. Only clarity of mind and the ability to make sound judgements are often the criteria for being preferred among them. As long as he is on the right path and adhering to the Glorious Qur’an and the Prophetic Sunnah, he is to be obeyed. Muslims watch him earnestly. When he deviates, they reject this deviation of his. When he trespasses the limits, they restore him upright (correct him) through sincere advice. No creature has to be obeyed in a matter that represents disobedience to the Creator. Finally they must replace him when he departs from the Qur’an and Sunnah. Thus the Ummah is entitled to establish him as ruler, it has the right to direct him, and to dismiss him when it deems that is in its interest. In all this, he is civilian ruler from all aspects.“ 154
Hierdurch wird klar verdeutlicht, dass der islamische Staat nicht identisch mit dem westlichen Verständnis des Theokratiebegriffs ist. Er kann aber wiederum Elemente einer theokratischen Staatsform enthalten155. Maududi verdeutlichte in diesem Zusammenhang, nachdem er Eigenarten einer westlich-liberalen Demokratie beschrieb: „You can see that it has no connection to Islam. Thus, it would be misleading to apply the term ,democracy‘ to an Islamic regime. Instead, a Divine or theocratic government may be more suitable“. Dem folgend führt er des Weiteren aus: „But the European theocracy is totally different from Divine government (Islamic theocracy), for Europe witnessed only a gang of religious custodians who took the responsibility of legitimizing laws according to their whims and interests. They exercised their godlike influence on the people, hiding behind Divine law. Indeed a government like this may be better called ,Satanic government‘ than ,Divine government‘. A theocracy by Islam is not confined to a group of custodians or clergymen but is in the hands of all Muslims. They all practice it according to the ordinances and rules of the Qur’an and the Prophets Hadiths. If you let me coin a new term for this theocracy, I cannot find a better one than ,theo-democracy‘ or ,Divine democracy‘ government. Muslims would have a controlled people’s government, a government subject to the Supreme Authority of Allah and His Unchallengeable Judgement. Executive authority is formed and established upon the agreement of all Muslims. They have the power to dissolve it. Similarly no law concerning matters about which there is no plain Qur’anic statement can be enforced without the agreement of all Muslims. If a law or a Qur’anic text needs some kind of interpretation or simplification, no special class or family should do so, but any Muslim; provided that he is qualified to make judgements on legal questions (Ijtihad).“ 156
Yusuf al-Qaradawi kritisiert die Nutzung des Wortes Theokratie in diesem Zusammenhang durch Maududi, stimmt ihm aber bezüglich seiner Schlussfolgerung mit dem Unterschied zu, dass er den Begriff islamische Demokratie favorisiert157.
154 155 156 157
Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 101. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 21. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 147 f. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 85.
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E. Der islamische Staat
4. Demokratische Elemente Aus dem zuvor Gesagtem ergibt sich, dass der islamische Staat keine westlichliberale Demokratie darstellt, da einige Sachverhalte und Normen durch den bindenden Charakter der sharia nicht zur Disposition stehen und nicht durch den Volkswillen, durch den in liberalen Demokratien die Staatsmacht ausgeübt wird, modifiziert werden können158. Die westlich-liberale Demokratie gewährt ihren Bürgern z. B. zahlreiche Individual- und Freiheitsrechte159. Mittlerweile ist dies ein zwingend notwendiges Fundament einer westlich-liberalen Demokratie160. Es kann sogar eine Entwicklung beobachtet werden, dass der Schutzbereich dieser Individual- und Freiheitsrechte durch gesellschaftliche Veränderungen stetig erweitert und weiter konkretisiert wird. Im Gegensatz hierzu sind zwar alle klassischen Grundrechte als Rechtsreflexe in der sharia enthalten, aber ihr Schutzbereich geht nicht so weit wie der der Individual- und Freiheitsrechte, die in westlichen Verfassungen normiert sind161. Auch eine kontinuierliche Erweiterung des Schutzbereiches ist derzeit nicht zu beobachten. In einem islamischen Staat kann z. B. keine gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert und mit der klassischen Ehe zwischen den verschiedenen Geschlechtern gleichgestellt werden162. Außerdem bestehen je nach Interpretation mehr Einschränkungsmöglichkeiten für die islamischen Grundrechte163. Trotzdem ist festzuhalten, dass beide politischen Systeme ihren Bürgern zahlreiche Individual- und Freiheitsrechte gewähren164. In einer westlich-liberalen Demokratie kann das Volk zudem im Rahmen des geltenden Rechts durch Mehrheitsentschluss jegliche Form von Gesetzen erlassen oder ab158
Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 45, 183, 207 f. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 200 ff.; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 259. 160 Vgl. Norbert Müller, Islam und Menschenrechte, 2003, 16. 161 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 49 ff.; Servet Armag˘an, Islam Hukukunda Temel Hak ve Hürriyetler, 1992, 70 ff.; Mohamed Abdel Haleem, Human Rights in Islam and the United Nations Instruments, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 435–455, 440; Sayyid Abul A’la Maududi, Human Rights in Islam, 1995, 11 ff., 14 ff.; vgl. Syed Muzaffer-du-din Nadvi, Human Rights and Obligations, 1992, 4 ff.; A. R. Shad, The Rights of Allah and Human Rights, 1987, 7 f., 71 ff.; Muhammad Ibn Ahmad Ibn Rassoul, Die Menschenrechte im Islam, 2001, 20 ff., 48 ff. 162 Yusuf Al-Quaradawi, Legislation and Law in Islam, k. D., 6. 163 Mohamed Abdel Haleem, Human Rights in Islam and the United Nations Instruments, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 435–455, 443; Syed Muzaffer-du-din Nadvi, Human Rights and Obligations, 1992, 5 f. 164 Vgl. Sayyid Abul A’la Maududi, Human Rights in Islam, 1995, 11 ff.; Mohammad Khoder, Human Rights in Islam, 1988, 9 ff.; A. R. Shad, The Rights of Allah and Human Rights, 1987, 71 ff., Hayreddin Karaman, Islam’da Insan Hakları, 2004, 113 ff.; Abdoldjavid Falaturi, Westliche Menschenrechtsvorstellungen und Koran, 2002, 8 ff.; Mohammed al-Salih al-Othaimin, Essential Rights, 1994, 11 ff. 159
II. Staatsstruktur und Organisation
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schaffen und ist dabei in der Theorie völlig frei165. Die süd-afrikanische Verfassung z. B. ist bei Beachtung des vorgegebenen Verfahrens und bei Erhalt der notwendigen Mehrheiten durch das zuständige Organ vollkommen abänderbar und kann somit völlig ausgehöhlt werden166. Diese theoretisch absolute Freiheit genießt das Volk im islamischen Staat nicht167. Es gibt aber auch im westlichen Staatsrecht Kernbereiche, wie z. B. im Grundgesetz die Ewigkeitsgarantie gemäß Art. 79 Abs. 3 GG oder das Prinzip des Naturrechts, die nicht Disposition stehen und damit mit dem islamischen Staatsrecht korrespondieren168. Ein islamischer Staat kann trotzdem sehr wohl demokratische Elemente aufweisen bzw. eine islamische Interpretation der Demokratie sein169. Aus dem Konzept der Stellvertreterschaft Gottes, die für alle Menschen, aber insbesondere für die Muslime gilt, leitete Maududi die Doktrin des demokratischen Kalifats ab170. Er schrieb diesbezüglich: „By the word ,vigerency‘ your mind should not turn towards the Divine Right of Kings, or to Papal authority. According to the Quran, the vicegerency of God is not the exclusive birthright of any individual or clan or class of people; it is the collective right of all those who accept and admit God’s absolute sovereignty over themselves and adopt the Divine Code, conveyed through the Prophet, as the law above all laws and regulations. It says ,Allah has promised such of you as have become believers and done good deeds that He will most surely make them His vicegerents in the earth.‘ This concept of life makes the Islamic Khilafet a democracy, which in essence and fundamentals is the antithesis of the Theocratic, the Monarchical and the Papal forms of government, as also of the present-day Western Secular Democracy. For, according to the modern Western concepts, democracy is that philosophy of political organisation in which it is presumed that the people possess absolute sovereignty. On the other hand, what we Muslims call democracy is a system wherein the people enjoy only the right of Khilafet or vicegerency of God who alone is the Sovereign. In Western Secular Democracy, the Government is established or changed by the exercise of the will of the common voters. Our Democracy envisages the same; but the difference lies in the fact that whereas in the Western system a democratic state enjoys the right of absolute authority, in our democracy the Khilafet is bound to keep within the limits prescribed by the Divine Code.171“
165 Wolfgang Ismayer, Gesetzgebung in Westeuropa – EU-Staaten und Europäische Union, 2008, 12; Khalid M. Ishaque, Problems of Islamic Political Theory, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 25–37, 34 f. 166 Thomas Michael Grupp, Süd-Afrikas neue Verfassung, 1999, 99. 167 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 388 ff.; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 77 f. 168 Vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage 2008, 48 ff. 169 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 116 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 407. 170 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 185, 235. 171 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 235.
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E. Der islamische Staat
5. Moderne Staatsformen für den islamischen Staat Der islamische Staat kann jegliche Staatsform und Staatsstruktur annehmen, die nicht dazu führt, dass die sharia umgangen bzw. ausgehöhlt wird172. So kann der Staat als präsidiale oder semi-präsidiale Republik, als parlamentarische Republik – wobei das Parlament aus mehreren Kammern oder nur einer Kammer bestehen kann –, als parlamentarische oder konstitutionelle Monarchie – jeweils mit demokratischen Elementen – in Erscheinung treten oder eine völlig andere Form und Struktur haben und z. B. in einem Staatsorgan alle Staatsmacht konzentrieren173. Gerade aufgrund der negativen Erfahrungen mit Machtkonzentrationen in einem Staatsorgan favorisieren aber die meisten neuzeitlichen muslimischen Gelehrten Staatsformen mit demokratischen Elementen, um Machtmissbrauch zu verhindern174. Muhammad Asad z. B. ist der Ansicht, dass ein islamischer Staat eher als präsidiale Republik organisiert sein sollte175. Andere Gelehrte erklären, dass es keinen Unterschied mache, ob der islamische Staat als präsidiale oder parlamentarische Republik strukturiert wird176. Die Aussagen über die Staatsform und Staatsstruktur gelten auch für den universellen Kalifatsstaat, mit der Ausnahme, dass bei diesem eine erblich-monarchische Form ausgeschlossen ist177. Der universelle Kalifatsstaat kann zudem als ein supranationales Völkerrechtssubjekt strukturiert werden178, z. B. als eine politische und wirtschaftliche Union von mehreren islamischen Staaten, die in ihrem Kern eine Wertegemeinschaft bilden, aber trotzdem unterschiedliche Staatsformen aufweisen und unter einem integrativen Dach mit verschiedenen Grundsäulen, die die Organisation sowie die Kompetenzen der einzelnen Organe dieser Union regulieren, vereint sind179. Die Struktur der EU könnte hierfür als Beispiel fungieren. Ein Kalif könnte als repräsentatives Oberhaupt für dieses völkerrechtliche Unionsgebilde 172 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 259; vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 12. 173 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 398. 174 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 39 f., 43 ff., 51 ff.; Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 16 ff. 175 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 61 f. 176 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 50. 177 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 102; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 45; vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 44. 178 Vgl. Isma’il Raji al-Faruqi, The Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 130; Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 21, 41. 179 Isma’il Raji al-Faruqi, The Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 130.
III. Beziehung zwischen Staat und Religion
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amtieren. Wie weit die Kompetenzen dieser Institution gehen würden, liegt wiederum bei den islamischen Staaten. Als Gründer dieser Union bestimmen sie erstens darüber, ob solch ein Amt etabliert wird, und zweitens, welchen Aufgabenbereich es haben wird. Außerdem könnten in solch einer politischen Union Sunniten wie Schiiten vereint werden. Für Schiiten wäre das repräsentative Oberhaupt nur ein Stellvertreter des entrückten 12. Imams, während dieses Oberhaupt für Sunniten tatsächlich den Kalifen darstellen würde. In gewisser Weise würde eine Islamische Union, in der die einzelnen islamischen Staaten ihre Rechte und Kompetenzen auf Organe dieser Union übertragen, insbesondere auf das Kalifatsorgan, die „umgekehrte“ Umsetzung der Idee von Al-Mawardi darstellen. Al-Mawardi schrieb im 10.–11. Jahrhundert sein Werk „The Ordinances of Government“, zu einem Zeitpunkt, als das Abbasidische Kalifat in Bagdad politisch schwach war. Regionale Machthaber herrschten faktisch autonom in den verschiedenen Provinzen des Reiches. Al-Mawardi rettete mit seinem staatstheoretischen Konzept das politische Einheitsideal des Kalifats. Er schrieb, dass der Kalif diese Machtübernahmen genehmigen konnte, indem er nachträglich seine Kompetenzen auf diese Usurpatoren übertrug, sofern diese regionalen Herrscher den Kalifen als oberste Instanz weiterhin anerkannten und das islamische Recht implementierten180.
III. Beziehung zwischen Staat und Religion Kultur und Zivilisation, die die soziale, politische, wirtschaftliche sowie rechtliche Entwicklung und das hierauf begründete Zusammenleben der Gesellschaft beinhalten, sind die Hauptgerüste der staatlichen Entwicklung181. Das Fundament dieser Hauptgerüste bilden Glaube, moralische Werte, analytische Hinterfragung von Sachverhalten sowie das hieraus erlangte Wissen182. Der Westen hat durch seine staatspolitische Entwicklung, die auf die griechische und römische Antike, die Renaissance, die Aufklärung, die französische und die nordamerikanische Revolution aufbaut, den Weg zu säkularisierten Staatsauffassungen eingeschlagen183. Die westliche Staatstheorie geht davon aus, dass der Mensch jeden diesseitigen Sachverhalt vollständig verstehen, durchdringen und selber autonom regulieren sowie strukturieren kann184. Der Mensch ist hierbei gewissen moralischen und ethischen Prinzipien unterworfen. Diese hat er aber selbst durch eigene Erfahrungen entwickelt und sie wandeln sich zudem stetig weiter. Zwar hinterlie180
Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 32 ff. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 13 f. 182 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 9 ff. 183 Michael Th. Greven, Die Politische Gesellschaft – Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, 2009, 31 ff. 184 Giovanni Sartori, Demokratietheorie, 1957, 291 ff. 181
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E. Der islamische Staat
ßen in diesem Zusammenhang christliche Einflüsse ihre Spuren, letztlich überwogen aber nationale säkulare Kräfte und philosophische Denkansätze, die die westliche Kultur und Zivilisation am stärksten beeinflussten185. Hierzu gehört die Idee des säkularen bzw. laizistischen Staates, der die Religion vollkommen vom Staat trennt, und der Privatsphäre seiner Bürger zuordnet186. Obwohl es sogenannte christlich-politische Parteien gibt, ordnen sich diese nicht in erster Linie der Religion und ihren unbedingten Geboten und Verboten unter, sondern der staatlichen Ordnung und dem Volkswillen, welcher in Form des Mehrheitsprinzips ausgeübt wird187. Diese Parteien sind daher keine christlichen Parteien im engeren Sinne, sie sind vielmehr säkularisierte Parteien, die christliche Prinzipien beinhalten. Das Fundament der islamischen Kultur und Zivilisation bildet das tauhid-Prinzip188. Tauhid bedeutet die Bezeugung der absoluten Einzigartigkeit, Ausschließlichkeit und Einheit Gottes hinsichtlich seiner Göttlichkeit189. Gott ist der alleinige Herr und Erhalter des Universums190. Nur er ist anzubeten und zu verehren191. Alles dient nur ihm192. Nichts steht ihm gleich, er ist autark, während alles andere auf ihn und seine Gnade angewiesen ist193. Gott allein ist die Quelle der Unterscheidung zwischen Gut und Böse194. Der Mensch hat nur seinen offenbarten Gesetzen zu folgen und sich diesen und dadurch ihm unterzuordnen195. Das staatliche System, das auf diesem Prinzip aufbaut, verwirklicht letztlich nur das Ziel seinen Bürgern ein gottgefälliges Leben zu gewährleisten196. Es kann sich nicht gegen die Offenbarung wenden197. Nur die gottgewollte Ordnung soll 185 Vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 2 ff. 186 Juan J. Linz, Some thoughts on the Victory and Future of Democracy, in: Dirk Berg-Schlosser (Hrsg.), Democratization – The state of the art, 2007, 133–153, 142 f.; Michael Th. Greven, Die Politische Gesellschaft – Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, 2009, 31 ff. 187 Juan J. Linz, Some thoughts on the Victory and Future of Democracy, in: Dirk Berg-Schlosser (Hrsg.), Democratization – The state of the art, 2007, 133–153, 142 f. 188 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 123; Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 136, 373 ff.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 66; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 134; Abdur-Rahmaan ibn Salih Al-Mahmood, Man-Made Laws vs. Shari’ah, 2003, 24 ff.; M. Ali Baltas¸ı, Ilk Mesajlar, 2007, 12 ff. 189 Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards understanding Islam, 1979, 74 ff. 190 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 48. 191 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 47; Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 33; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 63. 192 Hans Küng, Islam, 2007, 77. 193 Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 34. 194 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 2. 195 Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 141. 196 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 74, 76, 79. 197 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 64.
III. Beziehung zwischen Staat und Religion
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realisiert werden198. Die Institutionalisierung staatlicher Organe, die die Kompetenz haben Normen festzusetzen, die gegen Gottes Offenbarung stehen, unterminiert daher das tauhid-Prinzip und führt so zu einer Gleichstellung mit Gott, was wiederum eine der größten Sünden im Islam darstellt199. Die Trennung der staatlichen Organisation und der Gesetze von der Religion bzw. den diesbezüglich offenbarten Normen, die es erlaubt, islamisch nicht zu rechtfertigende Gesetze zu erlassen, ist daher ohne Verletzung des tauhid-Prinzips und somit im islamischen Staatsverständnis nicht möglich200. Zwar gab es auch Stimmen von muslimischen Gelehrten, die zu belegen versuchten, dass eine grundsätzliche Trennung von Staat und Religion im Islam möglich sei, diese bleiben allerdings nur in der Minderheit201. Sie versuchen, aus dem Islam heraus ein säkulares Staatsverständnis abzuleiten und dieses als verbindlich zu begründen202. Die absolute Mehrheit der muslimischen Gelehrten vertritt aber – wie zuvor aufgezeigt – die hierzu konträre Ansicht203. Ein Beispiel aus dem Leben des Propheten (s. a. w. s.) verdeutlicht den gegenteiligen Standpunkt. Der Prophet (s. a. w. s.) sagte zu Adi ibn Hatim, der vom Christentum zum Islam konvertiert war, dass er das um sein Hals hängende Kreuz ablegen solle, und fügte hinzu, dass die Christen und Juden ihre Gelehrten und Priester zu Göttern gemacht hätten204. Adi ibn Hatim antwortete dem Propheten (s. a. w. s.), dass er als Christ nicht christliche Gelehrte und Priester angebetet habe, sondern Gott im christlich-theologischen Sinne205. Der Prophet (s. a. w. s.) erwiderte hierauf, dass christliche Gelehrte und Priester durch legislatives Handeln, welches den Kernaussagen der Propheten Moses (a. s.) und Jesus (a. s.) widerspreche, gottähnliche Kompetenzen für sich beansprucht hätten und die christlichen und jüdischen Gemeinden diese anerkannt und befolgt hätten206. Die Befolgung dieser von Gelehrten und Priestern erlassenen Gesetze, die nicht mit der Religion im Einklang stünden, komme aber einer de facto-Anbetung gleich207. Einem anderen als Gott zu gehorchen bzw. einer Autorität nachzukommen, die die göttliche Ordnung nicht befolgt, kommt folglich einer Gleichstellung dieser Autorität mit Gott gleich208. Muslimische Gesellschaften müssen daher unbe198
Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 53 ff. Vgl. Yusuf Al-Quaradawi, Legislation and Law in Islam, k. D., 1 ff. 200 Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 29. 201 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 268. 202 Smail Balic, Islam für Europa, 2001, 88 f.; vgl. Yas ¸ar Nuri Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, 83. 203 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 394 f. 204 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 60. 205 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 124. 206 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 124. 207 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 82. 208 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 82. 199
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E. Der islamische Staat
dingt das tauhid-Prinzip und die sich daraus ergebenden Konsequenzen befolgen. Der Staat als öffentliche Einrichtung kann nicht von der Religion getrennt werden, und es können ihm auch nicht irgendwelche Kompetenzen zugeteilt werden, die zu islamisch nicht legitimierbaren Handlungen führen209. Der islamische Staat ist bereits durch das islamische Recht materiell gebunden210. Die Religion steht somit über dem Staat und durchdringt dessen Struktur. Muslime, die als Minderheit in einem nicht-islamischen Staat leben, sind ebenfalls an das tauhid-Prinzip gebunden. Der Unterschied zu Muslimen, die in islamischen Staaten leben, ist allerdings, dass sie aufgrund der Aufenthaltsgenehmigung, des Visums oder der Staatsangehörigkeit, einen Vertrag eingegangen sind, bei dem sie sich verpflichtet haben, die in den nicht-islamischen Staaten geltenden Gesetze zu achten, d.h. auch Gesetze von Staatsorganen, die dazu berechtigt sind Normen zu erlassen, die gegen das tauhid-Prinzip bzw. gegen das islamische Recht verstoßen können211. Da aber Gott nach islamischem Recht bei jedem Vertrag Zeuge ist, sind diese eingegangenen Verträge und die sich hieraus ergebenden Verbindlichkeiten und Rechtsfolgen als Ausnahme legitim. Mittlerweile sind die muslimischen Gelehrten überwiegend der Meinung, dass sich Muslime im Westen an politischen Prozessen beteiligen dürfen212. Sie stellen hierfür aber teilweise strikte Voraussetzungen auf213. Die muslimische Minderheit in nicht-islamischen Staaten ist dazu verpflichtet, die Regeln des Islams soweit zu befolgen, wie ihnen dies im Einzelfall möglich ist214. Die Abweichungen sind gerechtfertigte Ausnahmen, die als solche wahrgenommen werden müssen und gerade nicht als die gängige Regel betrachtet werden dürfen215.
IV. Geltung der sharia Im Zusammenhang mit den theoretischen Beschränkungen der Staatsherrschaft im modernen westlichen Staatsverständnis haben westliche Juristen versucht, ei209 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 4 f.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 113; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 123. 210 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 123 ff. 211 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 160. 212 Salah Al-Deen Soltan, Muslim Participation in the American Elections – Its Obligation and its Islamic Guidelines, 2005, 81. 213 Salah Al-Deen Soltan, Muslim Participation in the American Elections – Its Obligation and its Islamic Guidelines, 2005, 129. 214 Salah Al-Deen Soltan, Muslim Participation in the American Elections – Its Obligation and its Islamic Guidelines, 2005, 90 f. 215 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 268 ff.; dort werden Rechtsgutachten, sogenannte fatwas, von anerkannten Gelehrten wie al-Izz ibn Abd as-Salam oder Ibn Taymiyah (Ibn Teymiye) hierzu wiedergegeben. Yusuf al-Qaradawi nimmt auch zu diesem Punkt Stellung und schließt sich den Rechtsgutachten an bzw. bestätigt diese.
IV. Geltung der sharia
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nige ewig geltende Normen zu bestimmen, welche von der Staatsmacht beachtet werden müssen216. Die klassische Idee des Naturrechtes basiert auf diesen Überlegungen217. Im islamischen Rechtsverständnis existieren allumfassende Regeln, die Sachverhalte bezüglich der Individuen, der Gesellschaft und des Staates im quran und der sunna regulieren218. Die Herrscher und Juristen sind frei, neue Sachverhalte zu kodifizieren, sofern diesbezüglich keine verbindliche Rechtsfolge in der sharia enthalten ist219. Aber diese neuen Gesetze, die entweder durch ijtihad oder eine andere Methode erlassen werden, dürfen nicht dem quran oder der sunna widersprechen220. Die generellen Ziele und Prinzipien der sharia sind fundamental für die Gesetzgebung durch ijtihad, aber auch für jegliche andere Formen der Gesetzgebung221. Sie müssen zwingend beachtet werden. Der islamische Staat weist starke Ähnlichkeiten mit einem ideologischen Staat auf, obwohl das Wort ideologisch in diesem Kontext nicht ganz angebracht ist, da Ideologien auf menschlichen Ideen basieren und nicht auf göttlicher Offenbarung222. Es besteht ein starker Zusammenhang von islamischer Ethik und Moral mit dem islamischen Recht und dem islamischen Staat223. Trotzdem ist der islamische Staat keine Theokratie im klassischen Sinne, da im Islam keine oligarchische Priesterkaste oder ein göttlicher Herrscher für sich in Anspruch nehmen kann göttlich inspiriert zu sein und das Recht zu haben die Parameter von Gut und Böse zu definieren224. Der islamische Staat ist an einige generelle und permanente Grundregeln gebunden, welche im quran und in der sunna enthalten 216 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 30 f.; Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 59 f.; vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2005, 3. 217 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 30 f.; Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 59 f.; vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 3. 218 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 87 ff.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 51–85, 83 ff. 219 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 49. 220 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 388. 221 Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 218 f., 281 ff.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at alImam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 51–85, 83; Abdur Rahman I. Doi, Shariah – the Islamic Law, 1997, 468. 222 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 155; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 51–85, 84. 223 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 68 f. 224 Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 54 f.; Isma’il Raji al-Faruqi, Viability of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 112–128, 117.
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E. Der islamische Staat
sind225. Diese Grundregeln diktieren und kontrollieren alle Entscheidungen und Handlungen des Staates226. Da sie direkt aus den normativen Primärquellen abgeleitet werden, genießen sie nach Meinung von muslimischen Gelehrten die absolute Priorität über allem anderen und sind wichtiger als das Naturrecht oder anderen nicht kodifizierten Prinzipien im westlichen Staatsrecht227. Der Unterschied dieser alles bindenden Grundregeln zum heutigen Verständnis des Naturrechts oder anderen nicht kodifizierten Prinzipien im westlichen Staatsrecht, ergibt sich aus der enormen Flexibilität, dem hohen moralischen Anspruch sowie der Bestimmung nicht nur des öffentlichen Rechts, sondern auch des Zivil- und Strafrechts228. Zudem können diese Grundregeln von Sachverhalt zu Sachverhalt differieren. Auch wenn das Naturrecht konzeptionell in der Hierarchie – wie die Grundprinzipien aus der sharia – über der Verfassung steht, so erhebt es – wie erwähnt – nicht den hohen moralischen Anspruch der islamischen Grundregeln. Es reguliert vielmehr das Verhältnis des einzelnen zum Staat, indem es Individuen Grundrechte einräumt und eine Legitimation für die Existenz des Staates liefert229. Dabei ist es – je nach Verständnis – teilweise sogar disponibel230. Ungeschriebene Verfassungsstrukturprinzipien hingegen ergeben sich gerade aus der Lückenhaftigkeit der Verfassungstexte, damit mittelbar aus der Verfassung selber und stehen folglich nicht über dieser231. Mit dem Prinzip des Interorganrespekts soll beispielsweise im Kern eine umfassende Ordnungsidee identifizert werden, die die richtige Allokation von Macht innerhalb des konstituierten Systems bzw. der Staatsorgane flankiert, da Verfassungen lediglich einen strukturellen Rahmen abgeben, innerhalb dessen die konkreten Grenzziehungen und Abstimmungsvorgänge veränderlich bleiben232. Dies gilt aber nicht für die bindenden Grundregeln der sharia, die absolute Höherrangigkeit gegenüber jedem von Menschen gemachten Gesetz genießen233. In diesem Zusammenhang wird vom islamischen Staatsoberhaupt die Verwirklichung des hieraus resultierenden Gerechtigkeitsverständnisses gefordert234. Das Staatsoberhaupt ist dabei auf der einen Seite durch 225
Vgl. Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 87 ff. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 14. 227 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 51–85, 84; Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 15 ff. 228 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 12. 229 Arno Baruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, 2006, 21 ff. 230 Vgl. Jan Rolin, Der Ursprung des Staates, 2005, 16 f., 27 ff.; Arno Baruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, 2006, 21 ff. 231 Vgl. Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 544 f.; 558 ff. 232 Vgl. Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 626. 233 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 72. 234 Vgl. Abdur Rahman I. Doi, Shariah – the Islamic Law, 1997, 2 f., 8; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 137 f., 135 ff.; Asifa Quraishi, The 226
IV. Geltung der sharia
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die Grundregeln der sharia bereits materiell gebunden und auf der anderen Seite durch die Forderungen der Öffentlichkeit verpflichtet, diese zufriedenstellend zu erfüllen235. Diese Verpflichtungen muss der islamische Staat durch Etablierung eines Verwaltungsapparates und einer unabhängigen Gerichtsbarkeit in die Praxis umsetzen236. Dies gibt dem islamischen Staat aber nicht das Recht, in die Privatsphäre seiner Bürger einzugreifen und durch die sharia gewährleistete fundamentale Individualrechte zu verletzen237. Islamisches Recht basiert hauptsächlich auf spirituellen und moralischen Fundamenten, aber es verkennt nicht die Notwendigkeit von permanenten Grundregeln und Prinzipien, welche Handlungen von Individuen und dem Kollektiv als soziale Einheit reglementieren 238. Dementsprechend sind Menschen im islamischen Recht nicht darauf angewiesen, generelle allgemeingültige Regeln aufgrund ihres eigenen Verständnisses oder ihres Entwicklungsstandes zu formulieren239. Diese wurden für sie durch Gott im quran und der sunna offenbart240. In der Theorie existiert im islamischen Recht kein Zweifel darüber, was richtig und was falsch ist, was gut und was böse ist und was gerecht und was ungerecht ist241. Die praktische Verwirklichung und Umsetzung dieser permanenten Grundregeln und Prinzipien ist aber von der Religiosität, der Rechtschaffenheit des Volkes bzw. der Gemeinde und auch von der teilweise benötigten Interpretation dieser permanenten Grundregeln abhängig242. Im Islam bilden Recht und Moral eine Einheit und unterstützen sich gegenseitig bei der Entwicklung des muslimischen Individuums, der islamischen Gemeinde und des islamischen Staates243.
Separation of Powers in the Tradition Muslim Governments, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 63–73, 66 f. 235 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 183 ff. 236 Abdur Rahman I. Doi, Shariah – the Islamic Law, 1997, 11 ff. 237 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 65; Abdur Rahman I. Doi, Shariah – the Islamic Law, 1997, 422 f. 238 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 51–85, 85. 239 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 153. 240 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 12. 241 Vgl. Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 55 ff. 242 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 48. 243 Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 29 f.
F. Islamisches Staatsrecht Wenn Staatsrecht Recht ist, welches die Organisation von Staatsstrukturen kodifiziert und allgemein gesprochen einen Bezugspunkt zum Staat hat, so ist islamisches Staatsrecht Recht, welches all diese Voraussetzungen erfüllt, gleichzeitig aber noch im Einklang mit dem engen islamischen Rechtsbegriff steht1. Islamisches Staatsrecht ist somit das Recht, das Muslime unter Berücksichtigung der normativen Quellen der sharia entwickelt haben, in dem die Staatsstruktur festgelegt wird und in dem der Fixpunkt der Staat ist2. Da diese normativen Quellen interpretiert, teilweise konkretisiert und nicht regulierte Sachverhalte geregelt werden müssen, ist es nicht verwunderlich, dass Muslime zu unterschiedlichen Zeiten zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Festlegung der Staatsstruktur gekommen sind3. Daher ist es nicht unproblematisch, von einem abstrakten islamischen Staatsrecht zu sprechen. Dennoch ist dies, wie zuvor schon aufgezeigt, möglich.
I. Entstehungsgeschichte Islamisches Staatsrecht entstand im Kontext der ersten islamischen Staatsgründung im Jahre 622 in Medina4. Es wurde aber nicht bewusst systematisch strukturiert und normiert5. Mit dem Tod des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) und der Bestimmung der politischen Nachfolge entwickelten sich die Staatstheorien, die sich auf das politische Kalifat bezogen6. Sie boten erste Ansätze für ein strukturiertes Staatsrecht. In den frühen Jahrhunderten der islamischen Geschichte wurde umfangreich die Rechtmäßigkeit und die praktische Umsetzung der erar1 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 57; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 47 f. 2 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 57; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 64 ff.; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 47 f.; Sherman A. Jackson, Islamic Law and the State, 1996, XIV. 3 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 64 ff.; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 23. 4 Vgl. Ahmed Ibrahim es ¸-S¸erif, Ilk Islam devleti, 2006, 85, 89; Hans Küng, Islam, 2007, 105; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 141. 5 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 39 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 140. 6 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 39 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 141.
II. Islamische Staatstheorien
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beiteten Staatsverständnisse thematisiert7. Dies war die Geburt der klassischen islamischen Staatsauffassung. Mit dem zunehmenden Wachstum der Machtstellung von Herrscherdynastien und dem damit einhergehenden politischen Machtverlust des Kalifen ab Mitte des 11. Jahrhunderts entwickelten sich Staatstheorien, die die Herrschaft von Dynastien beinhalteten8. Die klassische islamische Staatsauffassung wurde dahingehend ergänzt, dass nicht mehr ein Kalif die gesamte Gemeinde einen musste, sondern mehrere Staaten legitim nebeneinander existieren konnten, sofern deren Herrscher die islamische Ordnung in ihrem Machtbereich verwirklichten und provisorisch den Kalifen als Oberhaupt weiterhin anerkannten9. Diese abgewandelte klassische islamische Staatsauffassung stellte teilweise noch das Staatsverständnis der letzten großen islamischen Staaten, des Osmanischen Reiches, des Safawiden Reiches und des Mogul Reiches, dar10. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich dann die neueren islamischen Staatstheorien. Diese standen im Zusammenhang mit dem Niedergang der letzten großen islamischen Staaten, den deswegen betriebenen Reformbemühungen, der Kolonialisierung, dem anschließenden Freiheitsbemühen und den Staatsgründungen nach der Entkolonialisierung. Die neueren islamischen Staatstheorien wurden insbesondere in der nachkolonialen Zeit konkretisiert und weichen zum Teil im großen Maße von den klassischen islamischen Staatsauffassungen ab.
II. Islamische Staatstheorien Sofern im Folgenden von klassischen islamischen Staatstheorien und neueren islamischen Staatstheorien und in diesem Zusammenhang von Traditionalisten und Reformisten gesprochen wird, beziehen sich diese Begriffe auf islamischpolitische Interpretationen11. Säkulare Staatstheorien, die in der islamischen Welt teilweise umgesetzt werden, sind hiervon ausgenommen und können keinem islamisch-reformistischen Lager zugeordnet werden12. Westliche Wissenschaftler machen nur allzu oft den Fehler, dies miteinander zu vermischen. Sie sehen nur zwei Bewegungen in der islamischen Welt: eine religiöse und eine säkulare, wobei sie erstere als Traditionalisten und letztere als Reformer betrachten. Die 7
Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142. Vgl. Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 21, 112; Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 41. 9 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 32 ff., 37. 10 Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 77 ff.; Hans Küng, Islam, 2007, 397 ff., 401 ff., 403 ff. 11 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 19 f. 12 Vgl. Khalid M. Ishaque, Problems of Islamic Political Theory, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 25–37, 30 ff. 8
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F. Islamisches Staatsrecht
mehrheitlich islamische Welt ist aber nicht nur in zwei Lager, nämlich auf der einen Seite in das säkulare und auf der anderen Seite in das religiöse, zu teilen. Vielmehr ist auch das religiöse Lager grob in zwei Hauptrichtungen aufteilbar13. Diese zwei Hauptrichtungen werden vom Verfasser als Traditionalisten und Reformisten bezeichnet. Die überwiegende Auffassung unter den Gelehrten ist, dass säkulare Staatstheorien nicht mit dem islamischen Recht vereinbar sind14. Säkulare Staatstheorien innerhalb der islamischen Welt sind somit nicht den islamischen Staatstheorien zuzuordnen15. Sie sind vielmehr allein das Werk von Menschen, die aus dem islamischen Kulturkreis stammen. Auf sie wird im Rahmen dieser Arbeit daher nicht weiter eingegangen. Das Staatsrecht der laizistischen Türkei z. B., welche eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung hat, ist kein islamisches Staatsrecht16. 1. Klassische islamische Staatstheorien Klassische islamische Staatstheorien weisen als Merkmal sehr zentralistische Staatsstrukturen auf17. Macht wird in diesen Staatstheorien in einem Staatsorgan, meist im Staatsoberhaupt, der als Kalif oder Imam bezeichnet wird, konzentriert18. Dieser kann unter Umständen seine Macht delegieren, hat starken Einfluss auf die Judikative und kann sogar in gewissem Maß legislativ tätig werden19. Er muss zwar das shura-Prinzip beachten, d.h. eine Konsultation bei seinen Handlungen durchführen, ist de facto jedoch in seiner Entscheidungsfindung äußerst unabhängig20. Herrschaft wird in diesen Modellen von der Staatsspitze ausgeübt21. Der normale Bürger hat keine großen Einflussnahmemöglichkeiten bei der Bestimmung des Staatsoberhauptes oder bei der Festlegung der Staatsor-
13
Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 18 f. Isma’il Raji al-Faruqi, Viability of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 112–128, 116 f. 15 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 10 f.; vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 4 ff. 16 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 10 f. 17 Vgl. Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 34 f.; Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 3 ff., 23 ff.; Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 112 f. 18 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26; vgl. Muhyiddin Ibn Arabi, Divine Governance of the Human Kingdom, 12. Jahrhundert, 61 ff., 83 ff.; vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43. 19 Ahmed Akgündüz, Osmanlı Kanunnameleri ve hukuku Tahlilleri, Bd. 1, 1990, 63 ff.; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 172 ff., 190 ff.; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 22. 20 Vgl. Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 147. 21 Vgl. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 38 f. 14
II. Islamische Staatstheorien
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ganisation22. Das Staatsoberhaupt wird durch eine Elite bestimmt, die in diesem Prozess allerdings islamisch legitimierbar handeln muss23. Die Voraussetzungen für einen geeigneten Kandidaten, der zum Staatsoberhaupt bestimmt werden soll, wurden zum Teil ausführlich von muslimischen Gelehrten ausformuliert24. Der Kalif bzw. der Imam ist nach diesen Auffassungen der Bezugspunkt, der die gesamte Gemeinde eint, ohne auf Rasse, Geschlecht oder Status zu achten25. Er ist der legitime politische Nachfolger des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen, sowie der Stellvertreter Gottes, der dessen Recht umsetzt26. Alle Muslime, unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit, sind hiernach in einem Staat vereint, so dass dieses Staatsverständnis im Gegensatz zum Nationalstaatsgedanken steht27. Die Zugehörigkeit zu diesem Staat basiert auf der Religion und nicht auf der ethnischen Herkunft28. Dieser Staat kann auch als supranationale Föderation organisiert sein, bei der die Teilgebiete aber den Status des Kalifen weiterhin anerkennen29. Nachdem sich Herrscherdynastien in der islamischen Staatenwelt etabliert hatten, das Kalifat politisch immer schwächer wurde sowie letztlich seine Macht vollends verlor, wirkte sich dies auch auf die klassischen islamischen Staatstheorien aus30. Diese verlangten nicht mehr das Kalifenamt oder Imamat, eine quasireligiöse Stellung, zusätzlich zu der politischen Stellung des Staatsoberhauptes, sondern begnügten sich mit der tatsächlichen Herrschaft in einem Herrschaftsgebiet, die aber von einem Muslim ausgeübt werden musste, und der Implementierung des islamischen Rechts31. Herrscher wurden ab diesem Zeitpunkt Emir, Sultan oder Padis¸ah genannt32. Die religiös unqualifizierten Herrscher sollten durch muslimische Gelehrte bei ihrer Herrschaft und bei der Umsetzung des isla22
Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146. Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 30 f.; Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 5 ff. 24 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 167 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 419 f. 25 Murad Hofmann, Islam, 2006, 97; Sayyid Abul A’La Mawdudi, Towards understanding Islam, 1979, 144. 26 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 23. 27 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 58 f. 28 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 79. 29 Isma’il Raji al-Faruqi, The Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 130. 30 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 28 f.; vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 279 f. 31 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 435, 437; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 157, 244, 256 f.; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 35. 32 Vgl. Muhammed b. Turtus ¸i, Siyaset Ahlakı ve Ilkelerine dair, 11.–12. Jahrhundert, 127 f.; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 435, 437; Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 41. 23
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F. Islamisches Staatsrecht
mischen Rechts unterstützt werden33. Auch wurde nicht mehr die Herrschaft über die gesamte muslimische Gemeinde bzw. die gesamte islamische Welt verlangt34. Zusätzlich entfiel die von einigen Gelehrten verlangte Voraussetzung einer speziellen Abstammung, die der Herrscher vorweisen musste35. Ansonsten wurde das klassische Staatsmodell der Machtkonzentration in einem Staatsorgan beibehalten36. 2. Neuere islamische Staatstheorien Neuere islamische Staatstheorien wurden insbesondere ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt37. Sie beinhalten teilweise starke Abweichungen von den klassischen islamischen Staatstheorien38. Eine starke Machtkonzentration in einem Staatsorgan wird in diesen Modellen nicht verwirklicht39. Auch sie verlangen die Umsetzung des shura-Prinzips, entwickeln in diesem Zusammenhang aber meist noch andere Staatsorgane, die als Gegengewicht zu dem Staatsoberhaupt fungieren40. Auch das Verhältnis zwischen dem Staatsoberhaupt und der Judikative ist nicht mehr so eng, so dass im Vergleich die Judikative viel unabhängiger ist41. Der Erlass von Rechtsvorschriften, also die Möglichkeit im Rahmen des islamischen Rechts legislativ tätig zu sein, wird durch diese neueren islamischen Staatstheorien aus der Domäne des starken Staatsoberhauptes herausgenommen und anderen Staatsorganen zugesprochen, ohne aber dessen Rolle vollständig aufzuheben42. Die Herrschaftsausübung ist nicht mehr vertikal, sondern weist vermehrt horizontale Elemente auf43. So ist die Rolle des Volkes bei der Bestimmung der Herrschaft und der Staatsorganisation viel gewichtiger als bei den klassischen islamischen Staatstheorien44. 33 Vgl. Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 147 f.; Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 112 f. 34 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 435. 35 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 159. 36 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 437 f. 37 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 14 f.; Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 93. 38 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 115. 39 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 30 (Staatsverständnis von Muhammad Abduh, 1849–1905), 40 (Staatsverständnis von Rasid Rida, 1865–1935); Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43. 40 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 236 ff.; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43 ff. 41 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 241 ff. 42 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 112 ff.; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 72. 43 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 119 f. 44 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 249 ff.
II. Islamische Staatstheorien
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3. Staatsrechtliche Grundprinzipien Gemein haben diese Staatstheorien allerdings, dass sie schlüssig aus dem islamischen Recht hergeleitet werden und nicht gegen dieses verstoßen45. Die sharia bietet jedoch – wie erwähnt – nur wenige konkrete Ansätze, wie ein islamischer Staat auszusehen hat bzw. organisiert sein soll. Der quran z. B. schreibt keine explizite Herrschaftsform vor46. Die sharia etabliert vielmehr einige fundamentale Grundprinzipien, die den Kernbereich islamischer sozialer Strukturen bilden47. Zu diesen Grundprinzipien zählt zunächst die Anerkennung, dass die Souveränität und die Herrschaft Gott allein gebührt, dass Gott legislativ tätig war, sein Gesetz im quran und der sunna verankert ist und dass dadurch die Herrscher und Beherrschten bereits rechtlich gebunden und verpflichtet sind48. Deswegen ist die menschliche Herrschaft im islamischen Staat nur als Treuhänderschaft zu begreifen, eine dem westlichen Staatsrecht entsprechende Volkssouveränität folgt hieraus nicht49. In diesem Zusammenhang steht der Grundsatz, dass jeder Mensch in seinem Umfeld der Repräsentant, der Stellvertreter, der Treuhänder, der sogenannte Kalif Gottes ist50. Aufgrund dieser Stellung ist der Mensch Gott gegenüber verantwortlich, in seinem Herrschaftsbereich das islamische Recht anzuwenden und praktisch umzusetzen51. Nur dies ist neben den religiösen Pflichten von Relevanz. Der Herrscher oder das jeweilige institutionalisierte Organ eines islamischen Staates ist demnach nicht nur den Beherrschten Rechenschaft schuldig, sondern auch direkt Gott gegenüber verpflichtet, dessen vorgesehene Ordnung aufrechtzuerhalten und umzusetzen52. Somit ist die von Menschen ausgeübte Herrschaft im islamischen Staat in der Theorie die Verwirklichung der gottgewollten Ordnung, in welcher der Mensch seinem Schöpfungszweck am idealsten entsprechend leben kann53. Der muslimische Herrscher muss in öffentlichen Angelegenheiten das Volk konsultieren, somit das shura-Prinzip beachten54. Des Weiteren müssen Sicherheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Beständigkeit gewährleistet sein55. Außerdem muss das islamische Recht beachtet und des45
Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 467 ff. Murad Hofmann, Islam, 2006, 69. 47 Murad Hofmann, Islam, 2006, 50 f. 48 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 63 ff., 74. 49 Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 53 ff. 50 Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 53 ff. 51 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 185. 52 Vgl. Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 130; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 88 f. 53 Vgl. Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 94; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 409. 54 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43. 55 Eltigani Abdelgadir Hamid, The Qur’an and Politics, 2004, 78 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 441 ff.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 48 ff. 46
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F. Islamisches Staatsrecht
sen Befolgung sichergestellt werden56. Daher muss eine Form von judikativer Macht etabliert sein, die dies in der Praxis umsetzen kann57. Soziale Gerechtigkeit im islamischen Sinne muss ebenfalls verwirklicht werden58. Die Rechte und Pflichten des Volkes und der Rechtsgelehrten, die die sharia bei der Legitimierung des Herrschers vorsieht, müssen durch ein festgelegtes Verfahren gewährleistet werden59. Letztlich muss jede weitere Handlung, die Normen aufstellt, im Einklang mit dem islamischen Recht stehen und durch dieses legitimierbar sein60. Obwohl der quran keine spezielle politische und wirtschaftliche Herrschaftsform vorschreibt, werden Muslime durch ihn dazu aufgefordert, Gott, dem Propheten (s. a. w. s.) und denjenigen unter ihnen, die Befehlsgewalt besitzen, zu gehorchen61. Gehorsam gegenüber denjenigen, die Befehlsgewalt besitzen, ist obligatorisch, sofern diese die Verpflichtungen, die im quran und der sunna enthalten sind, befolgen62. Selbstverständlich endet eine solche Pflicht, wenn die Anführer diese Voraussetzung nicht mehr erfüllen63. Evident ist auch, dass Muslime in einer politisch und wirtschaftlich freien Gesellschaft leben müssen, um diese Ziele verwirklichen zu können64. In der Theorie ist ein islamischer Staat ein Staat Gottes, und die Muslime sind seine Partei (hizbullah) 65. Dies basiert auf dem zweiseitigen Konzept von Glückseligkeit (falah): erstens muss der Staat für den Erfolg der muslimischen Gemeinde in dieser Welt arbeiten, gleichzeitig aber auch die Fundamente für den Erfolg im Jenseits legen und die Muslime hierfür vorbereiten; zweitens muss der Staat auf den Prinzipien von Gleichheit, Solidarität und Freiheit gegründet sein, um diese Ziele der muslimischen Gemeinde zu realisieren66. Dabei sind die Begriffe Gleichheit, Solidarität und Freiheit in einem islamischen Kontext zu betrachten67. 56
Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 50. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 460. 58 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 51. 59 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 388 ff.; Khalid M. Ishaque, Problems of Islamic Political Theory, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 25–37, 33. 60 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 49 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 392. 61 Quran 4:59. 62 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 35, 39. 63 Vgl. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 38; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 79. 64 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 297 f., 299 f.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 287 ff. 65 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 38. 66 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 38. 57
II. Islamische Staatstheorien
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Die Konkretisierung und Verwirklichung dieser Grundprinzipien liegt beim islamischen pouvoir constituant, der je nach Interpretation die Staatsorganisation festlegen kann68. Um ein zeitgemäßes islamisches Staatsrecht zu schaffen, wird von allen muslimischen Gelehrten auf den früh-islamischen Staat von Medina zurückgegriffen69. 4. Der früh-islamische Staat als staatstheoretisches Fundament Nach der Immigration von Mekka nach Medina gründete der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) den ersten islamischen Staat im Jahr 62270. Das zehnjährige Wirken des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) vor dieser Zeit war mehr durch die Bekanntgabe der theologischen Aspekte der Religion gekennzeichnet71. Aus muslimischer Sicht entwickelte sich ab dem Jahre 622 die ideale Art des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenlebens in einem Staat, also in einer juristischen Person72. Der früh-islamische Staat basierte auf einem Sozialvertrag bzw. einer Verfassung, auch Gemeindeordnung von Medina genannt, die das grundlegende Zusammenleben in Medina regulierte73. Die Legitimierung des Herrschers geschah durch dessen Wahl und einen anschließenden Treueschwur74. Diese beiden Handlungsweisen werden zusammengefasst im islamischen Recht baiah genannt75. Einige Gelehrte beschreiben, unter Verwendung von neuzeitlich geprägten Begriffen den Staat von Medina als eine multi-religiöse76 Republik mit föderalen Strukturen77. Die Herrscherbestimmung innerhalb der verschiedenen Stämme des Staates geschah autonom und oft durch eine Wahl. Die Anführer dieser 67 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 111 ff., 139 ff., 169 ff. 68 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 30. 69 Murad Hofmann, Islam, 2006, 70. 70 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 462. 71 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 20 ff. 72 Muhammad Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 39 f.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40; vgl. Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 41. 73 Nachfolgend VM; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 f.; Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 84 ff., 99 ff.; Ahmed Ibrahim Es¸-S¸erif, Ilk Islam devleti, 2006, 91 ff. 74 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26; Muhammad Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 92 ff., 165 f., 175 ff. 75 Vgl. Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 130 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 166. 76 Die jüdischen Stämme partizipierten bei der Gründung des Staates als gleichberechtigte Bürger. Vgl. Art. 16, 24, 25, 26–35, 37, 38, 46 VM; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 f. 77 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 114.
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F. Islamisches Staatsrecht
Stämme bildeten wiederum ein Gremium, in dem der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) den Vorsitz innehatte78. Die Regierung in diesem Staat hatte religiöse und exekutive Verpflichtungen, und die Regierungsmitglieder wurden für ihre Handlungen persönlich verantwortlich gemacht79. Das Staatsoberhaupt führte bei fast allen staatsrechtlich relevanten Handlungen Konsultationen durch, verwirklichte somit das shura-Prinzip und wurde, wie zuvor erwähnt, durch eine Wahl bestimmt80. Der Staat von Medina verwirklichte nach Meinung vieler Muslime als ideales Beispiel die im quran und der sunna niedergelegten Grundprinzipien81. Dies wird von Traditionalisten und Reformisten einstimmig bejaht. Dass die Herrschaft im Universum allein Gott gebührt und dass nur ihm Gehorsam geschuldet wird, war in diesem Staat durchweg anerkannt82. Die in der sharia enthaltenen Grundprinzipien wurden praktisch in der für die damalige Zeit optimalsten Weise umgesetzt83. Der Gehorsam gegenüber dem Propheten (s. a. w. s.) war zurückzuführen auf die klare Aussage und die Aufforderung Gottes hierzu im quran84. Ebenso wurde es als unproblematisch akzeptiert, dass Gott legislativ tätig war und seine Gesetze im quran und der sunna des Propheten (s. a. w. s.) enthalten sind, wobei die sunna als die praktische Umsetzung des qurans aufgefasst wurde und wird85. Vor diesem Hintergrund vertreten heutzutage immer mehr muslimische Gelehrte die Meinung, dass islamisches Staatsrecht mit der Idee einer republikanischen Verfassung, welche auf Demokratie, Gewaltenteilung und der Gewährung von Grundrechten basiert, vereinbar ist, sofern diese wiederum nicht der sharia widerspricht86. Die Begriffe Demokratie, Gewaltenteilung und Grundrechte haben dabei nicht die gleiche Bedeutung wie in westlichen Verfassungen87. Sie stehen ebenfalls in einem islamischen Zusammenhang. 78 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 41; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 42. 79 Murad Hofmann, Islam, 2006, 70. 80 Muhammad Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 169 f. 81 Muhammad Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 90 ff.; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 107; Hans Küng, Islam, 2007, 188; Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 26. 82 Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 86. 83 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 28. 84 Quran 4:59; Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 91. 85 Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 178. 86 Murad Hofmann, Islam, 2006, 70; Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 12 f. 87 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 44, 49, 65, 193 ff.; Peter Scholz/ Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/
II. Islamische Staatstheorien
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5. Annäherung zwischen den unterschiedlichen Staatstheorien Wie zuvor erwähnt, existieren unter den heutigen muslimischen Gelehrten generell betrachtet zwei Lager88: auf der einen Seite das Lager der Traditionalisten, die an klassischen islamischen Staatsformen festhalten89, und auf der anderen Seite das Lager der Reformisten, die neue Elemente in islamische Staatsformen integrieren möchten bzw. integrieren90. Mittlerweile gleichen sich die gegensätzlichen Lager aber immer mehr an, so dass eine klare Einordnung von einzelnen Meinungen der Rechtsgelehrten immer schwieriger wird. Den traditionellen Staatstheorien folgende muslimische Juristen, die den klassischen Kalifatsstaat befürworten, heben in ihren Werken drei wichtige Eigenarten eines islamischen Staates hervor91: erstens die muslimische Gemeinde (umma), zweitens das islamische Recht (sharia) und drittens den Herrscher, der von ihnen Kalif oder auch Imam genannt wird92. Diese Meinungen betonen auch, dass die absolute Herrschaft und Souveränität Gott gebührt, der islamische Staat den Vorrang des islamischen Rechts gewährleisten muss und dass der Staat im Einklang mit dem islamischen Recht regiert werden muss93. Um dies zu verwirklichen muss ein Staatsoberhaupt vorhanden sein, der dies implementiert94. Anders als die neueren Interpretationen favorisieren diese Meinungen eine starke Exekutive, einen starken Anführer, obwohl dies nicht ausdrücklich artikuliert wird95. Dieses Staatsoberhaupt hat zwar viele Befugnisse, ist aber gleichzeitig durch das islamische Recht beschränkt96. Es hat kein Recht, Normen zu erlassen und legislativ zu agieren97. Seine Hauptaufgabe liegt vielmehr in der Anwendung des islamischen Rechts98. Hierzu kann er Richter ernennen und entlasNaseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 12 f. 88 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 124; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 244. 89 Vgl. Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 409 ff. 90 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 28, 54, 61. 91 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 38. 92 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 38. 93 Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 55 ff., 104 ff., 122 ff., 130 ff., 135 ff.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 78 ff., 83 ff. 94 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 38. 95 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 74 ff.; vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43. 96 Muhammad Abdullah, Kur’an Devleti, 1976, 100 ff. 97 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 69 f. 98 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 69 f.
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sen99. Nur in Ausnahmesituationen kann er der sharia untergeordnete Gesetze erlassen100. Im Grunde genommen existieren nach dieser Staatsauffassung nur zwei Gewalten im islamischen Staat: die Exekutive und die Judikative101. Dabei bündelt das Staatsoberhaupt eindeutig mehr Macht in seiner Funktion als die Richter, da diese bzw. die Judikative von ihm ernannt und entlassen werden und er selbst das Richteramt wahrnimmt102. Allerdings muss auch in diesem Staatsmodell das Staatsoberhaupt bei seinen Handlungen das shura-Prinzip beachten103. Die modifizierten klassischen Staatstheorien, die sich nach der politischen Schwächung bzw. Abschaffung des Kalifenamtes entwickelt haben, unterscheiden sich abgesehen davon, dass sie nicht die gesamte muslimische Gemeinde als ersten Grundbaustein für den Staat fordern, sondern lediglich ein islamisches Volk in einem von diesem kontrollierten Territorium voraussetzen, nicht besonders von diesen Auffassungen104. Vertreter der neueren Staatstheorien verdeutlichen in ihren Werken, dass eine starke Machtkonzentration innerhalb eines Staatsorgans erhebliche Gefahren birgt105. Sie verweisen dabei auf historische Beispiele, bei denen Macht in einem Staatsorgan konzentriert und auf die Gläubigkeit und Rechtschaffenheit der Herrscher vertraut wurde, dieses Vertrauen aber letztlich enttäuscht wurde und die Staaten zu Machtapparaten der herrschenden Elite verkamen106. Sie etablieren meist, abgeleitet aus dem shura-Prinzip107 oder dem Treuhänderschaftsprinzip108, ein weiteres Staatsorgan, das als Gegengewicht zu den klassischen Staatsorganen fungiert109. Auch sie betonen die Rolle des islamischen Rechts und dessen verpflichtenden Charakter110. Sie teilen die religiösen und politischen Aufgaben im Regelfall organisatorisch auf und entwerfen andere praktische Verwirklichungs99
Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 80. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 38. 101 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 471. 102 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 426, 471; Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 80 ff. 103 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 38; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 119 ff. 104 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 113. 105 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43; vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 243 f. 106 Vgl. Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 91 ff. 107 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 253; Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 95 f. 108 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 185; vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 115. 109 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 253. 100
III. Quellen des Islamischen Staatsrechts
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modelle für den islamischen Staat111. Das Staatsoberhaupt, das in diesem Staatsverständnis z. B. auch Präsident genannt wird, übt primär staatliche Aufgaben aus, während religiöse Aufgaben von den muslimischen Gelehrten übernommen werden112. Legislative Akte eines etablierten Staatsorgans oder des Staatsoberhauptes, vorausgesetzt ein solches Handeln wird überhaupt als möglich erachtet, werden in diesen Modellen meist durch muslimische Gelehrte auf ihre Übereinstimmung mit der sharia überprüft. Das Volk spielt in diesen Staatskonzepten eine wichtige Rolle und ist an der Staatsorganisation und der Bildung der Regierung beteiligt113. So gibt es Staatstheorien, die an präsidiale Republiken erinnern, und Modelle, die parlamentarischen Republiken ähneln114. Auch diese Staatskonzepte verwirklichen die Grundprinzipien des islamischen Rechts jedoch anders als die klassischen Staatsmodelle115. Demzufolge ist in einem islamischen Staat das gesamte Recht islamisch und Gesetzgebung nur gültig, sofern sie mit der sharia übereinstimmt. In der Praxis hat sich auf dieser Grundlage ein komplexes Rechtsgebäude entwickelt, das in seiner Begrifflichkeit und geistigen Durchdringung hinter keinem anderen Rechtssystem zurücksteht und grundsätzlich weltweite Geltung beansprucht116. Im Folgenden werden die Legitimierung des Staatsoberhauptes, das shuraPrinzip und das Verhältnis der Staatsgewalten zueinander im islamischen Staatsrecht näher untersucht. Zum besseren Verständnis sollen aber, zuvor die Quellen des islamischen Staatsrechts wiedergegeben werden.
III. Quellen des Islamischen Staatsrechts Muslimische Juristen gingen von vorne herein davon aus, dass es letztlich nur eine Rechtsquelle gibt, nämlich Gott117. Haupttätigkeit der muslimischen Juristen ist daher nicht die Gesetzgebung, sondern die Rechts(auf)-findung im quran und in der sunna118. 110 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 498. 111 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 115. 112 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 491– 507, 498. 113 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 136. 114 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43. 115 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 46 ff. 116 Vgl. Murad Hofmann, Islam, 2006, 55. 117 Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 53. 118 Murad Hofmann, Islam, 2006, 55.
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F. Islamisches Staatsrecht
Die sharia resultiert direkt aus dem quran und der sunna119. Diese sind die Hauptquellen des islamischen Rechts120. Das islamische Staatsrecht, das auf dem Fundament der sharia entwickelt wird, weist folglich ebenfalls diese Hauptquellen als primäre Rechtsquellen auf 121. Da die sharia aber in vielen Punkten nur Richtlinien vorgibt und daher noch konkretisiert und interpretiert werden muss und nicht geregelte Sachverhalte sharia-konform gelöst werden müssen, entwickelten muslimische Juristen in der Vergangenheit Techniken und Methoden, die dies ermöglichten, z. B. den Konsens der Rechtsgelehrten oder die Verwendung von Analogieschlüssen. Rechtsfolgen daraus wurden ebenfalls als rechtsverbindlich angesehen und erlangten deshalb den Status von Rechtsquellen des islamischen Rechts und damit auch des islamischen Staatsrechts122. Dabei mussten diese „neuen“ Rechtsquellen folgende Kriterien berücksichtigen: öffentliches Wohl, unabweisbare Notwendigkeit, Übung und Sitte, Bedürfnis, Kontinuität und Vorrangigkeit123. Diese Rechtsquellen können als klassische sekundäre Quellen bezeichnet werden. Die Technik, die muslimische Juristen hierfür anwandten, wird ijtihad genannt124. Sie muss im Rahmen und im Einklang mit der von der islamischen Jurisprudenz festgelegten Form, der usul al fiqh („Wurzeln des Rechts“), ausgeübt werden125. Mit dem Erlass von Staatsgesetzen bzw. Verfassungen gaben sich die heutigen islamischen Staaten verbindliche Verfassungen, die ebenfalls legitime Rechtsquellen sind und eigentlich nur eine Konkretisierung und Kodifizierung des Verständnisses der primären Quellen im staatsrechtlichen Zusammenhang darstellen126. Diese Staatsgesetze bzw. Verfassungen dürfen allerdings nicht den primären Quellen widersprechen oder diese aushöhlen127. Sie müssen zudem durch die primären Quellen legitimierbar sein128. Daher gilt, dass, selbst wenn es zur Kodifizierung moderner Gesetze kommt, seien es Gesetze über den Straßenverkehr, die Börsenaufsicht, die Gentechnologie oder eben die Verfassung, sich diese auf 119 120 121 122
Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 34. Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 33. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 46. Vgl. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005,
37 f. 123
Murad Hofmann, Islam, 2006, 55. Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 9; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 89 f.; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 79 ff. 125 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 91 f.; vgl. Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 110; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 18 ff.; Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 20. 126 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 258. 127 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 217. 128 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 258. 124
III. Quellen des Islamischen Staatsrechts
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den quran und die sunna zurückführen lassen müssen129. Diese Verfassungen können als neuzeitliche sekundäre Rechtsquellen des islamischen Staatsrechts bezeichnet werden. Diese Klassifizierung und Unterteilung der islamischen Rechtsquellen ist nicht allgemeingültig oder verbindlich. Sie ist aber in dieser Form von den meisten Juristen, teilweise mit leichten Variationen, akzeptiert130. Im Folgenden werden die primären Rechtsquellen, die klassischen sekundären Rechtsquellen und beispielhaft vier Staatsverfassungen, die von Muslimen verfasst wurden, als neuzeitliche sekundäre Rechtsquellen des islamischen Staatsrechts wiedergegeben. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass nur einige ausgewählte klassische sekundäre Rechtsquellen vorgestellt werden und dass nicht alle klassischen sekundären Rechtsquellen von den verschiedenen islamischen Rechtsschulen anerkannt werden131. Z. B. ist strittig, ob normative Grundlagen von vorangegangenen Offenbarungsreligionen (sar man qablana) als Rechtsquellen fungieren132. Das Gleiche gilt für die Meinung der Prophetengenossen (qaul al-sahabi)133. Alle Rechtsschulen erkennen allerdings quran und sunna als die Primärquellen des islamischen Rechts an134. Die nachfolgenden Beispiele dienen daher lediglich zur Verdeutlichung der Meinungsvielfalt. Anhand der vier vorherrschenden sunnitischen Rechtsschulen werden des Weiteren exemplarisch unterschiedliche Meinungen bezüglich der klassischen sekundären Rechtsquellen aufgezeigt. Ausführliche Arbeiten über die primären Rechtsquellen und die klassischen sekundären Rechtsquellen existieren zum einen von Aiman Negim135 in deutscher Sprache und zum anderen von Mohammad Hashim Kamali136 in englischer Sprache. 1. Primäre Rechtsquellen Die primären Rechtsquellen des islamischen Staatsrechts sind der quran und die sunna137. Diese stellen sozusagen die „Ur-Quellen“ des islamischen Staats129
Vgl. Murad Hofmann,Islam, 2006, 55. Vgl. A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 51. 131 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 47. 132 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 168 ff., 170 ff. 133 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 227 ff., 231 ff.; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 2. 134 Vgl. Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 2. 135 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003. 136 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003. 137 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 218; Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 45. 130
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rechts dar. Auf diese müssen sich alle Versuche von Muslimen, neuzeitliches islamisches Staatsrecht zu entwerfen, zurückführen lassen. a) Quran In erster Linie ist der quran ein theologisches Buch mit theologischer Zielsetzung138. Er spielt aber im rechtlichen Bereich eine überragende Rolle139. Der Islam bzw. die islamische Religion versteht sich als eine umfassende Struktur, die für das gesamte menschliche Leben einen Rahmen bereitstellt140. Der quran dient hierfür als die primäre Anleitung141. Als normatives Dokument stellt er somit einen überwiegenden Teil der sharia142. Näher betrachtet enthält der quran Anweisungen über das Verhalten des Menschen gegenüber Gott, gegenüber seiner Umwelt (Mensch, Tier, Natur) und gegenüber sich selbst143. Hierbei ist zwischen bloßen Empfehlungen und Missbilligungen auf der einen Seite sowie unbedingten Geboten und Verboten auf der anderen Seite ebenso zu unterscheiden wie zwischen strafbewehrten und nicht strafbewehrten Normen144. Bei Strafandrohungen ist wiederum zwischen Strafen im Diesseits und Strafen im Jenseits zu differenzieren145. Daher ist der quran die Hauptquelle des islamischen Rechts. Er stellt das Wort Gottes dar und wurde dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) durch den Engel Gabriel über einen Zeitraum von dreiundzwanzig Jahren auf Arabisch offenbart146. Als das Wort Gottes ist der quran unabänderbar147. Seit seiner Offenbarung hat sich der Text des qurans – nach Ansicht der Muslime – nicht im kleinsten Detail verändert148. 138
Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 48. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 18 ff.; Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 3. 140 Sayyid Abul A’la Mawdudi, Towards Understanding Islam, 1979, 16 f.; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 1. 141 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 48; Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 34. 142 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 48; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 56 f. 143 Murad Hofmann, Koran, 2006, 78; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 21. 144 Murad Hofmann, Koran, 2006, 78. 145 Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 26 ff. 146 Vgl. Muhammad Abd al-Rauf, Al-Qur’an the Abiding Code, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 35–70, 40; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 16; Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 19; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 44; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 55. 147 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 34. 148 Muhammad Abd al-Rauf, Al-Qur’an the Abiding Code, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 35–70, 36; Hans Küng, Islam, 2007, 66. 139
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Das Wort quran wird von der Wurzel des Wortes qara’a (lesen) abgeleitet und bedeutet „Das Lesen“ bzw. „Die Rezitation“ 149. Der quran ist in surahs (äquivalent zu Kapiteln) eingeteilt, welche in ayahts (äquivalent zu Versen) unterteilt sind150. Insgesamt beinhaltet der quran 114 surahs und 6.235 ayahts151. Die kürzeste surah hat vier ayahts, die längste surah hingegen 286 ayahts. Jede surah hat eine eigene Überschrift. Die längeren surahs stehen am Anfang, während die kürzeren surahs eher am Ende des qurans aufzufinden sind. Der quran beginnt mit der surah al-Fatihah und endet mit der surah al-Nas152. Diese Abfolge ist nicht speziell nach dem Inhalt geordnet. Vielmehr finden sich Verse über verwandte Themen verteilt in mehreren unterschiedlichen surahs. Die Offenbarung des qurans geschah in zwei größeren Teilabschnitten. Der erste Teilabschnitt umfasste die rund dreizehnjährige Periode in Mekka und der zweite Teilabschnitt die rund zehnjährige Periode in Medina153. Dementsprechend werden auch die Verse des qurans in zwei Hauptgruppen aufgeteilt154: auf der einen Seite die mekkanischen Verse und auf der anderen Seite die medinisischen Verse, wobei die Anzahl der mekkanischen Verse überwiegt155. Alle Verse, die nach der Auswanderung des Propheten (s. a.w.s) nach Medina offenbart worden sind, gelten als medinisische Verse, alle zuvor offenbarten Verse als mekkanische Verse156. Generell kann gesagt werden, dass die mekkanischen Verse oft Fragen des Glaubens, also der Religion thematisieren und Leit- bzw. Grundprinzipien aufstellen157. Außerdem sind sie meist abstrakter gefasst als die medinisischen Verse. Die medinisischen Verse beinhalten oft konkrete und spezielle Aussagen158. Sie fungieren als Beispiele dafür, wie die Leitprinzipien, die in den mekkanischen Versen enthalten sind, in der Praxis umzusetzen sind. Sie stehen im Kontext der Formierung des islamischen Staates und der umma als politische Kraft und beinhalten daher Aussagen über politische, soziale,
149 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 16; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 13; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 55. 150 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 58. 151 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 56. 152 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 17. 153 Vgl. Muhammad Abd al-Rauf, Al-Qur’an the Abiding Code, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 35–70, 40 ff.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 22 ff. 154 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 68 f. 155 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 22 f. 156 Hans Küng, Islam, 2007, 71. 157 Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 22 f.; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 68; Hans Küng, Islam, 2007, 72. 158 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 23; Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 24.
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rechtliche und wirtschaftliche Fragen der neu gegründeten politischen Ordnung159. Die Unterteilung in medinisische und mekkanische Verse ermöglicht ein besseres Verständnis der einzelnen Verse, da der Kontext, in dem sie offenbart wurden, bestimmt bzw. analysiert und somit der Offenbarungsgrund ermittelt werden kann160. Dies ist besonders relevant bei Versen, die durch spätere Verse nach dem sogenannten naskh-Prinzip wieder aufgehoben worden sind161. Außerdem reflektieren die Unterschiede zwischen Inhalt und angewandten Formulierungen die tatsächlichen Gegebenheiten der jeweiligen Offenbarungsperiode162. So meinen heutzutage einige muslimische Gelehrte, dass mekkanische Verse besonders relevant sind für Muslime, die in mehrheitlich nicht-islamischen Ländern als Minderheit leben, da die Verhältnisse, unter denen diese Gemeinden leben, vergleichbar sind mit den Umständen, mit denen die erste muslimische Gemeinde in Mekka konfrontiert war163. Die medinisischen Verse sind demzufolge besonders wichtig für muslimische Gemeinden, die in einem unabhängigen islamischen Staat leben und dort die Mehrheit bilden164. Der quran ist, wie zuvor erwähnt, keine strenge Kodifikation von Normen wie z. B. ein modernes Gesetzbuch165. Der überwiegende Teil beinhaltet Informationen darüber, dass der Mensch auf Rechtleitung angewiesen ist und dass der quran diese Rechtleitung bietet166. In diesem Zusammenhang nennt sich der quran huda, Rechtleiter167. Die meisten der 6.235 Verse thematisieren Fragen des Glaubens, der Moral und der Religion168. Die Verse, die ökonomische, soziale und rechtliche Inhalte aufweisen, sind deutlich in der Minderheit und zudem subsidiär zu den anderen Versen169. Die Verse, die rechtliche und praktische Regeln enthalten, werden al-ahkam al-amaliyyah genannt170. Sie bilden das Fundament des fiqh al quran, des corpus juris des qurans171. 159 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 23; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 69 f.; Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 69 f. 160 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 23. 161 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 111 ff.; Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 36 ff. 162 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 23. 163 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 23 ff. 164 Vgl. Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 24. 165 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 109; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 44. 166 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 48; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 21. 167 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 56. 168 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 48. 169 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 25 f. 170 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 26.
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Ein Vers wird als ayat al-ahkam, eine Rechtsfolge bzw. ein Rechtsgebot enthaltender Vers klassifiziert, wenn er ein Gebot, ein hukm enthält172. Die ayat alahkam Verse werden wiederum in drei Gruppen unterteilt: ahkam i’tiqadiyyah Verse, welche religiöse Gebote enthalten, ahkam khulqiyyah Verse, die moralische Gebote formulieren, und die zuvor genannten ahkam amaliyyah Verse, die rechtliche und praktische Regeln enthalten173. Die ahkam amaliyyah Verse werden wiederum in zwei Untergruppen aufgeteilt: die ibadat Verse, die sich auf den Gottesdienst beziehen, und die mu’amalat Verse, die rechtliche Fragen thematisieren174. Da fast jeder Vers im quran irgendwann unter Umständen eine heute noch nicht erkannte rechtliche Relevanz erlangen kann, sind sich die Rechtsgelehrten über die Anzahl quranischer Rechtsvorschriften nicht einig175. Insgesamt kann von 500–600 Versen mit normativem Charakter ausgegangen werden, von denen sich allerdings 400 auf den Gottesdienst beziehen176. 200 Verse enthalten vor allem familien- und erbrechtliche Angelegenheiten in vielen Einzelheiten177. Außerdem gibt es einige wenige Vorschriften verfahrensrechtlicher Art, einschließlich Beweisregeln für Zivil- und Strafprozessrecht, und einige Vorschriften, die sich explizit auf das Staatsrecht, das Völkerrecht, die Wirtschaftsverfassung und das materielle Strafrecht beziehen178. Verallgemeinernd kann gesagt werden, dass die ahkam amaliyyah Verse zwei Arten von Regeln beinhalten, abstrakte (amm) und konkrete (khass)179. Außerdem ist die Klassifizierung von definitiv verbindlichen Rechtsfolgen (qati) und zur Interpretation offenen Rechtsfolgen (zanni) von Relevanz180. Von einer definitiven Rechtsfolge kann ausgegangen werden, wenn die Sprache des Verses klar ist, der Vers in einem spezifischen Kontext steht und keine andere Interpretation der Rechtsfolge möglich ist als die in dem Vers formulierte. Die Verse, die eine qati Rechtsfolge aufweisen, sind – so die Theorie – nicht diskutabel, nicht anders 171
Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 26. Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 36. 173 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 26. 174 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 109 f.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 26. 175 Murad Hofmann, Koran, 2006, 78 f.; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 36. 176 Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 3; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 48. 177 Murad Hofmann, Koran, 2006, 79. 178 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 115 ff.; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 16; vgl. Abu Aeemenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 26 f. 179 Vgl. A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 57; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 23. 180 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 27 f. 172
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interpretierbar, verbindlich für jedermann und nicht offen für ijtihad. Eine sogenannte spekulative Rechtsfolge ist auf der anderen Seite offen für Interpretation und ijtihad. Die muslimischen Gelehrten stimmen darin überein, dass die beste Interpretation diejenige ist, die sich selbst aus dem quran ergibt181. In diesem Zusammenhang wird aber auch die Rolle der sunna deutlich, durch die viele nicht spezifizierte Rechtsfolgen konkretisiert werden. Die Juristen sind sich über das generelle Prinzip einig, dass die konkreten (khass) Verse definitive (qati) Rechtsfolgen enthalten182. Allerdings sind sie sich uneinig darüber, ob abstrakte (amm) Verse spekulative oder definitive Rechtsfolgen aufweisen183. Die abstrakten Regeln sind deutlich in der Mehrzahl. Die spezifischen Regeln beinhalten Aussagen über Fragen des Gebets und familienrechtliche, schuldrechtliche und strafrechtliche Anweisungen. Andere Aussagen, auch die über das Staatsrecht, werden von abstrakten Regeln erfasst184. Weil abstrakte Regeln aufgrund ihrer Natur Interpretationen benötigen, bevor sie in einem spezifischen Kontext angewandt werden können, bieten sie Raum für flexible Lösungen185. Deswegen wird die Offenbarung des qurans in hauptsächlich abstrakt-generellen Regeln von den mujtahids186 als Indikation der göttlichen Güte betrachtet, wodurch Muslime ihre Religion über die Jahrhunderte hinweg zeitgemäß ausüben können. Auf der anderen Seite können diese Interpretationen selbstverständlich – teilweise sogar stark – voneinander abweichen. Mahmud Shaltut z. B. hebt diesen Umstand hervor, indem er darauf verweist, dass es zeitweise sieben oder acht verschiedene juristische Interpretationen von ein und derselben Stelle im quran gegeben hat187. Er schreibt auch, dass diese Interpretationen nicht für alle Muslime verbindlich sein können, sondern lediglich ijtihad-Meinungen darstellen. Daraus schließt er, dass ijtihad nicht nur erlaubt, sondern sogar gefordert wird. Die Resultate hieraus können richtig oder falsch sein. Auf jeden Fall bieten sie dem Herrschaftsträger in einem islamischen Staat die Möglichkeit, aus diesen Interpretationen die für die Gemeinde nützlichste zu wählen. Erst wenn die staatliche Herrschaft eine Interpretation ausgewählt bzw. als Gesetz proklamiert hat, hat diese auch verbindlichen Charakter für die in 181 182 183 184 185
Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 19. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 31, 33. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 33, 39. Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 39. Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997,
18 f. 186 Der Terminus bedeutet wörtlich „Diejenigen, die intensiv studieren“ oder „Diejenigen, die sich intellektuell betätigen“. Von diesem Begriff ist jeder Muslim umfasst, der fähig ist an dem Prozess der juristischen Interpretation der islamischen Texte und des islamischen Rechts zu partizipieren. Die diesbezüglich durchgeführte Handlung der mujtahids wird „ijtihad“ genannt. 187 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 31.
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diesem Herrschaftsgebiet lebenden Muslime188. Viele Staaten in der mehrheitlich islamischen Welt erkennen die verschiedenen Interpretationen als legitim an und behandeln die jeweiligen Anhänger soweit wie möglich im Einklang mit der jeweiligen Interpretation ihrer Rechtsschule. b) Sunna des Propheten (s. a. w. s.) Mit dem Begriff sunna wird das vorbildliche Verhalten des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) beschrieben189. Dessen Hauptaufgabe bestand darin, die göttliche Offenbarung zu verkünden, sie authentisch zu interpretieren und ein praktisches Orientierungsbeispiel für Muslime zu sein190. Die Gelehrten, die sich explizit mit der sunna beschäftigen, definieren diese als die gesammelten, vollständigen Überlieferungen des Propheten Muhammad (s. a. w. s.)191. Hierzu zählen seine Taten, seine Aussprüche, aber auch seine durch Schweigen hervorgehobene Meinung zu einer bestimmten Sache, Berichte über seine physischen Konditionen und Beschreibungen seines Charakters192. Die Rechtsgelehrten, die sich primär mit dem normativen Teil der sunna beschäftigen, schließen die Berichte über die physischen Konditionen des Propheten (s. a. w. s.) aus ihrer sunna-Definition aus193. Die sunna ist in sogenannten hadithen, schriftlichen Einzelaufzeichnungen bzw. Überlieferungen, festgehalten194. Muslime verwenden die Begriffe hadith und sunna oft deckungsgleich, obwohl diese Unterschiede aufweisen195. Hadith ist die schriftliche Einzelaufzeichnung bzw. die Überlieferung, während sunna das hiervon abgeleitete vorbildliche Beispiel oder das Gesetz ist196. Hierdurch wird deutlich, dass hadithe, technisch betrachtet, ein Vehikel für die Übermittlung der in der sunna enthaltenen Normen darstellen197. 188
Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 31. Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 10; vgl. A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 61. 190 Muhammad Abd al-Ra’uf, Sunnah and Hadith and Their Importance in Modern Context, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 70, 84, 112; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 48. 191 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 58. 192 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 35; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 21; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 45. 193 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 58; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 129 ff. 194 I. A. Ibrahim, A Brief Illustrated Guide to understanding Islam, 1997, 49. 195 Vgl. A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 61; Amin Ahsan Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 36; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 21. 196 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 59 f.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 61. 197 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 49; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 61. 189
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Der Terminus sunna wurde schon in vor-islamischen Zeiten für modellhaftes Verhalten benutzt198. Die verschiedenen arabischen Volksstämme hatten, jeweils in ihren eigenen sozialen Organisationsstrukturen, eine verbindliche sunna, welche sie als einen Grundpfeiler ihrer Identität und des Stammesstolzes betrachteten199. Der Begriff sunna kommt auch im quran vor, wird dort allerdings unterschiedlich verwendet200. Die islamischen Juristen und Rechtsgelehrten interpretieren die jeweiligen Stellen im quran, wo der Begriff direkt verwendet, oder indirekt darauf hingewiesen wird, in dem zuvor wiedergegebenen Sinne201. Die absolut h. M. ist die, dass die sunna eine der primären Rechtsquellen des islamischen Rechts ist202. Das Gegenteil von sunna ist bida, was unzulässige Neuerung bedeutet203. Der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) hat in der frühen Phase der Offenbarung des qurans die Aufzeichnung seiner Reden und Handlungsweisen verboten, um den Status des qurans als Hauptquelle zu verdeutlichen204. Hierdurch wurde ein bedeutender Teil der sunna erst im 9. und 10. Jahrhundert zur Zeit der Abbasidischen Herrschaft aufgezeichnet205. Aus diesem Grund war es wichtig für muslimische Gelehrte eine Wissenschaft in Verbindung mit der sunna zu entwickeln, um authentische hadithe von nicht-authentischen hadithen zu trennen206. Das Ergebnis war die sogenannte Hadithwissenschaft207. Sie unterteilt die Aufzeichnungen von Aussagen und Handlungsweisen des Propheten (s. a. w. s.) in zahlreiche Kategorien und stuft diese z. B. als falsch, schwach, möglicherweise richtig oder komplett vertrauenswürdig ein208. Viele tausend hadith-Überlieferungen sind ab der vierten Generation nach dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) in Sammlungen zusammengefasst worden209. 198 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 119; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 61 f. 199 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 58. 200 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 125 f.; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 45 ff. 201 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 58. 202 Vgl. Kamal A. Faruki, Islamic Jurisprudence, 1994, 53 ff.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 52; Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 110; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 96 f. 203 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 194; M. Adil Abu Aa-isha, Uloom ul Hadeeth, 2005, 109. 204 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 132; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 45. 205 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 133. 206 Vgl. M. Adil Abu Aa-isha, Uloom ul Hadeeth, 2005, 1 ff. 207 Vgl. M. Adil Abu Aa-isha, Uloom ul Hadeeth, 2005, 1 ff.; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 59; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 51 ff. 208 Vgl. Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 126 ff. 209 Vgl. A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 70 ff.
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Unter ihnen genießen sechs quasi-kanonischen Status: diejenigen von Al-Bukhari (gest. 870), Muslim (gest. 875), Ibn Madscha (gest. 886), Abu Dawud (gest. 888), Al-Tirmidhi (gest. 892) und Al-Nasa’i (gest. 915)210. Wegen den politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Ali, dem vierten und letzten rechtgeleiteten Kalifen, und Mu’awiyah, dem Statthalter Syriens, welche zur Teilung der islamischen Gemeinde in Schiiten und Sunniten führten, wurden viele nicht-authentische hadithe von der jeweiligen Anhängerschaft fabriziert, um deren Standpunkt zu bekräftigen211. Auch in diesem Zusammenhang erklärt sich die Relevanz der Hadithwissenschaft, die ja dazu genutzt wird authentische und nichtauthentische hadithe zu unterscheiden212. Trotzdem unterscheiden sich die schiitischen und sunnitischen hadith-Sammlungen in gewissen Punkten213. Manche hadithe, die Rechtsfolgen enthalten, wie z. B. die Aussagen über die zeitlich begrenzte Ehe, entfalten bei den Schiiten weiterhin Rechtskraft, während sie bei den Sunniten nicht mehr als rechtlich verbindlich betrachtet werden214. Umgekehrt gibt es aber auch Beispiele, in denen Schiiten gewissen hadithen keine verpflichtende Rechtsfolge zugestehen, während die Sunniten dies tun215. Es gibt zudem unterschiedliche Interpretationen zu ein und denselben hadithen216. Gerade im Zusammenspiel mit dem quran zeigt sich die Bedeutung der sunna217. Viele abstrakte (amm) Verse, die einen regulativen Charakter haben, werden durch sie konkretisiert218. Außerdem ergibt in vielen Fällen die Kombination von sunna mit Versen aus dem quran, die zur Interpretation offene Rechtsfolgen (zanni) enthalten, Rechtsfolgen, die dann als definitiv bzw. qati eingestuft werden219. Die sunna dient damit als Interpretationsstütze für den quran220. Be210 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 54; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 56; Abdullah Feyzi Kocaer, Sahih’i Müslim, 9. Jahrhundert, Bd. 1–2, Nachdruck 2005; Abdullah Feyzi Kocaer, Sahih’i Buhari, 9. Jahrhundert, Nachdruck 2006; Süleyman b. Ebu Davud, Sünen-i Ebu Davud Terceme ve S¸erhi, 9. Jahrhundert, Bd. 1–16, Nachdruck 1987; Abdullah Parlıyan, Sünen-i Tirmizi, 9. Jahrhundert, Bd. 1–3, Nachdruck 2004. 211 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 36; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 127 ff.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 87. 212 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 36. 213 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 128 f. 214 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 129; Christine Schirmacher/Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia, 2004, 124 f. 215 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 92; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 54 f., vgl. 101 f. 216 Vgl. Christine Schirmacher/Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia, 2004, 23; Hans Küng, Islam, 2007, 186. 217 Vgl. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 35. 218 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 131; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 32. 219 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 32.
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steht aber ein vermeintlicher Widerspruch zwischen sunna und quran, gilt im Zweifelsfall letztlich der quran, da er Gottes Wort wiedergibt und daher als fehlerfrei angesehen wird, während die Sammlungen der hadithe von Menschen verfasst wurden und somit in der Theorie Fehler enthalten können221. Die Arbeitsmethode mit der sunna ist bereits durch deren Aufteilung in zwei Klassifikationsgruppen vorgezeichnet. Zum einen geht es um den Inhalt der sunna (matn) und zum zweiten um die Übermittlung der sunna (isnad)222. Da die sunna nicht wie der quran, das Wort Gottes darstellt, spielt die Authentizität der Übermittlung für die Ableitung einer Rechtsfolge aus ihr eine relevante Rolle. Die Bestimmung der Authentizität ist somit äußerst wichtig223. Der Inhalt der sunna (matn) wird wiederum in drei Gruppen aufgeteilt224: erstens die verbale sunna (qawil), die Aussagen des Propheten Muhammad (s. a. w. s.), zweitens die tatsächlichen Handlungen (fi’li); und drittens die vom Propheten Muhammad (s. a. w. s.) gutgeheißenen Handlungen anderer (taqiri) 225. Die Aussagen der hadithe dieser drei Gruppen werden dadurch kategorisiert, dass sie entweder als rechtsverbindliche sunna (sunna tashri’iyah) oder als nicht-rechtsverbindliche sunna (sunna gahyr tashri’iyah) einstuft226. Die nicht-rechtsverbindliche sunna (sunna gahyr tashri’iyah) besteht aus den natürlichen Handlungsweisen des Propheten Muhammad (s. a. w. s.), die nicht als zwingende Norm vorgeschrieben sind227. Beispiele hierfür sind, welches Essen er bevorzugte, wie er aß, welche Farben er mochte, welches Parfum er nutzte, und alle anderen Handlungen, die keine primären Pfeiler seiner prophetischen Mission darstellten228. Die rechtsverbindliche sunna (sunna tashri’iyah) besteht aus Handlungen des Propheten Muhammad (s. a. w. s.), welche normative Prinzipien der sharia enthalten229. Diese sind in drei Bereiche unterteilt: erstens Handlungen, die der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) im Rahmen seiner prophetischen Mission vollzogen hat, 220
A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 61. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 36. 222 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 54; vgl. Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 51. 223 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 54 ff. 224 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 63. 225 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 65; Murad Hofmann, Islam, 2006, 51 ff.; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 122 ff. 226 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 67 f., 69 f. 227 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 67 f. 228 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 130. 229 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 69 f.; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 130 f. 221
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welche den quran ergänzen oder Sachverhalte regeln, zu denen der quran schweigt und die in ihrem Kern einen religiösen Teil beinhalten230; zweitens Handlungen, die der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) als Staatsoberhaupt in seiner Organfunktion vollzogen hat231; drittens Handlungen, die er als oberster Richter der Gemeinde getätigt hat232. Der Teilaspekt der sunna, der sich mit ihrer Übermittlung befasst (isnad), wird ebenfalls in zwei Hauptgruppen unterteilt233: erstens in die Arbeit mit den hadithen, die keine unterbrochene Überlieferungskette (muttasil) haben, und zweitens in die Arbeit mit den hadithen, die eine unterbrochene Überlieferungskette (ghayr muttasil) aufweisen234. Ein hadith gilt als muttasil, wenn die Aussagen des letzten Überlieferers direkt, über eine zusammenhängende Kette von Überlieferern, die alle das gleiche ausgesagt haben, zu dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) zurückverfolgt werden können235. Ein hadith wird als ghayr muttasil eingestuft, wenn in der Kette der Überlieferer eine Lücke bzw. eine Diskrepanz vorhanden ist236. Die muttasil hadithe werden wiederum in zwei Gruppen unterteilt, die mutawatir und die ahad hadithe237. Die Hanafiten, eine sunnitische Rechtsschule, haben bei der Kategorisierung der muttasil hadithe zusätzlich eine dritte Gruppe hinzugefügt, die mashur hadithe238. Ein mutawatir hadith liegt vor, wenn eine nicht unterbrochene Überlieferungskette vorhanden ist und dieser hadith von einer großen Anzahl der Prophetengenossen, die als rechtschaffend eingestuft werden, überliefert wurde239. Die Rechtsfolge aus einem solchen hadith ist äquivalent zu der Rechtsfolge aus einem konkreten Vers des qurans240. Ein mashur hadith ist ein hadith, der ebenfalls keine unterbrochene Überlieferungskette hat, aber lediglich von einem oder einer kleinen vertrauenswürdigen Gruppe unter den Prophetengenossen überliefert wurde241. Die Gelehrten sind sich über die 230
Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 69. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 69. 232 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 69. 233 Vgl. Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 51 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 54 f. 234 M. Adil Abu Aa-isha, Uloom ul Hadeeth, 2005, 11. 235 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 92. 236 Vgl. M. Adil Abu Aa-isha, Uloom ul Hadeeth, 2005, 7 ff., 12 ff. 237 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 55; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 92; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 55; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 145 ff.; M. Adil Abu Aa-isha, Uloom ul Hadeeth, 2005, 7 ff., 12 ff. 238 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 147. 239 M. Adil Abu Aa-isha, Uloom ul Hadeeth, 2005, 8 f. 240 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 92. 241 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 95 f. 231
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Rechtsfolge aus einem solchen hadith nicht einig242. Ahad hadithe sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar eine ununterbrochene Überlieferungskette aufweisen, aber der einzelne Übermittler oder die Gruppe der Übermittler als zweifelhafte Persönlichkeiten eingestuft werden243. Auch die Einstufung dieser hadithe und ihrer rechtliche Relevanz ist umstritten244. Ghayr muttasil hadithe weisen in der Kette der Überlieferer eine Lücke auf, können aber von vertrauenswürdigen Personen stammen, so dass die Rechtsfolge aus diesen verbindlich sein kann245. Allerdings haben muslimische Juristen hierzu ebenfalls differenzierte Meinungen246. All diese hadithe sind in Sammlungen aufgezeichnet und mit detailreichen Kommentaren der Autoren über die Verbindlichkeit der Rechtsfolge ergänzt247. Die letzte Entscheidung hierüber wird aber dem Leser überlassen. Der Grund hierfür ist die Manifestation des islamischen Glaubens, dass jeder Muslim selbst für seine Handlungen gegenüber Gott verantwortlich ist248. Ein Muslim kann sich auf die Analyse eines Gelehrten berufen, oder er kann sich mit mehreren anderen Muslimen beraten, letztendlich muss er jedoch eigenverantwortlich eine Entscheidung fällen. Daher gibt es im Islam auch keinen Klerus, der das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen regelt. Islam kennt so gesehen nur mujtahids249. Das Feld des ijtihad, welches im Rahmen der usul al-fiqh, der islamischen Rechtsmethodik und Wissenschaft ausgeübt wird, ist in der Theorie bei nicht geregelten Sachverhalten offen für alle qualifizierten Muslime250. Nicht alle Handlungen oder Aussagen des Propheten (s. a. w. s.) sind rechtsverbindliche sunna251. Der Prophet (s. a. w. s.) war sich über diese Trennung im Kla242 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 148; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 95 f. 243 M. Adil Abu Aa-isha, Uloom ul Hadeeth, 2005, 13 f. 244 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 150 f.; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 64. 245 Vgl. A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 64; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 108. 246 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 109; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 64. 247 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 54; Murad Hofmann, Islam, 2006, 52. 248 In der vor-islamischen Zeit wurde ein ganzer Stamm bei individuellem Fehlverhalten eines Mitgliedes des Stammes kollektiv zur Verantwortung gezogen. Es galt die „Sippenschuld“. Erst durch den quran wurde dieses Verständnis aufgehoben und die individuelle Verantwortung und Schuld bei Fehlverhalten etabliert. Vgl. Quran 6:164; 16:25. 249 Mathias Rohe, Das islamische Recht, 2009, 48. 250 Noel Coulson, A History of Islamic Law, 1964, 25; vgl. Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 80; vgl. Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 39; Amin Islahi, Islamic Law – Concept and Codification, 1989, 51 ff. 251 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 130.
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ren und verdeutlichte sie in mehreren Situationen252. Wenn er nichtreligiöse Expertenmeinungen benötigte, überließ er die Entscheidungsfindung diesen Experten253. Eine weitere Unterteilung der sunna, welche zu Problemen führt, ist dass der Prophet (s. a. w. s.) in gewissen spezifischen Situationen Handlungen vollzogen hat, die jeweils nur in einem begrenzten Zeitfenster für die Gemeinde bindend wird so dass daraus gezogene Lehren nur in diesem engen Zeitrahmen anwendbar waren. Andere Teile der sunna sind generell-abstrakt, folglich rechtsverbindlich für jede Epoche254. Offensichtlich führt ein Fehler bei dieser Unterscheidung zu extremen Interpretationsfehlern. In der Praxis haben sich deswegen mehrere unterschiedliche Meinungen herausgebildet255. Muslimische Juristen müssen im Zusammenhang mit der sunna nicht nur zwischen spezifischen und abstrakten Regeln unterscheiden, sondern auch islamisches Recht von dem konkreten Beispiel des Propheten (s. a. w. s.) ableiten und herausfiltern, dass am besten für die jeweilige Epoche und Gemeinde passt256. Falls Rechtsgelehrte daher über eine abstrakte Regel aus der sunna uneins waren, hat diese unterschiedliche Meinung zu einer völlig verschiedenen Jurisprudenz zu diesem Punkt geführt257. Im islamischen Recht wird deshalb eine hohe Toleranz unter den Rechtsgelehrten verlangt258. 2. Sekundäre Rechtsquellen Im Folgenden werden die sekundären Rechtsquellen des islamischen Staatsrechts vorgestellt. Diese sind in klassische sekundäre und neuzeitliche sekundäre Rechtsquellen aufgeteilt. Die klassischen sekundären Rechtsquellen und das hieraus abgeleitete Recht sind mehrheitlich in den ersten Jahrhunderten des Islams entwickelt worden259. Die Juristen achteten penibel darauf, dass diese Rechtsquellen im Einklang mit 252
Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 77. Vgl. Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 24 ff. 254 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 69. 255 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 344 ff.; Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 114 f.; Shah Wali Allah Al Dihlawi, Difference of opinion in Fiqh, 2003, 22 ff. 256 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 71. 257 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 71. 258 Vgl. Murad Hofmann, Islam, 2006, 56; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 29; Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 114 f.; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 48; Shah Wali Allah Al Dihlawi, Difference of opinion in Fiqh, 2003, 22 ff.; Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 33. 259 Vgl. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 37; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 64 ff.; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 6. 253
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den primären Rechtsquellen standen und im Idealfall durch diese gerechtfertigt wurden260. Gleichzeitig handelt es sich bei diesen Rechtsquellen aber auch um Rechtsfindungsmethoden261. So gesehen stellen diese sekundären Rechtsquellen eine von den primären Quellen separate Rechtsquelle dar; sie beinhalten von ihnen abgeleitetes Recht, welches zwar in dem von der sharia vorgezeichneten Rahmen entwickelt wurde und daher göttlich inspiriert ist, aber gleichzeitig eben von Menschen geschaffen wurde262. Nicht alle klassischen sekundären Rechtsquellen werden in dieser Arbeit berücksichtigt, sondern nur einige exemplarisch ausgewählte, deren Geltung allerdings von der Mehrheit der Gelehrten anerkannt wird. Die Anwendung und die Legitimität von einigen dieser Rechtsquellen ist unter den Rechtsgelehrten umstritten263. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass einige der verwendeten deutschen Übersetzungen für die sekundären islamischen Rechtsquellen nicht als Synonyme von im deutschen Rechtsraum angewandten juristischen Prinzipien verstanden werden sollten, obwohl bei der Übersetzung dieselben Worte und Umschreibungen benutzt werden. Die verwendeten deutschen Übersetzungen stellen lediglich den islamischen Quellen am ehesten entsprechende Umschreibungen dar. Die neuzeitlichen sekundären Rechtsquellen für islamisches Staatsrecht sind die verschiedenen Verfassungen, die von muslimischen Gelehrten insbesondere in den letzten Jahren und Jahrzehnten herausgearbeitet worden sind. a) Klassische sekundäre Rechtsquellen Klassische sekundäre Rechtsquellen sind die Quellen, die von muslimischen Rechtsgelehrten der verschiedenen Rechtsschulen in den frühen Jahrhunderten nach der Offenbarung des Islams entwickelt wurden, um Rechtsfragen zu lösen, die weder im quran noch in der sunna tangiert werden. Das Ziel dieser Entwicklung war es nicht gelöste Rechtsfragen sharia-konform zu lösen und verbindliches Recht für das Individuum und die Gemeinde zu schaffen. aa) Ijma (Konsens der Rechtsgelehrten) Ijma wird von dem Wort ajma’a abgeleitet, welches zwei Bedeutungen hat, erstens feststellen bzw. etwas entscheiden und zweitens Einigkeit bezüglich einer Sache264. Als Beispiel für das erstere dient ajma’a fulan ala kadha, was übersetzt 260
Vgl. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005,
37. 261
Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 37 f. Vgl. Murad Hofmann, Islam, 2006, 55 ff. 263 Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 38. 264 Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 30; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 229. 262
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bedeutet „der und der entscheiden über das und jenes“ 265. Hiermit ist sinngemäß eine Feststellung bzw. Festlegung gemeint. Einhergehend mit diesem Verständnis wird das Wort ajam’a im quran und in der sunna verwendet. Die zweite Definition bedeutet eine einstimmige Übereinkunft266. Hierfür dient als Beispiel die Formulierung ajma’a al-qawm ala kadha, was übersetzt „das Volk/die Menschen kamen einstimmig über dies und jenes überein“ bedeutet267. Die zweite Definition des Wortes beinhaltet gleichzeitig die erste Definition, da eine einstimmige Übereinkunft gleichzeitig eine Entscheidung und eine Feststellung bzw. Festlegung ist. Auf der anderen Seite beinhaltet eine Entscheidung nicht immer die Einstimmigkeit mehrerer zu einem gewissen Sachverhalt. Im juristischen Sinne bedeutet ijma den einstimmigen Konsens der Rechtsgelehrten jedes Zeitabschnittes nach dem Tod des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) bezüglich einer Rechtslage268. Damit dieser allerdings eine rechtliche Bindung, vergleichbar mit der aus den Primärquellen als direkte Rechtsfolge abgeleiteten Verbindlichkeit, herbeiführt, wird eine völlige Übereinstimmung unter der Rechtsgelehrten vorausgesetzt269. Genau dies ist aber sehr schwer nachzuweisen. Ein universeller die verschiedenen Rechtsschulen umfassender Konsens besteht nur bei wenigen Punkten270. Angelegenheiten, bei denen ein verbindlicher Konsens vorliegt, sind vor allem Pflichten, die als absolut obligatorisch aus bestimmten quranversen und den wenigen sehr starken hadithen abgeleitet werden. Hierzu gehören z. B. die Pflicht der Anerkennung der „fünf Säulen“ des Islams oder die verschiedenen Anordnungen, die sich im quran zur Aufteilung der Pflichterbteile finden271. Ijma spielte dennoch eine dominante Rolle bei der Entwicklung bzw. Bestimmung der sharia und der islamischen Jurisprudenz272. Der existierende klassische fiqh ist ein Produkt eines langen Prozesses von ijthad und ijma273. Es gibt zwei Arten von ijma: die explizite ijma (al-ijma al-sarih) und die zugestimmte ijma (al-ijma al-sukuit)274. Bei der expliziten ijma kommen die Rechtsgelehrten zusammen und jeder gibt seine Meinung zu der debattierten Rechtsfrage ab, während bei der zugestimmten ijma ein Rechtsgelehrter eine Rechtsmeinung verkün265
Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 229. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 181; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 229. 267 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 229. 268 Abdur Rahman I Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 64. 269 Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 77. 270 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 216 ff. 271 Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 110. 272 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 231. 273 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 65 ff. 274 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 201 ff.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 61. 266
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det, und die anderen Rechtsgelehrten durch ihr Schweigen ihre Zustimmung erklären275. Über das Verhältnis und die rechtliche Relevanz dieser beiden Formen von ijma sind die Rechtsgelehrten uneinig. Teilweise wird vertreten, dass nur explizite ijma qati sei und neuen ijtihad ausschließe276. Bei zugestimmter ijma bleibt nach dieser Meinung ijtihad sehr wohl möglich277. Andere Rechtsgelehrte gestehen auch der zugestimmten ijma unter gewissen Voraussetzungen die Verbindlichkeit und die rechtliche Relevanz der expliziten ijma zu278. Diese zwei Arten von ijma werden wiederum in zwei Unterpunkte aufgeteilt: erstens in die partizipierte ijma (al-ijma al muhassal) und zweitens in die überlieferte ijma (al-ijma al-manqul). Die erstere ijma ist diejenige, an der der Rechtsgelehrte selber teilgenommen hat, die letztere ijma ist diejenige, die dem Gelehrten überliefert wurde279. Die überlieferte ijma wird wie bei der sunna in mutawatir (sicher) und ahad (unsicher) aufgeteilt280. Die Basis von ijma wird sanad genannt. Sanad setzt voraus, dass der Kern für ijma in der sharia enthalten ist, d.h. die Rechtsgelehrten müssen ihre ijma auf die Primärquellen stützen können281. Liegt diese Voraussetzung nicht vor, so stellt der aufgestellte Konsens lediglich ra’y, eine unverbindliche Meinungsäußerung von mehreren Rechtsgelehrten dar282. Formuliert ein einzelner Rechtsgelehrter eine Meinung in Form eines Rechtsgutachtens, einer sogenannten fatwa, und erhält keine Zustimmung, so ist die in der fatwa enthaltene Rechtsfolge ebenfalls nicht verbindlich283. Da ijma eng mit der natürlichen Entwicklung und Akzeptanz von Ideen, die aufgrund der Notwendigkeit der Regulierung von neuen Sachverhalten entwickelt werden, einhergeht, ist die Anwendung von ijma in der Theorie ewig. In der Praxis allerdings zeigen sich erhebliche Umsetzungsprobleme, die gerade von neuzeitlichen Juristen bemängelt werden284. Die Idee eines universellen Konsenses der Rechtsgelehrten einer vereinten umma, der im Einklang mit den Primärquellen steht, ist zwar sehr plausibel und sehr wünschenswert, aber allein schon die Möglichkeit, dass eine einzige juristisch legitimierbare Gegenmeinung die 275
Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 248 ff. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 203. 277 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 248. 278 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 248 f. 279 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 250. 280 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 250. 281 Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 71; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 31 f.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 252. 282 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 23. 283 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 202 f. 284 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 59. 276
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Geltung des Konsenses verwerfen kann, zeigt die Schwäche dieser Rechtsquelle bzw. dieser Art der Rechtsfindung. Neuzeitliche Juristen haben daher abweichende Auffassungen zur klassischen ijma-Definition285. Einige vertreten die Ansicht, dass die Meinung der Mehrheit der Rechtsgelehrten genügt, um eine rechtsverbindliche Norm zu formulieren286. Andere sind der Meinung, dass ein regionaler Konsens von Rechtsgelehrten die betroffene Region bindet, nicht aber die gesamte Gemeinde der Gläubigen287. Letztlich vertreten einige die Ansicht, dass nur ijma der unmittelbaren Prophetengenossen oder der Gelehrten aus Medina verpflichtend ist288. Einige dieser Rechtsgelehrten versuchen diese reformierten Ansichten von ijma mit dem neuzeitlichen Staatsverständnis zu kombinieren und somit eine Basis für die Gesetzgebung, die auf einer Mehrheitsentscheidung basiert, zu schaffen289. bb) Qiyas (Analogieschlüsse) Wörtlich übersetzt bedeutet qiyas einerseits die Bestimmung einer Länge, eines Gewichts oder der Qualität einer Sache, andererseits bedeutet es aber auch den Vergleich von zwei Sachen miteinander, wobei impliziert wird, dass ein gemeinsamer, vergleichbarer bzw. identischer Kerngehalt in diesen beiden Sachen enthalten ist290. Juristisch bedeutet qiyas die Anwendung einer Rechtsfolge (hukm), eines in der sharia geregelten Sachverhaltes (asl), auf einen neuen Sachverhalt (far), dessen Rechtsfolge nicht feststeht291. Somit wird durch qiyas eine festgelegte Rechtsfolge bei einem neuen Sachverhalt benutzt und dadurch der ursprüngliche Anwendungsbereich des Rechtes erweitert. Dies ist aber nur legitim, wenn der quran, die sunna und die als definitiv anerkannte ijma zu dem neuen Sachverhalt keinerlei Rechtsfolge oder Regelung aufweisen292. Des Weiteren setzt ein wirksamer qiyas eine Gemeinsamkeit (’illah) zwischen den beiden Sachverhalten vo285
Vgl. A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 76. Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 254; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 207 ff. 287 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 256 f.; Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 80. 288 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 203 ff.; Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 80. 289 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 61; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 246 f. 290 Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 45; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 264. 291 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 77; Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 84. 292 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 264. 286
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raus293. Die Voraussetzungen und das Ergebnis der Anwendung von qiyas lassen sich demnach wie folgt zusammenfassen: erstens in der sharia geregelter Sachverhalt (asl), dessen Regelung per Analogie angewendet werden soll; zweitens neuer Sachverhalt (far), welcher eine Regelung braucht; drittens Gemeinsamkeit (’illah), die eine Essenz des geregelten Sachverhaltes darstellt; viertens Rechtsfolge (hukm), die bei dem nicht geregelten Sachverhalt verwendet wird294. Ein Beispiel hierfür ist das Verbot aller berauschenden Drogen und alkoholischen Getränke295. Der quran verbietet explizit nur das Weintrinken296. Die Rechtsgelehrten sind sich jedoch darüber einig, dass auch alle anderen alkoholischen Getränke und alle berauschenden Drogen von diesem Verbot erfasst sind297. Dabei ist der geregelte Sachverhalt (asl) das Weintrinken, der neue Sachverhalt (far) ist die Einnahme von anderen alkoholischen Getränken oder Drogen, die Gemeinsamkeit (’illah) ist der berauschende Faktor und die Rechtsfolge (hukm) ist das Verbot298. Bei der Anwendung und Bestimmung von qiyas differieren die Rechtsschulen teilweise299. Allerdings sind sich die meisten Gelehrten einig, dass qiyas eine der wichtigsten Quellen des islamischen Rechts darstellen300. cc) Al-maslahah al-mursalah (Das öffentliche Interesse) Wörtlich übersetzt bedeutet maslahah Vorteil, gut, richtig oder Interesse301. Bei der Verwendung des Wortes maslahah in Verbindung mit dem Wort mursalah ergibt sich im juristischen Sinne der Terminus maslahah mursalah, welchen muslimische Juristen als eine Bezeichnung für das Gemeinwohl oder für das öffentliche Interesse nutzen302. Das öffentliche Interesse wird bei der Kodifizierung eines relevanten, aber nicht regulierten Sachverhaltes berücksichtigt und beeinflusst die Gesetzge293 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 264; vgl. Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 46. 294 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 267 f.; Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 83; vgl. Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 45. 295 Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 83 f. 296 Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 83. 297 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 50. 298 Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, 2005, 83 f.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 267 f. 299 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 247 ff. 300 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 250 ff. 301 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 351; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 281. 302 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 351.
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bung303. Das Wort istislah, welches die gleiche Bedeutung hat wie maslahah mursalah, wird ebenfalls als Bezeichnung für das Gemeinwohl bei dem Erlass von Normen verwendet304. Auf diesem Rechtsinstitut beruhende Gesetzgebung wird von den muslimischen Gelehrten legitimiert, indem auf die ratio der vorhandenen islamischen Gesetzgebung verwiesen wird, die insbesondere dazu dient, das Wohl der Menschen zu gewährleisten, Nachteile abzuwenden und die Menschen vor Ungerechtigkeiten zu schützen305. In diesem Zusammenhang muss das Zusammenspiel von maslahah murtabara und maslahah mursalah näher erläutert werden. Als maslahah murtabara definieren muslimische Juristen, das von Gott berücksichtigte und durch Menschen bestimmbare Interesse bei der vorhandenen Gesetzgebung in der sharia306. Dabei unterteilen muslimische Juristen maslahah murtabara in drei Unterpunkte: erstens in maslahah daruriya, das notwendige Interesse, welches insbesondere die Religion, das Leben, den Verstand, die Nachkommenschaft und das Eigentum schützt, wobei diese Aufzählung nicht abschließend ist; zweitens in maslahah hajiyya, das bedarfsmäßige Interesse, welches alles schützt, was dazu dient maslahah daruriya umzusetzen, insbesondere das Leben leichter zu gestalten; drittens in maslahah tahsiniyat, das verbessernde Interesse, welches Rechtsregeln aufstellt, um die guten und moralischen Sitten in der Gesellschaft zu begründen307. Maslahah mursalah auf der anderen Seite ist abstrakter gefasst und basiert nicht auf den klar bestimmbaren maslahah murtabara, sondern auf den generellen Prinzipien des islamischen Rechts308. Die Akzeptanz von maslahah murtabara Gesetzgebung ist unter muslimischen Juristen daher größer als bei maslahah mursalah Gesetzgebung309. Die praktische Umsetzung von auf maslahah mursalah beruhender Gesetzgebung obliegt den Juristen und denjenigen, die die Staatsmacht ausüben310. Die Möglichkeit die Ziele der sharia bei ungeregelten Sachverhalten praktisch durch Gesetzgebung zu verwirklichen, ist dabei theoretisch endlos. Die Juristen müssen allerdings im Rahmen der sharia handeln und dürfen deren Zielsetzung nicht un303
Vgl. Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 110 f. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 351; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 66; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 81; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 56. 305 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 281 f.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 358 ff. 306 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 283 f. 307 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 284 ff. 308 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 357. 309 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 291 ff. 310 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 365 f. 304
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F. Islamisches Staatsrecht
terwandern oder gar aufheben. Konkret bedeutet dies, dass die Rechtsfolge von klar geregelten Sachverhalten nicht durch auf maslahah mursalah beruhende Gesetzgebung, aufgehoben werden kann311. Bereits die Gefährten des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) wendeten dieses Rechtsinstitut nach dem Tod des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) bei der Regulierung von ungeregelten, insbesondere bei sich neu ergebenden Sachverhalten an, ohne dies jedoch ausdrücklich maslahah mursalah Gesetzgebung zu nennen312. Einige bedeutende Rechtsgelehrte der Vergangenheit lehnten das Rechtsinstitut von maslahah mursalah insgesamt ab, andere schränkten die Anwendung ein oder stellten strikte Voraussetzungen für die Implementierung auf313. Heutzutage allerdings sind sich die führenden Gelehrten aller Rechtsschulen darüber einig, dass auf maslahah mursalah beruhende Gesetzgebung wichtig und notwendig ist, sofern der Rahmen der sharia nicht überschritten wird314. dd) Al-istihsan (Billigkeit) Sprachlich bedeutet der Begriff al-istihsan das Gutheißen315. Rechtlich hat dieser Begriff verschiedene Bedeutungen, aber alle Definitionsversuche stimmen in den folgenden Punkten überein. Erstens: der Kern von al-istihsan ist ein Abweichen von einer Regel, eine Änderung einer Regel, eine Spezialisierung einer Regel, die Etablierung einer Ausnahme von einer Regel oder eine Bevorzugung einer Regel gegenüber einer anderen gleichwertigen Regel. Zweitens: diese sogenannte Abweichung, Änderung oder Spezialisierung soll durch die Primärquellen, zumindest aber durch qiyas, oder durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt sein. Drittens: dieses Abweichen kann von speziellen Regeln der Primärquellen, vom qiyas oder von allgemeinen islamischen Prinzipien erfolgen316. Die konkrete Umsetzung und Anwendung von al-istihsan ist unter den Rechtsgelehrten umstritten317. Durch al-istihsan kann ein Jurist, unter Anwendung seiner eigenen Meinung, Unverhältnismäßigkeit und ungerechte Ergebnisse, die durch die strikte und wörtliche Anwendung des islamischen Rechts im Einzelfall entstehen könnten, verhindern318. Imam Abu Hanifa, der Begründer der hanafitischen Rechtsschule 311
Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 66. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 294 f. 313 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 362 ff. 314 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 365. 315 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 8 f. 316 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 320; Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 54 ff. 317 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 329. 318 Vgl. Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 348. 312
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und einer der frühesten Verfechter dieses Rechtsinstituts, erklärte, dass al-istihsan ein Abweichen von einer verbindlichen Rechtsfolge wegen eines wichtigen Grundes erlaube319. Imam Safi, der Begründer der safitischen Rechtsschule, zahiritische und schiitische Rechtsgelehrte lehnten al-istihsan als Rechtsinstitut und Rechtsquelle ab320. Die Anwendung von al-istihsan wurde schon relativ früh etabliert. Selbst Umar, der dritte der rechtgeleiteten Kalifen, wandte al-istihsan an, ohne dies allerdings explizit hervorzuheben321. Gerade hierdurch konnten Juristen und Herrscher gerechte Urteile und Ergebnisse bei Rechtsfragen in Einzelfällen, aber auch bei Erlass von allgemeingültigen Gesetzen erzielen. Heutzutage ist al-istihsan weitgehend als Rechtsquelle und Rechtsinstitut im islamischen Recht anerkannt. ee) Urf (Sitte, Gewohnheit) Urf wird von dem Wort arafa abgeleitet, welches übersetzt die Bedeutung Wissen hat322. Das Wort urf drückt das aus, was bekannt ist. Im juristischen Sinne bedeutet es: das Bekannte und Gewohnte. Die Rechtsgelehrten definieren urf als wiederkehrende Praxis, welche den Menschen bekannt, vernünftig, nachvollziehbar und natürlich ist323. Dabei darf urf selbstverständlich nicht gegen die sharia verstoßen. Das aus dieser Praxis abgeleitete Recht wird von den Gelehrten als verbindliches Gewohnheitsrecht anerkannt. Schon zu Zeiten des Propheten (s. a. w. s.) wurde nicht jedes Gewohnheitsrecht per se außer Kraft gesetzt oder verändert324. Bestehendes Gewohnheitsrecht, welches im Einklang mit der sharia stand, behielt seine rechtliche Relevanz325. Anderes, nicht sharia-konformes Gewohnheitsrecht wurde lediglich modifiziert und dann weiter verwendet326. Da Gewohnheitsrecht sich durch ständige Praxis und neue Meinungen ändern kann und somit weder örtlich noch zeitlich vorher bestimmbar ist, lehnten einige Rechtsgelehrte urf als legitime Rechtsquelle ab327.
319 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 318; vgl. Mohammad Hameedullah Khan, The Schools of Islamic Jurisprudence, 1997, 54. 320 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 324. 321 Vgl. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1987, 37–51, 49 f.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 325, 339. 322 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 369. 323 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 369. 324 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 68. 325 Vgl. A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 87 f. 326 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 370; A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 87. 327 A. D. Ajijola, Introduction to Islamic Law, 1989, 85 f.
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F. Islamisches Staatsrecht
Nichtsdestotrotz spielte urf als Rechtsinstitut bei der Entwicklung der sharia eine bedeutende Rolle. ff) Al-istishab (Kontinuität, Nützlichkeit) Wörtlich übersetzt bedeutet istishab begleiten. Im juristischen Sinne steht istishab für die Kontinuität einer Rechtslage und deren Nützlichkeit, solange ein die Rechtslage aufhebender Rechtsgrund nicht vorliegt328. D.h. eine Änderung der bestehenden Rechtslage kann nur durch Vorbringen von Tatsachen, die das Gegenteil beinhalten, herbeigeführt werden. Solange dies nicht geschehen ist, gehen muslimische Juristen von der Fortdauer einer vorhandenen allgemeingültigen oder den Einzelfall regulierenden Rechtslage aus329. Im Zusammenhang mit der Bestimmung einer Norm, die in einem Einzelfall anwendbar ist, kann auf istishab zurückgegriffen werden330. Z. B. gilt, abgesehen von den im islamischen Recht enthaltenen Verboten, die generelle Norm, dass Essen, Getränke und Kleidung im vorgegebenen Rahmen erlaubt sind331. Ist dies aber speziell im Einzelfall unklar, so kann, wenn keine explizite Norm diesbezüglich vorliegt, von der Legalität ausgegangen werden332. Istishab wirkt allerdings nicht nur wie in diesem Sinne positiv, sondern auch negativ und legitimiert bestehende Verbote333. Die Rechtsschulen divergieren bei der Anwendung von istishab334. b) Neuzeitliche sekundäre Rechtsquellen: Islamische Verfassungen Neuzeitliche sekundäre islamische Staatsrechtsquellen sind die Verfassungen von islamischen Staaten335. Sie stellen einen Versuch dar, Brücken zwischen den klassischen Interpretationen der sharia und neuzeitlichen Interpretationsansätzen und zwischen dem klassischen Staatsrechtsverständnis und dem neuzeitlichen Staatsrechtsverständnis zu schlagen336. Insbesondere wird durch sie versucht 328
Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 384. Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 83; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 384 f. 330 Vgl. Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 83. 331 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, Erlaubtes und Verbotenes im Islam, 2003, 30 ff., 65. 332 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 83. 333 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 385. 334 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 389. 335 Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 12 f. 336 Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 12 f. 329
III. Quellen des Islamischen Staatsrechts
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Grundprinzipien aus dem quran, Beispiele aus den Handlungsweisen des Propheten (s. a. w. s.) und Beispiele aus dem früh-islamischen Staat von Medina praktisch in der Neuzeit umzusetzen. Die nachfolgenden Beispiele dienen zur Veranschaulichung des Staatsverständnisses verschiedener Strömungen im Islam. Der Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität Kairo ist ein Exempel für ein Grundgesetz, das von einer Institution hervorgebracht wurde, die die Mehrheit der sunnitischen Muslime als Autorität anerkennen. Die 1951 in Karachi von sunnitischen und schiitischen Gelehrten, im Zusammenhang mit der Verabschiedung einer Verfassung für Pakistan, formulierten Grundprinzipien für einen islamischen Staat, nachfolgend als die Karachi-Grundprinzipien bezeichnet, dienen als Beispiel für ein islamisches Staatsverständnis, das von Sunniten und Schiiten gleichermaßen mitgestaltet und beeinflusst wurde. Die saudi-arabischen Staatsgesetze fungieren als Muster für ein Staatsmodell einer als „extrem“ konservativ geltenden sunnitischen Minderheit. Die iranische Verfassung dient als Modell für einen islamischen Staat, der alleine von Schiiten gegründet wurde. aa) Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo Die Al-Azhar Universität in Kairo ist eine der größten religiösen Instanzen der sunnitisch-islamischen Welt. Obgleich die islamische Religion, insbesondere der sunnitische Islam, keinen Klerus kennt, genießt die Al-Azhar Universität in Kairo großes Ansehen und hat erheblichen Einfluss in der islamischen Welt. Die unter der Leitung der Al-Azhar Universität stehende Islamische Forschungsakademie hat bei ihrem 8. Kongress 1977 u. a. einen Entschluss gefasst, die folgende Empfehlung zu verwirklichen: „Die Al-Azhar Universität und die Islamische Forschungs-Akademie werden eine islamische Musterstaatsverfassung entwerfen, die die Zustimmung aller verschiedenen islamischen Rechtsschulen genießt und die alle Punkte, in denen ein Konsens der Rechtsschulen besteht, beinhaltet, um diese Staaten zur Verfügung zu stellen, die ein islamisches Leben ihrer Bürger gewährleisten möchten und eine islamische Gesellschaft sowie einen islamischen Staat aufbauen wollen“ 337.
Die Islamische Forschungsakademie hat zwei Monate später am 31. Dezember 1977 diese Aufgabe der unter ihrer Direktion stehenden und neu gegründeten Islamischen Verfassungskommission übertragen338. Um die bevorstehende Arbeit erfolgreich auszuführen, wurden nicht nur der Al-Azhar Universität und der Islamischen Forschungsakademie nahestehende muslimische Rechts- und Verfassungsexperten eingeladen, sondern auch außenstehende muslimische Gelehrte gebeten, aktiv bei der Arbeit der Islamischen Verfassungskommission mitzuwir337 338
Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 74. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 74.
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F. Islamisches Staatsrecht
ken339. Unter der Führung des Scheichs der Al-Azhar Universität Abdulhalim Mahmud erarbeitete die Islamische Verfassungskommission in kurzer Zeit eine 142 Artikel umfassende islamische Musterverfassung, den sogenannten Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität340. Mustafa Kemal Vasfi, ein Experte im islamischen Recht, hat später diese Verfassung noch einmal überarbeitet bzw. kritisiert und seine Gedanken hierzu zusammengefasst341. Obwohl er in der Islamischen Verfassungskommission selber tätig war, stimmte er einigen Formulierungen und Zielsetzungen in dem Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität nicht zu und befand diese teilweise für zu vage und unpräzise342. Seine Ausführungen werden mittlerweile als ein zusätzlicher, ergänzender und verbindlicher Teil des Verfassungsvorschlages der Al-Azhar Universität angesehen343. Der Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität besteht aus neun Abschnitten und umfasst insgesamt 142 Artikel. Der erste Abschnitt mit der Überschrift „Islamische Umma“ umfasst die Art. 1 bis 4, der zweite Abschnitt mit dem Titel „Fundamente einer islamischen Gesellschaft“ beinhaltet die Art. 5 bis 17, der dritte Abschnitt „Islamische Ökonomie“ die Art. 18 bis 27, der vierte Abschnitt „Rechte und Freiheiten des Individuums“ die Art. 28 bis 43, der fünfte Abschnitt „Staatspräsident (Imam)“ die Art. 44 bis 60, der sechste Abschnitt „Rechtsprechung“ die Art. 61 bis 82, der siebte Abschnitt „Repräsentatives Parlament“ die Art. 83 bis 128, der achte Abschnitt „Regierung“ die Art. 129 bis 135, der neunte und letzte Abschnitt „Generelle und Übergangsreglementierungen“ die Art. 136 bis 142. Es ist auffällig, dass eine Präambel fehlt, allerdings kann der erste Abschnitt als eine Quasi-Präambel betrachtet werden, da er, abgesehen von Art. 4, nur losgelöste Aussagen über die Konstituierung der islamischen umma enthält. In Verbindung mit den Abschnitten zwei und drei wird deutlich, dass diese Teile der Verfassung abstrakt gehaltene Grundprinzipien und Ziele des Staates formulieren. Teilweise enthalten die Abschnitte zwei und drei auch schon konkrete Rechte des Individuums, die sich aus den Formulierungsweisen der in diesen Abschnitten enthaltenen Artikel ergeben. Im vierten Abschnitt werden die fundamentalen Rechte der Bürger wiedergegeben. Die ersten vier Abschnitte geben die inhaltliche Bindung der Staatsgewalt wieder. Die folgenden Abschnitte spiegeln die Organisation des Staates wider, wobei 339
Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 74. Eine aktuelle englische oder deutsche Übersetzung dieser Verfassung ist derzeit nicht vorliegend. Im Rahmen dieser Arbeit wurde die türkische Übersetzung – in: Hayredin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 75–88 – benutzt und vom Verfasser in die deutsche Sprache übersetzt. 341 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 74. 342 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 88 ff. 343 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 74, 88 ff. 340
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hervorsticht, dass die institutionelle Regelung von der funktionellen Regelung der Staatsorgane nicht in besonderer Form getrennt ist. Die Überschriften der Abschnitte fünf bis acht benennen die obersten Staatsorgane: das Staatsoberhaupt, die Rechtsprechung, das repräsentative Parlament und die Regierung. bb) Karachi-Grundprinzipien Mit der Teilung des indischen Subkontinentes in zwei politisch souveräne Entitäten Pakistan und Hindustan bzw. Indien verwirklichten islamisch-politische Bewegungen in dieser Region ihr Ziel, einen eigenen Staat für Muslime in von der ihnen mehrheitlich bewohnten Gebieten der ehemals britischen Kolonie Indien zu etablieren344. Nach der Gründung Pakistans 1948, welches zu Anfang noch das heutige Bangladesh mitumfasste, gelang es keiner politischen Kraft eine Verfassung zu verabschieden345. Hierbei agierten drei politische Lager gegeneinander: erstens die nationalistischen Kräfte, die eine säkularisierte Politik verfolgten, zweitens religiöse Gruppierungen, die ein klassisches islamisches Staatsgebilde favorisierten, und drittens religiöse Zusammenschlüsse, die neuere Ideen im Rahmen des islamischen Staatsrechtes befürworteten346. Aufgrund der bestehenden Diskrepanzen und der hierauf folgenden Debatten wurde erst 1956 die erste pakistanische Verfassung verkündet. Ihr vorausgegangen war eine Versammlung von muslimischen Gelehrten in Karachi 1951347. Auf dieser Versammlung trafen einunddreißig schiitische und sunnitische Gelehrte zusammen und formulierten die Grundprinzipien eines islamischen Staates, die nach ihrer Ansicht in jeder islamischen Verfassung enthalten sein sollten348. Alle Entscheidungen, die auf dieser Zusammenkunft getroffen wurden, waren einstimmig349. Beachtlich hierbei ist, dass schiitische und sunnitische ulama unproblematisch und in einem sehr kurzen Zeitraum, trotz vieler divergierender Meinungen, einen Leitfaden zusammengetragen haben, der von der verfassunggebenden Macht zumindest zur Kenntnis genommen werden musste. Obwohl viele Aspekte dieser Karachi-Grundprinzipien in die pakistanische Ver344 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 12 ff.; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 124, 146 ff. 345 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 17. 346 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 18 f. 347 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 71. 348 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 353; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 158. 349 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 353; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 158.
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F. Islamisches Staatsrecht
fassung von 1956 eingeflossen sind, kritisierten viele muslimische Gelehrte diese Verfassung, da auch die nationalistisch-säkularen Kräfte diese Verfassung stark mitbeeinflusst hatten350. Diese Verfassung verkörperte folglich einen Kompromiss der sich gegenüberstehenden Lager, mit dem letztlich keine Seite vollkommen zufrieden war351. Sie wurde zudem bereits 1962 wieder außer Kraft gesetzt. Die Karachi-Grundprinzipien bestehen aus drei Abschnitten mit insgesamt 22 Artikeln. Während der erste Abschnitt keine eigene Überschrift hat, besitzen die darauffolgenden zwei Abschnitte zusätzliche Überschriften. Der erste Abschnitt wird allerdings von einem einleitenden Satz, dem keine eigene Artikelnummer vorsteht, eröffnet. Dieser Einleitungssatz bildet zusammen mit den Art. 1 bis 6 den ersten Abschnitt. Der zweite Abschnitt mit der Überschrift „Citizens’ Rights“ umfasst die Art. 7 bis 13, der dritte Abschnitt mit der der Überschrift „Governance of the State“ beinhaltet die Art. 14 bis 22. Im ersten Abschnitt werden die fundamentalen Prinzipien und Ziele des Staates aufgezählt. In Art. 6 werden zusätzlich noch soziale Grundrechte der Bürger gewährleistet. Der zweite Abschnitt formuliert die fundamentalen Grundrechte der Bürger, und in den Art. 12 und 13 werden die Voraussetzungen für ein potentielles Staatsoberhaupt und dessen Aufgabenbereich aufgezählt. Im dritten Abschnitt werden insbesondere strukturelle und institutionelle Merkmale eines islamischen Staates betont. Während der erste Abschnitt und der zweite Abschnitt somit mehr die inhaltliche Bindung des Staates reflektieren, hebt der dritte Abschnitt die Organisation des Staates hervor. cc) Saudi-Arabische Staatsgesetze Nach dem Tod König Chalids 1982 wurde Kronprinz Fahd neuer König von Saudi-Arabien. Er galt als Vertreter des modernistischen Flügels innerhalb der saudischen Herrscherfamilie352. Er beteuerte oft seine Absicht, einen Konsultativrat zu bilden und ein Grundgesetz zu erlassen353. Vor dem Hintergrund der Umbrüche der neunziger Jahre, darunter des vermehrten Aufbegehren von religiös-fundamentalistischen, aber auch demokratischen Bewegungen innerhalb der gesamten islamischen Welt, verschärfte sich auch der Konflikt zwischen Traditionalismus und Modernismus in Saudi-Ara350
Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 408 f. Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 407 ff. 352 Herbert Baumann/Mathias Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitglieder der Liga der arabischen Staaten, 1995, 609. 353 Herbert Baumann/Mathias Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitglieder der Liga der arabischen Staaten, 1995, 609. 351
III. Quellen des Islamischen Staatsrechts
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bien354. Das bestehende Gleichgewicht innerhalb Saudi-Arabiens zwischen den verschiedenen politischen und religiösen Strömungen schien auseinander zu brechen und gefährdete die Existenz des saudischen Staates und den Herrschaftsanspruch der Königsfamilie. Neu erstarkte soziale Schichten, darunter auch Frauen, vertraten immer nachhaltiger ihre Interessen und verlangten demokratische Reformen355. Demgegenüber riefen traditionalistische Kräfte dazu auf, die Gesellschaft im ursprünglichen Sinne des Wahhabismus umzugestalten356. Diese Entwicklung antizipierend und gedrängt durch die Folgen des zweiten Golfkrieges für die Gesellschaft, verkündete König Fahd 1992 drei Gesetze, die in der verfassungsrechtlichen Entwicklung des Königreiches zweifellos einen Umbruch darstellen357. Das „Grundgesetz der Herrschaft“ bestehend, aus neun Kapiteln mit insgesamt 83 Artikeln, das „Gesetz über den Konsultativrat“ mit 30 Artikeln und das „Gesetz über die Provinzen“ mit 40 Artikeln stellen zwar keine Verfassung im engen Sinne dar, entsprechen aber nach Inhalt, Zweck und Zielrichtung verfassungsrechtlichen Dokumenten. Sie fixieren erstmals Grundlagen und Prinzipien des Regierungssystems in Saudi-Arabien. Gesellschaft und Herrschaft werden vollkommen dem Islam untergeordnet. Quran und sunna gelten expressis verbis als Verfassung des Staates. Auch die monarchische Staatsform wird hervorgehoben. Der König ist in letzter Instanz maßgebliche Autorität für alle Staatsgewalten358. Seit 1980 hatte eine Kommission unter der Leitung des Innenministers, eines Bruders des Königs, an diesen Gesetzen gearbeitet. Das wichtigste unter diesen Gesetzen ist das „Grundgesetz der Herrschaft“. Es ist aufgeteilt in neun Kapitel. Das erste Kapitel mit dem Titel „Grundprinzipien“ umfasst die Art. 1 bis 4, das zweite Kapitel „Die Herrschaftsform“ die Art. 5 bis 8, das dritte Kapitel „Die Grundelemente der saudischen Gesellschaft“ die Art. 9 bis 13, das vierte Kapitel „Die ökonomischen Grundlagen“ die Art. 14 bis 22, das fünfte Kapitel „Die Rechte und Pflichten“ die Art. 23 bis 43, das sechste Kapitel „Die staatlichen Gewalten“ die Art. 44 bis 71, das siebte Kapitel „Die Finanzangelegenheiten“ die Art. 72 bis 78, das achte Kapitel „Die Kontrollorgane“ die Art. 79 bis 80, und das neunte Kapitel „Allgemeine Bestimmungen“ beinhaltet die Art. 81 bis 83. 354 Vgl. Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 323. Bassam Tibi spricht aber nicht von Modernismus, sondern von Fundamentalismus. 355 Herbert Baumann/Mathias Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitglieder der Liga der arabischen Staaten, 1995, 609. 356 Vgl. Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 319; Christine Schirmacher/Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia, 2004, 17. 357 Vgl. Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 319. 358 Herbert Baumann/Mathias Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitglieder der Liga der arabischen Staaten, 1995, 610.
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dd) Iranische Verfassung 1979 hatte eine durch die gesamten Schichten der Bevölkerung vertretene revolutionäre Koalition das Regime des Shah’s im Iran abgesetzt359. Während ein breiter Konsens in der iranischen Gesellschaft darüber herrschte, dass die alte politische Ordnung von einer neuen abgelöst werden sollte, war nicht klar, wie diese neue politische Ordnung aussehen sollte360. Im ersten Jahr der Revolution setzten sich die politischen Kräfte durch, die eine islamische Staatsordnung befürworteten, obwohl auch innerhalb dieser Kräfte ein konkreter Vorschlag, der bis ins Detail ausgearbeitet war, fehlte361. Unter der Führung von Ayatollah Khumayni, der eine starke Rolle der ulama in dem neu entstehenden Staatsgebilde favorisierte, wurden letztlich die Grundelemente der Islamischen Republik Iran herausgearbeitet. Khumayni folgte dem generellen und auch in der sunnitischen Welt geltenden Anspruch, dass alle Souveränität von Gott ausgehe und der praktische Aspekt dieses Anspruches die Implementierung des islamischen Rechts sei362. Er ging jedoch in einem Punkt weiter als die sunnitischen Gelehrten, indem er folgendes Argument als einen Kernbereich des neuen schiitischen Staatsverständnisses hervorhob: wenn islamisches Recht gelten solle, dann müssten diejenigen, die dieses am besten kennen, die politische Herrschaft ausüben363. Dieser Ansatz stellte eine radikale Erweiterung der Doktrin wilayat al-faqih, der Vormund- bzw. Hüterschaft der Juristen dar, welche von den schiitischen Juristen entwickelt wurde, um rechtlich verbindliche Normen in Abwesenheit des entrückten Imams zu erlassen364. Die Verfassung, die letztlich verabschiedet wurde, war die originärste Verfassung in der islamischen Welt seit dem Erlass der tunesischen Verfassung von 359 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 497. Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 134. 360 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 497. 361 Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 134; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 46 f. 362 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 497. 363 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 310; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 246; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 135; Ahmad Moussavi, The Theory of Vilayat-i Faqih: Its Origin and Appearance in Shi’ite Juristic Literature, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 97–115, 97. 364 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 310.
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1861, da sie Verfassungselemente mit Direktzitaten aus dem quran belegt und damit eine Symbiose zwischen modernen kodifizierten Verfassungen und der sharia bildet365. Obgleich viele Bestimmungen von westlichen Verfassungen direkt oder indirekt übernommen wurden, enthielt die Verfassung vollkommen neue Elemente. Anstatt nur eine rein rechtliche Umschreibung der staatlichen Strukturen in Form der Organisation des Staates, der institutionellen und funktionellen Regelung der Staatsorgane sowie der inhaltlichen Bindung der Staatsgewalt wiederzugeben, leitet die Verfassung Autorität für die zuvor genannten Punkte teilweise durch direkt Zitate aus dem quran ab. Außerdem sticht die Gründung von vollkommen neuen staatlichen Institutionen hervor, die den Charakter des Staates als islamische Republik untermauern sollten. Neben dem zu wählenden Parlament, dem Präsidenten und der unabhängigen Gerichtsbarkeit wurden zusätzlich noch ein Islamisches Oberhaupt und ein Wächterrat, der durch muslimische Gelehrte besetzt ist, etabliert366. Die iranische Verfassung besteht aus einer sehr langen Präambel, die alleine 14 Unterabschnitte hat, und insgesamt 177 Artikeln, die in 14 Kapitel unterteilt sind. Das erste Kapitel mit der Überschrift „General Principles“ umfasst die Art. 1 bis 14, das zweite Kapitel „The Official Language, Script, Calendar and Flag of the Country“ die Art. 15 bis 18, das dritte Kapitel „The Rights of the People“ die Art. 19 bis 42, das vierte Kapitel „Economy and Financial Affairs“ die Art. 43 bis 55, das fünfte Kapitel „The Right of National Sovereignty“ die Art. 56 bis 61, das sechste Kapitel „The Legislative Power“ die Art. 62 bis 99, das siebte Kapitel „Councils“ die Art. 100 bis 106, das achte Kapitel „The (Islamic) Leader or Leadership Council“ Art. 107 bis 112, das neunte Kapitel „The Executive Power“ beinhaltet die Art. 113 bis 151, das zehnte Kapitel „Foreign Policy“ die Art. 152 bis 155, das elfte Kapitel „The Judiciary“ die Art. 156 bis 174, das zwölfte Kapitel „Radio and Television (Media)“ den Art. 175, das dreizehnte Kapitel „Supreme Council for National Security“ den Art. 176, und das vierzehnte Kapitel „The Revision of the Constitution“ den Art. 177. 3. Zusammenfassung Der quran und die sunna sind formell und materiell die primären Hauptquellen des islamischen Staatsrechts. Mit ihrer Eigenschaft als göttliche bzw. quasi-göttliche Offenbarungen verpflichten sie Muslime dazu, ihnen zu gehorchen und zu 365 Vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 46 f. 366 Vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 83 f.
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F. Islamisches Staatsrecht
folgen. Sie beinhalten einen von Gott offenbarten Corpus von Gesetzen. Der quran gilt als exakt wiedergegebenes Gotteswort, welches dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) über einen Zeitraum von dreiundzwanzig Jahren als Rechtleitung für die Menschen offenbart wurde. Er ist kein Gesetzestext im engeren Sinne, sondern, wie von Gott beschrieben, ein Buch der Rechtleitung. Von 6.235 Versen besitzen nur rund 600 Verse einen normativen Charakter, von denen sich allerdings 400 Verse auf religiöse Fragen beziehen. Dies antizipiert den Gebrauch von juristischen Prinzipien durch die, die wenigen normativen Verse auch bei ursprünglich hierfür nicht vorgesehenen Sachverhalten zur Anwendung kommen, um das gesamte menschliche Leben in seiner Dynamik rechtlich zu erfassen. Aber auch die Verse, die lediglich religiöse oder moralische Aussagen enthalten, dienen als Basis für jedes juristisch-islamische Prinzip. Die Wörter des qurans sind für Muslime unabänderlich, und von ihm wird das Rechtsverständnis im Islam abgeleitet. Der quran bildet somit das Fundament des islamischen Rechts. Dennoch gilt auch für den quran, was für jeden rechtlichen Text gilt. Ein rechtlicher Text ist selbstverständlich für ein Rechtssystem signifikant und stellt eine materielle Quelle dessen dar, aber genauso relevant ist die jeweilige Interpretation des Textes, welche das tatsächlich in der Praxis angewandte Recht widerspiegelt. Der Text des quran ist göttlich, aber die Anwendung wird seit der Offenbarung durch Interpretation von Menschen vollzogen. Der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) als direkter Empfänger war offensichtlich in der besten Position um den quran zu interpretieren. Er tat dies als religiöser Anführer, als weltliches Staatsoberhaupt und als oberster Richter. Seine Handlungen und Aussprüche stellen daher das beste Beispiel für die Interpretation des qurans dar und bilden die Basis für die sunna. Die sunna als Rechtsquelle beinhaltet Aussagen und Handlungen, die religiös oder nicht religiös sind, die zeitgebunden oder ewig und allgemein gültig sind und die abstrakt oder konkret sind. Die sunna entwickelte sich aufgrund der Notwendigkeit generell formulierte quranische ayahts zu präzisieren sowie im quran nicht explizit erwähnte Handlungsweisen, wie z. B. den Gebetsablauf oder die rituelle Waschung, zu konkretisieren. Die Rolle der sunna als eine Primärquelle des islamischen Rechts wird durch einige Aussagen im quran bekräftigt. Im islamischen Recht gilt als generelle Regel, dass bei einem möglichen Konflikt zwischen quran und sunna, in dem dem Anschein nach zwei konträre Rechtsstandpunkte bestehen, die Aussage des qurans wegen seines Status im islamischen Recht über der Aussage der sunna steht und vorgezogen werden muss. Obwohl Muslime auch Elemente der sunna als göttlich inspiriertes Recht anerkennen, akzeptieren sie nicht jeden hadith als authentisch. Aufgrund der politischen Meinungsverschiedenheiten während der Amtszeit Ali‘s, des vierten rechtgeleiteten Kalifen, welche zur Teilung der islamischen Gemeinde führten,
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wurden viele hadithe fabriziert, die nicht authentisch waren, um die jeweiligen Standpunkte zu bekräftigen. Hierauf folgend wurde eine eigene sogenannte Hadithwissenschaft entwickelt, um authentische sunna von nicht-authentischer sunna zu unterscheiden. Dies führte z. B. unter den Sunniten zur Anerkennung von sechs Hadithsammlungen verschiedener muslimischer Gelehrter, für die eine Richtigkeitsvermutung greift. Im Zweifelsfall aber gilt der quran. Bei der Anwendung der sunna müssen insbesondere zwei Fragen beantwortet werden. Erstens: ist der jeweilige hadith authentisch?, und zweitens: ist dieser hadith rechtlich verpflichtend? Mit fortschreiten der Zeit und der Expansion des Islams nach dem Tod des Propheten (s. a. w. s.) wurden muslimische Juristen mit Sachverhalten konfrontiert, die weder im quran noch in der sunna geregelt waren. Mit dem Konzept von ijtihad, der rechtlichen Würdigung von Sachverhalten, die nicht rechtsverbindlich festgelegt sind, wurde von den Gelehrten islamisches Recht entwickelt, das auf diese ungeregelten Sachverhalte anwendbar war. Hieraus gingen die Rechtsfindungsmethoden ijma, qiyas, maslahah mursalah, ishtisan, urf und istishab hervor. Diese stellen einmal aufgrund des von ihnen abgeleiteten Rechts Rechtsquellen dar, zum anderen sind sie auch Rechtsfindungsmethoden. Hierdurch wurde die Möglichkeit der Anwendung der abstrakten Grundprinzipien in den primären Rechtsquellen auf nichtgeregelte Sachverhalte sichergestellt. Diese Rechtsfindungsmethoden waren Produkte von menschlicher Beweisführung und Hinterfragung. Seit den frühesten Jahren nach der Offenbarung des Islams indizierten sie, bei juristischen Sachverhalten in dem vom Islam vorgegebenen Rahmen, die Vereinbarkeit von menschlicher Logik mit islamischem Recht und Rechtsverständnis. Sie dienten aber auch dazu, adäquate Interpretationen und praktische Anwendungen für die Normen aus den Primärquellen in den verschiedenen Epochen zu finden und somit die fortwährende Gültigkeit des islamischen Rechts zu gewährleisten. Während die Primärquellen seit dem Tod des Propheten (s. a. w. s.) keine Änderung erfuhren, waren die von Juristen entwickelten klassischen sekundären Rechtsquellen ein Vehikel, durch das die sharia von den Gelehrten in die jeweiligen Zeitabschnitte getragen und, falls notwendig, verändert sowie angepasst werden konnte. Im islamischen Recht bildeten sich mit der Zeit viele verschiedene Rechtsschulen, von denen die meisten bereits im 3. Jahrhundert nach islamischer Zeitrechnung wieder verschwanden oder in anderen aufgingen. Vier sunnitische Rechtsschulen existieren noch heute, die hanafitische, die malikitische, die safitische und die hanbalitische. Andere Rechtsschulen bildeten sich in der schiitischen Welt. Die wichtigsten sind hier die ithna’ Ashari, die zayidi, die ismali und die ibadi. Alle diese Rechtsschulen erkennen quran und sunna als Hauptquellen des islamischen Rechts an. Bei den Sekundärquellen existieren allerdings teilweise tiefgehende Meinungsverschiedenheiten. Die unterschiedlichen Meinungen resultieren aus verschiedenen Interpretationen der Primärquellen.
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F. Islamisches Staatsrecht
Weder die Primärquellen noch die Sekundärquellen lieferten allerdings hinreichend konkrete Aussagen über islamisches Staatsrecht. Daher war islamisches Staatsrecht nie dem Rechtsinstitut des taqlid unterworfen und oblag faktisch den Machthabern. Obwohl sehr renommierte muslimische Juristen über die Jahrhunderte hinweg diesbezügliche Werke verfassten, existiert kein allgemein als verbindlich angesehenes islamisches Staatsverständnis, das in großen Zügen hinreichend konkretisiert ist. Neuzeitliche islamische Staatsverfassungen in Ländern, die sich als islamische Staaten betrachten, repräsentieren zeitgemäße Versuche, die staatsrechtlichen Grundprinzipien aus den Primärquellen zu kodifizieren sowie praktisch anwendbar zu machen. Hierbei wurden teilweise außerislamische staatspolitische Entwicklungen berücksichtigt und in diese islamischen Verfassungen mit aufgenommen. In der Theorie stehen diese islamischen Verfassungen in der Normenhierarchie unter den Primärquellen und müssen von diesen abgeleitet sowie legitimiert werden. In der Praxis dagegen besitzen sie eine große Relevanz, da mit ihnen gearbeitet wird und sie angewandt werden, ohne dass jeweils explizit auf die Primärquellen zurückgegriffen wird.
IV. Islamische Verfassungstheorie Muslime sind sich darüber einig, dass ihre Religion einen Rahmen für viele, wenn nicht gar für alle Lebensumstände bereitstellt367. Dies gilt insbesondere für die Grundprinzipien eines politischen Systems368. Daraus folgt, dass politische Systeme und Staatsgebilde in der islamischen Welt die religiösen, moralischen, dogmatischen und normativen Lehren des Islam umsetzen müssen, um als islamische Staatsgebilde zu gelten369. Diese Lehren werden durch die sharia, das islamische Recht, repräsentiert und sind in dieser enthalten370. Dabei umfasst die sharia mehr Inhalte als westliche Rechtssysteme371. Im Rahmen dieser Beziehung drängt sich die Frage auf, ob in einem islamischen Staat das Bedürfnis nach einer kodifizierten Verfassung besteht372. Hierauf kann einerseits geantwortet werden, dass die Grundelemente eines islamischen 367 Vgl. Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491– 507, 491. 368 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 48 ff.; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 17 ff. 369 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 48 ff. 370 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 17 ff. 371 Gottfried Hierzenberger, Der Islam, 2006, 116 f.; Tilman Nagel, Das Islamische Recht, 2001, 93. 372 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 217; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 256 ff.
IV. Islamische Verfassungstheorie
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Staates im quran und in der sunna enthalten sind, so dass es nicht notwendig ist, eine Verfassung zu erlassen. Andererseits kann darauf erwidert werden, dass nichts dagegen spricht, diese Grundprinzipien auszusondern und die entsprechenden Punkte in einer eigenen Verfassung zusammenzustellen 373. In einem solchen Fall muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass der quran und die sunna die Quellen einer solchen Verfassung sind374. Aus islamisch-politischer Sicht ist es unumgänglich, die heutigen Staaten in der islamischen Welt zu verpflichten auf dem Weg des Islams zu bleiben bzw. auf ihn zurückzukehren, wenn dies als Staatsziel angestrebt wird. Diese Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass die meisten Staaten in der islamischen Welt durch den Westen beeinflusst worden sind und dieser Einfluss, sofern er nicht mit der sharia kompatibel ist, als negativ und un-islamisch empfunden wird375. So schreibt Abdur Rahman I. Doi in seinem Buch „Shari’ah - the Islamic Law“: „In most of the Islamic countries, since the last century, rulers have been formulating codes of laws in the various legislative matters on the same pattern as that followed by European countries. As a matter of fact, they copied European constitutional, criminal, civil, commercial and other codes without reference to Islamic jurisprudence except in few minor matters such as Waqf and the like. It is only fair to admit that many of these codes do agree with the basics of islamic jurisprudence and do not contravene its general principles. But it is only fair as well to state that some of these codes run contrary to our jurisprudence established on principles opposed to it“ 376.
Das Vorhandensein einer Verfassung, die die Prinzipien des Islams auf den verschiedenen Gebieten der Politik, Wirtschaft und Moral wiedergibt, ist daher ein Mittel, diese Verpflichtung zu erneuern. Verfassung im islamischen Sinn ist somit nur ein zusammengefasster Überblick über die Aussagen des göttlichen Gesetzes zu Staat und Gesellschaft, nicht aber eine Schöpfung durch den politischen Gestaltungswillen des Menschen377. Als Form mag daher eine Verfassung erlassen werden oder nicht, der Inhalt ist aus islamischer Sicht ohnehin das göttliche Gesetz, das auch ohne ein derartiges Schriftstück die allein verbindliche Grundlage bildet378. In Verfolgung solcher und ähnlicher Überlegungen hat sich in der islamischen Welt ein umfangreiches Schrifttum entwickelt, das sich die Aufgabe stellt nach373
Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 256 f. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 257. 375 Muhammad M. Hudaibi, The Principles of Politics in Islam, 2000, 11 f.; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 85 ff.; Sayyid Abul A’La Maudoodi, Islam Today, 2000, 35 ff. 376 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 469. 377 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 217, 228; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 257 f. 378 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 64 ff., Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 256 f. 374
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F. Islamisches Staatsrecht
zuweisen dass alle Errungenschaften der modernen europäisch-politischen Kultur längst durch die sharia vorweggenommen wurden379. Die westlichen Verfassungen versuchten demzufolge nur in äußerst unvollkommener Form – da sie Werke von Menschen darstellen – darzulegen, was seit Gründung des ersten islamischen Staates den Kern des islamisch-politischen Denkens ausmache380. Zur gleichen Zeit erkennen Muslime aber an, dass die meisten Herrschaftsstrukturen in der islamischen Welt islamisch nicht zu rechtfertigen sind381. Es fehlen effektive und praktische Kontrollmechanismen, mit denen die Staatsgewalt durch das Volk bzw. durch ein aufgrund einer Verfassung etabliertes Staatsorgan zur Verantwortung gezogen werden kann382. Diese Diskrepanz zwischen dem zuvor formulierten Anspruch und der Praxis hat dazu geführt, dass Muslime eine Lösung dieses Problems im islamischen Konstitutionalismus gesucht haben383. Wird Konstitutionalismus als eine Gesellschaftsform, in der die Rechte und Pflichten der Staatsgewalt und der Bürger in einer Verfassung festgelegt sind, definiert. So kann unproblematisch davon ausgegangen werden, dass die sharia konstitutionalistisch interpretierbar ist384. Viele muslimische Gelehrte kommen zu dem Schluss, dass die Staatsmacht durch die sharia einerseits beschränkt ist und andererseits die Staatsgewalt durch Anwendung der sharia zur Verantwortung gezogen werden kann385. Daraus folgt, dass die sharia eine Art Grundgesetz darstellt. Regierungen dürfen nicht die Grenzen der sharia übertreten, und Regierende können durch Anwendung der sharia zur Verantwortung gezogen werden386. Bereits Imam Zayd schrieb in seinem Werk „al-Mecmu fi’l-fiqh“, dass das Volk ein Recht zum Aufstand gegen einen Herrscher hat, der die sharia missachtet387.
379 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 469; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 257. 380 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 256 ff. 381 Vgl. John L. Esposito, Islam and Civil Society, in: John L. Esposito/Francois Burgat (Hrsg.), Modernizing Islam, 2003, 69–103, 74. 382 Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 31 ff. 383 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 121. 384 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 491. 385 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 491. 386 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 78 f.; vgl. Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel des Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 53 ff. 387 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 64.
IV. Islamische Verfassungstheorie
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1. Historische Entwicklung Die Analogie zwischen der sharia und westlichem Konstitutionalismus wurde erstmals im 19. Jahrhundert gezogen388. Arbeiten diesbezüglich vermehrten sich im Kontext der Entkolonialisierung im 20. Jahrhundert389. Trotz dieser Vergleichsversuche traten gerade in dieser Zeit evidente Unterschiede zwischen der sharia und westlichem Konstitutionalismus auf. Während sich westlicher Konstitutionalismus dadurch kennzeichnet, von Menschen für Menschen geschaffen zu sein, und auf der Idee der Volksherrschaft basiert, ist die sharia göttliches Recht, welches dem Menschen offenbart wurde. Des Weiteren setzt sich westlicher Konstitutionalismus mit dem Prozedere auseinander, wie Herrschaft reguliert und beschränkt werden kann. Westliche Verfassungen beinhalten daher hauptsächlich institutionalisierte Strukturen und formulieren Kompetenzverteilungen sowie Kontrollmechanismen390. Weiterhin enthalten sie materielle und formelle Beschränkungen der Staatsherrschaft391. Die sharia auf der anderen Seite beinhaltet viele materielle Normen im nicht-staatsrechtlichen Bereich, aber so gut wie keine materiellen und formellen Normen im Bereich des Staatsrechts392. Sie formuliert diesbezüglich lediglich Generalklauseln und Grundprinzipien393. Es fehlt eine konkrete Ausprägung von institutionalisierten Staatsorganen, ihren Kompetenzen sowie der Machtverteilung in einem islamischen Staat394. Diese Lücke wurde durch die Praxis der in der islamischen Welt gegründeten Staaten gefüllt395. Tatsächlich war aufgrund des Schweigens der sharia das sich etablierende islamische Staats- und Staatsorganisationsrecht nie dem taqlid unterworfen und konnte sich daher weiter entwickeln bzw. sogar stark verändert werden396. Für muslimische Staatstheoretiker bedeutete dies in der Theorie, dass sie in diesem Zusammenhang ungehindert arbeiten und neue Ansätze sowie Ideen 388 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 491 f. 389 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 30; Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 14 ff. 390 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 260; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/ Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 492. 391 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 492. 392 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 116 ff. 393 Vgl. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 37. 394 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus der Islam und die Demokratie, 2004, 123; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 140. 395 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 23. 396 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 23.
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F. Islamisches Staatsrecht
formulieren konnten397. Dem folgend ist die islamische Staatstheorie auch weiterhin offen für Entfaltungen im Lichte der sozialen, geschichtlichen und politischen Entwicklungen. Konsequenterweise wurden daher im islamischen Kulturkreis viele politische Ideen von bekannten Juristen formuliert398. a) Spaltung der Gemeinde und Bildung der islamischen Großreiche Die Hauptunterschiede zwischen Sunniten und Schiiten z. B. liegen weniger im theologischen Bereich, als vielmehr im Verständnis der Staatsmacht bzw. in ihrer Legitimierung399. Während der Herrschaft Ali’s, des vierten rechtgeleiteten Kalifen, brach ein Bürgerkrieg aus. Die Partei, die den Kalifen Ali und seine Söhne unterstützte, verlor diesen Bürgerkrieg gegen Mu’awiya, den Neffen des ermordeten dritten rechtgeleiteten Kalifen Uthman400. Mu’awiya, der sich zum Kalifen erklärte, verlegte die Hauptstadt des Reiches nach Damaskus und begründete im Jahr 661 die Dynastie der Umayaden401. Damit endete die Phase des früh-islamischen Staates von Medina, die vom Propheten Muhammad (s. a. w. s.) begründet und von den vier rechtgeleiteten Kalifen bis zum Tod Ali’s fortgeführt wurde402. Mit Mu’awiya begann die Epoche der imperialen islamischen Großreiche, die auf Dynastien aufbaute403. Der Großteil der Muslime, aus dem sich rund dreihundert Jahre später der sunnitische Islam herausbilden sollte, akzeptierte diese neue Umayadische Dynastie und die nachfolgende Abbasidische Dynastie in Bagdad als legitime Herrscher404. Sunnitische Theologen und Juristen waren sich zwar einig, dass der Idealzustand des früh-islamischen Staates von Medina in diesen Staaten nicht verwirklicht wurde, aber sie stellten sich auch nicht in offene Opposition zu ihnen405. Die Minderheit betrachtete die Machtergreifung durch 397 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 492. 398 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 16 ff.; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 492. 399 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 33; Hans Küng, Islam, 2007, 185; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 25. 400 Irfan Aycan, Saltanata giden yolda – Muaviye bin ebi Sufyan, 1990, 129 ff.; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 23 f.; vgl. Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 221 ff.; Hans Küng, Islam, 2007, 185. 401 Irfan Aycan, Saltanata giden yolda – Muaviye bin ebi Sufyan, 1990, 179, 193; Hans Küng, Islam, 2007, 190 ff. 402 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 133. 403 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 136; Hans Küng, Islam, 2007, 191. 404 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 24; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 125 ff. 405 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 33; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142.
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Mu’awiya und das auf ihn zurückzuführende Umayadische Kalifat als illegitim und unterstützte die oppositionellen Kräfte, aus denen wiederum die Dynastie der Abbasiden hervorging406. Sie vertrat die Ansicht, dass nur jemand, der mit dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) verwandt oder mit einem Abkömmling des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) verheiratet war, Anspruch auf die Herrschaft hatte407. Außerdem vertraten viele Anhänger der Opposition die Theorie der göttlichen Nominierung der Nachfolge des Propheten Muhammad (s. a. w. s.)408. Sie verneinten ein Recht der umma sich ihren Herrscher selbst zu wählen409. Aus dieser Opposition bildeten sich später die Hauptströmungen der Schiiten410. Sie lehnten auch die Abbasidische Herrschaft ab, obwohl sie auf die verwandtschaftliche Nähe zwischen Kalif und dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) abstellte, und Abbas, der Namensgeber der Dynastie, ein Onkel des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) war und seine Nachfahren zu Kalifen proklamiert wurden, weil diese eben keine direkten Abkömmlinge des Muhammad (s. a. w. s.) waren. Ihrer Meinung nach war Ali, der zugleich Cousin und Schwiegersohn des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) war, göttlich zum Nachfolger bestimmt worden, und nur seine Abkömmlinge sollten die legitimen Herrscher sein411. Auch die Schiiten teilten sich im Laufe der Zeit in unterschiedliche Strömungen auf 412. Die größte unter diesen ist die Ithna ’Ashari, bekannt als „die Zwölfer“. Sie glauben, dass die legitime Herrschaft vom Propheten Muhammad (s. a. w. s.) auf Ali und danach auf seine zwei Söhne und neun weitere Nachfolger überging413. Der zwölfte Nachfolger, von den Schiiten als Imam bezeichnet, wurde durch Gott entrückt und wird zu gegebener Zeit als Mahdi (Erlöser) zurückkehren und das wahre Kalifat wiederherstellen414. Für die Ithna ’Ashari sind 406 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 145 ff.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142; Montgomery Watt, Islam Düs¸üncesinin Tes¸ekkül Devri, 1981, 190 ff.; Ihsan Süreyya Sırma, Abbasiler Dönemi, 2002, 12. 407 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142. 408 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 184 ff.; Niyazi Kahveci, Mutezila ile S¸i’a arasında Siyasal tartıs¸ma, 2006, 48 f.; W. Montgomery Watt, Islam’da Siyasal Düs¸uncenin olus¸umu, 2001, 73; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 404 f. 409 Vgl. Niyazi Kahveci, Mutezila ile S ¸ i’a arasında Siyasal tartıs¸ma, 2006, 45. 410 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 24. 411 W. Montgomery Watt, Islam’da Siyasal Düs ¸uncenin olus¸umu, 2001, 73; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 24; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 404 f. 412 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 24. 413 Niyazi Kahveci, Mutezila ile S ¸ i’a arasında Siyasal tartıs¸ma, 2006, 49 f. 414 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 25; Niyazi Kahveci, Mutezila ile S ¸ i’a arasında Siyasal tartıs¸ma, 2006, 50; Mehmet Atalan, S¸iilig˘in Farklılas¸ma Sürecinde, Ca’fer es-Sadık’ın Yeri, 2005, 33 ff., 43 ff.
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die zwölf Imame bei ihren Handlungen göttlich inspiriert, so dass ihre Handlungen ebenfalls eine eigene sunna, somit eine eigene Rechtsquelle darstellen415. Weiterhin erkennen sie die Herrschaft der ersten drei rechtgeleiteten Kalifen nicht als legitim an. Für sie gilt, dass die gottgewollte Ordnung nur zur Zeit des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) und des Kalifen Ali verwirklicht war. Erst mit der Rückkehr des 12. Imams wird die gottgewollte Ordnung wieder verwirklicht werden416. Wie die Sunniten glauben die Schiiten, dass Gott der einzige Souverän ist und legislativ tätig war. Durch ihren Glauben an die göttliche Nominierung der Nachfolge und die göttliche Inspiration der Imame kann im Vergleich zum westlichen Staatsrecht von einer konkreteren institutionalisierten Form einer staatlichen Obrigkeit gesprochen werden417. Jede Herrschaft wird bis zu dem Zeitpunkt der Rückkehr des entrückten Imams von den schiitischen Gelehrten entweder als illegitim oder nur als quasi legitim betrachtet, soweit sie in Stellvertreterschaft für den 12. Imam ausgeführt werden kann418. Im Gegensatz zu den Schiiten erkannten die Sunniten im Grunde die Herrschaft der Umayaden und der Abbasiden als legitim und rechtmäßig an419. Allerdings kritisierten sie oft die Praxis der Herrscher dieser Dynastien und hoben deren Verstöße gegen die sharia hervor. Auch sie machten deutlich, dass diese Herrschaftsformen teilweise sehr stark vom Ideal des früh-islamischen Staates von Medina abwichen420. Die Rolle und Relevanz von historischen und sozialen Ereignissen, die Auswirkungen auf das Verständnis und die Interpretation der sharia im staatsrechtlichen Zusammenhang des sunnitischen Islams haben, ist folglich evident421. Gerade die zuvor hervorgehobenen Ereignisse und Umstände beeinflussten das sunnitische Staatsrechtsverständnis und die sunnitische Politikwissenschaft sehr stark. Hinzu kam, dass viele Juristen und Gelehrte glaubten, dass die islamische Gemeinde unter dem direkten Einfluss Gottes stand, so dass hierdurch viele historische Entwicklungen und Ereignisse als göttliche Bestrafungen oder als göttliche Gnade empfunden wurden422. Das Fehlen eines konkretisierten Staatsrechts und einer konkretisierten Politikwissenschaft im islamischen Recht führte dazu, dass insbesondere viele sunnitische Juristen Werke schrieben, die zum ersten die gegebenen historischen Entwicklungen berücksichtigten und zum zweiten flexible Lösungsmöglichkeiten für 415
David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 24. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 33. 417 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 24 f. 418 Niyazi Kahveci, Mutezila ile S ¸ i’a arasında Siyasal tartıs¸ma, 2006, 50 f. 419 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 25. 420 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142. 421 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142. 422 Vgl. Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 17 ff.; Muhyiddin Ibn Arabi, Divine Governance of the Human Kingdom, 12.–13. Jahrhundert, 83. 416
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konkrete Probleme boten423. Sunnitische Juristen lehnten hierbei zwei extreme Richtungen des islamischen Staatsrechtsverständnisses ab. Erstens argumentierten sie gegen den schiitischen Anspruch einer göttlichen Nominierung der Nachfolger des Propheten Muhammad (s. a. w. s.), die auf Blutsverwandtschaft basierte, und zweitens beanstandeten sie die Meinung der Kharijiten, dass die Entscheidung über die politische Herrschaft Gott alleine obliege und die Gemeinde keine Einwirkungsmöglichkeiten habe424. Die Kharijiten gehörten ursprünglich zur Anhängerschaft des Kalifen Ali, wandten sich allerdings später von ihm ab, als er nach dem ersten inner-islamischen Bürgerkrieg einen Friedensvertrag mit seinen politischen Gegnern schloss425. Sie glaubten, dass der Kalif Ali mit diesem Friedensschluss einen vor Gott nicht zu rechtfertigenden Kompromiss eingegangen sei, und ließen ihn deshalb ermorden426. Es waren die Kharijiten, die kompromisslos die Meinung vertraten, dass ein Herrscher jederzeit von der Gemeinde abgesetzt werden kann, sofern er sündigt und hierdurch seine Legitimität verliert427. Einige kharijitische Gelehrte behaupteten sogar, dass ein Kalif gänzlich überflüssig wäre, wenn alle Muslime nach dem quran und der sunna leben würden428. Im Gegensatz hierzu waren sich die sunnitischen Rechtsgelehrten darüber einig, dass das Kalifat ein notwendiges Amt innerhalb eines islamischen Staatsgebildes war429. Der Kalif verkörperte zwar nach ihrer Ansicht auf der einen Seite das Staatsoberhaupt der vereinten islamischen Gemeinde und auf der anderen Seite ihre oberste religiöse Instanz, seine primäre Aufgabe bestand jedoch darin, das islamische Recht zu implementieren 430. Dieses Staatsverständnis war die Ausprägung der gottgewollten Ordnung für die mehrheitlich sunnitischen Muslime. Die Essenz der göttlichen Offenbarung, das islamische Gesetz, benötigte eine es umsetzende Autorität, und die Gemeinde brauchte eine wahrnehmbare und einende Führung, wie zu Zeiten des 423 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 339, 345 ff. 424 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 53; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 25. 425 Hans Küng, Islam, 2007, 185; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig ˘ in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 238. 426 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 9; Hans Küng, Islam, 2007, 185; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 238. 427 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 9. 428 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 399; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 126; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 157; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 238. 429 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 394; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 126; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 9. 430 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 339.
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Propheten Muhammad (s. a. w. s.). Dies war beispielweise der Standpunkt von AlGhazzali, der hervorhob, dass die sharia ohne einen funktionierenden Staat nicht in die Praxis umgesetzt werden kann431. Ohne einen Kalifen und seine Beamten könnte kein Urteil eines Richters implementiert werden und Rechte aus Testamenten, Ehen oder Verträgen wären nicht durchsetzbar432. Die muslimische Gemeinde wäre dazu verurteilt in Unsicherheit und Sünde zu leben. Der Historiker und Sozialwissenschaftler Ibn Khaldun analysierte in seinem Werk „Muqaddimah“ die Voraussetzungen für ein islamisches Rechtssystem433. Er zeigte auf, dass jede politische Gruppierung Gesetze benötige, aber gleichzeitig kein von Menschen gemachtes Gesetz zur spirituellen Erlösung führen könne434. Dies könne nur das offenbarte göttliche Gesetz435. Weiterhin ging Ibn Khaldun auf die fehlende Implementierung des islamischen Gesetzes innerhalb der islamischen Staatengemeinde ein, ohne zu versuchen dies zu rechtfertigen436. Dabei wies er allerdings darauf hin, dass dieser Umstand letztlich zum Untergang der Zivilisation führen werde437. Er folgerte hieraus, dass der Herrscher soweit wie möglich die sharia umsetzen sollte, weil deren Hauptzweck der Erhalt der Zivilisation sei438. Die Herrschaft sprach er demjenigen zu, der die tatsächliche politische Macht bzw. die Stammessolidarität, „asabiyah“ genannt, innehatte, ohne einen bestimmten Stamm oder ein Geschlecht hervorzuheben439. Auch nach seiner Meinung war das Kalifat notwendig, um das Volk auf die diesseitige und jenseitige Welt vorzubereiten440. Allerdings war Ibn Khaldun in seiner Beurteilung sehr realitätsnah und stellte keine unverwirklichbare abstrakte Staatstheorie auf. Er akzeptierte, dass die islamische Welt in mehrere souveräne Staaten zerfallen war, in denen die sharia nicht ideal verwirklicht wurde441. b) Sozialvertrag zwischen Gemeinde und Kalif Bis zur Zerstörung des Abbasidischen Kalifats durch die Mongolen im Jahr 1258 waren sich die meisten sunnitischen Gelehrten darüber einig, dass der Kalif 431 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 39. 432 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 39. 433 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 154 f. 434 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 154 f. 435 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 155. 436 Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 160 ff. 437 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 41. 438 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 72 f., 128; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 41. 439 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 62 f.; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 159. 440 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 157. 441 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 166.
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aus dem Stamm des Propheten Muhammad (s. a. w. s.), den Quraysh, stammen musste442. Mit Blick auf die Eigenschaften und Fähigkeiten des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen entwickelten sunnitische Juristen mehrere Voraussetzungen, die ein Anwärter auf das Amt des Kalifen vorweisen sollte443. Hierzu gehörten z. B. vertiefte Kenntnisse über das islamische Recht, ein guter Charakter, Gläubigkeit, administrative Fähigkeiten und militärische Kompetenz444. Die Bestimmung zum Kalifen war aus dieser Sicht lediglich ein Sozialvertrag zwischen Kalif und Gemeinde445. Die Gemeinde hatte nach sunnitischer Meinung explizit das Recht ihr Staatsoberhaupt selber zu bestimmen. Das Prozedere sah in der Theorie vor, dass eine Gruppe von einflussreichen Muslimen sich für einen potentiellen Kandidaten unter den zur Wahl stehenden Anwärtern entschied, ihm gegenüber ihre Treue erklärte und ihn somit als Kalif anerkannte446. Das gemeine Volk sollte dann diesem Beispiel folgen447. Im sunnitischen Staatsverständnis der Gelehrten war die Wahl des Kalifen als Form zur Bestimmung des Staatsoberhauptes dominant448. Die Praxis allerdings zeigte, dass diese Form so gut wie nie angewendet wurde449. Der Kalif konnte zudem das Wahlverfahren verkürzen bzw. umgehen, indem er den Nachfolger bestimmte450. Alternativ bestand die Möglichkeit für den Kalifen, ein Gremium einzuberufen und zu verfügen, dass aus dessen Mitgliedern das Gremium selbst einen Nachfolger bestimmen sollte451. Welcher 442 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 177 ff.; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 36 f.; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 470; Niyazi Kahveci, Mutezile ile S¸i’a arasında Siyasal Tartıs¸ma, 2006, 242 ff. 443 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 127 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 419 ff.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 167 ff. 444 Vgl. Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 130; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 75 f. 445 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 8. 446 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26 f.; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 8; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 75 f. 447 Vgl. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26 f.; Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 127. 448 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 126; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 8. 449 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 127; vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 145 f. 450 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26. 451 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 131 f.
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Mechanismus auch angewandt wurde, die Nominierung des Nachfolgers bedeutete in den meisten Fällen de facto schon die Wahl zum Kalifen452. Der Sozialvertrag musste allerdings trotzdem pro forma zwischen der Gemeinde und dem Herrscher abgeschlossen werden, obwohl diese keine Möglichkeit hatte, auf den Wahlprozess einzuwirken453. Die verschiedenen Bestimmungsmöglichkeiten wurden aus dem Beispiel des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen abgeleitet, die Interpretationen hierzu stellen allerdings ijtihad Meinungen dar und sind nicht verbindlich. c) Loyalität gegenüber dem amtierenden Staatsoberhaupt Obwohl die politische Doktrin besagt, dass keine Befehle verpflichtend sind, die zur Sünde führen, wurde ein Recht zur Gehorsamsverweigerung oder gar ein Recht zur Revolution von den meisten sunnitischen Juristen im Lichte der Bürgerkriege, militärischen Machtergreifungen, der hierdurch entstandenen Unsicherheitsfaktoren und der teilweise gewalttätig durchgesetzten Forderungen der Schiiten und Kharijiten abgelehnt454. Stattdessen forderten sie von der Gemeinde und dem Volk Gehorsam gegenüber dem amtierenden Kalifen455. Die historische Realität führte dazu, dass die Gelehrten oft von den von ihnen selbst aufgestellten Theorien abwichen456. Deshalb weist die islamische Verfassungstheorie bzw. das islamische Staatsrecht Lücken auf. Insbesondere folgende Fragestellungen blieben unbeantwortet: Was war zu tun, wenn ein Kalif einen schlechten Charakter hatte, oder sich im islamischen Recht nicht auskannte? Was bedeutet es, wenn sich der Kalif die Herrschaft mit Militärmacht angeeignet hatte? Was sollten verfahren werden, wenn mehr als ein Kalif proklamiert wurde? Bereits kurz nach der Etablierung des Abbasidischen Kalifats rissen in mehreren Provinzen regionale Machthaber die Herrschaft an sich457. Formell unterstanden diese politischen Entitäten dem Kalifen, sie waren aber de facto autonom458. Ob diese Regionalherrschaften legitim waren, blieb ebenfalls ungeklärt459. Als das 452
Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 12 f. Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 10 ff., 15. 454 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 74; Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 129 f. 455 Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 81 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 428 ff.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 138. 456 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 33. 457 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143. 458 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 457. 459 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 32 ff. 453
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Abbasidische Kalifat letztlich zusammenbrach und mongolische und türkische Herrscher als Khane oder Sultane die Macht ergriffen, welche offensichtlich nicht vom Stamm der Quraysh abstammten, wurde die Rechtmäßigkeit dieser Entwicklung erörtert, ohne allerdings zu einem klaren Ergebnis zu kommen460. Diese Problemstellungen wurden von Juristen, Theologen und Gelehrten äußerst intensiv hinterfragt, und die ulama waren in diesem Zusammenhang oft unterschiedlicher Meinung. Trotzdem kann eine Strömung hin zu der Meinung, dass der Staatsmacht Loyalität entgegenzubringen ist, beobachtet werden, und zwar ohne auf den Charakter, die Fähigkeiten, die Abstammung oder die Politik des Herrschers abzustellen461. In ihrer extremen Form wurde innerhalb dieser Strömung die Meinung vertreten, dass sechzig Jahre unter der Herrschaft eines Tyrannen besser seien als ein Tag ohne Herrscher462. Aus dieser Ansicht kann herausgelesen werden, dass im Zuge des Mongolensturms, der Kreuzzüge und von Bürgerkriegen den Gelehrten dieser Epoche die Stabilität und Sicherheit des Staates mehr bedeutete als theoretische Forderungen nach einem idealen, gemäß islamischem Muster geprägten Staat463. Außerdem erklärten diese Gelehrten, dass ein nicht qualifizierter Herrscher jederzeit den Rat von Juristen und Theologen einholen und diese konsultieren könne464. Nach Ansicht von Al-Ash’ari bestand sogar kein Recht auf Widerstand gegen einen Herrscher, wenn dieser sündigte und moralisch verwerfliche Handlungen durchführte465. Als erster akzeptierte Al-Mawardi die militärische Machtergreifung durch regionale Herrscher, sofern diese den Kalifen weiterhin anerkannten und durch diesen nachträglich legitimiert wurden466. In der Theorie bestand so das einheitliche Abbasidische Kalifat weiter, praktisch gesehen herrschte der Kalif in Bagdad aber nur noch über das Territorium des heutigen Iraks, die übrigen Provinzen wurden von regionalen Herrschern kontrolliert467. Ein Jahrhundert später erklärte Al-Ghazzali, dass die Herrschaft von Sultanen sogar im Zentrum des Abbasidischen Kalifats, also im unmittelbaren Umfeld des Kalifen, parallel und zeitgleich 460
Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 159 f. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 33; vgl. Abu Hamza Al-Masri, Ruling by Man-made Law, 1999, 39 ff. 462 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 27; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 73. 463 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 33 f.; Khadija Katja WöhlerKhalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 129 f. 464 Vgl. Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 147 f.; Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 112 f. 465 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 27. 466 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 32 ff. 467 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 36 f. 461
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legitim wäre, wenn diese formell weiterhin die Autorität des Kalifen anerkennen würden468. Al-Mawardi und Al-Ghazzali waren zwar mit dem Problem des politisch schwachen Kalifen konfrontiert, dennoch hielten beide an der Institution des politischen Kalifats fest, obwohl der Kalif schon lange kein Garant mehr für die Umsetzung der sharia war469. Die Rechtfertigungsgründe hierfür waren die Unmöglichkeit der Erfüllung des Ideals unter den gegebenen Umständen und die Notwendigkeit dieses Amtes. Im Zusammenhang mit der Anerkennung der Herrschaft und Legitimität von regionalen Machthabern schrieb Al-Ghazzali: „These concessions which we make are involuntary, but necessities make allowable even what is prohibited“ 470. Im islamischen Recht wird im Fall eines Notstandes eine Handlung gerechtfertigt und von einer ethisch-verbotenen Kategorie zu einer ethisch-erlaubten Kategorie hochgestuft471. Mit der formalen Beibehaltung des Kalifenamtes als religiöser und politischer Instanz gelang es Al-Mawardi und AlGhazzali die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass die sharia im gesamten islamischen Lebensraum gilt und ein islamisches Einheitsideal verwirklicht wird, obgleich regionale Machthaber fast willkürlich herrschten472. d) Ideal und politische Realität Durch die zuvor geschilderten Entwicklungen beugte sich die islamische Politik- und Staatswissenschaft der islamischen Politikgeschichte und Realität. Hierauf folgend gründeten türkische Dynastien Sultanate, in denen der Kalif nur noch religiöse Funktionen innehatte473. Auch dies wurde letztlich von Gelehrten als legitim betrachtet. Schon Nizamülmülk, der im 11. Jahrhundert in seinem Werk „Siyasetname“ die Grundprinzipien der Staatsmacht im Seldschukischen Großreich niederlegte, erwähnte den Kalifen nur noch in der Einleitung und konzentrierte sich vollkommen auf den Sultan als wichtigste staatliche Institution474. Nach der Zerstörung des Abbasidischen Kalifats durch die Mongolen setzte sich die Ansicht durch, dass das Abbasidische Kalifat als Nachfolgestaat des frühislamischen Staates von Medina lediglich eine historische Erscheinung war, die 468 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 28; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 38 f.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 73. 469 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 37 f. 470 Zitiert von David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 28; Hamid Enayat, Modern Islamic Poltical Thought, 2001, 14 f. 471 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 28; vgl. Muhammad Hamidullah, Islam’da Devlet Idaresi, 1998, 44. 472 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 39 f. 473 Hans Küng, Islam, 2007, 313 ff.; vgl. W. Barthold, Islam Medeniyetler Tarihi, 1940, 66 ff.; Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 41. 474 Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 17 ff., 21 ff.
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nicht von der göttlichen Gesetzgebung vorausgesetzt wurde475. Während Ibn Teymiye eine Rückkehr zu einem purifizierten islamischen Staat, ohne die Beschränkungen des taqlid forderte, hob er hervor, dass seit der Machtergreifung der Umayaden die islamische Welt von Königen regiert werde, deren Herrschaft zwar rechtmäßig, aber nicht ideal sei476. Um diesen Idealzustand zu erreichen, sollten die Könige und Machthaber zusammen mit den muslimischen Gelehrten regieren und diese konsultieren477. Ibn Teymiye und Nizamülmülk gewährten den Herrschern eine starke Machtkonzentration in ihren Positionen; relevant für sie war allein die Implementierung der sharia478. Auch ein einheitliches islamisches Staatsgebilde, welches alle Muslime einte und dessen Bezugspunkt ein Kalif war, wurde mit Blick auf die politische Realität nicht mehr verlangt. Die Forderung Ibn Teymiye’s, dass der Machthaber im Einklang mit den ulama herrschen solle, erfüllte sich aber nicht, da durch die Machtkonzentration in der Position des Herrschers der Handlungsspielraum der ulama erheblich eingeschränkt wurde und die Herrscher freie Hand hatten, mehr ihre eigenen Interessen zu verfolgen als das islamische Ideal zu verwirklichen479. Nach Meinung Hasan AlBannas verkümmerten die ulama im Laufe dieser Entwicklung immer mehr zu Rechtfertigungsinstitutionen der faktischen Herrscher und versanken in Lethargie480. Trotzdem räumte er ihnen eine wichtige Rolle bei der Erneuerung der islamischen Gesellschaft ein481. Auch andere Theorien aus der philosophischen Tradition des Islams, viele von ihnen wahrscheinlich neu-platonisch bzw. durch die Ideen von El-Farabi beeinflusst, trugen zu dieser Entwicklung bei482. Sie forderten eine absolute Herrschaft eines idealen islamisch-moralischen Königs, welche die verschiedenen Klassen der Gesellschaft konsolidieren sollte483. All diese Theorien und letztlich die Forderung nach einer starken Exekutive müssen aber im Zusammenhang mit den historischen Gegebenheiten betrachtet werden. Sicherheitspolitische Aspekte überwogen die ursprünglichen Idealvorstellungen, speziell die von der Prärogative der Gemeinde den Herrscher selbst 475
Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 144. Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 35 ff., 75 ff.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 144. 477 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 33 f.; Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 112 f. 478 Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 35 ff., 75 ff.; Nizamülmülk, Siyasetname, 11. Jahrhundert, 74. 479 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 29. 480 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 50 f. 481 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 50 f. 482 Ebu Nasr El-Farabi, Ideal Devlet, 9.–10. Jahrhundert, 94 ff.; vgl. Ibrahim Çapak, Stoa Mantıg˘ı ve Farabi’ye Etkisi, 2006, 20 ff., 89 ff. 483 Ebu Nasr El-Farabi, Ideal Devlet, 9.–10. Jahrhundert, 94 ff. 476
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zu bestimmen, und führten zu diesem Staatsverständnis. Mit der Etablierung einer starken Exekutive ohne Kontrollmechanismen wurden die Herrscher mit der Zeit als durch Gottes Gnade eingesetzt angesehen, denen die Untertanen unmittelbaren Gehorsam entgegenbringen sollten. Wie aufgezeigt, verloren die ulama ihre Einflussmöglichkeit. 2. Westliche Einflüsse Mit dem Beginn der Moderne wurde die islamische Staatenwelt mit neuen staatsrechtlichen Entwicklungen hauptsächlich aus Europa und Nordamerika konfrontiert484. Aufgrund seiner langen Geschichte und der weitgefächerten Alternativen der Interpretation der normativen Quellen und der Flexibilität des Staatsrechts konnte das islamische Staatsrechtsverständnis diese Entwicklungen auffangen und sich modifiziert zu eigen machen485. Viele politische und staatsrechtliche Ideen wurden aufgrund dieser Einflüsse in der Theorie entwickelt, aber nie in der Praxis umgesetzt486. Allerdings bildete sich trotz dieser neuen Entwicklung wegen der vielen Interpretationsmöglichkeiten keine einheitliche politische und staatsrechtliche Tradition im islamischen Recht. Unterschiedliche muslimische Gruppierungen behaupteten zwar im Lauf der Zeit, das speziell ihre Interpretation und Umsetzung des islamischen Rechts in einem von ihnen begründeten konkreten Staat das Ideal bzw. die gottgewollte Ordnung repräsentieren würde, doch dies führte nie dazu, dass alle Muslime die jeweiligen Ausführungen als das verbindliche Beispiel anerkannten. Daher blieben die Fragen, wie ein islamischer Staat strukturiert sein soll und wie die sharia richtig umgesetzt werden soll, auch in der Neuzeit, trotz der Einflüsse der politischen Entwicklungen in Europa und Nordamerika, unbeantwortet. Mit dem Zusammenbruch des Abbasidischen Kalifats setzten sich letztlich autoritäre und imperiale Staatsrechtsverständnisse durch, die eine starke Exekutive favorisierten und in denen zwar nominell die sharia implementiert wurde, aber eigentlich der status quo der herrschenden Elite gefestigt und erweitert wurde487. 484 Vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008 2 f.; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 42 f. 485 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 29 f.; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 42 f. 486 Vgl. Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 21 ff., 31 ff., 39 ff.; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 104 ff. 487 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 14 f.
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Trotz des imperialen Erfolges des Osmanischen Reiches und der Konstituierung einer vergleichsweise starken Bürokratie sowie eines funktionierenden Staatsapparates, entwickelten muslimische Gelehrte bis zum 19. Jahrhundert keine neuen staatsrechtlichen Ideen und Konzepte488. Eine Ausnahme war die Bewegung der Wahhabiten gegen die osmanische Herrschaft im Hedschas während des 18. Jahrhunderts489. Im Osmanischen Reich erfolgte lediglich eine in dieser Form in der islamischen Staatengeschichte einzigartige, Bürokratisierung, die garantierte, dass der islamische Charakter des Staates über die Jahrhunderte hinweg erhalten blieb490. Die staatsrechtlich relevanten Ereignisse in Europa und Nordamerika und die imperiale Gefahr, die durch die militärische Unterlegenheit gegenwärtig war, führten gegen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Reihe von reformistischen, aber auch reaktionären Bewegungen, die die islamische Staatenwelt noch heute nachhaltig beeinflussen491. Viele Gelehrte oder politische Aktivisten wie Gamal Al-Din Afghani (1839–1897), Muhammad Abduh (1849–1905), Rasid Rida (1865–1935), Sayid Ahmad Khan (1817–1898) und Muhammad Iqbal (1877–1938) versuchten auf ihre Weise ein Konzept für das islamische Staatswesen und Recht zu entwerfen, um auf der einen Seite der Gefahr der Kolonialisierung entgegenzutreten und auf der anderen Seite die Stagnation in der islamischen Welt zu beenden492. So gab es unter den Muslimen in den damaligen großen islamischen Territorialstaaten, wie dem Osmanischen Reich und dem Iran, in der Regel grob aufgeteilt drei politische Bewegungen: erstens die reaktionären islamischen Kräfte, die jegliche Veränderung der Staatsstruktur ablehnten, zweitens die reformistischen islamischen Kräfte, die die Veränderung des Staatswesens forderten, aber immer noch im Rahmen des islamischen Rechts agieren wollten, und drittens die nationalistischen Kräfte, die meistens für säkulare Staatsideen und für starke Veränderungen eintraten493. In diesem Zusammenhang setzten sich anfangs Ideen eines islamischen Konstitutionalismus durch, die sich aus dem Beispiel des früh-islamischen Staates von Medina zu rechtfertigen suchten494. Im Osmanischen Reich zumindest bestand durch die Idee des Panislamismus zeitweise eine Verbindung zwischen den reaktionären und reformistischen
488 Vgl. Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 22 f.; Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 217 ff.; Aziz El-Azme, Sosyal ve Tarihi Bag˘lamı içinde Islam Hukuku, 1992, 159. 489 Hans Küng, Islam, 2007, 438 ff.; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 93 ff. 490 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 53 ff. 491 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 60. 492 Vgl. Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 242 ff. 493 Vgl. John Balfour Kinross, The Ottoman Centuries, 1974, 511 f.; Hans Küng, Islam, 2007, 434; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 475. 494 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 65.
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islamischen Kräften, die allerdings mit der Machtergreifung der Jungtürken 1908/09–1912/13 endete495. 3. Gemeindeordnung bzw. Verfassung von Medina Der früh-islamische Staat von Medina wurde vom Propheten Muhammad (s. a.w.s) nach seiner Auswanderung von Mekka nach Medina begründet496. Das Fundament dieses Staates war ein Staats- bzw. Sozialvertrag, bekannt als die Gemeindeordnung bzw. Verfassung von Medina, der zwischen den verschiedenen Stämmen und Glaubensgemeinschaften geschlossen wurde497. In Medina gab es bis zur Gründung des Staates keine hoheitliche Gewalt498. Die verschiedenen Stämme und Glaubensgemeinschaften, die in Medina und dessen Umgebung lebten, bekriegten sich untereinander, so dass ein konstanter Zustand der Unsicherheit herrschte499. Um die sich bekämpfenden Kräfte zu konsolidieren, bestand die Notwendigkeit ein für alle Parteien geltendes Regelwerk zu etablieren. Dies geschah mit der Verabschiedung der Gemeindeordnung bzw. Verfassung von Medina500. Nach Meinung von Muhammed Hamidullah stellt diese Gemeindeordnung bzw. Verfassung von Medina nicht nur die erste islamische Verfassung, sondern auch die erste Verfassung der Menschheitsgeschichte dar, die tatsächlich frei von der Mehrheit eines Volkes verabschiedet und herausgearbeitet wurde501. In diesem Kontext sollte kurz auf die staatsrechtliche Organisation und Struktur des früh-islamischen Staates von Medina eingegangen werden. Wie erwähnt, wurde nach allgemeiner Auffassung der erste islamische Staat vom Propheten Muhammad (s. a. w. s.) in Medina gegründet und durch ihn regiert502. Oft wird hier der Begriff Staat der genaueren Beschreibung wegen durch Stadtstaat ersetzt503. Dieser Staat bestand zur Zeit des Propheten Muhammad
495 Vgl. Ilber Ortaylı, Osmanlı’da Deg ˘ is¸im ve Anayasal Rejim Sorunu, 2008, 297 ff.; Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 262; Hans Küng, Islam, 2007, 457. 496 Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 132; Ahmet Yaman, Islam Hukukunda Uluslararası ilis¸kiler, 1998, 63. 497 Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 84 ff.; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 98 ff. 498 Vgl. Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 119 f.; Muhammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 10. 499 Hans Küng, Islam, 2007, 105; Muhammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 39; Ahmed Ibrahim es¸-S¸erif, Ilk Islam Devleti, 2006, 84. 500 Vgl. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 ff. 501 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 17 ff., 115. 502 Muhammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 39 ff.; W. Montgomery Watt, Islam’da Siyasal Düs¸üncenin olus¸umu, 2001, 18 f. 503 Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 132; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 106; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 65; Ahmed Ibrahim es¸-S¸erif, Ilk Islam Devleti, 2006, 104.
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(s. a. w. s.) aus einem Verband von mehreren selbstständigen Dörfern, die von Muslimen, Juden, heidnischen Arabern und einigen Christen bewohnt waren504. Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Ausprägung des staatlichen Charakters des Gemeinwesens von Medina nicht als ein Staatsgebilde im modernen Sinne zu verstehen und der moderne Staatsbegriff nach Günter Schaller nur „in einer problematischen Analogie . . . auf vorneuzeitliche Herrschaftsverhältnisse sinnvoll“ übertragbar ist505. Die Herausbildung des modernen Staates und des Staatsbegriffes im Westen hatte verschiedene Voraussetzungen: erstens die Trennung der geistlich-religiösen und der weltlich-politischen Sphäre und damit die Verselbstständigung einer säkularisierten Politik; zweitens die Trennung der eigentlich politischen Sphäre von der Gesellschaft, die sich dadurch als private und wirtschaftende bürgerliche Gesellschaft dem Staat gegenüber konstituiert; drittens die Verwirklichung der staatlichen Souveränität nach außen und nach innen; viertens das Wirksamwerden des Prinzips der Staatsraison, der Eigengesetzlichkeit staatlicher Machtprozesse und ihrer Ziele; fünftens eine politische Entwicklung, die zur Gründung von starken staatlichen Institutionen führt, die unabhängig von Individuen bestehen506. Trotz des Fehlens dieser Merkmale wird der Stadtstaat von Medina ohne Schwierigkeit von westlichen wie muslimischen Gelehrten als Staat oder als Staat sui generis bezeichnet507. Dies hängt damit zusammen, dass er fast alle klassischen Kriterien der Drei-Elemente-Lehre, Staatsvolk, Staatsgebiet, und Staatsgewalt erfüllte508. Zwar ist das Staatsgebiet des Stadtstaates von Medina aufgrund immerwährender territorialer Veränderungen nicht mehr genau bestimmbar, aber es kann klar gesagt werden, dass ein Kerngebiet existierte, in dem ein Staatsvolk, das sich dem Staat moralisch, ideologisch und politisch verbunden fühlte, lebte und Staatsgewalt durch politische Herrschaft ausgeübt wurde509. Grundstein des früh-islamischen Staates von Medina war die konsensual verfasste Gemeindeordnung bzw. Verfassung von Medina510. Sie diente als das Fundament des neu gegründeten Staates. Dabei gilt das zuvor über die Staatlichkeit des Stadtstaates von Medina Gesagte, ebenso für den Verfassungscharakter der 504
Vgl. Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 98. Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 50. 506 Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 17 ff.; Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 50. 507 Vgl. Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 239 f.; vgl. Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 81. 508 Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 239 f. 509 Vgl. Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 80 ff.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 ff.; Ahmed Ibrahim es¸-S¸erif, Ilk Islam Devleti, 2006, 91 f. 510 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 ff. 505
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Gemeindeordnung bzw. Verfassung von Medina511. Diese kann nicht als eine Verfassung im modernen Sinne, mit Grundrechten, Staatsorganen, politischen Institutionen, Gewaltenteilung, Kontrolle der politischen Macht und erschwerter Abänderlichkeit bezeichnet werden512. Es kann aber unproblematisch von einer Verfassung sui generis gesprochen werden, da durch sie staatliche Strukturen begründet, deren Kompetenzen festgelegt und Rechte, Pflichten sowie Freiheiten der Vertragspartner definiert wurden513. Sie stellte außerdem einen Sozialvertrag zwischen den verschiedenen Stämmen und Glaubensrichtungen dar, der auch gleichzeitig Elemente eines Friedensvertrages enthielt514. Die sich bekriegenden Stämme in Medina waren nicht homogen, und innerhalb vieler lebten Muslime und heidnische Araber515. Vertragspartner waren ebenso verschiedene jüdische Stämme, die ebenfalls untereinander zerstritten waren, aber auch fast vollständig heidnische Stämme516. Hinzu kamen noch die Muslime, die mit dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) aus Mekka nach Medina ausgewandert waren517. Während die jüdischen Stämme ihren Glauben behielten, traten die heidnischen Stämme später vollständig zum Islam über518. Der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) kam nach Medina, um sich zum einen vor Repressalien der Mekkaner zu schützen, und zum anderen um Frieden zwischen den zu nie endender Blutrache verpflichteten Stämmen in Medina zu stiften519. Dieser Zustand und das Fehlen eines Staatsapparates, der die Sicherheit der in Medina lebenden Menschen gewährleisten konnte, führten dazu, dass der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) nach Medina eingeladen wurde520. Mangels einer einheitlichen politischen Autorität in Medina trat mit der Anerkennung des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) – ausdrücklich in Art. 1 VM521 als Prophet und in Art. 23, 42 VM als höchste Führungs- und Streitschlichtungsinstanz –, eine religiöse Autorität an die Spitze des entstehenden Stadtstaates und verband somit religiöse und politische Autorität, die auch von Nicht-Muslimen zumindest als
511
Vgl. Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 242 ff. Vgl. Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 116 ff. 513 Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 242 ff.; Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 84 ff.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 ff. 514 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 66; Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 84 ff. 515 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 98. 516 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 98; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 f. 517 Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 85. 518 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 41. 519 Hans Küng, Islam, 2007, 103 f., 105. 520 Vgl. Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 84. 521 Art. 1 VM ist bei Günter Schaller die Präambel. 512
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politische Führung anerkannt wurde522. Art. 1 VM erklärt, dass alle, die mit den Vertragspartnern zusammenarbeiten oder sich später dem Stadtstaat anschließen unter den Geltungsbereich der VM fallen. Dabei ist die Religionszugehörigkeit nicht in erster Linie von Bedeutung. Gerade die jüdischen Stämme Medinas akzeptierten die politische Autorität des Propheten Muhammad (s. a. w. s.), die dazu führte, dass Sicherheit und Ordnung garantiert wurden523. Insbesondere Art. 16 VM enthält eine Gleichstellung der jüdischen Stämme mit den anderen in Medina ansässigen Stämmen. Aus der Art der Formulierung vieler Artikel der VM ist im Kern ein Gleichheitsgrundsatz herauszulesen, der alle, die sich als Gemeindemitglieder fühlen oder direkt als Vertragspartner der Verfassung bezeichnet werden, ohne Rangunterschiede auf eine Stufe stellt524. Des Weiteren lassen sich folgende Prinzipien aus der VM ableiten: Gott allein steht an der Spitze der Gemeinde, und seine Führung und Rechtleitung ist unmittelbar und direkt525. Alle Souveränität kommt Gott als einzigem Gesetzgeber zu526. Folglich ist jede menschliche Macht von Gott delegiert, und speziell die islamische Justiz wird in seinem Namen ausgeübt527. Aus dieser Konstruktion, dem ersten Beispiel eines islamischen Staates, ergeben sich die zuvor schon aufgezeigten spezifischen Züge für einen islamischen Staat. Die Art. 13 und 36 VM begründen eine Art zentrale Verwaltung, die dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) starke Machtbefugnisse gewährten, da nur er entscheiden konnte, ob Kriegszüge erfolgen sollten oder nicht528. Die Art. 3, 17, 24, 36, 38, 44 und 45 VM regeln die Pflichten der Vertragspartner im Verteidigungsfall. In den Art. 2 bis 10 VM wird eine Art kommunaler Selbstverwaltung für die Stämme garantiert und bereits bestehende Einrichtungen dieser bestätigt529. Die Machtausübung funktioniert indem Maße, dass innerhalb der Verbände der Vertragspartner die Wahl bzw. Legitimierung der Anführer unberührt gelassen wird, aber diese Anführer als Vertragspartner sämtlichen Artikeln der VM, die eine dominante politische Rolle des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) beinhalten, verpflichtend unterworfen sind. Insbesondere die Hervorhebung der Rolle Gottes und seines Propheten Muhammad (s. a. w. s.) in der VM zeugt von dem großen Spielraum, den der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) bei der Organisation der Re522
Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 41; vgl. Art. 1, 23, 42 VM. Muhammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 40. 524 Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 242 f. 525 Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 244; Hans Küng, Islam, 2007, 105; Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 114; vgl. Art. 15 VM. 526 Vgl. Art. 23, 42 VM. 527 Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 244. 528 Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 226. 529 Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 85 f.; Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 245. 523
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gierungsgewalt und der Gerichtsbarkeit innehat530. Alle Stammesführer stehen in der Hierarchie unter Gott und dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) 531. Wird die Ausrichtung der VM näher betrachtet, so wird klar, dass diese nach innen und nach außen, das Verhalten aller regelte und verpflichtend bestimmte. Die spätere Entwicklung des islamischen Staatsrechts hat diese Betrachtungsweise bestätigt. Diese VM und das Beispiel des Propheten Muhammad (s. a. w. s.) führten dazu, dass Gelehrte einen islamischen Konstitutionalismus als legitime Konkretisierung des islamischen Staatsrechts anerkannten. Eine islamische Verfassung sollte nach dieser Meinung Despotien und zu starke Machtkonzentrationen in einem Staatsorgan vermeiden und gleichzeitig eine Staatsform entwerfen, die im Einklang mit der sharia stand. Dabei war der Einfluss der staatsrechtlichen Entwicklungen in Nordamerika und Europa für die Vertreter dieser Meinung prägnant532. 4. Neuzeitliche Entwicklung Die erste Verfassung in der islamischen Staatenwelt, die seit der VM von einem islamischen pouvoir constituant erlassen wurde, ist die Verfassung Tunesiens von 1861533, obwohl Tunesien zu diesem Zeitpunkt noch nominell unter osmanischer Herrschaft stand. 1876 wurde auch im osmanischen Kernland auf Druck der Großmächte, insbesondere des Russischen Reiches, eine Verfassung verabschiedet, die sogenannte Kanun-i Esasi534. Diese begründete erstmals, in einem den Grossteil der noch freien islamischen Welt umfassenden Gebiet, ein nach modernem Staatsverständnis organisiertes konstitutionelles Sultanat535. Während die Exekutive und die Judikative mit starken Kompetenzen ausgestattet waren und sich in der Theorie ausbalancierten, war der demokratisch legitimierte Teil der Legislative in dem 2. Kammersystem der Kanun-i Esasi eher schwach ausgeprägt und stand unter dem direkten Einfluss der Exekutive536. Der Sultan 530
Muhammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 40. Muhammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 40. 532 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 30; Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 14 ff.; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 491 f.; Peter Scholz/Naseef Naeem, Vergleich rechtsstaatlicher Aspekte in Verfassungen islamisch geprägter Staaten am Beispiel Iraks und Irans: Eine kritische Betrachtung, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 41–104, 42 f. 533 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 65; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 491–507, 498. 534 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 132 f.; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 70; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 65, Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 474. 535 Ilber Ortaylı, Osmanlı’da Deg ˘ is¸im ve Anayasal Rejim Sorunu, 2008, 243 ff.; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 72. 531
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war gleichzeitig Staatsoberhaupt und Kalif, somit oberste politische sowie religiöse Instanz537. Den Staatsbürgern wurden Rechte und Freiheiten gewährt und insbesondere rechtsstaatliche Prinzipien wie die Bindung der Gerichte und der Exekutive an das bestehende Gesetz etabliert538. Außerdem wurde die Wahl als Legitimationsmittel für das Parlament festgesetzt und dadurch die Beteiligung des Volkes an politischen Prozessen erstmals festgelegt539. Das erste osmanische Parlament spiegelte das Osmanische Reich als Vielvölkerstaat wider. Ein Drittel der Abgeordneten war christlich, die muslimischen Abgeordneten bestanden aus Türken, Bosniern, Albanern, Pomaken, Arabern, Kaukasiern und Kurden540. Die Religionsfreiheit wurde in der Kanun-i Esasi explizit garantiert541. Die reaktionären Kräfte innerhalb des Osmanischen Reiches betrachteten diese Verfassung als eine dem Osmanischen Reich von den Großmächten oktroyierte Ordung, wodurch sie ihre kolonialen Interessen verwirklichen konnten und wollten542. Tatsächlich war das Osmanische Reich Mitte des 19. Jahrhunderts zum Spielball der Kolonialmächte geworden543. Diese nutzten unter dem Vorwand christliche Minderheiten zu schützen die Schwäche des Osmanischen Reiches aus und intervenierten in diesem, um ihre machtpolitischen und jeweils nationalen Ziele zu verwirklichen544. In diesem Zusammenhang ist die damalige ablehnende Haltung der reaktionären Kräfte in der islamischen Welt gegenüber dem islamischen Konstitutionalismus zu sehen. Trotz des Inkrafttretens der Kanun-i Esasi und der Verwirklichung der Forderungen der Kolonialmächte brach 1877 ein Krieg zwischen dem Russischen Zarenreich und dem Osmanischen Reich aus, in dem das Osmanische Reich unterlag545. In dem von Reichskanzler Bismarck organisierten Berliner Kongress 1878 wurde zwar der Fortbestand des Osmanischen Reiches durch die Kolonialmächte gesichert und die russische Besatzungsarmee zum Abzug gezwungen, aber es wurde nicht durchgesetzt, dass die kurz nachdem Krieg durch die Exekutive ausgesetzte Verfassung wieder in Kraft trat546. Erst 1908, mit der Jungtürkischen Revolution wurde die Kanun-i Esasi 536 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 139 f.; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 474. 537 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 71. 538 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 71 f.; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 474. 539 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 72. 540 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 153. 541 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 145; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 474 f. 542 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 191. 543 Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 217 f., 238. 544 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 185 f. 545 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 191; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 475. 546 Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 475.
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wieder in Kraft gesetzt547. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte Sultan Abdulhamid II. mit Hilfe der reaktionären Kräfte fast dreißig Jahre absolut548. Jegliche Reformversuche in diesem Zeitabschnitt, auch durch Muslime, wurden als Interventionen der Großmächte betrachtet549. Zwanghaft wurde versucht den status quo aufrecht zu erhalten. Dies führte dazu, dass auch die muslimischen Gelehrten, die Reformen befürworteten, sich vom Osmanischen Reich abwandten und national-ethnische Bewegungen an Bedeutung gewannen550. Insbesondere die türkische Nationalbewegung stellte sich gegen das Konzept eines fast absolut und dem Anspruch nach islamisch regierten Vielvölkerstaates. Mit der Machtergreifung der Jungtürkischen Partei 1912–13 endete faktisch das Osmanische Reich als islamischer Vielvölkerstaat und wurde zu einem nationalen türkischen Reich. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg einte sich die türkische Nationalbewegung noch einmal und leistete gegen die Besatzung der Alliierten Widerstand, während die Osmanische Schattenregierung in Istanbul mit den Alliierten kollaborierte und sogar gewillt war, als Protektorat von den Alliierten beherrscht zu werden551. Nach der Anerkennung der türkischen Nationalbewegung als Repräsentant des türkischen Volkes und dem Abschluss des Friedensvertrages von Lausanne 1923 in dem die heutigen Grenzen der Türkei festgelegt und die volle Unabhängigkeit der Türkei anerkannt wurden, endete der Einfluss der islamisch gesinnten Staatsführung in der Türkei552. Das Sultanat und das Kalifat wurden unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk abgeschafft und eine laizistisch-nationale türkische Republik ausgerufen553. Im Iran erfolgte eine ähnliche Entwicklung wie im Osmanischen Reich. Die erste Verfassung wurde 1906 durch eine vom Shah einberufene Nationalversammlung verabschiedet554. Auch im Iran gab es reaktionäre Kräfte, die jegliche Änderung des status quo als Intervention der Großmächte bewerteten, während andere islamische Gelehrte eine aus der sharia abgeleitete Verfassung befürworteten555. Nachdem Russlands Stellung im Iran gegen Ende des Ersten Weltkrieges erschüttert worden war, wurde unter Ahmad Shah 1919 ein Vertrag mit Groß-
547 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 178 ff.; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 476 ff. 548 Ilber Ortaylı, Osmanlı’da Deg ˘ is¸im ve Anayasal Rejim Sorunu, 2008, 243 ff., Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 474 ff. 549 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 192. 550 Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 244. 551 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 434. 552 Hans Küng, Islam, 2007, 435. 553 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 78, 87 f.; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 79 f. 554 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 82; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, 479 f. 555 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 280.
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britannien ausgehandelt, der das Land de facto zu einem britischen Protektorat gemacht hätte, wenn der Vertrag ratifiziert worden wäre556. Vielstimmiger Widerstand wurde laut, und 1921 kam eine nationalistische Regierung an die Macht, die den Vertrag widerrief. Riza Han, der Führer des iranischen Militärs, stieg in den Wirren der nächsten Jahre zur einzig ordnenden Kraft des Landes auf. Er wurde Regierungschef und zwang 1923 Ahmad Shah den Iran zu verlassen557. 1925 erklärte das Parlament die Qagarendynastie, die den Iran seit dem 18. Jahrhundert regiert hatte, für beendet558. Wenig später krönte sich Riza Han zum Shah. Die Politik, die Riza Shah betrieb, zielte auf eine schnelle Modernisierung des Landes ab, wobei er sich Mustafa Kemal Atatürks Säkularismus und die Reformen in der Türkei zum Vorbild nahm559. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde nur in Afghanistan, Ägypten und Saudi-Arabien islamischer Konstitutionalismus erörtert, da die Türkei und der Iran von nationalistischen und säkularen Kräften regiert wurden und der Rest der islamischen Welt unter Fremdherrschaft stand. In Afghanistan wurde z. B. 1923 eine islamische Verfassung verabschiedet, die bis zum linksgerichteten Militärputsch 1978 in Kraft war560. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der hierauf folgenden Entkolonialisierung gewann islamischer Konstitutionalismus wieder an Aktualität561. In den neugegründeten, mehrheitlich von Muslimen bewohnten Ländern ergaben sich Konflikte zwischen nationalistisch-säkularen Bewegungen auf der einen Seite, die entweder sozialistisch oder kapitalistisch geprägt waren, und islamisch-politischen Bewegungen auf der anderen Seite, die wiederum traditionalistisch oder reformorientiert waren562. In den neugegründeten Ländern setzten sich vollkommen unterschiedliche politische Bewegungen durch. In Pakistan z. B. erarbeiteten islamische Gelehrte eine Erklärung, die die islamischen Grundprinzipien eines Staates fixierte563. Trotzdem wurde diese Erklärung bei der Verabschiedung der Pakistanischen Verfassung von 1956 nicht ausreichend berücksichtigt, da sich auch nationalistisch-säkular dominierte Kräfte durchsetzen konnten. Die Al-Azhar Universität in Kairo, eine der höchsten sunnitischen Rechtsinstanzen, formulierte 1977 eine Musterverfassung für islamische Länder, die als Beispiel fungieren sollte564. Umgesetzt wurde diese Ver556
Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 306. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 306; Hans Küng, Islam, 2007, 441. 558 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 306. 559 Hans Küng, Islam, 2007, 441. 560 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 65. 561 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 26 ff. 562 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 18 f.; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 99. 563 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 71 ff. 564 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 74. 557
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fassung aber in keinem Land, auch nicht in Ägypten. Saudi-Arabien gab sich erst nach dem Golfkrieg von 1991 drei neue Staatsgrundgesetze, während sich der Iran 1979 nach der islamischen Revolution gegen den Shah wieder eine islamische Verfassung gab. 5. Kernpunkte einer islamischen Verfassung Bei einem Vergleich der heutigen Verfassungen von Staaten, die mehrheitlich von Muslimen bewohnt sind, fallen sofort die großen Unterschiede in der Staatsstruktur auf. Einige Staaten, wie Saudi-Arabien, sind zentralistisch organisiert, andere, wie Malaysia, föderalistisch565. Manche sind präsidiale Republiken, wie der Sudan und Indonesien566 bzw. semi-präsidiale Republiken wie Ägypten567, wiederum andere sind parlamentarische Republiken, wie Bangladesch568 oder der Irak, und letztlich sind einige Königreiche oder Sultanate mit Herrscherdynastien wie Saudi-Arabien, Jordanien, Kuwait, Oman und Marokko, von denen einige absolutistische Tendenzen aufweisen, während andere konstitutionell oder parlamentarisch organisiert sind569. Einige Verfassungen legen Wert auf sozialistische Prinzipien, andere unterstützen einen fast vollständigen freien Markt. Weiterhin beinhalten manche dieser Verfassungen nationalistische Ziele oder die Verwirklichung einer lokalen Revolution, andere werden direkt aus der sharia abgeleitet und beanspruchen für sich islamisch legitimiert zu sein, während wieder andere Staat und Religion vollständig trennen und absolut laizistische oder säkulare Staatssysteme begründen570. Diesbezüglich existieren keine großen Unterschiede zu westlichen Verfassungen. Die laizistischen und säkularen Verfassungen in der islamischen Welt ausgenommen, ist der Umstand, dass Staaten, die für sich behaupten, islamisch zu sein, teilweise vollkommen wesensfremd sind, nicht besonders verwunderlich, da die sharia keine konkrete Staats- oder Regierungsform festlegt, sondern nur Grund565 Vgl.Andrew Harding, Constitutionalism, Islam and National Identitiy in Malaysia, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 201–220, 205. 566 Vgl. Nadirsyah Hosen, Indonesia: A Presidential System with Checks and Balances, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 461–474, 461 ff. 567 Vgl. Nathalie Bernard-Maugiron,Strong Presidentalism The Model of Mubarak’s Egypt, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 373–386, 373 ff. 568 Vgl.Rainer Grote, Westminster Democracy in an Islamic Context: Pakistan, Bangladesh, Malaysia, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 447–460, 453 ff. 569 Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 31 f. 570 Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 29 f.; vgl. Ergun Özbudun, Secularism in Islamic Countries Turkey as a Model, in: in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 135–146, 135 ff.
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prinzipien formuliert, die verschieden ausgelegt werden können571. Außerdem haben Verfassungen in mehrheitlich von Muslimen bewohnten Staaten ähnliche Funktionen wie westliche Verfassungen: Sie organisieren und strukturieren den Staat. Dabei ist es nicht überraschend, dass verfassunggebende Gewalten in unterschiedlichen Regionen andere Staatsstrukturen entwerfen. Der Aufgabenbereich von Staaten ist überall derselbe. Er beinhaltet die Verteidigung der Souveränität und des Territoriums des Staates, Schutz der Rechte der Bürger, Begründung einer effektiven Regierungsform, Etablierung einer Justiz und Gerichtsbarkeit sowie die Schaffung von Rahmenbedingungen für die Wirtschaft572. Die Vorrangstellung der Verfassung vor anderen Gesetzen ist in den meisten Staaten garantiert und anerkannt. Allerdings gilt diese Vorrangstellung nicht im Verhältnis zur sharia573. In vielen Punkten sind Verfassungen in den Staaten der islamischen Welt mehr durch die Traditionen der ehemaligen Kolonialmächte beeinflusst als durch islamisch-politische Bewegungen574. Z. B. sind in den Verfassungen von Pakistan, Bangladesch und Malaysia Elemente britischen Einflusses vorhanden575, und in den Verfassungen der nordafrikanischen Staaten ist wiederum französischer Einfluss evident576. Die derzeitigen Verfassungen in der islamischen Welt sind ebenfalls Reflektionen von politischen Machtkämpfen. Die Bevölkerungen in diesen Staaten sind wie vielerorts politisch, wirtschaftlich, sozial, ethnisch und religiös geteilt. Daher spiegeln die vorhandenen Verfassungen die Sieger dieser politischen Machtkämpfe wider, indem sie bestehende Herrscherdynastien, politische Parteien oder religiöse Eliten legitimieren und deren Positionen stärken577. Trotz dieser Unterschiede weisen Verfassungen in islamischen Staaten in mehreren Punkten aber auch erkennbare Gemeinsamkeiten auf 578. Die sharia beinhaltet, trotz des Fehlens einer konkreten Staats- oder Regierungsform, einige fundamentale Prinzipien, die vorgeben, wie islamische Gesell571
Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 37. 572 Vgl. Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 491–507, 492. 573 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 256 f. 574 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 44 f. 575 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 460. 576 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 460. 577 Bassam Tibi, Das Arabische Staatensystem, 1996, 31 f.; Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 12 f. 578 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 243; Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 12 f.
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schaften zu regieren sind579. Erst wenn diese Prinzipien verwirklicht werden bzw. das islamische Recht umgesetzt und angewandt wird, kann von einem islamischen Staat gesprochen werden580. Hierbei muss aber berücksichtigt werden, dass diese Prinzipien interpretierbar sind, so dass nicht von einer absolut identischen Umsetzung ausgegangen werden kann. Diejenigen Staaten, die beanspruchen islamisch zu sein, müssen die nachfolgenden Prinzipien in ihrer Organisation berücksichtigen und umsetzen. Murad Hofmann nennt diese Prinzipien die Grundsteine eines demokratischen islamischen Staates und differenziert die nachfolgenden Punkte etwas ausführlicher581. Zuerst ist die Pflicht zur Implementierung der sharia zu nennen, durch die Herrscher und Beherrschte bereits verpflichtet sind582. In diesem Kontext fungiert die sharia als Form eines fundamentalen göttlichen Gesetzes, das den Rahmen für islamischen Konstitutionalismus festlegt und die Macht der Staatsgewalt beschränkt583. Gleichzeitig hebt die Anerkennung und die Implementierung der sharia als fundamentales göttliches Gesetz den zusammenhängenden Charakter von Staat und Religion hervor584. Eine Trennung dieser Sphären, wie im Westen praktiziert, ist nicht möglich585. In diesem Punkt unterscheiden sich islamische Verfassungen von westlichen Verfassungen. In diesem Zusammenhang muss außerdem die politische Herrschaft islamisch legitimierbar und praktisch kontrollierbar sein586, d.h. das Bestimmungsprozedere für das Staatsoberhaupt, muss sich aus der sharia und dem Beispiel des früh-islamischen Staates von Medina ableiten lassen587. Islamische Verfassungen differieren allerdings untereinander, 579 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 39; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 34 f. 580 Vgl. Sherman A. Jackson, Islamic Law and the State, 1996, XIV; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 46; Ahmet Yaman, Islam Hukukunda Uluslararası ilis¸kiler, 1998, 68. 581 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 116 ff. 582 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 66 f., 78; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 386 ff.; Alexander Gramsch, Die Umwandlung Bahrains in eine konstitutionelle Monarchie: Einordnung und Bewertung der Verfassungsreform aus dem Jahr 2002; zugleich eine Beispiel für die Anwendung politischer Theologie in islamisch geprägten Staaten, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011 2011„ 159–194, 186 f. 583 Vgl. Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 491–507, 491 f. 584 Vgl. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 38 f. 585 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 31 ff., 92 ff. 586 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 155 ff.; Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 40 f. 587 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 27 ff.
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wie die sharia in den Korpus des Rechtssystems inkorporiert wird und welche Wichtigkeit ihr dabei zukommt, sowie wie der Legitimationsprozess der Staatsgewalt umgesetzt wird und welche Staatsgewalten etabliert werden. Sie unterscheiden sich auch bei der Wahl der Mechanismen, mit denen Gesetze auf ihre Konformität mit der sharia überprüft werden können. Einige überlassen dies einem etablierten legislativen Organ, andere übertragen diese Befugnis einem Verfassungsrat oder begründen Verfassungsgerichte, in deren Kompetenzbereich dies fällt, während im Iran z. B. der Wächterrat, ein Zusammenschluss von schiitischen Rechtsgelehrten, diese Aufgabe erfüllt588. Da aus islamischer Sicht Gott der einzige Souverän ist, hegen einige muslimische Rechtsgelehrte und Theologen Bedenken gegen Formulierungen in islamischen Verfassungen, die eine Volkssouveränität beinhalten589. Dieser Disput ist allerdings theoretisch, da islamische Verfassungen, die eine Volkssouveränität beinhalten, von den jeweiligen Interpretationsinstitutionen so ausgelegt werden, dass die begründete Volkssouveränität nur in dem von Gott gewährten Rahmen ausgeübt werden kann590. Folglich existiert keine absolute Volkssouveränität in islamischen Staaten. In der Theorie entscheidet daher nicht die Mehrheit der Bevölkerung über die Polititk und die Gesetzgebung in einem islamischen Staat. Sie setzt lediglich die gottgewollte und offenbarte Ordnung um. Finden sich in diesem Rahmen offen gelassene oder nicht regulierte Sachverhalte, so kann nur bei der Entscheidung und Normierung dieser offenen Sachverhalte eine gewisse Volkssouveränität, bei der auch das Mehrheitsprinzip gelten kann, bejaht und ausgeübt werden591. Formulierungen in islamischen Verfassungen, die eine Volkssouveränität enthalten, sind daher in einem islamischen Kontext zu betrachten592. Bei der Anerkennung des Islams als offizieller Staatsreligion und des erwünschten islamischen Grundcharakters des Staates, stimmen die islamischen Verfassungen überein, wobei sie sich wiederum bei der Implementierung dieses Staatsziels unterscheiden593. In 588 Vgl. Said Amir Arjomand, The Kingdom of Jurists Constitutionalism and the Legal Order in Iran, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 147–170, 159 ff. 589 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 141 ff., 145; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 385 f.; Yusuf AlQaradawi, State in Islam, 2004, 207 f.; Asifa Quraishi, The Separation of Powers in the Tradition Muslim Governments, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 63–73, 69 ff. 590 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 37 ff. 591 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 207 ff., 210 ff. Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 245. 592 Vgl. Asifa Quraishi, The Separation of Powers in the Tradition Muslim Governments, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 63–73, 69 ff. 593 Peter Scholz/Naseef Naeem, Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, in: Peter Scholz/Naseef Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, 11–24, 12.
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einigen weist dies praktisch nur formelle Züge auf, bei anderen wirkt es sich dagegen sogar derart aus, dass wichtige Staatsdiener auf Grund ihrer Religiosität eingestellt werden. Weiterhin verlangt die sharia, dass der Herrscher das Volk über öffentliche Angelegenheiten konsultiert, somit das sogenannte shura-Prinzip verwirklicht594. In den meisten Verfassungen werden aufgrund des shura-Prinzips demokratische Institutionen und Verfahren etabliert595. Allerdings stehen diese demokratischen Institutionen und Verfahren sowie die gewährleisteten fundamentalen Rechte für die Bürger unter dem sharia-Vorbehalt. In der Regel werden vom Volk gewählte und mit legislativen Kompetenzen ausgestattete Staatsorgane begründet und fundamentale Rechte für die Bürger gewährleistet596. Einige Staaten, allen voran Saudi-Arabien, interpretieren dieses Prinzip allerdings anders und setzen es daher sehr eingeschränkt um und verweigern die Gründung von demokratischen Institutionen sowie Legitimationsprozessen597. Schließlich muss eine unabhängige Gerichtsbarkeit begründet werden. Die sharia stellt an Richter hohe Anforderungen und erklärt, dass die Rechtsprechung sowie das Amt des Richters noblen Idealen unterworfen sind598. Hierdurch soll die praktische Umsetzung des islamischen Rechts gewährleistet werden599. Letztlich muss soziale Gerechtigkeit etabliert und müssen die fundamentalen Rechte, die in der sharia enthalten sind, gewährt werden600. Die Verpflichtung, dass der Staat gerecht handeln soll, impliziert die Etablierung von Institutionen, die dies realisieren und die zugänglich für den Bürger sind601. Das shura-Prinzip schließt, entsprechend interpretiert, wichtige politische Rechte mit ein602. Allerdings können wichtige politische Rechte auch aus anderen verbindlichen Beispielen der sharia abgeleitet werden, so dass hierfür nicht unbedingt hierfür das shura-Prinzip herangezogen werden muss603. Die Rechte von religiösen Minder594 595 596
Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 99, 142 ff. Vgl. Art. 7 Abs. 1; Art. 57 ff. Iranische Verfassung. Vgl. Art. 57 ff. Iranische Verfassung; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009,
248. 597 Vgl. Art. 68 Grundgesetz der Herrschaft (Saudi-Arabische Staatsgesetze); Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 248. 598 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 460 ff., 463. 599 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 241; vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 117. 600 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 65 ff.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 51. 601 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 117. 602 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43 ff. 603 Vgl. Mohamed Abdul Haleem, Human Rights in Islam and the United Nations Instruments, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 435–455, 439 f.; Murad Hofmann, Islam, 2006, 60.
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heiten, gerade der „Buchreligionen“, sind in der sharia gewährleistet, und wegen der Wichtigkeit des Ziels der Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit müssen bedürftige Menschen unterstützt, dementsprechend ökonomische und soziale Rechte realisiert werden604. Daher ist es nicht überraschend, dass islamische Verfassungen detaillierte fundamentale Rechtsgarantien enthalten. Die erste Verfassung Afghanistans aus dem Jahre 1923 z. B. beinhaltete eine Aufzählung fundamentaler und sozialer Rechte, lange bevor dies üblich wurde605. 6. Zusammenfassung In der Theorie braucht ein islamischer Staat keine eigens geschriebene Verfassung. Die Entwicklung hin zur Befürwortung eines islamischen Konstitutionalismus spiegelt aber die Erfahrungen der Muslime mit dem Rechtssubjekt Staat wider. Heutzutage sind sich die meisten muslimischen Gelehrten einig, dass aus islamischer Sicht nichts gegen islamischen Konstitutionalismus spricht. Sogar die ägyptische Muslimbruderschaft, deren geistiger Anführer Seyyid Qutb noch dreißig Jahre zuvor die westlich-liberale Demokratie mit Unglauben gleichgesetzt hat606, befürwortet heute geschriebene Verfassungen, die allgemeine Wahl des Staatsoberhauptes für ein zeitlich befristetes Mandat, das Mehrparteiensystem, politischen Pluralismus, Parlamentarismus, unabhängige Gerichte sowie ein aktives und passives Wahlrecht der Frau607. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der islamische Charakter eines islamischen Staates verloren geht, bzw. dass der islamische Staat mit einer westlich-liberalen Demokratie gleichzusetzen ist. Vielmehr bedeutet dies, dass islamisch-politische Bewegungen die Machtbeschränkungs- und Kontrollmöglichkeiten, die liberal und demokratisch organisierte Staaten aufweisen, für ihre Zwecke und politischen Ziele entdeckt haben und bei der Verwirklichung ihrer politischen Bestrebungen anwenden sowie etablieren möchten. In der westlichen politischen Kultur müssen alle Handlungen, Anordnungen, Gesetze und Gerichtsentscheide im Einklang mit der Verfassung stehen, andernfalls sind sie nichtig und illegal608. Anders wird der Begriff der Legalität im islamischen Staat aufgefasst. Illegal ist alles, was sich nicht auf die sharia zurück604 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 52 f.; vgl. Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 125 f., 130 ff., 153 ff.; Hasan Al-Banna, Six Tracts of Hasan AlBanna, Majmu’at Rasa’il al-Imam al-Shahid, 2006, 196 ff. 605 Mohammad Qasim Hashimzai, The Separation of Powers and the Problem of Constitutional Interpretation in Afghanistan, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 665–682, 665. 606 Seyyid Qutb, Milestones, k. D., 80 ff. 607 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 125. 608 Vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 212, Rn. 779.
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führen lässt und keine schlüssige islamische Argumentations- bzw. Legitimationskette vorweisen kann609. Als legal gilt jede Handlung, Anordnung und Entscheidung, die sich am göttlichen Gesetz ausrichtet und mit diesem im Einklang steht610. So kann der islamische Staat nach außen hin verschiedene Formen haben, die man in westlichen Ordnungsvorstellungen streng voneinander trennen würde. Er kann z. B. eine starke Exekutive an der Spitze haben, die allein die Politik verantwortet und sich dabei auf Gremien von Beratern, die aus sharia-Gelehrten und anderweitigen Fachleuten bestehen, stützt. Der islamische Staat kann aber auch neben den für die Art der Anwendung des göttlichen Gesetzes verantwortlichen Fachleuten, für die Überwachung der Regierung bzw. der Exekutive eine Kontrollinstanz einsetzen, die aus Wahlen hervorgeht, also an eine Demokratie erinnern. Folglich kann aus islamischer Sicht sowohl eine absolute Tendenzen aufweisende Staatsform oder eine konstitutionelle Monarchie, eine Oligarchie, als auch eine parlamentarische- oder präsidiale Demokratie in Form einer Republik mit einer Verfassung rechtmäßig sein und legale Hoheitsakte hervorbringen. Relevant ist lediglich, dass die etablierte Staatsform mit der sharia im Einklang steht. Ein ständiges Hin- und Herschwanken zwischen Staatsformen, die im Westen als wesensfremd betrachtet werden, ist im islamischen Staat denkbar, da es keine Staatsform gibt, die die islamische sharia in einer besonders vollkommenen Weise umsetzt, während beispielsweise in der westlichen Welt die Demokratie, die die Grundrechte des Menschen zum obersten Seinsprinzip erhoben hat, als die bestmögliche Form eines Staates angesehen wird611. Nur ein solcher Staat kann nach westlicher Sicht als legitim bzw. als Ideal betrachtet werden, nur seine Organe handeln legal, denn nur sie agieren im Auftrag der Mehrheit des Volkes und im Rahmen der Verfassung. Zwar kennt auch die westlich-liberale Demokratie verschiedene Erscheinungsformen wie parlamentarische oder präsidiale Republiken oder konstitutionelle Monarchien, aber in ihrem Kern weisen diese Staaten fundamentale Gemeinsamkeiten auf. Im Islam dagegen ist nur die Tatsache der Aufrechterhaltung der gottgewollten Ordnung von Belang, und es gibt keine Form des Staates, die dies a priori am besten gewähren kann. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen der westlichen Staatsauffassung und Verfassungstheorie, die von den im Individuum unveräußerlich angelegten Menschenrechten ausgeht, und der islamischen Lehre vom Staat als der irdischen Einrichtung zur Verwirklichung des unveränderlichen göttlichen Gesetzes612. Ein islamischer Staat kann, wie zuvor erwähnt, als eine parlamentarische oder präsidiale Republik oder als eine konstitutionelle Monarchie mit einer Verfassung 609
Murad Hofmann, Islam, 2006, 55. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 258. 611 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 173, Rn. 1 ff. i.V. m. 164, Rn. 1; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 258 f. 612 Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 259. 610
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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organisiert und strukturiert sein und demokratische Züge aufweisen. Auch eine völkerrechtliche Union sui generis ist nicht ausgeschlossen, in der wesensfremde islamische Staaten als Mitglieder organisiert sein könnten. Er kann aber auch eine vollkommen andersartige Erscheinungsform annehmen. In diesem Zusammenhang ist islamischer Konstitutionalismus bzw. islamische Verfassungstheorie, die eine allgemeine Wahl des Staatsoberhaupts für ein zeitlich befristetes Mandat, ein Mehrparteiensystem, politischen Pluralismus, Parlamentarismus, unabhängige Gerichte sowie ein aktives und passives Wahlrecht der Frau enthält und befürwortet, zu verstehen. Dieses Staatsverständnis ist nur eine Form von verschiedenen möglichen islamischen Staatsstrukturen, die sehr stark vom westlichen Staatsverständnis beeinflusst ist und die derzeit die Zustimmung der meisten muslimischen Gelehrten findet613.
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht Der Wille des Volkes äußert sich im westlichen Staatsverständnis auf drei Arten, erstens durch die Entscheidung des Volkes bei der direkten oder indirekten Wahl des Staatsoberhauptes, zweitens bei der Wahl des Parlaments, sowie drittens bei dem Erlass einer Verfassung614. Die muslimischen Gelehrten haben vier Methoden zur Ermittlung und Legitimierung des Staatsoberhauptes im islamischen Staat identifiziert615. Diese sind erstens nas, die göttliche Nominierung und Bestimmung des Staatsoberhauptes616, zweitens baiah, die Wahl bzw. Auswahl des Staatsoberhauptes durch das Volk bzw. die Gemeinde mit anschließendem Treueschwur617, drittens al-istikhlaf, die Bestimmung des Staatsoberhauptes durch das amtierende Staatsoberhaupt618, und viertens al-ghalabah, die Erlangung der Staatsherrschaft durch Militärmacht619. Für die Schiiten ist die göttliche Nominierung des Kalifen immanent620. Sie lehnen eine Prärogative der Gemeinde, dass sie das Staatsoberhaupt selber be613
Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 265. Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 17, 53 ff. 615 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 403 ff. 616 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 403 ff.; vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 130 ff.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 155 ff. Allerdings erwähnen Karaman und Eryarsoy die göttliche Nominierung des Staatsoberhauptes in ihren Arbeiten nicht. Trotzdem kommen sie auch auf vier Bestimmungsmethoden, da sie die baiah noch zusätzlich in zwei unterschiedliche Bestimmungsmethoden unterteilen. 617 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 155 ff. 618 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 133 f. 619 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 52. 620 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 5 f. 614
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F. Islamisches Staatsrecht
stimmen kann, ab621. Dadurch aber, dass der letzte Nachfahre Ali’s, der 12. Imam, entrückt ist und erst zu gegebener Zeit zurückkehren und die gottgewollte Ordnung etablieren wird, ist die baiah, nach Meinung der Mehrheit der schiitischen Gelehrten, gegenüber tatsächlichen Herrschern solange legitim, solange diese die sharia umsetzen und anerkennen, dass sie nur als Stellvertreter des 12. Imams die Staatsmacht ausüben622. Für die Sunniten wurde nur der Prophet (s. a. w. s.) als religiöser und politischer Anführer göttlich bestimmt. Da mit ihm die göttliche Offenbarung endete, endete nach sunnitischer Meinung auch die göttliche Nominierung von politischen Herrschern623. Historisch betrachtet etablierte sich die Doktrin, dass der Wille des Volkes die Basis der Staatssouveränität sein soll, im Westen als eine Gegenreaktion zu der absoluten auf Gott gestützten Herrschaft von Königen. Im Gegensatz zu den zahlreichen Beispielen von Willkürherrschaften in der islamischen Welt gibt es aber nach herrschender sunnitischer Meinung keinen islamischen Anspruch eines göttlichen Rechts zur Herrschaft624. Kein Herrscher in der islamischen Welt kann für sich behaupten von Gott eingesetzt zu sein625. Die Vertreter dieser Meinung sind zusätzlich der Ansicht, dass der Prophet (s. a. w. s.) weder einen Nachfolger nominierte noch einen Mechanismus zur Bestimmung des Staatsoberhauptes festsetzte und dass Gott das Recht der Bestimmung des Staatsoberhauptes kollektiv der Gemeinde zugestanden hat626. Jalaluddin Suyuti schreibt, dass einige der sahaba den Propheten (s. a. w. s.) gebeten hätten einen Nachfolger zu bestimmen. Er habe dies abgelehnt, weil er nicht wollte, dass seine Gemeinde wegen Meinungsverschiedenheiten mit diesem Nachfolger und darauf basierenden Ungehorsam im Jenseits hierfür zur Rechenschaft gezogen wird627. Abgesehen davon ist und war es unter Muslimen nicht angesehen sich um ein politisches Amt zu bemühen. Der Prophet (s. a. w. s.) ernannte niemals jemanden zum Gouverneur oder Befehlshaber, der sich selbst nominiert hatte628. So wurden auch keine politischen Ansprüche und Ambitionen auf seine Nachfolge von bestimmten sahaba geltend gemacht. Es wurde akzeptiert, dass der Prophet (s. a. w. s.) diesbezüglich schwieg. Hätte der Prophet (s. a. w. s.) tatsächlich einen Nachfolger oder ein Nachfolgepro621
Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 404. Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 25 f.; Ahmad Moussavi, The Theory of Vilayat-i Faqih: Its Origin and Appearance in Shi’ite Juristic Literature, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 97–115, 108 f. 623 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 52 f. 624 Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 74. 625 Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 77 f. 626 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 25. 627 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 41. 628 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 118. 622
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zess bestimmt, so wäre dies bindend für alle Zeiten und würde zusätzlich eine erhebliche Einschränkung für den islamischen Staat bedeuten629. Indem der Prophet (s. a. w. s.) dies nicht getan hat, handelte er nach sunnitischer Ansicht konform mit der Ratio der generellen Regeln des qurans630. Daher ist es für Muslime, die ein Staatswesen entwerfen wollen, wichtig einen Mechanismus festzusetzen, mit dem das Staatsoberhaupt bestimmt wird. Dieser Mechanismus muss selbstverständlich sharia-konform sein. Dabei dient das Beispiel des früh-islamischen Staates, in welchem die gottgewollte Ordnung am idealsten verwirklicht wurde, als eine bedeutende Inspirationsquelle631. Auch in diesem Staat wurde das Staatsoberhaupt auf unterschiedliche Art und Weise bestimmt, so dass ein erheblicher Interpretationsspielraum für muslimische Juristen besteht632. Deshalb entwickelten sich im Laufe der Zeit, auch beeinflusst durch die jeweiligen politischen Gegebenheiten, hierzu viele unterschiedliche Meinungen unter den Gelehrten. Von diesen kann keine von vorne herein abgelehnt oder bevorzugt werden. 1. Wahl des Staatsoberhauptes im früh-islamischen Staat Das Staatsoberhaupt im früh-islamischen Staat wurde insgesamt fünfmal bestimmt, und keines dieser Staatsoberhäupter war jeweils mit dem Vorgänger in direkter erster Linie verwandt633. Dies ist bedeutend, da hierdurch klar wird, dass der vom Propheten (s. a. w. s.) selbst begründete früh-islamische Staat definitiv keine erbliche Monarchie war634. Der früh-islamische Staat von Medina wurde kurz nach der hidschra gegründet, er basierte auf der VM, durch die die Muslime und Nicht-Muslime den Propheten (s. a. w. s.) als Staatsoberhaupt und als einzige Schlichtungsinstanz bei Streitfällen anerkannten635. Vor dem Erlass der VM hatten bereits die konvertierten neuen Muslime aus Medina die baiah gegenüber dem Propheten (s. a. w. s.) 629 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 41. 630 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 41. 631 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 218; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 140 ff. 632 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 27 f. 633 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 249 ff. 634 Vgl. Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 172; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142. 635 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 41; vgl. Muhammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 40.
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erklärt636. Für die frühen Muslime aus Mekka war der Prophet (s. a. w. s.) seit der Verkündung der göttlichen Offenbarung bereits oberste religiöse und politische Instanz, obwohl die politischen Aktivitäten in Mekka nur sehr begrenzt waren. Dort wurden die Muslime zwar mit Anwachsen der Gemeinde, zu einer immer stärker werdenden politischen Kraft, vor der sich die Herrscherelite in Mekka immer mehr fürchtete, aber erst mit der Migration von Mekka nach Medina entfalteten die Muslime ihre gesamte politische Macht637. Einige Staatsoberhäupter wurden in den islamischen Nachfolgestaaten auf ähnliche Weise gewählt. Aber nach einhelliger Meinung wurde das Ideal der Bestimmung des Staatsoberhauptes nie wieder wie im früh-islamischen Staat verwirklicht638. Insbesondere während der Herrschaftsperiode der vier rechtgeleiteten Kalifen (632–661) wurden verschiedene, aber sharia-konforme Wahlmethoden angewandt639. In den meisten Fällen wurde die erste Wahl, welche von einem kleinen repräsentativen Kreis von Persönlichkeiten durchgeführt wurde und auch einen Treueid enthielt, durch die gesamte muslimische Gemeinde anerkannt640. Nur bei der Wahl des letzten rechtgeleiteten Kalifen Ali gab es starke den Staat zersetzende Uneinigkeiten641. Die verschiedenen Wahlmechanismen hatten zahlreiche Gemeinsamkeiten, z. B. die Wahl des fähigsten Kandidaten durch interne Selektion und Nominierung sowie anschließender privater sowie öffentlicher baiah642. Die Grundbasis dieser Wahlmechanismen war republikanisch, obwohl das Mehrheitsprinzip, nicht ausdrücklich ausgeschlossen, nicht immer befolgt wurde. a) Wahl des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen Der Prophet (s. a. w. s.) wurde als Staatsoberhaupt der Muslime durch Wahl bzw. baiah bestimmt643. Hierbei muss allerdings noch einmal festgehalten werden, dass der Prophet (s. a. w. s.) für die frühen Muslime bereits ab Verkündung der Offenbarung oberste religiöse und politische Instanz und somit göttlich be636 Vgl. Abu al-Fida Imad al-Din Isma’il b. Umar b. Kathir (nachfolgend Ibn Kathir), The Life of the Prophet, Vol. II, 14. Jahrhundert, 129 ff., 140 ff.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 33 ff. 637 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 162. 638 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142. 639 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 416 ff. 640 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 8. 641 Vgl. Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig ˘ in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 157; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 204 ff.; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 132 ff. 642 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42. 643 Vgl. Murad Hofmann, Islam, 2006, 69 f.
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stimmt worden war. Mit der Gründung des früh-islamischen Staates von Medina übernahm der Prophet (s. a. w. s.) auch die politische Autorität in einem staatlichen Gebilde644. Vorher war der Prophet (s. a. w. s.) der Anführer der Gemeinde in Mekka. Diese war nicht nur spiritueller Zusammenschluss von Gläubigen, sondern auch eine potentiell ernstzunehmende politische Kraft innerhalb des Staatsgefüges von Mekka645. Zu diesem Zeitpunkt aber agierte die frühe muslimische Gemeinde eher unpolitisch und konzentrierte sich auf die Verbreitung des Glaubens646. Die baiah wurde bei der Bestimmung der vier rechtgeleiteten Kalifen unterschiedlich durchgeführt647. Daher ist es wichtig diese Art der Wahl näher zu analysieren, um mögliche demokratische Elemente herauszuarbeiten. Historisch betrachtet fanden die baiahs der vier rechtgeleiteten Kalifen in den Jahren 632, 634, 644 und 656 statt648. In jeder dieser baiahs haben ausgewählte Persönlichkeiten der muslimischen Gemeinde in Medina über mögliche Kandidaten gesprochen, eine Entscheidung zu Gunsten eines der potentiellen Kandidaten gefällt und anschließend in der Moschee ihre baiah dem Kalifen gegenüber proklamiert649. Diese frühe Praxis der sahaba inspirierte spätere juristische Werke, die sich der Wahl und Findung des geeigneten Herrschers sowie dessen Verhältnis zu der islamischen Gemeinde widmeten650. aa) Prophet Muhammad (s. a. w. s.) Kurz nach der hidschra empfing der Prophet (s. a. w. s.) in al-‘Aqaba, Mekka dreiundsiebzig Männer und zwei Frauen aus Medina, die den Islam als Religion angenommen hatten651. Sie proklamierten ihm gegenüber die baiah652. Der Prophet (s. a. w. s.) verlangte von ihnen, dass sie zwölf Führer (naqib) aus ihrer Gruppe zu ihren Vertretern bestimmten653. Er bestimmte einen, As-‘ad bin Za644 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 42 f.; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 163. 645 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 162. 646 Vgl. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 26 ff. 647 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 121 f. 648 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 25. 649 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 52. 650 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 9. 651 Ibn Kathir, The Life of the Prophet, Vol. II, 14. Jahrhundert, 140. 652 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 462. 653 Vgl. Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 96; Salah E. Humodi, Das Islamische Staatswesen – Studien zur politischen Struktur zur Zeit Muhammads, 1983, 57 f.; vgl. Ibn Kathir, The Life of the Prophet, Vol. II, 14. Jahrhundert, 135.
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rara, als den Vorsitzenden dieser zwölf gewählten Führer654. Diese Vorgehensweise des Propheten (s. a. w. s.) wird von den muslimischen Juristen als Vorbereitung zur Gründung der staatlichen Herrschaft in Medina betrachtet, da die zwölf gewählten Führer aus Medina die Interessen der Muslime dort vertreten sollten, gleichzeitig aber auch den Propheten (s. a. w. s.) als Oberhaupt anerkannten, da er den Vorsitzenden dieser zwölf gewählten Führer bestimmt hatte und ihm gegenüber die baiah proklamiert worden war655. Mit dem Erlass der VM erkannten auch Nicht-Muslime, Juden, Christen und heidnische Araber, den Propheten (s. a. w. s.) als Staatsoberhaupt in Medina an656. Bedeutend ist hierbei, dass Medina zu diesem Zeitpunkt insgesamt ungefähr 10.000 Einwohner hatte und die Muslime davon nur einen geringen Teil ausmachten657. Der Wahlprozess des Propheten (s. a. w. s.) zum politischen Oberhaupt kann daher grob in drei Abschnitte unterteilt werden: erstens in den Abschnitt der mekkanischen Phase bis zu dem Zeitpunkt kurz nach der hidschra, wo die frühen Muslime den Propheten (s. a. w. s.) als einzige, durch Gott selbst auserwählte religiöse und politische Instanz anerkannt hatten; zweitens in die Phase kurz nach der Migration von Mekka nach Medina, wo die aus Medina stammenden neuen Muslime die baiah gegenüber dem Propheten erklärten und ihn als oberste politische und religiöse Instanz akzeptierten; drittens in den Abschnitt nach dem Erlass der VM, wo auch Nicht-Muslime den Propheten (s. a. w. s.) als politisches Oberhaupt anerkannten. Ab diesem Zeitpunkt war der Prophet (s. a. w. s.) das Staatsoberhaupt in dem Stadtstaat von Medina. bb) Kalif Abu Bakr Nach dem Tod des Propheten (s. a. w. s.) formten die Muslime in Medina verschiedene politische Gruppierungen wie die Ansar658, Muhajirin659 und Banu Hashim. Alle Gruppen hatten anerkannte und respektierte Führungspersönlichkeiten660. Die Ansar wurden von S’ad ibn Ubadah angeführt, die Muhajirin un-
654 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 462. 655 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 96. 656 Vgl. Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 84 ff.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40 f. 657 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 98. 658 Helfer aus Medina. 659 Immigranten aus Mekka. 660 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 145 f.; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 469.
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terstützten Abu Bakr bzw. Umar als das neue Staatsoberhaupt, während die Banu Hashim hinter Ali standen661. Die Ansar beanspruchten die Herrschaft, weil sie den Großteil der muslimischen Streitkräfte stellten und den Grossteil der muslimischen Bevölkerung ausmachten662. Sie schlugen sogar eine Alternative vor, in der die Staatsherrschaft zweigeteilt werden sollte wobei sie als diejenigen, die den Islam als erste angenommen hatten, auch befugt sein sollten, die politische Führung zu stellen663. Die Muhajirin standen für die muslimische Einheit und erklärten, dass die arabischen Stämme nur die Führung durch einen aus dem Stamm des Propheten (s. a. w. s.), den Quraysh, anerkennen würden664. Der Anspruch der Banu Hashim basierte auf der engen Verbindung mit der Familie des Propheten (s. a. w. s.)665. Die Gruppen, mit Ausnahme der Banu Hashim, versammelten sich in dem Versammlungsort Banu Sa’adah und begannen politische Debatten zu führen666. Abu Bakr, der mit Umar und Abu Ubayda zu dieser Versammlung gekommen war, schlug im Rahmen dieser Diskussionen Umar oder Abu Ubayda als Staatsoberhaupt vor und erklärte, dass einer von diesen beiden Kalif werden sollte667. Beide lehnten diese Nominierung ab668. Letztendlich schlug Umar Abu Bakr als Kalif vor und bat diesen seine Hand zu heben, was Abu Bakr tat und hierdurch seine Annahme der Nominierung erklärte669. S’ad ibn Ubadah, Abu Ubayda und Umar erkannten Abu Bakr als Kalif an670. Die anwesenden Muhajirin und Ansar
661 Vgl. Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ebubekir, 2003, 82 ff.; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 70 f.; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 70. 662 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 126. 663 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 127. 664 Vgl. Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ebubekir, 2003, 82; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 69 f. 665 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42. 666 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 146 f.; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 126 f.; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 68 ff. 667 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 128; M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 145 f.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 130. 668 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 128; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 76. 669 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 416; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42. 670 Vgl. Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ebubekir, 2003, 83; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 70.
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proklamierten daraufhin ihre baiah gegenüber Abu Bakr671. Die nichtanwesenden Banu Hashim und Ali folgten später diesem Beispiel672. Dieser privaten baiah folgte eine öffentliche baiah in der Moschee durch die Massen673. Hervorgehoben werden sollte, dass weder die Ansar noch die Muhajirin bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche auf den quran oder den Propheten (s. a. w. s.) beriefen674. Die Debatten während der Konferenz suchten, unter Wahrung des Dialoges, einen politischen Konsens durch Konsultationen675. cc) Kalif Umar Als Abu Bakr erkrankte und sein Tod absehbar wurde, baten ihn führende sahaba als Stellvertreter der Gemeinde, ihn einen Nachfolger für sich zu bestimmen676. Dies war wegen der andauernden militärischen Konflikte mit dem Byzantinischen und dem Persischen Reich zu dieser Zeit naheliegend677. Die Gefahr, dass der früh-islamische Staat ohne Führung dastehen oder in Nachfolgestreitigkeiten verwickelt und somit außenpolitisch geschwächt werden könnte, sollte durch eine schnelle Bestimmung der Nachfolge verhindert werden678. Nachdem sich Abu Bakr mit wichtigen sahaba beraten hatte, kam er zu dem Entschluss, dass Umar nach seinem Tod Kalif werden sollte, und wählte diesen zu seinem Nachfolger679. Dabei liess er sich aber auch explizit versichern, dass die Gemeinde diese Handlung von ihm wünschte680. Um seine Entscheidung schriftlich zu fixieren bat er Uthman zu ihm zu kommen und den Namen des von 671 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42. 672 Vgl. Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 128 f. 673 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 70 f.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 76. 674 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42. 675 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 146 f. 676 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 417; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 89 f.; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 72; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 71 f. 677 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 417. 678 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 417; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 89. 679 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 90; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 131; Abdul Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 93; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 470. 680 Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ömer, 2003, 86; Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ebubekir, 2003, 125.
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ihm designierten Nachfolgers aufzuschreiben681. Einige Überlieferungen behaupten, dass Abu Bakr kurz vor dem Aufschreiben des Namens ohnmächtig geworden sei und Uthman den Namen von Umar trotzdem eigenhändig aufgeschrieben habe682. Nachdem Abu Bakr zu sich gekommen sei, soll Uthman ihm den Zettel mit dem Namen von Umar gezeigt haben, und Abu Bakr soll damit einverstanden gewesen sein683. Später soll Abu Bakr vom Fenster seines Wohnortes seine Entscheidung verkündet und dabei gleichzeitig vom Volk verlangt haben Umar gegenüber die baiah zu erklären684. Uthman wurde später zusätzlich damit beauftragt die Entscheidung Abu Bakr’s öffentlich zu verkünden und den Namen auf dem Zettel vor der versammelten Gemeinde vorzulesen685. Nach der öffentlichen Verkündung erklärte die Gemeinde sich mit Umar als Staatsoberhaupt einverstanden686. Diese Bestimmung des Nachfolgers wurde durch die Menschen von Medina durch ein Referendum mit anschließender öffentlicher baiah akzeptiert und legitimiert687. dd) Kalif Uthman Nach einem Attentat auf Umar, das schwere körperliche Verletzungen zur Folge hatte, bestimmte Umar einen Rat bestehend aus sechs potentiellen Nachfolgern, die aus ihrer Mitte den Kalifen wählen sollten688. Hierbei reagierte Umar aber auch auf sozio-politische Umstände seiner Zeit, da viele sahaba im mittlerweile riesigen Reich verstreut waren. Dieser Rat bestand aus Ali, Uthman, Abdur Rahman ibn Avf, Sa’d ibn Abu Vakkas, Zubair ibn al-Avvam und Talhah ibn Ubaydullah689. Umar bestimmte zusätzlich, dass sein Sohn Abdullah im Falle einer Pattsituation die entscheidende Stimme abgeben sollte690. Er schloss jedoch 681 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 90; vgl. Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 72. 682 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 147 f.; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 130 f.; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 72; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 90. 683 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 130 f.; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 90. 684 Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig ˘ in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 72 f. 685 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 417. 686 Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ömer, 2003, 86. 687 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42. 688 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in: Islamic Law, in Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 469; Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 113. 689 Ahmet Emin Temiz, Hazreti Osman, 2003, 50. 690 Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ömer, 2003, 136; M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 149; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 418; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 112.
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explizit aus, dass sein Sohn Abdullah sein Nachfolger werden sollte691. Für die Bestimmung des Kalifen gewährte Umar diesem Rat drei Tage692. Innerhalb dieser Frist sollte eine Entscheidung gefällt werden. Sa’d ibn Abu Vakkas, Zubair ibn al-Avvam und Talhah ibn Ubaydullah zogen ihre Kandidaturen zurück und erklärten, dass sie nicht Kalif werden wollten693. Sa’d ibn Abu Vakkas gab seine Stimme Abdur Rahman ibn Avf, Zubair ibn alAvvam gab seine Stimme Ali und Talhah ibn Ubaydullah gab seine Stimme Uthman694. Im Rahmen dieser Pattsituation erklärte Abdur Rahman ibn Avf, dass er ebenfalls nicht mehr für das Amt des Kalifen zur Verfügung stehe, und bot an die Meinung des Volkes zu ermitteln sowie dann seine Stimme abzugeben695. Der Rat befolgte diesen Vorschlag und autorisierte Abdur Rahman ibn Avf entweder Ali oder Uthman als Nachfolger Umars zu bestimmen696. Abdur Rahman ibn Avf konsultierte vor seiner Entscheidung viele Muslime in Medina697. Hierbei befragte er Bürger Medinas einschließlich Frauen, Studenten, Kaufleute sowie Muslime aus anderen Städten, die sich zu dem Zeitpunkt in Medina aufhielten698. Die Mehrheit der Befragten unterstützte Uthman als Nachfolger699. Abdur Rahman ibn Avf befragte auch Ali und Uthman, wie sie bei einer Wahl zum Kalifen herrschen würden700. Vor seiner Entscheidung nahm Abdur Rahman ibn Avf beiden potentiellen Kandidaten das Versprechen ab, den von ihm ausgewählten Nachfolger zu akzeptieren und ihm Gefolgschaft zu leisten701. Letztendlich entschied sich Abdur Rahman ibn Avf für Uthman, welcher auch zum Kalifen gewählt wurde702. Später verkündete der Rest der muslimischen Gemeinde in Medina die baiah gegenüber Uthman 703. 691 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 102. 692 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 149. 693 Vgl. Ahmet Emin Temiz, Hazreti Osman, 2008, 52; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 104. 694 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 150; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 157. 695 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 104; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 418; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 150. 696 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 43. 697 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 150. 698 Vgl. Ahmet Emin Temiz, Hazreti Osman, 2003, 52 f.; Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 131 f.; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 104. 699 Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 131 f. 700 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 43. 701 Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig ˘ in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 157; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 150. 702 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 418.
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ee) Kalif Ali Nachdem Uthman im Rahmen eines Aufstandes getötet wurde, versammelten sich die Aufständischen im Haus von Ali und verlangten von ihm das Amt des Kalifen zu übernehmen704. Der Onkel des Propheten (s. a. w. s.) Abbas unterstützte Ali als alleinigen Nachfolgekandidaten705. Ali lehnte jedoch die baiah dieser Gruppierung ab und verlangte, dass, wenn die muslimische Gemeinde ihm gegenüber die baiah verkünden wolle, dies öffentlich vom Volk in der Moschee des Propheten (s. a. w. s.) geschehen sollte706. Nur eine öffentliche baiah der sahaba erkannte er als legitim an707. Während die Ansar und die Muhajirin und deren Anführer in Medina sowie ein Großteil der Bevölkerung Ägyptens ihm gegenüber die baiah verkündeten, weigerten sich Mu’awiya, ein Neffe des getöteten Uthman und Statthalter Syriens, sowie ein Großteil der syrischen Bevölkerung und führende sahaba wie Zubair ibn al-Avvam und Talhah ibn Ubaydullah ihm gegenüber die baiah zu erklären708. Die letzteren, die in Medina anwesend waren, sollen ihre baiah gegen ihren Willen und unter Zwang abgegeben haben709. Jedenfalls schlossen sie sich später den Gegnern Ali’s an710. Die Ablehnung der baiah gegenüber Ali geschah aber nicht aus dem Grund, dass diese oppositionellen Kräfte Ali als Staatsoberhaupt an sich ablehnten, sondern sie geschah aufgrund der Politik Ali’s die Aufständischen nicht sofort und hart zu bestrafen711. Dieser Umstand führte zum ersten inner-islamischen Bürgerkrieg712. In der Schlacht von Cemel besiegte Ali die gegnerischen Kräfte und konsolidierte seine Herrschaft713. Nachdem er einen Friedensvertrag mit Mu’awiya eingegangen war, in dem dieser ihn als Kalif anerkannte, er aber dafür auch Mu’awiya gegenüber Zugeständnisse gemacht hatte, betrachteten ihn einige seiner eigenen Anhänger als Verräter, da er nach ihrer Ansicht einen islamisch nicht zu rechtferti703 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–50, 43; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 418. 704 Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig ˘ in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 206 f. 705 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 43. 706 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 112 f.: Abdel Shafi M. Latif, Rise of Islam, 2003, 138. 707 Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 33. 708 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 418 f. 709 Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig ˘ in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 207; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 419; vgl. M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 151. 710 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 419. 711 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 152 f.; Haydar Bas¸, Imam Ali, 2010, 604 f., 607 f. 712 Vgl. Irfan Aycan, Saltanata giden yolda Muaviye bin Ebi Sufyan, 1990, 132 f. 713 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 113 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 419.
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genden Kompromiss eingegangen war, und ließen ihn ermorden714. Der Bürgerkrieg brach erneut aus, und Mu’awiya und sein Sohn Yazid setzten sich letztlich gegen die Söhne Ali’s durch715. Dies führte zur endgültigen Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten716. b) Zusammenfassung Die Bestimmung des Staatsoberhauptes im früh-islamischen Staat war nicht einheitlich. Während der Prophet (s. a. w. s.) erst nach einem längeren Zeitraum und einer sozio-politischen Entwicklung zum Staatsoberhaupt gewählt wurde, geschah die Wahl der rechtgeleiteten Kalifen unmittelbar mit dem Ableben der Vorgänger, entweder durch einen kleinen Zirkel oder durch die gesamte Gemeinde. Die angewandten Bestimmungsmethoden waren schon damals nicht verbindlich. In der Gesamtbetrachtung stellen sie für diese Zeit eine effiziente sowie problemorientierte Herangehensweise dar. Sie sind weder statisch noch müssen sie in dieser Weise zwingend kopiert werden. Hierdurch wird die zielorientierte, flexibele Pragmatik deutlich, mit der im früh-islamischen Staat das Staatsoberhaupt bestimmt wurde. 2. Abstrakte Analyse der Wahl des Staatsoberhauptes Die Wahl des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen zum Staatsoberhaupt war unterschiedlich, wies aber trotzdem Gemeinsamkeiten auf. Muslimische Juristen versuchten über die Jahrhunderte hinweg die Wahlvorgänge im früh-islamischen Staat sowie ihre rechtliche Bedeutung und Qualifikation zu abstrahieren bzw. zu ermitteln, um hieraus verbindliche Kriterien für die Bestimmung des Staatsoberhauptes in dem jeweiligen Staat, in dem sie lebten, abzuleiten717. Dabei unterscheiden sich die Meinungen von historischen sowie neuzeitlichen muslimischen Rechtsgelehrten teilweise stark voneinander, aber auch zur gleichen Zeit entstandene Werke weisen große Differenzen untereinander auf. Die Interpretationen stellen von Juristen aufgestellte ijtihad-Meinungen dar und sind daher nicht verbindlich. Nachfolgend wird die Gliederung und teilweise die Argumentationsstruktur von Fathi Osman’s Beitrag „The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State: Bai’at al-Imam“ in Mumtaz Ahmad’s Sammelwek „State Politics and Islam“ übernommen718. Dieser Gliederungsan714 Vgl. Irfan Aycan, Saltanata giden yolda Muaviye bin Ebi Sufyan, 1990, 132 f.; Haydar Bas¸, Imam Ali, 2010, 686, 693 f. 715 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 196 f. 716 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 197 f. 717 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 5 ff. 718 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87.
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satz findet sich – teilweise mit Variationen – in vielen anderen und frühreren Werken wieder. a) Die Wahl des Kalifen durch das Volk: baiah Der politische Prozess, durch den das Staatsoberhaupt im islamischen Staatsrecht bestimmt wird, wird baiah genannt719. Der Ursprung des Wortes baiah ist bai, übersetzt bedeutet dies verkaufen720. Diese Sprachwurzel impliziert, auch bei der politischen baiah, einen Vertrag zwischen einer Person, die ein Angebot macht, und einer Person, die das Angebot annimmt721. Im Zusammenhang mit der Bestimmung des Staatsoberhauptes ist baiah die Handlung, durch die die Wahl, die Akzeptanz und die Treue gegenüber dem potentiellen Herrscher verkündet wird722. Baiah im politischen Sinne findet statt, wenn ein oder mehrere Individuen einen potentiellen Kandidaten darüber informieren, dass sie seinen Anspruch auf die politische Führung anerkennen, ihn somit zum Staatsoberhaupt wählen und ihm gegenüber Unterstützung sowie Treue erklären723. In der Vergangenheit wurde dies üblicherweise dadurch getan, dass der potentielle Anführer persönlich aufgesucht wurde, ihm von Angesicht zu Angesicht die Hand geschüttelt und Treue geschworen wurde, genau wie es traditionell bei Kaufverträgen üblich war724. Die baiah ist nur gültig, wenn sie vom potentiellen Anführer akzeptiert wird und er durch seine Annahme auch bereit ist, die Pflichten, die sich aus diesem Amt ergeben, zu übernehmen725. Wenn die Mehrheit des Volkes bzw. dessen Repräsentanten ihre baiah gegenüber einem potentiellen Anführer proklamieren, übernimmt dieser die Position des Staatsoberhauptes726. Die baiah begründet zwischen Staatsoberhaupt und Volk gegenseitige Verpflichtungen727. Daher haben viele muslimische Gelehrte die baiah, lange vor Rousseaus Theorien, als einen kollektiven Sozialvertrag identifiziert
719 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 166 f.; Muhammad Ali AlHashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 77. 720 Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 40; M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 221. 721 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 412; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 52. 722 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 221. 723 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 221; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 51 f. 724 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 167; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 8. 725 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 52; Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 2000, 6. 726 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 228. 727 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 412.
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und als solchen interpretiert728. Historisch wurde das Volk bei der „baiah“ von ausgewählten Persönlichkeiten repräsentiert729. Nach h. M. ist es eine kollektive Pflicht aller Muslime, den Kalifen zu bestimmen730. Daher üben diese ausgewählten Persönlichkeiten ihre Handlungen im Namen des Volkes aus731. Al-Ghazali erklärte schon im 11. Jahrhundert, dass die Legitimierung der Spitze der staatlichen Gewalt nur durch die Wahl der umma Rechtsgültigkeit erhalten könne. Er schrieb diesbezüglich: „Wenn Abu Bakr niemand anders als Omar die Huldigung erwiesen hätte und alle übrigen Muslime dieses abgewiesen hätten oder wenn sie in gleich starken Fraktionen gespalten gewesen wären, ohne dass es einen Sieg über einen Verlierer gegeben hätte – das heißt, ohne die erkennbare Mehrheit –, so wäre die Einsetzung Abu Bakrs als Imam nicht gültig gewesen“ 732.
Umar, der zweite rechtgeleitete Kalif, erklärte diesbezüglich: „Wer einem Mann ohne Beratung (maswara, shura) der Muslime die Huldigung (baiah) erweist, der hat keine Huldigung geleistet, noch hat derjenige, dem er sie erwiesen hat, die Huldigung empfangen“ 733.
Imam Ahamad ibn Hanbal, der Begründer der hanbalitischen Rechtsschule, stellte in diesem Zusammenhang folgende rhetorische Frage: „Weißt du, wer der Imam ist? Der Imam ist derjenige, über den alle Muslime Übereinstimmung gefunden haben. Dieser ist der Imam“ 734. Die baiah umfasste alle Teile der islamischen Gesellschaft735. Frauen schickten z. B. repräsentative Delegationen zum Propheten (s. a. w. s.), um ihn über ihre Unterstützung und Treue zu informieren736. Historisch betrachtet bestand der politische baiah-Prozess aus zwei Phasen737. In der ersten Phase wurden wichtige Individuen, die in der islamischen Rechts728 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 412; vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26. 729 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 8; Bernard Lewis (Hrsg.), Islam: From Muhammad to the Capture of Constantinople Volume I: Politics and War, 1987, 174 ff. 730 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 126 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 394 ff. 731 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 156 ff.; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 52. 732 Vgl. Andreas Meier (Hrsg.), Der Politische Auftrag des Islam – Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen, 1994, 507. 733 Vgl. Andreas Meier (Hrsg.), Der Politische Auftrag des Islam – Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen, 1994, 507. 734 Vgl. Andreas Meier (Hrsg.), Der Politische Auftrag des Islam – Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen, 1994, 507. 735 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 77. 736 Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 46. 737 Vgl. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 76.
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sprache als ahl al-hall wa a’l ‘aqd, diejenigen, die einen Vertrag binden und lösen können, beschrieben werden, in extensive Konsultationen involviert738. Bei diesen Konsultationen fanden die ahl al-hal wa’l ’aqd einen Konsens über den potentiellen Kalifen und erklärten ihm gegenüber die baiah739. Diese interne Wahl ist vergleichbar mit einer Nominierung im modernen Sinne, in der ein potentieller Kandidat für den Posten des Staatsoberhauptes vorgeschlagen wird740. Allerdings ist diese baiah durch die ahl al-hall wa a’l ‘aqd wesentlich bindender als die bloße Aufstellung eines Wahlkandidaten741. In der zweiten Phase verkündete dann die Öffentlichkeit, das Volk seine baiah gegenüber dem Kandidaten742. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die baiah nicht nur eine Wahl und ein Treue- und Gehorsamsversprechen gegenüber einem potentiellen Staatsoberhaupt ist743. Baiah beinhaltet gleichzeitig die Anerkennung der Allmacht Gottes und seiner Gesetze744. Denn die baiah wird eigentlich gegenüber Gott erklärt, der Kalif bzw. das Staatsoberhaupt ist nur dessen Stellvertreter745. Daher beinhaltet sie auch ein Versprechen, das Gott verkündet und in dem erklärt wird, dass der baiah Leistende Gott gehorchen und nach dessen Gesetzen leben wird746. So heißt es im quran: „Wahrlich diejenigen, die dir huldigen, sie huldigen in der Tat nur Allah. Allah ist über ihren Händen. Und wer daher den Eid bricht, bricht ihn zu seinem eigenen Schaden; dem, der das hält, wozu er sich Allah gegenüber verpflichtet hat, wird Er einen gewaltigen Lohn geben.“ 747
aa) Baiah in rechtlicher Tradition Muslimische Rechtsgelehrte und Juristen betrachteten im Rahmen der Entwicklung der fiqh die baiah, die gegenüber den vier rechtgeleiteten Kalifen erklärt wurde, als einen einfachen Vertrag zwischen zwei Parteien mit gegenseiti738 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 8; M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 155; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 413; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146. 739 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 51. 740 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 415. 741 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 2000, 15; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 157 f. 742 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 42; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 51. 743 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 224. 744 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 223. 745 Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 82 f. 746 Vgl. Abu Hamza Al-Masri, Allah’s Governance on Earth, 2001, 130 ff. 747 Quran 48:10.
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gen Verpflichtungen748. Insbesondere die Sunniten, die den schiitischen Glauben, dass der Prophet (s. a.w.s) Ali zu seinem politischen Nachfolger nominiert und dessen Nachfahren als sukzessive Imame nach seinem Tode bestimmt haben soll, ablehnen, vertraten diese Ansicht749. In ihren Argumenten gegen den schiitischen Anspruch haben sunnitische Theologen und Juristen hervorgehoben, dass die Ernennung des Imams eine Prärogative der umma (ikhktiyar al-ummah) sei und daher eine göttliche Nominierung, wie sie von schiitischen Gelehrten formuliert wurde, nicht vorliege750. Die Frage der rechtmäßigen Bestimmung des Imams bildete einen wichtigen Teil von theologischen und juristischen Werken751. Es entwickelten sich diesbezüglich teilweise stark unterschiedliche islamische Doktrinen. Sunnitische, schiitische und kharijitische Ansichten, die auch innerhalb ihrer eigenen Schule variierten, wichen voneinander ab, weil die Gelehrten aus den verschiedenen Strömungen und Rechtsschulen des Islams unterschiedliche Meinungen zur Bestimmung des Imams bzw. des Kalifen vertraten752. Sunnitische Gelehrte kritisierten in ihren Arbeiten die schiitische Doktrin der göttlichen Nominierung der Imame753. Die Werke von al-Baqillani und Ibn Teymiye sind hierfür charakteristisch754. Nach einer langen Widerlegung der schiitischen Doktrin kommen sie durchweg zu dem Ergebnis, dass das Staatsoberhaupt Inhaber dieses Amtes nur aufgrund eines Vertrages mit der Gemeinde sei755. Nach diesen Ansichten kann ein Kalif bzw. ein Imam lediglich durch die Wahl des Volkes seine Stellung legitimieren. Andere Rechtsgelehrte vertraten die Ansicht, dass schon die Existenz des Rechtsinstituts des Konsenses bzw. der Konsensfindung bei Rechtsfragen (ijma) indiziere, dass es das Recht, aber auch die 748 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 15 ff.; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 166; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 412. 749 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26. 750 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 412; Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 118. 751 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 117 f. 752 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 53. 753 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 403 ff.; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1980, 44 ff.; Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 19; vgl. Majid Khadduri, The Islamic Conception of Justice, 1984, 133. 754 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 52; Ibn Taymiyya, The Madinian Way, 13.–14. Jahrhundert, 8 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 405 f.; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1980, 44 ff.; Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 19. 755 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 53; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 406 ff.
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Pflicht des Volkes sei, durch eine Konsensualentscheidung den Kalifen zu bestimmen756. Al-Ijy schrieb, dass das Kalifat mit seinen Rechten und Pflichten an sich dem ganzen Volk zusteht757. Dieser Ansicht vertrat auch Maududi758. Folglich ist derjenige, der dieses Amt ausübt, gleichzeitig ein Vertreter des gesamten Volkes. Die Bezeichnung „der Vertrag zur Bestimmung des Imams“ (aqd al-imamh) wurde häufig von sunnitischen Theologen und Juristen verwendet759. Diese Form der Bestimmung des Kalifen ist das Resultat eines sogenannten ma’qud lahu Vertrages, welcher keine metaphysischen oder theologischen Privilegien gewährt760. Insbesondere kann der Vertrag aufgelöst werden, wenn diejenige Person, die zum Kalifen bestimmt wird, die essentiellen Qualifikationen für diese Position verliert761. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen sunnitischen und schiitischen Auffassungen können heute allerdings dahinstehen, da mit dem Verschwinden des nach schiitischer Ansicht letzten göttlich nominierten Imams die Ithna ‘ashri und die Ja’fari, die einen Großteil der Schiiten ausmachen, die Praxis akzeptiert haben, dass ein Stellvertreter des Imams, in Übereinstimmung mit dem islamischen Recht, bis zu dessen Rückkehr auch durch das Volk gewählt werden kann762. Dies zeigt, dass die Mehrheit der muslimischen Gelehrten, Schiiten wie Sunniten, in ihren Werken den öffentlichen Vertrag zur Bestimmung des Staatsoberhauptes herausgearbeitet bzw. als islamisches Prinzip hergeleitet haben. Dieser öffentliche Vertrag wird praktisch durch eine Wahl verwirklicht. Muslimische Juristen erklären in ihren Werken, dass der Kalif Vermittler und Repräsentant des Volkes ist, welches ihn wiederum unterstützen, ihn aber auch an seine Pflichten und Verantwortungen erinnern und ihn sogar auf den richtigen Weg weisen 756
Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 396, 398. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 396, 398. 758 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 235. 759 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 53. 760 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 53. 761 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 2000, 17 f.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 78; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 139 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 428; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 59 f.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 253. 762 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 57 f.; vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 249 f.; Art. 107 ff., 114 ff. Iranische Verfassung; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 499. 757
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muss763. Wenn der Kalif an einer Handlung, die islamisch nicht zu rechtfertigen ist, festhält, hat das Volk als ultima ratio das Recht ihn abzusetzen und ihn durch einen anderen geeigneteren Kandidaten zu ersetzen. Die Charakterisierung des Kalifats als ein öffentliches Amt ist in vielen theologischen und juristischen Werken wiederzufinden764. Seit der Bestimmung des ersten rechtgeleiteten Kalifen Abu Bakr und seiner ersten öffentlichen Rede als Kalif ist dieses Prinzip klar formuliert. Er sagte: „Ich wurde zu eurem Anführer bestimmt, und ich bin nicht der beste unter euch. Wenn ihr seht, dass ich dem richtigen Weg folge, so unterstützt mich. Tue ich dies nicht, so korrigiert mich . . . Folgt mir, solange ich Gott dem Allmächtigen folge, wenn ich ihm nicht mehr folge, so seid ihr mir nicht mehr zur Gefolgschaft verpflichtet . . .“ 765.
Die Rede des ersten Kalifen impliziert, dass das Staatsoberhaupt verpflichtet ist die Lehren des Islams zu befolgen, dass er gewählt wird, dass er vom Volk beobachtet und gegebenenfalls bei seinen Handlungen durch dieses korrigiert sowie kontrolliert wird766. bb) Die juristische Qualifikation des baiah-Vertrages Islamische Jurisprudenz, usul al-fiqh, unterscheidet zwischen unbedingten Geboten und unbedingten Verboten sowie zwischen den Rechten Gottes (haqq- Allah) und den Rechten der Menschen (haqq al-‘ibad)767. Die Rechte Gottes beziehen sich auf alles, was vorteilhaft für die gesamte Gemeinde ist, und sind daher nicht nur relevant für ein Individuum oder eine spezielle Gruppe768. Sie gelten für alle Muslime bzw. alle Menschen769. Hieraus leiten heutige muslimische Rechtsgelehrte die Regel ab, dass die Rechte Gottes auch das öffentliche Interesse und das Wohl der Gemeinschaft beinhalten770. Selbstverständlich können die Rechte Gottes nicht explizit von Normen, die die Rechte von Individuen re763 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 428 ff., 434 ff.; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 57 f.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 183 ff., 260 ff., 267 ff.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 77, 78 ff.; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 40. 764 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 54. 765 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 131; Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 125; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 40. 766 Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 74; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 49 f. 767 Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 59. 768 Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 60. 769 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 56. 770 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 294.
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gulieren, getrennt werden, da Individualrechte, die durch göttliches Recht gewährleistet werden, im besonderen Maße zu beachten sind771. Eine weitere Kategorie innerhalb dieser Einteilung sind die Regeln, die jeweils die Rechte Gottes und die Rechte der Menschen enthalten772. Hierzu gehört insbesondere dass islamische Strafrecht mit seinen Haddstrafen773. Der Vertrag zur Legitimierung des Staatsoberhauptes fällt in diese letzte Kategorie774. Der Imam bzw. der Kalif wird in einigen hadithen und juristischen Texten als Gottes Stellvertreter charakterisiert, der sich um die islamische Gemeinde kümmert775. Dies soll in diesem Zusammenhang allerdings nur als eine Hervorhebung der Verantwortlichkeit der Staatsgewalt gegenüber Gott verstanden werden, ohne jegliche theokratische Privilegien776. Im quran wird der Terminus baiah für das Versprechen, das die frühen Muslime dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) gegeben haben, verwendet777. In diesem Versprechen erklärten die Muslime, dass sie die theologischen Lehren des Islams befolgen, das islamische Recht beachten und dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) Gefolgschaft leisten würden778. Dies geschah, indem die Gläubigen ihre Hände in die Hand des Propheten (s. a. w. s.) legten779. Ibn Khaldun schrieb diesbezüglich: „. . . while promising obedience, they put their hands in his hand, something which was similar to the act of the seller and the buyer“ 780. Ibn Khaldun betrachtete die baiah als ein öffentliches Versprechen des Volkes der Staatsautorität zu folgen781. Baiah repräsentiert somit den Transfer der öffentlichen Gewalt an die Staatsautorität und die Pflicht sowie das Versprechen der Staatsautorität, das islamische Recht zu achten und die Erwartungen des Volkes zu erfüllen. Sinngemäß beinhaltet das Verb baiah eine Handlung von zwei Parteien, welche gegenseitige Verpflichtungen begründet782. Abu Yala schrieb in diesem Sinne, dass nicht nur die Verpflichtung der Beherrschten zu Gehorsam 771
Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 61. Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 61. 773 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 56. 774 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 3 f. 775 Vgl. Muhammad Assad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 59. 776 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 184 f. 777 Vgl. Quran 9:3; 60:12. 778 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 52 ff.; Ibn Kathir, The Life of the Prophet, Vol. II, 14. Jahrhundert, 136 f. 779 Vgl. Ibn Kathir, The Life of the Prophet, Vol. II, 14. Jahrhundert, 136. 780 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 166. 781 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 166 f. 782 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 472. 772
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F. Islamisches Staatsrecht
begründet wird, sondern auch die Voraussetzungen für diesen Gehorsam gegenüber dem Herrscher formuliert werden783. In dem Moment, in dem der Herrscher diese Bedingungen des Volkes akzeptiert, werden diese zu den Verpflichtungen des Herrschers. Des Weiteren hob Abu Yala ergänzend hervor, dass ein Fundament dieses Vertrages auch die zu gewährleistende Zufriedenstellung des Volkes sei. Nach seiner Meinung war keine spezielle Form für eine wirksame baiah erforderlich. Der Inhalt des Vertrages könne in jeglicher Form bekundet werden784. Ibn Teymiye betonte indem er auf die besonderen Verpflichtungen eines Herrschers verwies, dass die Macht, die ein Herrscher ausübe, eine große Verantwortung berge und daher rechtschaffend und ehrlich genutzt werden sollte785. Die sich aus der Ausübung der Staatsherrschaft ergebende Verantwortung sei für den Herrscher vergleichbar mit der Verantwortung und der Verpflichtung des Vormundes eines Waisen, des Verwalters eines Stiftungsfonds, oder der Stellung eines Prokurators786. Ein Herrscher solle sich um sein Volk kümmern, genauso wie ein Schafhirte sich um seine Herde kümmere787. Er sei durch das Volk berufen und solle für das Wohlergehen des Volkes arbeiten788. Hierdurch beinhaltet der baiah-Vertrag Elemente einer Vormundschaft, einer Anstellung und einer Stellvertretung, die in der Position des Herrschers zusammengefasst sind. Ibn Teymiye verdeutlichte die gegenseitigen Verpflichtungen für beide Parteien des baiah-Vertrages und klassifizierte somit dieses Verhältnis als eine Form der gleichberechtigten Partnerschaft789. Dies zeigt, dass die Rechte und Verpflichtungen beider Seiten sich ausbalancieren, weil auch das Volk zur Verantwortung gezogen wird und nicht nur passiv Rechte einfordert oder durch kurzlebige Wahlpolitik Interessen schützt. Muslimische Juristen sind sich über den Unterschied zwischen öffentlichrechtlichen und zivilrechtlichen Verträgen im klaren790. Die voneinander abweichenden Auswirkungen und rechtlichen Konzeptionen derselben wurden schon früh 783
Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 57. 784 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 57. 785 Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 1999, 149; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 394. 786 Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 36; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 57. 787 Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 36 f. 788 Vgl. Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 37; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at alImam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 57. 789 Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 37. 790 Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 67 f.
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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von den Gelehrten erkannt791. Al-Mawardi und andere Gelehrte hoben hervor, wie unterschiedlich eine zivilrechtliche Vertretung bei einem Kaufvertrag von der Vertretung der Staatsmacht bzw. der Öffentlichkeit durch einen Richter sei792. Al-Mawardi schrieb, dass, wenn mehrere Nachfolger für die Herrschaft nominiert bzw. bestimmt werden und diese sich sukzessiv ablösen sollen, von dem Volk erwartet werden könne, diesem Umstand als betroffene Partei eine gewisse Flexibilität und Toleranz entgegenzubringen793. Die Herrscher würden im Grunde genommen wegen des öffentlichen Interesses sukzessiv aufeinanderfolgen und somit die Existenz des Staates sicherstellen794. Dieses öffentliche Interesse habe einen weiteren Geltungsbereich als das Parteiinteresse bei zivilrechtlichen Verträgen795. Bei einer einfachen zivilrechtlichen Vormundschaft z. B. ist der Geltungsbereich auf die betroffenen Parteien beschränkt796. Daher müssten die Parteien in diesem Falle die zuvor bei der Bestimmung des Staatsoberhauptes eingeforderte Flexibilität und Toleranz nicht zeigen und könnten ihre Rechte konsequent geltend machen. Damit identifizierten muslimische Juristen lange vor Rousseau einen öffentlichrechtlichen Sozialvertrag zwischen Herrscher und Beherrschten als Grundlage der politischen Herrschaft797. cc) Die öffentliche Partei im baiah-Vertrag Wenn das Staatsoberhaupt durch einen öffentlichen Vertrag gewählt wird, so stellt sich die Frage, wer das Staatsoberhaupt wählt und wie das Volk dabei repräsentiert wird. Während der frühen Herrschaftszeit der rechtgeleiteten Kalifen haben einige wichtige Individuen nach einer Diskussion über verschiedene potentielle Kandidaten ihre baiah einem Kandidaten gegenüber erklärt798. Diese baiah eines klei791 Vgl. Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 41; Ibn Kathir, The Life of the Prophet, Vol. II, 14. Jahrhundert, 212 ff. 792 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 78. 793 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 15. 794 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 57 f. 795 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 13; andere Beispiele von Al-Mawardi’s Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Rechtshandlungen, 9 (wirtschaftliche Transaktionen), 25 (Bestimmheitsgebot bei privatrechtlichen Verträgen). 796 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 84. 797 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 472. 798 Vgl. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 76.
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F. Islamisches Staatsrecht
nen Zirkels wurde gefolgt durch die baiah der Massen, die der angehende Kalif in der Hauptmoschee entgegennahm799. Einige Historiker nennen die baiah der führenden Persönlichkeiten in ihreem kleinen Kreis die baiah der Speziellen800. In der juristischen Literatur ist dieser Kreis bekannt unter dem Begriff ahl al-hall wa al-‘aqd, diejenigen, die fähig sind zu binden und zu lösen, also diejenigen, die Entscheidungen treffen und diese auch durchsetzen können801. Al-Mawardi und Abu Ya’la Al-Farra nutzten in ihren Werken nicht die Umschreibung ahl al-hall wa al ‘aqd, sondern den Terminus ahl al-ikhtiyar, und Al-Baghdadi die Beschreibung ahl al-ijtihad802. Die Wahl des Kalifen wird von den meisten muslimischen Juristen als eine soziale bzw. kollektive Pflicht (fard kifayah) der Gemeinde betrachtet803. Diese Pflicht ist zu vergleichen mit den übrigen kollektiven Pflichten, wie dem Dienen zum unmittelbaren Wohl der Gemeinde, der Erwerb von Wissen, dem Lehren, der Ernennung von Richtern oder die Wahrnehmung des Richteramtes804. Für diese kollektiven Pflichten ist die gesamte muslimische Gemeinde verantwortlich805. Im Gegensatz hierzu stehen die individuellen Pflichten (fard ‘ayn), wie die Einhaltung der Pflichtgebete, das Fasten im Ramadan, die Zahlung der zakah oder die Pilgerreise nach Mekka, für die jeder erwachsene Muslim bzw. jede erwachsene Muslima persönlich verantwortlich sind806. Al-Mawardi schrieb, dass diejenigen, die den Kalif in der ersten baiah wählen, als glaubwürdige Zeugen vor Gericht gelten müssen807. Außerdem sollten sie Kenntnisse über die Voraussetzungen des Amtes haben und weise sein808. Hierdurch könnten sie den Bestqualifizierten für diese Position bestimmen809.
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Vgl. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 76. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 58. 801 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 413; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 51; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 255. 802 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 156; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 463. 803 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 394 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 149; Mohammed Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 415, 471; Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.– 11. Jahrhundert, 4. 804 Vgl. Mohammed Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 415. 805 Vgl. Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 133; Mohammed Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 415. 806 Vgl. Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam, 2005, 132 f. 807 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 4. 808 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 4. 809 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 4. 800
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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In der klassischen islamisch-juristischen Literatur existiert nur eine generelle und relativ vage Beschreibung der Qualifikationen der ahl al-hall wa al-‘aqd bzw. der ahl al-ikhtiyar810. Die ersten zwei Kalifen übernahmen die Herrschaft über den früh-islamischen Staat, nachdem die führenden sahaba ausgiebig hierüber diskutiert hatten811. Als auf den zweiten Kalifen Umar ein tödliches Attentat verübt wurde, hatte sich der früh-islamische Staat von Medina bereits zu einem universellen Staat entwickelt, der von Nordafrika bis Zentralasien reichte812. Die führenden sahaba waren im ganzen Staat verteilt und nahmen administrative, organisatorische und die Religion lehrende Aufgaben war813. Daher nominierte Umar sechs Personen für das Amt des Kalifen und verpflichtete sie unter sich einen Nachfolger zu wählen814. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die ahl alhall wa al-‘aqd zu dieser Zeit verbindlich auf sechs Personen begrenzt wurden815. Wie zuvor erwähnt zog die Mehrheit ihre Nominierungen zurück816. Abd ar-Rahman ibn Awf übernahm die Aufgabe, die Meinung des Volkes und den geeigneten Kandidaten für dieses Amt zu ermitteln817. Dabei befragte er die Menschen in Medina und führte wohl ausgiebige Diskussionen mit den verbleibenden Kandidaten als auch mit anderen führenden Persönlichkeiten818. Als das Volk von dem Tod des zweiten Kalifen erfuhr, kamen viele, die außerhalb von Medina lebten, dorthin, um sich an der Wahl des neuen Kalifen zu beteiligen. Diese spontane Reaktion repräsentierte aber keine bewusste Entscheidung der zentralen Verwaltung, diejenigen einzuberufen, die befähigt waren, zu den ahl al-hall wa al-‘aqd zu gehören, um den Kalifen zu wählen819. Das Problem der überall im Staat verteilten sahaba, die qualifiziert waren Mitglied der ahl al-hall wa al-‘aqd zu sein, bestand auch nach dem Tod des dritten Kalifen Uthman und der Wahl Ali’s zum vierten Kalifen820. Nachdem sich die Umayadische Dynastie etabliert hatte, kam der islamische Staat unter die Dominanz von fast absolut herrschenden monarchischen Dynas-
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Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 75 ff. 812 Vgl. Gottfried Hierzenberger, Der Islam, 2006, 42. 813 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 59. 814 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 5. 815 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 59. 816 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 149 f. 817 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 43. 818 Vgl. Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 131 f. 819 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 59. 820 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 418 f. 811
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tien821. Unter diesen Umständen wurde kein administrativer Prozess für notwendig erachtet, um die Mitglieder der ahl al-hall wa al-‘aqd zu bestimmen oder diese Gruppe näher zu definieren822. Ebenso wurden die ahl al-hall wa al-‘aqd nicht institutionalisiert823. Die Bestimmung des Nachfolgers oblag nunmehr dem amtierenden Herrscher, nachdem dieser die Älteren der monarchischen Familie und die Oberbefehlshaber der Armee konsultiert hatte824. Trotzdem überlebte der Terminus ahl al-hall wa al-‘aqd in der islamisch-juristischen Tradition, obwohl er vage definiert und in der Praxis nicht von Relevanz war825. Einige Kommentatoren erklärten, dass die obligatorische öffentliche Gefolgschaft gegenüber Autoritätsinhabern, welche im quran formuliert ist, auch gegenüber den ahl al-hall wa al-‘aqd gelte und gerade nicht nur den tatsächlichen Herrschern entgegengebracht werden müsse826. Der Vers besagt: „O ihr, die ihr glaubt, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und denen unter euch, die Befehlsgewalt besitzen. Und wenn ihr über etwas streitet, so bringt es vor Allah und den Gesandten, wenn ihr an Allah glaubt und an den jüngsten Tag“ 827.
Diese Interpretation indiziert, dass fähige Persönlichkeiten die Verantwortung im Staat übernehmen sollen und dass das Volk die freie Wahl hat, den Herrscher selbst zu bestimmen („denen unter euch“)828. Andere Kommentatoren glaubten, dass diejenigen, denen im Rahmen dieses Verses gefolgt werden soll, die führenden Rechtsgelehrten seien829. Wiederum andere Gelehrte verstanden es so, dass hierunter die tatsächlichen Herrscher und die Rechtsgelehrten gemeinsam zu subsumieren seien830. Spätere Gelehrte zogen ebenfalls den Schluss, dass der im 821
Vgl. Imran Ahsan Khan Nyazee, Theories of Islamic Law, 1996, 41. Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26 f.; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146. 823 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 463 f. 824 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26 f.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 59. 825 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 463 f. 826 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 40; vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 429; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 261 ff.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 59. 827 Quran 4:59; vgl. Abu-r-Rida Muhammad Ibn Ahmand Ibn Rassoul, Tafsir AlQur’an Al-Karim, k. D., 247. 828 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 40; Muhammad Assad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 45. 829 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 260 ff. 822
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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quran genutzte Terminus ulu’l-‘amr, welcher klassisch immer für die tatsächlichen Herrscher verwendet wurde, eigentlich die ahl al-hall wa al-‘aqd meinte831. Der Vers verdeutlicht auch ganz klar, dass die Herrschaft des Staatsoberhauptes nicht absolut und nicht uneingeschränkt ist832. Dispute über öffentliche Angelegenheiten müssen mit Bezug zu quran und sunna gelöst werden833. Dies ergibt sich aus der linguistischen Struktur des Verses und wurde auch durch eine semantische Analyse von Ibn al-Qayyim bestätigt834. Nach Muhammad Abduh bestanden die ahl al-hall wa al-‘aqd aus verschiedenen Zusammenschlüssen, u. a. dem shura-Rat, der wiederum eine Vereinigung der höchsten Autoritätspersönlichkeiten (al-umara) und lokalen Führungspersönlichkeiten (al-hukkam) in einem Gremium darstellt835. Diese Definition umfasst zentrale und lokale Herrscher, administrative und juristische Persönlichkeiten, Gelehrte, Befehlshaber der Armee und alle anderen Anführer sowie leitenden Persönlichkeiten, von denen das Volk bei Bedarf Hilfe und Unterstützung in Anspruch nimmt836. Die letzte Gruppe scheint die gleichen Persönlichkeiten zu beinhalten, die al-Nisaburi als diejenigen, die wichtige Rollen innerhalb des Volkes innehaben und relevante Ansichten vertreten, umschrieb837. An-Nawai definierte die ahl al-hall wa al-‘aqd als die Anführer und herausragenden Persönlichkeiten des Volkes838. Muhammad Rasid Rida wiederum schrieb, dass ahl al-hall wa al-‘aqd die führenden Gelehrten, die Befehlshaber des Militärs, die Richter, die wirtschaftlichen Führungskräfte, die Führer der politischen Parteien, einflussreiche Schriftsteller, Anwälte und Ärzte seien839. Diese sind nach Rida dazu berechtigt das Staatsoberhaupt zu wählen840. 830 Vgl. Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 159; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 191 f.; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1980, 119. 831 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 40; Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 92. 832 Muhammad Assad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 35 f. 833 Muhammad Assad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 66; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 193 f. 834 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 60. 835 Vgl. Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 30; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 60. 836 Vgl. Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 463. 837 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 60. 838 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 60. 839 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 40.
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Hasan al-Banna, der Gründer der Ägyptischen Muslimbruderschaft, erklärte in diesem Zusammenhang, dass juristisch betrachtet unter die Voraussetzungen der ahl al-hall wa al-‘aqd drei Gruppen subsumiert werden könnten: erstens Juristen, die befähigt sind rechtliche Sachverhalte durch ijtihad zu lösen, zweitens in öffentlichen Angelegenheiten erfahrene Persönlichkeiten und drittens diejenigen, die eine Art von Führungsaufgabe unter dem Volk als Familienoberhäupter, als Stammesführer oder als Anführer anderer Gruppen innehaben841. Hasan alBanna’s Liste beschränkt die ulama auf die Rechtsgelehrten, die fähig sind ijtihad anzuwenden und somit de facto legislativ tätig sein können. Diese Voraussetzung steht im Einklang mit Al-Baghdadi’s Terminus ahl al-ijtihad in seinem Werk Usul ud-Din842 und dem Terminus ahl al-ijma’ (diejenigen, deren Meinung zu einem rechtsverbindlichen Konsens werden kann), welcher von Al-Nisaburi und seinem Vorgänger Al-Razi genutzt wurde843. Maududi betrachtete, die frühesten Muslime, die schon in Mekka zum Islam konvertiert waren, als diejenigen, die weise waren, sowie diejenigen, die große Opfer für die Sache des Islams gebracht hatten, die Auswanderer, die mit dem Propheten (s. a. w. s.) zusammen die hidschra vollzogen hatten, Muslime, die in Medina hohe militärische, politische und religiöse Leistungen vollbracht und wichtige Aufgaben übernommen hatten, sowie diejenigen, die in Medina zu Gelehrten wurden, als die klassischen ahl al-hall wa al-‘aqd844. Abu Ya’la Al-Farra widersprach der Idee, dass der Kalif die ahl al-hall wa al-‘aqd nominieren könne, so wie es vom zweiten rechtgeleiteten Kalifen Umar getan wurde845. Dieses Vorkommnis sei in der politischen Geschichte des Islams einzigartig und von keinem anderen Herrscher in dieser Art und Weise wiederholt worden. Daher habe diese Wahlform in der politischen Praxis keine Relevanz entfaltet und wurde letztlich auch in der juristischen Theorie nicht weiter entwickelt. M. Bes¸ir Eryarsoy schreibt diesbezüglich, dass die Wahl eines vorgeschalteten Gremiums lediglich als eine unverbindliche Nominierung betrachtet werden könne und letztlich das Volk bzw. die umma verbindlich entscheide846. Er erklärt, dass es heutzutage in einem islamischen Staat sehr wohl möglich sein könne, dass das Volk durch eine direkte Wahl, ohne zwischengeschaltete ahl al-
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Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 40. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 60 f. 842 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 156. 843 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 61. 844 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 254 f. 845 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 61. 846 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 157. 841
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hall wa al-‘aqd, das Staatsoberhaupt bestimmt847. Dem folgend wären die ahl alhall wa al-‘aqd in dieser Konstellation das gesamte Volk. Hayreddin Karaman schreibt, dass bezüglich der ahl al-hall wa al-‘aqd keine verbindliche Regelung existiert und somit die Regulierung und Institutionalisierung dieser im Ermessen eines islamischen pouvoir constituant liegt848. Er verdeutlicht aber gleichzeitig, dass sich in diesem Zusammenhang zwei Ansichten hervortun: erstens die Meinung, nach der die Wahl der ahl al-hall wa al-‘aqd durch das Volk erfolgt, und zweitens die Meinung, die die Entscheidung des shura-Rates oder eines anderen kleinen Zirkels von Wahlberechtigten für eine verbindliche Entscheidung ausreichen lässt, welche nicht unbedingt direkt vom Volk legitimiert sein muss849. Yusuf Al-Qaradawi erklärt vehemend, dass es ein Recht der Nation sei das Staatsoberhaupt zu bestimmen850. Er schreibt auch, dass es den ahl al-hall wa al-‘aqd möglich sein sollte, das Staatsoberhaupt gegebenenfalls zur Verantwortung zu ziehen und abzusetzen851. Die aufgezeigten Ansichten verdeutlichen, dass bezüglich der Bestimmung derjenigen, die das Staatsoberhaupt im islamischen Staat wählen, und wie in diesem Kontext das Volk repräsentiert wird, noch Klärungsbedarf besteht. Viele Fragen in diesem Kontext sind noch nicht verbindlich beantwortet. Welche Rolle der öffentlichen Partei bei einer baiah zukommt, ist weder hinreichend konkretisiert noch verbindlich festgelegt. dd) Das vorausgesetzte Quorum für baiah Die vorausgesetzte Anzahl und die Definition der ahl al-hall wa al-‘aqd blieben in der historischen Praxis und der juristischen Literatur vage definiert852. Deswegen entwickelten sich viele verschiedene Meinungen unter den Rechtsgelehrten. Während einige eine gültige baiah von der Anzahl der daran Partizipierenden abhängig machten, erklärten andere, dass eine spezielle Anzahl von ahl al-hall wa al-‘aqd nicht erforderlich sei, um eine wirksame baiah durchzuführen853. Sogar eine einzelne Person konnte nach dieser Ansicht eine wirksame baiah durchführen, sofern die anderen dies akzeptierten854. Abu Ya’la Al Farra schrieb, dass die Zustimmung der gesamten oder einer beachtlichen Majorität der ahl al-hall wa al-‘aqd für eine wirksame baiah erforderlich sei, und gab damit die 847 848 849 850 851 852 853 854
M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 157 f. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 136. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 136. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 44. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 44. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 413 f. Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 55.
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F. Islamisches Staatsrecht
Sichtweise der h. M. innerhalb der hanbalitischen Rechtsschule wieder855. Vehbe Zuhayli erklärt, dass bezüglich der Anzahl der ahl al-hall wa al-‘aqd keine verbindliche Angabe gemacht werden kann856. Die Anzahl der ahl al-hall wa al-‘aqd variiere je nach kulturellem Stand, Entwicklung und Gesellschaftsstruktur857. Die Juristen, die eine bestimmte Zahl der ahl al-hall wa al-‘aqd bei der baiah des Kalifen voraussetzten, differierten allerdings bei der genauen Angabe dieser. Die diesbezüglichen Meinungen geben unterschiedliche Zahlen an: fünf, drei, vierzig oder siebzig858. Die erste Zahl basiert auf den historischen Angaben von der baiah gegenüber Abu Bakr und den daran partizipierenden sahaba859. Diese Zahl wird teilweise durch die Praxis der baiah für den dritten rechtgeleiteten Kalifen bestätigt860. Die Anzahl derjenigen, die die Initiative bei der baiah von Abu Bakr ergriffen haben, ist aber nur ein sehr schwaches Argument für diese Meinung, da zu diesem Zeitpunkt fast die gesamten sahaba in Medina anwesend waren und quasi eigentlich alle berechtigt waren, bei dieser baiah beteiligt zu sein861. Die Wahl des dritten Kalifen durch das von Umar einberufene Gremium stützt diese Meinung gar nicht, weil eigentlich nur vier sahaba ihre Entscheidung kund taten862. Die Meinung, nach der das Quorum für eine wirksame baiah nur drei Personen beträgt, vergleicht eine baiah mit der Entscheidungsfindung eines Richters im islamischen Recht, der sein Urteil auf zwei Zeugenaussagen und seine Meinung gründen muss863. Auch die Form der islamischen Eheschließung, bei der der Vater der Braut bzw. der Vormund und zwei weitere Zeugen anwesend sein müssen, wird zur Verifizierung dieser Meinung herangezogen864. Diese Argumente überzeugen allerdings nicht, da es klare Unterschiede zwischen diesen Sachverhalten gibt. Die Stellung eines Richters unterscheidet sich von der Stellung eines Zeugen, und beide Positionen differieren gegenüber der Stellung derjenigen, die an der baiah des Kalifen teilnehmen. Hinzu kommt, dass eine zivilrechtliche Eheschließung etwas völlig anderes ist als eine öffentlichrechtliche Wahl des Staatsoberhauptes, so dass dieser Vergleich ebenfalls nicht überzeugt. Der Vorschlag von einigen Gelehrten, nach den vierzig Personen für eine baiah notwendig sind, wurde von der Anzahl abgeleitet, die nach der Meinung einzel855 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 62. 856 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 413. 857 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 414. 858 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 55. 859 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 5. 860 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 5. 861 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 145 ff. 862 Vgl. Ahmet Emin Temiz, Hazreti Osman, 2008, 52; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 104. 863 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 414. 864 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 5.
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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ner Gelehrter notwendig ist um ein wirksames Freitagsgebet abzuhalten865. Aber auch dieses Argument ist nicht durchschlagend, um die benötigte Zahl einer gültigen baiah zu bestimmen. Es gibt keine verbindliche Aussage in den Primärquellen, die diese Meinung stützt. Nach Ansicht anderer muslimischer Gelehrter bestand der shura-Rat des Propheten (s. a. w. s.) aus siebzig Mitgliedern866. Daraus ergebe sich, dass sich die ahl al-hall wa al-‘aqd ebenfalls aus siebzig Personen zusammensetzt. Sie argumentieren, dass der shura-Rat und die ahl al-hall wa al-‘aqd eigentlich personengleich seien867. Außerdem stützen die Vertreter dieser Ansicht ihre Argumente auf die Anzahl der Mitglieder des Beratungs- bzw. Unterstützungsgremiums des Propheten Moses (a. s.), das nach dem Auszug aus Ägypten einberufen wurde und das ebenfalls siebzig Mitglieder umfasste. Auch diese Meinung vermag aber nicht zu überzeugen, da der shura-Rat nie vom Propheten (s. a. w. s.) institutionalisiert wurde, er sogar unter gewissen Umständen nur Einzelne oder einige wenige konsultiert hat und weil die von den sahaba abgehaltene große baiah gegenüber dem Propheten (s. a. w. s.) ihn nicht zum alleinigen Staatsoberhaupt machte868. Dies geschah erst im Zusammenhang mit dem Erlass der VM869. Die Mitglieder des Beratungs- bzw. Unterstützungsgremiums des Propheten Moses (a. s.) kann nur als Indiz verwendet werden, da es im islamischen Recht umstritten ist, ob die Handlungen von Propheten (a. s.) von vorangegangenen Offenbarungsreligionen verbindlich sind oder nicht870. Die baiah ist nach herrschender Ansicht jedoch unabhängig von der Anzahl der ahl al-hall wa al-‘aqd, die an ihr beteiligt sind, verbindlich, wenn sie dazu führt, dass die Staatsmacht effektiv übernommen wird871. Dies war und ist die Meinung von vielen prominenten muslimischen Rechtsgelehrten872. Theologen und Juristen vertreten die Ansicht, dass die Person, die über eine baiah des Staatsoberhauptes entscheiden kann, die Unterstützung und Zustimmung aller Mitglieder der ahl al-hall wa al-‘aqd haben sollte873. Al-Ghazzali und Ibn Teymiye argumentierten, dass Abu Bakr’s Nominierung seines Nachfolgers deshalb nur eine baiah des Staatsoberhauptes darstelle, weil diejenigen, die für 865 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 62. 866 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 461; Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 117. 867 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 255 f. 868 Vgl. Ibn Kathir, The Life of the Prophet, Vol. II, 14. Jahrhundert, 140. 869 Vgl. Abdel Shafi M. Latif, Rise of Islam, 2003, 40 f. 870 Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 168 ff., 170 ff. 871 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 414 f. 872 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 414 f. 873 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 2000, 10 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 414 f.
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F. Islamisches Staatsrecht
das Binden und Lösen verantwortlich waren, seine Nominierung als Staatsoberhaupt akzeptierten874. Al-Ghazzali schrieb, dass die baiah derjenigen als verbindlich angesehen werden sollte, die große Einflussmöglichkeiten, Macht und die massive Unterstützung der Öffentlichkeit haben. Die baiah gegenüber einem Staatsoberhaupt sei wirksam, solange ihm die Öffentlichkeit folge, die Massen gehorchten und seine Autorität nicht von Personen, die eine andere Meinung haben, untergraben werden könne. Der Grund einer baiah sei es, dem Staatsoberhaupt die öffentliche Unterstützung bereitzustellen. Diejenigen, die dies gewährleisten können, sind nach seiner Meinung fähig bindende Entscheidungen zu fällen, unabhängig von ihrer Anzahl. Wenn diese Voraussetzungen von mehreren erfüllt werden, so müssen diese sich bei der baiah auf einen Kandidaten einigen, da eine einzelne Stimme in dieser Konstellation nicht öffentlich verbindlich sein kann875. Ibn Teymiye wiederholte das Argument von Al-Ghazzali und hob hervor, dass der Imam die Staatsgewalt nicht ausüben kann, solange er nicht von denjenigen unterstützt wird, die die tatsächliche Macht im Staat besitzen. Staatsgewalt kann nach seiner Meinung nicht ausgeübt werden, wenn zwar die Unterstützung einer oder mehrerer einflussreicher Personen gewährleistet ist, aber die Unterstützung durch die breiten Massen der Öffentlichkeit fehlte876. Während Al-Ghazzali realistisch genug war zu erkennen, dass sogar Oppositionen zu einer baiah geben kann, maß er ihnen keinen Wert bei, sofern sie ineffektiv waren877. Die Rechtsgelehrten verlangten außerdem für eine rechtmäßige Wahl, dass die ahl al-hall wa al-‘aqd, die von ihnen aufgestellten juristischen Voraussetzungen erfüllten878. Al-Mawardi und Abu Ya’la Al-Farra forderten drei Voraussetzungen von jedem, der im shura-Prozess bzw. bei der baiah beteiligt sein sollte: erstens die Fähigkeit vor Gericht als wirksamer Zeuge aufzutreten, zweitens Muslim zu sein sowie nach den Regeln des Islams zu leben und als wichtigsten Punkt drittens sowohl Rechtskenntnis als auch Weisheit879. Al-Baghdadi forderte zwei Ei874 Ibn Taymiyya, The Madinian Way, 13.–14. Jahrhundert, 14; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 63. 875 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 63. 876 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 63. 877 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 63. 878 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 156 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 413. 879 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 4. Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at alImam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 64.
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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genschaften, erstens die Fähigkeit ijtihad auszuüben und zweitens rechtschaffen zu sein. Wenn eine dieser Voraussetzungen fehle, könne, so die Meinung dieser Gelehrten, die baiah nicht ausgeführt werden880. Auf der anderen Seite ist keine baiah wirksam, wenn die zur Wahl stehenden Kandidaten selbst die von den Juristen entwickelten Voraussetzungen für das Amt des Kalifen nicht erfüllten881. Al-Mawardi erwähnte mehrere Bedingungen, die ein Kalif erfüllen müsse: erstens die Fähigkeit vor Gericht als wirksamer Zeuge aufzutreten, zweitens rechtliches Wissen, das ihn befähigt ijtihad auszuüben, drittens Gesundheit, viertens Weisheit und fünftens Courage882. Er verlangte zusätzlich, dass der Kalif zu dem Stamm der Quraysh gehören müsse883. Ibn Khaldun lehnte die letzte Voraussetzung ab, indem er darauf verwies, dass der Kalif lediglich die tatsächliche politische Macht (asabiyah) innehaben müsse884. Diese liege vor, wenn die verschiedenen Stämme sich dem stärksten Stamm unterordneten. Der Stamm der Quraysh hatte nach seiner Meinung die Herrschaft und die politische Dominanz unter den arabischen Stämmen in der vor-islamischen Zeit, sowie in den ersten Jahrhunderten des Islams. Da aber soziologische und politische Macht nur temporär sei, müsse der Stamm den Kalifen stellen, welcher die Macht innehat und die verschiedenen Stämme unter seiner Führung eint, somit asabiyah ausübt885. Folglich glaubte Ibn Khaldun, dass der sozio-politische Status des Anwärters auf das Amt des Staatsoberhauptes ebenfalls in der Liste der Qualifikationen enthalten sein sollte. Er verlangte daneben auch Kenntnis über die Religion und das islamische Recht, die Fähigkeit vor Gericht als wirksamer Zeuge aufzutreten und Gesundheit886. Nach seiner Meinung müssen im Rahmen einer baiah diese Voraussetzungen bei einem potentiellen Kandidaten festgestellt werden887. Andernfalls wäre eine baiah unwirksam, auch wenn sie von fähigen Personen ausgeübt würde888. Al-Mawardi verdeutlichte, dass die baiah zugunsten des Verdienstvollsten und Fähigsten entschieden werden sollte, demjenigen gegenüber, dem das Volk ohne Zögern die baiah und die Gefolgschaft erklären würde889. Weiterhin vertreten die 880 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 64. 881 Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 75 f. 882 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 4. 883 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 4. 884 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 157, 159. 885 Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 159. 886 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 158. 887 Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 158. 888 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 64. 889 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 6.
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meisten muslimischen Juristen die Meinung, dass das Staatsoberhaupt in einem islamischen Staat mit Blick auf das Beispiel des Propheten (s. a. w. s.) männlich und insbesondere ein gläubiger Muslim sein soll890. Zum Staatsoberhaupt solle der frommste unter den sachlich qualifizierten potentiellen Kandidaten gewählt werden891. Denn nur von einem Muslim könne erwartet werden, dass er an die gottgewollte Ordnung glaubt und versucht diese praktisch umzusetzen892. Trotz des positiven Beispiels der Königin von Saba im quran vertreten muslimische Gelehrte, gestützt auf einen als schwach eingestuften hadith, die Ansicht, dass ein Staatsoberhaupt männlich sein soll893. Neuere Meinungen vertreten diesbezüglich einen differenzierten Ansatz894. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass das Staatsoberhaupt in einem universellen Kalifat männlich sein muss, aber in einem islamischen Territorialstaat sehr wohl eine Frau als Staatsoberhaupt fungieren kann895. Dies erklärt auch, warum die von Maududi begründete indopakistanische Gama’at-i-Islami als islamisch-politische Bewegung bei den Präsidentschaftswahlen 1988 in Pakistan Benazir Bhutto als weiblichen Anwärter auf die Präsidentschaft, unterstützte. Die juristischen Voraussetzungen für die ahl al-hall wa al-‘aqd und den Kalifen blieben jedoch nur in der Theorie relevant896. Die Rechtsgelehrten waren sich der Tatsache bewusst, dass diejenigen, die die tatsächliche Macht gerade zu Zeiten der dynastischen imperialen islamischen Reiche ausübten, den Kalifen oder Herrscher de facto bestimmen konnten und nicht die von ihnen aufgestellten Voraussetzungen für die ahl al-hall wa al-‘aqd erfüllten897. Das Gleiche galt für die Kalifen bzw. die Herrscher; auch die diesbezüglich aufgestellten Qualifikationen wurden relativiert. Dies führte dazu, dass sich unter Rechtsgelehrten die Akzeptanz herausbildete, alle tatsächlich vorhandenen Gegebenheiten bei der rechtlichen Bewertung zu berücksichtigen, sogar wenn diese von den Lehren des Islams abwichen898. Sie rechtfertigten diese Abweichungen mit dem Imperativ des öffentlichen Interesses (al-maslaha al-mursalah) und der Notwendigkeit für ein funktionierendes Staatswesen. Mit der Zeit stellten die Rechtsgelehrten über die 890 891 892
M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 171. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 121. Vgl. Muhammad Assad, The Principles of State and Government in Islam, 2001,
39 f. 893 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 121; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 420; Mohammad Hashim Kamali, Freedom, Equality and Justice in Islam, 2002, 70. 894 Vgl. Jamal Badawi, Gender Equity in Islam, 2004, 38 f. 895 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 121. 896 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 146. 897 Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 29 ff.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 128. 898 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 64 f.
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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von ihnen diesbezüglich ausformulierten juristischen Voraussetzungen eine gewisse Rechtssicherheit her899. Obwohl die sunnitischen Rechtsgelehrten den schiitischen Anspruch einer göttlichen Nominierung ablehnten und die öffentliche Wahl als Recht der umma favorisierten, mussten sie anerkennen, dass das Konzept der Auswahl des Herrschers durch die umma in seiner wirklichen Essenz nur zur Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen praktiziert wurde900. Das Problem, vor dem die sunnitischen Juristen standen, war, dass sie eigentlich nicht legitimiert waren von der durch sie selbst entwickelten normativen Theorie abzuweichen901. Faktisch hätten sie die meisten amtierenden Herrscher und deren tatsächliche Autorität für unrechtmäßig erklären müssen902. Damit hätten sie aber ihr Leben gefährdet. Ibn Khaldun versuchte mit seiner Theorie der asabiyah das Verhalten von Mu’awiyah sowie generell die Handlungen aller umayadischen Herrscher und der frühen abbasidischen Herrscher zu erklären, indem er darauf verwies, dass sie zu dem jeweiligen Zeitpunkt die dominante soziologische und politische Macht hatten und dadurch quasi zur Herrschaft befugt waren903. Diese Erklärung scheint auf den ersten Blick und in einigen Punkten plausibel, aber sie überzeugt nicht, da sie nicht zu erklären vermag, warum die amtierenden Herrscher so viel Gewalt anwenden mussten, um oppositionelle Kräfte zu zerschlagen, wenn sie doch die asabiyah innehatten. Dieser Erklärungsansatz kann auch nicht stichhaltig begründen, warum die Kalifen, insbesondere zur Zeit der Abbasiden, über große Regionen und Territorien die Kontrolle an regionale Herrscher verloren, wenn sie doch in der Theorie die stärkste soziologische und politische Macht im Staat darstellten. Ibn Khaldun’s Theorie erklärt den Mechanismus der Stammesstruktur in der vor-islamischen Zeit und innerhalb der frühen islamischen Jahrzehnte. Sie erklärt und legitimiert aber nicht die Herrschaft der späteren Kalifen. Sie ist nicht anwendbar auf die komplexen Beziehungen innerhalb eines multiethnischen und die Kulturen vermischenden universellen Staates, wie es das islamische Kalifat zu seiner Blütezeit war. Nach einer langen Argumentation gibt Ibn Khaldun zu, dass das Kalifat unter den Umayaden und den Abbasiden letztlich zu einem dynastischen Staat geworden war, welcher von den Lehren des Islams und dessen spezifischem politischem Konzept abwich904. Al-Ghazzali entwickelte einen weit realistischeren Ansatz, um eine baiah von einem oder einigen unqualifizierten ahl al-hall wa al-‘aqd oder die baiah eines unqualifizierten Herrschers zu rechtfertigen. Er schrieb, dass solch eine Akzep899 900 901 902 903 904
Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 33, 66 f. Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 54. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 31. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 29 ff. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 160. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 160.
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F. Islamisches Staatsrecht
tanz nur temporär sei und nur dazu diene die Probleme und Schwierigkeiten eines speziellen Zeitabschnitts zu überbrücken905. Um dies zu bewerkstelligen nutzte er ebenfalls, das rechtliche Prinzip der maslaha mursalah, durch das, was verboten ist, legal wird, sofern es das öffentliche Interesse erfordert. Muslime brauchen nach seiner Meinung einen Herrscher, der das Land verteidigt, die öffentliche Sicherheit gewährleistet, Straftäter zur Rechenschaft zieht, das islamische Familienrecht umsetzt, das islamische Zivil- und Handelsrecht implementiert und hierzu Richter ernennt, auch wenn dieser Herrscher die vorausgesetzten juristischen Qualifikationen nicht erfüllt906. In diesem Rahmen und vor dem Hintergrund des Mongolensturms, der Kreuzzüge und der Reconquista akzeptierten und tolerierten muslimische Juristen die de facto-Herrschaft von Militärführern, welche die Staatsmacht durch militärische Dominanz an sich gerissen hatten. Ibn Teymiye schrieb in diesem Kontext, dass, wenn ein idealer Herrscher nicht gefunden wird, derjenige zum Staatsoberhaupt bestimmt werden soll, der diesem Ideal am nächsten kommt. Diesbezüglich erklärte er aber auch ganz klar, dass dieser Umstand nur temporär sein sollte und dass Muslime alles in ihrer Macht Stehende im Lichte des Islams tun müssen, um ihre Situation zu verbessern und das Ideal zu verwirklichen907. Abu Ya’la Al-Farra auf der anderen Seite glaubte, dass die Mehrheit der ahl al-hall wa al-‘aqd an der baiah des Staatsoberhauptes partizipieren müsse, da es genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger sei, das Staatsoberhaupt zu bestimmen, als z. B. Rechtsfragen durch ijma zu lösen, bei der in der Regel auch die Einstimmigkeit und die Anwesenheit der prominenten Rechtsgelehrten gefordert werden908. Andere Rechtsgelehrte folgten dieser Meinung und verwiesen dabei auf die baiah Ali’s, des vierten rechtgeleiteten Kalifen909. Sie argumentierten, dass viele der Gefährten des Propheten (s. a. w. s.) in verschiedenen Regionen verteilt waren und es ihnen daher nicht möglich war, der baiah Ali’s in Medina nach der Ermordung Uthman’s beizuwohnen910. Al-Baqillani, der jegliche Anzahl für die ahl al-hall wa al-‘aqd akzeptierte, betonte, dass es nicht möglich sei alle geeigneten Persönlichkeiten für eine Wahl zusammenzuführen, weil die Distanzen dies nicht erlauben würden. Außerdem wäre es schwer einen Konsens unter die-
905
Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26, 28. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 65. 907 Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 47. 908 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 66. 909 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 56. 910 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 167 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 414. 906
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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ser großen Anzahl von teilnehmenden Personen zu finden911. Diese praktischen Überlegungen bildeten die Basis dafür, die Forderung aufzugeben, dass alle diejenigen, die für eine Partizipation bei den ahl al-hall wa al-‘aqd qualifiziert sind, bei einer baiah anwesend sein müssen. Die meisten Argumente der Impraktikabilität des Zusammenführens aller derjenigen, die die Qualifikationen der ahl al-hall wa al-‘aqd erfüllen, sind mit Blick auf die heutigen Möglichkeiten irrelevant. Die Entwicklungen in Transport und Kommunikation haben es ermöglicht, jede beliebige Zahl von qualifizierten Persönlichkeiten zusammenzubringen. Die heutigen Rechtsgelehrten verlangen auch keinen absoluten Konsens als Voraussetzung für eine wirksame baiah, sondern lassen die Entscheidung einer vernünftigen Mehrheit genügen912. Obwohl die baiah eine kollektive Verpflichtung ist, impliziert sie deshalb nicht eine bestimmte Anzahl der ahl al-hall wa al-‘aqd, die notwendig ist, damit die baiah wirksam wird. Eine vernünftige Anzahl von qualifizierten Persönlichkeiten reicht hierzu aus. Nicht die gesamte umma muss in diesen Prozess involviert werden. Ein qualifizierter Muslim ist aber individuell dafür verantwortlich, ob er an der Konsultation und der baiah teilnimmt oder nicht, oder inwieweit seine Abwesenheit gerechtfertigt und kompensiert wird. Durch die zuvor wiedergegebenen Argumente wird klar, dass Individuen, die an dem Prozess und den Konsultationen der ersten baiah teilnehmen, einige Voraussetzungen und Qualifikationen erfüllen müssen. Diese sind jedoch nicht verbindlich definiert, sondern obliegen der Interpretation. Hauptsächlich wird von ihnen gefordert, dass sie Wissen haben, welches sie dazu befähigt, den Qualifiziertesten unter den potentiellen Kandidaten zu bestimmen913. Sie müssen außerdem fähig sein eine weise Entscheidung im Lichte aller relevanten Umstände, zu fällen914. Genauso wie die Qualifikationen der ahl al-hall wa al-‘aqd nicht verbindlich bestimmt sind und dadurch hypothetisch viele als Mitglieder in Frage kommen, ist eine bestimmte Anzahl ebenfalls nicht obligatorisch festgelegt. Vehbe Zuhayli schreibt in diesem Zusammenhang, dass die ursprünglichen ahl al-hall wa al-‘aqd das Vertrauen der Gemeinde genossen und dass dies eine Essenz der Beziehung zwischen dem Volk und den ahl al-hall wa al-‘aqd darstellt915. Daher könne nach seiner Ansicht die ahl al-hall wa al-‘aqd nicht zahlen911 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 66. 912 Muhammad Assad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 42; Murad Hofmann, Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 119 f.; Sayyid Abul A’La, The Islamic Law and Constitution, 1967, 252 f. 913 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 136. 914 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 4. 915 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 413; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 256.
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mäßig begrenzt werden916. Weiterhin sind keine wirtschaftlichen, rassischen oder geschlechtsspezifischen Voraussetzungen Bedingung, um diesen Status zu erlangen917. Folglich könnte in einem islamischen Staat mit mehreren Millionen Einwohnern, die Zahl der ahl al-hall wa al-‘aqd theoretisch in die Millionen gehen, wenn dies nicht vorab durch die Staatsgewalt oder das Volk begrenzt bzw. anders reglementiert wird918. Nach neueren Meinungen sollen unter den ahl al-hall wa al-‘aqd die verschiedenen Segmente einer Gesellschaft vertreten sein919. Hierunter können, abgesehen von der klassischen Gruppe der Partizipierenden, auch Juristen, Ärzte, Ingenieure, Lehrer, Akademiker, Landwirte und Arbeiter subsumiert werden920. Jeder einzelne Repräsentant leiste einen wichtigen Beitrag und bereichere den Wahlprozess. Der Prozess könnte durch die Nutzung moderner Telekommunikation und Wahltechniken immens optimiert werden. Die in der Theorie denkbaren Konstellationen der Bestimmungsmöglichkeiten sind dabei praktisch unzählbar. Die Details und Strukturen eines solchen Verfahrens könnten von Land zu Land variieren und wären abhängig von den jeweiligen Umständen und Gegebenheiten sowie der politischen Entwicklung. Historisch betrachtet gab es keine allgemeine Wahl der ahl al-hall wa al-‘aqd in ihre wichtige Position. Kein institutionalisierter Mechanismus für ihre Bestimmung und Absetzung existierte oder wurde entwickelt921. So wurden die Persönlichkeiten, die tatsächliche Einflussmöglichkeiten auf die baiah hatten, einfach innerhalb ihrer Gesellschaft und der jeweiligen Staatsstruktur als die ahl al-hall wa al-‘aqd wahrgenommen922. Innerhalb der kleinen Gemeinde der sahaba war es offensichtlich nicht schwer, qualifizierte und einflussreiche Personen sowie Führungspersönlichkeiten auszumachen923. Doch mit der Ausbreitung des Islams und dem Zuwachs der muslimischen Gemeinde wurde es eigentlich notwendig ein Prozedere zu etablieren, um die ahl al-hall wa al-‘aqd zu bestimmen, das den Gegebenheiten des mittlerweile riesigen islamischen Staates entsprochen hätte924. Dies geschah allerdings nicht. Das poli916
Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 413 f. Vgl. M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 230 f. 918 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 13; vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 77. 919 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 257; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 136. 920 Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 108; Azizah Y. AlHibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 13. 921 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 229. 922 Sayyid Abul A’La, The Islamic Law and Constitution, 1967, 255 ff. 923 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 51. 924 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 13. 917
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tische Staatsverständnis des islamischen Staates ging den zuvor aufgezeigten Weg. Erst mit dem Auftreten der neuzeitlichen islamischen Staatstheorien wurden Wege gesucht, die Rolle der ahl al-hall wa al-‘aqd neu zu beleben und wirksamer zu gestalten. ee) Die Rolle der öffentlichen baiah Die vier rechtgeleiteten Kalifen haben, nachdem sie die baiah der ahl al-hall wa al-‘aqd entgegengenommen hatten, an öffentlichen Versammlungen teilgenommen, bei denen das Volk die baiah gegenüber dem gewählten Staatsoberhaupt erklärte925. Daher ist es bedeutsam, die rechtliche Stellung dieser öffentlichen baiah durch das Volk zu ermitteln. Insbesondere stellt sich die Frage, ob diese öffentliche baiah notwendig für die Legitimität der Staatsherrschaft war oder lediglich einen symbolischen Akt darstellte. Die historischen Quellen erwähnen keine öffentliche Opposition gegen die baiah der vier rechtgeleiteten Kalifen, nachdem die Entscheidung feststand. Die Opposition gegen den dritten der rechtgeleiteten Kalifen Uthman entwickelte sich erst Jahre nach seinem Amtsantritt926. Dies geschah aber in erster Linie aufgrund seiner Politik und nicht wegen seiner Wahl zum Kalifen. Die Gegner Ali’s, des vierten rechtgeleiteten Kalifen, machten geltend, dass viele der Gefährten des Propheten (s. a. w. s.) nicht an seiner baiah teilgenommen hatten. Die baiah, die er entgegengenommen habe, sei primär eine öffentliche, den Großteil des Volkes umfassende baiah, von lediglich symbolischem Wert gewesen und weise daher keinen verbindlichen Charakter auf927. Die Vorbehalte gegen seine Bestimmung zum Kalifen kamen von einer Elite und nicht von dem gesamten Volk bzw. einem Großteil deselben928. Dies scheint zu bestätigen, dass die öffentliche baiah des Volkes eher einen repräsentativen Akt darstellt und nicht wie die baiah der ahl al-hall wa al-‘aqd tatsächlich verbindlich ist. Einige Juristen beziehen sich, wenn sie über die baiah schreiben, sehr wohl auf das Volk als Gesamtheit. Al-Mawardi argumentierte z. B., dass die ahl al-hall wa al-‘aqd bei ihrer Wahl die Chancen mitberücksichtigen müssen, ob ein Kandidat von der Mehrheit des Volkes akzeptiert wird929. Aus diesem Kontext ergibt sich aber nicht, dass die baiah des Volkes diejenige ist, die bei der Wahl des Kalifen von Relevanz ist und verbindlichen Charakter aufweist. Al-Mawardi statuierte 925 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 67. 926 Vgl. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 127 ff.; Hans Küng, Islam, 2007, 183. 927 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 67. 928 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 183 f. 929 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 6.
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nämlich auch, dass, sofern die ahl al-hall wa al-‘aqd eine Entscheidung für einen potentiellen Kandidaten getroffen haben, es für das Volk obligatorisch sei, diesem gegenüber die baiah zu erklären und ihm zu gehorchen930. Er schrieb in diesem Kontext, dass die baiah von Umar alleine durch Abu Bakrs Auswahl, mithin unabhängig von der späteren Anerkennung durch andere Mitglieder der ahl al-hall wa al-‘aqd stattgefunden habe931. Auf der anderen Seite hob Al-Mawardi hervor, dass die Funktion der ahl al-hall wa al-‘aqd lediglich die Identifikation des Mannes sei, der zum Staatsoberhaupt bestimmt werden soll932. Dieses Argument sollte allerdings nicht aus dem Kontext gerissen werden, um zu behaupten, dass Al-Mawardi die baiah der ahl al-hall wa al-‘aqd nur als eine Nominierung des fähigsten Kandidaten betrachtete und letztlich das Volk über die Einsetzung des Staatsoberhauptes in einer öffentlichen baiah entscheiden sollte. Wie zuvor erwähnt, war Al-Mawardi der Meinung, dass das Volk der baiah der ahl al-hall wa al-‘aqd folgen müsse, sobald es von ihm verlangt werde. Ibn Teymiye glaubte, dass Abu Bakr’s Bestimmung Umar’s zu seinem Nachfolger nur legitim wurde, nachdem die Mehrheit der Gefährten des Propheten (s. a. w. s.) dies akzeptiert und dem zugestimmt hatte. Er argumentierte, dass das Amt des Kalifen die effektive Herrschaft und die Staatsgewalt begründen müsse und daher die Zustimmung von einem oder einigen wenigen hierzu nicht imstande sei, wenn diese Zustimmung nicht dazu führe, dass eine effektive und tatsächliche Herrschaft begründet wird. Nach der Auffassung von Ibn Teymiye muss der Kandidat für das Amt des Kalifen die baiah derjenigen Personen erhalten, die effektiv die Macht im Staat transferieren können933. Dabei meinte er aber, dass die effektive und tatsächliche öffentliche Machtübernahme mit der baiah der ahl al-hall wa al-‘aqd einhergehe und nicht als separater Akt gesehen werden sollte. Hieraus folgt, dass die Legitimität der Staatsmacht und die damit einhergehende Übertragung der tatsächlichen Herrschaft nicht unbedingt durch eine separate baiah der Öffentlichkeit geschieht. Eine entsprechende Meinung über das Wahlprozedere im früh-islamischen Staat, welche von einigen zeitgenössischen Rechtsgelehrten vertreten wird, kann nicht durch die historische Praxis und klassische juristische Werke bestätigt werden934. Hierbei muss aber berücksichtigt werden, dass all diese Handlungsweisen und die klassischen juristischen Meinungen die Ergebnisse von ijtihad sind und deshalb nicht unbedingt verbindlich 930
Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 6, 15. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 9. 932 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 6 f. 933 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 68. 934 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 68. 931
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für einen neuzeitlichen islamischen Staat sind. Eine parlamentarische Nominierung eines qualifizierten Kandidaten oder eine andere verfassungsrechtlich festgelegte Methode, wie eine direkte Wahl durch das Volk, kann dieselben Ziele verwirklichen. Welche Wahlmethode konkret angewandt wird, spielt nach heutiger Meinung der Rechtsgelehrten keine bedeutende Rolle mehr, da alle Wahlmethoden islamisch schlüssig legitimierbar sind935. Jedenfalls soll sie aber die modernen demokratischen Entwicklungen berücksichtigen, um die Methoden der Wahl des Staatsoberhauptes im früh-islamischen Staat von Medina zu replizieren936. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass die baiahs im frühislamischen Staat selbst die Ausübung von ijtihad darstellten und alle vier rechtgeleiteten Kalifen auf eine andere Art und Weise zum Kalifen gewählt wurden. Baiah repräsentiert die freie Kundgebung der politischen Entscheidung über den Machttransfer, direkt oder durch öffentliche Vertreter, deren besondere Rolle innerhalb der Gemeinde akzeptiert und gewünscht ist. Eine baiah kann daher in jeglicher Art und Weise, die als notwendig und legitim erachtet wird, durchgeführt werden. Die Rolle, die der öffentlichen baiah dabei zuteil wird, hängt von der Interpretation dieses Prozesses durch die Muslime ab. ff) Schlussfolgerung Die baiah ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen dem Volk und dem Staatsoberhaupt, der für beide Seiten Verpflichtungen begründet. Das Volk überträgt sein Recht zur Ausübung der Staatsmacht an einen ausgewählten potentiellen Kandidaten, der zum Staatsoberhaupt bestimmt wird. Dieser öffentliche Vertrag wird in der Praxis durch eine Wahl verwirklicht. Hierbei wird das Volk von einem ausgewählten Kreis von bedeutenden Persönlichkeiten repräsentiert. Die Anzahl der Persönlichkeiten, die in diesem ausgewählten Kreisen agieren, und die Voraussetzungen der Zugehörigkeit zu diesem Zirkel sind nicht verbindlich konkretisiert. Diese spezielle Gruppierung wählt aus den potentiellen Kandidaten denjenigen, den sie als geeignet und fähig betrachtet die Staatsführung zu übernehmen. Die Voraussetzungen, die ein potentieller Kandidat erfüllen muss, sind ebenfalls nicht verbindlich definiert. Die baiah findet in zwei Abschnitten statt: erstens durch eine baiah eines ausgewählten Kreises von Persönlichkeiten, und zweitens durch eine öffentliche baiah der Massen. Je nach Interpretation kann dieser spezielle Zirkel von Persönlichkeiten das ganze Volk oder nur einige Persönlichkeiten umfassen. Auch kann die Kompetenz dieses speziellen Zirkels als ein einfaches unverbindliches Nominierungsrecht betrachtet werden und die
935 936
Vgl. M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 154 f. Vgl. M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 154 f.
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zweite öffentliche baiah als die verbindliche Wahl zum Staatsoberhaupt angesehen werden. Die zu diesen Bestimmungsmethoden entwickelten Meinungen stellen ijtihad der Rechtsgelehrten dar und sind daher nicht verbindlich. Ein islamischer pouvoir constituant ist deshalb bei der Festlegung des Legitimierungsprozesses des Staatsoberhauptes, der auf einer baiah basieren soll, völlig frei. Das Wahlmodell kann daher Ähnlichkeiten mit einer präsidialen Republik oder einer parlamentarischen Republik aufweisen oder an eine Oligarchie erinnern. Die baiah ist im Vergleich zu einer Wahl im westlichen Staatsrecht aber nicht nur ein Prozess zur Bestimmung des Staatsoberhauptes, sondern gleichzeitig ein Versprechen Gott gegenüber, seinen politischen Stellvertreter anzuerkennen. Daher ist derjenige, der in der baiah partizipiert, auch gegenüber Gott verantwortlich. Auf der anderen Seite ist das gewählte Staatsoberhaupt ebenfalls gegenüber Gott verpflichtet dessen Ordnung, im Diesseits zu verwirklichen. Folglich ist die baiah mehr als eine einfache politische Wahl. Sie beinhaltet auch ein Treue- und Gehorsamsversprechen gegenüber dem gewählten Staatsoberhaupt und begründet für beide Parteien diesseitige und jenseitige Verpflichtungen. b) Die Wahl des Nachfolgers durch den Kalifen: istikhlaf al-ahd Eine weitere Form der Bestimmung des Staatsoberhauptes war die Auswahl eines potentiellen Kandidaten durch den vorherigen bzw. amtierenden Kalifen. Dies wurde istikhlaf, die Wahl des eigenen Nachfolgers, genannt937. Die Befürwortung dieses Wahlrechtes des amtierenden Staatsoberhauptes wurde von dem Beispiel des Kalifen Abur Bakr abgeleitet938. Außerdem diente zur Unterstützung dieser Ansicht das Beispiel des Propheten David (a. s.), der als amtierendes Staatsoberhaupt seinen Sohn, den Propheten Salomon (a. s.), verbindlich zum Nachfolger bestimmte. Nach sunnitischer Ansicht hat der Prophet (s. a. w. s.) diese Art der Auswahl nicht angewandt, um seinen politischen Nachfolger zu bestimmen939. Nach seinem Tode wählten die Muslime selbst einen Nachfolger für das Amt des Staatsoberhauptes, durch den Prozess der baiah940. Viele frühe muslimische Herrscher, unter den Umayaden und Abbasiden, wandten diese Methode der Wahl an941. 937 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 159; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 48; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 133; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 69. 938 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 409; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 167. 939 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 163. 940 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 14. 941 Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 168.
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Diese Form des Transfers der politischen Autorität wurde mit der Zeit in der islamischen Staatenpraxis dominant942. Im Osmanischen Reich z. B. bestimmte, bis zum Machtantritt von Sultan Mehmet dem Eroberer Mitte des 15. Jahrhunderts, ein kleiner Zirkel durch eine baiah das Staatsoberhaupt943. Ab diesem Zeitpunkt allerdings wurden die Söhne des Herrschers alleine aufgrund ihres Status und ihrer politischen Macht mit dem Tod des Sultans Staatsoberhäupter des Reiches944. Nach der Übernahme des Kalifentitels 1517 durch Yavuz Sultan Selim achteten die osmanischen Herrscher aber darauf, wie das Staatsoberhaupt im Reich bestimmt wurde, und versuchten dies islamisch zu rechtfertigen, eben durch die Anwendung von istikhlaf945. Damit wollten sie die eigene Position und ihren Anspruch auf die Herrschaft sichern946. Einige muslimische Rechtsgelehrte, inspiriert durch früh-islamische Beispiele, vertraten die Meinung, dass istikhlaf nur wirksam sei, wenn der Wahl ausführliche Konsultationen zu Grunde liegen947. In diesem Kontext diente der Umstand, dass Abu Bakr Umar zu seinem Nachfolger bestimmte, den Rechtsgelehrten dazu, die Möglichkeit einer baiah von einem oder einigen wenigen der ahl al-hall wa al-‘aqd zu rechtfertigen und als wirksam zu betrachten, obwohl die Handlung von Abu Bakr auch als eine unverbindliche Nominierung interpretiert werden konnte. Die Gegenmeinung wiederum argumentierte, dass ein amtierender Kalif seinen eigenen Nachfolger verbindlich festlegen könne und bei seiner Wahl völlig frei sei sowie keine Konsultationen durchführen müsse948. Diese Meinung gewann an Bedeutung mit der Gründung des Umayadischen Kalifats nach dem Tod des letzten rechtgeleiteten Kalifen Ali, da Mu’awiyah Yazid seinen eigenen Sohn zu seinem Nachfolger bestimmte949. Dies stand im Gegensatz zu dem Beispiel der vier rechtgeleiteten Kalifen. Der Kalif Umar hatte noch seinen eigenen Sohn ausdrücklich von einer möglichen politischen Nachfolge ausgeschlossen950. Aber ab den Beispielen Mu’awiyahs und anderer umayadischer Herrscher versuchten muslimische Juristen diese Methode sowie die Bestimmungsmethode der Abbasi942 Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 164 ff. 168 f.; Muhammad Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 36 ff., 173 f. 943 Ahmed Akgündüz, Osmanli Kanunnameleri ve Hukuki Tahlilleri, 1990, 205. 944 Ahmed Akgündüz, Osmanlı Kanunnameleri ve Hukuki Tahlilleri, 1990, 205. 945 Ahmed Akgündüz, Osmanlı Kanunnameleri ve Hukuki Tahlilleri, 1990, 205 f.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 135. 946 Ahmed Akgündüz, Osmanlı Kanunnameleri ve Hukuki Tahlilleri, 1990, 205. 947 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 14. 948 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26; Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 13 ff. 949 Muhammad Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 36; Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 127. 950 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 159.
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den, die zum größten Teil nahe Verwandte, insbesondere ihre Söhne, zu ihren Nachfolgern machten, religiös zu begründen951. Hinzu kam, dass, sich als muslimische Juristen sich mit Staatsrecht zu beschäftigen begannen, bereits in weiten Teilen der islamischen Welt regionale dynastische Herrschaftsstrukturen etabliert hatten, die ihre Herrschaft auf diesem Beispiel aufbauten952. Diese autonomen Provinzherrscher waren nur noch nominell unter der Kontrolle und Herrschaft des Kalifen953. Während sunnitische Juristen und Theologen weiterhin an dem Prinzip festhielten, dass das Recht zur Bestimmung des Staatsoberhauptes der gesamten muslimischen Gemeinde zusteht, und damit gegen den schiitischen Anspruch der göttlichen Nominierung argumentierten, standen sie vor der Schwierigkeit, dass die von ihnen in der Theorie aufgestellten Kriterien der baiah nicht in der Praxis angewandt wurden954. Da immer mehr dynastische Herrschaftsstrukturen die islamische Staatenwelt dominierten, arbeiteten sie vielmehr an Rechtfertigungsmöglichkeiten für diese955. Sie schrieben, dass politische Herrschaft, da in der sharia nicht konkret definiert, ein Sachverhalt von ijtihad sei und dass dynastische Herrschaftsstrukturen von den Muslimen, auch von prominenten Gelehrten, akzeptiert und sogar als im Interesse der Gemeinde liegend betrachtet worden seien, sofern das islamische Recht umgesetzt sowie eine gewisse Rechtssicherheit gewährleistet wurde956. Die Implementierung des Prinzips der öffentlichen Bestimmung des Staatsoberhauptes durch das Volk hätte zu endlosen Bürgerkriegen, rechtlicher und politischer Unsicherheit, Aufständen und Blutvergießen unter der Bevölkerung geführt, so dass im Interesse der Öffentlichkeit hierauf verzichtet wurde957. Die Gelehrten erkannten an, dass es praktisch unmöglich war Herrscher, die ihr Regime auf militärische Macht stützten, herauszufordern oder gar abzusetzen. In diesem Zusammenhang ist auch die wechselnde Nutzung der Termini ahl al-hall wa al-‘aqd und ahl al-shawkah (diejenigen, die die tatsächliche Macht transferieren können), wie bei Al-Ghazzali und Ibn Teymiye, nachvollziehbar958. Al-Ma951
Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 168. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 142. 953 Vgl. Noah Feldman, The Rise and Fall of the Islamic State, 2008, 36 f.; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 468. 954 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143 f. 955 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144 ff. 956 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26 ff. 957 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 468. 958 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 69; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 463. 952
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wardi schrieb, dass das Prinzip der Auswahl des Kalifen durch den vorherigen Kalifen bereits durch Konsens als Möglichkeit anerkannt sei959, während AlGhazzali glaubte, dass ein Kalif, welcher die Unterstützung von ahl al-shawkah genießt, im Interesse der Implementierung der sharia und der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit als Staatsoberhaupt anerkannt werden sollte960. Die Umstände, dass diese de facto-Herrscher die juristischen Voraussetzungen und Qualifikationen nicht erfüllten sowie unter nicht-idealen Verhältnissen an die Macht gekommen waren, wurden gegen praktische Notwendigkeiten der damaligen Zeit abgewogen. Die muslimischen Juristen versuchten nichtsdestotrotz Sicherheitsmechanismen im Falle des istikhlaf zu etablieren, um diese Form der Bestimmung des Staatsoberhauptes näher an das Ideal der öffentlichen Wahl zu bringen. Als erstes verlangten sie, dass ein Nachfolger alle von ihnen vorausgesetzten Qualifikationen für das Amt im Zeitpunkt seiner Auswahl bzw. spätestens im Zeitpunkt seines Amtsantritts erfüllen müsse961. Die historische Praxis zeigt allerdings, dass auch diese Voraussetzung von den Herrschern ignoriert wurde. Die Juristen legitimierten aber nur diejenigen Staatsoberhäupter, die diese Voraussetzungen in einem Mindestmaß erfüllten und im Vergleich zu anderen potentiellen Kandidaten nur weniger verdienstvoll und geeignet waren962. Einige prominente Gelehrte stellten sich auf den Standpunkt, dass eine baiah eines weniger verdienstvollen und geeigneten Kandidaten diesen nur zum König, nicht aber zum Kalif mache963. Al-Ghazzali war flexibler in diesem Punkt. Er schrieb, dass ein Kalif jederzeit auf den Rat von qualifizierten Persönlichkeiten zurückgreifen könne, wenn er persönlich nicht dazu geeignet sei militärische und juristische Fragen zu klären964. Außerdem müsse der Kalif in solchen Zeiten nicht vom Stamm der Quraysh abstammen. Andere sunnitische Gelehrte waren der Meinung, dass ein weniger verdienstvoller und geeigneter Kandidat zum Kalif bzw. Herrscher bestimmt werden könne, sofern er tatsächlich politische Macht besitze965. Dies 959
Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 9. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 70; vgl. Noah Feldman, The Rise and Fall of the Islamic State, 2008, 38. 961 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 9 f. 962 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 9 f. 963 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 70. 964 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 70. 965 Vgl. Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 159 f.; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 27; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1980, 437 ff. 960
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würde die Einigkeit und Ordnung, welche in Krisenzeiten wichtiger sei als hervorragendes moralisches Verhalten und juristisches Wissen, bewahren. Die Akzeptanz solch einer Bestimmung als wirksame baiah durch die ahl al-hall wa al-‘aqd soll entweder nach der Nominierung, aber vor dem Amtsantritt, oder genau im Zeitpunkt des Amtsantrittes erfolgen. Wie zuvor erwähnt wird die baiah von muslimischen Juristen als ein Vertrag beachtet, der den freien Willen beider Vertragspartner beinhaltet966. Dies setzt aber voraus, dass das Gegenüber den freien Willen äußern kann, somit rechtsfähig ist. Zur Zeit der imperialen Großkalifate nominierten aber amtierende Herrscher ihre minderjährigen Söhne zu ihren Nachfolgern, welche nach Ansicht einiger Juristen nicht in der Lage waren selbständige Verträge abzuschließen967. Al-Mawardi betrachtete solch eine Auswahl als nicht verbindlich und verlangte zusätzlich die Zustimmung bzw. die baiah der ahl al-hall wa al-‘aqd 968. Ein weiterer Schutzmechanismus für istikhlaf war eine mögliche rückwirkende Zustimmung der ahl al-hall wa al-‘aqd. Abu Ya’la Al-Farra unterschied zwischen dem Akt der Nominierung und der Erfüllung des Sozialvertrages969. Das Recht der Nominierung konnte seiner Meinung nach vom amtierenden Kalifen ausgeübt werden, die letzte Entscheidung vor dem Amtsantritt träfen aber die ahl al-hall wa al-‘aqd970. Als eine weitere Sicherheit verlangten Juristen, dass der Kalif keine Persönlichkeit aus den ahl al-hall wa al-‘aqd wählen dürfe, da diese ihm bei seinem Amtsanntritt geholfen hätten. Abu Ya’la Al-Farra’s Konzept von al-istikhlaf hielt an der Rolle des öffentlichen Willens bei der Wahl des Kalifen fest und wurde daher von vielen Gelehrten befürwortet. Al-Mawardi’s Position auf der anderen Seite war, dass die Nachfolge sehr wohl vom amtierenden Kalifen geregelt werden könne, sofern der Nachfolger nicht der Sohn oder der Vater des amtierenden Kalifen war971. Bei diesen zwei Fällen forderte Al-Mawardi zusätzlich noch Konsultationen der führenden Persönlichkeiten972. Andere Gelehrte beschränkten diese Bestimmungsmöglichkeit nur auf den Sohn, wiederum andere betrachteten beide Auswahlmöglichkeiten als legitim973.
966 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 472. 967 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 134. 968 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 9 f. 969 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 71. 970 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 71. 971 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 9 f. 972 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 9 f. 973 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 10.
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Al-Baghdadi, Abu Ya’la Al-Farra, Ibn Hazm und viele andere betonten in ihren Werken in diesem Zusammenhang, dass zwar faktisch das Königtum die islamische Staatenwelt nach der Epoche der vier rechtgeleiteten Kalifen dominierte, aber das universelle ideale Kalifat in keiner Weise eine erbliche Institution sei und sich nicht dazu entwicklen dürfe974. Al-Juwayni z. B. verdeutlichte, dass das Kalifat nach der Epoche der vier rechtgeleiteten Kalifen von Gewalt und Arroganz durchdrungen worden und zu einem gewöhnlichen Königtum verkommen sei975. Selbst Ibn Khaldun, welcher sehr lang über sein Konzept von asabiyah schrieb und dabei die Bestimmung des Nachfolgers durch den amtierenden Kalifen generell und speziell die Bestimmung Yazid’s durch seinen Vater Mu’awiyah als legitim betrachtete976, stellte klar, dass die Bestimmung des Nachfolgers durch den amtierenden Kalifen nicht zur Kreation einer erblichen Kalifen-Dynastie führen dürfe, für die es keine Rechtfertigung in der Religion gebe977. Während es akzeptiert war, dass nach der baiah der ahl al-hall wa al-‘aqd eine öffentliche baiah des Volkes folgt, gab es Unstimmigkeiten unter den Juristen, ob dies auch bei istikhlaf notwendig ist. Nach einer Ansicht, die eine verbindliche Bestimmung durch den amtierenden Kalifen ablehnte, musste, nachdem der amtierende Kalif seine Nominierung ausgesprochen hatte und die ahl al-hall wa al-‘aqd ihre baiah erklärt hatte, zum Amtsantritt eine öffentliche baiah stattfinden978. Andere lehnten das Erfordernis einer öffentlichen baiah ab, wenn der Nachfolger nicht das Kind oder der Vater des Kalifen war979. In solch einem Fall verlangte auch diese Meinung eine öffentliche baiah980. Wiederum andere Gelehrte vertraten den Standpunkt, dass nach istikhlaf eine öffentliche baiah überhaupt nicht notwendig sei981. Insbesondere die letzteren Meinungen sind diejenigen, die zum Zeitpunkt der Schwächung der Stellung der Rechtsgelehrten entstanden und meist nur dazu dienten den status quo von quasi-absoluten Machthabern zu rechtfertigen982. 974 Vgl. Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 467. 975 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 72. 976 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 164 f. 977 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 160 f. 978 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 14. 979 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 2000, 9 f. 980 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 14. 981 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 14. 982 Vgl. Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 437 ff.
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F. Islamisches Staatsrecht
Hayreddin Karaman differenziert zwischen der Handlung von Abu Bakr bei der Bestimmung Umar’s zu seinem Nachfolger und der Handlung von Mu’awiyah, als dieser seinen Sohn Yazid zu seinem Nachfolger auswählte983. Für Hayreddin Karaman ist die erste Handlung eine legitime und verbindliche baiah, weil Abu Bakr nach bestem Gewissen gehandelt und vor seiner Wahl führende Persönlichkeiten der Gemeinde ausführlich konsultiert habe984, während die zweite Handlung durch Mu’awiyah keine legitime baiah darstelle, da hierdurch de facto eine erbliche Herrschaftsstruktur unter dem Deckmantel des Kalifats begründet wurde985. Hayreddin Karaman schreibt aber auch, dass nach der h. M. die Nominierung des Nachfolgers durch den amtierenden Kalifen heutzutage lediglich einen unverbindlichen Vorschlag darstelle und die verbindliche Entscheidung durch die ahl al-hall wa al-‘aqd getroffen werde986. Vehbe Zuhayli erklärt diesbezüglich, dass die Auswahl des Nachfolgers durch das amtierende Staatsoberhaupt rechtlich lediglich eine unverbindliche Nominierung darstelle und letztlich die Gemeinde der Entscheidungsträger sei987. Dabei schließt er die Handlung von Abu Bakr mit ein988. Des Weiteren hebt er hervor, dass die von Mu’awiyah eingeführte Praxis des quasi-erblichen Kalifats nur von den Muslimen akzeptiert worden sei, weil die Einheit der Gemeinde geschützt, die Ausdehnung des Staates nicht behindert sowie eine gemeinsame Drohkulisse gegenüber den Feinden aufrecht erhalten wurde989. M. Bes¸ir Eryarsoy teilt die Ansicht von Vehbe Zuhayli, ergänzt aber, dass die Wahl durch das amtierende Staatsoberhaupt zwar unverbindlich sei, aber doch ins Gewicht falle und daher nicht unbeachtlich sei990. Hieraus geht eindeutig hervor, dass der demokratische Charakter der Wahl des Staatsoberhauptes davon abhängig ist, inwiefern die baiah der ahl al-hall wa al-‘aqd als Repräsentanten des Volkes und die öffentliche baiah des Volkes als verbindlich und erforderlich betrachtet werden. Die Existenz vieler unterschiedlicher Meinungen zu diesen elementaren Fragen sollte nicht verwirren, da die sharia diesbezüglich schweigt. Ein Wahlsystem, welches im Einklang mit dem quran und der sunna steht, kann und muss von den Muslimen ihrer Zeit entsprechend entwickelt werden. Durch den flexiblen Ansatz von ijtihad im islamischen Recht haben Gelehrte verschiedene Entwürfe ausgearbeitet, die alle ihrer jeweiligen Zeit entsprachen. Diese verschiedenen Ansätze reflektieren aber auch die politischen Realitäten und den Zwang, dem diese Gelehrten ausgesetzt waren991. 983 984 985 986 987 988 989 990
Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 133 f. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 131. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 134 f. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 136. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 409 f. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 409. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 419. M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 160.
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c) Herrschaft durch Militärmacht: al-ghalabah Die Wahl des Kalifen durch das Volk als Staatskonzept wurde nicht nur durch die Umayadische Dynastie und die hierauf folgende Abbasidische Dynastie unterminiert, sondern auch von Militärführern, die in vielen Territorien des Staates die politische Macht an sich rissen992. Bereits im 2. Jahrhundert nach der Offenbarung des Islams standen die meisten Provinzen unter der Herrschaft von Militärführern und waren faktisch autonom993. Im 3. Jahrhundert nach der Offenbarung des Islams kamen sogar das Kerngebiet und das Kalifat unter die Herrschaft von türkischstämmigen Sultanen, den Seldschuken994. Al-Mawardi und Abu Ya’la Al-Farra akzeptierten die Übernahme der regionalen Herrschaft durch Militärführer, solange diese vom Kalifen autorisiert wurde, was auch nachträglich geschehen konnte, und diese Herrscher nominell weiterhin den Kalifen als religiöses Oberhaupt sowie als Staatsoberhaupt anerkannten995. Ein regionaler Herrscher konnte somit rechtmäßig die volle Autorität in dem von ihm kontrollierten Gebiet ausüben, sofern er die Oberhoheit des Kalifen respektierte und in seinem Territorium das islamische Recht implementierte996. Al-Mawardi glaubte zusätzlich sogar, dass der Kalif und der regionale Herrscher in gewissen Punkten, wie dem Schutz des Kalifats, dem Schutz der islamischen Welt sowie der Implementierung des islamischen Zivil- und Strafrechts, durch gemeinsame Interessen verbunden seien und kooperieren müssten997. Des Weiteren war Al-Mawardi davon überzeugt, dass solch ein regionaler Herrscher gleichzeitig ein gläubiger und praktizierender Muslim sein müsse998. Im Prinzip betrachteten beide, Al-Mawardi und Abu Ya’la Al-Farra den regionalen Herrscher als einen öffentlichen Vertreter, der sein Amt auch nach dem Tod des Kalifen beibehält999. Im Gegensatz hierzu repräsentiere ein Minister, ein sogenannter Wesir, den Kalifen und verliere sein Amt automatisch mit dem Tod des Kalifen1000.
991 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 14. 992 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 307 f. 993 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143. 994 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 143; vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 300 f., 315 ff.; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 166. 995 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 72. 996 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 36 f. 997 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 36. 998 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 36. 999 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 73. 1000 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 34.
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Im Falle einer tatsächlichen Machtübernahme durch einen de facto-Herrscher im unmittelbaren Umfeld des Kalifen verlangte Al-Mawardi für seine Legitimität, dass er dem Kalifen gegenüber nicht ungehorsam ist und dessen Autorität weiterhin anerkennt1001. Jede Entscheidung und alle Handlungen, die solch ein Herrscher im Namen des Kalifen treffe und durchführe, könnten vom Kalifen nachträglich genehmigt werden, sofern sie die Regeln der Religion nicht verletzen und damit das öffentliche Leben gefährden1002. Wenn Entscheidungen und Handlungen des lokalen Herrschers der sharia widersprechen, habe der Kalif das Recht diese nicht zu genehmigen und eine andere Macht damit zu beauftragen, den tatsächlichen Herrscher in seinem Namen abzusetzen1003. Abu Ya’la AlFarra stimmte in diesem Punkt mit Al-Mawardi überein und schrieb, dass der Kalif in einem solchen Fall keine andere Wahl habe als den amtierenden Herrscher, mit welchem Mittel auch immer, abzusetzen1004. Auch Al-Ghazzali akzeptierte die Realität, dass türkischstämmige Dynastien teilweise sogar im Kernherrschaftsgebiet des Kalifen die politische Macht ausübten, unter der Bedingung, dass sie das Kalifat unterstützen und ihre militärische Macht in die Dienste der Kalifen stellten1005. Er zeigte deswegen auch große Flexibilität bei der Bestimmung der Voraussetzungen, die ein potentieller Kandidat für das Amt des Kalifen erfüllen muss1006. Dabei verteidigte er vehement die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung des abbasidischen Kalifen Al-Mustazhir (1094–1119), der zu einer Zeit herrschte, als die türkisch-seldschukische Macht sehr dominant war1007. Er glaubte, dass die Implementierung des islamischen Rechts, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Erfüllung der öffentlichen Interessen und die Sicherung des Friedens wichtiger seien als die strikte Erfüllung von juristischen Qualifikationen1008. Andere Gelehrte duldeten mit ähnlichen Argumenten den status quo der türkisch-seldschukischen Macht1009. Ibn Khaldun schrieb, dass es in Abwesenheit von asabiyah, welche alle Muslime bei ihrem vorhandensein in einem Kalifat einen könnte, es empfehlenswert sei regionale Herrschaften zu etablieren, die zumindest in ihrem Umfeld für Sicher1001
Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 36. Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 36. 1003 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 36. 1004 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 73. 1005 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26, 28. 1006 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 28. 1007 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 73. 1008 David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 26, 28. 1009 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 73. 1002
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heit, Ordnung und für die Implementierung der sharia soweit möglich sorgen könnten, was ein schwacher Kalif ohne politische Macht nicht gewährleisten könne1010. Der Jurist Badr al-Din ibn Jama’a riet in diesem Zusammenhang, dass derjenige, der über die stärkste politische Macht verfügt, zum Herrscher gemacht und ihm Gehorsam entgegengebracht werden sollte, um die öffentliche Ordnung und die Einheit zu sichern, sogar wenn diese Persönlichkeit ignorant sei und an sich nicht tolerierbares Verhalten an den Tag lege1011. Er empfahl des Weiteren, dass jeder, der stark genug sei einen existierenden Herrscher abzusetzen, von dem Volk unterstützt und als Herrscher anerkannt werden sollte1012. Es ist offensichtlich, dass Jama’a lediglich eine juristische Rechtfertigung für die Herrschaft der Mameluken, einer türkisch-kaukasischen Militärkaste, in Ägypten formulierte1013. Alle vier großen klassischen sunnitischen Rechtsschulen akzeptierten sogar die Übernahme des Kalifats mit militärischen Mitteln, wenn derjenige, der die Staatsmacht an sich riss, alle Voraussetzungen für das Amt des Kalifen erfüllte oder eine Spaltung der Gemeinde verhindert wurde bzw. andere öffentliche Interessen dies rechtfertigten1014. Neuere Meinungen lehnen diese Art der Machtübernahme ab und betonen in der Regel, dass die klassischen Juristen ihre Argumente in diesem Sinne nur vorbrachten, weil sie die Rechtssicherheit in Krisenzeiten gewährleisten wollten1015. In Zeiten, in denen es keine außenpolitischen Konflikte gibt oder innenpolitische Zersetzungsprozesse evident sind, könne eine Machtübernahme mit militärischen Mitteln nicht gerechtfertigt werden1016. Hayreddin Karaman erklärt, dass heutzutage die baiah die einzige legitime Methode sei, mit der das Staatsoberhaupt bestimmt werden könne1017. d) Die Absetzung des Kalifen durch Auflösung der baiah Das Recht zur Absetzung bzw. zur Auflösung des baiah-Vertrages kann juristisch eigentlich nicht von dem Recht zum Abschluss dieses Vertrages getrennt 1010
Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 169 f., 256 f. Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. I, 1981, 437 ff.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 74. 1012 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 144. 1013 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 74. 1014 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 161 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 410. 1015 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 166; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 135 f. 1016 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 129 f. 1017 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 136. 1011
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werden. So schrieb der tunesische Gelehrte Ahmida an-Naifar, dass der Prophet (s. a. w. s.) verfügt habe, dass die religiöse und zivile Verantwortung der muslimischen Allgemeinheit aufgetragen werde. Ein Kalif sei deshalb lediglich als Verwalter exekutiver Vollmachten anzusehen, dessen Absetzung, sofern die Allgemeinheit dies wünsche, jederzeit möglich sei1018. Auch Maududi erklärte, dass die Macht des Kalifen durch die Grenzen des göttlichen Gesetzes beschränkt sei und deshalb die umma bei Verstößen das Recht habe ihn abzusetzen1019. Trotzdem, insbesondere wegen der bitteren Erfahrungen, die durch die Rebellion und das Attentat gegen Uthman ausgelöst wurden, wurde dieses Recht nicht konsequent ausgeübt, teilweise sogar in der klassischen Literatur abgelehnt1020. Gelehrte waren daher zurückhaltend bei der Befürwortung eines solchen Absetzungsrechts1021. Al-Baqillani verneinte in diesem Zusammenhang eine Absetzung und Auflösung des baiah-Vertrages, wenn der Kalif bzw. Imam weiterhin alle Voraussetzungen des Amtes erfülle und das Volk einen neuen Herrscher nur wegen eines Wechsels begehre1022. Dies bedeutet aber nicht, dass eine zeitliche Befristung des Amtes ausgeschlossen ist, obwohl die historische Praxis und die juristischen Werke indizieren, dass der Kalif sein Amt weiterhin wahrnehmen soll, wenn er alle Voraussetzungen erfüllt1023. Fathi Osman schreibt diesbezüglich, dass die Möglichkeit einer zeitlichen Befristung von der sharia offen gelassen wurde und daher die qualifizierten Teile der Bevölkerung hierzu durch ijtihad eine Entscheidung fällen können, die auch eine zeitliche Begrenzung des Amts beinhaltet1024. Wenn somit ein spezifischer Zeitabschnitt festgelegt wird, endet nach Fathi Osman das politische Amt erst mit Ablauf dieser Zeitspanne und nicht vorher1025. M. Bes¸ir Eryarsoy sieht dies ähnlich, schreibt aber, dass ein Kalif, solange er seine Aufgaben kompetent wahrnehme, nicht unbedingt abgesetzt werden müsse1026. Hayreddin Karaman erklärt dazu, dass im islamischen Staats-
1018 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 129. 1019 Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 193 ff., 252, 258. 1020 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 27; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 433 f. 1021 Vgl. Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 129 ff. 1022 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 74; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 27. 1023 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 427 f. 1024 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 74 f. 1025 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 74 f. 1026 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 190 ff.
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recht die Amtszeit nicht zeitlich, sondern inhaltlich fixiert sei1027. Solange der Kalif seine Aufgaben wahrnehme und wahrnehmen könne, solle er auch das Amt ausüben1028. Vehbe Zuhayli bejaht unter gewissen Voraussetzungen ein Absetzungsrecht der Gemeinde1029. Yusuf Al-Qaradawi schreibt, dass es den ahl alhall wa al-‘aqd möglich sein sollte, das Staatsoberhaupt gegebenenfalls zur Verantwortung zu ziehen und abzusetzen1030. Auch Isma’il Raji al-Faruqi ist der Meinung, dass das Staatsoberhaupt unter gewissen Voraussetzungen abgesetzt werden kann1031. Muhammad Assad schrieb, dass alle hierzu geführten Erörterungen rechtlich vertretbar seien und somit der islamischen pouvoir constituant hierüber verbindlich entscheiden müsse1032. Al-Baqillani wiederum schrieb, dass der Kalif abgesetzt werden soll, wenn er ungläubig wird, seine Verantwortung nicht mehr erfüllt oder aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht mehr erfüllen kann, die Religion vernachlässigt und andere durch sein Beispiel dazu animiert, die Religion zu vernachlässigen1033. Sich wiederholende Verschwendungen und Ausschweifungen, unmoralisches Verhalten, Ungerechtigkeit bei öffentlichen Handlungen und Vernachlässigung des islamischen Rechts sollten ebenfalls die Absetzung eines Kalifen rechtfertigen1034. Trotzdem glaubten viele andere klassische Juristen, dass in solchen Fällen der Kalif nur beraten und kritisiert werden solle oder bei Anordnungen, die klar gegen das islamische Recht verstoßen, diese nicht befolgt werden sollten. Eine Absetzung war nach diesen Ansichten zumeist aus sicherheitspolitischen Aspekten ausgeschlossen1035. Diesen Meinungen folgend wären andauernde Ausschweifungen Grund genug, die baiah für einen solchen Herrscher bei seiner Nominierung zu verweigern, aber nicht ausreichend um eine Absetzung nach einer wirksamen baiah zu rechtfertigen1036. Al-Mawardi unterschied zwischen Handlungen, bei denen der Kalif sein Amt nicht verliert, und nicht-legitimen Handlun-
1027
Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 139. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 139. 1029 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 427. 1030 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 44. 1031 Isma’il Raji al-Faruqi, Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 140. 1032 Muhammad Assad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 42. 1033 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 74. 1034 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 139 f. 1035 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 33; Khadija Katja WöhlerKhalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 129 f.; David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 27. 1036 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 75; Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 17. 1028
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gen sowie dem gesundheitlichen Zustand des Kalifen1037. Nur die zwei letzten Punkte könnten u. U. dazu führen, dass der Kalif die Legitimation für sein Amt verliere1038. Vehbe Zuhayli stimmt diesbezüglich Al-Mawardi zu1039. Eindeutig geht hervor, dass Al-Mawardi die Fälle, die eine Absetzung rechtfertigen, minimieren wollte. Dies ist bedeutend, da Al-Mawardi ein Anhänger der safitischen Rechtsschule war, welche eigentlich eine Absetzung des Kalifen befürwortete, wenn dieser ausschweifend und ungerecht handelte1040. Safitische Juristen waren auch der Meinung, dass ein abgesetzter Kalif wegen seiner Taten vor Gericht gestellt werden sollte1041. Al-Mawardi berichtete, dass ein Jurist in Basra die Meinung vertrat, dass eine Abweichung vom islamischen Recht automatisch dazu führe, dass ein Kalif sein Amt verliere, wenn er seine Handlungen nicht rational begründen könne1042. Die einzigen Gründe, die nach Al-Mawardi eine Absetzung des Kalifen rechtfertigen würden, sind dagegen der permanente Verlust der mentalen oder körperlichen Gesundheit sowie die Gefangennahme des Kalifen durch Feinde und der damit einhergehende Verlust der Freiheit1043. Auch Abu Ya’la Al-Farra glaubte nicht daran, dass der baiah-Vertrag aufgelöst werden kann, solange keine dies rechtfertigenden Gründe vorliegen. Ein Kalif sollte nach seiner Meinung zurücktreten, wenn er anhaltende Defizite aufweise, aber solange er fähig sei, das Amt auszuüben, habe der Kalif kein Rücktrittsrecht1044. Al-Juwayni vertrat die Ansicht, dass, ein Kalif wenn er unmoralisch handelt und von dem vorgeschriebenen Verhalten abweicht, freiwillig zurücktreten solle. Wenn er dies nicht tue, könnten andere ihn absetzen, sofern sie vorher ijtihad ausüben. Er war außerdem der Meinung, dass ein Kalif jederzeit zurücktreten könne1045. Andere Gelehrte wie Al-Baghdadi, Al-Ijy und Ibn Hazm vertraten den Standpunkt, dass ein Kalif sehr wohl jederzeit abgesetzt werden könne, wenn die Situation des Volkes sich verschlechtere, die Religion gefährdet werde und der 1037 1038
Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 17 f. Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 2000,
17 f. 1039
Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 427. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 75. 1041 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 17 ff.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at alImam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 75. 1042 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 17. 1043 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 18 f. 1044 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 75. 1045 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 75. 1040
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Kalif regelmäßig ungerecht handele1046. Auch die Mu’tazilla1047 glaubten, dass ein Kalif abgesetzt werden soll, wenn er unmoralisch handelt1048. Hayreddin Karaman fasst die zuvor wiedergegebenen Argumente zusammen und erklärt, dass es im Prinzip zwei Meinungen bezüglich eines Absetzungsrechts gebe1049: erstens die Meinung, dass der Kalif wegen persönlichen Fehlverhaltens, wie der Missachtung des Islams, abgesetzt werden kann1050; zweitens die Meinung, dass der Kalif nur aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen sein Amt verliert1051. Bezüglich der letzteren Meinung besteht ein Konsens unter den muslimischen Gelehrten. Sofern ein Kalif körperlich stark beeinträchtigt ist, rechtfertigt dies eine Absetzung. Bezüglich der ersten Ansicht gibt es insbesondere unter den klassischen Gelehrten viele Vertreter, die eine Absetzung ablehnen, um dadurch Sicherheit und Frieden zu gewährleisten1052. Dem setzt Hayreddin Karaman aber neuzeitliche Ansichten von muslimischen Gelehrten entgegen, die eine Absetzungsmöglichkeit formulieren, diese aber an eine gesetzliche Regelung binden, somit ein Regelwerk voraussetzen, dem alle Parteien unterworfen sind und das alle zu befolgen haben1053. Hierdurch schaffen neuzeitliche muslimische Juristen eine Balance zwischen einer möglichen Absetzung und dem Rechtsfrieden, wodurch die Wiederholung der negativen historischen Ereignisse verhindert werden soll. e) Schlussfolgerungen Die Legitimierung der Staatsmacht kann in einem islamischen Staat auf vier verschiedene Arten geschehen: erstens durch die göttliche Nominierung und Bestimmung des Staatsoberhauptes (nas), zweitens durch die Wahl bzw. Auswahl des Staatsoberhauptes durch das Volk bzw. die Gemeinde und anschließenden Treueschwur (baiah), drittens durch die Bestimmung des Staatsoberhauptes durch das amtierende Staatsoberhaupt (al-istikhlaf) und viertens durch die Erlangung der Staatsherrschaft durch Militärmacht (al-ghalabah). 1046 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 434; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 75 f.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 271. 1047 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 280 ff. 1048 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 433 f.; M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 271. 1049 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 140. 1050 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 129 ff.; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 78 f. 1051 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 51 f. 1052 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 27. 1053 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 140.
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Die göttliche Nominierung des Staatsoberhauptes ist aus sunnitischer Sicht mit dem Tod des Propheten (s. a. w. s.) abgeschlossen. Für Sunniten steht folglich das Recht der Bestimmung des Staatsoberhauptes der gesamten muslimischen Gemeinde zu. In Konsequenz kann das Volk das Staatsoberhaupt autonom wählen. Aus schiitischer Sicht wurden der vierte rechtgeleitete Kalif Ali und zwölf seiner Nachfahren, darunter die Enkelsöhne des Propheten (s. a. w. s.), göttlich zu den Nachfolgern des Propheten (s. a. w. s.) bestimmt. Der zwölfte dieser Nachfahren wurde durch Gott entrückt und wird zu gegebener Zeit als Mahdi zurückkehren sowie das ideale gottgewollte Kalifat bzw. Imamat begründen. Bis zu diesem Zeitpunkt betrachten daher schiitische Gelehrte eigentlich jegliche Herrschaft als unrechtmäßig. Da aber das islamische Recht angewandt und umgesetzt werden muss, erkennen schiitische Gelehrte staatliche Macht an, sofern sie als Stellvertreter des 12. Imam fungiert. Diese staatliche Macht kann auch unabhängig durch das Volk gewählt werden. Der Wahlprozess, den das Volk dabei ausführt, wird baiah genannt. Die baiah ist nicht nur eine Wahl, sondern auch ein öffentlicher gegenseitiger Sozialvertrag, der eine Treue- und Gehorsamspflicht begründet und das Volk sowie den Herrscher bindet. Der Herrscher muss das islamische Recht umsetzen und ist dem Volk gegenüber Rechenschaft schuldig. Gleichzeitig sind aber Volk und Herrscher durch die baiah auch Gott gegenüber dafür verantwortlich, ihre im baiahVertrag zusammengefassten Pflichten zu erfüllen und das islamische Recht umzusetzen. Der ausdrückliche Inhalt dieses öffentlichen Sozialvertrages ist nicht hinreichend bestimmt. Auch der genaue Wahlmechanismus und die Vertretung des Volkes sind in der sharia nicht obligatorisch geregelt. Die Wahl der vier rechtgeleiteten Kalifen war immer unterschiedlich, enthielt aber einige Gemeinsamkeiten. Das Volk wurde im früh-islamischen Staat durch eine kleine, aber bedeutende Elite vertreten. Diese konsultierten und entschieden sich für einen der potentiellen Kandidaten. Je nach Interpretation kann argumentiert werden, dass diese Entscheidung verpflichtend für das Volk war, oder aber, dass die letzte Entscheidung dem Volk zustand und die vorherige Auswahl nur eine unverbindliche Nominierung eines potentiellen Kandidaten darstelle. Somit kann je nach Auffassung eine direkte oder eine indirekte Wahl durch das Volk zur Bestimmung des Staatsoberhauptes befürwortet werden. Bei einer indirekten Wahl sind die Voraussetzungen, die Anzahl und die Qualifikationen für die Repräsentanten des Volkes sowie deren Legitimierung nicht konkret definiert. Alternativ kann das amtierende Staatsoberhaupt einen Nachfolger bestimmen. Ob diese Handlung dann für das Volk obligatorisch ist oder nicht, ist ebenfalls nicht geregelt. Es kann vertreten werden, dass diese Handlung verbindlich ist, oder es kann argumentiert werden, dass diese Handlung nur einen unverbindlichen Wahlvorschlag darstellt und nur unter wichtigen Umständen zur Anerkennung verpflichtet. Abgelehnt wird aber nach der h. M. ein universales erbliches islamisches Kalifat, während eine erbliche Monarchie in einem islamischen Ter-
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ritorialstaat nicht ausgeschlossen ist, in der das amtierende Staatsoberhaupt seinen eigenen Nachfolger bestimmen kann. Die Staatsmacht kann auch durch Militärmacht übernommen werden, sofern der dann eingesetzte Herrscher das islamische Recht achtet und dessen Umsetzung sowie Sicherheit garantiert. Die Möglichkeit der Bestimmung des eigenen Nachfolgers durch das amtierende Staatsoberhaupt und die Möglichkeit durch militärische Mittel die Staatsmacht zu übernehmen, haben in der islamischen Staatengeschichte dazu geführt, dass das islamische Ideal nicht umgesetzt und Staatsmacht missbraucht wurde. Da keine Kontrollinstanz die amtierenden Herrscher überprüfen und gegebenenfalls absetzen konnte, etablierten sich Herrschaftsstrukturen, die nur wenige Gemeinsamkeiten mit dem früh-islamischen Staat hatten und die von den muslimischen Juristen aufgestellten Voraussetzungen so gut wie gar nicht erfüllten. Insbesondere die Möglichkeit der militärischen Machtübernahme wird von klassischen und neuzeitlichen Gelehrten kritisiert und nur in Ausnahmesituationen, bei denen Anarchie droht, befürwortet. Dies kann unproblematisch aus den klassischen Werken herausgefiltert werden, während neuzeitliche Gelehrte diese Möglichkeit, gerade mit Blick auf ausgeartete Diktaturen in der islamischen Welt, mehrheitlich ablehnen. Außerdem heben Gelehrte hervor, dass diese Möglichkeit bejahende klassische Meinungen eigentlich nur mit der Absicht geschrieben wurden, den status quo in dem jeweiligen Staat zu rechtfertigen und den politischen Frieden zu sichern sowie Bürgerkriege zu verhindern. Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass die baiah des Volkes zur Bestimmung des Staatsoberhauptes am ehesten dem islamischen Ideal entspricht bzw. das meiste Potential zur Verwirklichung des islamischen Ideals aufweist. Durch diese Bestimmungsmethode kann Tyrannei und Willkürherrschaft verhindert werden, da das Volk eine bedeutende Rolle in diesem Prozess spielt und maßgebend bei der Delegierung der politischen Macht ist. Die baiah des Volkes gewährleistet am ehesten die Umsetzung des Konsultationsgebotes aus dem quran, das für jeden Muslim bzw. Menschen geltende Prinzip der Stellvertretung und Treuhänderschaft Gottes sowie das Recht des Volkes zur Bestimmung des Staatsoberhauptes. Fast alle muslimischen Gelehrten vertreten diese Meinung. Maududi schrieb diesbezüglich: „(1) In an Islamic State, the election of its Head depends entirely on the will of the general public and nobody has the right to impose himself forcibly as their Amir. (2) No clan or class has a monopoly of this office. (3) The election should take place with the free will of the Muslim masses and without any coercion or force“ 1054. Die baiah des Volkes ist allerdings nicht verbindlich geregelt und wurde auch nicht in den historischen islamischen Staaten institutionalisiert. Es liegt daher in der Hand eines islamischen pouvoir constituant, die baiah des Volkes verbindlich 1054
Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 252.
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zu regeln und zu institutionalisieren. Dabei kann je nach Interpretation und Umsetzung ein islamischer Staat starke Gemeinsamkeiten mit westlichen Wahlmechanismen zur Bestimmung des Staatsoberhauptes aufweisen. Auch die Voraussetzungen und Qualifikationen, die ein potentielles Staatsoberhaupt erfüllen muss, sind von einem islamischen pouvoir constituant festzusetzen. Ein Recht zur Absetzung des Staatsoberhauptes wurde von vielen klassischen muslimischen Rechtsgelehrten abgelehnt. Dies steht aber im Zusammenhang mit der instabilen politischen Lage der jeweiligen Epoche. Viel spricht dafür, dass die gleichen Juristen unter anderen Umständen, diesbezüglich andere Meinungen vertreten hätten. Außerdem stellen diese Ansichten nicht rechtsverbindliche ijtihad-Meinungen dar und sind daher nur als Indikatoren einer Strömung innerhalb des islamischen Staatsrechts zu sehen. Die Gegenmeinung hierzu, die auch von klassischen muslimischen Rechtsgelehrten vertreten wurde, hat ebenfalls sehr starke Argumente für sich, die allerdings genausowenig verbindlich sind. Neuzeitliche muslimische Rechtsgelehrte tendieren eher dazu unter gewissen rechtlichen Voraussetzungen ein Recht zur Absetzung des Staatsoberhauptes anzuerkennen. Auch eine befristete Zeit für die Amtsausübung wird nunmehr als legitim angesehen und sogar favorisiert. 3. Wahl des Staatsoberhauptes in neuzeitlichen islamischen Verfassungen Die verschiedenen Territorialstaaten, die nach der Entkolonialisierung in der islamischen Welt gegründet wurden und für sich in Anspruch nahmen islamische Staaten zu sein, konnten aus den zuvor wiedergegebenen zahlreichen Interpretationen des islamischen Staatsrechts, die sich auf die Legitimierung des Staatsoberhauptes beziehen, eine Bestimmungsmethode auswählen. Es war dem jeweiligen islamischen pouvoir constituant überlassen sich, je nach Überzeugung für eine Interpretation zu entscheiden. Im Folgenden wird auf vier ausgesuchte neuzeitliche islamische Verfassungen eingegangen und deren Legitimierungsprozess für das Staatsoberhaupt analysiert. Es soll aufgezeigt werden, wie die zuvor erarbeiteten und zur Interpretation offenen Punkte in konkrete neuzeitliche Beispiele umgesetzt werden. Durch den Vergleich mehrerer neuzeitlicher islamischer Verfassungen sollen einmal das unterschiedliche Verständnis des früh-islamischen Beispiels verdeutlicht des Weiteren aber auch Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden. Obwohl sich die ausgewählten Beispiele unterscheiden, bauen die konkreten Entscheidungen für eine Staatsform in allen neuzeitlichen islamischen Verfassungen auf das Beispiel des Propheten (s. a. w. s.) sowie des früh-islamischen Staates auf und spiegeln die Interpretationen der Juristen und Gelehrten wider.
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a) Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo Die Verfassung der Al-Azhar Universität reguliert im fünften Abschnitt, „Staatspräsident (Imam)“, der die Artikel 44 bis 60 umfasst, hauptsächlich die Rechte, die Kompetenzen, die Einschränkungen und die Legitimierung bzw. Bestimmung des Staatsoberhauptes. Das Staatsoberhaupt trägt die Bezeichnung Staatspräsident. Art. 44 formuliert eine Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staatspräsidenten, auch wenn dessen Meinung nicht geteilt wird. Art. 45 wiederum relativiert diese Pflicht, indem artikuliert wird, dass nur sharia-konforme Anweisungen befolgt werden müssen. In Art. 46 heißt es: „Unter der Kontrolle der Rechtsprechung wird der Staatspräsident durch eine generelle baiah gewählt, die durch das Gesetz festgelegt und konkretisiert wird. Die baiah wird durch Mehrheitsentschluss der daran Partizipierenden entschieden.“
Art. 48 beinhaltet diesbezüglich: „Die Bestimmung des Staatspräsidenten soll im Einklang mit dem Gesetz geschehen und durch eine generelle baiah, die alle Schichten und Segmente der umma umfasst, geschehen. Sofern die Umstände es zulassen und sofern die Teilnahme von Frauen als möglich erachtet wird, sollen diese ebenfalls ein Recht haben, bei der Wahl involviert zu werden.“
Art. 49 erklärt, dass, es solange die baiah nicht abgeschlossen ist, vollkommen legitim ist, gegenüber potentiellen Kandidaten Opposition zu betreiben, folglich der Versuch geschützt ist, die baiah zu beeinflussen. Art. 50 formuliert explizit ein Absetzungsrecht für diejenigen, die ein Recht haben an der generellen baiah aktiv zu partizipieren. Dies darf allerdings nur im Rahmen des Gesetzes geschehen. Art. 47 zählt die Voraussetzungen auf, die ein potentieller Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten erfüllen muss. Ein Anwärter für das Amt des Staatspräsidenten muss Muslim, männlich und erwachsen sein. Außerdem darf er weder geistige noch körperliche Behinderungen aufweisen. Letztlich soll er sich im Islam und im islamischen Recht auskennen. Es wird deutlich, dass die Autoren der Verfassung der Al-Azhar Universität die baiah des Volkes als Bestimmungsprozess für das Staatsoberhaupt favorisieren. Die Bestimmung des Nachfolgers durch das amtierende Staatsoberhaupt oder die Möglichkeit durch militärische Mittel die Staatsmacht zu übernehmen, werden in der Verfassung der Al-Azhar Universität nicht berücksichtigt. Das Recht des Volkes das Staatsoberhaupt autonom zu bestimmen, ist durch die zuvor aufgezeigten Artikel schriftlich fixiert und institutionalisiert. Der genaue Ablauf, die genaue Beteiligung und die Qualifikationen der Wahlberechtigten sollen allerdings, erst durch das einfache Gesetz konkretisiert werden. Ob und inwieweit dabei direkte oder indirekte Wahlen stattfinden sollen, ist nicht geregelt. Da die Verfassung der Al-Azhar Universität niemals in Kraft getreten ist, wurde auch bis zum heutigen Tag kein Wahlgesetz, welches auf den Art. 44 ff. aufbaut, erlassen. Eine Gesamt-
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betrachtung insbesondere der in Art. 48 verwendeten Formulierung „. . . durch eine generelle baiah, die alle Schichten und Segmente der umma umfasst . . .“ indiziert aber, dass der Staatspräsident direkt vom Volk zu wählen ist. b) Karachi-Grundprinzipien Die Karachi-Grundprinzipien beinhalten nur einen Artikel, der sich explizit mit der Bestimmung des Staatsoberhauptes beschäftigt. Dies hängt damit zusammen, dass diese Grundprinzipien keine Verfassung im eigentlichen Sinne darstellen, sondern Leitlinien für eine zu erlassende Verfassung festlegen. So heißt es in Art. 16: „The body empowered to elect the Head of State shall also have the power to remove him by a majority of votes.“
Hierbei ist der Begriff „body“ nicht konkretisiert bzw. legal definiert. Aber aus einem Gesamtüberblick der Karachi-Grundprinzipien kann geschlossen werden, dass mit der Umschreibung „body“ eine das Volk vertretende Institution gemeint ist. Art. 12 formuliert: „The Head of State shall be a male Muslim in whose piety, learning and soundness of judgement the people or their elected representatives have confidence.“
Art. 14 besagt: „The Head of State shall function not in an autocratic but in a consultative (Shura’i) manner, i. e. he will discharge his duties in consultation with persons holding responsible positions in the Government and with the elected representatives of the people.“
Art. 15 erklärt: „The Head of State shall have no right to suspend the Constitution wholly or partly or to run the administration without a Shura.“
Eine Gesamtbetrachtung der Karachi-Grundprinzipien indiziert, dass das Staatsoberhaupt durch ein Gremium von Repräsentanten des Volkes gewählt wird. Andere insbesondere von klassischen Juristen formulierte Legitimierungsprozesse, werden nicht berücksichtigt. Deutlich wird hierdurch, dass auch die Verfasser der Karachi-Grundprinzipien die baiah des Volkes als heutzutage einzig legitimen Mechanismus zur Bestimmung des Staatsoberhauptes identifiziert haben. Wie dies aber in der Praxis zu geschehen hat, insbesondere wie dieses Gremium bestimmt wird, welche Qualifikationen Wahlberechtigte erfüllen müssen und wie die Rolle des Volkes im Detail dabei aussieht, wird einem islamischen pouvoir constituant überlassen. c) Saudi-Arabische Staatsgesetze Im Grundgesetz der Herrschaft, welches das wichtigste der drei saudi-arabischen Staatsgesetze ist, heißt es in Art. 1:
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„Das Saudi-Arabische Königreich ist ein souveräner arabischer, islamischer Staat, dessen Religion der Islam und dessen Verfassung das Buch Allahs, des Erhabenen, und die Sunna seines Propheten sind.“
Art. 5a) führt ferner aus, dass das Herrschaftssystem des Saudischen Königreiches die Monarchie ist. Art. 5b) formuliert diesbezüglich: „Die Monarchie wird verkörpert von den Söhnen des Gründerkönigs Abd al-Aziz Bin ar-Rahman al-Faisal Al Saud und dessen Kindeskindern. Der für die Macht geeignetste unter ihnen wird, geleitet vom Buch Allahs, des Erhabenen, und der Sunna seines Propheten zum König ernannt (bestimmt).“
Der König ist somit das Staatsoberhaupt in Saudi-Arabien. Art. 5 bekräftigt die monarchische Herrschaftsform. Erstmals werden mit Erlass des Grundgesetzes der Herrschaft nicht nur die Prärogative des Königs und des Thronfolgers festgeschrieben, sondern auch die Art und Weise der Thronfolge. Bis zum Erlass der saudi-arabischen Staatsgesetze war es üblich, dass der König im engsten Kreis der Söhne des Staatsgründers entsprechend der Altersfolge und unter Mitwirkung der wichtigsten ulama bestimmt wurde1055. Dieser Bestimmungsmechanismus wies starke Ähnlichkeiten zu istikhlaf auf. In der Regel wurde der Kronprinz zum neuen König bestimmt. Künftig soll als neuer König der geeignetste Kandidat aus dem weitaus größeren Kreis der Söhne und Enkel ausgewählt werden. Eine Partizipation der ulama wird in diesem Zusammenhang aber nicht erwähnt oder verlangt. Folglich enthält auch das saudische Staatsrecht, nach dem Erlass der saudi-arabischen Staatsgesetze, die baiah. Es beschränkt aber die ahl al-hall wa al-‘aqd auf die männlichen Mitglieder der Königsfamilie und limitiert auch die möglichen Kandidaten für das Amt des Staatsoberhauptes auf den Kreis der Söhne und Enkel des Staatsgründers. Das Volk spielt in diesem Zusammenhang keine rechtsverbindliche Rolle. Es gibt aber gemäß Art. 6 kollektiv einen formellen Treueschwur ab und verwirklicht damit eine öffentliche baiah, die allerdings praktisch keine Bedeutung hat. Eine Absetzungsmöglichkeit ist in dem Grundgesetz der Herrschaft nicht ausdrücklich formuliert. d) Iranische Verfassung Die Islamische Republik Iran ist ein von Schiiten begründeter Staat, dessen Mehrheit an eine göttliche Bestimmung des Staats- und Religionsoberhauptes und die Rückkehr des entrückten 12. Imams glaubt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Art. 5 besagt: „During the occultation of the Wali al-Asr (12th Imam) – may God hasten his reappearance –, the leadership of the Ummah (wilayat-e-amr)shall devolve upon the 1055 Herbert Baumann/Mathias Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitglieder der Liga der arabischen Staaten, 1995, 610.
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just and pious person, who is fully aware of the circumstances of this age, courageous, resourceful, and possessed of administrative ability. He will assume the responsibilities of this office in Accordance with Article 107.“
Art. 6 formuliert ferner: „In the Islamic Republic of Iran, the affairs of the country must be administered on the basis of public opinion expressed by the means of elections, including the election of the President, the representatives of the Islamic Consultative Assembly, and the members of councils, or by means of referenda in matters specified in other articles of this Constitution“.
Hieraus ergibt sich, dass die Islamische Republik Iran das Amt des Staatsoberhauptes zweiteilt: einmal in eine religiöse Führungsinstanz, welche durch einen muslimischen Rechtsgelehrten ausgeübt wird, und zum zweiten in eine politische Führungsinstanz, die von einem Präsidenten wahrgenommen wird. In Art. 107 Abs. 1 heißt es diesbezüglich: „After the demise of Imam Khumayni, the task of appointing the (religious) Leader shall be vested with the experts (Assembly of Experts) elected by the people. The experts will review and consult among themselves concerning all the religious men possessing the qualifications specified in Articles 5 and 109. In the event they find one of them better versed in Islamic regulations or in political and social issues, or possessing general popularity or special prominence for any of the qualifications mentioned in Article 109, they shall elect him as the (religious) Leader. Otherwise, in the absence of such superiority, they shall elect and declare one of them as the (religious) Leader. The (religious) Leader thus elected by the Assembly of Experts shall assume all the powers of the religious Leader and all the responsibilities arising therefrom“.
Art. 113 artikuliert in diesem Zusammenhang: „After the office of (religious) Leadership the President is the highest official in the country. His is the responsibility for implementing the Constitution and acting as the head of the executive, except in matters directly concerned with the office of the Leadership“.
Das Islamische Oberhaupt wird gemäß Art. 107 durch die vom Volk gewählte Expertenversammlung, die aus muslimischen Rechtsgelehrten besteht, gewählt bzw. bestimmt. Dabei muss der potentielle Kandidat die in Art. 5 und Art. 107 i.V. m. Art. 109 aufgezählten Qualifikationen erfüllen. Die Expertenversammlung ist gemäß Art. 108 befugt, das sie betreffende Gesetz, in dem die Anzahl der Experten, deren Qualifikationen sowie der Bestimmungsprozess des Islamischen Oberhauptes enthalten sind, autonom zu regulieren. Außerdem hat sie das Recht sich eine Geschäftordnung für ihre Sitzungen zu geben. Das Islamische Oberhaupt wird folglich nur indirekt vom Volk gewählt. Das Volk hat daher theoretisch keine große Einflussmöglichkeit auf den internen Ablauf des Wahlprozesses, da die Expertenversammlung diesbezüglich selbständig legislativ agieren darf.
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Art. 114 benennt bezüglich der Bestimmung des Präsidenten folgendes: „The President is elected for a four-year term by the direct vote of the people. His reelection for a successive term is permissible only once“. Das Verfahren hierzu wird gemäß Art. 116 S. 2 durch das einfache Gesetz bestimmt. In Art. 117 werden aber die Rahmenbedingungen für dieses Wahlgesetz festgelegt: „The President is elected by an absolute majority of votes polled by the voters. But if none of the candidates is able to win such a majority in the first round, voting will take place a second time on Friday of the following week. In the second round only the two candidates who received the greatest number of votes in the first round will participate. If, however, some of the candidates securing the greatest number of votes in the first round withdraw from the elections, the final choice will be between the two candidates who won a greater number of votes than all the remaining candidates“.
Während somit das Islamische Oberhaupt indirekt vom Volk gewählt wird, wird der Präsident durch eine direkte Wahl bestimmt. Dabei muss der potentielle Kandidat zwischen 25 und 75 Jahren alt sein, er muss Muslim sein, er darf keine Vorstrafen aufweisen und nicht in Verbindung mit dem Shah-Regime stehen, er muss eine politisch bekannte und aktive Persönlichkeit sein sowie loyal zur Islamischen Republik Iran stehen. Ob der Präsident männlich sein muss, ist verfassungsrechtlich nicht festgelegt, aber die Praxis bei der Wahl indiziert, dass ein potentieller Kandidat männlich sein soll. Der sogenannte Wächterrat, bestehehend aus zwölf Mitgliedern, sechs Juristen und sechs religiösen Gelehrten, entscheidet über die Zulassung von potentiellen Kandidaten zur Wahl für das Präsidentenamt. Die sechs religiösen Gelehrten werden vom Islamischen Oberhaupt gewählt, während die sechs Juristen vom Parlament gewählt werden. Frauen sind wahlberechtigt und partizipieren an der Wahl des Präsidenten, des Parlaments und der Expertenversammlung. Im Parlament sind Frauen auch als Abgeordnete vertreten, die Expertenversammlung hingegen besteht aus religiösen Gelehrten, die männlich sind. Beide, das Islamische Oberhaupt und der Präsident, können unter gewissen Umständen ihres Amtes enthoben werden oder eigenständig zurücktreten. Die Islamische Republik verwirklicht somit eine baiah des Islamischen Oberhauptes durch eine Elite, welche aber vom Volk gewählt wird, und eine baiah des Präsidenten direkt durch das Volk. Eine legitime Herrschaftsausübung durch Militärmacht ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Istikhlaf kann in der Theorie bei der Bestimmung des Islamischen Oberhauptes angewandt werden, sofern die Expertenversammlung dies intern normiert. Im Übrigen spielt das Volk eine starke Rolle bei der Legitimierung der Staatsmacht, obwohl der Präsident nach der Verfassung dem Rang nach unter dem Islamischen Oberhaupt steht. Trotzdessen bestimmt der Präsident wegen seiner starken Stellung in der Exekutive die Innen-, und Außenpolitik des Landes.
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e) Schlussfolgerungen Die baiah des Volkes, als verbindlicher Mechanismus zur Bestimmung des Staatsoberhauptes, ist bei den aufgezeigten neuzeitlichen islamischen Verfassungen dominant. Während der Staatspräsident in der Verfassung der Al-Azhar Universität, wie aus einem Gesamtüberblick zu schließen ist, und der Präsident in der iranischen Verfassung direkt vom Volk gewählt werden, werden das Staatsoberhaupt bei den Karachi-Grundprinzipien und das Islamische Oberhaupt in der iranischen Verfassung nur indirekt vom Volk gewählt. Die Expertenversammlung darf nach der iranischen Verfassung das Islamische Oberhaupt relativ autonom bestimmen und besitzt diesbezüglich sogar legislative Kompetenzen. Es scheint hingegen, dass das Gremium in den Karachi-Grundprinzipien stärker durch das Volk beeinflusst werden soll. Auf der anderen Seite obliegt die Bestimmung des Staatsoberhauptes nach den saudi-arabischen Staatsgesetzen nur einer kleinen Elite. Das Staatsoberhaupt kann auch nur aus einem beschränkten Kreis von potentiellen Kandidaten gewählt werden. Das Volk übt bei diesem Legitimierungsprozess keine wichtige Funktion aus und hat nur eine formelle Rolle. In der Verfassung der Al-Azhar Universität besteht die Möglichkeit per Gesetz Frauen aus dem Wahlprozess auszuschließen. Während die Karachi-Grundprinzipien diesbezüglich schweigen, können Frauen im Iran bei den Präsidentschaftswahlen partizipieren. Da das Islamische Oberhaupt im Iran von der Expertenversammlung bestimmt wird und deren Mitglieder in der Regel männliche muslimische Rechtsgelehrte und Theologen sind, können Frauen praktisch an der direkten Wahl des Islamischen Oberhauptes nicht teilnehmen. Aber da die Expertenversammlung wiederum vom ganzen Volk gewählt wird, üben Frauen über diese Wahl einen gewissen Einfluss aus und partizipieren somit indirekt an der Wahl des Islamischen Oberhauptes. Bei der Bestimmung des Staatsoberhauptes in Saudi-Arabien nehmen Frauen nicht teil. Frauen sind außerdem als potentielle Kandidaten von dem Amt des Staatsoberhauptes in der Verfassung der Al-Azhar Universität, den Karachi-Grundprinzipien und den saudi-arabischen Staatsgesetzen explizit ausgeschlossen. In der iranischen Verfassung ist dies zwar nicht ausdrücklich normiert, stellt aber die wohl h. M. der Juristen dar. Abgesehen von den saudi-arabischen Staatsgesetzen formulieren alle anderen islamischen Verfassungen bzw. Verfassungsvorschläge ein Absetzungsrecht des Volkes gegenüber dem amtierenden Staatsoberhaupt, das an gewisse rechtliche Voraussetzungen geknüpft ist. Außerdem haben die Staatsoberhäupter ein Rücktrittsrecht, welches sie unter bestimmten Voraussetzungen ausüben können. Alle neuzeitlichen Kodifizierungen von islamischem Staatsrecht enthalten keine Legitimation der Herrschaft durch Militärmacht, und bei keinem der aufgeführten Beispiele wird explizit istikhlaf bei der Bestimmung des Staatsoberhaup-
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tes angewandt. Dies ist von Relevanz, da sich hieraus ergibt, dass die Rolle des Volkes bei der Bestimmung des Staatsoberhauptes in islamischen Staaten diejenige ist, die die mehrheitliche Zustimmung der Muslime und der Gelehrten genießt. Ob hierbei eine direkte Wahl oder eine indirekte Wahl mit einer zwischengeschalteten ahl al-hall wa al-‘aqd angewandt werden soll, obliegt den Ausführungen eines islamischen pouvoir constituant. Beide Formen können als legitime Interpretationen vertreten werden. Aber auch das saudische Beispiel ist juristisch schlüssig, obwohl die Argumente hierfür schwächer sind. 4. Vergleich mit der Wahl des Staatsoberhauptes im westlichen Staatsrecht Das Staatsoberhaupt wird in westlichen Staaten auf unterschiedliche Art und Weise bestimmt. Die Bestimmung hängt insbesondere davon ab, welche Stellung das Staatsoberhaupt innerhalb der jeweiligen Staatsstruktur innehat1056. In parlamentarischen Republiken, in denen das Staatsoberhaupt meist nur repräsentative Aufgaben wahrnimmt und nur mit schwachen Kompetenzen ausgestattet ist, wird das Staatsoberhaupt oft über ein zwischengeschaltetes Gremium gewählt1057. Eine direkte Wahl durch das Volk und somit eine direkte Legitimierung wird in diesen Staatsstrukturen nicht verwirklicht. In präsidialen bzw. semi-präsidialen Republiken, in denen das Staatsoberhaupt als Kopf der Exekutive wichtige Funktionen erfüllt und die Staatspolitik maßgebend beeinflusst, wird das Staatsoberhaupt meistens direkt vom Volk gewählt1058. Diese generelle Aufteilung ist aber nicht immer die Regel es gibt auch Präsidialrepubliken, in denen das Staatsoberhaupt starke Kompetenzen hat, aber nur indirekt gewählt wird. Im Folgenden werden die Wahlverfahren des Staatsoberhauptes in Frankreich, in Deutschland und den USA wiedergegeben. a) Wahl des Staatsoberhauptes in Frankreich Frankreich ist eine zentralistisch organisierte Demokratie mit einem semi-präsidialen Regierungssystem1059. Das Staatsoberhaupt ist der direkt vom Volk auf fünf Jahre gewählte Präsident bzw. Staatspräsident1060. Art. 6 Abs. 1 Verfassung 1056 Vgl. Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 69 ff. 1057 Vgl. Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 98 ff. 1058 Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 68 f. 1059 Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 69 f. 1060 Hans J. Tümmers, Das politische System Frankreichs, 2006, 56, 60 ff.; Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 71,
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der V. Republik bestimmt, dass dieser in allgemeiner und unmittelbarer Wahl gewählt wird1061. Er kann mehrfach wiedergewählt werden1062. Nach den allgemeinen, auch für die Präsidentschaftswahl geltenden Normen kann sich jeder französische Staatsbürger um das Präsidentenamt bewerben, sofern er das 23. Lebensjahr vollendet hat1063. Damit eine Zersplitterung des Wahlprozesses durch eine unübersichtliche Vielzahl von Kandidaten vermieden wird, werden aber nur diejenigen Bewerber berücksichtigt, die von mindestens 500 gewählten Mandatsträgern als Präsidentschaftskandidat vorgeschlagen werden1064. Ein entsprechendes Vorschlagerecht besitzen neben den Abgeordneten der Nationalversammlung und den Senatoren die Mitglieder der Conseils regionaux, des Conseil generaune, des Pariser Stadtrates und der Vertreterkörperschaften in den überseeischen Gebieten, ferner Bürgermeister und die Mitglieder des Rates der Auslandsfranzosen1065. Jeder Mandatsträger darf nur einen Kandidaten vorschlagen. Ein Wahlvorschlag kann nur dann berücksichtigt werden, wenn er von Mandatsträgern aus mindestens dreißig Departements unterstützt wird, wobei nicht mehr als ein Zehntel von ihnen dasselbe Departement vertreten darf. So werden Bewerber ohne ausreichende nationale Resonanz von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen. Außerdem muss jeder Kandidat eine Kaution hinterlegen und bei dem Conseil constitutionnel eine schriftliche Erklärung über sein Vermögen einreichen1066. Der Conseil constitutionnel prüft, ob die Voraussetzungen für eine wirksame Kandidatur im Einzelfall vorliegen, und erstellt die Kandidatenliste, die im Journal officiel spätestens sechzehn Tage vor der Wahl zu veröffentlichen ist1067. Der Kandidat, auf den die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen entfällt, ist gewählt1068. Wenn kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten statt, die beim ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigt haben1069. Das Erfordernis der absoluten Mehrheit stellt sicher, dass der neue
72 f.; Rainer Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, 1995, 203 f.; vgl. Udo Kempf, Das politische System Frankreichs, 2007, 30 ff. 1061 Rainer Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, 1995, 204. 1062 Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 72; Hans J. Tümmers, Das politische System Frankreichs, 2006, 56. 1063 Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 73; Udo Kempf, Das politische System Frankreichs, 2007, 35. 1064 Hans J. Tümmers, Das politische System Frankreichs, 2006, 56; Udo Kempf, Das politische System Frankreichs, 2007, 34. 1065 Rainer Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, 1995, 205. 1066 Rainer Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, 1995, 206. 1067 Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 73; Rainer Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, 1995, 206. 1068 Hans J. Tümmers, Das politische System Frankreichs, 2006, 56. 1069 Udo Kempf, Das politische System Frankreichs, 2007, 34.
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Staatspräsident sein Amt mit unanfechtbarer demokratischer Legitimation übernimmt1070. Der Conseil constitutionnel wacht über den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl und verkündet das Wahlergebnis1071. Er entscheidet über mögliche Wahlanfechtungen1072. Die Amtszeit des Staatspräsidenten kann nur aufgrund von körperlichen Beschwerden frühzeitig beendet werden1073. Das Parlament kann aber durch ein Misstrauensvotum die Regierung stürzen, die der vom Staatspräsidenten ernannte Premierminister gebildet hat1074. Daher kann das Parlament über diesen Umweg auf die Handlungen des Staatspräsidenten Einfluss nehmen. b) Wahl des Staatsoberhauptes in Deutschland In Deutschland hingegen, das als eine bundesstaatliche parlamentarische Republik strukturiert ist, wird das Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, gemäß Art. 54 GG von der Bundesversammlung gewählt1075. Diese besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleich großen Anzahl von Mitgliedern, die von den Landtagen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden1076. Die von den Landtagen gewählten Mitglieder können, müssen aber nicht Abgeordnete des Landtages sein1077. Die Bundesversammlung hat nur den einmaligen Auftrag den Bundespräsidenten zu wählen und tritt nach Erfüllung dieses Auftrages wieder auseinander1078. Sie ist also kein ständiges Gremium, sondern nur ein ad hoc gebildetes Organ. Gewählt ist, wer die absolute Mehrheit oder im 3. Wahlgang die relative Mehrheit erreicht1079. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre1080. Eine anschließende Wiederwahl ist gemäß Art. 54 Abs. 2 S. 2 1070 Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 72. 1071 Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 73. 1072 Joachim Schild/Henrik Uterwedde, Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2006, 73. 1073 Rainer Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, 1995, 209. 1074 Udo Kempf, Das politische System Frankreichs, 2007, 34. 1075 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage, 2010, 4. 1076 Hartmut Maurer, 5. Auflage, Staatsrecht I, 2007, 474, Rn. 6; Reinhold Zippelius/ Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 421. 1077 Hartmut Maurer, 5. Auflage, Staatsrecht I, 2007, 474, Rn. 6; Reinhold Zippelius/ Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 421. 1078 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2010, 140, Rn. 516; Christoph Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 26. Auflage, 2010, 295, Rn. 710. 1079 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2010, 140, Rn. 517, Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 421. 1080 Wolfgang Ismayr, Das politische System Deutschlands, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Das politische System Westeuropas, 2009, 515–566, 518.
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GG nur einmal zulässig1081. Wählbar ist jeder deutsche Staatsbürger, der das Wahlrecht zum Bundestag besitzt und das 40. Lebensjahr vollendet hat1082. Eine vorzeitige Abwahl ist nicht vorgesehen1083. Möglich ist nur eine Präsidentenanklage gemäß Art. 61 GG beim Bundesverfassungsgericht wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes1084. Schlechte Amtsführung, unwürdiges Verhalten oder dergleichen sind folglich für eine Präsidentenanklage nicht ausreichend1085. Das Bundesverfassungsgericht kann auf Amtsverlust erkennen, wenn es eine solche Rechtsverletzung festgestellt hat1086. c) Wahl des Staatsoberhauptes in den USA In der Verfassung der USA, die ein Präsidialsystem begründet, wird die Position des Präsidenten in Art. 2 beschrieben1087. Vorschriften zu seiner Wahl und Amtszeit sind durch den 12., 20., 22., 23., 25. und 26. Verfassungszusatz geregelt1088. Der Präsident fasst in seiner Stellung drei wichtige Positionen, die des Staatsoberhauptes, des Regierungschefs und des Oberbefehlshabers zusammen1089. Die Wahl zum Präsidenten weist deutliche Unterschiede zur üblichen Praxis in präsidialen Systemen auf. Ein potentieller Präsidentschaftskandidat muss mindestens 35 Jahre alt und in den USA geboren sein sowie seinen ständigen Wohnsitz seit vierzehn Jahren in den USA haben1090. Die Wahl des Präsidenten durchläuft drei Phasen. Die erste Phase beinhaltet die sogenannten Vorwahlen, bei denen die Präsidentschaftsnominierungen der Parteien bestimmt werden1091. In der zweiten Phase werden Wahlmänner und Wahlfrauen in den jeweiligen Bundesstaaten gewählt und in der dritten Phase wählen diese Wahlmänner den Präsidenten1092. Die Verfassung sieht keine direkte Wahl des Präsi1081 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 2007, Rn. 9, 475; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 421. 1082 Hartmut Maurer, 5. Auflage, Staatsrecht I, 2007, 475, Rn. 8. 1083 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2010, 143, Rn. 526. 1084 Wolfgang Ismayr, Das politische System Deutschlands, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Das politische System Westeuropas, 2009, 515–566, 519. 1085 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2010,143, Rn. 526. 1086 Hartmut Maurer, 5. Auflage, Staatsrecht I, 2007, 475, Rn. 9. 1087 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politschen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 548. 1088 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 80. 1089 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 131. 1090 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 79. 1091 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 181. 1092 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 185, 186.
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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denten durch das Volk vor1093. Die Bürger der USA werden folglich bei der Wahl des Präsidenten von Wahlmännern vertreten. Die Anzahl der Wahlmänner pro Bundesstaat entspricht dabei der Anzahl der Kongressabgeordneten des Staates1094. Somit dürfen die einzelnen Bundesstaaten mindestens drei Wahlmänner delegieren, da jeder Staat zwei Senatoren und mindestens einen Abgeordneten zum Repräsentantenhaus entsendet1095. Zusätzlich erhält auch der Regierungsbezirk, der sonst bei Wahlen auf der Bundesebene nicht berücksichtigt wird, drei Wahlmänner. Die Nominierung potentieller Kandidaten der beiden großen Parteien, also der Demokraten und der Republikaner, erfolgt über Vorwahlen1096. Hierbei wählen die einzelnen Bundesstaaten ihre Favoriten unter den Kandidaten der jeweiligen Parteien. Stehen mehrere Kandidaten fest, beginnen die Vorwahlen. Dabei wird zwischen „offenen“ und „geschlossenen“ Vorwahlen unterschieden1097. Während sich bei geschlossenen Vorwahlen die Wähler einer Partei registrieren lassen müssen und nur sie wählen dürfen, können in einigen Bundesstaaten durch offene Wahlen theoretisch alle Wähler über den Präsidentschaftskandidaten z. B. der Demokraten abstimmen1098. Der Gewinner der Vorwahlen wird dann durch die Delegierten der „National Conventions“, einer Art Parteitag, zum Präsidentschaftskandidaten einer Partei bestimmt1099. Das Wahlmännerkollegium besteht aus 538 Personen, die von den Wählern in den einzelnen Bundesstaaten und im Bundesdistrikt gewählt werden1100. Diese Zahl entspricht der Gesamtzahl der Abgeordneten im Repräsentantenhaus (435) und im Senat (100), zuzüglich dreier Wahlmänner für den sonst im Kongress nicht vertretenen Regierungsbezirk Washington D.C.1101. Dabei findet in der Regel keine Verhältniswahl statt1102. Alle Wahlmänner aus einem Bundesstaat entfallen auf den Vorschlag, der die meisten Stimmen erhält1103. Somit kann es vor1093
Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 186. Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561 f. 1095 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561; Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 79. 1096 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 181. 1097 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 182. 1098 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 560. 1099 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 185. 1100 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561; Jürgen Hartmann, Westliche Regierungssysteme – Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles Regierungssystem, 2005, 128. 1101 Jürgen Hartmann, Westliche Regierungssysteme – Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles Regierungssystem, 2005, 128. 1102 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 80. 1103 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 80. 1094
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F. Islamisches Staatsrecht
kommen, dass ein Kandidat zwar in der Volkswahl mehr Stimmen erhält als sein Kontrahent, bei den Wahlmännerstimmen jedoch das Nachsehen hat1104. Die US-Verfassung überlässt es den einzelnen Bundesstaaten, auf welche Weise die Wahlmänner bestellt werden. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich jedoch in allen Bundesstaaten die Volkswahl der Wahlmänner durchgesetzt. Gemeinsam mit dieser Tendenz entwickelte sich das Prinzip „the Winner takes it all“, also ein Mehrheitswahlrecht auf bundesstaatlicher Ebene1105. Dabei entsendet die Partei, die in einem Staat die relative Mehrheit der Stimmen erreicht, alle Wahlmänner des Staates. Maximal 51 Prozent der Stimmen reichen demnach aus um 100 Prozent der Wahlmännerstimmen eines Staates zu erhalten1106. Da die Staaten die Wahlordnung bestimmen, gibt es allerdings auch Ausnahmen von dieser Regel. Maine und Nebraska wählen z. B. ihre Wahlmänner jeweils pro Repräsentantenhaus-Wahlkreis sowie zwei weitere Wahlmänner landesweit1107. Sowohl in jedem Wahlkreis als auch landesweit entscheidet die einfache Mehrheit. Dadurch ist es möglich, dass in diesen Staaten Wahlmänner aus verschiedenen Parteien gewählt werden. Die Wahlmänner wählen im Dezember den Präsidenten und den Vizepräsidenten1108. Die Wahlen finden dabei für jeden Bundesstaat getrennt statt. Das 538köpfige Wahlmännerkollegium tritt als solches also nie zusammen1109. Häufig stehen mehr als die zwei Vorschläge der beiden großen Parteien auf dem Wahlzettel, obwohl diese in aller Regel keine Chancen auf den Wahlsieg haben. Die Wahlmänner geben je eine Stimme für den Präsidenten und eine für den Vizepräsidenten ab. Sieger der Wahl ist jeweils der Kandidat, der die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen auf sich vereint1110. Die Wahlmänner sind formell nicht an das Votum ihrer Wähler gebunden. Sie sind zwar gehalten, die Stimme demjenigen Kandidaten zu geben, auf dessen Konto sie gewählt wurden, dies wird jedoch durch die geheime Wahl und durch sehr niedrige Strafen im Falle des Nichteinhaltens konterkariert1111. Aus diesem Grund kommt es regelmäßig vor,
1104 Jürgen Hartmann, Westliche Regierungssysteme – Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles Regierungssystem, 2005, 128. 1105 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561. 1106 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561. 1107 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 80. 1108 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561. 1109 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561. 1110 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 187. 1111 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561.
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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dass einzelne Wahlmänner entgegen ihrem Wählerauftrag stimmen. Allerdings hat ein solcher „faithless elector“ bis jetzt noch nie eine Wahl in ihr Gegenteil umschlagen lassen1112. Anfang Januar werden die Stimmabgaben der Wahlmänner in den einundfünfzig Gebietseinheiten dann in einer gemeinsamen Sitzung von Senat und Repräsentantenhaus ausgezählt1113. Diese Aufgabe kommt dem Präsidenten des Senats, also dem noch amtierenden Vizepräsidenten, zu. Nach Ende der Auszählung verkündet dieser, wer zum Präsidenten und zum Vizepräsidenten gewählt worden ist. Als gewählt gilt der Kandidat, der die absolute Mehrheit der Stimmen erhält. Hat keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen auf sich vereinigt, so wählt gegebenenfalls das Repräsentantenhaus den Präsidenten und der Senat den Vizepräsidenten1114. Ein solcher Fall ist jedoch angesichts der eindeutigen Zweiteilung des amerikanischen Parteiensystems seit rund zweihundert Jahren nicht vorgekommen. Die Amtszeit des Präsidenten beträgt vier Jahre1115. Scheidet der Präsident durch Tod, Rücktritt, Amtsenthebung oder Amtsunfähigkeit vorher aus dem Amt aus, so wird der Vizepräsident sofort neuer Präsident1116. Dessen Amtszeit endet mit dem ursprünglichen Ende der Amtszeit des Vorgängers. Grundsätzlich darf seit 1951 jeder Präsident nur einmal wiedergewählt werden, unabhängig davon, ob die Wiederwahl anschließend an die erste Amtszeit oder später erfolgt1117. Ist jedoch eine Person ins Amt des Präsidenten nachgerückt und hat sie weniger als zwei Jahre im Amt verbracht, so darf die Person doch noch zweimal zum Präsidenten gewählt werden. Insgesamt beträgt die maximal mögliche Amtszeit also zehn Jahre. Der Präsident kann im Rahmen eines Impeachment-Verfahrens vom Kongress seines Amtes enthoben werden1118. Dieses Verfahren ist aber im Kern primär strafrechtlicher Natur1119. Eine politische Möglichkeit den Präsidenten seines Amtes zu entheben gibt es nicht1120.
1112 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561. 1113 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 81 ff. 1114 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 561. 1115 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 79. 1116 Emil Hübner, Das politische System der USA, 2007, 136. 1117 Jürgen Hartmann, Westliche Regierungssysteme – Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles Regierungssystem, 2005, 128. 1118 Jürgen Hartmann, Westliche Regierungssysteme – Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles Regierungssystem, 2005, 128. 1119 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 553. 1120 Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 553.
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F. Islamisches Staatsrecht
d) Das islamische und das westliche Wahlsystem im Vergleich Aus den vorherigen Erörterungen ergibt sich, dass das Volk im westlichen Staatsrecht eine bedeutende Rolle bei der Bestimmung des Staatsoberhauptes spielt. Erst durch dessen Partizipation wird das Staatsoberhaupt nicht nur bestimmt, sondern auch legitimiert. In präsidialen- oder semi-präsidialen Republiken übt das Staatsoberhaupt wichtige politische Funktionen aus, und ihm sind in der Regel starke Kompetenzen zugewiesen. In parlamentarischen Republiken oder parlamentarischen Monarchien hingegen hat das Staatsoberhaupt meistens nur repräsentative Funktionen, während ein vom Parlament gewählter Regierungschef die eigentliche Regierungstätigkeit ausübt. Die Bestimmung des Staatsoberhauptes geschieht, abgesehen von den parlamentarischen Monarchien, durch Wahlen des Volkes. Dabei entscheidet das Mehrheitsprinzip darüber, ob ein Kandidat gewählt wird oder nicht. Diese Wahlen sind je nach Gesetzes- und Verfassungslage entweder direkt oder indirekt. Bei direkten Wahlen wählt das Volk unmittelbar ohne Zwischeninstanz das Staatsoberhaupt. Hierbei werden oft mehrere Wahlgänge angesetzt, in denen die vielversprechendsten potentiellen Kandidaten ermittelt werden, um letztlich in Stichwahlen das Staatsoberhaupt zu wählen. Bei indirekten Wahlen werden Zwischeninstanzen gebildet, die entweder zuvor vom Volk gewählt werden oder die durch einen in den jeweiligen Verfassungen bereits festgelegten Prozess zusammengesetzt und legitimiert werden, um dann das Staatsoberhaupt zu wählen. Diese Zwischeninstanzen bestehen aus Wahlmännern und Wahlfrauen. Deren einzige Aufgabe ist die Wahl des Staatsoberhauptes. Über andere Kompetenzen verfügen sie nicht. Die Ausgestaltung der Verfahren, die Bestimmung und die Voraussetzungen und Qualifikationen der Wahlmänner und der Wahlfrauen dieser Zwischeninstanzen sind von Nationalstaat zu Nationalstaat unterschiedlich. Festzuhalten ist, dass die Wahl die dominante Form der Bestimmung und Legitimierung des Staatsoberhauptes im westlichen Staatsrecht ist. Die Voraussetzungen für eine Kandidatur variieren, wie erwähnt, von Nationalstaat zu Nationalstaat. Gemein ist aber allen, dass das jeweilige Staatsrecht der einzelnen Staaten intern gewisse Voraussetzungen und Qualifikationen von den potentiellen Kandidaten fordert. Frauen und Anhänger von religiösen Minderheiten sind theoretisch nicht von der Position des Staatsoberhauptes ausgeschlossen. In der Praxis allerdings nehmen nur wenige Frauen das Amt des Staatsoberhauptes war, während Anhänger von religiösen Minderheiten bislang so gut wie nie Staatsoberhaupt geworden sind. Das Wahlrecht ist auf das Staatsvolk beschränkt. In der Regel existiert im westlichen Staatsrecht eine Absetzungsmöglichkeit des Staatsoberhauptes, welche an juristisch vorgegebene Voraussetzungen gebunden ist. Diese Voraussetzungen sind oft sehr streng, und nur bei ihrem Vorliegen kann das Staatsoberhaupt abgesetzt werden. Des Weiteren ist in westlichen Staaten die Amtszeit des Staatsoberhauptes, mit Ausnahme von parlamentarischen Monarchien, zeitlich begrenzt.
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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Die Wahl des Staatsoberhauptes in einem islamischen Staat erfolgt nach heute h. M. durch die baiah des Volkes. Wie die baiah allerdings im Einzelfall durchgeführt wird, ist nicht hinreichend bestimmt. Die Bestimmung eines zeitgemäßen baiah-Mechanismus obliegt einem islamischen pouvoir constituant. Elementar dabei ist, dass klassische wie neuzeitliche muslimische Juristen die Bestimmung des Staatsoberhauptes als ein Recht des Volkes betrachten. Eine direkte Wahl des Staatsoberhauptes ist dabei genauso möglich wie die Wahl eines Zwischengremiums, das das Oberhaupt bestimmt. In diesem Punkt ähnelt die baiah den Wahlsystemen in westlichen Verfassungen. Die Interpretation der klassischen Werke und der Praxis der Wahl der vier rechtgeleiteten Kalifen indiziert, dass ein Zwischengremium das Staatsoberhaupt bestimmen soll. Dieses Zwischengremium muss aber die Zustimmung des Volkes für sich haben und dieses repräsentieren. Die Bestimmung der Mitglieder dieses Gremiums ist ebenfalls nicht obligatorisch vorgegeben. Die Festlegung des entsprechenden Verfahrens gebührt wiederum einem islamischen pouvoir constituant. Fest steht, dass das Staatsoberhaupt und die Mitglieder des Wahlgremiums – wie im westlichen Staatsrecht – gewisse Voraussetzungen erfüllen müssen, die allerdings auch nicht verbindlich festgelegt sind. Alternativ wird vertreten, dass das Volk das Staatsoberhaupt durch direkte Wahlen bestimmen kann. Diese Meinung tendiert dazu, das Zwischengremium im früh-islamischen Staat lediglich als ein nominierungsberechtigtes Organ zu betrachten, dessen Auswahl einen unverbindlichen Vorschlag darstellte, über den das Volk letztlich verbindlich entschied. Damit spielt das Volk bei der baiah eine essentielle Rolle, vergleichbar mit der Rolle des Volkes bei Wahlen im westlichen Staatsrecht. Die göttliche Bestimmung des Staatsoberhauptes, die Bestimmung des Staatsoberhauptes durch das scheidende Oberhaupt und die Legitimierung der Staatsmacht durch militärische Mittel wurden zwar in der Vergangenheit als legitim betrachtet, doch werden diese Formen der Bestimmung des Staatsoberhauptes in der heutigen Zeit von den Gelehrten nicht mehr berücksichtigt bzw. als rechtmäßig erachtet. Theoretisch könnte nur noch aus schiitischer Sicht der göttlich bestimmte und entrückte 12. Imam zurückkehren. Aus sunnitischer Sicht ist diese Form der Bestimmung des Staatsoberhauptes mit dem Tod des Propheten (s. a. w. s.) abgeschlossen. Die Ergreifung der Staatsmacht mit militärischen Mitteln, welche noch im 19. Jahrhundert als eine rechtmäßige Möglichkeit zur Bestimmung des Staatsoberhauptes angesehen wurde, wird heutzutage fast kategorisch als nicht legitimierbar verneint. Auch die Bestimmung des Staatsoberhauptes durch das scheidende Staatsoberhaupt wird heute als Möglichkeit zur legitimen Bestimmung weitgehend abgelehnt, da die historischen Beispiele dafür zu erblichen Staatssystemen geführt haben, die in fast absoluten Willkürherrschaften endeten. Somit kann hervorgehoben werden, dass die Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht durch die baiah des Volkes geschehen soll. Ob dabei eine
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F. Islamisches Staatsrecht
direkte Wahl oder eine indirekte Wahl stattfinden und wie diese konkret verwirklicht werden soll, liegt im Ermessen der muslimischen Gemeinde. Zu unterscheiden sind aber die Bestimmung des Staatsoberhauptes in einem universellen Kalifat und die Bestimmung eines Staatsoberhauptes in einem islamischen Territorialstaat. Während das universelle Kalifat nicht auf Erbfolge beruhen soll, kann ein Territorialstaat sehr wohl ein erbliches Königreich als Staatssystem begründen, obwohl viele muslimische Gelehrte dies nicht als die beste Form einer islamischen Staatsorganisation betrachten. Wie zuvor erwähnt muss auch im islamischen Staatsrecht das Staatsoberhaupt gewisse Voraussetzungen erfüllen und Qualifikationen aufweisen, die aber von Staat zu Staat variieren können. Bei einer indirekten Wahl werden auch von den Mitgliedern des Wahlgremiums bestimmte Voraussetzungen verlangt, die ebenfalls in den verschiedenen islamischen Territorialstaaten Unterschiede aufweisen können. Diese Voraussetzungen und Qualifikationen, die ein Staatsoberhaupt oder die Mitglieder eines möglichen Wahlgremiums aufweisen müssen, stehen im islamischen Staat im Zusammenhang mit der Religion und dem islamischen Recht. Einige Meinungen schließen Frauen von der baiah aus. Die h. M. akzeptiert jedoch die Partizipation von Frauen an der baiah. Ob eine Frau aber das Amt des Staatsoberhauptes in einem islamischen Territorialstaat übernehmen kann, ist umstritten. Konsens besteht darüber, dass eine Frau nicht Staatsoberhaupt in einem universellen Kalifatsstaat sein kann, da diese Stellung gleichzeitig ein religiöses Amt darstellt und Männern vorbehalten ist. In einem islamischen Territorialstaat ist das Wahlrecht auf das Staatsvolk beschränkt, während in einem universellen Kalifatsstaat alle Muslime bzw. alle Bürger das Staatsoberhaupt wählen können. Religiöse Minderheiten können nach h. M. am Wahlprozess teilnehmen. Ihre Mitglieder können allerdings nicht für das Amt des Staatsoberhauptes kandidieren. Dies steht eindeutig im Gegensatz zum westlichen Staatsrecht. In diesem kann in der Theorie ein Angehöriger einer religiösen Minderheit das Amt des Staatsoberhauptes ausüben. Im islamischen Staatsrecht ist dies nicht möglich. Des Weiteren ist die baiah in einem islamischen Staat nicht als bloße Wahl des Staatsoberhauptes zu verstehen. Vielmehr enthält sie neben der Wahl des Staatsoberhauptes zusätzlich beiderseitige Verpflichtungen. Das Volk wird zum Gehorsam gegenüber dem Staatsoberhaupt verpflichtet, während das Staatsoberhaupt dazu verpflichtet wird, dem islamischen Recht entsprechend zu herrschen. Gleichzeitig unterwerfen sich Staatsoberhaupt und Volk mit jeder erneut ausgeführten baiah dem islamischen Recht, mithin Gott. Die Wahl im westlichen Staatsrecht enthält keine bei jeder Wahl erneut durchgeführte Unterwerfung unter das geltende Recht. Dies ist im westlichen Staatsrecht nicht notwendig, da theoretisch diese Bindung außer Frage steht. Die baiah begründet folglich nicht nur gegenseitige Pflichten zwischen dem Staatsoberhaupt und den Wählern, sondern stellt auch eine Verpflichtung gegenüber Gott dar. Die baiah ist somit tatsächlich vergleichbar mit der Wahl des Staatsoberhauptes im westlichen Staatsrecht. Sie
V. Wahl des Staatsoberhauptes im islamischen Staatsrecht
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beinhaltet aber auch noch zusätzliche Komponenten, die bei Wahlen im westlichen Staatsrecht fehlen. Außerdem soll durch eine baiah theoretisch der qualifizierteste Kandidat für das Amt des Staatsoberhauptes bestimmt werden und nicht nur derjenige, der die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Dies ist aber nur ein ideeller Anspruch, dessen Verwirklichung quasi nicht möglich ist. Ob das Amt des Staatsoberhauptes zeitlich begrenzt werden kann, ist im islamischen Staatsrecht nicht verbindlich festgelegt. Diesbezüglich muss ein islamischer pouvoir constituant verpflichtend entscheiden. Die Mehrheit der muslimischen Gelehrten favorisiert aber mittlerweile eine zeitliche Begrenzung der Amtszeit. Auch eine mögliche Absetzbarkeit des Staatsoberhauptes, gebunden an ein gesetzlich vorgeschriebenes Verfahren, sind derzeit von der h. M. im islamischen Staatsrecht angenommen. Die diesbezüglichen Einschränkungen der klassischen Juristen werden von heutigen Gelehrten als Standpunkte in einem historischen Kontext verstanden. Nur wenn Anarchie und Instabilität drohen, wird eine Absetzung des Staatsoberhauptes abgelehnt. 5. Zusammenfassung Obwohl einige unverkennbare Unterschiede zwischen dem westlichen Wahlsystem und dem islamischen Wahlsystem existieren, sind zahlreiche Gemeinsamkeiten evident. In beiden Wahlsystemen spielt das Volk bei der Bestimmung und Legitimierung des Staatsoberhauptes eine bedeutende Rolle. In beiden Rechtskreisen ist die Wahl durch das Volk das bevorzugte Bestimmungsprozedere für das Staatsoberhaupt. Detailfragen diesbezüglich sind weder im westlichen Staatsrecht noch im islamischen Staatsrecht verbindlich festgelegt und variieren von Nationalstaat zu Nationalstaat. Die Bestimmung des Staatsoberhauptes im westlichen Staatsrecht erfolgt durch die Wahl des Volkes. Im islamischen Staatsrecht soll nach der h. M. das Staatsoberhaupt durch die baiah gewählt werden. Diese entspricht zu einem Großteil einer Wahl im westlichen Staatsrecht. Muslimische Gelehrte betrachten es als eine Prärogative des Volkes, das Staatsoberhaupt zu bestimmen. Die baiah stellt aber nicht nur eine Wahl dar, sondern begründet sowohl gegenseitige Verpflichtungen zwischen Staatsoberhaupt und Volk als auch Verpflichtungen gegenüber Gott. Das Volk verpflichtet sich zum Gehorsam gegenüber dem Staatsoberhaupt, während das Staatsoberhaupt sich dazu verpflichtet, dem islamischen Recht entsprechend zu herrschen. Zeitgleich unterwerfen sich das Staatsoberhaupt und das Volk mit jeder baiah dem islamischen Recht. Letztlich manifestieren und erneueren sie damit ihre Unterwerfung unter Gott. Die Wahl im westlichen Staatsrecht enthält im Gegensatz hierzu keine bei jeder Wahl erneut durchgeführte Unterwerfung unter das geltende Recht, da dies als „selbstverständlich“ betrachtet wird.
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F. Islamisches Staatsrecht
In beiden Systemen bestimmt das Mehrheitsprinzip darüber, ob ein Kandidat gewählt wird. Die Wahl ist je nach Gesetzeslage entweder direkt oder indirekt. Bei einer direkten Wahl bzw. baiah bestimmt das Volk selbst unmittelbar das Staatsoberhaupt, während bei einer indirekten Wahl bzw. baiah ein vorgeschaltetes Zwischengremium, welches ebenfalls direkt oder indirekt durch das Volk legitimiert wird, das Staatsoberhaupt wählt. Damit unterscheiden sich in diesen Punkten die baiah und die Wahl im westlichen Staatsrecht nicht wesentlich voneinander. Theoretisch soll bei einer baiah aber nur der bestqualifizierte bestimmt werden. Potentielle Kandidaten für das Amt des Staatsoberhauptes müssen gewisse rechtliche Voraussetzungen und Qualifikationen erfüllen, die von Staat zu Staat variieren können. Die genaue Regelung obliegt dem jeweiligen pouvoir constituant. Bei indirekten Wahlen müssen die Mitglieder des wahlberechtigten Zwischengremiums ebenfalls gewisse Qualifikationen erfüllen; dabei ist im islamischen Recht fraglich, ob Mitglieder dieses Zwischengremiums weiblich sein können, obwohl die meisten Gelehrten dies mittlerweile bejahen. Konträr zum westlichen Staatsrecht spielt die Religion im islamischen Staatsrecht bei diesen Qualifikationen, sowohl für das potentielle Staatsoberhaupt als auch für die Mitglieder des wahlberechtigten Zwischengremiums, eine wichtige Rolle. Die Amtszeit eines Staatsoberhauptes ist in beiden Systemen in der Regel zeitlich beschränkt, und es besteht meist eine Möglichkeit – im Rahmen der geltenden Gesetze – das Staatsoberhaupt vorzeitig abzusetzen. Das Wahlrecht steht im westlichen Staatsrecht jedem Staatsbürger zu, und in der Theorie gibt es keine geschlechtsspezifische oder religiöse Einschränkung für ein potentielles Staatsoberhaupt. Im islamischen Staatsrecht steht das aktive Wahlrecht nach h. M. auch jedem Staatsbürger zu. Eine passive Wahlmöglichkeit zum Staatsoberhaupt besteht aber nur für Muslime. Ob Frauen das Amt des Staatsoberhauptes in einem islamischen Territorialstaat ausüben können, ist umstritten. Definitiv sollen Frauen aber nicht das Amt des Kalifen in einem universellen Kalifat wahrnehmen.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation) Al-shura, bzw. al-mushawara, oder shura als Instrument zur Gesetzgebung oder als Regierungsform, war schon den vor-islamischen arabischen Stämmen bekannt1121. Diese lebten zwar in Stammesgemeinschaften, was aber nicht bedeutete, dass sie von einem unflexiblen erblich-politischen System beherrscht wurden. Wenn der erblich berechtigte Kandidat zur Herrschaft nicht fähig war,
1121 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 456.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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wurde von den Anführern der verschiedenen Untergruppierungen eines Stammes ein fähiger Herrscher bestimmt1122. Außerdem musste ein Stammesherrscher die Anführer der verschiedenen Sippen innerhalb eines Stammes bei wichtigen Entscheidungen konsultieren1123. Folglich wurden soziale und politische Fragen durch eine alle bindende Stammesentscheidung gelöst. Die Stellung und der Aufgabenbereich der Stammesherrscher waren vergleichbar mit der Position eines Ministers1124. In einigen Stadtstaaten der arabischen Halbinsel wie Mekka und Medina, wo sich größere Gemeinden gebildet hatten, wurde eine entwickeltere und institutionalisiertere Form von shura angewandt. Mekka z. B. wurde von einem öffentlichen Parlament bzw. Gemeinderat, der Hukumat al-Mala’, beherrscht, dessen Mitglieder in vielen Angelegenheiten untereinander konsultierten1125. Dieser Gemeinderat bestand aus den Abgeordneten bzw. Stammesanführern der zehn Sippen des quraysh-Stammes. Offizielle Zusammenkünfte wurden unter der Leitung des Ratsältesten in dem Sitz des Gemeinderates, der Dar al-Nadwa, abgehalten1126. Abgesehen von der Leitung der Sitzungen überwachte der Ratsälteste auch die öffentlichen Beamten. Das Minimumalter, das Voraussetzung für eine Mitgliedschaft im Dar al-Nadwa war, betrug 40 Jahre1127. Das Quasi-Staatsoberhaupt war involviert in legislative wie exekutive Tätigkeiten. Eine Trennung dieser Gewalten war zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Eine ähnliche Methode von al-Shura wurde in Medina von den beiden Hauptstämmen, den al-Aws und den al-Khazraj, angewandt. Sie hielten ihre Sitzungen in der sogenannten Saqifat bani Saida, ihrem Gemeinderat ab1128. Die vor-islamische shura wurde aber nicht repräsentativ mit allen Schichten der Gemeinde abgehalten. Viele untere Schichten der Bevölkerung und auch schwächere Stämme konnten ihre Meinung nicht äußern, weil sie in den Gemeinderäten nicht vertreten waren. Diese soziale Tren1122 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 456; vgl. Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 321; Corci Zeydan, Islam Uygarlıklar Tarihi, Bd. 1, 2009, 51. 1123 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 456. 1124 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 456. 1125 Vgl. Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 17 f. 1126 Vgl. Muhammed Hamidullah, Islam Anayasa Hukuku, 2005, 18; Salah E. Humodi, Das Islamische Staatswesen – Studien zur politischen Struktur zur Zeit Muhammads, 1983, 23 f.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 42 f. 1127 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 42 f. 1128 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 457.
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F. Islamisches Staatsrecht
nung in verschiedene Klassen in den Gemeinden wurde als normal betrachtet, bis dies durch den Islam aufgehoben wurde. 1. Definition Shura ist ein fundamentales Prinzip des Islams und der islamischen Staatsführung1129. Im quran wird es zweimal erwähnt1130. Der erste Vers im quran, der das shura-Prinzip beinhaltet, enthält gleichzeitig zwei der fünf Säulen des Islams, das Gebet und die Armensteuer1131. Dies zeigt, wie wichtig diese Beratungs- und Konsultationspflicht im Islam ist. Der Vers lautet: „. . . und (für jene) die auf ihren Herren hören und das Gebet verrichten und deren Handlungssache (eine Sache) gegenseitiger Beratung ist, und die von dem spenden, was Wir ihnen gegeben haben . . .“ 1132.
Der Vers verdeutlicht in gewisser Weise, wie Muslime leben sollen. Sie sollen die Pflichtgebete einhalten, Entscheidungen erst nach Konsultationen treffen und die Armensteuer zahlen. Dabei ist diese Konsultationspflicht nicht auf politische Angelegenheiten begrenzt. In jeglicher Hinsicht sollen sich Muslime beraten und erst dann ihre Entscheidung bezüglich einer Sache fällen1133. In einem weiterem Vers heißt es: „Und in Anbetracht der Barmherzigkeit Allahs warst du (O Muhammad) mild zu ihnen; wärst du aber rau und harten Herzens gewesen, so wären sie dir davongelaufen. Darum vergib ihnen und bitte für sie um Verzeihung und ziehe in der Sache zu Rate; und wenn du entschlossen bist, dann vertrau auf Allah! Denn wahrlich, Allah liebt diejenigen, die auf Ihn vertrauen“ 1134.
In diesem Vers wurde die Notwendigkeit von shura, der Beratung mit der Gemeinde in allen Angelegenheiten, dem Propheten (s. a. w. s.) im Imperativ offenbart1135. Demzufolge ist die Verpflichtung des Herrschers Konsultationen mit den Beherrschten durchzuführen im Islam nicht interpretierbar, sondern es ist eine allgemeine Pflicht, die unbedingt eingehalten werden muss1136.
1129
Hamid Eltigani Abdelgadir, The Quran and Politics, 2004, 88. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 117. 1131 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 119. 1132 Quran 42:38; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 119. 1133 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 76. 1134 Quran 3:159. 1135 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 196; Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 8, 15. 1136 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 22. 1130
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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Ziel der shura ist es, die ideale Entscheidung für den jeweiligen Sachverhalt zu treffen, welche zudem im Einklang mit der Religion steht1137. Dabei soll keine Rücksicht auf Interessen bestimmter Parteien oder andere Faktoren genommen werden, die die Entscheidung relativieren könnten1138. Im Idealfall soll die richtige Entscheidung getroffen werden, unabhängig von äußeren Einflüssen1139. Bereits im 8. Jahrhundert schrieben Al-Basri al Hasan ibn Yasar und Al-Dahak ibn Muzahim, dass Gottes Anweisung an den Propheten (s. a. w. s.), sich mit seinen Anhängern zu konsultieren, nicht deswegen geschah, weil er auf deren Meinung angewiesen war, sondern deshalb, weil er den Muslimen als gutes Beispiel das shura-Prinzip und die Vorteile einer Entscheidungsfindung durch diese Methode näher bringen sollte1140. In allen Angelegenheiten, die nicht im Zusammenhang mit der Offenbarung und der Religion standen, konsultierte der Prophet die Gemeinde (s. a. w. s.)1141. Andere Gelehrte sahen in den Konsultationen der Gemeinde durch den Propheten (s. a. w. s.) eine Form der bewussten Aufwertung seiner Anhänger, weil durch diese Konsultationen auch Wert auf deren Ansicht gelegt wurde1142. Heutzutage leugnet kein muslimischer Rechtsgelehrter die Beratungs- und Konsultationspflicht in einem staatsrechtlichen Zusammenhang1143. Was allerdings zum Teil heftig umstritten ist, sind der Inhalt, über den zu beraten ist, die Auswahl der Persönlichkeiten, die an diesem Beratungs- und Konsultationsprozess beteiligt sein sollen, ob der Herrscher, mithin die Exekutive und alle anderen etablierten Staatsorgane und -gewalten, an den erteilten Ratschlag gebunden 1137
Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 492. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 492. 1139 Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 11 f. 1140 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 458; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 15. 1141 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 437; M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 202 ff.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 121. 1142 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 458. 1143 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 141 ff.; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 15 ff.; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 437 ff.; Sayyid Abul A’La, The Islamic Law and Constitution, 1967, 196 f.; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 43 ff., 202; Seyyid Abdullah Cemaleddin, Islam’da Idare ve Siyaset, 1995, 96 ff.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 76; Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 91; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 39; Muhammed Abdullah, Kur’an Devleti, 1976, 110 ff. 1138
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F. Islamisches Staatsrecht
sind, oder im eigenen Ermessen auch gegen den Rat der Mehrheit entscheiden dürfen und welche Staatsorgane aus dieser Konsultationspflicht herzuleiten sind1144. Hierzu werden unterschiedliche Meinungen von den Rechtsgelehrten vertreten. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die relevanten Stellen des qurans und der sunna auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden können, zum anderen aber auch mit den ganz speziellen praktischen Erfahrungen der einzelnen Rechtsgelehrten in ihren jeweiligen Staaten1145. 2. Shura im früh-islamischen Staat Der Prophet (s. a. w. s.) als Oberhaupt des früh-islamischen Staates konsultierte seine Gefährten und die Gemeinde, bevor er eine Entscheidung fällte, die im öffentlichen Interesse stand und aufgrund seiner politischen Amtsinhaberschaft notwendig war1146. Diesbezüglich ist überliefert, dass der Prophet (s. a. w. s.) vor der Badr-Schlacht die anwesenden Muslime in einer öffentlichen Sitzung nach ihrer Meinung befragte1147. Auch die Bestimmung der genauen Lage des Schlachtfeldes, nämlich in der Nähe von Wasserbrunnen, die von Muslimen kontrolliert wurden, erfolgte nach Konsultationen zwischen dem Propheten (s. a. w. s.) und Al-Habbab Ibn AlMundhir, wobei der Prophet (s. a. w. s.) den Ratschlag von Al-Habbab Ibn AlMundhir befolgte1148. Nach der Schlacht konsultierte der Prophet (s. a. w. s.) die Gemeinde bezüglich der Frage, was mit den Kriegsgefangenen geschehen sollte1149. 1144 Vgl. Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 128; Bassam Tibi, Der Wahre Imam, 1998, 322; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43 ff.; Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 11; Isma’il Raji al-Faruqi, Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 140; Sayyid Abul A’La, The Islamic Law and Constitution, 1967, 245 ff. 1145 Vgl. Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 92; Sayyid Abul A’La, The Islamic Law and Constitution, 1967, 95. 1146 Ibn Teymiye, Siyaset es-Siyasetü’s ¸-s¸eriyye, 13.–14. Jahrhundert, 147; Seyyid Abdullah Cemaleddin, Islam’da Idare ve Siyaset, 1995, 97. 1147 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 458; Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 24 f.; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 197; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 47 f. 1148 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 458. 1149 Vgl. Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 24; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 49.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
249
Das Konsultationsverhalten des Propheten (s. a. w. s.) bei der Schlacht von Uhud im Jahre 6241150, bei der Schlacht von Al-Khandaq im Jahre 6261151 und bei den Friedensverhandlungen mit dem Ghafran-Stamm ähnelte dem zuvor beschriebenen Beispiel1152. Bei der Schlacht von Al-Khandaq beriet sich der Prophet (s. a. w. s.) mit ausgewählten Anführern der Ansar, der in Medina ansässigen Muslime. Der Gatafan-Stamm hatte den Muslimen gegenüber erklärt, dass sie sich, sofern ihre Forderungen nicht erfüllt würden, den Gegnern der Muslime anschließen würden1153. Die Anführer der Ansar lehnten diese Forderungen ab, und der Prophet (s. a. w. s.) erklärte dem Gatafan-Stamm gegenüber, dass die Bedingungen für ihre Neutralität von den Muslimen nicht erfüllt würden1154. Von der Schlacht von Uhud ist überliefert, dass der Prophet (s. a. w. s.) die Gemeinde bezüglich kriegsentscheidender Fragen, insbesondere über die Festsetzung des Schlachtfeldes außerhalb der Stadtgrenzen, konsultierte und sich sogar gegen seine eigene persönliche Meinung dem Verlangen der Mehrheit unterordnete1155. Letztlich gibt es Überlieferungen, dass der Prophet (s. a. w. s.) das shura-Prinzip auch in vielen anderen Angelegenheiten und in einem Maß anwandte, wie es noch nie zuvor innerhalb eines arabischen Stammes oder Staates angewandt wurde1156. Einige Gelehrte sind der Meinung, dass das shura-Gremium des Propheten (s. a. w. s.) aus siebzig Mitgliedern bestand1157. Hierzu verweisen sie auf das Beratungsgremium des Propheten Moses (a. s.)1158. Diejenigen, die im früh-islamischen Staat an Beratungen teilnahmen, galten als weise Persönlichkeiten, die aufgrund eines natürlichen Prozesses der Selektion innerhalb der Gemeinde und wegen ihrer individuellen Fähigkeiten ihren Status als Mitglieder des shura-Gremiums erhielten1159. Hierzu zählten insbeson-
1150
Vgl. Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 25 ff. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 438. 1152 Vgl. Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 459. 1153 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 203. 1154 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 120. 1155 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 214; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 16; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 120. 1156 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 77. 1157 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 461. 1158 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 117. 1159 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 203; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 121; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam 1151
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F. Islamisches Staatsrecht
dere erfahrene Stammesführer, wie auch einzelne Individuen, die als erste den Islam als Religion akzeptierten, und Anführer in Medina, welche den Propheten (s. a. w. s.) unterstützten, als dieser nach Medina auswanderte1160. Später kamen zu diesem Gremium Lokalpolitiker, erfahrene Militärangehörige und religiöse Gelehrte, die innerhalb der Gemeinde angesehen waren, hinzu1161. Allerdings erfolgte keine ausdrückliche Institutionalisierung dieses Beratungsgremiums. Und es muss hervorgehoben werden, dass die Staatsoberhäupter im früh-islamischen Staat diejenigen, mit denen sie Beratungen durchführten, selbst bestimmten1162. Diese Beispiele verdeutlichen, dass während der Amtszeit des Propheten (s. a. w. s.) die Konsultationspflicht entweder durch Beratungen mit einflussreichen Persönlichkeiten, die in der Beratungssache Experten waren, oder durch Beratungen in öffentlichen Sitzungen mit fast der vollständigen Gemeinde umgesetzt wurde1163. Ibn Kathir berichtet, dass in wichtigen Fällen, die das öffentliche Wohl der Gemeinde betrafen, ein Bote ausgeschickt und die Gemeinde zu einer Versammlung in der Hauptmoschee von Medina zusammengerufen wurde1164. Hiernach kam die Gemeinde zum Versammlungsort und beriet über die Angelegenheit, wobei jeder das Recht hatte seine Meinung zu äußern. Es wird berichtet, dass der Prophet (s. a. w. s.) zu Abu Bakr und Umar gesagt haben soll: „Seid ihr beide einer Meinung, so werde ich euch nicht widersprechen“ 1165. Dieser hadith wird von den meisten Gelehrten heutzutage als Indiz dafür herangezogen, dass das Mehrheitsprinzip unmittelbar mit dem Konsultationsprinzip zusammenhängt und somit auch tragend für die Entscheidungsfindung durch die Beratungen ist1166. Auf der anderen Seite allerdings konsultierte der Prophet (s. a. w. s.) die Gemeinde nicht bei religiösen Fragen oder Punkten, die durch göttliche Offenbarung festgelegt wurden1167. Hieraus schließen einige Gelehrte, dass die Bera-
Hukuku, Bd. 1, 2003, 143; Sayyid Abul A’La, The Islamic Law and Constitution, 1967, 254. 1160 Vgl. Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 91. 1161 Vgl. Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 463; Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 91. 1162 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 439. 1163 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 205 f. 1164 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 459; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 218 f. 1165 Ibrahim Al-Mazouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455– 475, 459; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 213 f. 1166 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 214 f. 1167 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 121.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
251
tungspflicht der Herrschers nur bezüglich Kriegs- und Friedensentscheidungen sowie bei administrativen Fragen besteht1168. Trotzdem wurde der Umfang der Konsultationsfragen bereits zur Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen erweitert1169. Alle vier rechtgeleiteten Kalifen wandten während ihrer Amtszeit das shura-Prinzip an1170. Abu Bakr‘s wichtigste Konsultationen geschahen bereits bei Antritt seines Amtes als Kalif1171. Der Prophet (s. a. w. s.) hatte mehr arabische Stämme zu einer politischen Einheit zusammengeschlossen als jemals jemand zuvor. Dennoch war es nicht selbstverständlich, dass dieser früh-islamische Staat den Tod des Propheten (s. a. w. s.) überdauern würde. Dem arabischen Brauch folgend, wurden Stammesführer, die dem Propheten (s. a. w. s.) die Treue geschworen hatten, bei seinem Tod von ihrem Eid entbunden. Wenn sich ein Stamm von dem jungen Staat lossagte, bedeutete dies zwar nicht zwingend, dass er den Islam ablehnte. Doch bei einigen Stämmen war das Bekenntnis zum Islam eher eine Frage der politischen Taktik als eine religiöse Überzeugung. Diese Gruppierungen betrachteten den Tod des Propheten (s. a. w. s.) als Gelegenheit dem Islam abzuschwören. Tatsächlich erhoben sich einige Stämme nach dem Amtsantritt von Abu Bakr und sagten sich vom früh-islamischen Staat los, andere Stämme erklärten, dass sie gewisse Regeln des Islams, wie die Zahlung der Armensteuer, nicht mehr praktizieren würden1172. Diese Zeit ging als Apostasie (al- ridda; Abfallbewegung) in die Geschichte des Islams ein1173. Um das weitere Vorgehen diesbezüglich zu erörtern und um den Bestand des früh-islamischen Staates zu gewährleisten beriet sich Abu Bakr mit den führenden Muslimen und der gesamten Gemeinde1174. In anderen Fällen beriet er sich aber auch nur mit einigen wenigen Stammesanführern1175. Dabei folgte er nicht immer dem Ratschlag derjenigen, die er konsultierte, und entschied teilweise sogar gegen erteilte Ratschläge und
1168
Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 460. 1169 Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 29 f.; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 460. 1170 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, 2001, 191; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 16. 1171 Vgl. Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ebubekir, 2003, 98 ff. 1172 Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ebubekir, 2003, 97; vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 204. 1173 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 81 f.; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 76; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 51 ff. 1174 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 86; Sayyid Abul A’La, The Islamic Law and Constitution, 1967, 246. 1175 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 438.
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F. Islamisches Staatsrecht
die Mehrheit1176. Gegen Ende seiner Amtszeit konsultierte Abu Bakr viele einflussreiche Vertreter der Gemeinde bezüglich der Frage, wer sein politischer Nachfolger werden sollte1177. Die Konsultationspraktiken Umar‘s sind unter Muslimen hoch angesehen1178. Während seiner Herrschaft dehnte sich der früh-islamische Staat rapide aus und erstreckte sich bereits von Nordafrika bis nach Zentralasien1179. Hierdurch ergaben sich viele neue politische und praktische Fragen bezüglich der Verwaltung und der Ausübung der Herrschaft1180. Mit Blick auf diese neuen Sachverhalte konsultierte Umar die Gemeinde und deren Anführer1181. Gerade bei der Ernennung von Lokalgouverneuren oder Staatsbeamten, bei der Einführung des islamischen Mondkalenders, bei der Einführung von Nachtpatrouillen bzw. einer de facto-Polizei in den schlagartig wachsenden und neugegründeten muslimischen Städten, bei dem Bau von Bewässerungsanlagen und der Begrenzung des Zeitraums der Abwesenheit von Soldaten von ihren Familien sowie bei der Einführung von Strafen für Staatsbeamte ist die Konsultationspraxis Umar‘s überliefert1182. Auffallend ist dabei, dass Konsultationen in dieser Zeit durch die politische Führung oft, ausgiebig und bei neuen Sachverhalten dem Inhalt nach nicht beschränkt stattfanden1183. Bekannt sind sogar zumindest zwei Fälle, in denen sich Umar von einer Frau zurechtweisen liess1184. In einem Fall konsultierte er gerade die Gemeinde in der Hauptmoschee darüber, ob gewisse Punkte des islamischen Eherechtes verändert werden sollten1185. Umar befürwortete diese Re1176 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 204; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 48 f.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 80. 1177 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 417; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig˘in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 71. 1178 Vgl. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 105; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 94; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 460. 1179 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 168; Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig ˘ in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 87; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 95 ff. 1180 Vgl. Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 103, 105; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 449; Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris¸, 2005, 94; Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 460; Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 180. 1181 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 94; Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ömer, 2003, 143. 1182 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 103, 109. 1183 Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 94. 1184 Ihsan Süreyya Sırma, Islami Teblig ˘ in Örnek Halifeler Dönemi, 2006, 143 f.; Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 63. 1185 Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 63.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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formen; nachdem allerdings die muslimische Frau darauf hingewiesen hatte, dass sein Vorhaben nicht mit dem islamischen Eherecht übereinstimmte, gab er zunächst einmal diesem Einwand recht und daraufhin seine Reformpläne auf1186. Weiterhin ist überliefert, das Umar in einer Notsituation nach Beratungen Teile des islamischen Strafrechts vorübergehend außer Kraft setzte1187. Außerdem ist bekannt, dass sich Umar bei der Landverteilung im Irak gegen den Mehrheitsbeschluss der konsultierten Personen wandte und seine eigene Meinung durchsetzte1188. Auch zur Herrschaftszeit Uthman‘s und Ali‘s wurde die Konsultationspflicht beachtet und ähnlich verfahren1189. Das shura-Prinzip als effektive politische Entscheidungsfindungsmöglichkeit ist im früh-islamischen Staat umfassend praktiziert worden und wird von heutigen muslimischen Gelehrten als ideale Form der Herrschaftsausübung betrachtet. 3. Abstrakte Analyse des shura-Prinzips Das shura-Prinzip wurde im früh-islamischen Staat von allen Staatsoberhäuptern beachtet1190. Das Konsultationsverhalten der einzelnen Staatsoberhäupter war nicht identisch. Trotzdem wies es Gemeinsamkeiten auf. Muslimische Juristen versuchten daher über die Jahrhunderte hinweg die shura-Praxis im frühislamischen Staat, ihre rechtliche Bedeutung und ihre Voraussetzungen zu abstrahieren bzw. zu ermitteln, um hieraus verbindliche Kriterien für die Herrschaftsausübung abzuleiten. Die Meinungen von historischen sowie neuzeitlichen muslimischen Rechtsgelehrten dazu unterscheiden sich teilweise stark voneinander1191. Aber auch zur gleichen Zeit entstandene Rechtsmeinungen weisen Differenzen auf. Die Interpretationen von Juristen bezüglich des shura-Prinzips stellen ijtihad-Meinungen dar und sind daher nicht verbindlich.
1186 Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 63; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 133. 1187 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 100; Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 6; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 49. 1188 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 16; vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 438; Seyyid Abdullah Cemaleddin, Islam’da Idare ve Siyaset, 1995, 103 f.; Abu Jafar Ahmad Ibn Al-Daudi, Kitab Al-Amwal, 11. Jahrhundert, 64 ff. 1189 Vgl. Mehmet Azimli, Halifelik tarihine giris ¸, 2005, 115 ff.; Haydar Bas¸, Imam Ali, 2010, 750 ff.; Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 126. 1190 Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 91. 1191 Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 92 f.
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F. Islamisches Staatsrecht
a) Umfang von shura Die Konsultationspflicht betrifft alle religiösen und weltlichen Fragen, die im Zusammenhang mit der Staatsführung stehen1192. Hierzu gehören politische Sachverhalte sowie gesellschaftliche, wirtschaftliche, und kulturelle Angelegenheiten, in denen Entscheidungen notwendig sind1193. Diese Konsultationspflicht umfasst nach Meinung der Gelehrten nicht Sachverhalte, die bereits konkret und verbindlich in der sharia durch Gott bzw. dem Propheten (s. a. w. s.) geregelt wurden1194. Sachverhalte, deren Regelung abstrakt gehalten ist und die gegebenenfalls eine Konkretisierung benötigen, können allerdings nach Konsultierungen entschieden bzw. geregelt werden1195. Zudem zeigt die Praxis Umar‘s nach Konsultationen das islamische Strafrecht aufgrund einer Notsituation teilweise außer Kraft zu setzen, dass auch im früh-islamischen Staat eine gewisse Flexibilität vorhanden war, wobei dies eher die Ausnahme von der Regel darstellt1196. Der Umfang von shura ist demzufolge nicht so weit, dass aus diesem Prinzip eine Art Volkssouveränität abgeleitet werden kann1197. Das Volk hat durch das shura-Prinzip das Recht in Angelegenheiten, die es betreffen, konsultiert und gehört zu werden1198. Ob eine direkte Einflussnahme auf die Entscheidung möglich ist und wie dabei das Volk vertreten wird, wird nachfolgend erörtert. Diese Punkte sind umstritten, und da die sharia diesbezüglich nichts verbindlich festgelegt hat, erlaubt dies verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Festzuhalten bleibt, dass bei der Bestimmung des Umfangs der Konsultationspflicht eine islamische Regierung – wie andere Regierungen auch – die „Verfassung“, hier die in der sharia festgelegten Normen zu beachten hat. In diesem weitgespannten Rahmen ist es aber einer Regierung möglich, bezüglich staatlicher Organisation, Verwaltung, Wirtschaftsverfassung, Strafrecht etc. Konsultationen durchzuführen und Entscheidungen zu fällen, da die sharia gerade in dieser Hinsicht ein Höchstmaß an Flexibilität gewährt1199. Auch wäre es möglich, je nach Interpretation des Beispiels des Kalifen Umar, in gewissen Notsituationen
1192
Vgl. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 121. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 438. 1194 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 141; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 121; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 215. 1195 Muhammad Abdullah, Kur’an Devleti, 1976, 116 f.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 141; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 215 ff. 1196 Vgl. Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 6. 1197 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 216; Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 6. 1198 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 438 f. 1199 Vgl. Seyyid Abdullah Cemaleddin, Islam’da Idare ve Siyaset, 1995, 99. 1193
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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nach Beratungen ausnahmsweise sogar in der sharia festgelegte Regelungen vorübergehend außer Kraft zu setzen1200. b) Entscheidungsfindung durch Mehrheitsbeschluss Jemand anderen vor einer Entscheidung zu konsultieren bedeutet in der Regel, dass Rat bzw. Informationen oder richtungsweisende Argumente für die Entscheidung eingeholt werden. Dabei drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Meinung der Mehrheit beachtet werden sollte. Die Vertreter der Mindermeinung sollten sich dementsprechend der im Rahmen des Konsultationsprozesses gebildeten Mehrheitsmeinung unterordnen. Sofern eine Mehrheitsmeinung sich nicht ausdrücklich etabliert, können verschiedene Abstimmungsprozedere eingeleitet werden, um die Mehrheitsansicht zu bestimmen. Generell wird genau dieser Ablauf als ein üblicher Konsultationsprozess für eine notwendige Entscheidungsfindung empfunden1201. Die Konsultationen einer Exekutive in einem islamischen Staat müssen aber nicht unbedingt solch einem Muster folgen. Im Rahmen der Konsultationspflicht einer islamischen Exekutive stellen sich die Fragen, ob der eingeholte Rat für die Exekutive bindend ist und ob sich die Exekutive einem Mehrheitsentschluss der Ratgeber unterordnen muss1202. Diesbezüglich werden unterschiedliche Ansichten vertreten. Diese divergierenden Ansichten können in zwei Hauptlager unterteilt werden1203. Einige Rechtsgelehrte vertreten die Meinung, dass die Exekutive nicht an den eingeholten Rat gebunden ist1204. Dem folgend verneint diese Meinung auch die Geltung eines Mehrheitsentschlusses1205. Hiernach muss die Exekutive bei relevanten und nicht geregelten Angelegenheiten konsultieren. Dies ist obligatorisch, eine Befolgungspflicht hinsichtlich des eingeholten Rates besteht für die Exekutive nach dieser Meinung allerdings nicht1206. Diese Ansicht stützt sich insbesondere auf das Beispiel der Kalifen Abu Bakr und Umar, die in machen Fällen die erteilten Ratschläge oder den Mehrheitsentschluss nicht befolgten.
1200
Vgl. Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 6. Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 10 f. 1202 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 142 f. 1203 Vgl. M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 212 f.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 439. 1204 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 439; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 218. 1205 Vgl. Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 12 f.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 79; Yusuf AlQaradawi, State in Islam, 2004, 210. 1206 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 118. 1201
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F. Islamisches Staatsrecht
Die Gegenmeinung steht auf dem Standpunkt, dass der eingeholte Expertenrat verbindlich für die Exekutive ist1207. Die Vertreter dieser Ansicht sind zudem der Meinung, dass, sofern ein Mehrheitsbeschluss eines Konsultationsgremiums vorliegt, die Exekutive an diesen gebunden ist1208. Hierbei stützen sich die Anhänger dieser Theorie auf das Beispiel des Propheten (s. a. w. s.). Dieser hatte in mehreren Fällen die Meinung von einzelnen Experten nach Konsultierungen angenommen und sich auch bei öffentlichen Konsultierungen, teils gegen seine eigene persönliche Meinung, der Mehrheit unterworfen1209. Die Argumente beider Ansichten sind in sich schlüssig und stehen im Einklang mit dem islamischen Recht. So kann eine verfassunggebende Gewalt, die einen islamischen Staat begründen möchte, sich je nach Auslegung für eine der beiden Hauptansichten entscheiden. Per se kann somit nicht gesagt werden, dass ein islamischer pouvoir constituant unbedingt eine der beiden Ansichten befolgen müsste. Es gibt beachtliche Argumente dafür, dass der Mehrheitsbeschluss nach Konsultationen nicht unbedingt verbindlich für die Exekutive in einem islamischen Staat sein muss. Zwar ist durch die Rechtsfindungsmethode ijma (Konsens der Rechtsgelehrten) die einstimmige Mehrheitsentscheidung Teil des islamischen Rechts1210, das gilt aber auch für ijtihad, die individuelle Rechtsfindung durch einen einzelnen Rechtsgelehrten1211. Das Konsultationsverhalten der Kalifen Abu Bakr und Umar kann aber so interpretiert werden, dass eine Exekutive in einem islamischen Staat nicht an den Rat oder die Mehrheitsentscheidung der konsultierten Persönlichkeiten gebunden ist1212. Somit kann argumentiert werden, dass das islamische Recht, mithin auch das islamische Staatsrecht, nicht unbedingt die Geltung der Mehrheitsentscheidung nach Konsultationen verlangt. In diesem Zusammenhang werden oft folgende quran-Verse zitiert, aus denen klar hervorgeht, dass die Mehrheit der Menschen nicht unbedingt dem rechten Weg folgt:
1207 Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 468 ff.; Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 82; Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 10 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 439 f.; Murad Hofman, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 118. 1208 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 79 ff., 213. 1209 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 212 f., 214; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 16; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 437. 1210 Vgl. Aiman Negim, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts, 2003, 185 ff. 1211 Vgl. Amin Ahsan Islahi, Islamic Law Concept and Codification, 1989, 56 f.; Muhammad Hashim Kamali, Principles of Islamic Jurisprudence, 2003, 468 ff. 1212 Achmat Bin Yusuf Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 21.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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„Die meisten Menschen aber wissen es nicht.“ 1213; „Und die meisten Menschen werden nicht glauben. Magst du es auch noch so eifrig wünschen.“ 1214; „Und wenn du den Meisten derer auf der Erde gehorchst, werden sie dich von Allahs Weg irreführen. Sie folgen nur Vermutungen, und sie raten nur.“ 1215; „Sprich: „Das Schlechte und das Gute sind nicht gleich“, obgleich dich auch die Menge des Schlechten in Erstaunen versetzen mag. Darum fürchtet Allah, ihr Verständigen, auf dass ihr erfolgreich sein mögt!“ 1216; „. . . Jedoch die meisten von ihnen begreifen es nicht.“ 1217; „. . . doch die meisten Menschen wissen es nicht.“ 1218; „. . . jedoch die meisten Menschen glauben es nicht.“ 1219.
Vielmehr geht aus dem folgenden quran-Vers hervor, dass die Rechtgeleiteten meist nur eine Minderheit sind: „. . . wenige von Meinen Dienern sind dankbar.“ 1220 Die Gegenmeinung steht auf dem Standpunkt, dass sich diese quran-Verse auf das menschliche Bedürfnis nach Reglementierung der Kernfragen der Religion, der Ethik und der durch Gott geregelten Sachverhalte bzw. nach der Vorgabe von erlaubten oder unerlaubten Tatbeständen beziehen1221. Keine Mehrheit kann diese fundamentalen Fragen, die dauerhaft durch den quran und die sunna normiert sind, ändern1222. Diese fundamentalen Punkte sind unabänderbar und gelten ewig1223. Genau hierauf beziehen sich nach dieser Ansicht die zuvor aufgezählten quran-Verse1224. Bei weltlichen und vergänglichen Angelegenheiten, die der quran und die sunna nicht regeln, gelte aber die verbindliche Entscheidung einer Mehrheit, sofern diese wiederum im Einklang mit der Religion steht1225. Hiernach wäre das Befolgen einer Mehrheitsmeinung, die im Gegensatz zum quran oder zur sunna steht, fehlerhaft, während es gleichfalls fehlerhaft wäre, die Meinung der Mehrheit bei weltlichen Angelegenheiten, insbesondere bei der Herrschaftsausübung, zu ignorieren bzw. gar nicht zu beachten, wenn sie 1213
Quran 12:21 (vgl. 12:40). Quran 12:103. 1215 Quran 6:116. 1216 Quran 5:100. 1217 Quran 29:63. 1218 Quran 7:187. 1219 Quran 11:17. 1220 Quran 34:13. 1221 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 212 f. 1222 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 79; M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 207. 1223 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 119. 1224 Vgl. Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 79; Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 212 f. 1225 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 49; Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 19. 1214
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sharia-konform ist. Es wird sogar vertreten, dass mit Mehrheit in den besagten Versen Nicht-Muslime gemeint sind1226. Dieser Meinung folgend ist eine Entscheidungsfindung durch einen Mehrheitsbeschluss bei den verlangten Konsultationen nicht ausgeschlossen1227. Hierfür spricht auch ganz einfach die Praktikabilität, welche verlangt, dass bei verschiedenen Meinungen eine zur Geltung kommen muss, um den Sachverhalt bzw. das Problem zu lösen. Das Hauptziel der shura ist es zwar die idealste Entscheidung herauszufiltern und diese dann zu implementieren, allerdings existiert für die Realisierung dieses Ziels eben kein verbindlicher Prozess1228. Sofern die Entscheidungsträger im Rahmen der sharia bleiben, spricht daher nichts gegen die Geltung einer Mehrheitsentscheidung. Die Problematik, die sich hier allerdings stellt, ist, dass die Konsultationspflicht eigentlich von allen Staatsorganen und Staatsgewalten in einem islamischen Staat beachtet werden muss1229. Sie durchdringt die gesamte Konzeption des Staates und gilt allgemein. Dass bedeutet, das alle etablierten Staatsorgane und Staatsgewalten bei Wahrnehmung und Ausübung ihrer Funktionen die Konsultationspflicht nicht nur beachten, sondern auch anwenden müssen1230. Wenn die Entscheidungsfindung durch einen Mehrheitsbeschluss als generelle Umsetzung der Konsultationspflicht angenommen wird, können sich Probleme ergeben, die die Effektivität und die Funktionalität der einzelnen Staatsorgane und -gewalten stark beeinträchtigen können. Insbesondere bei der Exekutive, die erfahrungsgemäß schnelle Entscheidungen treffen muss, würde der Vorsitzende einer Regierung, als Premierminister, als Präsident oder als Regierungs- bzw. Exekutivführer sui generis, durch lange andauernde Beratungen und Konsultationen bei der Wahrnehmung seiner Pflichten beeinträchtigt werden. Daher sollte anstelle einer absoluten Geltung der Entscheidungsfindung durch einen Mehrheitsbeschluss im Rahmen des Konsultationsprozesses vielmehr bei jeder etablierten Staatsgewalt und bei jedem etablierten Staatsorgan einzeln geprüft werden, wie die Konsultationspflicht praktisch umgesetzt werden kann, ohne dabei die Effektivität und Funktionalität zu beeinträchtigen. So könnte innerhalb eines islamischen Staates bei verschiedenen Staatsgewalten wie z. B. der Exekutive und einer potentiell begründeten Legislative der Konsultationsprozess unterschiedlich reglementiert werden. Bei der Exekutive würde es Sinn machen zu verlangen, dass sie bei ihren Entscheidungen die Konsultationspflicht beachtet, indem sie Rat einholt, letztlich aber eigenverantwortlich die Entscheidung trifft. Der Vorsitzende der Regierung 1226 Fathi Osman, The Contract for the Appointment of the Head of an Islamic State, Bai’at al-Imam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 51–87, 79. 1227 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 440 f. 1228 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 48 f. 1229 Abdur Rahman I. Doi, Shari’ah – the Islamic Law, 1997, 19. 1230 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 121.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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könnte der Konsultationspflicht somit genügen, indem er sich mit seinen engen Vertrauten, mit Experten in den jeweiligen Angelegenheiten oder mit anderen Regierungsmitgliedern, sofern eine Exekutive mit verschiedenen Ministerpositionen begründet wurde, berät und dann die notwendige Entscheidung trifft. Dies entspräche der Rolle eines Vorsitzenden der Exekutive im westlichen Staatsrecht. Er trägt die politische Verantwortung seiner Regierung und er bestimmt die Leitlinien der Politik. Sofern ein legislatives Staatsorgan in Form einer Nationalversammlung bzw. eines Parlamentes begründet wird, könnte für dieses die Entscheidungsfindung durch einen Mehrheitsbeschluss bei der Wahrnehmung seiner Pflichten und Kompetenzen sehr wohl gelten. Dabei könnten für wichtige Sachverhalte qualifizierte Mehrheiten verlangt werden und für andere Sachverhalte einfache Mehrheiten ausreichen. Die Entscheidung hierüber liegt wiederum bei einem islamischen pouvoir constituant. Im Rahmen der Judikative stellt sich die Frage der Geltung eines Mehrheitsbeschlusses dann, wenn Gerichte etabliert werden, bei denen mehrere Richter in einem Kollegialorgan zusammenarbeiten. In diesem Rahmen könnte ebenfalls die Geltung des Mehrheitsbeschlusses bei der Entscheidungsfindung festgesetzt werden. Es bleibt festzuhalten, dass die Geltung der Mehrheitsentscheidung nicht verbindlich aus dem shura-Prinzip hergeleitet werden kann. Gleichfalls kann aber auch nicht verbindlich ausgeschlossen werden. Allerdings sind unter Beachtung der wichtigen Rolle, die der Islam der öffentlichen Solidarität gegenüber der Gemeinde einräumt, viele Gelehrte der Ansicht, dass eine Entscheidungsfindung durch einen Mehrheitsbeschluss im Rahmen von Konsultationen kompatibel ist mit der sharia, sofern diese Entscheidung wiederum nicht gegen den quran oder die sunna verstößt1231. Des Weiteren spricht hierfür, dass eine zu starke Machtkonzentration bei Individuen, die Staatsämter ausüben, verhindert werden könnte. Die konkrete Ausgestaltung des shura-Prinzips in einem Staat obliegt letztlich einem islamischen pouvoir constituant. c) Bestimmung der zu konsultierenden Persönlichkeiten Eine weitere unbeantwortete Frage ist die Auswahl bzw. die Wahl der Persönlichkeiten, die an diesem Beratungs- und Konsultationsprozess beteiligt sein sollen1232. Im früh-islamischen Staat von Medina konsultierten die Herrscher Ein1231 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 464. 1232 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 140; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 253.
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F. Islamisches Staatsrecht
zelpersonen, die in gewissen Bereichen Experten waren, aber auch die ganze Gemeinde sowie lediglich kleinere Gruppen1233. Es kann in diesem Zusammenhang argumentiert werden, dass der Herrscher selbst bestimmt, mit wem er die Beratungen durchführt1234. Genauso kann aber argumentiert werden, dass die Gemeinde bestimmt, mit wem die Konsultationen zu erfolgen haben1235. Mit Blick auf das historische Beispiel im früh-islamischen Staat von Medina ist zunächst einmal festzuhalten, dass die zu konsultierenden Persönlichkeiten durch das Thema der Angelegenheit, über die beraten werden soll, in gewissem Maße vogegeben sind. Betrifft die Angelegenheit die gesamte Gemeinde, so ist die gesamte Gemeinde zu konsultieren. Sind lediglich Individuen betroffen, so müssen diese ebenfalls am Beratungsprozess beteiligt werden. Setzt das Thema umfangreiches Expertenwissen voraus, so sind die jeweiligen Experten des Sachbereiches zu konsultieren. Hieraus ergibt sich, dass bei der Bestimmung der zu konsultierenden Persönlichkeiten die Betroffenheit in der Angelegenheit und die Qualifikation des Individuums eine wichtige Rolle spielen. Die meisten Gelehrten heutzutage leiten aus dem shura-Prinzip politische Partizipationsrechte für die Bürger eines islamischen Staates ab1236. Somit haben nach diesen Ansichten in der Theorie alle Staatsbürger das Recht an Konsultationen teilzunehmen, die die Gemeinde als Ganzes, den Staat oder andere relevante politische Sachverhalte betreffen. Da diese Form der politischen Partizipation nicht einfach zu praktizieren ist, vertreten viele Gelehrte die Ansicht, dass ein represäntatives Gremium, welches vom Volk gewählt wird und dieses vertritt, aus dem shura-Prinzip abzuleiten sei1237. Dabei verlangen einige Gelehrte von den potentiellen Mitgliedern solcher shura-Gremien bestimmte Voraussetzungen, die diese erfüllen müssen, um überhaupt in diese Gremien gewählt zu werden1238. Andere sehen in den ahl al-hall wa a’l ‘aqd die Persönlichkeiten, mit denen zu beraten sei1239. Letztlich bejahen aber all diese Ansichten die repräsentative Vertretung der Gemeinde bzw. des Volkes1240. Einhergehend damit favorisieren die Gelehrten in der überwiegenden Anzahl umfassende Wahlen, an denen das ganze 1233
Vgl. M. Bes¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 202 ff. Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 439. 1235 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 45 f. 1236 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 144. 1237 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 45 ff.; Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 117 f. 1238 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 202 f.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 143 f. 1239 Ibrahim Al-Marzouqi, Political Rights and Democracy in Islamic Law, in: Eugene Cotran/Abdel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 1999, 455–475, 463. 1240 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43 ff.; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 439; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 144. 1234
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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Staatsvolk beteiligt und zu denen auch das ganze Staatsvolk berechtigt sein soll1241. In diesem Zusammenhang werden aber auch immer wieder Meinungen geäußert, in denen Frauen und Nicht-Muslimen dieses Wahlrecht verweigert wird1242. Diese Ansichten befinden sich allerdings heutzutage in der Minderheit1243. Muslimischen Gelehrten ist bewusst, dass, um diese politischen Partizipationsrechte zu verwirklichen und eine freie politische Meinungsbildung zu ermöglichen, Versammlungsrechte, Vereinigungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und das Recht zur Gründung von politischen Parteien gewährleistet sein müssen1244. Dies wird von den muslimischen Gelehrten auch gefordert, allerdings sind diese Rechte wiederum durch das islamische Recht beschränkt1245. Mashood Baderin und Servet Armagan heben in ihren Werken explizit die Schutzbereiche und die Beschränkungsmöglichkeiten dieser Rechte in einem islamischen Kontext hervor1246. So können keine politischen Parteien gegründet werden, deren Ziel es wäre, die islamische Ordnung in dem Staat aufzuheben1247. Aber der generelle Zusammenschluss von Interessengruppen zu politischen Parteien wird heutzutage von fast keinem muslimischen Gelehrten mehr per se verneint, sofern diese Parteien im Rahmen des islamischen Rechts agieren1248. So können sich sehr wohl politische Parteien entwickeln und bilden, die z. B. die Interessen von Unternehmern wahrnehmen oder die Anliegen von Arbeitnehmern vertreten1249. Dabei können diese Parteien in ihren Interpretationen des islamischen Rechts abweichen1250. So kann es liberal, konservativ, religiös oder weniger religiös eingestellte Parteien geben, sofern sie im Rahmen der sharia bleiben1251. Das gleiche 1241 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43; Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 117 f. 1242 Vgl. Art. 47 Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 254 f., 255 ff. 1243 Mohammad Hashim Kamali, Freedom, Equality and Justice in Islam, 2002, 92 ff. 1244 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 216 ff.; Said Ramadan, Das Islamische Recht, 1996, 155 f., 157.; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 46 f., 47 ff., 81 ff. 1245 Vgl. Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 129 ff.; Sayyid Abul A’la Maududi, Human Rights in Islam, 1995, 12 f., 14 ff.; Jamila L. Abid, Menschenrechte im Islam, 2004, 14 ff. 1246 Vgl. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 48 ff.; Servet Armag˘an, Islam Hukukunda Temel Hak ve Hürriyetler, 1992, 114 ff. 1247 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 222. 1248 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 47. 1249 Vgl. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 37–51, 47. 1250 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 228. 1251 Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 227.
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F. Islamisches Staatsrecht
gilt für die Meinungs-, die Informations-, die Presse- sowie die Versammlungsfreiheit. Der Schutzbereich dieser Rechte findet seine Schranken in dem islamischen Recht. Dass diese Rechte auch aus dem shura-Prinzip abgeleitet werden können, bezweifeln heutzutage die wenigsten muslimischen Gelehrten. Allerdings ist, wie zuvor erwähnt, der Schutzbereich dieser Rechte nicht so umfassend wie der Schutzbereich vergleichbarer Rechte in westlichen Verfassungen. Außerdem sind die Beschränkungsmöglichkeiten weiter als das „Schrankensystem“ in westlichen Verfassungen. Diese Rechte müssen aber nicht unbedingt alleine aus dem shura-Prinzip abgeleitet werden. Die Handlungsbeispiele des Propheten (s. a. w. s.) und der vier rechtgeleiteten Kalifen enthalten viele zusätzliche Sachverhalte und Punkte, die ebenfalls erlauben diese Rechte als Teil der sharia herzuleiten. Die Möglichkeit, dass der Herrscher selbst auswählen kann, mit wem er die Konsultationen durchführt, wird heutzutage nur noch selten vertreten1252. Der mögliche Machtmissbrauch eines Herrschers ist in diesem Fall sehr hoch, so dass die meisten Gelehrten aufgrund der negativen historischen Beispiele diese Praxis ablehnen1253. Dies ist bedeutend, da gerade durch solch eine Praxis demokratische Grundelemente unterbunden werden könnten. Wenn ein Kalif die zu konsultierenden Persönlichkeiten selbst auswählt, könnte er damit jegliche politische Opposition von vornherein ausschalten, indem er nur Gleichgesinnte konsultiert. Deshalb vertreten die meisten Gelehrten heute die zuvor wiedergegebene Meinung. Die Gelehrten diskutieren auch darüber, welche Qualifikationen Angehörige des shura-Gremiums innehaben müssen. Bei religiösen Fragen müssen konsultierte Angehörige des shura-Gremiums nach h. M. muslimische Gelehrte und Theologen sein1254. Bei allen anderen Sachverhalten müssen sie Experten in der Angelegenheit sein, über die sie konsultiert werden1255. Weiterhin sollen ihre Entscheidungen auf rationalen Argumenten beruhen, und sie sollen moralisch im Sinne des Islams handeln1256. Außerdem soll kein Konsultationsergebnis von dem quran oder der sunna divergieren1257. Letztlich sei die Bestimmung der bestqualifizierten Mitglieder des shura-Gremiums eine religiöse Pflicht, die die Gemeinde als Ganzes treffe1258. Ein Zuwiderhandeln wird sogar teilweise als Sünde betrachtet1259. 1252
Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 439. Vgl. Fazlur Rahman, Shura and the Role of the Ummah in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics and Islam, 1986, 87–97, 92 f. 1254 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 23. 1255 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 23. 1256 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 210 f., 266. 1257 Vgl. Muhammad Abdullah, Kur’an Devleti, 1976, 111 ff. 1258 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 24. 1253
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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Somit ist es wichtig, gerade bei heutigen Gesellschaften, die bevölkerungsreich und vielschichtig sind, eine praktikable Methode zu etablieren, mit der die Mitglieder des shura-Gremiums bestimmt werden. Gelehrte, die in dem shuraGremium ein Gegenstück eines Parlamentes sehen, befürworten allgemeine Wahlen1260, während andere Gelehrte es der Exekutive überlassen zu bestimmen, wen sie konsultiert1261. Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten erlauben es einem islamischen pouvoir constituant dies je nach Auslegung verbindlich festzulegen. Ein islamischer pouvoir constituant ist somit völlig frei bei der Konkretisierung dieser Aspekte für den jeweiligen Staat. Sofern er sich jedoch bei seiner Entscheidung auf die heutigen herrschenden Ansichten stützt und diese in sein Staatskonzept einfließen lässt, würde der dann gegründete islamische Staat viele politische Rechte für die Bürger gewährleisten, die ihre Äquivalente, wenn auch liberaler, in den westlichen Verfassungen haben. d) Shura als Staatsgewalt/Der shura-Rat Aus dem shura-Prinzip leiten viele Gelehrte Staatsorgane ab, die je nach Interpretation entweder der Exekutive oder der Legislative zuzuordnen sind1262. Rached al-Ghannouchi z. B., der geistige und politische Führer der tunesischen Annahda-Partei, favorisiert aufgrund des shura-Prinzips eine Staatsform mit machteinschränkenden Mechanismen zur Gewährung von Rechtssicherheit im Rahmen religiöser Gesetze, indem das Volk durch Wahlen Repräsentanten wählt, die es in einem mit Legislativfunktionen versehenen shura-Organ vertreten und direkten Einfluss auf die Regierung nehmen1263. Bereits in der Verfassung des Osmanischen Reiches von 1876, der Kanun-i Esasi, wurde in Art. 53 das Gremium der Sura-yi Devlet begründet, welches explizit weder der exekutiven Gewalt noch der legislativen Gewalt zugeordnet werden kann1264. Das Osmanische Parlament, das Meclis-i Umumi, bestand aus zwei 1259 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 24. 1260 Vgl. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 144. 1261 Azizah Y. Al-Hibri, Islamic constitutionalism and the concept of democracy, Case Western Reserve Journal of International law, Vol. 24, Issue 1, 1992, 1–28, 24. 1262 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 51 ff.; Isma’il Raji al-Faruqi, Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 140. 1263 Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie, 2004, 413. 1264 Vgl. Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 140 f.; Tilman J. Röder, The Separation of Powers in Muslim Countries: Historical and Comparative Perspectives, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 321–373, 328 f.
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F. Islamisches Staatsrecht
Teilen bzw. zwei Häusern, dem Heyet-i Ayan und dem Heyet-i Mebusan1265. Während die Mitglieder des letzteren durch das Volk gewählt wurden, wurden die Mitglieder des ersteren vom Sultan selbst bestimmt1266. Die Anzahl der Mitglieder des Heyet-i Ayan durfte nicht mehr als ein Drittel der Gesamtzahl der Mitglieder des Heyet-i Mebusan sein1267. Dem Sultan unterstand direkt ein Gremium von Ministern mit verschiedenen Aufgabenbereichen, das sogenannte Heyet-i Vükela1268. Diese Minister wurden direkt vom Sultan ernannt1269. Das Meclis-i Umumi hatte zwar gewisse legislative Kompetenzen, diese waren allerdings stark eingeschränkt1270. Der Sultan und das Heyet-i Vükela konnten ebenfalls Gesetzentwürfe einreichen1271. In dem Zusammenspiel der verschiedenen Staatsorgane bei der Gesetzgebung stand auch das Gremium der Sura-yi Devlet, welches über die Gesetzesentwürfe beriet1272. Es war weder demokratisch legitimiert, noch war die Anzahl der Mitglieder der Sura-yi Devlet begrenzt1273. Der Sultan hatte direkten Einfluss auf dieses Gremium. Somit hatte die Exekutive bzw. der Sultan im Osmanischen Reich eine extrem starke Einwirkungsmöglichkeit auf den Gesetzgebungsprozess. Das Staatsorgan Sura-yi Devlet diente letztlich dieser Einwirkungsmöglichkeit1274. Isma’il Raji al-Faruqi betrachtet das shura-Gremium als einen Teil der Exekutive, der dem Staats- und Regierungsoberhaupt mit seinen Ratschlägen zur Seite stehen und zudem befugt sein soll dieses gegebenenfalls sogar abzusetzen1275, während Muhammad Abduh aus dem shura-Prinzip eine Nationalversammlung mit legislativen Kompetenzen ableitete, die vom Volk gewählt werden sollte1276. Muhammad Asad verknüpfte wiederum aufgrund des shura-Prinzips die Exeku-
1265 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 136; Tilman J. Röder, The Separation of Powers in Muslim Countries: Historical and Comparative Perspectives, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 321–373, 328 f.; vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 70. 1266 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 136 f.; vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 72. 1267 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 136. 1268 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 136. 1269 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 136. 1270 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 136. 1271 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 139 f. 1272 Vgl. Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 140 f. 1273 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 140. 1274 Vgl. Tilman J. Röder, The Separation of Powers in Muslim Countries: Historical and Comparative Perspectives, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 321–373, 328 ff. 1275 Isma’il Raji al-Faruqi, Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 140. 1276 Muhammad Sameer Murtaza, Die Salafiya, 2005, 30.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
265
tive mit einem etablierten legislativen Organ1277. Diese verschiedenen Deutungsmöglichkeiten bieten einem islamischen pouvoir constituant viele Ansätze, um im Rahmen des verfassunggebenden Prozesses kreativ auf Bedürfnisse und neuzeitliche Entwicklungen zu reagieren. Es ist aber nicht unbedingt verpflichtend aus dem shura-Prinzip ein Staatsorgan herzuleiten. Relevant ist, dass das shura-Prinzip in der Praxis umgesetzt wird. Wie dies konkret geschieht, bleibt einem islamischen pouvoir constituant überlassen. Daher kann sogar vertreten werden, dass das shura-Prinzip nicht einmal in einer Verfassung Erwähnung finden muss, sofern die Verfassung abstrakt auf den Islam und die sharia verweist. Damit wäre nämlich das shura-Prinzip indirekt Teil des geltenden Verfassungsrechts und bindend für die etablierten Staatsgewalten, da es ja unstreitig Teil der islamischen Religion und der sharia ist. Festzuhalten bleibt, dass das shura-Prinzipes einem islamischen pouvoir constituant ermöglicht, je nach Bedürfnis und Notwendigkeit sowie Interpretation verschiedenartige Staatsorgane zu begründen, die verschiedenen Staatsgewalten zugeordnet werden können. e) Schlussfolgerungen Das shura-Prinzip – als abstraktes Konzept – ermöglicht einem islamischen pouvoir constituant, je nach Bedürfnis und Notwendigkeit sowie Interpretation verschiedenartige Staatsorgane zu begründen, die unterschiedlichen Staatsgewalten zugeordnet sein können. Bei jeder etablierten Staatsgewalt und bei jedem Staatsorgan muss aber einzeln geprüft werden, wie die Konsultationspflicht praktisch umgesetzt werden kann, ohne die Effektivität und Funktionalität zu beeinträchtigen. Die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten bieten einem islamischen pouvoir constituant Ansätze, um im Rahmen des verfassungsgebenden Prozesses kreativ auf Bedürfnisse und neuzeitliche Entwicklungen zu reagieren. Z. B. kann dieses Prinzip dazu dienen ein represäntatives Gremium, das mit legislativen Kompetenzen ausgestattet ist sowie vom Volk gewählt wird und dieses vertritt zu etablieren und dementsprechend die Aufgaben eines modernen Parlamentes wahrnimmt. Das shura-Gremium kann aber auch als ein Teil der Exekutive, welches dem Staats- und Regierungsoberhaupt mit seinen Ratschlägen zur Seite steht und diesen gegebenenfalls sogar Absetzen kann, betrachtet werden. In allen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten, in denen Entscheidungen notwendig sind und die nicht in der sharia geregelt sind, müssen zwingend Konsultationen durchgeführt werden. Diese Kon1277
Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 51.
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F. Islamisches Staatsrecht
sultationspflicht betrifft – wie erwähnt – alle religiösen und weltlichen Fragen, die im Zusammenhang mit der Staatsführung stehen. Aus dem shura-Prinzip ist zwar keine Volkssouveränität abzuleiten. Das Volk hat aber das Recht in Angelegenheiten, die es betreffen, konsultiert und gehört zu werden. Daher können aus dem shura-Prinzip politische Partzipationsrechte, Versammlungsrechte, Vereinigungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Pressefreiheit, Wahlrecht und das Recht zur Gründung von politischen Parteien abgeleitet werden. Diese Rechte sind zwar durch das islamische Recht eingeschränkt und stehen unter dem sogenannten sharia-Vorbehalt stellen aber trotzdem eine enormes Potential für die Einräumung von individuellen Freiheitsrechten dar. Bei der Bestimmung des Umfangs der Konsultationspflicht ist eine islamische Regierung zwar durch die in der sharia festgelegten Normen gebunden. Da aber verbindliche Regelungen diesbezüglich deutlich in der Minderheit sind und die sharia gerade in dieser Hinsicht ein Höchstmaß an Flexibilität gewährt, ist es einer Regierung möglich, bezüglich vieler Fragen der staatlichen Organisation, Verwaltung, Wirtschaftsverfassung, Strafrecht etc. Konsultationen durchzuführen und verbindliche sowie zeitgemäße Entscheidungen zu fällen. Wie das shura-Prinzip letztlich in der Praxis umgesetzt wird, bleibt einer islamischen pouvoir constituant überlassen. Daher kann sogar vertreten werden, dass das shura-Prinzip nicht einmal in einer Verfassung Erwähnung finden muss, sofern die Verfassung abstrakt auf den Islam und die sharia verweist, wodurch wiederum dass shura-Prinzip indirekt Teil des geltenden Verfassungsrechts und bindend für die etablierten Staatsgewalten wäre. Festzuhalten bleibt, dass das shura-Prinzip einem islamischen pouvoir constituant den Freiraum bietet, viele moderne staatsrechtliche Grundprinzipien in das begründete islamische Staatswesen einzufügen.
4. Shura in neuzeitlichen islamischen Verfassungen Das shura-Prinzip ist entweder ausdrücklich oder konkludent Teil aller neuzeitlichen islamischen Verfassungen. Die konkrete Umsetzung in der Praxis und die hieraus abgeleiteteten Staatsorgane differieren teilweise stark. Es ist jedem islamischen pouvoir constituant überlassen, wie er dieses Prinzip in die zu erlassende Verfassung inkorporiert. Überraschend ist es daher nicht, dass diesbezüglich verschiedene Beispiele existieren. a) Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo Das shura-Prinzip ist in dem Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität nicht ausdrücklich enthalten. Eine Gesamtbetrachtung des Verfassungsvorschlages legt allerdings nahe, dass die Anwendung dieses Prinzips konkludent bei al-
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
267
len etablierten Staatsorganen vorausgesetzt wird. Aus dem shura-Prinzip wird auch kein eigenes Staatsorgan in dem Verfassungsvorschlag hergeleitet. Alle etablierten Staatsorgane, der „Staatspräsident“ Art. 44 ff., die „Rechtsprechung“ Art. 61 ff., das „Repräsentative Parlament“ Art. 83 ff. und die „Regierung“ Art. 129 ff. sind aber durch die vorherigen Abschnitte „Islamische Umma“ Art. 1 ff. und „Fundamente einer islamischen Gesellschaft“ Art. 5 ff. gebunden. Daher müssen sie im Rahmen ihrer Kompetenzen insbesondere Art. 17, welcher eine Bindung der gesamten Staatsgewalt an den Islam und die sharia beinhaltet, beachten. Hierzu gehört auch das shura-Prinzip. Um das Volk an der Herrschaftsausübung zu beteiligen enthält der Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität zahlreiche politische Rechte für die Staatsbürger. Insbesondere das Wahlrecht zur Bestimmung des Staatspräsidenten und zur Bestimmung der Mitglieder des Repräsentativen Parlaments, die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit sind dabei besonders erwähnenswert. Aber auch Mitglieder der Staatsorgane haben politische Rechte. Sie können Oppositionen bilden oder im Parlament frei ihre Meinung äußern. Ob diese Rechte wegen des shura-Prinzips gewährleistet wurden, kann nicht explizit bejaht oder verneint werden. Jedenfalls garantiert der Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität viele politische Rechte und steht damit im Einklang mit modernen und liberalen shura-Interpretationen. Mustafa Kemal Vasfi kritisierte in seiner Nachbearbeitung das Fehlen einer ausdrücklichen Fixierung des shura-Prinzips in dem Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität. Er erklärte in seiner Überarbeitung des Verfassungsvorschlages, dass ein diesbezüglicher Artikel als Leitlinie für den gesamten Staatsapparat im Abschnitt „Fundamente einer islamischen Gesellschaft“ eingeführt bzw. bestehende Artikel in diesem Sinne geändert werden sollten1278. Diese von ihm befürwortete Leitlinie sollte enthalten, dass der Staatspräsident (Imam) durch eine baiah bestimmt wird, welche von den ahl al-hall wa a’l ‘aqd ausgeübt wird. Die ahl al-hall wa a’l ‘aqd sollten zugleich als Staatsorgan bzw. als shura-Gremium institutionalisiert werden1279. Außerdem bemängelte er, dass das shuraPrinzip nicht hinreichend in Art. 46 und Art. 48 des Verfassungsvorschlages der Al-Azhar Universität, die die baiah des Staatspräsidenten zum Gegenstand haben, Erwähnung finde1280. Die Geltung der Mehrheitsentscheidung ist Teil des Verfassungsvorschlages der Al-Azhar Universität. Durch sie werden z. B. das Staatsoberhaupt und die Mitglieder des Parlaments gewählt. Gesetze werden ebenfalls durch Mehrheitsentscheidungen im Parlament erlassen. Für relevante Handlungen werden z. T.
1278 1279 1280
Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 88. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 88. Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 92.
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qualifizierte Mehrheiten gefordert, während bei anderen Punkten die einfache Mehrheit ausreicht. b) Karachi-Grundprinzipien Die Karachi-Grundprinzipien enthalten ausdrücklich das shura-Prinzip. Es wird in dem dritten Abschnitt „Governance of the State“ jeweils in Art. 14 und Art. 15 erwähnt. Art. 14 formuliert eine klare Leitlinie für die Exekutive, indem folgendes festgelegt wird: „The Head of State shall function not in an autocratic but in a conslutative (Shura’i) manner, i. e. he will discharge his duties in consultation with persons holding responsible positions in the Government and with the elected representatives of the people“.
Zudem steht in Art. 15: „The Head of State shall have no right to suspend the Constitution wholly or partly or to run the administration without a Shura“.
Damit formulieren die Karachi-Grundprinzipien ausdrücklich eine Konsultationspflicht des Staatsoberhauptes. Dieses soll bei der Ausübung seiner Pflichten Personen, die wichtige Staatsämter innehaben, und die gewählten Repräsentanten des Volkes konsultieren. Allerdings wird dabei ausgelassen, ob der eingeholte Rat verbindlich ist und ob gegebenenfalls eine Entscheidungsfindung durch Mehrheitsbeschluss im Rahmen des Konsultationsprozesses möglich ist. Die Konkretisierung dieser Punkte wird einem islamischen pouvoir constituant überlassen. Art. 15 enthält zusätzlich explizit ein Verbot, das dem Staatsoberhaupt das Regieren ohne Beachtung des shura-Prinzips untersagt. In Art. 16 heißt es: „The body empowered to elect the Head of State shall also have the power to remove him by majority of votes“. Damit enthalten die Karachi-Grundprinzipien die Geltung der Mehrheitsentscheidung. Da das Staatsoberhaupt und die Vertreter des Volkes gewählt werden sollen, impliziert dies, dass bei diesen Wahlen das Ergebnis durch eine Mehrheitsentscheidung zu ermitteln ist. Ob die Mehrheitsentscheidung im Rahmen der Gesetzgebung verbindlich sein soll, ist in den Karachi-Grundprinzipien nicht vorgegeben, aber auch nicht ausgeschlossen. Art. 7 im zweiten Abschnitt „Citizens’ Rights“ beinhaltet neben vielen anderen Grundrechten insbesondere das Recht auf Meinungsfreiheit sowie das Recht der Vereinigungsfreiheit. Art. 11 garantiert durch einen Verweis diese Rechte auch Nicht-Muslimen. Diese Rechte sind allerdings sowohl für Muslime als auch für Nicht-Muslime durch die sharia beschränkt. Dadurch, dass das Staatsoberhaupt gewählte Repräsentanten des Volkes konsultieren soll, ergibt sich auch ein Wahlrecht des Volkes, obwohl dies nicht ausdrücklich formuliert wurde. Auch das Recht zur Bildung von politischen Parteien ist nicht explizit erwähnt, ergibt sich aber konsequenterweise aus dem in Art. 7 u. a. aufgezählten Recht der Vereinigungsfreiheit. Das gleiche ergibt sich für die Pressefreiheit, die aus dem Recht
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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auf Meinungsfreiheit abzuleiten ist. Die detaillierte Regelung diesbezüglich ist einem islamischen pouvoir constituant überlassen. c) Saudi-Arabische Staatsgesetze Die saudi-arabischen Staatsgesetze erwähnen das shura-Prinzip explizit in Art. 1 des Gesetzes über den Konsultativrat1281. Außerdem etablieren sie ein gesetzlich fixiertes shura-Gremium. Gemäß Art. 68 des Grundgesetzes der Herrschaft1282 soll ein Konsultativrat gebildet werden, wobei der König das Recht hat, diesen gegebenenfalls aufzulösen und neu zu strukturieren. Das eigens für diesen Konsultativrat erlassene Gesetz reguliert die Bildung, die Art und Weise des Wirkens, die Kompetenzen und die Auswahl der Mitglieder. Art. 67 GH erklärt, dass die in Art. 44 GH etablierte regulative Staatsgewalt für die Ausarbeitung von Gesetzen und Regelungen zuständig ist, die im Einklang mit der sharia stehen müssen. Dies soll auf Grundlage des GH, des Gesetzes über den Ministerrat1283 und des GK geschehen. Dies bedeutet, dass diese quasi-legislative Gewalt nicht an eine Institution gebunden ist, sondern aus einer Zusammensetzung des Wirkens von König, Ministerrat und Konsultativrat besteht. Damit wird der Konsultativrat ausdrücklich dieser regulativen Gewalt zugeordnet. Er besteht gemäß Art. 3 GK aus dem Vorsitzenden und sechzig vom König zu ernennenden Mitgliedern. Art. 15 GK regelt die Kompetenzen. Der Konsultativrat erhält ein Mitspracherecht bei der Ausarbeitung der Entwicklungspläne, der Gesetze, Verordnungen und internationalen Abkommen, sowie bei der Auswertung der Jahresberichte der Regierungsinstanzen. Seine Beschlüsse sind dem Ministerrat zur Erörterung vorzulegen. Stimmt die Ansicht beider Räte überein, kann der König den Beschluss erlassen. Gibt es Differenzen zwischen ihnen, obliegt dem König entsprechend Art. 44 GH als letzter Instanz die Entscheidung. Nach Art. 23 GK haben mindestens zehn Mitglieder des Konsultativrates das Recht, Vorschläge für neue Gesetze bzw. Gesetzesänderungen zu machen, die vom Vorsitzenden dem König vorgelegt werden. Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass dem Konsultativrat in erster Linie beratende und empfehlende Wirkung zukommnt. Dass der König als letzte Instanz über die Beschlüsse entscheidet und die Mitglieder auswählt, verdeutlicht, welcher Interpretation des shura-Prinzips die saudi-arabischen Staatsgesetze folgen. Die Konsultation ist hiernach für das Staatsoberhaupt verbindlich, allerdings ist es nicht an das Ergebnis der Beratungen gebunden, und es wählt diejenigen selber aus, mit denen die Konsultationen durchgeführt werden sollen. Die Mehrheitsentscheidung ist in den saudi-arabischen Staatsgesetzen weder bei der Ge1281 1282 1283
Nachfolgend GK. Nachfolgend GH. Nachfolgend GM.
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setzgebung noch bei der Bestimmung des Staatsoberhauptes oder des Konsultativrates von Relevanz. Art. 26 GH gewährt zwar den Staatsbürgern Grundrechte, die aus der sharia abzuleiten sind, trotzdem sind die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Information, Bildung von Vereinigungen, Gewerkschaften oder politischen Parteien und Versammlungsrechte stark eingeschränkt bzw. teilweise sogar nicht existent.
d) Iranische Verfassung In der Iranischen Verfassung werden die quran-Verse, die das shura-Prinzip enthalten, in Art. 7 Abs. 1 wiedergegeben. In Art. 7 Abs. 1 heißt es: „In accordance with the command of the Koran contained in the verse ,Their affairs are by consultations among them‘ (42:38) and ,Consult them in affairs‘ (3:159), consultative bodies – such as the Islamic Consultative Assembly, the Provincial Courts, and the City, Region, District, and Village Councils and the likes of them – are the decision – making and administrative organs of the country“.
Art. 7 Abs. 1 erklärt somit, dass aufgrund dieser Verse die Islamische Beratungsversammlung (Islamic Consultative Assembly), die Räte der Provinz, der Kreise, der Städte, der Stadtviertel, der Bezirke, der Dörfer und dergleichen zu den Entscheidungs- und Verwaltungsorganen des Landes zählen. Damit bindet die iranische Verfassung Teile der Legislative und der Exekutive ausdrücklich an das shura-Prinzip und leitet sie bzw. Teile dieser Gewalten sogar aus diesem Prinzip her. Hiermit wird hervorgehoben, dass das shura-Prinzip ein elementares Fundament eines islamischen Staates ist. Dies wird gerade durch die Zitierung der relevanten quran-Verse noch einmal besonders betont. Art. 7 Abs. 2 erklärt, dass die Struktur der in Abs. 1 genannten Räte, ihre Befugnisse, Funktionen, Aufgaben und Bildung durch die Verfassung, das Gesetz und die davon abgeleiteten Verordnungen reguliert werden. Das relevanteste Staatsorgan, das in Verbindung mit dem shura-Prinzip steht, ist die Islamische Beratungsversammlung (Islamic Consultative Assembly). In Art. 57 heißt es, dass die Funktion der legislativen Gewalt im Staat von der Islamischen Beratungsversammlung ausgeübt wird. Das sechste Kapitel mit der Überschrift „The Legislative Power“ reguliert die Bildung der Islamischen Beratungsversammlung, die Art und Weise ihres Wirkens, die Kompetenzen und die Bestimmung ihrer Mitglieder. Art. 62 setzt fest, dass die Mitglieder durch das Volk geheim gewählt werden. Damit handelt es sich bei diesem Staatsorgan um ein repräsentatives Gremium, und es besteht gemäß Art. 64 Abs. 1 aus 270 Mitgliedern. Laut Art. 64 Abs. 2 sollen Juden und Zarathustraner jeweils einen Abgeordneten, chaldäische und assyrische Christen gemeinsam einen Abgeordneten, armenische Christen aus dem Norden und armenische Christen aus dem Süden jeweils einen Abgeordneten stellen.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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Die Islamische Beratungsversammlung ist nach Art. 65 bei einer Anwesenheit von zwei Dritteln der Abgeordneten beschlussfähig, nach Art. 71 kann sie im Rahmen ihrer durch die Verfassung gewährleisteten Funktion in allen Angelegenheiten Gesetze erlassen. Diese Gesetze dürfen allerdings gemäß Art. 72 weder gegen die sharia noch gegen die Verfassung verstoßen. Laut Art. 73 hat sie neben der Judikative ein Interpretationsrecht bezüglich der einfachen Gesetze. Fünfzehn Abgeordnete können gemäß Art. 74 Satz 2 einen Gesetzentwurf zur Abstimmung einreichen. Die Islamische Beratungsversammlung ist nach Art. 76 berechtigt über alle Angelegenheiten des Landes Untersuchungen einzuleiten, und nach Art. 77 bedürfen internationale Abkommen einer Ratifizierung durch sie. Die verbindliche Geltung der Mehrheitsentscheidung ist in der iranischen Verfassung enthalten. Wichtige Staatsorgane und Mitglieder von Staatsorganen werden z. B. durch eine Wahl bestimmt, deren Ergebnisse durch Mehrheitsentscheidungen ermittelt werden. Gesetze werden ebenfalls durch Mehrheitsbeschlüsse in der Islamischen Beratungsversammlung erlassen. Für einige Entscheidungen werden z. T. qualifizierte Mehrheiten gefordert, während bei anderen Punkten die einfache Mehrheit ausreicht. Um zu gewährleisten, dass die erlassenen Gesetze nicht der sharia widersprechen, müssen diese gemäß Art. 94 an den Wächterrat, welcher gemäß Art. 91 zu gründen ist, zur Überprüfung übersandt werden. Die Abgeordneten der Islamischen Beratungsversammlung genießen nach Art. 86 bei der Ausübung ihrer Aufgaben Meinungs- und Abstimmungsfreiheit. Art. 24, Art. 26, Art. 27 gewähren dem Volk die Meinungs- und Pressefreiheit, die Vereinigungsfreiheit sowie das Recht Versammlungen und Demonstrationen abzuhalten. Art. 175 enthält explizit eine Medienfreiheit und bezieht sich dabei insbesondere auf Rundfunk und Fernsehen. Damit sind verfassungsrechtlich umfangreiche politische Rechte garantiert. Allerdings sind diese Rechte wiederum durch das islamische Recht und die Verfassung eingeschränkt und können auch nur in diesem Rahmen ausgeübt werden. e) Schlussfolgerungen Das shura-Prinzip ist mit Ausnahme des Verfassungsvorschlages der Al-Azhar Universität in den aufgezeigten Beispielen ausdrücklich erwähnt. Aber auch eine Gesamtbetrachtung des Verfassungsvorschlages der Al-Azhar Universität legt nahe, dass die Anwendung dieses Prinzips konkludent bei allen etablierten Staatsorganen vorausgesetzt wird. Somit kann unproblematisch gesagt werden, dass das shura-Prinzip in allen zuvor aufgezeigten konkreten Beispielen von islamischen Verfassungen enthalten ist. Außer in den saudi-arabischen Staatsgesetzen ist die Geltung der Mehrheitsentscheidung Teil aller aufgezeigten Beispiele. Durch Mehrheitsentscheidungen
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werden z. B. das Staatsoberhaupt oder die Mitglieder anderer Staatsorgane gewählt. Soweit vorgesehen werden Gesetze ebenfalls durch Mehrheitsentscheidungen vom zuständigen Staatsorgan erlassen. Für relevante Handlungen werden teilweise qualifizierte Mehrheiten gefordert, während bei anderen Punkten die einfache Mehrheit ausreicht. Die unterschiedlichen staatsorganisatorischen Umsetzungen des shura-Prinzips in den aufgezeigten Beispielen verdeutlichen die großen Potentiale, die dieses Prinzip einem islamischen pouvoir constituant bietet. Obwohl die konkreten Umsetzungen sich fast alle ausdrücklich auf das shura-Prinzip berufen unterscheiden sie sich gleichzeitig in vielen Punkten. Dies zeigt die Flexibilität des shura-Prinzips in einem staatsrechtlichen Zusammenhang. Hierdurch wird ersichtlich, wieviel Freiraum einem islamischen pouvoir constituant geboten wird, um aus dem shura-Prinzip moderne und neue politische Ansätze zu entwickeln, vorausgesetzt, dass diese wiederum sharia-konform sind. 5. Vergleich mit dem Demokratieprinzip Demokratie ist eine Herrschaftsform, in der die Politik durch die Mehrheitsentscheidung des Volkes bestimmt wird1284. Diese Mehrheitsentscheidung wird meist durch Wahlen oder Volksabstimmungen, an denen üblicherweise alle Staatsbürger teilnehmen können, ermittelt1285. Der Demokratiebegriff wird in diesem Zusammenhang als Sammelbegriff für Herrschaftsformen gebraucht, deren Herrschaftsgrundlage aus einem weitgefassten und pluralistischen Volksbegriff abgeleitet wird und dabei umfassende Partizipationsrechte für die Bürger gewährleistet. Gleichzeitig wird der Begriff heutzutage als Synonym für die liberal-demokratischen Systeme in westlichen Nationalstaaten verwendet1286. a) Das Demokratieprinzip im westlichen Staatsrecht Das Demokratieprinzip ist in fast allen westlichen Verfassungen ausdrücklich enthalten1287. Über die Bedeutung und die Definition der Umschreibung liberal besteht derzeit kein Konsens unter den Politik- und Rechtswissenschaftlern1288. 1284
Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 173, Rn. 1 f. G. Bingham Powel Jr., Elections as Instruments of Democracy, 2000, 3 f. 1286 Thomas Meyer, Soziale Demokratie, 2009, 235; Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundation of Comparative Politics, 2008, 22; Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 2007, Rn. 13 ff., 177. 1287 Gary S. Schaal, Vertrauen, Verfassung und Demokratie – Über den Einfluss konstitutioneller Prozesse und Prozeduren auf die Genese von Vertrauensbeziehungen in modernen Demokratieen, 2004, 189 ff. 1288 Carsten Q. Schneider, The Consolidation of Democracy – Composing Europe and Latin America, 2009, 101 f. 1285
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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Definitionsversuche des Demokratiebegriffs enthalten oft Aspekte aus der politischen Kultur in demokratischen Gesellschaften, welche nicht unbedingt einer Form der Herrschaftsausübung zugeschrieben werden können1289. Hierdurch wird der Rahmen für die Definitionen dieses Begriffs stark erweitert. Die meisten liberalen demokratischen Staaten sind zugleich parlamentarische repräsentative Demokratien1290. Es existieren aber auch viele andere Formen von demokratischen Staaten wie z. B. präsidiale Demokratien, oder aber Hybridformen zwischen diesen beiden Systemen1291. aa) Ursprung und Definition Das Wort Demokratie stammt von dem altgriechischen Wort demokratia ab. Die Komponenten sind das Wort demos, welches das Volk bedeutet, kratein, was mit herrschen übersetzt wird, und die Endsilbe ia. Zusammengesetzt bedeutet es Herrschaft des Volkes1292. Spätestens seit der Nordamerikanischen und der Französischen Revolution ist im Westen die Meinung vorherrschend, dass niemand ein göttliches Recht zur Herrschaft hat und dass Herrschaft nur legitim ist, sofern die Einwilligung der Beherrschten hierzu vorliegt1293. Daher basiert die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten in demokratischen Systemen nicht einfach auf tatsächlicher Macht, sondern vielmehr auf der Einwilligung der Beherrschten1294. Diese Einwilligung bzw. Legitimierung stellt ein definierendes Fundament dieser Beziehung dar1295. Dies steht dagegen im Widerspruch zu den absolutisitsch geprägten Herrschaftsformen, die vor den Revolutionen in Nordamerika und Frankreich verbreitet waren, in denen Könige von Gottes Gnaden ohne Zustimmung des Volkes und ohne Kontrollmöglichkeit durch das Volk willkürlich regierten1296. Allerdings gibt es auch heute keine verbindliche und allgemein gültige Definition für das Demokratieprinzip1297. Dies stellt ein Problem dar, da ein Konsens 1289 Carsten Q. Schneider, The Consolidation of Democracy – Composing Europe and Latin America, 2009, 9 f. 1290 G. Bingham Powel Jr., Elections as Instruments of Democracy, 2000, 22. 1291 Jürgen Hartmann, Westliche Regierungssysteme – Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles Regierungssystem, 2005, 19 ff. 1292 Robert A. Dahl, On Democracy, 1998, 11; vgl. Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage. 2010, 55 ff. 1293 Bernard Schreyer/Manfred Schwarzmeier, Grundkurs Politikwissenschaft: Studium der politischen Systeme, 2005, Rn. 508 ff., 167. 1294 Giovanni Sartori, Demokratietheorie, 1957, 94 ff. 1295 Bernard Schreyer/Manfred Schwarzmeier, Grundkurs Politikwissenschaft: Studium der politischen Systeme, 2005, Rn. 80, 33. 1296 Bernard Schreyer/Manfred Schwarzmeier, Grundkurs Politikwissenschaft: Studium der politischen Systeme, 2005, Rn. 79, 33. 1297 Brigitte Weifen, Entstehungsbedingungen von Demokratien, 2009, 20 f.
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darüber fehlt, was Demokratie eigentlich bedeutet. Soweit Einigkeit besteht, betrifft dies nur generelle-abstrakte Aussagen, wie: die Einwilligung der Beherrschten ist das Fundament für die Beziehung zwischen der Regierung und dem Volk; oder: Herrschaft muss auf dem Willen des Volkes beruhen1298. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder erklärt, dass das Volk herrschen soll1299. Das Wort Demokratie bzw. das zuvor erwähnte altgriechische Wort wurde bereits im 5. Jahrhundert vor Christus im antiken Athen auf Münzen geprägt1300. Die Athener Polis wird als das früheste Beispiel eines Staates aufgezeigt, der am ehesten vergleichbare Eigenschaften einer modernen liberalen Demokratie in einem Staat institutionalisiert hat1301. Dabei wird geschätzt, dass nur rund 16 Prozent der Bevölkerung das Recht hatten zu wählen. Frauen, Sklaven und Ausländer waren hiervon ausgeschlossen. Entscheidungen der Wahlberechtigten wirkten direkt auf die Staatsführung, ein repräsentatives Staatsorgan fehlte zu diesem Zeitpunkt1302. Damit begründete die Athener Polis die direkte Volksherrschaft. Mit der Zeit änderte sich die Definition des Demokratiebegriffs, und die moderne Interpretation entwickelte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeitgleich mit der Einführung von demokratischen Herrschaftsformen in Nationalstaaten1303. Die demokratische Herrschaftsausübung als Regierungsform ist in unterschiedlichen Staatsformen realisierbar. Eine Republik ist nicht zwingend notwendig um eine demokratische Regierungsform zu etablieren. Kanada z. B. ist formell eine Monarchie, während faktisch ein demokratisch gewähltes Parlament die Herrschaft ausübt. Auch in Großbritannien ist der Souverän nominell der erblich eingesetzte Monarch bzw. die Monarchin, während die Souveränität von der gewählten Legislative und den Vertretern des Volkes ausgeübt wird1304. Folglich können Königreiche demokratisch sein, während Republiken nicht unbedingt Demokratien sein müssen1305. Einige Verfassungen führen aufgrund der begründeten Staatsstruktur dazu, dass in der Praxis oft konsensuale Entscheidungsfindungsmechanismen etabliert 1298
Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundations of Comparative Politics, 2008,
22. 1299
Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundations of Comparative Politics, 2008,
22. 1300
Robert A. Dahl, On Democracy, 1998, 11. Brigitte Weifen, Entstehungsbedingungen von Demokratien, 2009, 10; Giovanni Sartori, Demokratietheorie, 1957, 274 ff. 1302 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Auflage 2010, 54; Brigitte Weifen, Entstehungsbedingungen von Demokratien, 2009, 20; Robert A. Dahl, On Democracy, 1998, 12. 1303 Brigitte Weifen, Entstehungsbedingungen von Demokratien, 2009, 20; Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21, Auflage 2010, 54 f. 1304 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 177, Rn. 11. 1305 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 177, Rn. 12. 1301
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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werden müssen, während andere Verfassungen Entscheidungsfindungen durch Mehrheitsentschlüsse als Regelfall ermöglichen. Der Wille des Volkes wird durch Wahlen geäußert, die entweder durch die einfache Mehrheit entschieden werden oder bei denen proportional repräsentative Ergebnisermittlungsmethoden angewandt werden. Diese Wahlen müssen allgemein, frei, gleich und geheim sein, und die Staatsbürger haben ein passives und aktives Wahlrecht. In der Regel sind repräsentative und direkte Demokratiekonzepte, die bereits aufgrund der Einordnung konkretere Ansatzpunkte bieten, einfacher nachzuvollziehen als das generelle und abstrakte Demokratieprinzip1306. Konsens besteht darüber, dass die Demokratie eine Herrschaftsform ist, die folgende Kriterien beinhaltet: erstens das Vorliegen eines demos, einer Gruppe, welche politische Entscheidungen fällt und hierfür ein kollektives Prozedere festsetzt1307. Nichtmitglieder dieser Gruppe können an diesem Prozess nicht partizipieren. In modernen Demokratien stellt die Nation diesen demos dar. Die Staatsbürgerschaft impliziert die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Zweitens, muss ein Territorium vorliegen in dem die politischen Entscheidungen rechtliche Geltung entfalten können und in dem die Gruppe ansässig ist1308. In modernen Demokratien ist dieses Territorium das Gebiet des Nationalstaates. Drittens muss ein Entscheidungsfindungsprozedere etabliert sein, an dem das Volk entweder direkt durch Volksabstimmungen oder indirekt durch die Wahl eines Parlaments, welches wiederum die Regierung bestimmt, beteiligt ist1309. Dieser Wahlprozess muss von dem Volk, dem demos, als legitim betrachtet werden, was dadurch geäußert wird, dass das Ergebnis als verbindlich anerkannt wird1310. bb) Akzeptanz der politischen Herrschaft Politische Legitimität beinhaltet dementsprechend den Willen der Bevölkerung Entscheidungen des Staates, der Regierung und der anderen Staatsgewalten zu akzeptieren, auch wenn diese konträr zu den persönlichen Meinungen oder Interessen stehen. Dies impliziert eine gesunde politische Kultur1311. Für demokratische Staatsformen ist dies besonders relevant, da es bei Wahlen zwangsläufig Gewinner und Verlierer gibt. Das etablierte Prozedere muss in diesem Zusam1306
Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundations of Comparative Politics, 2008,
24 f. 1307 Anthony H. Birch, Concept & Theories of Modern Democracy, 2001, 73 ff.; Brigitte Weifen, Entstehungsbedingungen von Demokratien, 2009, 20. 1308 Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundations of Comparative Politics, 2008, 8. 1309 Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundations of Comparative Politics, 2008, 23 f. 1310 G. Bingham Powel Jr., Elections as Instruments of Democracy, 2000, 10. 1311 Wolfgang Merkel, System-Transformation – Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2010, 199; Brigitte Weifen, Entstehungsbedingungen von Demokratien, 2009, 85.
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F. Islamisches Staatsrecht
menhang zumindest eine minimale Effektivität aufweisen, damit es genutzt werden kann, um die amtierende Regierung gegebenenfalls abzuwählen1312. Scheinwahlen, die abgehalten werden um vorhandene Regime zu erhalten, ohne die Möglichkeit eine politische Veränderung herbeizuführen, sind folglich nicht demokratisch1313. Die Zusammengehörigkeit des demos sollte auf Kontinuität basieren und von einer Entscheidungsrunde in die nächste übergehen, ohne dass sich dabei die Minderheit oder die Wahlverlierer politisch abspalten1314. Demokratische Regierungsformen bieten damit die Möglichkeit einen politschen Wandel und einen Regierungswechsel ohne Blutvergießen zu vollziehen. Viele demokratisch geprägte Verfassungen erklären ausdrücklich oder implizieren, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und dass das Volk der Souverän ist. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Art. 20 Abs. 1 GG, in dem es heißt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Damit wird hervorgehoben, dass die Volkssouveränität ein integraler Bestandteil von demokratischen Staats-, und Regierungsformen ist1315. Volkssouveränität äußert sich in vielen demokratischen Staaten dadurch, dass repräsentative Herrschaftsformen, in denen eigentlich die gewählten Repräsentanten regieren, begründet werden1316. Befürworter von direkter Demokratie kritisieren oft die demokratische Legitimation von repräsentativen Herrschaftsformen. Um die Beachtung der Volkssouveränität bei repräsentativen Herrschaftsformen zu gewährleisten können entweder regelmäßige Kontrollen der Repräsentanten eingeführt werden, oder aber es kann, ohne zwischenzeitlich festgesetzte Kontrollen, nur die Möglichkeit begründet werden, dass die amtierenden Repräsentanten in der nächsten Wahl abgewählt werden können. Die politische Tradition jedes einzelnen Staates determiniert, wie viel Einfluss das Volk und die Opposition bei der mittelbaren Ausübung der Herrschaft hat. Alle Herrschaftsformen sind von der Akzeptanz durch das Volk als legitim abhängig1317. Ohne diese Akzeptanz und Legitimität etbablieren sich langfristig Diktaturen. Bei demokratischen Staaten ist die politische Akzeptanz der Herrschaft von besonderer Bedeutung, da die Wahlen die Bevölkerung in periodisch wiederkehrenden Zeitabschnitten in Gewinner und Verlierer aufteilen. Eine erfolgreiche demokratische Kultur impliziert, dass die Verlierer der Wahlen die Entscheidung des Volkes anerkennen und einen friedlichen Transfer der politi1312
Robert A. Dahl, On Democracy, 1998, 37. Wolfgang Merkel, System-Transformation – Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2010, 37. 1314 Anthony H. Birch, Concept & Theories of Modern Democracy, 2001, 22 ff. 1315 Philip Ebentraut, Volkssouveränität – Ein obsoletes Konzept?, 2009, 17 ff. 1316 Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundations of Comparative Politics, 2008, 22. 1317 Bernard Schreyer/Manfred Schwarzmeier, Grundkurs Politikwissenschaft: Studium der politischen Systeme, 2005, 33. 1313
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
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schen Herrschaft akzeptieren. Den Verlierern der Wahlen muss die Sicherheit gewährt werden, dass es zu keinen Repressalien und Übergriffen kommt und dass sie im Rahmen der Gesetze weiterhin Opposition ausüben können, ohne ihre fundamentalen Rechte zu gefährden. Dabei müssen sie nicht unbedingt loyal gegenüber jeder politischen Entscheidung der Regierung sein. Ihre Loyalität muss aber gegenüber dem Staat und dem demokratischen Prozess an sich vorliegen. Diese Form der politischen Akzeptanz und Legitimität verlangt von allen Seiten ein gemeinsames grundsätzliches Bekenntnis zu den Grundwerten des Staates. Politische Widersacher können in einzelnen Angelegenheiten divergierende Meinungen vertreten, aber sie müssen sich gegenseitig tolerieren und anerkennen, dass beide Seiten wichtige und legitime Rollen im demokratischen Entscheidungsfindungsprozess spielen. cc) Liberale Demokratie Heute wird der einfache Begriff Demokratie mit dem politischen Verständnis einer liberalen demokratischen Staats-, und Regierungsform gleichgesetzt. Im modernen westlichen Staatsrecht ist der Demokratiebegriff mittlerweile faktisch ein Synonym für dieses Staatsverständnis1318. Die zuvor aufgezeigten Minimalcharakteristika einer demokratischen Regierungsform reichen nicht aus, um als liberal zu gelten1319. Als Essenz einer liberalen demokratischen Herrschaftsform werden heutzutage verfassungsrechtlich garantierte Individual- und Kollektivrechte, in die nur unter erschwerten Voraussetzungen eingegriffen werden kann, sowie abstrakte verfassungsrechtlich eingeführte Beschränkungen für die Ausübung der Staatsgewalt aufgefasst1320. Die fundamentalen Rechte sind von enormer Bedeutung, da sie insbesondere Minderheitenrechte garantieren. Die liberale Demokratie wird auch als Herrschaft der Mehrheit unter Beachtung von Minderheitrechten beschrieben1321. Dieser institutionalisierte Schutz von Minderheitenrechten beschränkt die politischen Entscheidungsmöglichkeiten der Mehrheit1322. In der Praxis beinhaltet der Begriff 1318 Wolfgang Ismayr, Das politische System Westeuropas im Vergleich, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Das politische System Westeuropas, 2009, 9–65, 9 ff. 1319 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 177, Rn. 13 f., 374 ff. 1320 Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundations of Comparative Politics, 2008, 23 f., 41 ff.; Dirk Berg-Schlosser (Hrsg.), Democratization – The state of the art, 2007, 39. 1321 Giovanni Sartori, Demokratietheorie, 1957, 94 ff.;Anthony H. Birch, Concept & Theories of Modern Democracy, 2001, 148 ff. 1322 Anthony H. Birch, Concept & Theories of Modern Democracy, 2001, 148 ff. Dies ist das Hauptproblem des Zypern-Konfliktes. Die türkische Minderheit hatte eine starke politische Position und Einflussmöglichkeit im Rahmen der vor 1967 geltenden Verfassung in Zypern. Der Versuch der griechischen Mehrheit die Insel mit Griechenland zu vereinen endete schliesslich mit der türkischen Besetzung des nördlichen Teils
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F. Islamisches Staatsrecht
liberale Demokratie eine Ansammlung von Kriterien, welche in manchen Fällen beziehungslos zueinander sind. Die Erfüllung dieser Kriterien wird gerade im Rahmen von Demokratisierungsprozessen geltend gemacht. Viele liberale Demokratien enthalten aber für Notstandssituationen Notstandsregelungen, mit denen einzelne Institutionen zeitweise außer Kraft gesetzt werden können. Obwohl die wirtschaftliche Entwicklung eines Staates und das Vorhandensein einer starken Mittelschicht nicht unmittelbar mit der politischen Herrschaft zusammenhängen, betrachten Politikwissenschaftler diese Punkte als zusätzliche Faktoren, die das Entstehen und Gedeihen einer liberalen Demokratie begünstigen. Gerade das Vorhandensein einer starken Wirtschaft, einer großen Mittelschicht und einer starken Zivilgesellschaft werden als Fundament für eine gesunde demokratische Herrschaftsform betrachtet1323. Liberale Demokratien erlauben politischen Pluralismus, welcher sich in dem Vorhandensein von verschiedenen politischen Parteien manifestiert1324. Um die Leitlinien der Politik zu bestimmen, herrscht unter diesen Parteien eine wettbewerbsähnliche Atmosphäre, wobei diese Parteien im Rahmen der Verfassung agieren. Eine liberal-demokratische Verfassung definiert die Grundprinzipien eines Staates. In der US-amerikanischen Verfassungstheorie wird die Verfassung in der Regel als Instrument der Beschränkung der staatlichen Autorität betrachtet1325. Daher sind US-amerikanische Ideen einer liberalen Demokratie von diesem Grundsatz beeinflusst. Sie heben die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte und ein System von checks and balances zwischen den Staatsgewalten hervor1326. Europäische Ideen der liberalen Demokratie sind von der Idee des Rechtsstaates beeinflusst, welche ebenfalls eine an Recht und Gesetz gebundene sowie eine transparente Herrschaftsform impliziert1327. Liberale Demokratien garantieren allen Staatsbürgern das Stimmrecht, ohne dabei auf Rasse, Geschlecht, religiöse Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung oder Eigentumslage abzustellen. Die einzige Einschränkung dieses allgemeinen Wahlrechts, die vorgenommen wird, ist auf das Alter zurückzuführen. Obwohl in einigen Staaten eine Wahlpflicht besteht, müssen die Staatsbürger aber in der Regel nicht unbedingt ihr von Zypern 1974. Der aktuelle Annan-Plan der UN garantierte der türkischen Minderheit innerhalb der neuen Verfassung wieder eine starke politische Position und Einflussmöglichkeit. Daher lehnten die griechischen Zyprioten in einem Volksentscheid den Annan-Plan der UN ab. Der Zypern-Konflikt ist deshalb bis heute nicht gelöst. 1323 Brigitte Weifen, Entstehungsbedingungen von Demokratien, 2009, 73 ff., 101 ff. 1324 Wolfgang Ismayr, Das politische System Westeuropas im Vergleich, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Das politische System Westeuropas, 2009, 9–65, 44 ff. 1325 Emil Hübner, Das Politische System der USA, 2007, 13; Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 29. 1326 Winand Gellner/Martin Kleiber, Das Regierungssystem der USA, 2007, 31; Klaus Stüwe/Stefan Rinke, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, 2008, 552. 1327 Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 1999, 47.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
279
Stimmrecht ausüben; ihnen ist es erlaubt sich zu enthalten und ihre Stimmabgabe zu verweigern. Die essentiellen Fundamente einer liberalen Demokratie sind die Gewährleistung von Menschenrechten, welche sich aus Abwehr-, Gleichheits- und Freiheitsrechten zusammensetzen1328. Diese Rechte manifestieren sich in einem Legitimationsstrang zu den Organen des Gemeinwesens, der alle politischen Entscheidungsprozesse an einen Willensbildungsprozess der Bürger rückbindet1329. Allerdings beschränken auch liberale Demokratien politische Freiheitsrechte, aber nicht in dem Maße wie andere Herrschaftsformen. Die Meinungsfreiheit, die Vereinigungs- und die Versammlungsfreiheit gelten als klassische demokratische Freiheitsrechte1330. In vielen liberalen Demokratien gibt es Möglichkeiten in die Schutzbereiche dieser Rechte gerechtfertigt einzugreifen. Z. B. werden antidemokratische Äußerungen und die Staatsstruktur gefährdende politische Vereinigungen nicht von diesen Freiheitsrechten geschützt. Die liberale Demokratie kann sich demnach gegen solche Tendenzen zur Wehr setzen. Auch die Presseund die Informationsfreiheit gelten mittlerweile als Charakteristika einer liberalen Demokratie, können jedoch ebenfalls beschränkt werden1331. Wahlen sind ein integraler Bestandteil von liberalen Demokratien1332. Nach dem Bundesverfassungsgericht stellen wiederkehrende Wahlen die Ausübung der Volksherrschaft – wie im GG gefordert – dar und ermöglichen die praktische Verwirklichung des Demokratiegebots1333. Danach muss die Staatsgewalt demokratisch legitimiert werden, was eben durch den Prozess der wiederkehrenden Wahl geschieht1334. Wahlen an sich sind aber kein Garant für das Vorliegen einer liberalen Demokratie1335. Sie müssen ohne politischen Druck, frei, gleich und geheim abgehalten werden. Die Presse-, Informations-, Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit spielen in diesem Rahmen eine essentielle Rolle, denn gerade sie ermöglichen die Entfaltung des freien politischen Entscheidungswillens1336.
1328 Kenneth Newton/Jan W. van Deth, Foundations of Comparative Politics, 2008, 23 f.; Anthony H. Birch, Concept & Theories of Modern Democracy, 2001, 145 ff.; Giovanni Sartori, Demokratietheorie, 1957, 291 ff., 326 ff., 355 ff. 1329 Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 527 f. 1330 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21, Auflage, 2010, 309 ff., 326 ff., 333 ff. 1331 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21, Auflage, 2010, 313 ff. 1332 G. Bingham Powel Jr., Elections as Instruments of Democracy, 2000, 3. 1333 BVerGE 2, 1, 12 f. 1334 BVerGE 44, 125, 139. 1335 Wolfgang Merkel, System-Transformation – Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2010, 37. 1336 Giovanni Sartori, Demokratietheorie, 1957, 294 ff., 300 ff.
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F. Islamisches Staatsrecht
Festzuhalten bleibt jedoch, dass keine verbindliche Definition und auch keine verbindliche praktische Umsetzung des Demokratieprinzips existiert. Die Interpretation und die Anwendungen variieren von Nationalstaat zu Nationalstaat. In der US-amerikanischen Rechtsgeschichte, insbesondere bei Berücksichtigung der Schriften der sogenannten Gründungsväter, ergibt sich beispielweise, dass das Wort Demokratie alleine für die direkte Demokratie verwendet wurde1337. Eine repräsentative Demokratie, in der Vertreter des Volkes im Rahmen einer Verfassung herrschen, wurde als Republik beschrieben1338. Diese Terminologie wird heutzutage in politischen Debatten in den USA von Konservativen wie Liberalen weiterhin verwendet. b) Das Demokratieprinzip und das shura-Prinzip im Vergleich Herrschafts- und Regierungsformen werden heutzutage als gerecht empfunden, wenn das Volk, als regierte Entität, die Herrschaft autonom ausübt. In der Regel begünden daher moderne Verfassungen die Volkssouveränität. Diese äußert sich in der westlichen Staatenwelt durch die Etablierung einer demokratischen Regierungsform. Im Kern ist hierunter ein zu den Organen des Gemeinwesens hinführender Legitimationsstrang zu verstehen, der alle politischen Entscheidungsprozesse an einen Willensbildungsprozess der Bürger rückbindet1339. Das shuraPrinzip verpflichtet im Gegensatz hierzu nur die Staatsmacht, das Volk in dessen Angelegenheiten zu konsultieren und bei politischen Entscheidungen der Regierung sowie bei gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten, die im Zusammenhang mit der Staatsführung stehen, Beratungen durchzuführen. Hieraus folgt nicht die Souveränität des Volkes. Das Volk ist aber berechtigt in allen Sachverhalten, die es betreffen, mitzureden sowie in diesem Kontext seine Ansichten kundzutun und dadurch Einfluss auf die Entscheidungsträger zunehmen. Die islamische Konsultationspflicht umfasst nicht Sachverhalte, die bereits konkret und verbindlich in der sharia geregelt wurden. Das shura-Prinzip unterscheidet sich daher vom Demokratieprinzip. Es ist zwar auch im Kern als ein zu den Organen des Gemeinwesens hinführender Legitimationsstrang zu verstehen, der aber konträr zum Demokratieprinzip nicht alle politischen Entscheidungsprozesse an einen Willensbildungsprozess der Bürger, sondern an einen Konsultationsprozess mit Betroffenen, Experten oder von Entscheidungsträgern untereinander rückbindet. Bei demokratischen Regierungsformen erfolgt die Herrschaftsausübung direkt oder indirekt durch Vertreter. Der zuvor erwähnte und ausschlaggebende Willensbildungsprozess der Bürger muss somit nicht in einer unmittelbaren Mitwirkung 1337 1338 1339
Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 1999, 47. Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 1999, 44 f. Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 527 f.
VI. Das Shura-Prinzip (Konsultation)
281
des Volkes bestehen. Die Vermittlung des Willens der Bürger erfolgt aber in der Regel durch eine Versammlung freier, von ihnen gewählter Abgeordneter, die für sie eine Repräsentationsfunktion wahrnehmen und in dieser Form in einem etablierten Parlament an der politischen Leitung des Gemeinwesens Anteil haben1340. Im islamischen Staatsorganisationsrecht leiten heute fast alle Gelehrten aus dem shura-Prinzip ein Staatsorgan ab, das repräsentativ Konsultationen mit den Entscheidungsträgern abhält. Während im westlichen Staatsrecht die begründeten Parlamente legislative Funktionen wahrnehmen und weitreichende Kompetenzen besitzen, ist die Rolle eines Staatsorgans, das aus dem shura-Prinzip heraus begründet wird, nicht verbindlich festgelegt. Ein islamischer pouvoir constituant muss diesbezüglich entscheiden und die Rechte und Pflichten bestimmen. Manche Gelehrte betrachten das shura-Staatsorgan als einen Teil der Exekutive, welches zwar dem Staats- und Regierungsoberhaupt mit seinen Ratschlägen zur Seite steht und es sogar gegebenenfalls absetzen kann, damit aber nicht gleichzeitig primär das Volk und dessen Interessen repräsentiert. Hingegen leiten andere aus dem shura-Prinzip eine Nationalversammlung ab, die mit legislativen Kompetenzen ausgestattet ist und vom Volk gewählt wird, folglich als Staatsorgan den westlichen Parlamenten in Struktur und Funktion entspricht. Auch eine Art sui generis-Organ, das die Exekutive mit einem etablierten legislativen Organ verbindet und somit ein von einem westlichen Parlament essentiell abweichendes Staatsorgan darstellt, wird aus dem shura-Prinzip hergeleitet. Zudem wird vertreten, dass das shura-Prinzip kein eigenständiges Staatsorgan begründet. Im westlichen Staatsrecht wird der Willensbildungsprozess der Bürger durch ein politisches Prozedere manifestiert, mit welchem z. B. die Regierung und die Vertreter des Volkes sowie die Leitlinien der Politik bestimmt werden. Es muss effektiv genug sein, um die amtierende Regierung – unblutig – abzusetzen. Diese Prozedere äußert sich darin, dass periodisch wiederkehrende Wahlen durchgeführt werden. Innerhalb dieser spielt die Mehrheitsentscheidung eine essentielle Rolle. Diese Wahlen sind allgemein, frei, geheim und gleich. Alle Staatsbürger haben das aktive und das passive Wahlrecht. Bei der Gewährung dieser Rechte kommt es nur auf die Staatsbürgerschaft an, nicht auf das Geschlecht oder die Religion. Die Legitimierung der Regierung oder der Mitglieder eines wie auch immer strukturierten shura-Staatsorgans soll nach Ansicht der Mehrheit der muslimischen Gelehrten ebenfalls durch Wahlen geschehen, an denen das ganze Staatsvolk teilnimmt und in deren Kontext das Mehrheitsprinzip gelten soll. Es werden aber auch immer wieder – im Gegensatz zum westlichen Staatsrecht, das nicht auf das Geschlecht oder die Religion abstellt – Meinungen geäußert, in denen Frauen und Nicht-Muslimen dieses Wahlrecht verweigert wird. Weder das Demokratieprinzip noch das shura-Prinzip sind an eine besondere Staatsform gebunden. Eine republikanische Staatsform ist keine Voraussetzung 1340
Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 527 f.
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F. Islamisches Staatsrecht
für die Etablierung dieser Prinzipien. Beide Prinzipien können auch in einer Monarchie umgesetzt werden. Die Konkretisierung kann in parlamentarischen, in präsidial- und semi-präsidial strukturierten Staaten verschiedenartig ausfallen. Die Gewährleistung fundamentaler Rechte für die Staatsbürger muss aber sowohl nach Meinung westlicher Staatsrechtler als auch nach Meinung von muslimischen Gelehrten erfolgen, um eine umfassende politische Partizipation des Volkes zu ermöglichen. Erwähnenswert sind in diesem Kontext die Gewährleistung von Versammlungsrechten, der Vereinigungsfreiheit, der Meinungsfreiheit sowie der Pressefreiheit. Diese Rechte sind im islamischen Staatsrecht durch die sharia und im westlichen Staatsrecht durch das geltende Recht eingeschränkt. Der Schutzbereich dieser Grundrechte ist im islamischen Staatsrecht nicht so weit wie in westlichen Verfassungen, zudem bestehen deutlich mehr Eingriffsmöglichkeiten. Während der Willensbildungsprozess der Bürger im westlichen Staatsrecht verbindlich ist, ist im islamischen Staatsrecht nicht geklärt, ob die Resultate der durchgeführten Konsultationen für die Exekutive verbindlich sind und ob in diesem Rahmen die Entscheidung der Mehrheit maßgebend ist. 6. Zusammenfassung Das shura-Prinzip ist – wie das Demokratieprinzip – ein höchst umstrittenes Konzept. Es ist die erfolgreiche und gerechte Praxis und Institutionalisierung dieses Konzepts, die mehr zählt als ideologische Finessen. Wie aufgezeigt kann das shura-Prinzip verschiedenartig interpretiert werden. Die unterschiedlichen Interpretationen sind islamisch legitimierbar, so dass nicht unbedingt die eine der anderen vorzuziehen ist. Sofern allerdings das Ziel gesetzt wird Willkürherrschaft und Despotie zu verhindern, scheint eine demokratiefreundliche Interpretation dies eher zu gewährleisten, da hierdurch Machtmissbrauch unterbunden werden kann, die Regierung transparent agieren muss und letztlich durch das Volk zur Rechenschaft gezogen werden kann. Genau dies erklärt die vermehrt in diesem Sinne geäußerten Ansichten der muslimischen Gelehrten. Allerdings sollte die Debatte über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem shura-Prinzip und der Demokratie nicht als Ersatz für eine abschließende Bewertung der Frage dienen, ob die Demokratie und der Islam per se miteinander vereinbar sind. Auch wenn die Meinung vertreten wird, dass das shura-Prinzip nicht demokratiefreundlich auszulegen sei, bedeutet dies nicht unbedingt, dass eine demokratische Herrschaftsform in einem islamischen Staat ausgeschlossen ist. Es gibt keine verbindliche Vorgabe für die Strukturierung eines islamischen Staates in der sharia. Soweit über die Natur einer guten Regierungsführung und der bestmöglichen Politik reflektiert werden soll, findet sich im Islam und in der sharia mehr als das shuraPrinzip. Allerdings ermöglicht es, bei entsprechender Interpretation, einem islamischen pouvoir constituant, je nach Bedürfnis und Notwendigkeit verschieden-
VII. Das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten im islamischen Staat
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artige „moderne“ Staatsorgane zu begründen, die verschiedenen Staatsgewalten zugeordnet sein können. Außerdem können hierdurch die Rolle des Volkes bei der Bestimmung der Mitglieder dieser Staatsorgane festgesetzt und dabei umfassende politische Rechte gewährleistet werden. Während konservative Interpretationen und Anwendungen des shura-Prinzips teilweise in erheblichem Kontrast zu demokratischen Regierungsformen stehen, könnten liberalere demokratiefreundliche Interpretationen dazu führen, dass sich in islamischen Staaten demokratischen Regierungsformen ähnelnde Herrschaftsstrukturen entwickeln. Bei einer demokratiefreundlichen Interpretation ist offensichtlich, dass Parallelen mit dem westlichen Demokratieverständnis bestehen. Durch den sharia-Vorbehalt ist ebenfalls klar, dass auch Unterschiede zu einer westlich-liberalen Demokratie existieren. Individual- und Freiheitsrechte haben in einem islamischen Staat nicht die weiten Schutzbereiche wie in westlichen Staaten. Außerdem bestehen mehr Eingriffsmöglichkeiten für den Staat in diese Grundrechte. Trotzdem bieten die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des shura-Prinzips einem islamischen pouvoir constituant viele Ansätze, um im Rahmen des verfassunggebenden Prozesses kreativ auf Bedürfnisse und neuzeitliche Entwicklungen einzugehen und demokratische Elemente aufzunehmen.
VII. Das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten im islamischen Staat Die Bestimmung der Staatsgewalten und der Staatsorgane in einem Staat ist von enormer Relevanz, da durch sie die Herrschaft ausgeübt wird. Soweit einer Staatsgewalt oder anderen staatlichen Akteuren zu viel Macht zugesprochen wird, besteht die Gefahr, dass der Staat zu einer Despotie verkommt1341. Dies zeigt, wie wichtig die Bestimmung der Staatsgewalten und der Staatsorgane sowie die Festlegung eines Kontrollmechanismus für diese ist. Im westlichen Staatsrecht erfolgt diese innerstaatliche Kontrolle durch die Gewaltenteilung1342. Dieses Prinzip ist in fast allen westlichen Verfassungen entweder ausdrücklich oder konkludent enthalten. In der Regel werden hierdurch drei Gewalten, die Exekutive, die Legislative und die Judikative etabliert1343. Damit wird der Machtkonzentration in einer Staatsgewalt entgegengewirkt1344. Die Staatsgewal-
1341
Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 398 f. Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 30, Rn. 77; Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21, Auflage, 2010, 108 ff. 1343 Vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 110; Christoph Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 26. Auflage, 2010, 107, Rn. 265. 1344 Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 63 f., Rn. 162 ff. 1342
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F. Islamisches Staatsrecht
ten balancieren sich in der Theorie aus1345. Gleichzeitig begründet das westliche Staatsrecht ein System der gegenseitigen Kontrolle der Staatsgewalten1346. Sie handeln nur in dem von der Verfassung und dem Gesetz vorgegebenen Rahmen1347. Verletzen sie diesen, werden sie von der jeweiligen Gegengewalt darauf hingewiesen und gegebenenfalls korrigiert. Spiegelbildlich zu dieser innerstaatlichen Kontrolle entwickelte sich die Idee der wehrhaften Demokratie, um Gefahren, die dem Staat von außen drohen, entgegen zu wirken1348. Die etablierte Staatsstruktur und die festgesetzten Staatsprinzipien sollen durch diese Schutzmechanismen erhalten werden. Im islamischen Staatsrecht ist nicht verbindlich festgelegt, wie viele und welche Gewalten ein Staat aufweisen muss1349. Mit Blick auf den früh-islamischen Staat gehen fast alle muslimischen Gelehrten davon aus, das zumindest eine exekutive und eine judikative Gewalt begründet werden muss1350. Die judikative Gewalt umfasst dabei nicht nur die Unabhängigkeit der Gerichte sondern auch die Unabhängigkeit der islamischen Rechtsschulen und Gelehrten1351. Ob zusätzlich eine legislative Gewalt etabliert werden kann, ist umstritten1352. In diesem Kontext wird sogar die Meinung vertreten, dass es mehr Gewalten als die klassischen drei in einem islamischen Staat geben könne1353. Weiterhin ist ungeklärt, wie genau eine Kontrolle zwischen diesen Gewalten stattfinden soll1354. Das historische Beispiel des früh-islamischen Staates lässt diesbezüglich mehrere Deutungen zu. 1345 Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 110 f. 1346 Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 63 f., Rn. 162 ff. 1347 Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 110 f. 1348 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2005, 399; vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008, 586 ff., 592 ff. 1349 Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 492. 1350 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 38. 1351 Asifa Quraishi, The Separation of Powers in the Tradition Muslim Governments, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 63–73, 64 ff. 1352 Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 118; Asifa Quraishi, The Separation of Powers in the Tradition Muslim Governments, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 63–73, 69 f. 1353 Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 121 ff.; Nathan J. Brown, Islamic Constitutionalism in Theory and Practice, in: Eugene Cotran/ Adel Omar Sherif (Hrsg.), Democracy, the Rule of Law and Islam, 491–507, 498. 1354 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 389 f.
VII. Das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten im islamischen Staat
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1. Staatsgewalten im früh-islamischen Staat Es ist schwierig im Zusammenhang mit dem früh-islamischen Staat von Staatsgewalten im modernen Sinne zu sprechen. Dies hängt damit zusammen, dass durch die VM keine abstrakt fassbaren Staatsorgane mit eigenen Kompetenzen begründet wurden. Trotzdem lässt sich unschwer feststellen, dass die funktionellen Aufgaben aller drei klassischen Staatsgewalten auch im früh-islamischen Staat wahrgenommen wurden. Die Ausübung der politischen Autorität oblag gemäß Art. 1, 13, 23, 36 und 42 VM dem Propheten Muhammad (s. a. w. s.) 1355. Die Art. 23, 42 VM gewährten ihm zusätzlich noch eine judikative Stellung, da er als oberste Streitschlichtungsinstanz anerkannt wurde1356. Alle streitigen Sachverhalte sollten vor Gott und den Propheten (s. a. w. s.) gebracht und islamisch konform beigelegt werden. Auch die nicht-muslimischen Stämme Medinas akzeptierten die politische Autorität und die judikative Stellung des Propheten Muhammad (s. a. w. s.)1357. Hierdurch hatte der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) starke exekutive und judikative Machtbefugnisse. In den Art. 2 bis 10 VM wurde zwar eine Art kommunale Selbstverwaltung für die Stämme garantiert, aber durch die Hervorhebung der Rolle Gottes und seines Propheten Muhammad (s. a. w. s.) in der VM wird klar, dass bei der Organisation der Regierungsgewalt und der Gerichtsbarkeit der Prophet Muhammad (s. a. w. s.) eine überragende Rolle spielte1358. Er entschied als letzte Instanz alle wichtigen politischen Fragen dabei beachtete er das shura-Prinzip1359. Er ernannte lokale Anführer sowie Richter, übte zudem selber das Richteramt als oberste Rechtsinstanz aus und organisierte die Verwaltung des Staates1360. Außerdem erhob er Abgaben, die ausschließlich öffentlichen Zwecken dienten1361. Der Prophet (s. a. w. s.) war der Verkünder des göttlichen Rechts und für die praktische Umsetzung verantwortlich. Einen legislativen Aufgabenbereich hatte er dementsprechend nicht, da in der Theorie Gott selbst legislativ tätig war, indem er die sharia offenbarte. Dies betraf allerdings primär nur religiöse Sachverhalte. In vielen übrigen Punkten stellte die sharia nur Grundprinzipien auf, die einen Rahmen für die bereits geltenden Stammesgesetze vorgaben und diese ge-
1355
Vgl. Muhammed Hamidullah, Ilk Islam Devleti, 1992, 40. Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 128 f. 1357 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 40. 1358 Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 135, 245. 1359 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 42. 1360 Vgl. W. Montgomery Watt, Islam’da Siyasal Düs ¸uncenin olus¸umu, 2001,42; Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 85; Günter Schaller, Gemeindeordnung von Medina, 1985, 28 f., 226; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 24 f. 1361 Zakaria Bashir, Sunshine at Madinah, 1998, 87; vgl. Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 69, 74. 1356
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gebenenfalls modifizierten1362. Ungeregelte Sachverhalte wurden entweder durch die Rechtsprechung oder durch die Anwendung des shura-Prinzips gelöst1363. Die gesprochenen Urteile des Propheten (s. a. w. s.) bildeten daher ein Art verbindliches case law, wie im anglo-amerikanischem Rechtssystem, wodurch praktisch eine Rechtsfortbildung stattfand1364. Entscheidungen, die nach Ausübung des shura-Prinzips getroffen wurden, entfalteten ebenfalls eine gewisse Rechtskraft, so dass von einer quasi-legislativen Funktion gesprochen werden kann. Damit kann festgehalten werden, dass zumindest zur Zeit des Propheten (s. a. w. s.) alle exekutive, legislative und judikative Macht in seinen Händen lag und somit eine Machtkonzentration dieser Gewalten in einem Staatsorgan stattfand1365. Diese Machtkonzentration stand aber unter direkter göttlicher Kontrolle, so dass es nicht verwundert, dass im quran etliche Verse enthalten sind, in denen der Prophet (s. a. w. s.) nach eventuellem Fehlverhalten durch Gott ermahnt und zurechtgewiesen wird1366. Durch die vermehrte Ausübung des shura-Prinzips achtete der Prophet (s. a. w. s.) darauf, die Rechte der Gemeindemitglieder nicht zu verletzen. Er unterwarf sich sogar in manchen Fällen, entgegen seiner persönlichen Meinung, der Mehrheitsentscheidung1367. Auch die vier rechtgeleiteten Kalifen konzentrierten viele Machtbefugnisse in ihrem Amt als Kalifen1368. Im Zusammenhang mit der Ausübung der Exekutive delegierten die vier rechtgeleiteten Kalifen immer mehr Aufgaben an Vertreter, die in ihrem Namen die Herrschaft in den stetig zunehmenden Provinzen ausübten. Spätestens zur Zeit Umars erfolgte eine gewisse Verselbstständigung der judikativen Gewalt1369. Mit der territorialen Expansion und der damit zusammenhängenden Bevölkerungszunahme wuchs auch die Notwendigkeit Gerichte in den neu angegliederten Territorien zu gründen. Umar ernannte neben sich weitere Richter in Medina, in Basra und in Kufa1370. Hierbei stellte er verpflichtende Regeln für das Richteramt auf1371. Überliefert ist sein Brief an den von ihm ernannten Richter in Kufa, Abu Musa as-Ash’ari, mit folgendem Inhalt:
1362 Vgl. Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 2005, 37 f.; Abu Ameenah Bilal Philips, The Evolution of Fiqh, 2006, 27, 87 f. 1363 Abdel Shafi M. Abdel Latif, Rise of Islam, 2003, 42. 1364 Vgl. Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 84 ff. 1365 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 43. 1366 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 32; Quran 80:1–11; 9:43; 17:73–75; 18:23 f.; 33:37. 1367 Vgl. Yusuf Al-Qaradawi, State in Islam, 2004, 214. 1368 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 43. 1369 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 44; Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ömer, 2003, 150 f. 1370 Ahmet Emin Temiz, Hazreti Ömer, 2003, 150 f.; Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 86 f. 1371 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 80.
VII. Das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten im islamischen Staat
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„Now the office of judge is a definite religious duty and a generally followed practice. Understand the depositions that are made before you, for it is useless to consider a plea that is not valid. Consider all the people equal before you in your court and in your attention, so that the noble will not expect you to be partial and the humble will not despair of justice from you. The claimant must produce evidence; from the defendant, an oath may be exacted. Compromise is permissible among Muslims, but not any agreement through which something forbidden would be permitted, or something permitted forbidden. If you gave judgment yesterday, and today upon reconsideration come to the correct opinion, you should not feel prevented by your first judgment from retracting; for justice is primeval, and it is better to react than to persist in worthlessness. Use your brain about matters that perplex you and to which neither Quran nor Sunna seem to apply. Study similar cases and evaluate the situation through analogy with them. If a person brings a claim, which he may or may not be able to prove, set a time limit for him. If he brings proof within the time limit, you should allow his claim, otherwise you are permitted to give judgment against him. This is the better way to forestall or clear any possible doubt. All Muslims are acceptable as witness against each other, except such as have received a punishment provided for by religious law, such as are proved to have given false testimony, and such as are suspected (of partiality) on (the ground of) client status or relationship, for God be praised, He forgives when sworn testimony is rendered and postpones (punishment) in face of the evidence. Avoid fatigue and weariness and annoyance at the litigants. For establishing justice in the courts of justice, God will grant you a rich reward and give you a good reputation. Farewell“ 1372.
Hans Küng datiert diesen Brief in die späteren Jahrhunderte, während muslimische Gelehrte im Gegensatz hierzu von der Authentizität dieses Schreibens ausgehen1373. Mathias Rohe hebt hervor, dass Rechtskonflikte im früh-islamischen Staat unter Muslimen zunächst in alter Tradition auf dem Wege der Schlichtung und allmählich gerichtsförmig durch angesehene Männer gelöst wurden1374. Auch nach seiner Ansicht orientierten sich diese angesehenen Männer bei ihrer Entscheidungsfindung an den einschlägigen Regeln des qurans oder der sunna des Propheten (s. a. w. s.)1375. Eine sukzessive Ausbildung des Richteramtes sieht er aber erst in umayadischer Zeit. Im Umayadischen Reich waren die Richter (al-qadi) als Einzelrichter innerhalb eines Amtsbezirkes (wilaya) zuständig und zunächst noch vom Provinzgouverneur (al-wali) abhängig. Eine Überschneidung oder sogar eine Teilung der Zuständigkeitsbereiche war jedoch nach Berichten aus der Abbasidenzeit ebenfalls möglich1376. Zu dieser Zeit wurden wohl auch das Amt 1372 Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 173; vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 80 f. 1373 Vgl. Hans Küng, Islam, 2007, 182; Ibn Khaldun, The Muqaddimah, 14.–15. Jahrhundert, 2005, 173; Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 80 f. 1374 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 34. 1375 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 34. 1376 Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 35.
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des Gerichtsschreibers (katib) etabliert und systematisch Hilfspersonal für Verwaltungsangelgenheiten eingestellt1377. Ob Frauen vom Richteramt ausgeschlossen seien oder zumindest richterliche Funktionen ausüben dürften, blieb unter den Rechtsgelehrten umstritten1378. Im Verlauf des 8. Jahrhunderts erfolgte eine weitere Professionalisierung des Richteramtes, die mit einer hohen Besoldung einherging. In der Literatur finden sich sowohl Befangenheitsvorschriften als auch ausdrückliche Hinweise auf das Verbot, Geschenke von Verfahrensbeteiligten anzunehmen1379. Al-Mawardi schrieb diesbezüglich, dass der Richter bei seinen Entscheidungen nicht an Aussagen von Vertretern seiner Rechtsschule gebunden sei, mithin das Prinzip des taqlid für ihn nicht greife, sondern dass er eigenverantwortliche Entscheidungen treffen müsse1380. Im Gegensatz zur Judikative erfolgte keine Verselbstständigung der Legislative unter den vier rechtgeleiteten Kalifen, obwohl die göttliche Offenbarung mit dem Tod des Propheten (s. a. w. s.) ein Ende fand. Die vier rechtgeleiteten Kalifen hatten weiterhin einen starken Einfluss auf die nicht-religiöse Gesetzgebung1381. Sachverhalte wurden mit führenden Juristen teilweise in der Moschee von Medina diskutiert, und sofern notwendig wurden Gesetze von dem Kalifen verkündet1382. Überlieferungen über den genauen Ablauf und die konkrete Vorgehensweise fehlen allerdings. In diesem Kontext bildeten sich die Fundamente der klassischen sekundären Rechtsquellen des islamischen Rechts. Gesetze und Verordnungen wurden durch ein Zusammenspiel der Exekutive mit führenden Juristen und Rechtsgelehrten unter Beachtung des shura-Prinzips erlassen1383. Auch die Judikative behielt ihre Rolle bei der Rechtsfortbildung. Hierbei dürfte viel improvisiert worden sein, da manche ernannten Richter Analphabeten waren. Außerdem gab es noch keine institutionalisierte systematische Ausbildung in Rechtsfragen. Während der Prophet (s. a. w. s.) noch durch Gott selbst kontrolliert wurde, erfolgte eine Kontrolle der Handlungen der vier rechtgeleiteten Kalifen durch die Gerichte und die Gemeinde1384. Ein Gesetzesvorhaben des Kalifen Umar wurde z. B. im Rahmen des Konsultationsprozesses durch eine betroffene Frau mit dem Hinweis, dass diese Reform dem islamischen Recht widerspreche, verhindert und 1377
Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 35. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 35. 1379 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 85; Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 36. 1380 Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 75. 1381 Vgl. Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 23 ff. 1382 Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 2009, 34. 1383 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 47. 1384 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 92 ff. 1378
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zu Fall gebracht1385. In einem weiteren Fall urteilte ein Gericht gegen den Kalifen Ali, der die Gültigkeit dieses Rechtsspruches anerkannte1386. Hierdurch wird deutlich, dass trotz der Machtkonzentration im Kalifenamt auch im früh-islamischen Staat eine gewisse Kontrolle der Staatsgewalten stattfand, da auch der Inhaber dieses Amts dem islamischen Recht unterworfen war und dieses beachten musste1387. Die starke Machtkonzentration wurde somit durch die Bindung an quran und sunna relativiert. Aufgrund der egalitären Grundsätze der VM und der islamischen Religion kritisierten und wiesen die Muslime die vier rechtgeleiteten Kalifen ohne Furcht vor Repressalien und immer, soweit es erforderlich war, zurecht1388. Keiner der vier rechtgeleiteten Kalifen missbrauchte seine Macht dazu, den Staat für seine persönlichen Ziele auszunutzen oder umzugestalten1389. Der früh-islamische Staat wies zwar absolutistische Tendenzen auf, war dabei aber keine absolute Staatsform im engeren Sinne, da er seinen Bürgern für die damaligen Verhältnisse beachtliche politische Freiheiten gewährte und das Staatsoberhaupt von der Judikative kontrolliert wurde. 2. Abstrakte Analyse der Staatsgewalten im islamischen Staat Inspiriert durch das Beispiel des früh-islamischen Staates bildeten sich unter muslimischen Rechtsgelehrten unterschiedliche Meinungen bezüglich der Staatsgewalten, die in einem Staat vorhanden sein und ausgeübt werden sollten. Gerade um das Funktionieren des Staates zu gewährleisten, versuchten die Gelehrten Staatsgewalten festzulegen, die dies ermöglichten. In diesem Kontext haben sich drei Hauptansichten durchgesetzt: erstens die Meinung, dass alle Staatsgewalten unter der Kontrolle des Staatsoberhauptes stehen und von ihm als oberste Instanz ausgeübt werden1390, mithin ein Staatsorgan alle Staatsgewalten in sich bündelt und somit eine starke Machtkonzentration in einem Staatsorgan stattfindet1391. Nach dieser Meinung ist das Staatsoberhaupt dazu ermächtigt Richter zu ernennen und gegebenenfalls zu entlassen1392. Dabei ist das Staatsoberhaupt gleichzeitig die höchste judikative Instanz im Staat1393. 1385
Achmat Bin Sedick-Carr, Shura Mutual Consultation, 2005, 63. Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 77; Haydar Bas¸, Imam Ali, 2010, 787. 1387 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 243. 1388 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 103 ff. 1389 Halis Demir, Devlet gücünün sınırlanması, 2004, 243. 1390 Vgl. Art. 44 GH. 1391 Vgl. Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 389; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43. 1392 Vgl. Al-Mawardi, The Ordinances of Government, 10.–11. Jahrhundert, 72 ff.; Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 147; Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 471. 1393 Vgl. Art. 44 GH. 1386
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Außerdem kann es nach Beachtung des shura-Prinzips auch Gesetze erlassen, die im Einklang mit dem islamischen Recht stehen1394. Die Richter spielen zwar bei der Rechtsfortbildung eine gewisse Rolle, doch die Rechtsetzung liegt hauptsächlich in der Domäne des Staatsoberhauptes1395. Weiterhin ist das Staatsoberhaupt die oberste Exekutivgewalt des Staates1396. Es kann zwar gewisse Aufgaben und Kompetenzen an sogenannte Wesire, die vergleichbar mit heutigen Ministern sind, delegieren, letztlich findet aber eine Bündelung fast aller Kompetenzen der klassischen drei Gewalten in einem Staatsorgan statt1397. Eine Kontrolle des Staatsoberhauptes erfolgt in der Theorie nur durch die religiösen Gelehrten und durch die von dem Staatsoberhaupt selbst ernannten Richter, da das Staatsoberhaupt dem islamischen Recht genauso unterworfen ist, wie alle anderen Bürger des Staates1398. In diesem Zusammenhang ist auch der Einfluss der Rechtsgelehrten und der Rechtsschulen auf die Gesetzgebung zu sehen1399. Diese Ansicht wurde von vielen klassischen Gelehrten vertreten, die mehr oder weniger unterschiedliche Kontrollmechanismen etablieren wollten, um einen möglichen Machtmissbrauch zu beschränken oder zu verhindern1400. Die Vertreter dieser Meinung gehen davon aus, dass das Staatsoberhaupt religiös ist und ethisch-moralisch ideal handeln wird, genau wie die vier rechtgeleiteten Kalifen. Die vier rechtgeleiteten Kalifen gelten nach dem Propheten (s. a. w. s.) als ideale Muslime, die ihre Macht niemals für ihre eigenen Interessen missbraucht haben. Daher wurde eine Machtkonzentration in einem Staatsorgan, wie sie durch sie ausgeübt wurde, von den Muslimen nicht als eine potentielle Gefahr für Machtmissbrauch wahrgenommen. Sofern ein Staatsoberhaupt das gleiche religiöse, moralische, und ethische Niveau erreicht wie die vier rechtgeleiteten Kalifen, spricht nichts gegen eine solche Machtkonzentration in einer Staatsgewalt. Genau dies ist allerdings das Problem dieser Ansicht. Die erste muslimische Gemeinde und deren Mitglieder, die den früh-islamischen Staat gegründet haben, gelten als ideale Muslime und der früh islamische Staat als ideale Verwirklichung der gottgewollten Ordnung. Keine nachfolgende muslimische Gemeinde und auch kein muslimisches Individuum hat je wieder solch einen Status und solch eine Geltung in
1394
Vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 64. Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 38. 1396 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 145. 1397 Hayreddin Karaman, Mukayeseli Islam Hukuku, Bd. 1, 2003, 145 f.; Seyyid Abdullah Cemaleddin, Islam’da Idare ve Siyaset, 1995, 126 f. 1398 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 38 f.; Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 77. 1399 Asifa Quraishi, The Separation of Powers in the Tradition Muslim Governments, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 63–73, 64 ff. 1400 Vgl. David F. Forte, Studies in Islamic Law, 1999, 28 f. 1395
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der islamischen Welt erreicht. Eine Machtkonzentration in einem Staatsorgan birgt daher heutzutage Gefahren für potentiellen Machtmissbrauch, die im frühislamischen Staat einfach nicht vorlagen und in dieser Form nicht bekannt waren. Es existiert heute kein Muslim, der sich auf demselben geistigen und religiösen Niveau wie die vier rechtgeleiteten Kalifen befände und deshalb die ideale Besetzung für das Amt des Staatsoberhauptes, welches alle klassischen Staatsgewalten in einer Institution vereint, wäre. Zweitens bildete sich die Meinung, dass zumindest die Judikative als unabhängige Gewalt zu begründen ist1401. Nach dieser Ansicht ist von zwei dominierenden Staatsgewalten in einem Staat auszugehen, der Exekutive und der Judikative1402. Die legislative Gewalt wird auch in diesem Staatsverständnis weiterhin primär von der Exekutive ausgeübt, trotz der besonderen Rolle der Richter bei der Rechtsfortbildung1403. In der Kanun-i Esasi, der Verfassung des Osmanischen Reiches von 1876, wird z. B. in Art. 81 ff. die Unabhängigkeit der Richter gewährleistet1404. Die Ernennung der Richter erfolgt gemäß Art. 87 streng nach dem zu erlassenden Richtergesetz1405. In diesem Kontext soll das Richteramt gemäß Art. 86 frei von jeglicher Intervention ausgeübt werden1406. Durch die Stärkung und die strikte Trennung der Judikative von der Exekutive soll eine Machtbalance geschaffen werden, durch die mögliche Willkür und Machtmissbrauch in dem Staat verhindert werden1407. Letztlich entwickelte sich die Meinung, dass auch die Gesetzgebung von der Domäne des Staatsoberhauptes zu trennen sei1408, mithin drei Staatsgewalten in einem Staat zu etablieren sind, die Exekutive, die Legislative sowie die Judikative1409. Dabei existieren innerhalb dieser Meinung unterschiedliche Ansätze, wie die Legislative zu strukturieren ist. Zunächst einmal wird vertreten, dass die 1401 Vgl. Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 145; Muhammad Muslehuddin, Judicial System of Islam – its Origin and Development, 1988, 31, 35 ff.; A.H. Bani-Sadr, Die Menschenrechte im Islam, 1989, 36 ff. 1402 Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 38 f.; vgl. Muhammad Muslehuddin, Judicial System of Islam – its Origin and Development, 1988, 31, 35 ff. 1403 Vgl. Halil Inalcik, Kanun and the Shari’ah, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 1–14, 3. 1404 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 144 f.; vgl. Tilman J. Röder, The Separation of Powers in Muslim Countries: Historical and Comparative Perspectives, in: Rainer Grote/Tilman J. Röder (Hrsg.), Constitutionalism in Islamic Countries, 2012, 321–373, 328. 1405 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 145. 1406 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 144 f.; vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 70 f. 1407 Bülent Tanör, Osmanlı-Türk anayasal gelis ¸meleri, 2006, 145. 1408 Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 43; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 119. 1409 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 237.
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Legislative von den Rechtsgelehrten unter Anwendung der Methoden zur Rechtsfindung, die auch bei der Bestimmung der klassischen sekundären Rechtsquellen verwendet wurden, ausgeübt werden soll1410. Hierzu gehört insbesondere ijtihad, die unabhängige Rechtsherleitung durch qualifizierte muslimische Juristen1411. Dabei müssen diese Juristen nicht unbedingt demokratisch legitimiert werden, was aber nicht heißt, dass ein Staatsorgan, in dem das Volk vertreten wird, per se ausgeschlossen wäre1412. Dieses Staatsorgan wäre, falls etabliert, nach diesen Ansichten nur kein Teil der Legislative1413. Dementgegen wird vertreten, dass ein Staatsorgan begründet werden kann, welches demokratisch legitimiert wird und das Volk vertritt, indem die Mitglieder nicht nur muslimische Rechtsgelehrte sind, und welches gesetzgebende Kompetenzen besitzt1414. Die erlassenen Gesetze sollen entweder durch ein weiteres zu begründendes Staatsorgan, dessen Besetzung durch qualifizierte muslimische Rechtsgelehrte erfolgt1415, oder durch die Judikative auf die Konformität mit dem islamischen Recht überprüft werden1416. Die Staatsgewalten dienen bei allen zuvor wiedergegebenen Ansichten hauptsächlich dem Ziel die gottgewollte Ordnung zu verwirklichen1417. Dabei sollen sie sich gegenseitig gegebenenfalls kontrollieren, wobei dies nicht das primäre Ziel ihrer Etablierung ist1418. Auch die Verhinderung einer zu starken Machtkontzentration, in einem Staatsorgan bzw. in einer Staatsgewalt ist im islamischen Staatsrecht nicht unbedingt gefordert und erforderlich. Sofern gewährleistet wird, dass Willkürherrschaft und Machtmissbrauch verhindert werden, kann auch eine Machtkonzentration in einem Staatsorgan legitim sein1419. Mittlerweile tendieren aber die meisten Gelehrten dazu eine Trennung der drei klassischen Staatsgewalten auch in einem islamischen Staat zu favorisieren1420. Hierbei kann sowohl eine 1410 Isma’il Raji al-Faruqi, Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 131 ff.; vgl. Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 118. 1411 Muhammad Ali Al-Hashimi, The Ideal Muslim Society, 2007, 70 f. 1412 Isma’il Raji al-Faruqi, Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 140; Javid Iqbal, The Concept of State in Islam, in: Mumtaz Ahmad (Hrsg.), State Politics in Islam, 1986, 37–51, 38 f. 1413 Vgl. Isma’il Raji al-Faruqi, Structure of the Islamic State, in: Yusuf Abbas Hashmi (Hrsg.), Shari’ah, Ummah and Khilafah, 1987, 128–152, 140. 1414 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, 2001, 117 ff., 120; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 119; Muhammad Asad, The Principles of State and Government in Islam, 2001, 45. 1415 Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 121 ff., 125. 1416 Vgl. Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 244; Noah Feldman, The Fall and Rise of the Islamic State, 2008, 123. 1417 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 112 ff.; Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 237 ff. 1418 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 389. 1419 Vehbe Zuhayli, Islam Fıkhı Ansiklopedisi, Bd. 8, 2006, 389. 1420 M. Bes ¸ir Eryarsoy, Islam Devlet Yapısı, 1995, 112 ff., 206 ff.
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strikte als auch eine lockere Trennung der Gewalten, in der auch z. B. Exekutivorgane aufgrund des Gesetzes beschränkt legislativ handeln können, oder in der Mitglieder der Legislative auch Teil der Exekutive sein können, befürwortet werden1421. Damit gehen muslimische Rechtsgelehrte auf die negativen Erfahrungen ein, die mit starken Machtkonzentrationen in einer Staatsgewalt in der islamischen Staatsgeschichte gemacht wurden. Es kann zwar argumentiert werden, dass Machtkonzentrationen in einer Staatsgewalt islamisch legitim sind; genau diese Argumentation führte aber faktisch mit dem Ende der Ära der vier rechtgeleiteten Kalifen zu absolutistischen Staatsformen und Staatverständnissen, in denen das islamische Ideal nie wieder, wie im früh-islamischen Staat, verwirklicht wurde. 3. Staatsgewalten in neuzeitlichen islamischen Verfassungen In allen neuzeitlichen islamischen Verfassungen werden unterschiedliche Staatsgewalten mit eigenen Aufgabenbereichen und Kompetenzen begründet. Wie bei der baiah und dem shura-Prinzip ist es jedem islamischen pouvoir constituant überlassen, welche Staatsgewalten er etabliert und ob er eine strikte oder lockere Trennung der Gewalten verwirklicht. Daher ist es nicht überraschend, dass in den wiedergegebenen neuzeitlichen islamischen Verfassungen diesbezüglich divergierende Beispiele enthalten sind. a) Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität, Kairo Im Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität sind die klassischen drei Staatsgewalten Exekutive und Legislative sowie die Judikative enthalten und voneinander getrennt. Es werden mehrere Staatsorgane institutionalisiert, die die Aufgaben der drei klassischen Gewalten wahrnehmen. Zu nennen sind dabei der Staatspräsident Art. 44 ff., die Rechtsprechung Art. 61 ff., das Repräsentative Parlament Art. 83 ff. und die Regierung Art. 129 ff. Offensichtlich ist, dass die Rechtsprechung die Aufgaben der judikativen Gewalt erfüllt. Sie ist gemäß Art. 67 unabhängig. Art. 68 erklärt, dass der Staat die potentiellen Kandidaten für das Richteramt auswählen soll. Wie die genaue Bestimmung erfolgen soll, ist nicht konkret festgesetzt. Zwar ist der Staatspräsident gemäß Art. 58 für die Ernennung der Staatsdiener zuständig; ob sich hieraus auch ein Ernennungs- und Auswahlrecht bei der Bestimmung von Richtern ergibt, ist aus dem Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität jedoch nicht zu entnehmen. Die Rechtsprechung überwacht gemäß Art. 46 die Wahl des Staatspräsidenten und gemäß Art. 85 die Wahl der Mitglieder des Repräsentativen Parlaments. Nach Art. 81 ist ein Verfassungsgericht zu gründen, welches die erlasse1421
Sayyid Abul A’La Maududi, The Islamic Law and Constitution, 1967, 242 ff.
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nen Gesetze und die Verfassung auf Konformität mit dem islamischen Recht zu prüfen hat. Ob dies durch eine konkrete oder eine abstrakte Normenkontrolle geschehen soll, ist nicht hinreichend konkretisiert. Die Legislative wird gemäß Art. 83 hauptsächlich von dem Repräsentativen Parlament ausgeübt. Hierfür soll sich das Repräsentative Parlament gemäß Art. 101 eine Geschäftsordnung geben. Außerdem bestimmt das Repräsentative Parlament nach Art. 83 den Rahmen für die generelle Politik des Staates. Die Mitglieder des Repräsentativen Parlaments werden gemäß Art. 84, 85 vom Volk gewählt. Der Staatspräsident kann allerdings gemäß Art. 84 bis zu 20 Prozent der Mitglieder selbst auswählen. Diese Bestimmungsmethode ist aber nicht zwingend, sondern liegt im Ermessen des Staatspräsidenten. Jedes einzelne Mitglied des Repräsentativen Parlaments und der Staatspräsident haben nach Art. 105 das Recht Gesetzentwürfe einzureichen. Der Staatspräsident kann gemäß Art. 108 das Zustandekommen von Gesetzen durch Einsprüche verlangsamen. Nach Art. 109 kann das Repräsentative Parlament nach dreißig Tagen erneut über das durch den Staatspräsidenten verhinderte Gesetzesvorhaben entscheiden und bei Vorliegen einer Mehrheit erlassen. Jedes Mitglied des Repräsentativen Parlaments hat gemäß Art. 119 und Art. 120 gegenüber dem Regierungsvorsitzenden und gegenüber jedem einzelnen Minister ein Befragungsrecht. Außerdem kann im Repräsentativen Parlament durch dessen Mitglieder gegen jedes einzelne Regierungsmitglied ein Misstrauensvotum eingefordert werden. Gemäß Art. 121 ist der Regierungsvorsitzende sowie jeder einzelne Minister gegenüber dem Repräsentativen Parlament für die Ausübung seiner Pflichten verantwortlich und kann gemäß Art. 123 i.V. m. Art. 120 seines Amtes enthoben werden. Nach Art. 129 besteht die Regierung aus dem Premierminister und den jeweiligen Ministern der Ressorts. Der Premierminister ist der Vorsitzende der Regierung. Aus einer Gesamtbetrachtung des Verfassungsvorschlages der Al-Azhar Universität ergibt sich, dass die Regierungsmitglieder gemäß Art. 58 i.V. m. Art. 131 von dem Staatspräsidenten zu ernennen sind. Die Minister sind nach Art. 120 die obersten Vertreter der einzelnen Ministerien. Die Mitglieder der Regierung müssen nach Art. 126 nicht zusätzlich Mitglieder des Repräsentativen Parlaments sein. Eine Mitgliedschaft in beiden Staatsorganen ist aber nicht explizit ausgeschlossen. Die Exekutive wird damit von der Regierung und dem Staatspräsidenten ausgeübt. Der Staatspräsident ist im Kriegsfall gemäß Art. 56 der oberste Befehlshaber der Streitkräfte. Im Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität wird somit eine religiöse semi-präsidiale Republik etabliert. Die Exekutive ist zweigeteilt und wird vom Staatspräsidenten und der Regierung wahrgenommen. Der Staatspräsident hat bei der Bestimmung der Mitglieder der Regierung und der Mitglieder des Repräsentativen Parlaments erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten. Zudem kann er selbst Gesetzentwürfe einbringen sowie den Erlass von Gesetzen verlangsamen. Die Gesetzgebung wird von dem Repräsentativen Parlament ausgeübt. Dieses kann
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gegebenenfalls jedes einzelne Mitglied der Regierung zur Rechenschaft ziehen und es des Amtes entheben. Die Rechtsprechung überwacht sowohl die Wahl des Staatsoberhauptes als auch die Wahl der Mitglieder des Repräsentativen Parlaments. Zudem überprüft sie die erlassenen Gesetze auf die Konformität mit dem islamischen Recht. Somit ist im Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität eine Trennung sowie eine gewisse gegenseitige Kontrolle der Gewalten enthalten. Allerdings ist die vollzogene Trennung der Staatsgewalten nicht absolut, und Teile der Exekutive können bei der Gesetzgebung starken Einfluss auf die Legislative nehmen und sogar ein Teil von dieser sein. Dass die Regelungen diesbezüglich nicht im Detail ausgearbeitet sind, ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei dem Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität um einen Entwurf handelt, der nicht hinreichend ausgearbeitet wurde. b) Karachi-Grundprinzipien Die Karachi-Grundprinzipien sind bei der Etablierung von Staatsgewalten äußerst rudimentär. Ausdrücklich wird das Staatsoberhaupt in den Art. 12, 13, 14, 15, 16 und 17 erwähnt. Die Exekutive wird nach Art. 13 und 14 von dem Staatsoberhaupt ausgeübt, welches gewisse Aufgaben an andere delegieren kann. Nach Art. 19 ist die Rechtsprechung von der Exekutive zu trennen und soll zudem unabhängig und frei von dem Einfluss der Exekutive sein. Das Staatsoberhaupt soll nach Art. 16 von einem Gremium gewählt werden, welches auch dazu befugt sein soll, es gegebenenfalls abzusetzen. Gleichzeitig sollen gemäß Art. 13 gewählte Repräsentanten des Volkes im Staat vorhanden sein. Die genaue Rolle dieser Repräsentanten des Volkes ist nicht hinreichend konkret bestimmt. Die erlassenen Gesetze sollen nach Art. 2 mit dem islamischen Recht im Einklang stehen und nicht gegen dieses verstoßen. Allerdings ist nicht geklärt, wer diese Gesetze erlässt bzw. erlassen kann. Eine konkrete Bestimmung der Legislative fehlt in den Karachi-Grundprinzipien. Ausdrücklich enthalten die KarachiGrundprinzipien damit nur zwei Staatsgewalten, die Exekutive und die Judikative. Diese sollen sich gegenseitig ausbalancieren und kontrollieren. c) Saudi-Arabische Staatsgesetze Der König ist gemäß Art. 44 GH die in letzter Instanz maßgebliche Autorität für alle Staatsgewalten. Art. 44 GH erklärt die Judikative, die Exekutive und die Regulative zu den Staatsgewalten im Staat. Diese sollen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf Grundlage des GH und anderer Gesetze zusammenarbeiten. Der König hat aufgrund seiner Stellung legislative, exekutive sowie judikative Machtbefugnisse. Die exekutiven Kompetenzen entsprechen denen eines Staatsoberhauptes in einer Präsidialrepublik. Nach Art. 55 GH soll er die Nation mit einer auf Recht gegründeten Politik, welche den Regeln des Islams entsprechen
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soll, regieren. Er kann im Fall der Gefährdung des Königreiches gemäß Art. 62 GH ohne einschränkende Konsultationen Sofortmaßnahmen ergreifen. Zudem ist er gemäß Art. 60 GH der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Weiterhin ist er nach Art. 56 GH der Vorsitzende des Ministerrates, damit der Vorsitzende der Regierung. Seine Befugnisse zur Ernennung von Ministern sind gemäß Art. 57 GH dabei besonders ausgeprägt. Das GH geht folglich von drei dem König untergeordneten Staatsgewalten aus. Zur Judikative zählen klassische geistliche Institutionen wie die Groß-Ulama und deren Rat, die Gerichte und staatliche Institutionen wie der Oberste Justizrat sowie das Appellationsgericht. Art. 46 GH erklärt, dass die Richterschaft eine unabhängige Gewalt ist. Die Ernennung und Abberufung der Richter erfolgt gemäß Art. 52 GH durch königliche Verordnung auf Vorschlag des Obersten Justizrates. Nach Art. 54 GH bestimmt das Gesetz die Organisation des Appellationsgerichts und dessen Aufgabenbereich. Art. 67 GH erklärt, dass die regulative Staatsgewalt für die Ausarbeitung von Gesetzen und Regelungen zuständig ist, die im Einklang mit dem islamischen Recht stehen müssen. Dies soll auf Grundlage des GH, des GM und des GK geschehen. Die quasi-legislative Gewalt ist damit nicht an eine Institution gebunden, sondern ergibt sich aus einem Zusammenwirken von König, Ministerrat und Konsultativrat. Der Konsultativrat wird ausdrücklich dieser regulativen Gewalt zugeordnet. Er besteht gemäß Art. 3 GK aus dem Vorsitzenden und sechzig vom König zu ernennenden Mitgliedern. Art. 15 GK regelt die Kompetenzen. Der Konsultativrat erhält ein Mitspracherecht bei der Ausarbeitung der Entwicklungspläne, der Gesetze, der Verordnungen und der internationalen Abkommen, sowie bei der Auswertung der Jahresberichte der Regierungsinstanzen. Seine Beschlüsse sind dem Ministerrat zur Erörterung vorzulegen. Stimmt die Ansicht beider Räte überein, kann der König den Beschluss erlassen. Gibt es Meinungsverschiedenheiten, kann der König entsprechend Art. 44 GH als letzte Instanz eine verbindliche Entscheidung treffen. Mindestens zehn Mitglieder des Konsultativrates können gemäß Art. 23 GK Vorschläge für neue Gesetze bzw. Gesetzesänderungen machen, die vom Vorsitzenden dem König vorgelegt werden. Die örtliche Verwaltung wird durch das Gesetz über die Regionen1422 geregelt. Das Gesetz legt nicht fest, in wie viele Regionen das Land aufzuteilen ist und welche Städte Verwaltungszentren sein sollen. Dies kann gemäß Art. 2 GR der König verbindlich durch einen Erlass festlegen. Die höchste administrative und exekutive Autorität der Region ist der nach Art. 4 GR vom König ernannte Amir. Dieser hat den Rang eines Ministers. Auch der Stellvertreter des Amirs wird gemäß Art. 4 GR vom König ernannt. In der Region agieren aber zugleich gemäß Art. 10 GR vom Ministerrat eingesetzte Bevollmächtigte, sogenannte Wa1422
Im Folgenden GR.
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kile. Nach Art. 16 GR bestehen die Regionalräte aus dem Amir, seinem Stellvertreter, dem Bevollmächtigten sowie aus den Leitern der staatlichen Ämter und zehn örtlichen Persönlichkeiten, die alle vom Vorsitzenden des Ministerrates zu ernennen sind. Die Tätigkeit der Regionalräte steht nach Art. 25, 30, 32 und 40 GR unter der Kontrolle des Innenministers, der in der Regel ein Bruder des amtierenden Königs ist. Nach Art. 30 GR hat der Innenminister das Recht den Rat einzuberufen und ihm vorzustehen. Gemäß Art. 38 kann der Rat durch den Vorsitzenden des Ministerrates aufgelöst werden. Somit besteht eine erhebliche Einflussmöglichkeit der Zentralgewalt auf die Regionen. Die saudi-arabischen Staatsgesetze etablieren drei dem König untergeordnete Staatsgewalten. Eine strikte Trennung der Staatsgewalten liegt nicht vor. Vielmehr ist lediglich von einer funktionalen Trennung auszugehen. Der König ist der Fixpunkt der staatlichen Autorität. Alle Staatsgewalten lassen sich auf ihn zurückführen. Hierdurch erfolgt keine gegenseitige Kontrolle der Gewalten, da diese nicht vollständig unabhängig voneinander sind und der König eine dominante Rolle im Staat innehat, die sich auf alle Staatsgewalten auswirkt. Lediglich die Judikative ist im Vergleich unabhängiger als die anderen Staatsgewalten. Durch sie erfolgt eine gewisse Kontrolle der Staatsmacht, da alle, auch der König, dem islamischen Recht unterworfen sind und Verstöße hiergegen geahndet werden müssen. d) Iranische Verfassung Die Iranische Verfassung formuliert in Art. 57 ausdrücklich das Prinzip der Gewaltenteilung. In Art. 57, der die Überschrift „Separation of Powers“ trägt, heißt es: „The powers of government in the Islamic Republic are vested in the legislature, the judiciary, and the executive powers, functioning under the supervision of the absolute religious Leader and the Leadership of the Ummah, in accordance with the forthcoming articles of the Constitution. These powers are independent of each other“.
Damit etabliert die Iranische Verfassung ausdrücklich die drei klassischen Gewalten und erklärt, dass diese voneinander zu trennen sind und unabhängig sein sollen. Art. 58 mit der Überschrift „Legislature“ besagt: „The functions of the legislature are to be exercised through the Islamic Consultative Assembly, consisting of the elected representatives of the people. Legislation approved by this body, after going through the stages specified in the articles below, is communicated to the executive and the judiciary for implementation“.
Damit ist die Gesetzgebung Hauptaufgabe der Islamischen Beratungsversammlung. Art. 60 mit der Überschrift „Executive“ formuliert: „The functions of the executive, except the matters that are directly placed under jurisdiction of the Leadership by the Constitution, are to be exercised by the President and the Ministers“.
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In Art. 61 mit der Überschrift „Judiciary“ heißt es: „The functions of the judiciary are to be performed by the courts of justice, which are to be formed in accordance with the criteria of Islam, and are vested with the authority to examine and settle lawsuits, protect the rights of the public, dispense and enact justice, and implement the Divine limits“.
Die Islamische Beratungsversammlung übt gemäß Art. 58 die Funktion der legislativen Gewalt im Staat aus. Das sechste Kapitel mit der Überschrift „The Legislative Power“ reguliert die Bildung der Islamischen Beratungsversammlung, die Art und Weise ihres Wirkens, die Kompetenzen und die Bestimmung ihrer Mitglieder. Art. 62 setzt fest, dass die Mitglieder durch das Volk geheim gewählt werden. Somit handelt es sich bei diesem Staatsorgan um ein repräsentatives Gremium, das mit legislativen Kompetenzen ausgestattet ist. Es besteht gemäß Art. 64 Abs. 1 aus 270 Mitgliedern. Laut Art. 64 Abs. 2 sollen religiöse Minderheiten eigene Abgeordnete stellen. Bei einer Anwesenheit von zwei Dritteln der Abgeordneten ist die Islamische Beratungsversammlung nach Art. 65 beschlussfähig. Gemäß Art. 71 kann sie im Rahmen ihrer durch die Verfassung gewährleisteten Funktion in allen Angelegenheiten Gesetze erlassen. Diese Gesetze dürfen allerdings gemäß Art. 72 weder gegen das islamische Recht noch gegen die Verfassung verstoßen. Laut Art. 73 hat sie neben der Judikative ein Interpretationsrecht bezüglich der einfachen Gesetze. Fünfzehn Abgeordnete können gemäß Art. 74 Satz 2 einen Gesetzentwurf einreichen. Die Islamische Beratungsversammlung kann nach Art. 76 bezüglich aller Angelegenheiten des Landes Untersuchungen einleiten. Nach Art. 77 bedürfen internationale Abkommen einer Ratifizierung durch die Islamische Beratungsversammlung. Die erlassenen Gesetze müssen gemäß Art. 94 an den Wächterrat, welcher nach Art. 91 zu gründen ist, zur Überprüfung der Konformität mit dem islamischen Recht übersandt werden. Die Abgeordneten der Islamischen Beratungsversammlung genießen nach Art. 86 bei der Ausübung ihrer Aufgaben Meinungsund Abstimmungsfreiheit. Die Exekutive wird gemäß Art. 60 vom Präsidenten und den Ministern ausgeübt. Nach dem religiösen Oberhaupt ist der Präsident die höchste staatliche Autorität. Er wird für eine Amtszeit von vier Jahren durch das Volk gewählt. Kandidaten für das Präsidentenamt werden vom Wächterrat zur Wahl zugelassen. Der Präsident ist verantwortlich für die Umsetzung der Verfassungsziele und die Ausübung der exekutiven Gewalt. Er ernennt, überwacht und entlässt die Minister. Zudem ist er der Vorsitzende des nach Art. 134 zu gründenden Ministerrates. Er bestimmt die Leitlinien der Politik und trägt gemäß Art. 134 Abs. 3 die Verantwortung für die Handlungen des Ministerrates. Gemäß Art. 87 benötigt der vom Präsidenten eingesetzte Ministerrat vor seinem Amtsantritt ein Vertrauensvotum durch die Islamische Beratungsversammlung. Bei Entlassungen von Ministern
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durch den Präsidenten benötigt jeder neu konstituierte Ministerrat nach Art. 136 ebenfalls ein Vertrauensvotum durch die Islamische Beratungsversammlung. Anders als in vielen Verfassungen ist der Präsident aber nicht der oberste Befehlshaber der Streitkräfte. Diese sind gemäß Art. 110 Abs. 1 Nr. 4 dem Islamischen Oberhaupt unterstellt. Nach Art. 122 ist der Präsident sowohl dem Volk und dem Islamischen Oberhaupt als auch der Islamischen Beratungsversammlung gegenüber für seine Handlungen verantwortlich. Gemäß Art. 123 muss der Präsident rechtmäßig erlassene Gesetze für ein wirksames Zustandekommen unterzeichnen. Art. 156 wiederholt den unabhängigen Status der Rechtsprechung und erläutert die Funktionen sowie Ziele der Justiz. Nach Art. 157 soll ein Oberhaupt der Justiz bzw. der Richterschaft bestimmt werden, welches nach Art. 110 Abs. 1 Nr. 6 b i.V. m. Art. 156 vom Islamischen Oberhaupt ausgewählt wird. Gemäß Art. 158 ist der Aufgabenbereich des Oberhauptes der Justiz primär administrativ. Es ist verantwortlich für die Einstellung und Entlassung von Richtern. Außerdem soll es strukturelle Entscheidungen treffen, die dazu erforderlich sind, um die in Art. 156 enthaltenen Funktionen und Ziele der Justiz zu verwirklichen. Gemäß Art. 159 ist die Etablierung der Gerichte und ihrer Zuständigkeitsbereiche dem einfachen Gesetz vorbehalten. Nach Art. 161 soll ein Oberstes Gericht gegründet werden, welches für die Überprüfung der Gerichtsurteile zuständig ist. Art. 164 erklärt explizit noch einmal, dass Richter unabhängig sind, allerdings normiert Art. 171 eine persönliche Verantwortung der Richter nach dem islamischen Recht für den Fall, dass sie Fehlurteile fällen. Art. 167 enthält eine ausdrückliche Bindung der Gerichte an das kodifizierte Gesetz sowie an das islamische Recht. Nach Art. 173 soll ein Verwaltungsgericht etabliert werden, durch das hoheitliche Handlungen gegenüber den Bürgern überprüft werden können. Art. 170 erklärt in diesem Zusammenhang, dass die Richter ihre Urteile nicht aufgrund von nichtigen, fehlerhaften oder dem islamischen Recht widersprechenden Gesetzen erlassen dürfen. Jeder kann nach Art. 170 die Überprüfung von Gesetzen durch das nach Art. 173 einzurichtende Verwaltungsgericht verlangen. Damit formuliert die Iranische Verfassung sowohl eine konkrete als auch eine abstrakte Normenkontrolle durch die Rechtsprechung. Die Iranische Verfassung enthält eine klare Trennung und eine gegenseitige Kontrolle der Staatsgewalten. Insbesondere ist die Exekutive strikt von der Legislative getrennt. Die Islamische Beratungsversammlung kann bezüglich aller Angelegenheiten Untersuchungsausschüsse einberufen und damit die Handlungen der Exekutive überprüfen. Außerdem kann sie durch die Verweigerung des Vertrauensvotums den Amtsantritt des vom Präsidenten konstituierten Ministerrates verhindern. Der Präsident muss zwar rechtmäßig erlassene Gesetze gegenzeichnen, allerdings indiziert dies auch ein Unterschriftverweigerungsrecht, sofern diese Gesetze offensichtlich nichtig oder rechtswidrig sind. Die Rechtsprechung als unabhängige Staatsgewalt kann gegebenenfalls hoheitliche Akte sowohl der Exekutive als auch der Judikative kontrollieren.
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e) Schlussfolgerungen Der Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität und die Iranische Verfassung begründen die drei klassischen Staatsgewalten in verschiedenen Staatsorganen. Diese sind voneinander unabhängig und kontrollieren sich gegenseitig. Während im Verfassungsvorschlag der Al-Azhar Universität die Exekutive eine starke Einflussmöglichkeit auf die Legislative hat und sogar Teil von dieser sein kann, erfolgt in der Iranischen Verfassung eine strikte Trennung der Staatsgewalten. Die Karachi-Grundprinzipien enthalten ausdrücklich zwei voneinander unabhängige Staatsgewalten, die Exekutive und die Judikative, die sich gegenseitig ausbalancieren und kontrollieren sollen. Ob ein weiteres unabhängiges Staatsorgan mit legislativen Kompetenzen begründet werden soll, ist nicht ersichtlich. Die saudi-arabischen Staatsgesetze etablieren im Gegensatz hierzu drei dem König untergeordnete Staatsgewalten. Der König hat in diesem Zusammenhang exekutive, legislative und judikative Machtbefugnisse. Dies zeigt, dass sich auch in diesen Beispielen von konkretisiertem islamischem Staatsrecht der Gedanke der Ausbalancierung und der Kontrolle der verschiedenen Zweige der öffentlichen Gewalt durchgesetzt hat. Mit Ausnahme der saudi-arabischen Staatsgesetze wird die Ausübung der Staatsgewalt funktional auf verschiedene Organe aufgeteilt, auch wenn die Exekutive in diesem Zusammenhang teilweise erheblichen Einfluss auf die anderen Gewalten ausüben kann. 4. Vergleich mit der Gewaltenteilung im westlichen Staatsrecht Gewaltenteilung bedeutet im westlichen Staatsrecht die Verteilung der Staatsgewalt auf mehrere Staatsorgane zum Zwecke der Machtbegrenzung1423. Diese Staatsorgane sollen unabhängig voneinander sein und sich gegenseitig bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben kontrollieren1424. Im Kern geht es dabei um eine Bändigung der hoheitlichen Macht und um die Errichtung von Vorkehrungen gegen Machtmissbrauch; es soll der Eigengesetzlichkeit der Machtausübung entgegengewirkt werden, die jeder mit Machtbefugnissen ausgestatteten Institution eigen ist, indem ein Abbau „überschießender“ Macht durch die gegenseitige Reibung grundsätzlich gleichwertiger Organe erfolgt, der letzlich auf die Sicherung der indivduellen Freiheit ausgerichtet ist1425. Historisch wird zwischen den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative unterschieden1426. Ihren Ur1423
Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 358, Rn. 2 ff. Vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 204, Rn. 753 ff., 208, Rn. 769 f. 1425 Ralph Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, 583 f. 1426 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 204, Rn. 755; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32. Auflage, 110. 1424
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sprung hat das Prinzip der Gewaltenteilung in den staatstheoretischen Schriften von John Locke und Montesquieu1427. Diese Schriften richteten sich gegen die Machtkonzentration in einem Staatsorgan und die daraus resultierenden Willkürherrschaften zur Zeit des Absolutismus1428. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist heute Bestandteil jeder westlich-liberalen Demokratie und in den meisten westlichen Verfassungen explizit enthalten1429. Neben der horizontalen Ebene der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative kann auch zwischen staatlicher Gewalt und kommunaler Selbstverwaltung eine vertikale Form der Gewaltenteilung ausgemacht werden1430. Oft wird Gewaltenteilung missverstanden als die Forderung nach einer völligen Trennung der einzelnen Gewalten1431. Dadurch wird verkannt, dass die Ziele der Gewaltenteilung nur dadurch verwirklicht werden können, dass die einzelnen Staatsorgane jeweils ein gegenseitiges Eingriffsrecht haben, um effektiv ihre Kontrollfunktion ausüben zu können1432. In diesem Zusammenhang wird deshalb auch von Gewaltenvermischung gesprochen1433. Ein Beispiel für diese Art der Gewaltenvermischung ist das im deutschen GG enthaltene konstruktive Misstrauensvotum, mit dem eine Mehrheit des Bundestags, also die Legislative, den Bundeskanzler, die Exekutive, abberufen kann1434. Des Weiteren können die Gerichte als judikative Gewalt Akte der Exekutive kontrollieren1435. Das Bundesverfassungsgericht kann sogar im Rahmen der abstrakten – oder konkreten Normenkontrolle Gesetze der Legislative auf ihre Rechtmäßigkeit hin prüfen1436. In
1427 Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32 Auflage, 110; vgl. Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 63, Rn. 162. 1428 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 204, Rn. 753 ff. 1429 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 366, Rn. 18. 1430 Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, Art. 20–78, 2000, Rn. 188, 91; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32. Auflage, 110 f. 1431 Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 65 f., Rn. 168; vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32. Auflage, 111 f. 1432 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 208, Rn. 769 ff. 1433 Michael Sachs, Grundgesetz Kommentar, 2009, 793, Rn. 85. 1434 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 122, Rn. 451 ff. 1435 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 208, Rn. 769 ff. 1436 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 651, Rn. 66 ff., 665, Rn. 96 ff.; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32. Auflage, 110 f.
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manchen Fällen können seine Urteile außerdem legislativen Rang erhalten1437. Der Bundestag als Legislative wählt den Bundeskanzler und ist an der Wahl des Bundespräsidenten beteiligt1438. Unter der klassischen horizontalen Gewaltenteilung ist die Aufteilung der Macht im Staat auf die drei Bereiche Legislative, Exekutive und Judikative zu verstehen. Dabei ist zwischen institutioneller und funktioneller Gewaltenteilung zu differenzieren. Die Staatsgewalten kooperieren auch in vielen Angelegenheiten miteinander1439. Für das beschriebene institutionelle Gefüge wird im Englischen der Begriff checks and balances verwendet1440. Das politische System der USA gilt als Beispiel für eine relativ strikte horizontale institutionelle Gewaltenteilung und die hierdurch ausgeübte gegenseitige Kontrolle der Gewalten1441. Im GG ist die Gewaltenteilung ausdrücklich in Art. 20 Abs. 2 GG enthalten1442. Hiernach wird die Staatsgewalt „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ 1443. Die Organe der Legislative sind Bundestag und Bundesrat, das primäre Organ der Exekutive ist die Bundesregierung unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers1444. Aufgrund der ebenfalls im GG enthaltenen Gewaltenvermischung, die sich etwa in der Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag äußert, wird die institutionelle Gewaltenteilung teilweise durch eine funktionelle Gewaltenteilung zwischen Opposition und Regierungsfraktion(en) ersetzt1445. Die Trennung von Exekutive und Legislative wird gemäß Art. 51 Abs. 1 GG durch den von den Länder-Exekutiven besetzten, aber selbst legislativ tätigen Bundesrat teilweise aufgehoben, da dieser bei der Gesetzgebung mitwirkt1446. Gleiches gilt für die Möglichkeit ministerieller Verordnungen1447. Eine weitere Auflockerung des Prinzips der Gewaltenteilung ergibt sich durch die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichtes. Dieses gehört zwar zur Judikative, kann aber gemäß Art. 94 Abs. 2 GG Entscheidungen mit Gesetzeskraft erlassen. Die vertikale Gewalten1437
Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 68 f., Rn. 174 ff. Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 115, Rn. 419 ff. 1439 Michael Sachs, Grundgesetz Kommentar, 2009, 801, Rn. 82 f. 1440 Emil Hübner, Das Politische System der USA, 2007, 112; Christoph Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 26. Auflage, 2010, 107, Rn. 265. 1441 Emil Hübner, Das Politische System der USA, 2007, 109 ff. 1442 Hermann Mangold, Friedrich Klein, Christian Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, Art. 20–78, 2000, 90, Rn. 187. 1443 Vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32. Auflage, 111. 1444 Vgl. Ekkehart Stein/Götz Frank, 21. Auflage, Staatsrecht, 2010, 109. 1445 Vgl. Ekkehart Stein/Götz Frank, 21. Auflage, Staatsrecht, 2010, 109. 1446 Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 5. Auflage, 2007, 499, Rn. 25 ff. 1447 Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 8. Auflage, 2008, 68, Rn. 170. 1438
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teilung ist durch Art. 20 Abs. 1 GG, der Deutschland als Bundesrepublik und Bundesstaat konstituiert, sowie durch Art. 79 Abs. 3 GG gewährleistet, in dem festgelegt wird, dass eine Änderung des GG, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder oder die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung beeinträchtigt oder gänzlich aufgehoben wird, unzulässig ist1448. Auch die Aufteilung der Macht zwischen Bund und Ländern ist im GG festgelegt1449. Im westlichen Staatsrecht wird diskutiert, ob die Verschränkung der Gewalten durch eine enge Zusammenarbeit und Verzahnung der Staatsorgane dem ursprünglichen Gedanken der Trennung der Gewalten widerspricht und ob durch Lobbyismus und andere Einflussnahme die zentrale Stellung des Parlaments als Legislative geschwächt wird1450. Insbesondere erfolge dies durch die faktische Verlagerung legislativer Entscheidungsprozesse in außerparlamentarische Gremien1451. So wird behauptet, dass in der Verfassungswirklichkeit die Gewaltenteilung mehr und mehr durch Mechanismen der Parteiendemokratie ausgehöhlt werde1452. Im Gegensatz zur Gewaltenteilung im westlichen Staatsrecht, die die Aufteilung der hoheitlichen Macht in drei klassische Gewalten vorsieht, ist im islamischen Staatsrecht nicht verbindlich festgelegt, wie viele Staatsgewalten etabliert werden sollen und wie das Verhältnis dieser zueinander reglementiert wird. Zwar kann aus dem Beispiel des früh-islamischen Staates von Medina eine Gewaltenteilung nach westlichem Muster abgeleitet werden, genauso kann aber auch eine Machtkonzentration der drei klassischen Staatsgewalten in einem Staatsorgan befürwortet werden. Allerdings ist es mittlerweile fast Konsens unter den Rechtsgelehrten, dass eine wie auch immer geartete Form der Gewaltenteilung im islamischen Staatsorganisationsrecht stattfinden soll. Die in einem islamischen Staat konstituierten Staatsgewalten dienen nur dem Ziel, die gottgewollte Ordnung zu verwirklichen, und nicht – wie im westlichen Staatsrecht – primär der Bändigung der hoheitlichen Macht zur Sicherung der indivduellen Freiheit. Sie können sich gegenseitig kontrollieren; dies ist aber nicht der hauptsächliche Grund ihrer Etablierung. Dass sogar die Machtkonzentration in einem Staatsorgan nicht per se abzulehnen ist, sofern gewährleistet wird, dass Willkürherrschaft und Machtmissbrauch verhindert werden, verdeutlicht 1448 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 279, Rn. 1037. 1449 Jörn Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage, 2010, 145, Rn. 531 ff. 1450 Vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32. Auflage, 91, Rn. 47 f. 1451 Vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32. Auflage, 92, Rn. 53 f. 1452 Vgl. Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 2008, 32. Auflage, 104, Rn. 47.
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aber, dass diesbezüglich auch erhebliche Unterschiede zum Prinzip der westlichen Gewaltenteilung, die gerade einen Abbau „überschießender“ Macht durch die gegenseitige Reibung grundsätzlich gleichwertiger Organe bezweckt, bestehen können. Trotzdem ist der Gedanke der Ausbalancierung und der Kontrolle der verschiedenen Zweige der öffentlichen Gewalt dem islamischen Staatsorganisationsrecht nicht bzw. nicht mehr fremd. Fast alle muslimischen Gelehrten favorisieren heutzutage eine Trennung der drei klassischen Staatsgewalten, die als gleichwertig betrachtet werden, in einem islamischen Staat. Hierduch sollen sich diese Staatsgewalten gegenseitig kontrollieren und Machtkonzentrationen, die zum Missbrauch verführen könnten, unterbinden. Die in diesem Kontext begründeten Organe ähneln in der Struktur und der Funktion ihren Gegenstücken im westlichen Staatsorganisationsrecht. Damit reagieren muslimische Rechtsgelehrte auf negative Erfahrungen, die in der islamischen Welt mit starken Machtkonzentrationen in einem Staatsorgan gemacht wurden. Dieses Verständnis und dessen Umsetzung weisen wiederum erhebliche Gemeinsamkeiten mit der Gewaltenteilung im westlichen Staatsrecht auf, auch wenn die endgültigen Begründungen für diese strukturelle Aufteilung voneinander abweichen. 5. Zusammenfassung Muslimische Gelehrte sind bestrebt hoheitliche Macht zu bändigen. Dies soll – wie im westlichen Staatsrecht – durch die Errichtung von Vorkehrungen gegen Machtmissbrauch realisiert werden. Konkret sollen gleichwertige Staatsorgane etabliert werden, die sich gegenseitig ausbalancieren. Dadurch soll zwar nicht primär – wie im Westen – die individuelle Freiheit geschützt, sondern das Bestehen des Staates, in dem die gottgewollte Ordnung verwirklicht wird, gesichert werden, die Auswirkungen für die Bürger sind aber entsprechend. Um dies zu verwirklichen wenden muslimische Gelehrte Ansätze und Strukturen an, die mit der Gewaltenteilung im westlichen Staatsrecht vergleichbar sind. Im westlichen Staatsrecht bedeutet Gewaltenteilung die Verteilung der Staatsgewalt auf mehrere Staatsorgane, mit dem Ziel die Macht zu begrenzen. Diese Staatsorgane sind voneinander unabhängig, und sie kontrollieren sich gegenseitig. Die meisten muslimischen Gelehrten neigen heutzutage gerade deshalb dazu, solch eine Trennung der drei klassischen Staatsgewalten zu befürworten. Die Festlegung der unterschiedlichen Staatsgewalten und ihrer Funktionen sowie Kompetenzen obliegt letztlich einem islamischen pouvoir constituant.
G. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen islamischem und westlichem Staatsund Staatsorganisationsrecht Im islamischen Recht sind – wie aufgezeigt – Organisation, Strukturierung, Staatsform und die Etablierung von Institutionen in einem Staat nicht verbindlich vorgegeben. Somit kann ein islamischer pouvoir constituant je nach Interpretation des islamischen Rechts den pouvoir constitué beliebig gestalten. Der etablierte pouvoir constitué muss aber aus dem islamischen Recht legitimierbar sein. Dementsprechend kann der islamische Staat jegliche Staatsform und Staatsstruktur begründen, die nicht dazu führt, dass die sharia umgangen bzw. ausgehöhlt wird. Der Staat kann folglich als präsidiale oder semi-präsidiale Republik, als parlamentarische Republik, als parlamentarische oder konstitutionelle Monarchie jeweils mit demokratischen Elementen in Erscheinung treten oder eine völlig andere Form und Struktur aufweisen. Aufgrund der negativen Erfahrungen mit Machtkonzentration in einem Staatsorgan fordern die meisten muslimischen Gelehrten heute Staatsformen mit demokratischen Elementen, in denen die hoheitliche Gewalt auf gleichwertige Organe verteilt wird, um Machtmissbrauch und Willkürherrschaft vorzubeugen. Damit stehen sie im Einklang mit westlichen Staatsformen. Für den universellen Kalifatsstaat gilt dies entsprechend, mit der Ausnahme, dass bei diesem eine erbliche Monarchie als Staatsform ausgeschlossen ist. Der universelle Kalifatsstaat kann als ein supranationales Völkerrechtssubjekt – bestehend aus mehreren islamischen Staaten – etabliert werden. Dieser Staatenbund könnte als eine Union konstituiert werden, die in ihrem Kern eine Wertegemeinschaft bildet, es aber den Mitgliedstaaten überlässt diese Werte zu konkretisieren. Die Mitgliedstaaten wiederum wesensfremde Staatsformen aufweisen, aber trotzdem unter einem integrativen Dach mit verschiedenen Grundsäulen, die die Organisation und die Kompetenzen dieses Staatenbundes regulieren, vereint sein. Damit würde dieser Staatenbund in seiner Struktur Parallelen zur EU aufweisen. Ein Kalif könnte das repräsentative Oberhaupt dieses völkerrechtlichen Gebildes sein. Sunniten wie Schiiten könnten sich in einer solchen Union vereinen, wobei die Mehrheit der Schiiten das repräsentative Oberhaupt nur als einen Stellvertreter des entrückten 12. Imams anerkennen würde, während dieses Oberhaupt für Sunniten den rechtmäßigen Kalifen darstellen würde. Sofern in diesem Rahmen islamische Staaten mit demokratischen Elementen, z. B. als präsidiale oder parla-
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G. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
mentarische Republiken, gegründet würden, ist offensichtlich, dass diese Staaten Gemeinsamkeiten mit westlich-liberalen Staaten haben würden. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob in einem islamischen Staat eine geschriebene Verfassung notwendig ist. Die Grundelemente eines islamischen Staates sind theoretisch bereits im quran und in der sunna enthalten, so dass es auf den ersten Blick nicht notwendig erscheint, eine kodifizierte Verfassung zu erlassen. Andererseits spricht auch nichts dagegen, diese Grundprinzipien auszusondern und in einer speziell hierfür konzipierten Verfassung zusammenzustellen. Verfassung im islamischen Sinne ist daher nur ein kodifizierter Überblick über die Aussagen des göttlichen Gesetzes zu Staat und Gesellschaft. Sie stellt in der Theorie – im Gegensatz zu westlichen Verfassungen – keine Schöpfung des politischen Gestaltungswillens der Menschen dar. Ihr Inhalt ist aus islamischer Sicht nur das göttliche Gesetz, das die allein verbindliche Grundlage bildet. Ein islamischer Staat braucht folglich keine eigens geschriebene Verfassung.1 Heutzutage befürworten aber die meisten muslimischen Gelehrten und islamisch-politischen Bewegungen einen islamischen Konstitutionalismus, der kodifizierte Verfassungen, eine allgemeine Wahl des Staatsoberhauptes für ein zeitlich befristetes Mandat, das Mehrparteiensystem, politischen Pluralismus, Parlamentarismus, unabhängige Gerichte sowie ein aktives und passives Wahlrecht der Frau enthält. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der islamische Staat mit einer westlich-liberalen Demokratie gleichzusetzen ist. Vielmehr erschliesst sich hieraus lediglich, dass islamisch-politische Bewegungen die Machtbeschränkungsund Kontrollmöglichkeiten, die liberal und demokratisch strukturierte Staaten aufweisen, mithin die Vorzüge dieses Systems, für ihre Zwecke und politischen Ziele entdeckt haben und anwenden möchten. Die Favorisierung dieser Form des islamischen Konstitutionalismus spiegelt in diesem Kontext die schlechten Erfahrungen der Muslime mit dem Rechtssubjekt Staat wider. Bei der endgültigen Begründung für die konstituierte Staats- und Regierungsform mag das islamische Staatsverständnis, in dem allein die Realisierung der gottgewollten Ordnung von Relevanz ist, zwar von dem westlichen Staatsverständnis, das im Kern darauf abstellt die individuelle Freiheit zu schützen, abweichen, aber auf der Ebene der sogenannten „vorletzten Begründung“ können – wie aufgezeigt – zwischen diesen beiden „Staatssystemen“ deutlich wahrnehmbare Gemeinsamkeiten bestehen. Ob diese Staatsverständnisse sich in Zukunft auch auf der Ebene der „letzten Begründung“ annähern werden, ist eher unwahrscheinlich. Auf der Ebene der „vorletzten Begründung“ stehen sich aber das islamische und das westliche Staatsrecht ebenbürtig gegenüber. Für die Bürger eines Staates kann es im Ergebnis offen bleiben, wie die konkrete Staats- und Regierungsform legitimiert wird, wenn Machtmissbrauch und Willkürherrschaft unterbunden und 1
Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. II, 1981, 256 ff.
G. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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eine transparente, rechtsstaatliche und vom Volk kontrollierbare Herrschaft etabliert wird, die umfangreiche politische Rechte und Individualfreiheiten gewährt und auch zur Rechenschaft gezogen werden kann. Hieraus folgt, dass heutzutage die sowohl von muslimischen Gelehrten als auch von westlichen Staatsrechtlern befürworteten Staats- und Regierungsformen eigentlich keine großen Unterschiede mehr in ihrer Struktur und Organisation aufweisen. Die Differenzen liegen vielmehr in anderen Bereichen. Z. B. haben die Schutzbereiche der im islamischen Staatsrecht gewährten individuellen Freiheiten und Rechte nicht den weiten Rahmen, den die Schutzbereiche entsprechender Rechte in westlichen Verfassungen aufweisen. Zudem kann in Relation zum westlichen Staatsrecht gesagt werden, dass die Eingriffsmöglichkeiten der hoheitlichen Macht in diese islamischen Grundrechte ein „breiteres“ Spektrum an Interventionen bieten und „leichter“ zu rechtfertigen sind. Diese Eingriffe müssen aber wiederum, wie im westlichen Staatsrecht, rechtmäßig und „islamisch“ legitimierbar sein. Das islamische Strafrecht erlaubt außerdem Körperstrafen, die mit Ausnahme der Todesstrafe im westlichen Strafrecht kein Äquivalent haben. Während im westlichen Staatsrecht ein stetiger Trend zur Erweiterung der individuellen Freiheitsrechte zu beobachten ist, kann davon ausgegangen werden, dass dies im islamischen Staatsrecht nicht der Fall sein wird. Beispielsweise kann ein islamischer Staat, trotz einer möglicherweise erfolgten Liberalisierung der Bevölkerung, keine gleichgeschlechtliche Ehe oder den Konsum von Alkohol legalisieren. Im Gegensatz hierzu kann in der westlichen Staatengemeinschaft klar eine Entwicklung zur rechtlichen Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen bzw. Partnerschaften ausgemacht werden, die fast ausschließlich auf den Wandel der Gesellschaft zurückzuführen ist. Auch die Rolle der Frau und von Nicht-Muslimen weicht von der theoretischen Gleichstellung von Frauen und Andersgläubigen im Westen ab. All diese Unterschiede sind aber nicht primär der Staatsorganisation oder der Regierungsform zuzuordnen, sondern befinden sich – wie erwähnt – auf einer anderen Ebene. Zwischen westlichem Staats- und Staatsorganisationsrecht und islamischem Staats- und Staatsorganisationsrecht können folglich viele Gemeinsamkeiten bestehen. Dies setzt voraus, dass muslimische Gelehrte den zuvor wiedergegebenen Ansichten und Interpretationen folgen. Soweit ein islamischer pouvoir constituant sich diesen Interpretationen anschliesst, würde ein in diesem Sinne konstituierter islamischer Staat diese Gemeinsamkeiten verwirklichen. Die westlich-liberale Demokratie und die islamische Demokratie würden natürlich – wenn auch auf anderen Ebenen – Unterschiede aufweisen. Aber in der Herrschaftsausübung und der Staatsstruktur wären Gemeinsamkeiten und Parallelen immanent. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass beide Staatsverständnisse, wegen ähnlicher negativer Erfahrungen des Machtmissbrauches durch die Exekutive, vergleichbare Machtbeschränkungsmechanismen etabliert haben bzw. im Fall des islamischen Staatsverständnisses begründen möchten.
H. Schlussfolgerungen und Aussichten Trotz der fehlenden hinreichenden Bestimmung des islamischen Staatsrechts bieten die Grundprinzipien der sharia explizit die Möglichkeit moderne staatsrechtliche Konzepte im Kontext des islamischen Rechts zu übernehmen bzw. selbst zu entwickeln. Dadurch besteht im islamischen Recht, auch ohne eine strenge oder vollständige Säkularisierung, erhebliches Potential für die Entwicklung von „modernem“ islamischem Staats- und Staatsorganisationsrecht. Islamisches Staatsrecht ist aus diesem Blickwinkel betrachtet äußerst flexibel, so dass sich die fehlende Konkretisierung in der sharia nicht unbedingt negativ auswirken muss. Die erfolgreichen Konzepte der Machtbeschränkung, der Verhinderung von Machtmissbrauch, der Etablierung von Staatsformen, die transparent und rechtsstaatlich agieren, und der Gewährleistung von umfangreichen politischen Rechten und Individualfreiheiten im westlichen Staatsrecht dienen heute muslimischen Gelehrten als Inspirationsquelle für die Entwicklung eigener sharia-konformer Staats- und Regierungsformen. In diesem Zusammenhang kann auch die EU als Vorbild für eine völkerrechtliche islamische Union fungieren. Das Ziel jeder islamisch-politischen Bewegung ist die Reetablierung des politischen Kalifats, das alle Muslime in einem Völkerrechtssubjekt vereint und die gottgewollte Ordnung verwirklicht. Wie dieses Völkerrechtssubjekt im Detail strukturiert sein soll, ist nicht verbindlich vorgegeben. Das Beispiel der EU bietet den islamisch-politischen Bewegungen die Inspiration, die notwendig ist, um die Ideale des früh-islamischen Staates neu zu beleben und praktisch in der heutigen Zeit zu verwirklichen. Diese islamische Union könnte sich von Nordafrika bis Zentralasien, vom Balkan bis nach Zentral- und Westafrika bzw. bis nach Indien und Südostasien erstrecken und mehr als eine Milliarde Menschen in einem Völkerrechtssubjekt vereinen. Dadurch, dass die EU am Konzept des Nationalstaates festhält und somit ein Völkerrechtssubjekt eigener Art ist, könnten, soweit dieses Konzept übernommen wird, wesensfremde islamische Staaten als Mitglieder dieser islamischen Union unter einem integrativen Dach, zu dem sie loyal sind, vereint werden. Sie müssten lediglich die von dieser Union aufgestellten Grundprinzipien und Werte selbstbestimmt umsetzen. Diese Umsetzung der Grundprinzipien und Werte müsste allerdings schlüssig im Sinne des islamischen Rechts sein. Sollte diese Islamische Union verwirklicht werden, würde in abgewandelter Weise das Staatsverständnis von Al-Mawardi und von anderen klassischen muslimischen Gelehrten, die die Existenz von Regionalherrschaften in Territorien des Kalifats akzeptierten, sofern sie den Kalifen
H. Schlussfolgerungen und Aussichten
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weiterhin als politisches und religiöses Oberhaupt anerkannten, neuzeitlich und an die heutigen Gegebenheiten angepasst realisiert werden. Damit bietet die EU, als neuestes Konstrukt des westlichen Staatsrechts, die Möglichkeit die klassischen Ideen des islamischen Staatsverständnisses in modifizierter Form neu umzusetzen. Die islamischen Staaten müssten hierzu lediglich das integrative Dach dieser islamischen Union, zu dem auch das Amt des Kalifen gehören könnte, anerkennen. Das wirtschaftliche und politische Entfaltungs- und Entwicklungspotential dieser islamischen Union wäre immens. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung der EU, in der traditionelle Erbfeinde wie Frankreich und Deutschland vereint wurden und die dazu führte, dass nach den schrecklichsten Kriegen der Menschheitsgeschichte auf dem europäischen Kontinent eine Ära des Friedens eingeleitet wurde, die nur vergleichbar ist mit der pax romana, birgt Grund zur Hoffnung, dass sich dies in der islamischen Welt wiederholen könnte. Das Potential hierfür besteht allemal. Allein der Gedanke, dass in Zukunft die EU und andere supranationale Völkerrechtssubjekte mit einer islamischen Union politisch, wirtschaftlich und militärisch kooperieren könnten, enthält soviel Hoffnung für die Zukunft der Menschheit, dass ein Streben danach zwingend wird. Hierdurch könnte sich das menschliche Zusammenleben, um das es letztendlich auch im Staats- und Staatsorganisationsrecht geht, auf ein global nie dagewesenes Niveau verbessern. Die Gründung von islamischen Staaten, die die zuvor wiedergegebenen modernen Interpretationen der sharia institutionalisieren und umsetzen, wäre der erste Schritt um dieses Ziel bzw. diesen Traum zu erfüllen.
Glossar Die Übersetzungen sind teilweise nicht wörtlich, sondern sinngemäß: Abbasiden ahad ahad hadithe ahkam amaliyyah ahkam i’tiqadiyyah ahkam khulqiyyah ahl al-hall wa al-‘aqd
zweite islamische Herrscherdynastie unsicher als unsicher geltende schriftliche Einzelaufzeichnungen siehe al-ahkam al-amaliyyah ayaht mit religiösen Geboten ayaht mit moralischen Geboten diejenigen, die den politischen Herrscher bestimmen können ahl al-ijma diejenigen, deren Meinung zu einem rechtsverbindlichen Konsens werden kann ahl al-ijtihad diejenigen, die zu ijtihad befähigt sind ahl al-ikhtiyar diejenigen, die Herrschaft ausüben ahl al-shawkah diejenigen, die die tatsächliche Macht transferieren können ajam’a Feststellung ajma’a al-qawm ala kadha „das Volk/die Menschen kamen einstimmig über dies und jenes überein“ ajma’a fulan ala kadha „der und der entscheiden über das und jenes“ al-ahkam al-amaliyyah ayahts im quran, die rechtliche und praktische Regeln enthalten al-‘Aqaba Ort in der Nähe von Mekka ’alayhis-salaam „Friede über ihm“ Al-Azhar Universität islamische Universität in Kairo al-ghalabah Erlangung der Herrschaft durch militärische Mittel al-hukkam lokale Führungspersönlichkeiten al-ijma al-manqul zugestimmte ijma al-ijma al muhassal partizipierte ijma al-ijma al-sarih explizite ijma al-ijma al-sukuit zugestimmte ijma al-istihsan Billigkeit al-istikhlaf Bestimmung der politischen Herrschaft durch das scheidende Staatsoberhaupt al-istishab Kontinuität, Nützlichkeit Al-Khandaq Schlacht Grabenschlacht bei Mekka al-maslahah al-mursalah das öffentliche Interesse al-qadi Richter al-ridda die Abfallbewegung vom Islam
Glossar al-umara al-wali Amm amr bil marouf wa nahy anil munkar Ansar aqd al-imamh asabiyah asl ayaht ayat al-ahkam baiah
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höchste Autoritätspersönlichkeiten Provinzgouverneur abstrakte (Regelungen) „Gebiete das Gute und verbiete das Böse“
„Helfer“ Gruppierung in Medina Vertrag zur Bestimmung des Imams tatsächliche politische Macht/Stammessolidarität in der sharia geregelter Sachverhalt Vers im quran ayaht, der eine Rechtsfolge bzw. ein Rechtsgebot enthält Wahl der politischen Herrschaft durch die Gemeinde/ Treueschwur bai Verkaufen Banu Hashim Gruppierung in Medina Banu Sa’adah Versammlungsort in Medina bida unzulässige Neuerung Dar al-Nadwa Sitz des Gemeinderates in Mekka djihad bi-n-nafs Läuterung der Triebseele Dschihad ethisches Prinzip im Islam falah Glückseligkeit far nicht in der sharia geregelter Sachverhalt fard ‘ayn individuelle Pflicht fard kifayah kollektive Pflicht fatwa islamisches Rechtsgutachten fi’li selbst (durchgeführte Handlungen) fiqh islamisches Recht fiqh al quran corpus juris des qurans Gama’at-i-Islami politische Partei in Pakistan Gatafan-Stamm arabischer Stamm Ghafran-Stamm arabischer Stamm ghayr muttasil (hadith) hadithe, die eine unterbrochene Überlieferungskette haben hadd-Strafen Körperstrafen im islamischen Strafrecht hadith schriftliche Einzelaufzeichnungen hanbalitische Rechtsschule sunnitische Rechtsschule hanefitische Rechtsschule sunnitische Rechtsschule haqq- Allah Rechte Gottes haqq al-‘ibad Rechte der Menschen/Schöpfung Heyet-i Ayan kleine vom Sultan bestimmte Kammer des osmanischen Parlaments Heyet-i Mebusan große vom Volk gewählte Kammer des osmanischen Parlaments
312 Heyet-i Vükela
Glossar
dem osmanischen Sultan unterstehendes Gremium von Ministern hidschra Auswanderung nach Medina hizbullah Partei Gottes huda Rechtleitung des Qurans hukm Rechtsfolge/Rechtsgebot Hukumat al-Mala’ Gemeinderat in Mekka husn schön, passend, moralisch ibadat Verse Verse, die sich auf den Gottesdienst beziehen ibadi Rechtsschule schiitische Rechtsschule ijma Konsens der Rechtsgelehrten ijtihad Methode zur Rechtsentwicklung ’illah Gemeinsamkeit ikhtiyar al-ummah Recht der Gemeinde den Herrscher zu wählen bzw. zu herrschen Imam politischer und religiöser Anführer Islam Frieden; Unterwerfung unter Gott ismali Rechtsschule schiitische Rechtsschule isnad (sunna) Übermittlung der sunna istikhlaf al-ahd siehe al-istikhlaf istislah öffentliches Interesse ithna’ Ashari Rechtsschule schiitische Rechtsschule Kanun-i Esasi Verfassung des Osmanischen Reiches Kalif politischer und religiöser Herrscher Kalifat politische und religiöse Institution katib Gerichtsschreiber Kharijiten radikal schiitische Strömung khass konkrete (Regelungen) Mahdi politischer und religiöser Anführer malikitische Rechtsschule sunnitische Rechtsschule mashur hadithe hadithe, die von nur einem oder wenigen ohne Lücke überliefert wurden maslahah daruriya notwendiges Interesse maslahah hajiyya bedarfmäßiges Interesse maslahah mursalah siehe al-maslahah al-mursalah maslahah murtabara durch Menschen bestimmbares Interesse Gesetzgebung in der sharia maslahah tahsiniyat verbesserndes Interesse matn (sunna) Inhalt der Sunna ma’qud lahu Vertrag Vertrag, der keine metaphysischen oder theologischen Privilegien gewährt Meclis-i Umumi osmanisches Parlament Mogul Reich sunnitisch-indisches Reich
Glossar mu’amalat Verse Mudjahid Muhajirin mujtahid Muslim mutawatir mutawatir hadithe muttasil (hadithe) nas naskh-Prinzip naqib Osmanisches Reich Qagarendynastie qara qati qaul al-sahabi qawil (sunna) qiyas qubh quran Quraysh ra’y Safawiden Reich safitische Rechtsschule sahaba salla-allahu’alayhi wa sallam sanad sar man qablana Schiiten sharia shura shura-Prinzip shura-Rat sunna sunna gahyr tashri’iyah sunna tashri’iyah Sunniten surah Sura-yi Devlet taqiri taqlid
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Verse, die rechtliche Fragen thematisieren derjenige der einen Dschihad ausübt „Auswanderer“ Gruppierung in Mekka qualifizierte muslimische Juristen der sharia und des fiqh der allein Gott Ergebene Sicher als sicher geltende hadithe hadithe, die keine unterbrochene Überlieferungskette haben göttliche Nominierung der politischen Herrschaft Aufhebung von Geboten im quran durch neue ayahts Führer sunnitisch-türkisches Reich schiitisch-persische Dynastie Lesen definitiv verbindliche Rechtsfolge Meinung der Gefährten des Propheten als Rechtsquelle verbale Aussagen des Propheten Analogie unschön, unpassend, unmoralisch das heilige Buch der Muslime (Gottes Wort) arabischer Stamm unverbindliche Meinungsäußerung schiitisch-persisches Reich sunnitische Rechtsschule die Gefährten des Propheten „Möge der Segen und der Frieden Gottes über ihm sein“ Kern der ijma, der in der sharia enthalten ist vorangegangene Offenbarungen als Rechtsquellen Strömung im Islam islamische Moral, Ethik und Recht konsultieren islamisches Gebot zu konsultieren Konsultationsgremium vorbildliches Beispiel des Propheten nicht rechtsverbindliche sunna rechtsverbindliche sunna Strömung im Islam Kapitel im quran Beratungsorgan im Osmanischen Reich gutgeheißene Handlungen anderer im juristischen Sinne: Imitation der alten Rechtsgelehrten
314 tauhid tauhid-Prinzip Umayaden umma ulama ulu’l-‘amr urf usul al-fiqh wilaya wilayat al-faqih zanni zayidi-Rechtsschule Zayidis
Glossar absolute Einzigartigkeit Gottes islamisches Prinzip, durch das die absolute Einzigartigkeit Gottes anerkannt wird erste islamische Herrscherdynastie islamische Gemeinde islamische Rechtsgelehrte derjenige, der die Befehlsgewalt ausübt Sitte, Gewohnheit Form der islamischen Jurisprudenz Amtsbezirk/Provinz Vormund- bzw. Hüterschaft der muslimischen Juristen (schiitisches Prinzip) zur Spekulation offene Rechtsfolge schiitische Rechtsschule schiitische Strömung
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