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German Pages 214 [218] Year 2015
Thomas Klie
Recht und Demenz Würde und Teilhabe im Alltag zulassen
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© VINCENTZ NETWORK, Hannover 2015 1. Auflage Besuchen Sie uns im Internet: www.haeusliche-pflege.vincentz.net Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen und Handelsnamen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne Weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um geschützte, eingetragene Warenzeichen. Foto Titelseite: Fotolia ISBN 978-3-74860-112-8
Thomas Klie
Recht und Demenz Würde und Teilhabe im Alltag zulassen
VINCENTZ NETWORK
Inhaltsverzeichnis
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Vorwort
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Einführung in Rechtsfragen für Menschen mit Demenz
9
Behindertenrechtskonvention (BRK)
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Betreuung
27
Bewegung
31
Datenschutz
35
Einwilligungs- und Rechtsfähigkeit
39
Ernährung
47
Freie Wahl des Wohnortes
55
Freiheit und Freiheitseinschränkung
59
Haftung und Verantwortung
69
Humor
75
Kommunen
81
Lebensqualität
87
Mitwirkung und Teilhabe
93
Nächtliche Assistenz
101
Osteuropäische Hilfen
105
Partnerschaft
109
Patientenverfügungen und Entscheidungen am Lebensende
113
Pflegenoten
119
Pflegestufe
127
Scheidung
131
Schuldfähigkeit – Straftaten von Menschen mit Demenz
135
Sexualität
139
> Inhaltsverzeichnis Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
Solidarität – Generationenvertrag
145
Sprache und Verständigung
149
Sterbehilfe
159
Straßenverkehr
167
Teilhabe vor Pflege
173
Testierfähigkeit
177
Unterhaltspflicht
183
Urlaub und Reisen
185
Verbraucherschutz
189
Verhinderungspflege
195
Wahlrecht
197
Wohngemeinschaften
199
Adressen
205
Schlagwortverzeichnis
211
Vita
215
> Inhaltsverzeichnis
5
6
> Inhaltsverzeichnis
Vorwort Dieses Buch ist nichts für schnelle Leser, die kurze Antworten auf komplexe Fragen suchen. Es gibt Informationen, aber eingebettet in grundlegende Reflexionen zum Umgang mit dem Recht, zur Bedeutung des Rechts für Menschen mit Demenz und seiner konsequenten Nutzung für die Sicherung von Menschenwürde und Förderung von Teilhabe. Es ist entstanden aus Beiträgen für das „demenz Magazin“, andere Fachzeitschriften und Ratgeber. Es will informieren, es soll Zusammenhänge herstellen, es gibt Hinweise auf weiterführende Literatur, auf hilfreiche Adressen, auf Rechtsgrundlagen. Das Buch „Demenz und Recht“ verspricht nicht, alle Rechtsfragen, die mit der Begleitung von Menschen mit Demenz zusammenhängen, umfassend zu erörtern. Es folgt auch keiner inhaltlichen Systematik. Es lebt von der Einsicht, dass der Umgang mit Recht sehr viel mit Reflexion, mit Haltungen aber auch mit Wissensbeständen zu tun hat. Es setzt einen Kontrapunkt zu den vielen schnellen Ratgebern, zu all der Literatur, in der es im Wesentlichen darum geht, Ängste zu beherrschen, Rezepte zu finden und „auf Nummer sicher zu gehen“. Gerade in diesem für unsere Zeit ungewöhnlichen Zugang zu Rechtsfragen leistet das Buch seinen Beitrag zu einer Kultur der Sorge und Pflege, die die Rechte von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen in den Mittelpunkt stellt. Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Klie Freiburg
> Vorwort Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Einführung in Rechtsfragen für Menschen mit Demenz
Die Werte, die Kultur einer Gesellschaft drücken sich in besonderer Weise darin aus, wie sie mit ihren vulnerablen, verletzlichen Mitgliedern umgeht, deren Rechte garantiert und verwirklichen hilft. Menschen mit Demenz bilden schon heute und in der Zukunft erst recht eine der besonders großen Gruppen vulnerabler Mitbürgerinnen, die größte Gruppe von Menschen mit Behinderungen. Es sind Menschen, die durch eine hirnorganische Veränderung in ihren Handlungsfähigkeiten eingeschränkt sind, Menschen, die in ihren Teilhabewünschen gefährdet sind, auch dadurch, dass die Umwelt nicht adäquat auf sie reagiert, sie mit Vorurteilen belegt, sie als Fremde erlebt und in pauschalierender Weise um ihre Rechte bringt: Seien es Freiheitsrechte, sei es das Recht auf eine adäquate ärztliche Behandlung, sei es das Recht auf eine Begleitung und Assistenz, die ihnen ein Leben ermöglicht, das das ihnen elementar Bedeutsame verwirklichen hilft – bis ans Lebensende. Wir wissen: Demenz ist ein Weg aus dem Leben und eine Heilung ist nicht möglich. So gehört zur Perspektive eines Lebens mit Demenz auch das Ende des Lebens. Menschen mit Demenz und ihre in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ebenfalls bedrohten Angehörigen: In Deutschland, in Österreich aber auch in der Schweiz sorgen sie sich intensiv und über Jahre um sie. Auch sie sind häufig allein gelassen und finden nicht immer die adäquaten Hilfen, die sie benötigen. Menschen mit Demenz stehen in unseren Rechtsordnungen aber vielfältige Rechte zu: -- Ein Recht auf Teilhabe. Teilhabe bedeutet, das dem jeweiligen Menschen elementar Bedeutsame am Leben der Gemeinschaft, der er sich zugehörig fühlt und der Gesellschaft, die ihn umgibt, zu ermöglichen. -- Ein Recht auf würdestiftende Rahmenbedingungen, die ihnen ein möglichst selbständiges, „autonomes“ Leben ermöglichen. -- Ein Recht auf wirksamen Schutz ihrer Freiheitsrechte, das recht selbstverständlich verletzt wird, wenn zu Fixierungsmaßnahmen in Heimen aber auch daheim gegriffen wird. -- Ein Recht auf Individualität. Menschen mit Demenz dürfen nicht „gleich gemacht“ werden, nur weil sie die Diagnose Alzheimer oder Demenz mit sich herumtragen. Wir dürfen sie nicht degradieren zu „Pflegefällen“. -- Ein Recht auf Schutz, dass ihnen kein Unheil geschieht, dass sie sich nicht selbst unwissentlich Schaden zufügen, dass sie in ihrer Würde und Integrität geschützt
> Einführung Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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werden auch vor Übergriffen, vor Fremdbestimmung, vor Eingriffen in ihre Freiheit und Gesundheit. -- Ein Recht auf fachliche Begleitung. Zum Glück wissen wir viel mehr über das, was Menschen gut tut, was wir medizinisch, fachpflegerisch, sozialarbeiterisch, therapeutisch tun können. Auf eine Begleitung nach dem aktuellen Stand des Wissens haben Menschen mit Demenz einen Anspruch. Dies gilt auch für ihre Angehörigen, für die fachliche Beratung und Unterstützung eine ganz wesentliche Hilfe und Entlastung bedeuten können. Menschen mit Demenz haben ein Recht auf Aktivität, auf die Möglichkeit, das was ihnen bedeutsam ist, auszudrücken, auf „dabei sein“, nicht ausgeschlossen zu werden, nur weil sie Menschen sind, die eine demenzielle Erkrankung haben. Sie haben ein Recht auf Teilhabe, das ist die eine Seite. Sie haben aber auch ein Recht auf Weltferne, auf ‚nichtmitmachen-müssen‘, auf in-sich-gekehrt-sein: Auch dies gehört zum Würdekonzept des Grundgesetzes: sich entziehen zu dürfen. Die ständige Überwachung, der Zwang, sich an Aktivierungsprogrammen beteiligen zu müssen: auch das kann auch ein Angriff auf die Würde eines Menschen darstellen, der introvertiert ist und der sich abgrenzen möchte, der mit all dem beschäftigt ist, was ihm seine Seele, seine Gedanken, sein Innenleben aufgeben. Menschen mit Demenz haben Rechte. Vielfältige. Das Grundgesetz und viele andere Gesetze von der Behindertenrechtskonvention bis zum Betreuungsrecht, von dem Pflegeversicherungs- bis zum Sozialhilferecht: All diese Gesetze enthalten Zusicherungen und Versprechen, die es in der Rechtswirklichkeit, menschenfreundlich und den einzelnen Menschen in seiner Lebenssituation unterstützend zu realisieren gilt. Menschen mit Demenz werden leider im Alltag immer wieder durch vielfältige Rechtsverletzungen beeinträchtigt. Es fängt an mit einer pathologisierenden Sprache: Die „Dementen“, „er hat „Alzheimer““, er ist nur noch ein „Pflegefall“. Mit dieser Sprache reduzieren wir Menschen auf den Fall der Pflege, auf eine medizinische Diagnose, auf seine Hilflosigkeit. Wir wissen aus der Behindertenrechtsbewegung, dass sich die Medikalisierung eines Menschen, die Reduzierung auf eine Diagnose als Menschenrechtsverletzung darstellt respektive eine solche verschleiert. Allzu verbreitet sind freiheitsentziehende Maßnahmen sowohl zu Hause als auch im Heim: 20% der zu Hause Versorgten sind alltäglich mit Fixierungen, Sedierungen oder abgeschlossenen Wohnungstüren konfrontiert, 340.000 Maßnahmen werden jeden Tag in deutschen Pflegeheimen ergriffen, die sich als freiheitsentziehende werten lassen und nur ein
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> Einführung
Bruchteil von ihnen, seien es fünf bis zehn Prozent, lassen sich fachlich rechtfertigen. Verbreitet sind Bevormundungen, fürsorglich getroffene Entscheidungen. Welche ärztliche Heilbehandlungsmaßnahme, welche Medikamentengabe ist wirklich mit dem Betroffenen respektive seinen Angehörigen und den rechtlich befugten Bevollmächtigten oder Betreuern besprochen? Hier finden sich vormoderne Legitimationsmuster: der Arzt entscheidet, ggf. die Angehörigen oder das Heim. Die Schweiz kennt hierfür eine weitreichende Legitimation, in Deutschland finden sich recht strenge Regelungen über die Entscheidungsbefugnisse im Zusammenhang mit ärztlichen Heilbehandlungen. Aber es hält sich so gut wie niemand daran. Auch kennen wir Fehl- und Unterversorgungen von Menschen mit Demenz: Die Medikamentengabe ist häufig fehlerhaft, Menschen mit Demenz erhalten zu viele, falsche, schädliche Medikamente – neben lebenswichtigen. 240.000 Medikationen am Tag allein in deutschen Pflegeheimen gelten als nicht „lege artes“1. Wie kann das passieren? Auch die Polypharmazie, die gleichzeitige Gabe unterschiedlicher Medikamente, stellt sich häufig nicht nur als ärztlicher Kunstfehler, sondern auch als weitreichender Rechtseingriff für den Betroffenen dar. Die immer wiederkehrenden Krankenhausaufenthalte sind für Menschen mit Demenz oft mit enormen Belastungen verbunden. Sie werden klammheimlich fixiert, ihr Bett an die Wand geschoben. Die wenigsten Krankenhäuser sind auf Menschen mit Demenz vorbereitet – und Menschen mit Demenz nicht auf die Spielregeln des Krankenhauses. Das führt zu Konflikten. Deren Austragung zu Lasten der Patienten mit Demenz lassen sich auch juristisch bewerten: Verletzung von Patientenrechten, ungerechtfertigte Fixierungen, Immobilisation mit der Folge einer Muskelatropie. Auch in der eigenen Häuslichkeit geht es nicht immer so zu, wie es das Recht will: Auch hier finden wir vielfältige fürsorgliche Bevormundungen. Sie haben ihren Grund nicht selten in Überforderungssituationen von pflegenden Angehörigen. Wir kennen ambulante Dienste, die sich inadäquat verhalten, ihre Leistungen wie am Fließband abgeben. Wir hören von Übervorteilungen von Menschen mit Demenz, die hilflos sind. Wir kennen aber gleichzeitig auch hoch engagierte Pflegekräfte, hilfsbereite Nachbarn, aufopferungsvoll pflegende Angehörige und einfühlsame Haushaltshilfen – auch aus Osteuropa. Zufriedenstellend ist die Versorgung zu Hause meistens nicht. Wir müssen vielfach von zahlreichen rechtlich relevanten Unterversorgungen ausgehen. Die verbreiteten alltäglichen Rechtsverlet-
1 Glaeske, Gerd (2011): Missbrauch von Neuroleptika. Gefährliche Medikamente statt Betreuung für Demenzkranke. In: Dr. med. Mabuse 36 (193), S. 42.
> Einführung
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zungen, sie haben auch mit unseren Einstellungen zu tun, mit unseren Bildern von einem Leben mit Demenz. Schnell ordnen wir Angehörigen so etwas wie eine Aufsichtspflicht zu: „Sie haben dafür zu sorgen, dass nichts passiert.“ Alle fühlen sich verpflichtet, Bewohner etwa vor dem „Entweichen“ aus den Heimen zu bewahren. Beschützende Stationen sind verbreitet. Nicht, dass nicht für den Schutz der Bewohnerinnen und Bewohner zu sorgen ist, nicht dass man sich nicht berechtigt sorgt um die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit. Unser Schutzdenken, das Denken in Kategorien der Aufsichtspflicht, die es juristisch gegenüber Menschen mit Demenz so nicht gibt, sie schränkt unsere Sichtweisen, unsere Handlungsmöglichkeiten zum Teil in problematischer Weise ein. Es gibt Alternativen zu einem einseitigen Schutzdenken. Man denke nur daran, welche Risiken etwa mit dem Aufstellen von Bettgittern oder dem Anlegen von Bauchgurten verbunden sind. Viele Menschen strangulieren sich und dies zumeist nur, weil es die Gurte oder Bettgitter gab. Viele stürzen über Seitenteile und verletzen sich viel schwerer als ohne. Ein Achtzigjähriger, der wochenlang fixiert wird und sich nicht bewegen kann, wird bis zum Lebensende sein Muskelgewebe nicht mehr aufbauen können. Auch Unwissenheit ist verantwortlich für Rechtsverletzungen und ein einseitiges Risikoverständnis: Hauptsache keinen Sturz. Hauptsache kein Entweichen aus dem Heim. Die Risiken, die mit den Rechtseinschränkungen verbunden sind, sie werden in ihrem rechtlichen Gehalt meist nicht gesehen. „Wer wenig hat vom Leben, soll viel haben vom Recht“, so formulierte Helmut Simon, ehemaliger Bundesverfassungsrichter mit seinem Schwerpunkt im Sozialrecht und einer hohen Sensibilität für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Nun ist das Bild vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß. Wir wissen, dass Menschen mit Demenz durchaus Glück empfinden und Lebensqualität erfahren. Wer weiß, ob ein Leben unter Bedingungen von Demenz nicht auch einige von uns nicht entdeckte positive Seiten hat. In jedem Fall gilt, dass die rechtlichen Zusicherungen für Menschen mit Behinderung – und zu ihnen gehören auch Menschen mit Demenz – ausgesprochen weitgehend sind. Hier hat sich in den letzten Jahren eine Menge getan. Seit 2009 gilt die Behindertenrechtskonvention in Deutschland, die die Menschenrechte von Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt rückt und die Realisierung ihrer Freiheitsrechte, ihrer Teilhaberechte zu einer staatlichen Aufgabe erklärt. Das Grundgesetz kennt mit seinem Bekenntnis zur Menschenwürde und der Garantie der Freiheitsrechte unveräußerbare Rechte – auch
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> Einführung
von Menschen mit Demenz. Das Betreuungsrecht, das seit 1992 in Kraft ist, gilt weltweit als vorbildlich. Es stellt die Personensorge in den Vordergrund, wehrt sich gegen Generalisierungen, beugt Diskriminierungen vor und lässt allein das Wohl des Betroffenen als Maßstab für Entscheidungen für und mit ihm gelten. Auch die sozialrechtlichen Zusicherungen nach den Sozialgesetzbüchern sind weitgehend. Wir kennen eine Vielfalt an Leistungen, Möglichkeiten ihrer Flexibilisierung, auch wenn ihnen gerade im Recht der Pflegeversicherung Grenzen gesetzt sind. Aber auch diese werden aufgeweicht. Auch das Recht der Pflegeversicherung öffnet sich für die individuellen Bedarfslagen. Es gibt ein ganzes Füllhorn an rechtlichen Zusicherungen. Nur gilt auch der Satz von Michel Foulcault: „Das Recht als solches ist nichts, es sei denn, ich verteidige mich“. Rechte für Menschen mit Demenz gilt es zu kennen, wahrzunehmen, durchzusetzen, zu verteidigen. Das kann anstrengend sein. Das ist aber notwendig, um die häufig in der Öffentlichkeit randständig werdende oder nicht wahrgenommene Realität des Alltages in ihrer menschenrechtlichen Problematik zur Geltung zu verhelfen. Wir haben viel Recht – haben wir zu viel Recht in der Begleitung von Menschen mit Demenz? Arbeitszeit von Pflegekräften im Wert von 2,75 Milliarden Euro wird jährlich für die Pflegedokumentation aufgewendet. Das ist zu viel. Pflegekräfte werden von der unmittelbaren Begleitung und Betreuung auf Pflege angewiesener Menschen durch überbordende Bürokratie, durch Bürokratieanforderungen abgehalten. Wir kennen Überwachungspflichten, denen Heimen unterworfen sind, die sie ständig und in vielfältiger Weise mit Aufsichtsinstanzen in Kontakt bringen. Das deutsche Recht kennt – international einmalig – gerichtliche Genehmigungspflichten, von freiheitsentziehenden Maßnahmen. Hier muss die Richterin oder der Richter kommen. Das ist aufwendig, das kostet Geld, auch für die Betroffenen selbst. So manche rechtlichen Regelungen entsprechen so gar nicht den Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger. Rechts- und Sozialnormen weichen auseinander. Dass Angehörige nicht als solche für ihre Angehörigen mit Demenz entscheiden können, wie das etwa in Österreich teilweise vorgesehen ist, das mag vielen nicht recht einleuchten. Dass es für die Entscheidungen über Heilbehandlungsmaßnahmen auch und immer die Entscheidung eines aufgeklärten Betreuers oder Bevollmächtigten braucht, passt nicht in ihre Logik. Da sprechen manche von einer Verrechtlichung von Betreuungs- und Pflegeverhältnissen.
> Einführung
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Hinzu kommen die Verpflichtungen zur Qualitätssicherung, die rechtlich mehr oder weniger konsistent ausformuliert wurden. „Pflegenoten“ werden verteilt. Sie sind nicht aussagekräftig. Sie beruhen auf fachlich mehr als fragwürdigen Grundlagen. Sie provozieren enorme bürokratische Aufwände. Alles muss dokumentiert werden, was Pflegekräfte in Heimen tun – sonst gilt es als nicht getan. „Zu viel Recht“, „zu viel Kontrolle“, sagen viele Träger von Heimen und ambulanten Diensten. Auch der Datenschutz ist manchen ein rotes Tuch. Muss denn jede Datenspeicherung (formal) gerechtfertigt werden? Wie ist es mit GPS und dem Datenschutz: Ist die Überwachung genehmigungspflichtig oder -fähig? Recht hat im Zusammenhang mit der Realisierung von Menschenrechten einen dienenden Charakter, keinen bestimmenden. Hier liegen die Kernaufgaben des Rechts im Zusammenhang mit der Lebenssituation von Menschen mit Demenz. In einer Zeit, in der sich die Politik angesichts von immer wieder publik gemachten Skandalen in der Pflege gegenüber der Öffentlichkeit in der Defensive empfindet, in einer Zeit, in der schnell in Kategorien der Haftung gedacht wird und die Schuldigen gesucht werden, da finden wir so etwas wie eine Verwaltungsdiktatur der Risikovermeidung mit einigen Kollateralschäden für die Betroffenen und die, die wirklich Verantwortung tragen. Das Recht, insbesondere das Sozialrecht, aber auch andere rechtliche Ausprägungen der Schutz- und Leistungsvorkehrungen für Menschen mit Demenz lesen sich nicht immer überzeugend. Man könnte sagen, hier ist das Recht verkehrt. Es ist gleichwohl eine Errungenschaft, dass wir eine Pflegeversicherung haben. Viele dort eingeräumte Ansprüche sind hilfreich und können kaum mehr weggedacht werden. Aber Pflegebedürftigkeit mit Demenz gleichzusetzen oder umgekehrt ist falsch. Die Reduzierung der Teilhabeansprüche auf sogenannte besondere Betreuungsleistungen im Pflegeversicherungsrecht überzeugt keineswegs. Hier diktiert das Geld die Sichtweise. Wir versagen Menschen mit Behinderung und Demenz Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Pflegeversicherung verschließt Teilhabeleistungen für Menschen mit Demenz, obwohl sie bisweilen überlebensnotwendig werden. Wir finden in der Praxis, etwa der Medizin und des Gesundheitswesens, Diskriminierung von Menschen mit Demenz, etwa in der geriatrischen Rehabilitation, die in vielen Regionen Deutschlands absolut notleidend ist, sowohl stationär als auch ambulant und in der eigenen Häuslichkeit. Gerade die Pflegeversicherung ist bekannt dafür, dass sie Grundsätze der Subsidiarität in einem entfalteten Sinne verletzt. Dem Staat, den Sozialversicherungsträgern wird hier eine
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> Einführung
Verantwortung in Sachen Qualität zugeordnet, die unangemessen ist: Sie bedroht die individuellen Rechte der Betroffenen, der Familie, der kleinen sozialen Lebenskreise, in denen immer noch die meisten Aufgaben der Integration, der Teilhabe und Pflege realisiert werden. Man sieht was dabei herauskommt, wenn man der Sozialadministration Aufgaben der Qualitätssicherung überträgt: Dokumentation ohne Ende und Sinn. Gleichzeitig profitieren viele von der Pflegeversicherung. Mit stationären Pflegeeinrichtungen lässt sich immer noch gut Geld verdienen. Große Träger, auch Wohlfahrtsverbände fahren mit der Pflegeversicherung recht gut und können sich, wenn auch nicht immer üppig, ganz gut refinanzieren. Das gilt nicht in gleicher Weise für ambulante Dienste, auch nicht für andere Formen häuslicher Unterstützung, denen eigentlich der Vorrang gebührt. Stakeholderinteressen dominieren. Sozialrecht ist und bleibt finanzielle Feinsteuerung mit Hilfe des Rechts – und dies (auch) im Interesse der Einrichtungen und Dienste. Aber auch unsere betreuungsrechtlichen und Vorsorgeinstrumente der Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht wirken nicht immer rechtssichernd: Mit ihnen lässt sich der Rechtsverzicht institutionalisieren und mit sozialen Erwartungen verknüpfen. Der formularmäßige Verzicht auf die PEG-Versorgung bei Menschen mit Demenz entspricht nicht immer deren Interessen, wird aber gleichwohl propagiert. Patientenverfügungen werden von Kliniken erwartet, auch um Rechtssicherheit zu erlangen und Haftungsrisiken vorzubeugen. Die Auseinandersetzung mit dem Recht und der Demenz, eine anthropologisch reflektierte Auseinandersetzung mit Rechtsfragen von Menschen mit Demenz gibt dem Recht dann eine wichtige Bedeutung zurück, wenn man sich auf die Grundrechte, auf Menschenrechte und die Funktionen des Rechtes besinnt. So lädt das Recht ein, Menschen mit Demenz als Mensch mit Behinderung zu sehen und Demenz als eine Lebensform in der Vielfalt von Lebensformen. Damit soll nicht das Belastende, das Schicksalshafte, auch die Krankheit nicht negiert werden. Das Recht lädt aber dazu ein, zu lernen mit Demenz zu leben. Das Recht unter dem Vorzeichen der Behindertenrechtskonvention fordert dazu auf, vom Grundgedanken der Wohlfahrt und der Fürsorge zur Selbstbestimmung und Autonomie zu gelangen und konsequent Hilfen vom Menschen her zu denken, von seiner Biografie, von dem „roten Faden seines Lebens“. Nicht die Entscheidung für, sondern mit ihm oder in Aushandlung mit anderen, die ihn kennen, steht im Vordergrund, etwa wenn es um assistierte Entscheidungsfähigkeit geht und um den
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Abschied von einer zum Diktum erklärten Einwilligungsunfähigkeit. Das Recht verpflichtet uns, den Weg vom Objekt- zum Subjektdenken einzuschlagen. Wir sprechen von Menschen mit Demenz statt von Pflegefällen. Im Mittelpunkt stehen ihre Individualität, ihr individuelles Glück oder auch ihre individuell bedrohten Freiheitsrechte. Das aktuell diskutierte Leitbild der Caring Community lädt dazu ein, Menschen mit Demenz nicht primär als Patienten zu sehen, sondern als Bürgerinnen und Bürger, als Mitbürgerinnen und Mitbürger, die unserer Teilhabe, die unserer Solidarität bedürfen, um teilhaben zu können. So werden Menschen mit Demenz von Problemfällen zu Trägern und Trägerinnen von Rechten. Die Realisierung der Rechte – sie fordert uns alle heraus. Sie lässt sich nicht an Institutionen delegieren, nicht an Aufsichtsinstanzen, nicht an die Pflegeversicherung. Damit wird ein Zusammenhang deutlich, der für jeden Rechtsstaat elementar ist: Recht und Kultur gehören zusammen. Die Realisierung von Rechten hat etwas mit der Realisierung von Werten in einer Kultur zu tun. So erinnert uns das Recht an eine Anthropologie, die die Leitbilder der Selbstverantwortlichkeit, der Weltoffenheit, der Würde und der Mitverantwortlichkeit in den Vordergrund stellt. Es lädt uns ein, unser Verhalten, das immer auch in Machtverhältnissen, in Abhängigkeiten eingebunden ist, zu reflektieren, die Ambivalenzen wahrzunehmen, die Interessenslagen mit zu bedenken und die Asymmetrien im Verhältnis zwischen Menschen mit Demenz und ihren Helfern in den Blick zu nehmen. Das moderne Recht lädt uns überdies ein, den Kontrakten als Modell für die Gestaltung von Hilfen ernst zu nehmen, Hilfen auszuhandeln, nicht nur mit dem Betroffenen selbst, sondern auch mit denen, die für ihn stehen und eintreten. Die Prozessorientierung des Lebens, die Wandlungsfähigkeit auch am Ende des Lebens in den Blick zu nehmen und nachzujustieren, darum geht es. Recht lässt sich schützen durch Verfahren, eine alte Einsicht aus der Rechtssoziologie: Verfahren schützt Recht. Die regelmäßige Reflexion der eigenen Einstellungen, Routinen – ggf. auch mithilfe der Supervisions-Instanz Betreuungsgericht – gehört zu einem aufgeklärten Umgang mit dem Recht, privat und in professionellen und institutionellen Zusammenhängen. Die Verbindung von Recht und Kultur macht schließlich deutlich, dass es sich bei den Rechten von Menschen mit Demenz nicht um eine rein private Angelegenheit handelt. Es geht um Freiheit des Menschen, um den öffentlichen Raum, in dem sich Menschen entfalten können. Ein Leben mit Demenz ist nicht allein ein privates Schicksal, weder für den Betroffenen noch für seine Angehörigen. Ein Mensch mit Demenz verdient die
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> Einführung
Sorge der Gemeinde, die ihn umgibt, und die soziale Aufmerksamkeit der Nachbarn und Freunde. Und es geht bei der Frage um Recht und Kultur auch um die Zuordnung von Ressourcen. Verbreitete Fixierung und Psychopharmaka wegen Ressourcenknappheit sind kulturell und rechtlich ein No-Go. Wir haben individuell und sozialstaatlich Ressourcen für ein Leben mit Demenz und zur Wahrung von Rechten zur Verfügung zu stellen. Das ist die politische Dimension des Verhältnisses von Recht und Demenz. In diesem Buch geht es um vielfältige Rechtsfragen, es geht darum, Rechte von Menschen mit Demenz herauszuarbeiten. Dies geschieht nicht vorrangig mit der Absicht, die mit Menschen mit Demenz Lebenden und Arbeitenden vor Haftung zu schützen. Auch das ist wichtig. Es geht zunächst darum, Rechte von Menschen mit Demenz wahrzunehmen und sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen, in den Zusammenhang der Lebensführung, unserer gesellschaftlichen Werte und des Umgangs mit dem Recht. Wir pflegen häufig einen nicht sehr offensiven Umgang mit dem Recht oder den Gesetzen. Wir sind als Bürger oder Angehörige froh, wenn wir mit dem Recht und seinen Agenturen nichts zu tun haben. So erklärt sich auch manches Wegducken vor rechtlichen Anforderungen sowohl beruflich als auch privat. Gleichwohl wohnt in uns allen so etwas wie ein Rechtsbewusstsein, ein Rechtsgefühl. Das gilt es ernst zu nehmen. Das Rechtsgefühl muss aber immer wieder reflektiert werden: angesichts unserer Wissensbestände und unserer Bilder von einem Leben mit Demenz. Wir kennen alle das, was die Verwaltungswissenschaftler „brauchbare Illegalität“ nennen: das Überschreiten von Grenzen des Rechtes, privat und beruflich. „Da wird schon nichts passieren“, „das wäre sonst zu kompliziert“, „das machen ja alle so“. Mit der verbreiteten „brauchbaren Illegalität“ sind Gefährdungen der Rechte von Menschen mit Demenz verbunden, Rechte, die wir im Alltag nicht sensibel genug wahrnehmen. Es gilt, eine andere Seite des Umgangs mit dem Recht stark zu machen, die in dem Satz „Das lasse ich mir nicht gefallen“ ihren Ausdruck findet. „Ich lasse es mir nicht gefallen“, dass die Krankenkasse ein Hilfsmittel ablehnt, ich lasse es mir nicht gefallen, dass ich aus einem Restaurant herauskomplementiert werde, weil wir stören, ich lasse es mir nicht gefallen, dass die richtige Pflegestufe abgelehnt wird, oder dass mein Angehöriger Medikamente bekommt, denen ich nicht zustimmen kann. Das setzt Kraft voraus, Wissen und Unterstützung. Von dieser advokatorischen Qualität, der Nutzung des Rechtes leben die Rechte von Menschen mit Demenz. Schließlich eröffnet das Recht vielfältige Möglichkeiten, in erwachsener Weise reflektiert Verabredungen zu treffen, Verträge zu schließen, Kontrakte einzugehen. Das gilt für die Hilfeplanung, das gilt für das Vorge-
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hen der Betreuer, das gilt für das Aushandeln in einer Hausgemeinschaft oder in der Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz, in der Angehörige, Profis und freiwillig Engagierte in geteilter Verantwortung die Assistenz und Begleitung gemeinsam „bewirtschaften“. Das gilt auch gegenüber Pflegediensten und Heimen, mit denen (auch) Verträge geschlossen werden, für die verbraucherschutzrechtliche Standards gelten und die sich gegebenenfalls verändern lassen. In unserem Umgang mit dem Recht zeigt sich in besonderer Weise unser tiefer liegendes Verständnis von Demenz und dem, was wir der Demenz an gesellschaftlicher und historischer Bedeutung zumessen: Vorbilder gibt es nicht. Die große Zahl von Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft ist neu und einzigartig
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> Einführung
Behindertenrechtskonvention (BRK) Bei der Behindertenrechtskonvention denkt man meist an Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung. Menschen mit Demenz werden oft nicht als Menschen mit Behinderung gesehen. Das ist nicht richtig so. Für Menschen mit Demenz gilt auch und gerade die Behindertenrechtskonvention mit ihrer konsequent menschenrechtlichen Betrachtungsweise von Behinderung: Für viele alltäglichen Aspekte der Teilhabe und zur Durchsetzung sozialleistungsrechtlicher Ansprüche eine ganz wesentliche Rechtsposition. Die BRK ist geltendes Recht und nicht sogenanntes Soft Law, wie etwa die Charta der Rechte Pflegebedürftiger. Es lohnt sich, sich die Behindertenrechtskonvention aus der Perspektive von Menschen mit Demenz zu erschließen. Menschen mit Demenz und die Rechte Behinderter – Die Behindertenrechtskonvention und ihre Bedeutung für das Thema Demenz Am 26. März 2009 ist die Behindertenrechtskonvention (auch) in Deutschland in Kraft getreten. Sie ist ein Dokument menschenrechtlicher Emanzipation von Menschen mit Behinderungen. Nach nur 5-jähriger Diskussion in der internationalen Staatengemeinschaft wurde sie verabschiedet und schreibt für alle Staaten, die sie ratifizieren, verbindlich die Achtung der den Menschen innewohnenden Würde, seine Autonomie und seine Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, fest. Sie statuiert das Prinzip der Nichtdiskriminierung und enthält Handlungsaufträge, die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und die Einbeziehung in die Gesellschaft von Menschen mit Behinderungen zu befördern (Art. 3 BRK).
Artikel 3 – Allgemeine Grundsätze a. die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit; b. die Nichtdiskriminierung; c. die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft; den Schutz und die Förderung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in allen politischen Konzepten und allen Programmen zu berücksichtigen;
> Behindertenrechtskonvention (BRK) Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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d. die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit; e. die Chancengleichheit; f. die Zugänglichkeit; g. die Gleichberechtigung von Mann und Frau; h. die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts und Wahrnehmung ihrer Identität
Die Behindertenrechtskonvention zielt auf Inklusion, ein Leitziel mit utopischem Gehalt. Für die staatliche Politik und für die Angebote der Behindertenhilfe im Kern bedeutet dies, dass die Förderung und die Unterstützung (künftig) den behinderten Menschen folgen müssen und nicht umgekehrt. Nicht Menschen mit Behinderungen in die stationäre Pflegeeinrichtung, die Angebote für Demenzkranke vorhält, sondern Angebote für Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen, dorthin wo sie leben (wollen), in ihre Wohnung, in ihr Quartier, in der Nähe ihrer Angehörigen? Die AutorInnen der BRK hatten Menschen mit Demenz nicht im Blick, als sie sie diskutierten und kodifizierten. Sie zielten zunächst auf Kinder, auf Frauen mit Behinderung, auf geistig-behinderte Menschen, die von ihrer Geburt an in der Schule, in Ausbildung und Beruf, aber auch in der Familie vielfältig diskriminiert werden. Aber selbstverständlich gehören auch Menschen mit Demenz in den Kreis der Menschen mit Behinderungen. Es ist von größter Bedeutung, Menschen mit Demenz als Behinderte zu sehen, um den gesamtgesellschaftlichen, aber auch, um den staatlichen Auftrag auf Teilhabe zu sichern. Menschen mit Demenz werden heute allenfalls am Rande als Menschen mit Behinderung wahrgenommen. Man könnte sagen, sie werden dadurch folgenreich diskriminiert, dass man sie nicht als behinderte Menschen sieht, allenfalls als pflegebedürftig. Sie erhalten kaum sozialstaatliche Unterstützung auf dem Niveau, das für andere Gruppen von Menschen mit Behinderungen inzwischen in Deutschland selbstverständlich ist.
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> Behindertenrechtskonvention (BRK)
Anliegen und Inhalt Was sind nun die zentralen Anliegen und Festlegungen in der Behindertenrechtskommission, die gerade für Menschen mit Demenz von Bedeutung sind?
1. Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde Neun Mal spricht die BRK von der Menschenwürde. Sie tritt allen historischen aber auch verfassungsrechtlichen sowie anthropologischen Traditionen entgegen, die Würde des Menschen von einer bestimmten Leistungsfähigkeit von einer Fähigkeit zum „geistigseelischen Werterleben“ oder zum vernünftigen oder verantwortlichen Handeln abhängig zu machen. Menschenwürde ist ein Statusrecht: Sie ist nicht nur als „vorhanden zu denken“, sondern sie ist als Achtungsanspruch jedwedem Menschen gegenüber in die Rechtspraxis einzuschreiben. Sie kennt neben der Dimension als rechtlicher Achtungsanspruch auch die soziale Dimension, die auf Herstellung von Würde durch würdeverträgliche und würdeherstellende Rahmenbedingungen, Lebensumstände, Kommunikation und Teilhabe gerichtet ist. Welche Konsequenzen die Ausbuchstabierung des Würdeprinzips für Menschen mit Demenz „hätte“, wird deutlich, wenn man den auch in Deutschland verbindlichen ICF-basierten Behinderungsbegriff heranzieht: Zentrale Dimension für Behinderung ist die Teilhabe und gesellschaftliche Integration, nicht die „Schädigung“ oder bestimmte Funktionseinbußen (Impairements and Disabilitys). Die Behindertenrechtskonvention macht es zur Aufgabe der Gesellschaft, ihre Teilhabe zu sichern, „Behinderte nicht zu behindern“. In Norwegen wurde diese „Philosophie“ eines Behinderungsverständnisses, die Grundlage der ICF ist, im sogenannten „Verantwortungsgesetz“ niedergelegt: Jede Gemeinde hat dort die Verantwortung, Menschen mit Behinderung eine selbstständige, ihren individuellen Wünschen entsprechende Lebensführung zu ermöglichen und zu lernen, mit ihnen zu leben. Heime gibt es für sie nicht. Menschen mit Demenz werden primär in ihrer Krankheit und ihrem Hilfebedarf gesehen. Ihnen gegenüber ist ein medizinischer Behinderungsbegriff am Wirken, der die Verletzung ihrer Menschenwürde verschleiert. Sie werden in der Gesetzessprache als „Menschen mit einem besonderen Aufsichtsbedarf“ bezeichnet, ihr „herausforderndes Verhalten“ erschließt ihnen die Aufnahme in den Kreis der Pflegebedürftigen und
> Behindertenrechtskonvention (BRK)
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Leistungen der sozialen Pflegeversicherung. So nachvollziehbar das alles ist und so sehr man Menschen mit Demenz sozialstaatliche Leistungen auf Versicherungsniveau wünscht, so wenig hat dies mit der Philosophie der Behindertenrechtskonvention zu tun. Menschen mit Demenz werden in die Logik des Leistungsrechts und die der Finanzierung von Pflegeeinrichtungen integriert, sie werden „Pflegebedürftig gemacht“, um ihnen helfen zu können und dies ganz wesentlich über defizitorientierte „Bedarfsfeststellungen“, über den besonderen Aufsichtsbedarf. Das Credo Menschenwürde orientierter Begleitungskonzepte für Menschen mit Demenz liegt gerade im Abschied von der „Aufpasserrolle“ und der „Pathologisierung“.
2. Freiheit Menschen mit Behinderungen haben Freiheitsrechte, ihnen wird das Recht auf Mobilität, auf die „Freiheit der Person“ als Menschenrecht zugesprochen. Damit sind wir mitten in der menschenrechtlich hochproblematischen Betreuungspraxis, die freiheitsentziehende Maßnahmen sowohl in stationären als auch in ambulanten Unterstützungsarrangements als alltägliches Phänomen kennt. 29 % der Pflegeheimbewohner in Deutschland sind von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen, etwa 350.000 Maßnahmen werden am Tag in stationären Pflegeeinrichtungen ergriffen. In der häuslichen Pflege sind 20 % der Menschen mit „eingeschränkter Alltagskompetenz“ von freiheitseinschränkenden und -entziehenden Maßnahmen betroffen, wie der MDK-Baden-Württemberg in einer Stichtagserhebung erhob. Was in England „Lazy Nurse“ ist, ist in Deutschland noch selbstverständlich und verbreitet. Nicht für die persönliche Lebensführung und individuelle Sicherheit erforderliche freiheitsentziehende Maßnahmen, sondern aus betrieblichen oder familiären Erfordernissen heraus ergriffene, gehören zur Tagesordnung im Alltag von Menschen mit Demenz. Und die Betreuungsgerichte und die Betreuer tragen dies vielfach mit. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegen behinderte Menschen dürfen nicht allein aufgrund ihrer Behinderung erfolgen. Das ist das Credo der BRK. Ein würdeherstellender und freiheitssichernder, aus der BRK abgeleiteter Handlungsauftrag wird nach individuellen, intelligenten und kreativen Umgangsformen mit anspruchsvollen Betreuungssituationen und Risikopotenzialen suchen, wie dies etwa im Zusammenhang mit dem Projekt und der Kampagne ReduFix-Praxis2 anschaulich zu „besichtigen“
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ist. „Anders Sehen – anders Handeln“, das Motto von ReduFix-Praxis entspricht ganz der Grundhaltung der BRK.
3. Anerkennung als Rechtssubjekt Artikel 12 BRK betont die individuelle Rechts- und Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen und fordert damit auch in Deutschland zu einer partiellen Revision der Konzeption des Betreuungsrechtes auf. Es gehört zwar mit zu den modernsten und rechtsstaatlich orientiertesten Erwachsenenschutzkonzeptionen weltweit. Aber auch das Betreuungsrecht und vor allem die betreuungsrechtliche Praxis kennen die sehr schnelle und weitreichende „Entscheidung für“ den Betroffen, für den behinderten Menschen, für den Menschen mit Demenz. Wie schnell hören Banken auf, bei Bekanntwerden der Diagnose Alzheimer, den erkrankten Bankkunden als Kunden weiter ernst zu nehmen. Wie schnell werden Entscheidungen über Heilbehandlungen tatsächlich von Angehörigen und nicht mehr vom Betroffenen selbst entschieden und beraten. Daher kommt es zu „routinierten“ Vertretungen, sei es nach Krankenhausaufnahme und im Zusammenhang mit einer Krankenhausentlassung und dem Versorgungsmanagement etwa bei Heimunterbringung. Der behinderte Mensch ist das Rechtssubjekt. Über ihn zu entscheiden „gehört sich nicht“. Entsprechend kennt das deutsche Betreuungsrecht in § 1901 BGB die Pflicht zur Führung der persönlichen Betreuung, zur Erörterung. Auch unterstellt es die rechtliche Handlungsfähigkeit und statuiert die Verfahrensfähigkeit von „Betreuten“. Die BRK stellt aber die Frage der Erforderlichkeit der Betreuerbestellung neu, provoziert ein Nachdenken über andere, nicht gleich auf rechtliche Vertretung hin ausgerichtete Form personaler Unterstützung von geistig Behinderten und von Menschen mit Demenz. Sie delegitimiert weite Teile der betreuungsrechtlichen Praxis aber auch der innerfamiliären, in jedem Fall die „das Entscheiden für“, die paternalistischen Praktiken und Bevormundungen (immer noch) kennen.
4. Bewusstseinsbildung Die BRK zielt auf ein verändertes Bild von Menschen mit Behinderungen in der Gesell schaft, auf einen Bewusstseinswandel, der die rechtliche Dimension des Achtungsanspruchs auf behinderte Menschen mit der sozialen Dimension der Herstellung von Würde und der Förderung der Teilhabe und gesellschaftlichen Integration verbindet.
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Respekt, Verstehen, Abstellung von alltäglichen Diskriminierungen und das Erlernen der Sprachen von Menschen mit Behinderung, von der Gebärdensprache bis zum „Dementisch“ gehört zu dem weitreichenden, auf gesellschaftliche Veränderung und Wertewandel ausgerichteten Anliegen der Behindertenrechtskonvention. Wer ist der Behinderte? Der Taubstumme oder der, der die Gebärdensprache nicht beherrscht? Diese Frage nimmt einen auf Interaktion hin ausgerichteten Behinderungsbegriff auf. Die Anliegen der „Aktion Demenz“, das Programm „Demenzfreundliche Kommune“ liest sich auch als Anwendung des Art. 8 BRK auf die Gruppe der Menschen mit Demenz. Zusammenfassend lädt die BRK dazu ein, Menschen mit Demenz als Menschen mit Behinderung zu sehen. Sie unterstützt alle Bemühungen, ein Leben mit Demenz zu entpathologisieren. Sie lässt die Einbeziehung von Menschen mit Demenz in den Kreis der Pflegebedürftigen, auf die es „aufzupassen“ gilt, als durchaus problematisch erscheinen: Macht Demenzkranke nicht zu Pflegefällen! Sie lädt weiterhin zu einer Revision, der Konzeption, aber vor allen Dingen auch der Praxis des Betreuungsrechtes ein. Seit dem 26.03.2009 ist sie verbindliches Recht in Deutschland. Man darf gespannt sein, wann die ersten sozialgerichtlichen Urteile über Eingliederungshilfe, über Hilfsmittel, über unverhältnismäßige Mehrkosten in der ambulanten Versorgung von Menschen mit Demenz unter Bezugnahme auf die BRK ergehen und mit ihr begründet werden. Spätestens dann wird aus dem „soft law“ der Konvention „strong law“.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Menschen mit Demenz sind rechtlich betrachtet Menschen mit Behinderung. Insofern gilt für sie die Behindertenrechtskonvention, die weitreichende rechtliche Zusicherung zur Sicherung der Teilhabe enthält.
Rechtsquellen Behindertenrechtskonvention Bundesgesetzblatt (BGBL) 2008 II, S. 1419
Weiterführende Hinweise Das Institut für Menschenrechte ist die Institution in Deutschland, die sich in hohem Maße für die Realisierung der Behindertenrechtskonvention engagiert. Es ist Aufgabe aller staatlichen Instanzen, insbesondere des Gesetzgebers dafür Sorge zu tragen, dass die Behindertenrechtskonvention in der Ausgestaltung und Formulierung der deutschen Gesetze berücksichtigt wird.
Adressen Institut für Menschenrechte, www.institut-fuer-menschenrechte.de/?id=467
Literatur Bielefeldt Heiner (2009), Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenkonvention, Berlin, Deutsches Institut für Menschenrechte, 3. aktualisierte und erw. Auflage
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Betreuung Das deutsche Betreuungsrecht, das im Jahre 1992 das Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht ablöste, gilt international als vorbildlich. Es betont das Wohl und die subjektiven Wünsche des Menschen, der rechtlich seine Angelegenheiten selbst nicht mehr allein besorgen kann, § 1901 BGB. Es verankert die Führung der Betreuung als persönliche Betreuung im Recht. Das deutsche Betreuungsrecht kennt zahlreiche Schutzvorkehrungen gegen im Alltag verbreitete Rechtsverletzungen, sei es bezogen auf Freiheitsrechte, auf Fragen der Heilbehandlung oder des Wohnungswechsels. Betreuungsgerichte haben eine beratende, eine Art supervisorische Funktion und sollen all denen zur Seite stehen, die sich der Aufgabe einer rechtlichen Betreuung, sei es als Familienangehörige, als Ehrenamtliche oder ausnahmsweise als Berufsbetreuer, widmen. Das Betreuungsrecht ist vielen in Deutschland immer noch nicht bekannt. Eine bekannte Fernsehmoderatorin bekannte im Jahre 2013, dass sie davon ausging, erwachsene Menschen könnten entmündigt werden und erhielten einen Vormund. Dabei ist der Gesetzgeber seinerzeit mit dem Betreuungsrecht angetreten, einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft anzustoßen. Das Betreuungsrecht mit seinen auf Akzeptanz, auf Schutz von Menschenrechten, auf Aushandlung hin ausgerichteten Konzeptionen, braucht ein breites Wissen in der Bevölkerung über das Betreuungsrecht, gepaart mit entsprechenden Einstellungen, damit Betreute nicht entrechtet, sondern wirksam in ihren Rechten geschützt werden. Für Menschen mit Demenz spielt das Betreuungsrecht eine große Rolle. Für Familien ist es nicht immer einfach zu akzeptieren, dass sie als Familienangehörige nicht einfach entscheiden können, sondern entweder eine Vollmacht oder aber die Rechtsstellung eines Betreuers benötigen, um für ihren nahen Angehörigen entscheiden zu können. Hilfe oder Drohung? „Nun pflege ich schon seit 10 Jahren meinen Mann. Nun kommt auch noch der Richter und will eine Betreuung einrichten und meinen Mann anhören. Was habe ich denn verbrochen?!“ Es ist nicht selten, dass Angehörige von Menschen mit Demenz mit Unverständnis darauf reagieren, dass sie als Ehefrau oder Tochter Entscheidungen über Fragen der ärztlichen Heilbehandlung nicht treffen dürfen, dass sie für die Fixierung, für das Aufstellen von Bettgittern der Genehmigung durch das Betreuungsgericht bedürfen, dass sie über-
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haupt selbst zu Betreuern bestellt werden müssen oder gar ihnen noch einen Betreuer zur Seite gestellt wird. Als Misstrauen wird dies erlebt, als kostspielige und wirklichkeitsferne Verrechtlichung unseres Alltages. Und sie kostet, die richterliche Anhörung, ebenso die Genehmigung eines Bettgitters oder eines Bauchgurtes. Auch die Führung der Betreuung ist mit Aufwand verbunden. So sind sie denn also doch verkappte Ankläger, die Richterinnen und Richter vom Betreuungsgericht? Nein! Sie stehen in der Tradition der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Ihre Aufgabe ist es nicht zu be- und verurteilen, sie treffen keine eigenen Entscheidungen, sondern vollziehen nur die der Bevollmächtigten und Betreuer nach. Sie haben eine Art Supervisionsfunktion in der Begleitung von Menschen mit Behinderung, eben auch von Menschen mit Demenz. Sie sollen beraten, sie sollen Situationen herstellen, in denen Lösungen in schwierigen Situationen erarbeitet werden können. Sie haben einen Beratungsauftrag, auch außerhalb förmlicher Anhörung, gemäß § 1837 BGB. Ihre Aufgabe ist es auch, Angehörige als Bevollmächtigte, gesetzliche Betreuer in ihrer – häufig einsamen – Verantwortungsrolle zu entlasten. Schwerwiegende Entscheidungen, sei es über Fixierungen, über den Verzicht auf lebenserhaltende medizinische Behandlung, gilt es zu flankieren, mit zu begleiten, die Verantwortung für die Entscheidung mitzutragen. Der Verzicht auf eine PEG, das Ergreifen von Fixierungsmaßnahmen oder der Verzicht auf dieselben: das sind Situationen, das sind Entscheidungen, die Menschen überfordern können. Das Betreuungsgericht ist nicht in jeder Situation – aber in entscheidenden – dazu da, soweit es das Gesetz vorsieht, solche Entscheidungen mitzutragen, mitzureflektieren und zu fällen – genauer zu genehmigen. Eine solche Sicht auf die Tätigkeit des Betreuungsgerichtes und der dort tätigen RichterInnen und RechtspflegerInnen entspricht nicht immer den gesammelten Erfahrungen, aber durchaus der Rolle, die dem Betreuungsgericht zugeordnet ist. Betreuungsgerichte sind keine Strafgerichte. Die Richterinnen und Richter sind als Experten für dilemmatöse Entscheidungssituationen gefragt. Hier haben sie ihre Expertise einzusetzen und sich in einem modernen Richterbild zu bewähren, das sich der Unterstützung von Angehörigen, Betreuern und Bevollmächtigten verpflichtet weiß, Entscheidungen für Menschen mit Demenz so zu treffen, dass sie ihnen gerecht werden. In einem solchen Verständnis kann die Justiz hilfreich sein, auch emotional: „Wir stehen nicht allein in der Verantwortung“.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Das Betreuungsrecht, eine rechtskulturelle Errungenschaft mit internationaler Vorbildfunktion, enthält Zusicherungen auf einen wirksamen Menschenrechtsschutz – auch für Menschen mit Demenz. Die Wirklichkeit des Betreuungsrechtes hält diesen hohen Ansprüchen nicht immer stand. Zu den zentralen Akteuren gehören neben den gesetzlichen Betreuern, seien es Angehörige, Ehrenamtliche oder Berufsbetreuer, Betreuungsbehörden, die Betreuungsvereine und das Betreuungsgericht, das sowohl über die Einrichtung einer Betreuung entscheidet als auch über besonders intensiv in Grundrechte eingreifende Entscheidungen des Betreuers, wie etwa freiheitsentziehende Maßnahmen, gefährliche Heilbehandlung oder die Wohnungsauflösung.
Rechtsquellen §§ 1896 BGB
Weiterführende Hinweise Adressen: Betreuungsgerichtstag e.V., www.bgt-ev.de/
Literatur Raack/Thar (1995): Betreuungsrecht. Ein Leitfaden. Köln, Bundesanzeiger.
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Bewegung Der aufrechte Gang und die Fähigkeit zur Mobilität sind für den Menschen konstitutiv mit seiner Identität, seiner Würde und seinem Anspruch auf Selbstbestimmung verknüpft. Auch für die Gesundheit und die Teilhabe ist Bewegung, ist Mobilität von größter Bedeutung. Den rechtlichen Fragen des Rechts und einer Pflicht (?) zu Bewegung wird im folgenden Abschnitt nachgegangen. Viel Hoffnung wird darauf gesetzt, mithilfe von Technik Mobilität zu fördern und gleichzeitig für Sicherheit zu sorgen: Besteht doch vielfach die Befürchtung, Menschen mit Demenz könnten sich verlaufen, könnten zu Schaden kommen, könnten Risikosituationen nicht richtig einschätzen. Aktuell werden an vielen Orten GPS und andere Techniken erprobt. Sie lassen sich gegebenenfalls als pflegerische oder auch als medizinische Hilfsmittel qualifizieren, wenn ihre Eignung zur Mobilitätssicherung und -förderung feststeht.
Recht auf Bewegung mittels der „Hilfe zur Pflege“ realisieren Für diejenigen, die Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe haben, also einkommensschwache Personengruppen mit Pflegebedarf, für sie kommen zur Sicherung der Mobilität auch Leistungen der Hilfe zur Pflege gemäß §§ 61ff. SGB XII in Betracht. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff des Sozialhilferechtes ist weit, er kennt keine Einschränkung auf die funktionalen Verrichtungen des SGB XI, sondern anerkennt auch sogenannte andere Verrichtungen und zu ihnen gehören zweifelsfrei solche der Mobilität – zur Realisierung des Rechtes auf Bewegung. Auch andere Leistungen kommen in Betracht, etwa Assistenzkräfte, der Einsatz von (Blinden-)Hunden, wie in Dänemark verbreitet realisiert. Menschen mit Demenz sind rechtlich betrachtet Menschen mit Behinderung. Insofern stehen ihnen auch Leistungen der Eingliederungshilfe zu, die noch einmal weitergehend und völlig unabhängig vom Pflegebedarf teilhabesichernde Leistungen vorsehen. Diese sind gerade für Frühbetroffene interessant, scheiden aber meistens aus, da die leistungsrechtlichen Voraussetzungen (Einkommen und Vermögen, Unterhaltsverpflichtungen) dem Anspruch auf Eingliederungshilfe entgegenstehen.
> Bewegung Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Recht auf Bewegung: Alle können beitragen! Das Wichtigste zur Realisierung eines Rechtes auf Bewegung ist die Einstellung des Betroffenen selbst, ist das Wissen um die Bedeutung der Bewegung bei Angehörigen, bei Professionellen und in der Gesellschaft insgesamt. Die Sicherung der Selbstständigkeit ist auch eine Obliegenheit eines jeden Menschen. Er ist hierin zu unterstützen, zu ermutigen, durch seine Umwelt, die aufhören muss, auch dadurch Exklusion zu betreiben, dass Angehörige von Menschen mit Demenz aufgefordert werden, doch auf sie aufzupassen und sie daran zu hindern, das Haus zu verlassen. Das Wichtigste zur Realisierung eines Rechtes auf Bewegung ist die Einstellung des Betroffenen und seines Umfelds selbst. Man kann das Recht auf Bewegung nicht allein an die Sozialadministration delegieren. Auch gehört die Offenheit in Vereinen, in Wandergruppen, in Sportclubs dazu, sich auch und immer wieder dem besonderen Anliegen und den Bewegungswünschen und -bedarfen von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zu öffnen. Man kann das Recht auf Bewegung nicht (allein) an die Sozialadministration delegieren. Im Bedarfsfall gilt es aber auch, sein Recht wahrzunehmen und Bewegungsangebote mithilfe des geltenden Sozialrechtes aufzubauen, abzusichern und in der Breite zu entfalten. Leider gibt es kaum gesundheitsökonomische Anreize, die dazu beitragen, Bewegungsangebote für Menschen mit Demenz auszubauen. Dabei kann durch Bewegung, kann durch Krafttraining, kann durch Mobilitätsförderung, kann durch teilhabesichernde Mobilitätsangebote das, was wir heute noch Pflegebedürftigkeit nennen, reduziert, hinausgeschoben wenn nicht gar vermieden werden. Das europaweit beachtete Modellprojekt „Gesundes Kinzigtal“ realisiert ein solches gesundheitsökonomisches Konzept, in dem es sich lohnt, in Prävention und Rehabilitation zu investieren. Dort arbeitet man mit den Sportvereinen, mit den Selbsthilfegruppen, mit den Kommunen zusammen, um auf Unterstützung angewiesene ältere Menschen – und dazu gehören häufig Menschen mit Demenz – über die Bedeutung von Bewegung aufzuklären und ihnen entsprechende Angebote zu machen, und dies in einer einladenden Art und Weise. Ökonomisch profitieren die Kassen und Betreiber des „Gesunden Kinzigtals“ von den menschenfreundlichen Effekten: Ihre Minderausgaben für Krankenhausversorgung, für die teuren Sturzfolgen, sie machen ihren Gewinn aus.
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Leider werden die Leistungen der Pflegeversicherung nicht miteinbezogen und so sehen Krankenkassen sich leider immer noch dazu verführt, ihre Aufgaben auf die Pflegekassen abzuwälzen: Hier kommt es nicht mehr auf den gesundheitsökonomischen Erfolg an. Die Pflegekosten teilen sich die Kassen. So gibt es auch Gründe, die in den Schnittstellen der Sozialleistungsgesetze zu suchen sind, die der gezielten Förderung der Bewegung im Wege stehen. Hier sollten sich die Selbsthilfegruppen zu Wort melden und für Bewegung sorgen. Immerhin ist die Deutsche Alzheimer Gesellschaft im Gemeinsamen Bundesausschuss der GKV beteiligt, wenn es um Fragen der Prävention und Rehabilitation geht.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Das Recht auf Bewegung, das Recht auf Freiheit der Personen sind grundrechtlich besonders geschützt. Sie sind eng verknüpft mit Selbstbestimmung und Würde des Menschen. Die Bewegung ist ein wichtiger Beitrag zur Erhaltung der Gesundheit in körperlicher und seelischer Hinsicht. Dieses Recht ausüben zu können, bedarf häufig der Unterstützung, für die es zahlreiche Rechtsansprüche gibt. Sowohl in Heimen als auch insbesondere auf kommunaler Ebene gibt es inzwischen eine Vielfalt von Lebensangeboten für Menschen mit Demenz: von Wandergruppen über Angebote in Sportvereinen. Vom Seniorentanz bis zur therapeutischen Unterstützung der Bewegung.
Rechtsquellen SGB V: §§ 20ff, 43 SGB XI: §§ 36, 45 b, c, 123 SGB XII: §§ 53ff, 61ff
Weiterführende Hinweise www.deutsche-alzheimergesellschaft.de
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Datenschutz Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem berühmten Volkszählungsurteil 1987 das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geschaffen. Es schützt die Bürgerinnen und Bürger davor, zum Objekt der Datensammelwut von Unternehmen und Staat zu werden. Im Datenschutzrecht gilt der Grundsatz, dass jede Datensammlung, die nicht gesetzlich geregelt oder persönlich erlaubt wurde, verboten ist. Nicht der sonst gern zitierte Satz: „Es ist alles erlaubt, was nicht verboten ist“, gilt im modernen Datenschutzrecht, sondern eben: Es ist alles verboten, was nicht speziell gesetzlich oder persönlich erlaubt wurde. Diese strengen Maßstäbe stehen in einem eklatanten Widerspruch zur Praxis der Datensammlung, der Datennutzung und der Datenübermittlung. Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger, allemal nach dem NSA-Skandal. Das gilt ganz besonders auch für das Gesundheitswesen, wo immer mehr Daten über die Bürgerinnen und Bürger gesammelt werden. Auch in der Pflege ist eine wahre Datensammelwut ausgebrochen, vordergründig unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten. Umso wichtiger ist es, das Datenschutzrecht in helfenden Berufen, da in Bezug auf vulnerable Menschen ernst zu nehmen und ihnen zur Geltung zu verschaffen. Das Datenschutzrecht lädt darüber hinaus ein zur Reflexion unseres Umgangs mit zum Teil intimen Informationen über Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen nicht alles wissen wollen. Nicht jeder Biografie-Bogen ist von Respekt gegenüber der Person getragen. Wissen ist Macht: Es gilt dies auch und gerade in helfenden Berufen zu reflektieren. Selbstverständlich brauchen wir Informationen, um im Einzelfall die richtige Hilfe gestalten zu können. Datensammlung und Datenverwendung müssen sich, so sie erlaubt sind, stets auf das Erforderliche beschränken, müssen einen klar benannten Zweck verfolgen und dürfen nicht die geschützte Vertrauensbeziehung zwischen Arzt, Pflegekraft, Sozialarbeiter und Klienten gefährden: Von dem Vertrauen, von der Diskretion lebt jede helfende Beziehung.
Das Antlitz des Anderen – Was uns der Datenschutz über Respekt lehrt! Alles dokumentiert? Die Risiken im Blick? Sturzgefahr gebannt, weglaufen ausgeschlossen. Wirft man einen Blick in die Pflegedokumentation in deutschen Pflegeheimen, erscheinen einem Pflegebedürftigkeit und Demenz als eine Aneinanderreihung von Risiken und Nebenwirkungen, die es zu beherrschen und die es zu kontrollieren gilt.
> Datenschutz Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Zehn Prozent der Gesamtausgaben der Pflegeversicherungen entfallen auf die Dokumentation von Pflege. 2,75 Milliarden Euro kostet das. Demenz als eine Aneinanderreihung von Risiken, ist das der richtige Umgang mit der Verletzlichkeit des Menschen unter der Bedingung der Demenz? Noch viel weitergehend als die Pflegedokumentation sind die neuen technischen Möglichkeiten der Überwachung: GPS, das den Alltag begleitende Smartphone mit Erinnerungsfunktion an die Medikamentengabe, der intelligente Fußboden, der die Abweichung vom normalen Bewegungsmuster zugleich identifiziert und an Kontaktpersonen meldet: Alles digital aufgezeichnet, einsehbar, auswertbar: Ganz neue Möglichkeiten für die „Pflege“ eröffnen sich durch die neuen Überwachungstechnologien in der Pflege. Sicher: So wichtig eine gute Pflegedokumentation für eine professionelle Pflege ist, so wenig sollte man jedem Technikeinsatz in der Begleitung von Menschen mit Demenz mit Skepsis gegenübertreten. Nur bedarf es sowohl bei der Pflegedokumentation als auch beim Technikeinsatz einer rechtlichen und ethischen Reflexion: Rechtlich geht es um die Aufzeichnung von personenbezogenen Informationen. Jede Ausscheidung, jede innere Unruhe, Mobilitätswünsche und „forderndes Verhalten“ berühren in hohem Maße die Persönlichkeit eines Menschen. Jede Aufzeichnung, jedes Nutzen, Speichern und Weitergeben entsprechender Information verlangt nach der deutschen Rechtsordnung die Einwilligung des Betroffenen und muss sich streng am Grundsatz der Erforderlichkeit orientieren. Und der Erforderlichkeitsgrundsatz wird bei dem Ausmaß an Pflegedokumentation verletzt, wenn routinemäßig dokumentiert wird, wann und wie oft ich Stuhlgang hatte, wann ich traurig war oder etwas Ungewöhnliches tat. Auch der Technikeinsatz, wie GPS, Blutdruck- oder Videoüberwachung, stellt sich als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen dar und berührt die Menschenwürde: Respekt vor Intimität ist gefragt. Unter ethischen Gesichtspunkten geht es um die Frage, welchem Menschenbild wir in der Begleitung von Menschen mit Demenz folgen und wie wir das Verhältnis von Überwachung und Sicherheit auf der einen Seite und Intimität und Privatheit auf der anderen Seite bestimmen: Als Einzelner, von Demenz Betroffener, Angehöriger, Pflegekraft, als Familie, als Pflegedienst oder -heim, und als Staat. Dabei muss es immer in die Entscheidung des Einzelnen – oder für den Einzelnen – gestellt sein, wie viel er von sich preisgibt. In der Dokumentation und/oder mittels Technik.
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> Datenschutz
Der bekannte französische Philosoph Levinas erinnert uns daran, dass wir dem anderen gerade dadurch einen grundlegenden Respekt entgegenbringen, dass wir in ihm, auch wenn wir uns ihm verantwortlich fühlen, immer den Fremden sehen, der uns in gewisser Weise ein Geheimnis bleibt. Die Tendenz zur lückenlosen Dokumentation und Überwachung ist nicht mehr geprägt von dem Blick in das Antlitz des Anderen.
Rechtliche Grundlagen Datenschutz
Allgemein
Bereichs- spezifisch
Berufs- spezifisch
Institutionsspezifisch
BDSG
SGB I,X
ZVR* Schweigepflicht §203 StGB
Kirche Offentl. Dienst
LDSG
Ifsg
Stpo, Zpo * Zeugnisverweigerungsrecht
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Datenschutz steht für die Idee, dass jeder Mensch grundsätzlich selbst entscheiden kann, wem wann welche seiner persönlichen Daten zugänglich sein sollen.
Rechtsquellen Bundesdatenschutzgesetz, Landesdatenschutzgesetze, kirchliche Datenschutzgesetze, Sozialgesetzbuch (Sozialdatenschutz)
Weiterführende Hinweise Adressen: Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff (www.bfdi.bund.de)
Literatur Datenschutz : Grundlagen, Entwicklungen und Kontroversen/Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2012
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Einwilligungs- und Rechtsfähigkeit Jede ärztliche Heilbehandlungsmaßnahme, jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit stellt sich ohne aufgeklärte Einwilligung des Patienten oder eines für ihn berechtigt Handelnden als Körperverletzung dar. So sieht es das deutsche Medizinrecht. Dabei ist es höchst umstritten, wann jemand als einwilligungsunfähig gilt. Gerade nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention sind stets auch die Äußerungen von Menschen mit Demenz zu berücksichtigen, wenn es um die Frage geht: Heilbehandlung ja oder nein. Das Konstrukt, das rechtliche Konstrukt der Einwilligungsfähigkeit muss immer wieder kritisch hinterfragt werden: im Alltag und grundsätzlich in der Gestaltung unserer Rechtsordnung. Die Diagnose Demenz wird von vielen gleichgesetzt mit einem weitgehenden Verlust rechtlicher Kompetenzen für die Betroffenen, zumindest mit einer Relativierung ihrer Aussagen. Das ist so keinesfalls richtig. Die Diagnose Demenz legitimiert weder zu einem tatsächlichen noch zu einem rechtlichen Paternalismus. Das macht zum einen die Behindertenrechtskonvention deutlich, wenn sie die rechtliche Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise betont und den sie unterzeichnenden Staaten einen verbindlichen Auftrag gibt, diese Zusicherung auch umzusetzen. Das ergibt sich aber auch aus der deutschen Rechtslage, die seit Einführung des Betreuungsrechtes eine Entmündigung nicht mehr kennt und gegen jede Generalisierung von Rechtseinschränkungen gerichtet ist, die etwa aus einer Diagnose oder aus einer Behinderung abgeleitet wird. Nicht die Einschränkung, vielmehr die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung ist Auftrag und Anliegen des Gesetzgebers. In für die Geschäftswelt etwas anstrengender und vielleicht Unsicherheit stiftender Weise geht das deutsche Recht von der rechtlichen Handlungsfähigkeit eines jeden volljährigen Bürgers aus. Er kann Rechtsgeschäfte abschließen, Vereinsvorstand sein, testieren, Einwilligungen geben und verweigern. Die Philosophie der Behindertenrechtskonvention und die darüber hinaus in Deutschland geltende Rechtslage sind aber mitnichten überall einstellungs- und handlungsleitend. Auch das deutsche Betreuungsrecht hat nicht (überall) dazu beigetragen, die Rechtstellung und die rechtliche Kompetenzen von Menschen mit mentaler Behinderung in der Praxis des Betreuungsrechtes zu verankern – es wird auch heute noch vielfach in paternalistischer Weise umgesetzt.
> Einwilligungs- und Rechtsfähigkeit Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Beispielgebend für die Aufnahme des Anliegens einer wirksamen Stärkung der Rechte von Menschen mit mentaler Behinderung – und damit auch der Menschen mit Demenz – ist der britische Mental-Capacity-Act aus dem Jahre 2005. In ihm sind fünf zentrale Prinzipien verankert. Sie gelten inhaltlich auch für Deutschland. Der Vorteil der britischen Art und Weise Gesetze zu formulieren liegt in ihrer starken Implementationsorientierung und thematischen Fokussierung. In den fünf Prinzipien wird -- klargestellt, dass jeder Mensch unabhängig von Art und Schweregrad seiner Behinderung oder Beeinträchtigung handlungsfähig ist, das heißt, auch dazu in der Lage, Entscheidungen (selbst zu treffen). -- erklärt, dass wenn und wo diesbezüglich Schwierigkeiten auftreten, die Verpflichtung für alle Beteiligten besteht, den Versuch zu unternehmen, eine Entscheidung des Betreffenden selbst zu ermöglichen und hierzu die entsprechende Information in zugänglicher Form verfügbar zu machen. -- betont, dass Individuen das Recht haben, unvernünftige oder unkluge Entscheidungen zu treffen. -- Nur dort, wo Individuen nicht in der Lage sind, eine Entscheidung mit rechtlicher Bindungswirkung zu treffen, müssen Dritte in deren bestem Interesse tätig werden. Dabei sollen sie einer Checkliste folgend andere Personen konsultieren, die gegebenenfalls wissen, was der oder die Betroffene für Präferenzen, für Werthaltungen oder Wünsche hat, um sie bei einer zu treffenden Entscheidung berücksichtigen zu können. -- Wird eine Entscheidung für den Betroffenen gefällt, dann muss sie sich an dem Grundsatz orientieren, dass sie die am wenigsten restriktive darstellt.
Notwendig: Advocazy – die Einforderung von Rechtsumsetzung Mit dem Mental-Capacity-Act wird versucht, Einfluss zu nehmen auf die öffentliche Wahrnehmung, auf die Haltungen, aber auch die Wissensbestände in der Gesellschaft. Er soll die Rechtskultur prägen. Flankiert wird das Gesetz durch advocacy-orientierte Strategien3, die in Großbritannien wohl ihre vitalste Ausdrucksform gefunden haben. Das Demencia Advocacy Network International (DASNI) ist ein Zusammenschluss von advocacy-orientierten Formen der Selbstorganisation von Menschen mit Demenz. Sie
3 Der Begriff Advocazy steht für Anwaltschaft, Vertretung, Fürsprache.
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> Einwilligungs- und Rechtsfähigkeit
bringen zum Ausdruck und fordern ein, dass nicht über Menschen mit Demenz, sondern mit ihnen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein Leben mit Demenz gestaltet werden sollen, -- sei es in Forschung, -- sei es in Politik, -- sei es in der Infrastrukturentwicklung mit Einrichtungen und Diensten mit ihren jeweiligen konzeptionellen Ausrichtungen oder -- sei es in der Qualitätssicherung: keine Evidenzbasierung von Standards ohne Beteiligung der Behinderten! Die Lebenshilfe, eine der wichtigsten Organisationen in Deutschland für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Angehörigen, hat inzwischen als gleichberechtigte Mitglieder in den Bundesvorstand Menschen mit geistiger Behinderung gewählt. Die Möglichkeit eröffnet auch nach geltender Rechtslage das deutsche Vereinsrecht, wenn bestimmte Spielregeln eingehalten werden, etwa dass die rechtliche Handlungsfähigkeit der vertretungsberechtigten Vorstandsmitglieder geklärt und gesichert wird. Die im britischen Mental-Capacity-Act niedergelegten Prinzipien lassen sich auch für die deutsche Rechtslage übertragen. 1. Das deutsche Betreuungsrecht geht davon aus, dass nur dann und soweit eine Betreuung eingerichtet werden darf und kann, so der Betroffene seine „eigenen Angelegenheiten“ nicht mehr zu besorgen in der Lage ist – und zwar krankheits- und/oder behinderungsbedingt. 2. Es gilt der strikte Grundsatz der Erforderlichkeit. Eine Betreuung darf nur dann und in soweit eingerichtet werden, als die rechtliche Handlungsfähigkeit nicht gegeben ist. Man darf in Deutschland also auch nicht eine Betreuung auf Vorrat einrichten, nur weil eine Demenzdiagnose vorliegt. Auch dann, wenn eine Betreuung bestellt wurde, bleibt die rechtliche Handlungsfähigkeit des Betroffenen bestehen. Er kann weiter Rechtsgeschäfte abschließen, sich rechtlich verbindlich äußern. Gerade im Frühstadium der Demenz besteht häufig eine passagere, situative Handlungsunfähigkeit, keine generelle. Hier sind dann gegebenenfalls, auch wenn es mühsam und mit den einen oder anderen Kosten verbunden ist, Verträge rückabzuwickeln, die in einer solchen Situation getroffen wurden. Als Entmündigungsersatz kennt das deutsche Betreuungsrecht den sog. Einwilligungsvorbehalt. Auch er macht rechtliche Erklärungen eines Menschen mit Demenz nicht obsolet, stellt sie allerdings unter den
> Einwilligungs- und Rechtsfähigkeit
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Vorbehalt, dass der Betreuer seine Einwilligung im Nachherein erteilt. Auch mit diesem Rechtsinstitut ist sehr vorsichtig umzugehen: Es kann schnell in einem problematischen Paternalismus münden. 3. Das Betreuungsrecht ist in Deutschland von einem dialogischen Prinzip geprägt. § 1901 BGB enthält die Verpflichtung für jeden Betreuer, die wesentlichen Angelegenheiten mit den Betreuten immer persönlich zu erörtern. 4. Diese Pflicht zur persönlichen Führung einer Betreuung ist auch eine Pflicht, sich mit den jeweiligen Wünschen, Willensäußerungen und sonstigen Bekundungen eines Menschen auseinanderzusetzen. Dabei gilt die Leitlinie, dass die Entscheidung am Wohl des Betroffenen und seinen Wünschen zu orientieren ist. Diese können durchaus unvernünftig oder für die Umwelt irritierend sein. Das deutsche Betreuungsrecht ist radikal subjektorientiert und verpflichtet den gesetzlichen Betreuer dazu, die Artikulation des Menschen, der ihm rechtlich anvertraut wurde, sich verstehend zu erschließen und dies in seinem Betreuerhandeln umzusetzen. Dort, wo möglich, hat der Betreuer Sorge dafür zu tragen, dass eine Entscheidung des Betroffenen selbst möglich wird und er sich mit einer (stellvertretenden) Entscheidung zurückhält. Die Willensäußerung, die Artikulierungen und Selbstaktualisierung von Menschen mit Demenz sind immer in einem Interaktionsprozess als bedeutsame Äußerungen aufzunehmen. Das deutsche Recht aber auch und gerade der britische Mental-Capacity-Act „zwingen“ die Beteiligten dazu, nicht vorschnell eigene Entscheidungen an die Stelle des Betroffenen zu stellen, sondern sich mit den Äußerungen des Menschen, um den es geht, auseinanderzusetzen und ihm den Raum und die Zeit zu lassen, die er für eine Entscheidung oder die Mitwirkung an ihr braucht. 5. Nicht nur bei rechtlich maßgeblichen Entscheidungssituationen, auch im Alltag der Pflege, in der Betreuung, in der häuslichen Versorgungssituation, sei es im Krankenhaus oder in Pflegeheimen, sind Willensäußerungen und andere Bekundungen eines Menschen – etwa mit schwerer Demenz zu beachten. Man darf sie nicht übergehen, nicht mit einer fürsorgerischen Semantik in ihrer Relevanz für irrelevant oder ausschließlich pathologisch abstempeln. Die Rechtsfähigkeit eines Menschen bleibt bis zu seinem Tod und zum Teil darüber hinaus bestehen. Das betrifft seine Freiheitsrechte, das betrifft sein Recht auf körperliche Unversehrtheit, das betrifft seine Würde. Sich bewegen wollen, aufstehen wollen, Kontakt aufnehmen wollen, einen elementaren Wunsch äußern: das alles sind Äußerungen, die in der individuellen Betreuungs- und Versorgungssituationen ernst zu nehmen sind. Nicht alle sind zu
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erfüllen, sie sind aber doch als Willens- und Wesensäußerung zu würdigen und in der Interaktion mit dem Betroffenen zu berücksichtigen. Es ist anspruchsvoll, es ist nicht immer kompatibel mit den Ressourcen, Menschen individuell – aber auch in Institutionen – zur Verfügung zu stehen. Es bleibt aber die rechtliche Vorgabe für den Umgang mit den Willensäußerungen und anderen Bekundungen eines Menschen mit Demenz. Gerade in familiären Zusammenhängen, in Partnerbeziehungen wird das Rechtsinstitut der Betreuung, das die deutsche Rechtsordnung für die Menschen parat hält, die ihre Angelegenheiten (rechtlich) nicht mehr selbst versorgen können, nicht genutzt oder wird bewusst auf eine Betreuung „verzichtet“. In Familien werden vielfach noch traditionelle Formen der Familiensolidarität als Legitimation für die Entscheidungen über und für den demenzkranken Angehörigen benutzt. Gerade in Familien besteht die Gefahr, dass die Beteiligten sich über die rechtliche Maßgeblichkeit von Äußerungen des Angehörigen aber auch ihre Befugnisse und ihre Verpflichtungen nicht hinreichend im Klaren sind. Wie schnell werden Entscheidungen für einen demenzkranken Angehörigen zwischen Arzt und Ehefrau gefällt, wie oft Behandlungsmethoden abgesprochen, ohne dass der betroffene Patient einbezogen wird. Nicht sehr viel anders ist die Situation dann, wenn eine Vollmacht ausgestellt wurde und auf der Grundlage der so erteilten Vertretungsmacht Entscheidungen getroffen werden. Vollmachten sind wichtig als Rechtsinstitute. Sie sollten aber stets in dem Bewusstsein geführt werden, dass sie keinesfalls dazu da sind, die Handlungsfähigkeit des Betroffenen einzuschränken, sondern nur dazu, dann handeln zu dürfen, wenn der Betroffene selbst nicht mehr kann respektive die Partner, die Geschäftspartner eine formelle Legitimation benötigen. Auch in Vollmachtsverhältnissen gelten die dargelegten Prinzipien, gilt die Vermutung der Handlungsfähigkeit von Menschen mit Demenz, sind die Entscheidungen mit ihm auszuhandeln, abzustimmen und ist er nach Möglichkeit in die Lage zu versetzen, die Entscheidung selbst zu treffen und zu bekunden. Die Behindertenrechtskonvention lädt uns dazu ein, auch unabhängig von der Betreuung und der Vollmacht Wege zu finden, Menschen, die situativ, die bezogen auf bestimmte komplexe Entscheidungskonstellationen nicht handlungsfähig sind, so zu begleiten, dass sie Subjekt in dem Management ihrer Angelegenheiten bleiben, die sie nicht (mehr) in jeder Hinsicht selbst regeln können.
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Entscheidungen und Machtverhältnisse reflektieren Die Rechtsverwirklichung von Menschen mit Demenz verlangt oft nach Beteiligung relevanter Personen, die im Leben eines Menschen mit Demenz eine Rolle spielen. Was ist in seinem Sinne? – Das können wir am besten in einem dialogischen Prozess herausfinden. Allein steht man schnell in der Gefahr, eigene Befindlichkeiten in die Entscheidungen einfließen zu lassen. Die Befähigung zu einer rechtlich wirksamen Entscheidung verlangt vielfach Begleitung, Support – nicht im Interesse einzelner, sondern des Betroffenen. Von daher sind die Überlegungen aus dem britischen Mental-Capacity-Act durchaus weise zu nennen: Sie verlangen von denjenigen, die Menschen mit Demenz oder einer anderen geistigen Behinderung begleiten, dass sie in ihr Unterstützungshandeln die Personen einbeziehen, die bedeutsam sind für den Menschen, die Bedeutsames über seine Willensrichtung, über seine Wünsche und Anliegen sagen können. Dadurch werden Entscheidungen mit, durch und für einen Menschen mit Demenz in einer Weise qualifiziert, die sowohl seinen aktuellen Äußerungen als auch dem Rechnung tragen, was dem Menschen wichtig war und ist.
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Service Teil Allgemeine Infos Voraussetzungen der Einwilligungsfähigkeit » Verständnis – Der Patient muss über die Fähigkeit verfügen, einen bestimmten Sachverhalt zu verstehen » Verarbeitung – Er muss die Fähigkeit besitzen, bestimmte Informationen, auch bezogen auf Folgen und Risiken, in angemessener Weise zu verarbeiten•Bewertung–Er muss die Fähigkeit besitzen, die Informationen, auch im Hinblick auf Behandlungsalternativen angemessen zu bewerten •Bestimmbarkeit des Willens–Er muss die Fähigkeit haben, den eigenen Willen auf der Grundlage von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung der Situation zu bestimmen
Literatur § 630 BGB: Klie, Pantel, Vollmann (2014): Autonomie und Einwilligungsfähigkeit von Menschen mit Demenz und Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention“, Autonomie und Einwilligungsfähigkeit bei Demenz als interdisziplinäre Herausforderung für Forschung, Politik und klinische Praxis, Themenheft „Informationsdienst Altersfragen“, i.E.
Rechtsquellen §§ 630 ff BGB, Art 21. BRK
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Ernährung Das Recht auf eine kalorisch ausreichende, diätetisch reflektierte und den Wünschen des einzelnen Menschen entsprechende Ernährung gehört zu den Grundstandards einer guten Versorgung im Heim und daheim. Dabei geht es bei der Ernährung um wesentlich mehr als nur um Flüssigkeits- und Nahrungsmittelzufuhr. Die Esskultur spielt eine große Rolle für ein gutes Leben, insbesondere dann, wenn man mit anderen zusammenlebt. Gleichzeitig wird, gerade in Heimen, nicht selten am Essen gespart und damit das Recht auf Ernährung tangiert. In unserer Kultur spielt das Essen eine große Rolle. Es geht um mehr als um ausgewogene Kost, um die Vermeidung von Mangelernährung und die Sicherung der Flüssigkeitszufuhr. In der Art und Weise unseres Essens offenbart sich ein Teil unserer Kultur. In den täglichen Speisen steckt für viele ein Stück Lebensgeschichte. Es sind die Genüsse, die mit dem Essen verbunden sein können, Gaumenfreuden, die kleine Fenster in den Himmel eines guten Lebens öffnen können. Diese Genüsse, diese kleinen Freuden, sie spielen für viele „verletzliche“ Menschen, für Menschen mit Demenz, eine große Rolle. Kommen sie in dieser Hinsicht zu ihrem Recht? Wenn ein Markus Biedermann in der deutschen Heimküche seine Spuren hinterlässt: wohl ja. Wenn der Küchenchef in einem Heim unter dem Diktat steht, statt der im Pflegesatz angesetzten 5,14 Euro nur 2,04 Euro pro Kopf für Bewohner auszugeben, um den Gewinn der Pflegeeinrichtung zu erhöhen: dann wohl nein. Viele auf den Profit ausgerichtete Heimträger reduzieren das Essen auf einen rein physiologischen Vorgang der Nahrungszufuhr. Solche Praktiken offenbaren die Schattenseiten eines Pflegemarktes, in dem nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern das Geld. Es gibt ein Recht auf eine dem Menschen gemäße und seine Esskultur berücksichtigende Mahlzeitenversorgung. Es gibt ein Recht auf die Wahl zwischen unterschiedlichen Mahlzeiten. Es gibt ein Recht darauf, die weltanschaulich und religiös geprägten Ernährungsgewohnheiten auch im hohen Alter unter den Bedingungen der Versorgung in einer Einrichtung, sei es in der Tagespflege, sei es im Heim, aufrecht erhalten zu können. Und es gibt ein Recht auf das Angebot einer ernährungsphysiologisch ausgewogenen Kost. Die muss man aber nicht wählen; es kann auch die Sahnetorte sein oder auch das Bier am
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Abend oder das Glas Wein. Generell im Alter wieder zum Kamillenteetrinker gemacht zu werden, hat wenig mit biografischer Arbeit zu tun und wenig mit Respekt oder Selbstverantwortlichkeit des Menschen. Wir dürfen auch ungesund leben. Wir müssen es nur selbst verantworten. Ich werde sicherlich in meiner Patientenverfügung, von der ich grundsätzlich nicht viel erwarte, zweierlei absichern: dass ich meine bisherigen Ess- und Trinkgewohnheiten fortsetzen kann, inklusive einem Glas Wein am Abend, und dass man bitte nicht dokumentiert, wie häufig ich zur Toilette gegangen bin und Stuhlgang hatte. In dieser Weise möchte ich niemals zum Objekt qualitätsgesicherter pflegerischer Observation werden. Das gehört zu den Rechten auf eine angemessene Mahlzeit, beziehungsweise auf eine gute Verpflegung:
1. Beteiligung – Mitbestimmung Der von der Einrichtung, in der ein Bewohner lebt, mit den Kostenträgern ausgehandelte Verpflegungssatz ist auch für die Verpflegung einzusetzen. Dabei kann der Bewohner oder Heimbeirat eine wichtige Rolle spielen: insbesondere durch die in den Landesheimgesetzen vorgesehene Beteiligung, auch und gerade an Fragen der Verpflegung. Es geht darum, Transparenz zu fördern und die Qualität der Versorgung zu sichern.
2. Das Recht auf Wahlmöglichkeiten Es besteht ein Anspruch darauf, Wahlmöglichkeiten der Essensversorgung zu haben und dies nicht nur zwischen passierter Kost und der nicht zerkleinerten Variante. Es ist in den jeweiligen Wohn- und Betreuungsverträgen, den Heimverträgen, zuzusichern und auch zu praktizieren.
3. Das Recht auf eine angemessene Versorgung Bewohner haben einen Anspruch auf eine ernährungsphysiologisch angemessene Versorgung, zumindest auf ein entsprechendes Angebot. Bei der ernährungsphysiologisch angemessenen Versorgung geht es nicht um Diät, sondern um die jeweilige, der gesundheitlichen Situation des Bewohners angepasste Ernährung. Er hat einen Anspruch darauf, diesbezüglich beraten zu werden. Eine vitaminreiche, eine abwechslungsreiche und eine über den Tag gut verteilte Verpflegung gehören dazu. Auch Zwischenmahlzeiten werden von der jeweiligen Einrichtung geschuldet, inklusive einer ausreichenden
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Flüssigkeitszufuhr. Der Tee und das Mineralwasser dürfen nicht gesondert in Rechnung gestellt werden.
4. Das Recht auf Fortsetzung der Verpflegungsgewohnheiten Bewohner haben das Recht, auch ihre Verpflegungsgewohnheiten fortzusetzen, insbesondere die weltanschauliche und religiös begründeten. Das gilt für Vegetarier genauso wie Muslime, die kein Schweinefleisch essen. Hierauf hat sich die Einrichtung einzustellen. Es ist ein Menschenrecht, den Glaubensüberzeugungen auch in Punkto Ernährung folgen zu können.
5. Das Recht auf eine geeignete Darbietung des Essens Die Bewohner von Heimen haben ebenfalls das Recht, dass ihnen die Mahlzeiten in einer Weise dargeboten werden, die für sie angemessen und geeignet ist. Für manche ist das der gemeinschaftliche Esszimmertisch, die Wohnküche mit entsprechender Esskultur. Für andere, mobile, unruhige mag es das Fingerfood sein, das gut verteilt und dargeboten wird. Auch in der Darreichungsform und in der Konsistenz ist auf die individuellen Fähigkeiten und auf gegebenenfalls bestehende physiologische Einschränkungen Acht zu geben. Vor gar nicht allzu langer Zeit ist ein Koch eines luxuriösen Seniorenstiftes an einem von ihm selbst zubereiteten Stück Kalbsfleisch erstickt. Bei Menschen mit Schluckbeschwerden ist es geboten, entsprechenden Risiken entgegenzuwirken.
6. Das Recht auf eine orale Ernährung Der Bewohner hat ein Recht auf eine orale Ernährung, gegebenenfalls mit persönlicher Assistenz. Der schnelle Griff zur Magensonde widerspricht nicht nur dem Qualitätsmerkmal guter Pflege, eine aktivierende Pflege zu sein. Sie widerspricht auch der Bedeutung des Essens, als aktive Handlung, als Genuss, als kommunikatives Geschehen. Aus Personalknappheit oder -engpässen heraus veranlasste Magensonden sind menschenrechtsverletzend. Eine Sondenernährung kann geboten sein, um die kalorische Versorgung sicherzustellen – etwa, wenn die Schluckbeschwerden so stark sind, dass auf diese Weise nicht mehr die gewünschte Ernährung erfolgen kann. Doch auch in diesen Fällen ist ergänzend immer eine orale Darreichung geboten, wenn dies dann von den Betroffenen gewünscht wird, oder eine für ihn stellvertretend handelnde Person diesen Wunsch in ihm erkennt. Die Versorgung von vulnerablen, verletzlichen Menschen nicht von der Pflege her zu denken, sondern von der Kultur, auch von der Esskultur, das macht gute Einrichtungen
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aus. Es sind Einrichtungen, in denen vornehmlich gewohnt wird und nicht die Pflege im Vordergrund steht. Die vielen Bemühungen und Konzepte in Richtung Esskultur im Heim bieten hier vielfältige Anregungen, wie eine menschenwürdige Versorgung gelingen kann. Durch Gerüche, durch Geschmack, durch eine entsprechend gestaltete Esskultur, eine anregende Atmosphäre, ein lebendiges Miteinander, kann ein würdevoller Umgang miteinander gelebt und gefördert werden. Auch die Einbeziehung von Angehörigen, die Initiierung von gemeinsamem Kochen, vielleicht auch das Ausgehen: das sind Varianten des Umgangs mit dem Thema Mahlzeiten und Esskultur im Heim. Die Caritas-Betriebsführungs- und Trägergesellschaft mbH (CBT) praktiziert seit vielen Jahren eine heimvertragliche Praxis, in der auch das Essen abgewählt werden kann, auch in der vollstationären Versorgung. Hier können Angehörige ihre Angehörigen samt Freunden bekochen, kann Teilhabe gelebt werden, indem auch außerhalb der Einrichtung gegessen oder externes Essen bestellt wird. Auch das ist ein Stück Normalität; mitnichten überall sinnvoll und zu realisieren, aber doch als Denkanstoß hilfreich: Es gibt ein individuelles Recht auf eine gute Mahlzeit. Das jeweils von den Kostenträgern anvertraute Geld wird nur treuhänderisch für die Bewohnerinnen und Bewohner verwaltet. Sie haben ein Recht auf eine Mahlzeit, die zu ihnen passt, die ihnen schmeckt und behagt und das Geld wert ist.
„Wir können ihn doch nicht verhungern lassen!“ Sondenernährung – ja oder nein? Ernährung per Sonde? Die Frage gehört zu den besonders schwierigen: „Wir dürfen unseren Vater doch nicht verhungern und verdursten lassen“, sagen die einen. „Lassen wir ihn ruhig sterben und aus dem Leben gehen“, sagen die anderen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr zum Thema in ihrer Patientenverfügung gemacht – häufig mit der Festlegung, auf eine künstliche Ernährung und das Legen einer PEG-Sonde zu verzichten. Die künstliche Ernährung bei Menschen mit Demenz erfolgt häufig über eine sogenannte PEG-Sonde. PEG steht dabei für perkutane endoskopische Gastrostomie. Es gibt Situationen, in denen sie ärztlich indiziert ist: Zum Bespiel, wenn aufgrund einer schweren Schluckstörung die ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr nicht mehr sichergestellt werden kann und der Patient durch chronische Unterernährung und
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Flüssigkeitsmangel geschwächt wird, sich dadurch die Sturzgefährdung erhöht und Verwirrtheitszustände provoziert werden. Es ist selten, dass eine PEG medizinisch indiziert ist. Dies gilt insbesondere für fortgeschrittene Stadien schwerer Demenzerkrankung, zum Beispiel beim Morbus Alzheimer. Nach aktueller internationaler Forschungslage hat die Sondenernährung keinen „demonstrierbaren“ Effekt auf den Verlauf der Krankheit und die Lebensdauer. Medizinisch gesehen ist die Sondenernährung „vielleicht nicht wirkungslos, aber medizinisch in der Regel nicht ratsam“, so Dr. Taylor, Direktor in einem Washingtoner Krankenhaus. „Man dürfe einen Patienten mit fortgeschrittener Demenz, der nicht isst, nicht vergleichen mit einer gesunden Person, die in der Wüste Hunger leidet“, so Dr. Golick, Chefärztin in Boston. Es ist zunächst wichtig, nach Erklärungen dafür zu suchen, warum ein Patient mit fortgeschrittener Demenz nicht ausreichend Nahrung zu sich nimmt. Ist er deprimiert, hat er Schmerzen? Ist das Essen ansprechend, benötigt er Hilfe beim Essen? Hat er die Fingerfertigkeit für das Essen vom Teller verloren? Muss man ihn an das Essen oder sogar das Kauen und Schlucken erinnern? Keinesfalls dürfen Magensonden gelegt werden, um Zeit zu sparen oder den Personaleinsatz zu rationalisieren. Es sind alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die die Ernährung und die Flüssigkeitszufuhr durch den Mund möglich machen. Fingerfood, kleine Portionen, geduldige Darreichung des Essens, ruhige Atmosphäre: Hilft das alles nichts, wird man sich zu beraten haben. Familienangehörige mit den Ärzten und Pflegekräften. Keiner hat für sich genommen das Entscheidungsrecht. Gemeinsam gilt es herauszufinden: handelt es sich um eine palliative Situation, indem es im Wesentlichen darum geht, dem Menschen den Weg aus dem Leben so gut wie möglich zu bereiten? Oder ist eine gesundheitliche Krisensituation mithilfe einer PEG zu überbrücken? Es sind die möglichen Komplikationen, die mit dem Legen einer Magensonde verbunden sind, in den Blick zu nehmen: Nicht selten wachsen Magensonden in die Bauchwand ein, kommt es zu Komplikationen, nestelt der Betroffene an der Magensonde, versucht, sie zu entfernen und wird gegebenenfalls fixiert, um dies zu verhindern. Maßgabe für die Entscheidung sind der Wille des Betroffenen und sein Wohlergehen. Dabei können früher getroffene Äußerungen hilfreich sein, müssen es aber nicht. In Patientenverfügungen lassen sich PEG Entscheidungen schwerlich vorwegnehmen. Entscheidender sind die Einschätzung der Situation und aktuell wahrzunehmende Lebens- und We-
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sensäußerungen, die Hinweise darauf geben können, ob ein Mensch etwas zu Essen und Trinken wünscht oder nicht. Eine Verpflichtung der Ärzte zum Legen einer Magensonde gibt es in der Regel nicht. Sie muss indiziert sein. Das Legen einer Magensonde bedarf überdies immer einer Einwilligung. Kann die Einwilligung nicht durch den Patienten selbst gegeben werden, so müssen andere für ihn entscheiden, rechtliche Betreuer oder Bevollmächtigte. Sie müssen wie die Patienten von den Ärzten aufgeklärt werden, §§ 630 c ff. BGB. Eine ethische Fallbesprechung kann helfen. In ihr werden mit externer Moderation das Für und Wider, die unterschiedlichen Erwägungen von Angehörigen und eine fachliche Einschätzung gemeinsam erörtert. Angehörige sollten sich durch Kliniken oder Pflegeheime keineswegs unter Druck setzen lassen, dem Legen einer PEG-Sonde ohne ausführliche Erörterung zuzustimmen. Richtig schwierig wird es, die Ernährung über eine PEG-Sonde einzustellen, wenn sie einmal liegt. Auch wenn das Leben durch das Legen einer PEG Sonde und die künstliche Ernährung in der Regel nicht verlängert wird, ist trotzdem jede PEG ein schwerwiegender Eingriff, der menschlich, fachlich und rechtlich sehr gut bedacht sein will.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Die Ernährung ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. Ausgewogenes Essen und Trinken trägt bei zum Wohlbefinden und hat auch direkte Auswirkungen auf die gesundheitliche Situation. Ein Sprichwort besagt „Essen hält Leib und Seele zusammen“. Dies gilt nicht nur für Jung und Alt, sondern für geistig rege Menschen ebenso wie für Menschen mit Demenz.
Rechtsquellen z. B. in § 1 LWTG Rheinland Pfalz, Heimrecht der Pflegeversicherung finden sich allgemeine Hinweise auf eine angemessene und den persönlichen Bedürfnissen entsprechende Ernährung.
Weiterführende Hinweise Bei Qualitätsprüfungen wird in besonderer Weise die Frage der Mangelernährung und Fragen der unzureichenden Versorgung mit Flüssigkeit thematisiert. Mindestens so bedeutsam wie die Veränderung und Mangelernährung ist die Unterstützung einer entsprechenden Esskultur sowohl im Heim, als auch daheim.
Adressen www.wegweiser-demenz.de/ernaehrung.html
Literatur Biedermann/ Hoffmann (2005): Der Heimkoch: Eßkultur im Heim. Hannover, Vincentz Rückert, Willy, et al. (2007): Ernährung bei Demenz-Gemeinsam für ein besseres Leben. Bern, Huber
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Freie Wahl des Wohnortes Die Behindertenrechtskonvention gesteht jedem Menschen, auch den Menschen mit Behinderung zu, ihren Wohnort frei wählen zu können. Gilt das auch für Menschen mit Demenz? Und wenn schon das Leben in der eigenen Häuslichkeit nicht mehr möglich sein sollte, kann dann denn wenigstens die Wohngruppe, eine Wohngemeinschaft oder ein Heim ausgewählt werden, sodass es zum Menschen passt, in der Nähe seines Wohnortes oder naher Angehöriger gelegen ist, seinen weltanschaulichen Vorstellungen, auch den konzeptionellen Präferenzen entspricht? Die meisten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wünschen sich, im hohen Alter zu Hause wohnen bleiben zu können, und zwar auch dann, wenn sie auf Unterstützung anderer angewiesen sind. Viele zweifeln aber eher daran, dass sie im Bedarfsfall auch wirklich zu Hause versorgt werden können. Insbesondere Menschen, die allein und fernab von ihrer Familie leben, sind skeptisch. Wir wissen: Nicht der objektive Gesundheitszustand provoziert Heimeinzüge, sondern die Qualität des sozialen Netzwerkes entscheidet über die Frage: Wohnen daheim oder im Heim. Soziale Netzwerke gilt es, präventiv zu pflegen und professionell zu unterstützen. Moderne Quartiersansätze und Case Management sollten häusliche Arrangements ermöglichen, Familien entlasten oder gar ersetzen. Wir wissen aber auch von den Grenzen häuslicher Versorgungsarrangements, von der Isolation, von eingeschränkter Teilhabe und gar von Lebenssituationen, die geprägt sind von freiheitsentziehenden Maßnahmen: Jahrelang nicht mehr das Haus, die Wohnung verlassen zu können, ist für manche hochbetagte Menschen zum Schicksal geworden. Eine Romantisierung der häuslichen Pflegesituation ist in keinem Fall angesagt. Doch gilt: Die Entscheidung, wo wir leben wollen, ist unsere Entscheidung. Und: Die Vorstellung, ein Großteil der Bevölkerung würde künftig in Heimen leben, ist weder eine kulturell noch ökonomisch tragfähige Perspektive. Heime sind mentalitätsgeschichtlich out, versorgungspolitisch gewinnen sie aber weiter an Bedeutung. Eine häusliche Versorgung wünschen sich die meisten Menschen. Um sie sicherzustellen, braucht es einen intelligenten Hilfemix aus Angehörigen, Nachbarn, Freunden, Profis und beruflich Tätigen. Oftmals wird ein solcher Mix nur in wohnortnahen klei-
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nen Versorgungseinheiten zu realisieren sein. Sie gewinnen vor allen Dingen dort an Zuspruch, wo Menschen sich mit ihrem Wohn- und Lebensort identifizieren. Die Entwicklung einer wohnortnahen Infrastruktur und kleiner Wohneinheiten entspricht aber nicht dem Trend zur Ökonomisierung, in dem größere und ökonomisch interessantere Einrichtungen das Rennen machen. Auf diese Weise wird dem Recht auf freie Wahl des Wohnortes nicht gerade zur Durchsetzung verholfen. Die Privatsphäre, die Wahl der Wohnung, gehört zu den in unserer Verfassung besonders hoch geschützten Rechtsgütern. Die Behindertenrechtskonvention (BRK) spricht das Recht auf freie Wahl des Wohnortes grundsätzlich allen Menschen mit Behinderungen zu. Artikel 19 BRK gilt auch für Menschen mit Demenz. „Wohnen und sterben, dort wo ich hingehöre“, so formuliert Klaus Dörner sein versorgungspolitisches Credo, dass dem Rechtsgut auf freie Wahl der Wohnung entsprechend Raum gibt. Das Betreuungsgericht muss Kündigungen prüfen. Entscheidungsbefugt hinsichtlich Heimeinzug ist nur ein Betreuer oder Bevollmächtigter mit entsprechendem Aufgabenkreis. Eine wie selbstverständlich praktizierte „Heimeinweisung“ nach Krankenhausentlassung darf es nach heutiger Rechtslage nicht geben: „Das geht gar nicht!“ Nicht umsonst kennt das Pflegeversicherungsrecht die Kurzzeitpflege als befristete Versorgung zur Abklärung von Versorgungs- und Wohnoptionen. Nach dem Sozialrecht darf erst dann das Einkommen unterhalb der festgelegten Einkommensgrenze herangezogen werden, wenn die Betreffenden dauerhaft in einem Heim leben. Und schließlich: Es gibt einen verbindlichen Rechtsanspruch auf altersmedizinische Rehabilitation. Aber Menschen mit Demenz können sich häufig nicht sicher sein, dass sie diesen auch einlösen können. Zu Recht haben Zivilgerichte in der Vergangenheit Krankenhäuser und andere in Regress genommen, wenn Wohnungen ohne Zustimmung des Betroffenen und Prüfung anderer Versorgungsoptionen aufgelöst wurden: Sie mussten dann auf ihre Kosten eine neue Wohnung und die Wohnungseinrichtung beschaffen. Und manchmal sogar Schmerzensgeld zahlen. Durch eine gute kommunale Altenplanung und eine verlässliche Kooperation aller Beteiligten lassen sich viele unnötige und unerwünschte Heimaufnahmen vermeiden. Am eindrücklichsten sind die Zahlen aus der Stadt Ahlen. Hier konnte die Heimquote um 40 Prozent abgesenkt werden. Dort, wo Familien über ausreichende eigene „Case-Ma-
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nagementkompetenzen“ und finanzielle Mittel verfügen, ist die Wahl des Wohnortes noch vergleichsweise frei. Gegebenenfalls bedient man sich osteuropäischer Pflegekräfte oder anderer „Lösungen“, auch wenn sie nicht immer das grelle Licht des Rechts ertragen. Die Pflegeversicherung mit ihrem begrenzten Leistungsumfang – in der Regel eine Stunde pro Tag – bietet eben oftmals keine Antworten auf komplexe und umfassende Versorgungsbedarfe. Wird der Sozialhilfeträger mit ins Boot geholt, kommt er schnell mit dem Argument der unverhältnismäßigen Mehrkosten. Kostet die häusliche Versorgung für den Sozialhilfeträger mehr als die Versorgung in einem Heim, dann kann er der die Kostenübernahme für die häusliche Versorgung gegebenenfalls verweigern. Das gilt aber nur dann, wenn die Versorgung in einem Heim fachlich angemessen und den Betroffenen zumutbar ist. Verliert er durch eine Heimunterbringung die Möglichkeit einer weiteren Betreuung durch Nachbarn, Freunde und Angehörige, da das Heim für regelmäßige Besuche zu weit entfernt ist, dann müssen die Kosten gegebenenfalls vom Sozialhilfeträger übernommen werden. Ähnliches gilt für pflegebedürftige Menschen in Pflegestufe 1, die in eine ambulant betreute Wohngruppe ziehen wollen. Wenn mehr Sozialhilfe für eine Wohngruppe als in einer Unterbringung in einem Heim gezahlt werden muss, berufen sich manche Sozialhilfeträger auch hier auf unverhältnismäßige Mehrkosten. In Musterverfahren vor den Sozialgerichten ist zu klären, ob sich die Sozialhilfeträger auch hier noch auf die unverhältnismäßigen Mehrkosten berufen dürfen. Eine solche Praxis verstößt nicht nur gegen den Grundsatz ambulant vor stationär, sondern beachtet auch nicht hinreichend das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen. Es sind die Bezugspunkte der Menschenwürde und der Selbstbestimmung, die das Wunsch- und Wahlrecht nach der Behindertenrechtskonvention besonders bedeutsam machen. Wenn schon eine Versorgung außerhalb des eigenen Haushaltes oder der gewünschten Wohngruppe nicht mehr abzuwenden ist, dann besteht zunächst das Recht auf freie Wahl der Einrichtung. Das gilt insbesondere dann, wenn die Versorgung in einem gut geführten Heim sich als bessere Alternative für Lebensqualität und Teilhabe darstellt. Auch hier greifen Sozialhilfeträger immer häufiger dazu, die Bewohnerinnen und Bewohner auf „günstige“ Heime zu verweisen. Wenn dann auch noch die „Qualitäts-Note“ dieser Heime stimmt, sehen manche Sozialhilfeträger keine Veranlassung mehr, ei-
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nem spezifischen Wunsch- und Wahlrecht Rechnung zu tragen. Mit einer tragfähigen Begründung des Betroffenen wird der Sozialhilfeträger jedoch nicht auf die billigste Einrichtung verweisen können. Als Begründungen kommen infrage, -- der Wunsch, in einem Heim in meiner vertrauten Umgebung zu leben, -- in einer Einrichtung mit einer bestimmten weltanschaulichen Ausrichtung zu leben, -- in einem Heim zu leben, dessen Versorgungskonzeption Konzeption mir am ehesten entspricht und -- das Leben in einer Einrichtung in der Nähe von mir wichtigen Angehörigen, die mich alltäglich werden begleiten können, zu führen.
Service Teil Allgemeine Anmerkung Das Recht auf freie Wahl des Wohnortes ist ein in vielen Menschenrechtsdeklarationen festgehaltenes, aber keinesfalls in jedem Fall garantiertes Recht. Es wird vielfältig eingeschränkt, sei es bei Asylsuchenden, bei Hartz-IV-Empfängern. Auch im Alter und bei Demenz stellen sich nicht selten Fragen der Durchsetzbarkeit des Rechts auf freie Wahl des Wohnortes.
Rechtsquellen Art 19 BRK, Art 11 GG, § 1907 BGB
Weiterführende Hinweise Adressen: Örtliche Betreuungsgerichte, örtliche Seniorenvertretungen
Literatur Klie, Thomas (1994): Und plötzlich ist die Wohnung weg …, Geriatrie Praxis, Nr. 4, Seite 62–64
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Freiheit und Freiheitseinschränkung
Es muss davon ausgegangen werden, dass alleine in deutschen Pflegeheimen am Tag 350.000 freiheitsentziehende Maßnahmen ergriffen werden: Bettgitter, Seitenteile, Gurte. Zählt man die Gabe von Neuroleptika dazu, die nicht aus therapeutischen, sondern aus Gründen der Ruhigstellung gegeben werden, erhöht sich die Zahl. Das macht deutlich: Freiheitsrechte sind in vielfältiger Weise alltäglich bedroht und stellen doch zugleich wesentliche Menschenrechte dar. Die Qualität der Versorgung von Menschen mit Demenz, sei es zu Hause oder im Heim, lässt sich auch und gerade daran ablesen, wie mit den Freiheitsrechten umgegangen wird. Es sind nicht Fragen der Personalausstattung, es sind ganz wesentlich konzeptionelle Fragen und Fragen der Haltung, die verantwortlich zeichnen für den Umgang mit den Freiheitsrechten von Bewohnerinnen und Bewohnern im Heim. Im häuslichen Bereich ist das Thema Fixierung noch weitgehend ein Tabuthema. Auch hier gehören freiheitsentziehende Maßnahmen ganz häufig zum Alltag.
Meine oder deine Freiheit? Die Begleitung und Betreuung von Angehörigen mit Demenz bestimmt das Leben. Sie bindet an das Haus, wenn der Ehepartner, der Vater oder die Mutter nicht allein gelassen werden können. Sie könnten weglaufen, sie könnten stürzen, sie könnten etwas in der Wohnung anrichten. Für viele pflegende Angehörige kann damit die eigene Wohnung selbst zum Gefängnis werden. Sie sind in vielfältiger Weise in ihrem Lebensradius eingeschränkt, angebunden an das Haus. Immer geht das nicht. Angehörige, die arbeiten müssen, können nicht ständig präsent sein. Einkäufe müssen erledigt werden, Arztbesuche stehen an. Und auch Angehörige haben ein Recht auf ihre eigene Freiheit. Das sind vielfach Hintergründe für Handlungen, für Maßnahmen, die die Freiheit von Menschen mit Demenz in ihrer eigenen Häuslichkeit einschränken: Abgeschlossene Haustüren, aufgestellte Bettgitter, Bauchgurte im Sessel. Es sind bisweilen auch andere weniger akzeptable Gründe: Bestrafung, Gleichgültigkeit, Scham, den eigenen Angehörigen in der Öffentlichkeit zu zeigen.
> Freiheit und Freiheitseinschränkung Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Auch zu Hause lebende Menschen mit Demenz haben ein Recht auf Freiheit. Auch ihre Freiheitsrechte sind wirksam zu schützen. Freiheitsentziehende Maßnahmen in der eigenen Häuslichkeit sind als Alarmzeichen zu bewerten: Meist ist Hilfe gefragt, sind Angehörige überfordert. Auch die Gefahren, die mit Fixierung und Einschließung in der eigenen Wohnung für die Betroffenen verbunden sind, dürfen nicht unterschätzt werden: Was ist beim Brand? Wie gehen die Betroffenen mit der Angst um? Können sie Hilfe holen? Können sie sich gefährden, wenn sie sich „befreien“ wollen? Jede freiheitsentziehende Maßnahme, jede regelmäßige Freiheitseinschränkung in der eigenen Häuslichkeit sollte Anlass zur Beratung sein, sich Beratung zu holen oder, wenn Profis davon Kenntnis erhalten, Beratung anzubieten. Es kann geholfen werden. Vielleicht mit technischen Hilfsmitteln: Niederflurbetten, aus denen sie nicht herausfallen können und die von einer Krankenkasse bewilligt werden können, Sensormatten, die Signal geben, gegebenenfalls auch auf das Handy. Überhaupt die Modelle moderner Mobilfunktechnik öffnen manche Möglichkeiten, auch wenn man unterwegs ist, den Kontakt zum Angehörigen zu halten. Moderne Notrufanlagen sind häufig besser und wirksamer als abgeschlossene Haustüren. Aber auch andere Hilfen kommen in Betracht: ergänzende „Betreuungsleistungen“, die Unterstützung durch Angehörige, der Besuch von Betreuungsgruppen oder Tagespflegeeinrichtungen. Schließlich geht es auch darum, den pflegenden Angehörigen ihren Raum zu lassen, ihre Freiheit zu respektieren. Kein Gesetz verpflichtet sie, die Pflege und die Sorge für ihre Angehörigen zu übernehmen. Sie tun dies aus freien Stücken, aufgrund eigener Werte und ihrer eigenen Moral und sie verdienen dabei Solidarität und haben Anspruch auf fachliche Begleitung und Unterstützung. Freiheitseinschränkungen in der eigenen Häuslichkeit sind nicht zu bagatellisieren: Strafrechtlich stellt sich die abgeschlossene Tür schnell als Freiheitsberaubung dar, §239 StGB. Und was den meisten Angehörigen gar nicht bewusst ist: Als Angehörige sind sie nicht berechtigt, über die abgeschlossene Haustür oder über das Aufstellen von Bettgittern zu entscheiden. Sie müssen dazu entweder über eine entsprechende Vollmacht verfügen oder als gesetzlicher Betreuer bestellt sein. Und wenn ein ambulanter Pflegedienst solche Maßnahmen durchführen soll, etwa nach dem Verlassen der Wohnung die Tür abschließen (wenn das denn überhaupt eine verantwortbare Maßnahme ist), dann bedarf es gegebenenfalls sogar der betreuungsgerichtlichen Genehmigung. Also im doppelten Sinn: Alarmzeichen – Hilfe ist gefragt, fachlich, und Legitimation ist gefragt, rechtlich.
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Das Recht auf Risiko Der aufrechte Gang macht den Menschen zum Menschen. Mit dem selbstständigen Gehen entwickeln kleine Kinder eine Vorstellung von sich selbst, entwickeln eine eigene Identität, beginnen, ihre eigenen Wege ins Leben zu gehen. Die Freiheit des Menschen ist ein hohes Gut, ist im starken Maße mit unseren Vorstellungen von Menschsein und von Menschenwürde verbunden. Die Verteidigung der Freiheit ist seit eh und je mit der Emanzipationsgeschichte des Menschen verbunden. Bis zum Lebensende? Viele hochbetagte Menschen, viele Menschen mit Demenz sind in ihren Freiheitsrechten gefährdet. Auch ihnen gilt die verfassungsrechtliche Zusage des Schutzes der Freiheit der Person, die in Deutschland besonders ausgeprägt und ausgestaltet wurde. Artikel 2 Absatz 2 GG schützt vor jedem Eingriff in Freiheitsrechte. Artikel 104 Absatz 2 GG fordert richterliche Entscheidungen, wenn in das Recht auf die Fortbewegungsfreiheit eines Menschen regelmäßig oder in anderer Weise mit besonderer Tragweite eingegriffen werden soll. Das ist recht einmalig in der Welt: In Deutschland müssen Richter sogar Bauchgurte und Bettgitter auf ihre Erforderlichkeit hin überprüfen und im Einzelfall genehmigen. Das Betreuungsrecht enthält eine Sondervorschrift, die die Unterbringung und die unterbringungsähnlichen Maßnahmen in Krankenhäusern und Heimen regelt. Sie schreibt dezidiert vor, wie derartige Maßnahmen auf ihre fachliche und rechtliche Erforderlichkeit hin überprüft werden müssen, bevor sie durch das Betreuungsgericht genehmigt werden. Grundlage ist der § 1906 des BGB. In deutschen Heimen, so die Überzeugung des Gesetzgebers bereits im Jahr 1992, wird zu viel fixiert, wird zu viel sediert. Gegen diese Praxis wollte auch der Gesetzgeber ein Zeichen setzen und dazu beitragen, dass wesentlich weniger Menschen von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen werden. Verfahren schütz Recht, das sagte schon Niklas Luhmann: Durch die regelhafte Überprüfung der Erforderlichkeit von freiheitsentziehenden Maßnahmen sollten Routinen unterbrochen werden, in denen ohne weiteres Nachdenken zu Bettgittern, zu Bauchgurten, zu Stecktischen etc. gegriffen wird. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind Alltag. Das gilt für deutsche Pflegeheime. Nach aktuellen Studien ist davon auszugehen, dass alltäglich etwa 350.000 freiheitsentziehende Maßnahmen in deutschen Pflegeheimen ergriffen werden. Ein Bruchteil von ihnen ist fachlich ge-
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rechtfertigt4. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen Heimen. Eine Hamburger Studie machte deutlich, dass das Ausmaß von freiheitsentziehenden Maßnahmen stark davon abhängt, wie das Heim mit dem Thema umgeht. In einem Heim sind 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Fixierung betroffen, in einem anderen Heim knapp fünf Prozent5. Woran liegt das? Interessanterweise nicht an der Personalausstattung. Mehr Personal heißt nicht gleich weniger Fixierung. Es liegt auch nicht an den Bewohnern: Menschen mit schwerer Demenz, die zumeist von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen sind, bilden in allen Heimen die größte Gruppe. Es hängt mit der Konzeption zusammen, mit der Kultur, mit dem Umgang mit Risiken und den Fachkenntnissen, die sich gerade auf die Betreuung von Menschen mit Demenz beziehen. Dies bestätigen alle bekannten Studien6. Freiheitsentziehende Maßnahmen gibt es aber nicht nur in Heimen, sondern auch zu Hause. Aktuelle Studien zeigen, dass etwa elf Prozent aller Pflegebedürftigen, die zu Hause versorgt werden und 20 Prozent der zu Hause versorgten Demenzkranken von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen sind: durch Bettgitter, durch Sedierung, durch Fixierung oder abgeschlossene Haustüren7. Das Thema Freiheit und das Thema Schutz der Freiheit ist also auch im hohen Alter ein relevantes. Das deutsche Recht wertet freiheitsentziehende und -einschränkende Maßnahmen je nach ihrer Intensität und nach ihrem Ort unterschiedlich. Wird ein Mensch nur daran gehindert, nicht in eine bestimmte Richtung zu gehen, ist aber ansonsten frei und nicht an einen Ort „gebunden“, so handelt es sich um eine rechtlich unerhebliche freiheitsbeschränkende Maßnahme. Wird er aber regelmäßig an einem bestimmten Ort festgehalten, kann er seinen Wohnbereich, die Station oder das Heim als Ganzes nicht verlassen, so spricht das Betreuungsrecht von einer sogenannten Unterbringung, die als freiheitsentziehende Maßnahme gewertet wird § 1906 Abs. 1 BGB. Das gilt auch dann, wenn sich eine Bewohnerin oder ein Bewohner eines Pflegeheims in einem recht großzügig gestalteten Areal frei bewegen kann, das Haus oder auch der Garten abgeschlossen sind und nicht verlassen werden können.
4 vgl. Klie/Pfundstein (2004): Münchener Studie – Freiheitsentziehende Maßnahmen in Münchener Pflegeheimen. In: Hoffmann/Klie (Hg.): Freiheitsentziehende Maßnahmen. Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen in Betreuungsrecht und –praxis. Heidelberg, C. F. Müller, S. 75-130. 5 vgl. Meyer/Köpke (2008): Freiheitsentziehende Maßnahmen. In: Schaeffer/Behrens/Görres (Hg.): Optimierung und Evidenzbasierung pflegerischen Handelns. Ergebnisse und Herausforderungen der Pflegeforschung. München: Juventa, S. 333 ff. 6 vgl. Schäufele/Weyerer et al. (2008): Qualitätsniveau I. Mobilität und Sicherheit bei Menschen mit demenziellen Einschränkungen in stationären Einrichtungen. Heidelberg Landsberg u.a.: Economica. 7 vgl. MDK Bayern 2010
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Auch sogenannte beschützende Stationen, die mit Trickschlössern oder versteckten Türen ausgestattet sind, sind als Formen der Unterbringung und damit als freiheitsentziehend zu werten. Die Bewertung heißt nicht, dass sie in jedem Fall unangebracht sind. Die rechtliche Bewertung führt nur dazu, dass für diese Unterbringungsformen ein richterlicher Beschluss erforderlich wird. Das Verfahren einer Unterbringung gemäß § 1906 Absatz 1 BGB verlangt nach einem ausführlichen fachärztlichen Sachverständigengutachten und einer richterlichen Anhörung des Betroffenen im Heim. Das Anbringen von Bettgittern gegen den Willen oder ohne Einwilligung des Betroffenen, die Anwendung von körpernahen Fixierungen wie Bauchgurten oder auch das stete Festhalten einer bestimmten Person, etwa an der Pforte, wird als unterbringungsähnliche Maßnahme gewertet und gilt auch als freiheitsentziehende Maßnahme. Auch für sie bedarf es einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung, wobei hier nur ein ärztliches Zeugnis des Hausarztes gefordert wird, aber auch die persönliche Anhörung. Einen gewissen Sonderfall stellen Psychopharmaka dar. Ihre Verordnung liegt in der Verantwortung der behandelnden Ärzte. Sie haben sich bei der Verordnung an den aktuellen Stand des Wissens zu halten und sind dazu verpflichtet, Medikamente nur zu den therapeutischen Zwecken einzusetzen, zu denen sie zugelassen wurden. Ist eine freiheitseinschränkende Wirkung Nebenfolge der Psychopharmakagabe, die darauf zielt, bestimmte Krankheitssymptome zu lindern, lässt sich hiergegen betreuungsrechtlich nichts einwenden. Strittig ist in diesen Fällen, ob die Vergabe der Medikamente einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung bedarf oder nicht. Unzulässig ist allerdings die Gabe von Psychopharmaka, die sich allein auf die Ruhigstellung, allein darauf richtet, jemandem die Fähigkeit zur Fortbewegung zu nehmen. Eine solche Gabe von Psychopharmaka deckt sich regelmäßig nicht mit den Indikationen, für die die Medikamente zugelassen sind. Ihre Gabe wäre damit auch gar nicht genehmigungsfähig. Tatsächlich haben wir es im Fall der Psychopharmakagabe mit einem Dunkelfeld zu tun: Sie werden sehr oft gegeben, ihre rechtliche Legitimation, aber auch ihre fachliche Indikation stehen häufig in Frage.
Bettgitter – Psychopharmaka – Bauchgurte Freiheitsentziehende Maßnahmen kennen sehr unterschiedliche Gesichter. Für Juristen ist es zunächst gleichgültig, in welcher Weise die Freiheit eines Menschen eingeschränkt wird. Sehr verbreitet sind im Heim und daheim Bettgitter. Sie werden von den Betroffenen nicht nur als sicherheitsstiftend, sondern häufig als einschränkend und bedrohlich
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erlebt, insbesondere dann, wenn sie meinen, aufstehen zu müssen. Die zweithäufigste freiheitsentziehende Maßnahme ist die Vergabe von Psychopharmaka – zur Ruhigstellung. Sie ist besonders problematisch, sowohl fachlich als auch juristisch. Psychopharmaka haben Nebenwirkungen. Ihr Einsatz dient der Behandlung von sehr belastenden Krankheitssymptomen und kann ein Segen sein. Zugelassen sind sie aber nicht zum Zwecke der Fixierung. Insofern stellt jeder Einsatz von Psychopharmaka, der im Wesentlichen darauf abzielt, dass Menschen sich ruhig verhalten, nicht mehr herumwandern, keine legitime Indikation dar. Nur ein Bruchteil der Psychopharmakavergabe in deutschen Pflegeheimen, aber auch zu Hause entspricht dem aktuellen Wissenstand der Gerontopsychiatrie8. Zu den besonders belastenden freiheitsentziehenden Maßnahmen gehören Bauchgurte. Von ihnen sind etwa zehn Prozent der deutschen Heimbewohnerinnen und Heimbewohner betroffen. Mit der Anwendung von Bauchgurten, die häufig nicht fachgerecht erfolgt, sind Risiken verbunden. Nicht nur psychische Erregtheitszustände, sondern auch die Strangulationsgefahr ist stets mit zu beachten, sodass fixierte Bewohner und Bewohnerinnen in Heimen regelmäßig „überwacht“ werden müssen. Ein Überwachungsintervall, der über 15 Minuten liegt, ist in der Regel nicht ausreichend, da sich genau in dieser Zeit ein pflegebedürftiger Mensch strangulieren kann. Als freiheitsentziehende Maßnahmen an einem Stuhl werden häufig Bauchgurte, werden Stecktische und das Anbinden von Stühlen an den Tisch verwandt. Auch sogenannte Seniorenkomfortstühle, aus denen Bewohnerinnen und Bewohner nicht mehr allein aufstehen können, sind als freiheitsentziehende Maßnahmen zu werten, wenn ihr Einsatz bewusst zu diesem Zwecke erfolgt. Das Festhalten auf Stationen, das stete Zurückhalten durch den Pförtner, der Einsatz von Trickschlössern ist rechtlich ebenso relevant wie der Einsatz von psychischem Druck. Nicht automatisch als freiheitsentziehende Maßnahme wird der Einsatz von einem GPS bewertet. Dass man feststellen kann, wo sich ein bestimmter Mensch befindet, stellt sich zwar in jedem Fall als Rechtseingriff dar, nicht automatisch aber als eine freiheitsentziehende Maßnahme. Besonders zu betrachten sind freiheitsentziehende Maßnahmen, die in der eigenen Häuslichkeit ergriffen werden. Der Gesetzgeber wollte diese Maßnahmen, die meist von Fa-
8 Vgl. Molter-Bock, Elisabeth (2004): Psychopharmakologische Behandlungspraxis in Münchener Altenpflegeheimen. Dissertation zum Erwerb des Doktorgrades der Humanbiologie. Ludwig-Maximilians-Universität München, München. Medizinische Fakultät.; Hoffmann, Birgit; Klie, Thomas (2004): Freiheitsentziehende Maßnahmen. Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen in Betreuungsrecht und -praxis. Mit der Münchener Studie zu Freiheitsentziehenden Maßnahmen in Pflegeheimen von . Thomas Klie und Thomas Pfundstein. Heidelberg: C.F. Müller.
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milienangehörigen ergriffen werden, nicht unter die richterliche Genehmigungspflicht stellen. Inzwischen hat sich aber eine Rechtsprechung entwickelt, die zumindest dann von der Genehmigungspflicht entsprechender Maßnahmen in der eigenen Häuslichkeit ausgeht, wenn ambulante Pflegedienste maßgeblich beteiligt sind. Schließt der ambulante Dienst die Haustür ab, stellt er Bettgitter auf, dann müssen auch diese Maßnahmen betreuungsrechtlich genehmigt werden. Als Hintergrund für das Ergreifen freiheitsentziehender Maßnahmen wird in der Praxis zumeist die Stutzgefahr der Bewohnerinnen und Bewohner angegeben. Häufig wird auch das Einverständnis der Betroffenen unterstellt, obwohl es nicht explizit eingeholt wurde. Den Bewohnerinnen und Bewohnern, aber auch den Angehörigen zu Hause würde ohne Fixierung etwas passieren, sie würden zu Schaden kommen, sich gegebenenfalls eine Fraktur zuziehen. Diese Befürchtung, diese „fürsorglichen“ Gedanken sind nachvollziehbar, sie reichen aber nicht zur Legitimation aus. Bevor freiheitsentziehende Maßnahmen ergriffen werden, müssen alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft werden: der Einsatz von technischen Hilfsmitteln, von Sensormatten, von Hüftprotektoren, von Hilfsmitteln wie „Geh-frei“, mit denen eine gestützte Fortbewegung möglich wird, der Einsatz von Betreuungspersonal oder auch Ehrenamtlichen, Matratzen vor dem Bett, Niederflurbetten oder besondere Betreuungskonzepte. Inzwischen kommen viele Heime völlig ohne Fixierung und Psychopharmaka aus oder können ihren Einsatz auf besonders krisenhafte Situationen im Einzelfall beschränken. Diese Heime zeigen auf, dass das „fixierungsfreie Heim“ keine Utopie ist, sondern eine reale Möglichkeit und dies auch unter den gegebenen Bedingungen: dem Personalschlüssel, der heute in Heimen gilt. Die Entscheidung darüber, ob eine freiheitsentziehende Maßnahme ergriffen werden soll oder nicht, trifft zunächst der gesetzliche Betreuer oder der Bevollmächtigte. Angehörigen steht das Recht nicht zu. Wenn sie zu der Überzeugung gekommen sind, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt, dann haben sie das Betreuungsgericht anzurufen, um eine Genehmigung herbeizuführen, und das Betreuungsgericht wird seinerseits noch einmal genau prüfen, ob ein Niederflurbett nicht den Einsatz von Bettgittern zu vermeiden hilft, ob zumindest die Fixierungszeiten durch besondere Betreuungsangebote reduziert werden können, ob im Rahmen der individuellen Pflegeplanung nicht durch entsprechende Mobilitätsunterstützung auf den Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen verzichtet werden kann. Nur das Wohl des Betroffenen zählt für den Betreuer und das Betreuungsgericht, nicht die Situation anderer. Das ist in der Schweiz anders: Hier können Heimbewohnerinnen
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auch fixiert werden, um MitbewohnerInnen vor Belästigung zu schützen. Das ist in Deutschland nicht möglich. Steht die Belästigung anderer im Vordergrund, dann bleibt in Deutschland grundsätzlich nur die Psychiatrie. Viele Heime, viele Pflegekräfte haben Angst, wegen Verletzung der Aufsichtspflicht in Anspruch genommen zu werden, wenn sie Bewohnerinnen und Bewohner nicht fixieren, nicht am Verlassen des Hauses hindern. Eine Aufsichtspflicht im Sinne des § 832 BGB existiert aber weder für Betreuer noch für das Heim. Gleichwohl ist man verantwortlich für eine fachgerechte Begleitung und Betreuung, für eine fundierte Risikoeinschätzung. Aber eine Aufsichtspflicht gibt es grundsätzlich nicht. Dass man sich immer wieder auf sie beruft, macht eher deutlich, welche Grundhaltungen für viele Heime und Pflegekräfte prägend sind. Es gibt auch ein Recht auf Risiko, ein mitverantwortetes Risiko. Und überwiegend verkannt werden die vielen Risiken, die mit dem Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen verbunden sind: der Teufelskreis Fixierung. Werden fachliche Standards eingehalten, sind fachlich begründete Risikoeinschätzungen vorhanden, so hat ein Heim, so haben Pflegekräfte haftungsrechtlich nichts zu befürchten – notfalls tritt eine Haftpflichtversicherung ein. Das Unverständnis von Angehörigen, die Forderung der Polizei, dass besser auf die Heimbewohner aufzupassen wäre oder auch die immer wieder geltend gemachten Regressforderungen von Krankenkassen, ihnen gilt es selbstbewusst entgegenzutreten. Es geht nicht um die Verwahrung von Menschen mit Demenz, sondern um die Gestaltung eines gelingenden Alltags – zu diesem gehört auch Mobilität, gehört auch der aufrechte Gang und auch das Gefühl und die Möglichkeit, wenn auch in begrenztem Umfang, frei zu sein.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Fixierung und andere Formen freiheitsentziehender Maßnahmen gehören immer noch in den Alltag der Pflege sowohl im Heim als auch daheim. Sie stellen sich als maßgebliche Grundrechtsverletzungen dar. Ihnen gilt vermehrt die fachliche aber auch die politische Aufmerksamkeit. Es ist im Wesentlichen eine Frage der Haltung, ob man zu freiheitsentziehenden Maßnahmen greift oder nicht.
Rechtsquellen Art. 2 I. GG; § 1906 BGB, § 239 StGB
Weiterführende Hinweise Adressen: Örtliche Betreuungsgerichte Betreuungsgerichtstag; www.bgt-ev.de www. Redufix.de
Literatur Klie, Thomas: Eure Sorge fesselt mich, KWA Journal 2/2012 Klie, Thomas (2012): Freiheitsentziehende Maßnahmen in der häuslichen Pflege. Dilemma und Tabu. In: Praxis Pflegen, 10/2012, S. 14–19. Hoffmann, Birgit; Klie, Thomas (2012): Freiheitsentziehende Maßnahmen im Betreuungs- und Kindschaftsrecht. Voraussetzungen, Verfahren, Praxis. 2. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg.
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Haftung und Verantwortung Geteilte Verantwortung: Kinder haften für ihre Eltern? Zwischen gefühlter und rechtlich reflektierter Verantwortung Der Ehemann will trotz fortschreitender Demenz nicht vom Auto fahren lassen, die Bewohnerin der Wohngemeinschaft steigt wieder in ein Taxi ohne Geld im Portemonnaie, die sturzgefährdete Pflegeheimbewohnerin wird zu „ihrem Schutz“ am Stuhl fixiert, der Ehemann daran gehindert, im Pyjama das Haus zu verlassen: Sie sind allgegenwärtig in der Begleitung von Menschen mit Demenz: Situationen, in denen etwas passieren kann – bisweilen auch wirklich etwas passiert. Dort, wo Menschen ihre eigenen Grenzen und die Folgen ihres Tuns nicht mehr adäquat einschätzen können, sind andere in ihrer Verantwortung gefragt – werden verantwortlich gemacht oder fühlen sich selbst in Verantwortung. Unser Verantwortungsgefühl ist in hohem Maße an Werthaltungen gebunden, aber auch an Rollen: an die Rolle der pflegenden Angehörigen, an die Rolle des professionellen Helfers. Dabei fällt es nicht immer leicht zu unterscheiden, aus welcher Quelle die Verantwortung und das Verantwortungsgefühl gespeist werden. So fühlen wir uns häufig moralisch verantwortlich, ohne es rechtlich zu sein: stürzt der Bewohner eines Pflegeheimes, verirrt sich eine demenzerkrankte ältere Dame in ihrer Nachbarschaft, wird der Heimbewohner von der Polizei nach einer Irrfahrt mit der Deutschen Bundesbahn zurückchauffiert: schnell steht da der Vorwurf im Raum, nicht richtig „aufgepasst“ zu haben. Gegebenenfalls begleitet von einem subjektiven Schuldgefühl: da hätte ich besser aufpassen müssen, das hätte ich nicht zulassen dürfen. Der Vorwurf sitzt. Ist er auch rechtlich stichhaltig? Gegenüber verletzlichen und hilfsbedürftigen Menschen ist unser Verantwortungsgefühl besonders ausgeprägt. Da kann das Verantwortungsgefühl ganz unterschiedliche Wurzeln kennen. Es kann dem empathischen Mitfühlen darüber entspringen, dass ein Mensch Angst leidet oder Schmerzen empfindet. Es kann aus der Vorstellung erwachsen, dafür verantwortlich zu sein, dass einem Menschen „nichts passiert“, es kann dem Bedürfnis entsprechen, Situationen zu beherrschen, die risikoreich sind. Es kann aber auch aus dem Gefühl der Scham entspringen: selbst nichts falsch zu machen, aber auch als Familie oder Heim nicht im falschen Licht zu erscheinen.
> Haftung und Verantwortung Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Verantwortungsgefühl Dort, wo die Rechte von Menschen so bedroht sind, wie die von verletzlichen und hilfsbedürftigen Menschen mit Demenz, ist die Reflexion über die Hintergründe des Verantwortungsgefühls einerseits und den rechtlichen Gehalt der eigenen Verantwortung anderseits hoch bedeutsam: steht man doch stets in der Gefahr, aus fürsorglichen Erwägungen in die Rechte des Menschen mit Demenz einzugreifen und sich selbst in eine Verantwortungsrolle zu begeben, die man realistischerweise nicht (alleine) ausfüllen kann. Dabei ist zu differenzieren: Der Angehörige, der aus langjähriger Verbundenheit und gewachsener Solidarität Verantwortung übernimmt, tut dies bei allen moralischen Verpflichtungen, an die er sich gebunden fühlt, gleichwohl freiwillig. Er ist dabei gleichzeitig in seinem Handeln an die Rechtsordnung gebunden. Unser Recht ordnet ihm als Angehöriger keine besondere Pflichten- und Rechtsstellung über Menschen mit Demenz zu. Er hat Acht zugeben auf die Unversehrtheit seines nahen Angehörigen, weil er mit ihm zusammenlebt. Aber eine weitergehende Pflicht, etwa eine Aufsichtspflicht gegenüber dem ihm nahen Angehörigen, überträgt ihm unsere Rechtsordnung nicht. Er tut gut daran, seine Verantwortung mit Professionellen und anderen zu teilen. Er hat Anspruch auf Begleitung und Beratung in der Übernahme seiner Sorgeaufgaben gegenüber ihm nahen Menschen und sollte diese Unterstützung auch in Anspruch nehmen und akzeptieren. Er hat als Angehöriger kein Recht, etwa Schutzmaßnahmen, die mit Eingriffen in die Freiheit der Person verbunden sind, zu ergreifen. Hierfür muss er entweder ein gesetzlicher Betreuer oder Bevollmächtigter sein. Als Angehörige sind wir in Deutschland grundsätzlich nicht gesetzlich befugt, Entscheidungen für den anderen zu treffen. Unsere Gesellschaft lebt von der Fähigkeit zur Solidarität und Freiwilligkeit, gerade innerhalb von Familien. Ohne sie würde die Gesellschaft nicht funktionieren. Das gilt auch für die Begleitung von Menschen mit Demenz. Angehörige, die Solidaritätsaufgaben gegenüber ihren betagten Angehörigen übernehmen, verdienen die Unterstützung der Gesellschaft. Professionelle haben eine andere Rolle als die Angehörigen: ihr Aufgabenprofil ist klarer bestimmt. Sie sind verantwortlich, dass bei ihrem Tun fachliche Standards zur Anwendung kommen, dass sie wissenschaftlich fundierte Vorgehensweisen, Formen der Behandlung und Pflege praktizieren, Risiken erkennen und Hinweise darauf geben, wie
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mit ihnen verantwortlich umgegangen werden kann. Professionelle der Pflege, der Sozialen Arbeit, der Therapie und der Medizin, sie müssen reflektiert mit ihrer Verantwortungsrolle umgehen, professionell Risiken managen. Wer etwa als Professioneller aus Haftungsangst fixiert, handelt nicht professionell. Sie sind ja gerade dazu da, souverän mit Risikosituation umzugehen und fachliches Wissen zu nutzen. Tun sie dies, droht ihnen keine Haftung. Von wegen, „mit einem Bein steht man immer im Gefängnis“, der Spruch gehört nicht in den Wortschatz von Profis. Auch bei Professionellen vermischen sich die gefühlte Verantwortung allerdings nicht selten mit moralischen und juristischen Maßstäben. Profis sind auf die Integrität, auf die Gesundheit, auf das Wohlergehen ihrer Klienten ausgerichtet. Die Vorstellung, es könnte „etwas passieren“, beschäftigt sie sehr. Auch fühlen sie sich nicht selten in der Verantwortung, dass „nichts passiert“. Auch bei ihnen ist das Denken in den Kategorien der Aufsichtspflicht noch verbreitet. Das gibt Hinweise auf ein zumindest rechtlich nicht hinreichend reflektiertes Verantwortungsbewusstsein. Verantwortung tragen die Professionellen dafür, dass sie ihre fachlichen Standards einhalten und das nicht nur mit Blick auf ihre handwerklichen Tätigkeiten, wie etwa in der Pflege, Spritzen setzen, Blutdruckkontrollen oder ein Katheterismus durchführen. Auch in der Einschätzung von Risiken, in der Pflegeprozessplanung, gilt es fachliche Standards zu berücksichtigen, eben Riskmanagement zu betreiben: Risiken realistisch einzuschätzen, Schadensfolgen zu bemessen und risikovermeidende Maßnahmen einzuleiten. Dabei haben die Professionellen zwischen unterschiedlichen Gesichtspunkten und Zielen in der Begleitung von Menschen mit Demenz zu differenzieren: hier die Sicherheit, dort die Freiheit, hier die Bewegung und dort der Schutz vor dem Sturz. Mit dem Betroffenen, mit den Angehörigen haben sie die Risiken einzuschätzen und gemeinsam Ziele zu formulieren und Maßnahmen zu entwickeln – und dies häufig mit einer gehörigen Portion Kreativität – um den verschiedenen Aspekten gelingenden Lebens unter der Bedingung von Demenz gerecht zu werden. Haftung droht nicht, wenn etwas passiert, sondern dann, wenn Risiken nicht in adäquater Weise erkannt und beantwortet wurden. Dabei sind etwa Risiken, die mit einer Fixierung verbunden sind, den Risiken gegenüberzustellen, die beim Verzicht auf eine Fixierung entstehen können, etwa Sturzfolgen. Nur Stürze zu vermeiden, ohne an die Risiken, die mit einer Fixierung verbunden sind, mit zu bedenken, ist nicht professionell.
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Das Leitbild der geteilten Verantwortung ist ein angemessenes im Umgang mit Menschen mit Demenz. Professionelle haben nicht als solche Entscheidungsmacht, sie können verstehen, anleiten, Maßnahmen sachgerecht durchführen. Die Entscheidungskompetenz liegt zumeist bei Betreuern oder Bevollmächtigten, die ihre Aufgaben in der Regel ehrenamtlich erfüllen und hierbei eine hohe Verantwortung wahrnehmen. Ihre Aufgabe ist advokatorisch – also parteiergreifend – ausgerichtet: Sie haben einzig und allein das Wohl des Betroffenen im Blick zu behalten. Hierfür stehen sie gerade, hierfür werden sie bestellt. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben in dieser Weise sollen sie die Unterstützung durch das Gericht, durch die Betreuungsbehörden oder Betreuungsvereine erhalten. Die Angehörigen, nicht selten in der Doppelrolle, Angehörige und Betreuer oder Bevollmächtigter, sind die Experten für die ihnen nahen Menschen, häufig in alltägliche Unterstützung und oder im Zusammenleben involviert. Gemeinsam gilt es, eine Sicht der Dinge zu entwickeln, Verantwortungsrollen zu klären und Verantwortung einzulösen: als Angehörige, als Professionelle und als Ehrenamtliche. Ob der Kontakt zum Hausarzt oder sogar zur Polizei gesucht wird, um die Problematik der KFZ-Nutzung durch den Demenz betroffenen Angehörigen anzusprechen, ob über Alternativen zur Fixierung am Stuhl, zur Sturzvermeidung mit einer Pflegefachkraft oder dem Sanitätshaus gesprochen wird oder Antworten auf das Mobilitätsbedürfnis des reiselustigen Heimbewohners gesucht werden: immer geht es darum, Verantwortung für einen Menschen mit Demenz zu übernehmen. Dies muss unter Nutzung der „Expertenschaft“ von Angehörigen, dem Wissen von Professionellen und den Verantwortungsrollen von Ehrenamtlichen geschehen. Es kann ein gutes Gefühl sein, die Verantwortung nicht allein tragen zu müssen, gemeinsam „Sorge“ zu tragen. Sorge steht für eine vorausschauende, anteilnehmende Verantwortung in Beziehung zu sich und anderen Menschen. Um gemeinsame Sorge in diesem Sinne geht es bei der geteilten Verantwortung.
Exkurs Aufsichtspflicht Die Aufsichtspflicht im engeren Sinne ist in § 832 BGB geregelt. Ein Sorgeberechtigter hat für Schäden einzustehen, die sein minderjähriges Kind oder ein geistig Behinderter anderen zufügt: Eltern haften für ihre Kinder. Dagegen haften Angehörige nicht für ihre von Demenz betroffenen Angehörigen und Familienmitglieder, Heime haften nicht für ihre Bewohner und Betreuer nicht für die Betreuten. Rechtliche Betreuer haben zwar in der Regel eine Personensorgeberechtigung, eine Haftungspflicht entsteht dadurch aber nicht i.S.d. § 832 BGB. Denn das Betreuungs-
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recht soll das Betreuungsverhältnis regeln und den Betreuten schützen, nicht aber die Ansprüche anderer. Es hat keine drittschützende Funktion, wie es in der Fachsprache heißt. Das Gleiche gilt für Verträge zwischen Heim und Heimbewohnern. Dieser Umstand sollte zur Professionalisierung der Diskussionen um bestimmte Praktiken und Maßnahmen in Pflege und Betreuung führen. So kann sich etwa bei Fixierungen oder Verabreichung von Psychopharmaka niemand mehr damit herausreden, dies müsse geschehen, weil man für Schäden sonst wohlmöglich haftbar gemacht werden könne. Die Zeit der Anstalten, in denen beaufsichtigt wird, der häuslichen Pflege, in der fürsorgerisch Zwang ausgeübt werden darf, ist vorbei. Die Begleitung von Menschen mit Demenz sollte selbstverständlich so gestaltet sein, dass anderen kein Schaden entsteht. Aber eine Aufsichtspflicht i.S.d. § 832 BGB, die als wesentliche Aufgabe vorgäbe, darauf zu achten, dass nichts passiert, existiert heute nicht mehr. Davon unberührt fordern auch die aktuellen Betreuungs- und Pflegekonzepte berechtigterweise eine besondere Aufmerksamkeit für Risiken und Gefahren, denen Demenzbetroffene ausgesetzt sind und die ihr Verhalten möglicherweise für andere darstellt. Im Mittelpunkt steht indes immer das Wohl des Betroffenen!
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Menschen mit Demenz sind häufig besonderen Risiken ausgesetzt. Es fordert eine besondere Verantwortungsübernahme von Angehörigen, von Professionellen aber auch von Nachbarn und Bürgerinnen und Bürgern. Die Verantwortung für das Wohl dass Menschen mit Demenz im Vordergrund stehen, wenn es um die Einlösung von Verantwortung geht, nicht die eigene Haftungsangst, die aber häufig leitend ist. Ein Risiko orientierter und bewusste Wahrnehmung von Verantwortung zeichnet Professionelle der Pflege, der Sozialarbeit, der Hauswirtschaft aus. Zu einem professionellen Umgang mit Menschen mit Demenz gehört auch der verantwortliche Umgang mit Risiken, die auch und gerade für Menschen mit Demenz zu akzeptieren sind.
Rechtsquellen §§ 823, 827, 832 BGB, § 239 StGB
Weiterführende Hinweise Maßstäbe für Sorgfaltspflichten in der Begleitung und im Umgang mit Menschen mit Demenz ergeben sich im Wesentlichen aus fachlichen Standards. Hierzu zählen etwa die Expertenstandards der Pflege des DNQP www.dnqp.de
Adressen www.redufix.de
Literatur Hoffmann/Klie (2012): Freiheitsentziehende Maßnahmen im Betreuungs- und Kindschaftsrecht, Heidelberg, C.F. Müller Klein/Klie, (2015): Haftung und Pflege, Hannover, i.E. Klie, Thomas (2013): Rechtskunde. Das Recht der Pflege alter Menschen. 10. Auflage, S. 49–138
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Humor Hat Humor etwas mit Recht zu tun? Haben Juristen Humor? Ohne Humor, ohne eine menschenfreundliche und für die Mehrdeutigkeit von Situationen offene Grundhaltung gegenüber Situationen und Menschen wird es kaum eine die Menschenwürde sichernde Begleitung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen geben. Dabei geht es allerdings um eine menschenfreundliche und nicht um eine zynische und demütigende Form des Humors. Wenn es um Rechtsfragen geht, ist den meisten Menschen überhaupt nicht „komisch“ zumute. Da geht es um ernste Angelegenheiten: Fragen der Haftung, Fragen der Verantwortlichkeit, um versagte Rechtsansprüche oder eskalierende Konflikte. Das gilt auch für Rechtsfragen, die sich in der Begleitung von Menschen mit Demenz stellen. Wer haftet für die Sturzfolgen, etwa die Kosten einer Krankenhausbehandlung von einem Menschen, der in einem Pflegeheim eine Oberschenkelhalsfraktur erlitten hat, als er unbemerkt im Treppenhaus stürzte? Wer zeichnet verantwortlich, wenn sich eine demenzerkrankte Person verirrt und zu Schaden kommt. Besorgniserregend ist auch die Vorstellung es kommt zu einem Brand, weil vergessen wurde eine Herdplatte abzustellen. Lustig ist es auch nicht, wenn hochbetagten Menschen mit einem ausgeprägten Sturz- und Frakturrisiko Hüftprotektoren von den Krankenkassen versagt werden. Auch die Versagung einer „Pflegestufe“ für demenzerkrankte Menschen durch die Pflegekasse kann enttäuschen. Die Notwendigkeit, sich mit Rechtsfragen befassen zu müssen, ist gar nicht lustig und die Konfrontation mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung allemal nicht. Justitia lächelt nicht – oder doch? Auch Richter beweisen durchaus einmal Humor und dürfen das nach Obergerichtlicher Rechtsprechung sogar: Wie man es auch dreht und windet, Die Klage, sie ist nicht begründet. Zwar hat der Kläger, wie man sieht, Sich redlich um die Kuh bemüht. Nun ist jedoch in dem Geschehen Nicht zu erkennen und zu sehen, Was der Jurist Geschäfte nennt,
> Humor Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Die ohne Auftrag man auch kennt, Wenn sie geführt von fremder Hand, Gefahr zu bannen, die bekannt.9 oder Am 3.3.95 fuhr mit lockerem Sinn Der Angeklagte in Beverungen dahin. Daheim hat er getrunken, vor allem das Bier Und meinte, er könne noch fahren hier. Doch dann wurde er zur Seite gewunken. Man stellte fest, er hätte getrunken. Im Auto tat’s duften wie in der Destille. Die Blutprobe ergab 1,11 Promille. Das ist eine fahrlässige Trunkenheitsfahrt, eine Straftat, und mag das auch klingen hart. Es steht im Gesetz, da hilft kein Dreh, § 316 I und II StGB.10
Humor gibt der Mehrdeutigkeit Raum Durch Humor kann manche erbittert geführten Auseinandersetzungen nicht nur etwas Komisches abgewonnen, sondern ihnen auch der Stachel genommen werden. Darauf kann es auch in der juristischen Interpretation eines schwierigen Sachverhaltes entscheidend ankommen. Das Verhalten von Menschen mit Demenz, das auch zum rechtlichen Nachdenken, zu Fragen nach der Haftung und Verantwortlichkeit einlädt, kann unterschiedlich gedeutet werden. Dazu der Fall, der das Verwaltungsgericht Saarlouis beschäftigt hat: Ein Heimbewohner verließ immer wieder (unbeobachtet) die Einrichtung, in der er lebte, setzte sich in alter Gewohnheit in eine Bahnhofsgaststätte, trank sein Bier und nahm den nächstbesten Zug ins „Rheinland“. Die Fahrt endete regelmäßig nach zwei oder drei Stationen,
9 §§ 677, 680 BGB, Urteil des Amtsgerichts Northeim vom 2.10.1995 (3 C 420/95). 10 http://www.kanzlei-karl.de/humor/AG%20Hoexter.html, 01.04.2011.
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wenn die „Zugbegleiter“ feststellten, dass er keine Fahrkarte bei sich hatte. Auch konnte er sein Ziel im „Rheinland“ nicht genau angeben. Die Polizei musste ihn dann in sein Heim zurückchauffieren. Sie fanden das beim dritten Mal nicht mehr „lustig“ und verlangten vom Heim Kostenersatz für den Polizeieinsatz. Das war nicht nur humorlos, sondern m. E. auch völlig unberechtigt: Die Polizei hat den Auftrag, ähnlich wie bei Kindern, zu helfen, dass Menschen mit Demenz zurückfinden, gegebenenfalls zurückgebracht werden. Dem Heim in jedem Fall eine Aufsichtspflicht aufzuoktroyieren, hieße, die Gesellschaft von ihrer Mitsorge und die Polizei von ihrer Verantwortung freizusprechen. Selbstverständlich muss ein gutes Heim die Risiken seiner Bewohnerinnen und Bewohner im Blick haben. Es wird aber auch die Risiken mit bedenken, die sich aus dem Einsperren, aus dem Zurückhalten, aus der Begrenzung des Mobilitätsdranges ergeben. Diese Aspekte werden häufig übersehen, der Sicherheitsaspekt wird nicht selten überbetont. Wir dürfen nicht alle Menschen mit Demenz einsperren, nur um die Polizei von Chauffeurdiensten freizuhalten. Es kann im Einzelfall durchaus verantwortbar sein, bewusst territoriale Mobilitätsfreude für Menschen mit Demenz zu erhalten. Und wenn mal etwas passiert: häufig haftet niemand.
Humor und Verstehen Nicht der spöttische, nicht der zynische Humor, ein menschenfreundlicher, die Mehrdeutigkeit von Situationen aufnehmender, ein zu Deeskalation von Situationen beitragender Humor ist es, der Konflikte abmildert und andere Lösungen eröffnet. Das gilt auch und gerade in schwierigen, dilemmatösen Situationen in der Begleitung von Menschen mit Demenz. Störende Verhaltensweisen von Mitbewohnern, für Familienangehörige schwer auszuhaltende affektive Äußerungen oder Personenverkennung können sehr schmerzhaft sein, können zu Konflikten führen, auch zu Aggression und Gewalt. Umdeutungen solcher Situationen, basierend auf dem Wissen um die Hintergründe und Symptome einer Demenzerkrankung, können helfen. Dann lassen sich kreative Lösungen etwa für eine exhibitionistische Heimbewohnerin finden, die Regelverletzung, etwa im Zusammenhang mit der herrschenden Esskultur, durch veränderte Spielregeln und Sichtweisen nicht als Versagen und Scheitern, sondern als Coping interpretieren. Derartige Umdeutungen sind häufig Voraussetzung für einen deeskalierenden und menschenfreundlichen Umgang mit Menschen mit Demenz. Ich erinnere mich an meine Zeit am Vormundschaftsgericht in Hamburg, als mir eine gerichtlich anzu-
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hörende Bewohnerin ihre voll besetzte Windel zur Begrüßung überreichte, mit der Bemerkung: „Herr Richter, das ist für Sie.“ Wir lachten beide. “Zur Akte“ nehmen ließ ich dieses „Geschenk“ nicht. Die Bewohnerin stellte auf diese Weise Kontakt her, der für das Verstehen des Menschen und seiner Situation, in der er lebt, wichtig ist – für einen an Akten gewohnten Juristen eine ungewöhnliche Kommunikation. Aber es gilt der Satz: Lachen ist der Hinweis auf eine richtige Deutung. Und auch um die geht es bei einer richterlichen Anhörung.
Sich mit Humor statt mit dem Recht durchsetzen Der bekannte Gerontopsychiater Prof. Hirsch, einer der Humorexperten in der Psychiatrie, schreibt über sich: Ich habe schon als Kind bemerkt, mit Recht haben komme ich nicht weiter, auch wenn ich wirklich im Recht bin. Aber wenn ich mit meinem Verhalten gespielt habe und mich mal bewusst kleiner gemacht und damit den anderen überhöht habe, fällt es leichter, unangenehme Situationen nicht mit Macht, sondern mit Humor aufzulösen. Das ist eine weise Einsicht. Mit dem Kopf durch die Wand, mit dem Gesetzbuch in der Hand wird es bisweilen schwer, zu seinem Recht zu kommen. Wichtig bleibt es aber zu wissen, was mein Recht ist. Das Argumentieren mit dem Gesetz macht keine Freunde, sich überzeugend – und bisweilen humorvoll – auf seinen Rechtsstandpunkt beziehen, von seinen Rechten überzeugt sein, ohne formal auf sie zu pochen, ist häufig erfolgreicher.
Humor und Gewaltprävention In der Auseinandersetzung mit Menschen mit Demenz geht nicht selten um das Gefühl, etwas zu Unrecht zu erleiden, sich mit seiner Position nicht durchsetzen zu können. Ein anschauliches Beispiel gibt Hirsch: Ein älteres Ehepaar lebt zu Hause. Die Frau erzählt, dass ihr Mann dement ist und sie öfters schlägt und anbrüllt, weil er sie beschuldigt, wenn er etwas verlegt hat und es nicht mehr findet. Er denkt, sie hätte ihm etwas gestohlen. Was sie natürlich nicht getan hat, deswegen möchte sie ihm immer beweisen, dass er sie zu Unrecht beschuldigt. Doch er misshandelt sie dann erst recht und sagt: „Ich bin der Herr im Haus, du hast hier nichts zu sagen!“ In so einer Situation sagte Prof. Hirsch: „Ihr Mann möchte der Herr im Haus und der Beste für Sie sein. Also versuchen Sie das zu unterstützen, knien Sie sich vor ihn hin und sa-
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gen zu ihm „Jawohl, mein Herr und Meister, du hast Recht“.”Es hat ein wenig gedauert, bis die Frau sich wirklich getraut hat, das zu ihm zu sagen, allerdings ohne sich hinzuknien. Und das Ergebnis? Der Mann hat sie überrascht angeschaut, dann gelächelt und die Angelegenheit war erledigt. In diesem Beispiel geht es nicht darum, wer Recht hat, sondern es geht darum, die Angst zu reduzieren. Wer auf seinem Recht bestehen möchte, ist nicht mehr flexibel und kann keine neuen Verhaltensweisen ausprobieren. Zudem ist es in einer Beziehung völlig egal, wer Recht hat. Hier hilft Humor, hier hilft der Verzicht auf das Rechthaben, Aggressionen abzubauen und Eskalationen vorzubeugen. Da gilt der Satz von Erich Kästner: Es ist leicht, das Leben schwer zu nehmen. Aber es ist schwer, das Leben leicht zu nehmen.
Humor und Menschenrechte Humor kann nicht nur dazu dienen, kommunikativ schwierige Situationen oder haftungsrechtlich relevante Risikosituationen zu entschärfen, Humor kann auch dazu dienen, rechtlich nicht hinnehmbare Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen mit Demenz aufzudecken, ohne sofort die Rolle des Staatsanwalts zu übernehmen und Abwehr der für die angeprangerte Rechtsverletzung Verantwortlichen zu provozieren: seien dies nun ungerechtfertigte Fixierungen oder hochproblematische Sedierungen.
Rechthaber und Humor Das rechthaberische Argumentieren mit einer bestimmten Gesetzeslage, mit Ge- und Verboten stört häufig. Nicht aber ein koproduktives Bemühen um die Gestaltung der An- und Herausforderungen, die mit einem Leben mit Demenz verbunden sind – sei es als Angehöriger, Pflegender oder vor allem als Betroffener. Das sind anspruchsvolle, menschlich fordernde und häufig von Dilemmata geprägte Situationen, die im Mittelpunkt stehen, wenn es um rechtliche Fragen der Begleitung von Menschen mit
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Demenz geht. Die Reflexion rechtlicher Wertung, die Einhaltung von Spielregeln des Rechtes, etwa bei der Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen, sie sind kulturell bedeutsam. Rechtlich sind zumeist unterschiedliche Gesichtspunkte, Rechtsgüter von Belang: Freiheitsrechte, der Anspruch auf Sicherheit und Schutz, das Recht auf Genuss und Beförderung eines nicht selbstschädigenden Verhaltens, das Recht auf Risiko, die Verantwortung für Risikobegrenzung. Das verlangt nach Flexibilität und setzt die Bereitschaft voraus, Situationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Das ist nicht immer selbstverständlich. (Zu) schnell wird mitunter eine eindeutige Verantwortlichkeit oder Schuld unterstellt: „Sie hätten meine Mutter fixieren müssen, damit sie nicht aus dem Bett fällt!“ „Sie hätten die Haustür geschlossen halten müssen, es war doch klar, dass meine Frau einmal wegläuft!“ So einfach liegen die Dinge weder fachlich noch rechtlich. Risikoreiche Situationen, in denen Eingriffe in Freiheitsrechte vorgenommen werden, verlangen auch danach, den Menschen, um den es geht, darin zu unterstützen, seine Situation in einer Weise zu deuten, die nicht (so) kränkt. Auch hier kann Humor helfen. Viele Menschen mit Demenz lehren uns, die Vieldeutigkeit einer Situation zu sehen, und zwar mit ihrem Humor. Mit ihnen zu lachen, einen menschenfreundlichen, von Gelassenheit geprägten Humor zu entwickeln, ist eine wichtige Voraussetzung für erlebte Lebensqualität von Menschen mit Demenz und einen professionellen und gelassenen Umgang mit der Verantwortung.
Service-Teil Allgemeine Anmerkung Witze über Menschen mit Demenz können verletzend und beleidigend sein. Ein menschenfreundlicher Humor hilft Situationen zu entschärfen, peinlichen Situationen eine Wendung zu geben und Demütigungen zu vermeiden. So kann der Humor einen wichtigen Beitrag leisten, die Menschenwürde von Menschen mit Demenz zu wahren.
Literatur Gaymann, Peter; Klie, Thomas: Demensch Kalender 2015, www.fel-verlag.de Gaymann, Peter, Klie, Thomas (2015): DEMENSCH: Texte und Zeichnungen, Heidelberg, i.E. demenz.Das Magazin: Humorvoll sein, Ausgabe 09/2011, Brinkmann Meyhöfer, Hannover
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Kommunen Die Wiederentdeckung der Kommunen – Kommunen brauchen mehr Handlungsspielraum „Leben und Sterben dort, wo ich hingehöre“, so formuliert es Klaus Dörner in seinen Streitschriften zu einer Neuorientierung der Alten- und Pflegepolitik. Wir leben am Ort. Von der Kultur, von der Infrastruktur, von den zur Verfügung gestellten Dienstleistungen hängt ganz wesentlich ab, ob ein gutes Leben vor Ort mit Demenz gelingt. Die Kommunen sind gefragt. Die Kommunen befinden sich in einer nicht einfachen Situation. Manche Kommunen beklagen einen großen Bevölkerungsrückgang. Damit verbunden sind eingeengte finanzielle Handlungsspielräume. Andere Kommunen sind durch ihre Haushaltssituation in ihren Möglichkeiten begrenzt. Sie wurden durch die Pflegeversicherung in punkto Pflege entpflichtet oder haben sich entpflichten lassen. Das war nicht gut. Das muss, gerade mit Blick auf Menschen mit Demenz, auf die Forderung nach demenzfreundlichen Kommunen rückgängig gemacht werden. Die Bedeutung der Kommunen bis hin zum Leitbild der Caring Community und ihre Verpflichtungen werden im nachfolgenden Abschnitt herausgearbeitet. Die Aktion Demenz zielt mit ihren Aktivitäten ebenso auf die Kommunen wie vielfältige Förderprogramme des Bundes und der Länder: Das Programm „Aktiv im Alter“ betont die vielfältigen Aufgaben und Rollen der Kommunen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel und weist älteren Menschen eine aktive Mitgestaltungsrolle zu. Das von der Bertelsmann Stiftung geförderte Programm NAIS – Neues Altern in der Stadt setzt auf neue Planungs- und Beteiligungsansätze, um modellhaft aufzuzeigen, wo die Gestaltungsspielräume für Kommunen auch bezogen auf Lebensbedingungen für Menschen mit Demenz liegen. Das Quartier wird immer mehr in den Fokus konzeptioneller Neuorientierung in der Versorgung von auf Pflege angewiesenen und demenzkranken Menschen gerückt. Das tut nicht nur Klaus Dörner, das haben auch die Träger des Innovationszusammenschlusses SONG – Soziales neu gestalten getan. Das Land Rheinland-Pfalz unterstützt seine Kommunen in einer örtlich angepassten kommunalen Alten- und Pflegestrukturplanung, das
> Kommunen Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Programm „Soziale Stadt“, bisher weithin „altersblind“, widmet sich vermehrt auch der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen im Alter. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat in seinen Verlautbarungen den Kommunen einen zentralen Gestaltungsauftrag für das Leben im Alter und auch für das Leben mit Demenz auf die Agenda geschrieben. Menschen mit Demenz leben nicht „in the space“, sondern „on the place“. Ihr Wohnort, das Quartier, in dem sie leben, die Kommune setzen maßgebliche Rahmenbedingungen für ihr gelingendes Leben, für ihre Entfaltungsspielräume, für ihre Akzeptanz und Teilhabe. Die unterstützende Infrastruktur auf kommunaler Ebene ist entscheidend für Fragen der Vereinbarkeit zwischen Erwerbsarbeit und Unterstützung von demenzkranken Angehörigen, für Entlastungsangebote, für einen gelingenden Welfare-Mix, in dem Professionelle, in dem Angehörige, aber auch bürgerschaftlich Engagierte, sich an der Aufgabe der Gestaltung eines demenzfreundlichen Gemeinwesens beteiligen und tätige Unterstützung im Alltag miteinander teilen. Im Rahmen des „Freiburger Modells“ wurde der Begriff der „geteilten Verantwortung“ geprägt, ein Leitbild dafür, dass weder den Professionellen, noch den Familienangehörigen aber auch nicht den Heimen allein die Aufgaben der Sorge übertragen werden dürfen, Man hat sie zu teilen und in dieser Teilung liegt eine besondere Qualität der Kultur eines Gemeinwesens, aber auch eine besondere Qualität der Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz. Was haben diese Entwicklungen, was haben derart grundsätzliche Überlegungen mit dem Recht zu tun? Die Gemeindeordnungen verpflichten die Städte und Gemeinden zu einer allgemeinen Daseinsvorsorge, zu der Gestaltung von Lebensbedingungen, die für alle Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern ein lebenswertes, ein sicheres und ein auskömmliches Leben ermöglichen. Dabei verweist die Geschichte der deutschen Kommunen darauf, dass die Gemeinde und die Stadt zweierlei Gesichter hat: zum einen ist sie als untere Landesbehörde (Kreise und kreisfreie Städte) für die Ausführung von Bundes- und Landesgesetzen zuständig. Dazu gehört das Sozialhilferecht SGB XII, das gerade auch für Menschen mit Demenz eine Bedeutung erlangen kann, dazu gehören die Landesheimgesetze, dazu gehören aber auch die Gesundheitsdienstgesetze. Hier übernehmen die Gemeinden staatliche Aufgaben. Das andere Gesicht ist das Gesicht der Genossenschaft: Traditionell sind Gemeinden Orte der Selbstverwaltung, der gemeinwirtschaft-
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lichen Gestaltung der Aufgaben der Daseinsvor- und Fürsorge. Artikel 28 GG schreibt das Recht auf Selbstverwaltung als verfassungsrechtlich gewährleistet fest. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Kommunen: Lebensbedingungen für Menschen mit Demenz als eigene, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern, den Unternehmen, den öffentlichen Institutionen, den Verbänden zu gestalten und staatliche Aufgaben im Gesetzesvollzug wahrnehmen. Die Förderung bürgerschaftlichen Engagements, die Beratung von Initiativen, die sich um neue Wohn- und Lebensformen für Menschen mit Demenz bemühen, der Aufbau von Betreuungsgruppen, die Thematisierung eines Lebens mit Demenz in der Öffentlichkeit: all das sind Aufgaben, die die Gemeinde im Rahmen ihrer Selbstverwaltung gestalten kann und muss. Wir wissen darum, dass der Staat als ein gewährender Staat mitnichten in der Lage ist, die Voraussetzung für ein lebenswertes Leben vor Ort zu schaffen, für Lebensqualität, für Teilhabe trägt im hohem Maße die örtliche Gemeinschaft Verantwortung. In dieser genossenschaftlichen Tradition drückt sich der Gestaltungsauftrag von Kommunen aus, die heute nur einer intelligenten „Vernetzung“, in einer guten Kooperation der unterschiedlichen Akteure auf kommunaler Ebene gelingen kann. Die Kommune ist hier in ihrer Governance-Kunst gefragt, in der Kunst Themen, die kulturell bedeutsam sind, zu setzen, Gesprächszusammenhänge und Kooperationsgelegenheiten zu schaffen und Bürgerinnen und Bürger zu ermutigen, gemeinsam Aufgaben zu gestalten, die nur örtlich wahrgenommen werden können. Zu dieser Gestaltungsaufgabe gesellt sich die Aufgabe der Gewährleistung, dass Menschen Lebensbedingungen vorfinden, die zuträglich sind, die ihre Alltagsversorgung sicherstellen, ihre Mobilität, ihre Sicherheit und auch die Versorgung mit notwendigen Hilfen und Unterstützungsleistungen. Gewährleistung heißt nicht unbedingt selber tun, gewährleisten heißt dafür zu sorgen, dass die Voraussetzungen für zuträgliche Lebensbedingungen vor Ort vorhanden sind und erhalten bleiben. Eines der wesentlichen Instrumente einer vorausschauenden Kommunalpolitik ist die Planung. Nur eine Minderheit von Kommunen in Deutschland widmet sich dem Thema Sozial- und Altenplanung, indem das Thema „Leben mit Demenz“ zu einem der zentralen gehört. Wo dies aber geschieht, wo vorausschauend geplant wird, wo an dem Planungsprozess die Bürgerinnen und Bürger systematisch beteiligt werden, dort gelingt es, die Bedarfe gemeinsam in den Blick zu nehmen oder auch neue Antworten zu finden und das Thema Demenz nicht den Profis und den Familien allein zu überlassen. Eine Planungsverpflichtung für Kommu-
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nen kennt das deutsche Recht durchaus: Sie befinden sich im BauGB, in der Vorschrift der Altenhilfe in § 71 SGB XII, in den Landespflegegesetzen, um nur einige zu nennen. Es bleibt aber letztlich in die Selbstverantwortung der Kommunen gestellt, ob und wie sie diesen Aufgaben nachgehen. Je mehr sie sich mit der Frage der Planung, mit der Gestaltung des demografischen Wandels und vorausschauend mit den Lebensbedingungen für Menschen mit Demenz auseinandersetzen, umso besser kommen sie ihren Gewährleistungsaufgaben nach. Und dies wird sich auszahlen, fiskalisch: Investiert eine Kommune in bessere Lebensbedingungen für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen, dann wird sie in weniger umfangreichen Maße auf Pflegeheime verwiesen sein, die man weiterhin brauchen wird, die aber nicht für alle die geeigneten Lebensorte sind und die vor allem auch hohe Kosten verursachen, für die Kommunen als Sozialhilfeträger. Die dritte Aufgabe der Kommunen liegt in der Gewährung von Sozialleistungen, in der Gewährung von Unterstützungsleistungen für ihre Bürgerinnen und Bürger. Hier gibt es Verpflichtungen, sei es für Sicherheit zu sorgen, sei es dafür Sorge zu tragen, dass auch Menschen mit Demenz nicht zu Schaden kommen, auch in ihren Familien: Den Kommunen kommt eine Art Wächteramt gegenüber Menschen mit Demenz und ihren Familien zu, durchaus in einer Parallele zur Jugendhilfe, wo wir dieses als recht selbstverständlich ansehen. Ob die Kommunen als Betreuungsbehörden angesprochen werden oder als Sozialhilfeträger: In all diesen Aufgaben haben sie wichtige Gewährungs- und Sicherstellungsfunktionen, die sich auch und gerade auf Menschen mit Demenz beziehen. Sie sind nicht aus der Pflicht, weil es eine Pflegeversicherung gibt, sie sind nicht aus der Pflicht, weil es eine Krankenversicherung gibt, die zwar vorrangig zuständig ist, aber nicht erschöpfend. Die Teilhabesicherung für Menschen mit Demenz, die auch finanzielle Unterstützung von einkommensschwachen Menschen mit Demenz, wenn es etwa um die persönliche Assistenz geht, wenn es um den Besuch von kulturellen Veranstaltungen geht, wenn es um eine individuelle Lebensgestaltung unter Bedingungen der Demenz geht, dies sind alles Aufgaben, die die Kommunen, in dem Fall als Sozialhilfeträger, wahrzunehmen haben. Den Kommunen kommt auch die Aufgabe zu, die Leistungsgrenzen der Pflegeversicherung zu kompensieren und im Rahmen der Hilfe zur Pflege gemäß §§ 61 ff. SGB XII weitergehende Leistungen als die der Pflegeversicherung zu gewähren. Dazu gehören nicht nur die Leistungen, die die Pflegeversicherung kennt, aber in ihrer Leistungshöhe begrenzt, sondern gegebenenfalls auch andere: Aufwandserstattung für pflegende Angehörige, Beihilfen. Auch können die Kommunen andere, als die zugelassenen Pflegedienste mit Aufgaben der Hilfe zur Pflege betrauen. Die Leistungen der Sozialhilfeträger
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können auch in Form eines persönlichen Budgets gewährt werden, was in der Pflegeversicherung (noch) nicht möglich ist. Auch in der Gewährungsrolle haben die Kommunen Gestaltungsspielräume, aber auch eine ganze Reihe von Verpflichtungen, denen mitnichten alle in der gebotenen Weise nachkommen. Den Kommunen kommt eine zentrale Gestaltungsrolle im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel und der Bewältigung von Pflegeaufgaben und Aufgaben der Begleitung von Menschen mit Demenz zu. Vor Ort leben Menschen, vor Ort werden die Hilfeangebote entwickelt, werden Wohn- und Lebensformen geprägt. Durch die Einführung der Pflegeversicherung wurden die Kommunen einerseits finanziell entlastet von ihren wachsenden Sozialausgaben im Bereich der Pflege. Sie haben aber auch gleichzeitig ihre Kompetenz eingebüßt, Fragen der pflegerischen Begleitung von ihren Bürgerinnen und Bürgern selbst in die Hand zu nehmen. Sie leben vor Ort, sie sind auf die Lebensbedingungen vor Ort angewiesen, vor Ort bestehen aber nicht die Kompetenzen, die Sozialleistungen auszugestalten, Einfluss zu nehmen auf die Infrastrukturentwicklung. Die Regiekompetenz haben die Kommunen an die Pflegeversicherung und an den Markt verloren. Ein investitionsbereiter Investor, der ein Pflegeheim bauen will, ist nicht mehr angewiesen auf eine entsprechende Bedarfsbestätigung durch die Kommune, er kann einfach bauen. So sehen sich Kommunen in einer gewissen Ohnmacht, was die Themen der Pflege anbelangt. Auch die neuen Pflegestützpunkte, die Pflegeberatung, die durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz eingeführt wurden und die gerade eine wohnortnahe Perspektive gewährleisten sollen, sie liegen in den Händen der Pflegekassen und nicht der Kommunen. Hierin liegt ein grober Konstruktionsfehler der Care- und Case Management-Regelungen in der Pflegeversicherung. Die vielen Gewährleistungs-, die Gewährungs- und vor allem auch die Gestaltungsaufgaben, die Kommunen wahrzunehmen haben im Zusammenhang mit der Daseinsvorsorge für Menschen mit Demenz, sie rufen danach, dass den Kommunen auch wieder die Kompetenzen und Ressourcen zugeordnet werden, um ihre Aufgaben hier nicht nur als „freiwillige Aufgaben“ wahrzunehmen, sondern als Aufgaben, die sie als zentrale Sozialleistungsträger kennen. Gerade die Finanzkrise gefährdet die Handlungsspielräume der Kommunen. Das Leitbild einer sich sorgenden Gemeinde, einer sich sorgenden Gesellschaft verlangt danach, dass die örtliche Ebene, dass die kommunale Ebene in ihrer genossenschaftlichen und in ihrer staatlichen Funktion gestärkt wird. In einer Strukturreform der Pflegesicherung sollte genau darauf Acht gegeben werden.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Kommune ist nicht gleich Kommune: zu unterscheiden sind zunächst Landkreise und kreisfreie Städte (oder Stadtkreise) von den kreisangehörigen Gemeinden und Städten. Während die Verantwortung für die Umsetzung des SGB XII bei den Kreisen liegt, sind die Gemeinden für die allgemeine Daseinsvorsorge verantwortlich. Unterhalb der Gemeinden gibt es sublokale Einheiten wie Stadtteile, Ortschaften oder Quartiere, meist mit geringen Kompetenzen aber einer hohen Bedeutung für die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger.
Rechtsquellen § 71 SGB XII
Weiterführende Hinweise Adressen: Aktion Demenz e.V., www.aktion-demenz.de Deutscher Städte und Gemeindebund, www.dstgb.de/dstgb/Home/Homepage/
Literatur Schneider-Schelte, Helga (2009): Selbständig leben auch mit Demenz: Erfahrungen aus dem Projekt „Allein lebende Demenzkranke – Schulung in der Kommune“, in: Soziale Arbeit, 58 (2009) 11/12, S. 445-450 Wienand, Manfred (2014): Sozialrechtliche Grundlagen kommunaler Altenhilfe-Infrastrukturentwicklung, in: ProAlter, KDA, Ausgabe 06, Jg. 46
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Lebensqualität
Wir wissen inzwischen darum: Auch und gerade Menschen mit Demenz können ihr Leben, können Situationen, können den Augenblick genießen. Es hängt viel von den Rahmenbedingungen, von der Gestaltung der Beziehung ab, ob Menschen mit Demenz so etwas wie Lebensqualität erleben können. Lebensqualität allerdings messen zu wollen, erscheint vermessen: Dazu sind wir zu verschieden. Auch kann sie keinem Menschen in einer gesundheitlichen Krisensituation verordnet werden, um auch Lebensqualität zu erleben. Gleichwohl sind immer mehr Qualitätsmaßstäbe auf die Kategorie der Lebensqualität ausgerichtet. Auf der einen Seite ist dies nachvollziehbar und richtig: Geht es doch nicht nur um medizinische Parameter. Auf der anderen Seite besteht die große Gefahr, Menschen mit Demenz einem staatlich normierten Verständnis von Lebensqualität zu unterwerfen.
Recht auf Genuss Lebensqualität ist die Maxime für die Begleitung von Menschen mit Demenz und Lebensqualität heißt sehr Unterschiedliches, unter anderem auch genießen dürfen. Unser protonormistisches Pflegeverständnis, ein Pflegeverständnis, in dem wir standardorientiert und mit vorgegebenen Leistungsinhalten Pflege gestalten, gefährdet einen lebensqualitätsorientierten Ansatz in der Pflege, schließt ihn aber nicht aus. Ich kann als Pflegekraft, auch als pflegender Angehöriger alltägliche und notwendige Unterstützungsleistungen auch unter dem Aspekt des Genießens, des Wohlbefindens gestalten. Gute Pflege tut dies: Die Kinästhetik gibt den methodischen und fachlichen Hintergrund und domestiziert sie zugleich. Wellness und Pflege liegen nah beieinander. Gute Pflege orientiert sich an den individuellen Präferenzen, an dem, was Wohlbefinden auslöst, und achtet dabei die Individualität und wahrt auch die Distanz. Kann doch eine Wellness-orientierte Pflegehandlung schnell auch Scham „verletzen“ und „unverschämt“ werden. Gute Pflege etwa oder gute hauswirtschaftliche Unterstützung bezieht den Genuss als eine Dimension des Erlebens und der Gestaltung von Hilfen mit ein. In der „offiziellen“ Qualitätssicherung kommt dieser Aspekt immer noch zu kurz – vielleicht glücklicherweise.
> Lebensqualität Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Auf keinen Fall gibt es irgendeine Berechtigung, Menschen, nur weil sie an einer Behinderung leiden und „pflegebedürftig“ sind, von den Genüssen fernzuhalten, die zu unserem Leben gehören: Der früher obligate Hagebuttentee im Pflegeheim muss nicht das abendliche Bier oder den Schoppen Wein ersetzen. Früher war es üblich, dass Bewohnerinnen und Bewohnern von Heimen ein Kontingent an Wein oder Bier neben anderen „wichtigen“ Lebensmitteln zur Verfügung stand. Alte Haus- bzw. Stiftsordnungen und -Satzungen erinnern daran. Wenn ein Markus Biedermann seine Kochkünste für Menschen mit Demenz entfaltet, vom Fingerfood bis zum Rechaud am Bett, dann dienen sie dem Zugang zum Menschen über seine Sinne und den Genuss. Zum Glück hat man sich von Diäten, von der Schonkost weithin verabschiedet. In der Behindertenhilfe haben wir gelernt, dass Teilhabe heißt: Einbezogen sein in elementare Lebensbereiche. Dazu gehört auch die Teilhabe an Kultur: In der Eingliederungshilfe wird auch ein Konzert besucht respektive die Begleitung dahin unterstützt. Lange Diskussionen gab und gibt es über die Sexualassistenz für Menschen mit Behinderung, in Dänemark selbstverständlich. Hört die Sexualität bei Menschen mit Demenz auf? Sie zuzulassen, darauf hat jeder Mensch ein Recht, soweit sie die Rechte anderer wahrt.
Vorsorgen für Genüsse Betreuungsverfügungen sind nicht nur dazu da, Festlegungen darüber zu treffen, wie das Geld verwaltet werden soll, wer berechtigt wird, für mich zu entscheiden, wie gegebenenfalls mein Wille – in einer Patientenverfügung niedergelegt – zur Geltung gebracht werden soll. In einer Vorsorgevollmacht und einer Betreuungsverfügung kann auch festgelegt werden, welche Lebensgewohnheiten, welche Freuden mir auch unter dem Vorzeichen schwerer Demenz erhalten bleiben sollen, wenn ich das dann noch wünsche. Dazu kann der Schoppen Rotwein am Abend genauso gehören wie die Unterhaltung eines Haustiers, der Restaurantbesuch oder Kinoabend. Das Betreuungsrecht ist eingeführt worden mit dem Ziel, das diesseitige Leben des Menschen mit Behinderung ernstzunehmen und zur Entfaltung zu bringen. Die Person, nicht die Vermögenssorge, steht im Vordergrund. Die Betreuer sind nicht dazu da, das Geld zu verwalten und zu vermehren, es sei denn, der Betroffene wünscht dies so. Sie haben Wünsche des Betreuten zu befolgen, § 1901 BGB – es sei denn, sie laufen seinem Wohl zuwider oder sind dem Betreuer nicht zuzumuten. Der Betreuer hat nicht seine Vorstellungen von einem
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> Lebensqualität
guten und ordentlichen Leben auf den Betreuten zu übertragen. Er muss nicht dafür sorgen, dass ein Alkoholiker am Ende seines Lebens trocken wird und allen Lastern abschwört. Wie es bei „Leonce und Lena“ von Georg Büchner heißt: „Wir sind alle Narren und keiner hat das Recht, seine Narretei einem anderen aufzuoktruieren“. Die Tyrannei eines Gesundheitsdogmas als Richtschnur für Betreuerhandeln, diese moderne Askese, sie ist nicht die normative Vorgabe für Betreuerhandeln. In mehrfacher Hinsicht gilt: Gesundheit ist nicht (immer) das höchste Gut. So kann ein Rechtsinstitut für die Betreuung, eine Vorsorgevollmacht oder eine Betreuungsverfügung dazu benutzt werden, sich Freuden, Genüsse und Wellness auch dann zu sichern, wenn ich selber nicht in der Lage bin, sie mir zu organisieren und zu verschaffen. Nur aufgepasst: Gerade unter dem Vorzeichen der Demenz können sich die Bedürfnisse und können sich auch die Sinne wandeln. Bald schmeckt dann die Zigarre nicht mehr.
Recht auf Unvernunft? Der Mensch ist ein zur Vernunft befähigtes Wesen. Das zeichnet ihn aus. Eine unvernünftige Handlung führt in unserer Rechtsordnung zur Verantwortlichkeit des Handelnden: Er muss für die Folgen seines Tuns eintreten. Kann er das aber nicht mehr absehen, weiß er nicht, was er da tut, wenn er große Bestellungen im Versandhandel aufgibt, eine 0190-Nummer wählt, sein Geld verschenkt, dann greift die so genannte Geschäftsunfähigkeit. Derart unvernünftiges Handeln im Sinne von einem Handeln, dass der Betroffene in seinen Folgen nicht übersehen konnte, krankheitsbedingt, führt dazu, dass gegebenenfalls das Rechtsgeschäft rückabgewickelt werden kann und muss. Mit der Bestellung eines Betreuers, aber auch mit der Ausstellung einer Vorsorgevollmacht ist keineswegs automatisch der Verlust der Geschäftsfähigkeit verbunden, sie muss jeweils im Einzelfall festgestellt werden.
Genuss auf Kosten des Notwendigen? Die Grundsicherung im Alter lässt nicht viel Handlungsspielraum, der Barbetrag im Heim noch weniger. Der hygienische Sachaufwand ist überwiegend mit aus dem Barbetrag im Heim zu zahlen. Was aber, wenn das Geld für Musik, für Wein, für Sahnetorte eingesetzt wird. Ist das nicht mehr der bestimmungsgemäße Gebrauch des Barbetrags? So
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wenig wie es eine Pflicht gibt, sich einmal in der Woche oder gar am Tag zu duschen, gibt es eine Verpflichtung, sich allgemein geltenden Hygienestandards zu unterwerfen. Das automatische Vorenthalten von Barbetragsbeträgen für die „notwendigen Dinge des Lebens“, geht rechtlich so nicht in Ordnung. Das ist Aushandlungssache. Selbstverständlich liegt allen daran, dass ein Mensch gepflegt durch den Tag geht und als solcher wahrgenommen wird. Ein Recht, ihn dazu zu zwingen, habe ich nicht. Hier ist Interaktionskunst gefragt, aber nicht späte Erziehung.
Was heißt Genuss unter dem Vorzeichen einer schweren Demenz? Vielen fällt es schwer, sich das vorstellen zu können. Und es sind unsere Vorstellungen in unsere kultivierten Vorstellungen von Genuss einzubetten. Hierin liegt aber unsere zivilisatorische Leistung, die wir zu erbringen haben: Ich nenne es gerne die „Zivilisation zweiter Ordnung“, die lernt abzusehen von den Konventionen und auf Körperkontrolle hin ausgerichteten elaborierten Spielregeln beim Essen, im persönlichen Kontakt, im Umgang mit dem eigenen Körper. Den Menschen in seiner Würde hinter diesem Genuss zu sehen und „der Würde Raum“ zu geben, das ist eine kulturelle Leistung. Wenn Walter Jens durch eine „einfache“ Frau Zugang zu alltäglichen kleinen Freuden erhielt, mag in diesem Zugang jenseits professioneller Standards der Schlüssel zur Gegenwart dieses Menschen jetzt liegen. Er hat ein Recht darauf, dass wir uns auf die Suche danach machen, was ihm heute etwas Lebensqualität schenkt.
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> Lebensqualität
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Mit dem Begriff Lebensqualität werden üblicherweise die Faktoren bezeichnet, die die Lebensbedingungen in einer Gesellschaft beziehungsweise für deren Individuen ausmachen. Die Lebensqualität kennt eine objektive Seite mit Lebensbedingungen wie Ordentlichkeit, Versorgungsqualität, Einkommen oder eine subjektive Seite wie individuelle Zufriedenheit, Leben in Übereinstimmung mit den eigenen Wertvorstellungen. Gerade bei Demenz besteht die besondere Aufgabe und Herausforderung, ohne direkte sprachliche Verständigung das heraus zu finden, was für die Zufriedenheit, das Wohlbefinden bedeutsam ist.
Rechtsquellen In einigen Landesheimgesetzen wird als Zielsetzung die Förderung und Sicherung der Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner genannt.
Literatur Coors/Kumlehn (Hrsg.) (2012): Lebensqualität im Alter: gerontologische und ethische Perspektiven auf Alter und Demenz /Tagung „Lebensqualität im Alter“ in Hannover. Stuttgart, Kohlhammer Kirchhoff-Rode, Elke (2013): Wohlbefinden und Lebensqualität bei Demenzbetroffenen, Hannover, Schlütersche
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Mitwirkung und Teilhabe Wie gelingt Mitwirkung und Teilhabe unter Bedingung schwerer Demenz? Es ist eine rechtliche Errungenschaft, dass Menschen wegen einer Behinderung oder einer Krankheit keine Rechte, auch nicht auf die Übernahme öffentlicher Ämter, abgesprochen werden darf. Wenn aber tatsächlich das Interesse, die Fähigkeiten, die Möglichkeiten nicht mehr gegeben sind, wie sieht es dann mit Fragen der Mitwirkung und Teilhabe aus, die gerade in den deutschen Heimgesetzen auf Landesebene großgeschrieben wird. Demokratie und Demenz „Mehr Demokratie wagen“ – mit diesem zentralen Satz aus seiner Regierungserklärung 1969 ist Willy Brandts Bekenntnis zu mehr Teilhabe und Offenheit noch heute präsent. Mehr Demokratie in allen Lebensbereichen zu leben, von der Schule (Schülermitverantwortung) bis zum Arbeitsleben (Betriebsräte), das war Programm der 1970er-Jahre. Und das Programm machte auch nicht Halt vor den Heimen. Mit dem 1974 einstimmig im Deutschen Bundestag verabschiedeten Heimgesetz wurde der Heimbeirat als Pflichtgremium in Behinderten- und Altenheimen eingeführt. In den (moderat) totalen Institutionen (Koch-Straube), in den Menschen in struktureller Abhängigkeit leben – ihr Tagesrhythmus wird ebenso (weithin) vorgegeben wie die Spielregeln des Zusammenlebens – sollten sie in Angelegenheiten des Heimlebens mitwirken, teilweise sogar mitentscheiden. Die Mischung macht’s: Nicht ohne Bewohnerinnen, aber auch nicht ohne externe Unterstützung sollte ein Beirat besetzt oder gewählt werden. So stand es in der zum Heimgesetz erlassenen „Heimmitwirkungsverordnung“. Und so steht es heute in den 16 Landesgesetzen zum Heimrecht11. Mit dem Heimbeirat wird den Bewohnerinnen und Bewohnern ein Mitwirkungsrecht in zahlreichen Fragen des Heimbetriebes und der Gestaltung des Lebens im Heim eingeräumt: -- Er ist über wesentliche Entwicklungen im Heimbetrieb – etwa veränderte Konzepte, Umbauten, Qualitätsprobleme – zu informieren.
11 vgl.www.biva.de
> Mitwirkung und Teilhabe Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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-- Er ist bei Entgelterhöhungen zu beteiligen. -- Er hat das Recht, Anträge bei der Heimleitung zu stellen, die auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen im Heim ausgerichtet sind. -- Er ist dazu da, Beschwerden und Anregungen der Bewohnerschaft entgegenzunehmen und weiterzuleiten. -- Auch soll er das Einleben der „Neuen“ im Heim unterstützen und fördern. Für seine Arbeit kann er wie ein Betriebsrat vom Heim Unterstützung verlangen – und dies auch in finanzieller Hinsicht, etwa für: -- eine Schreibkraft für die Protokolle der Beiratsitzungen, -- Nutzung von Räumen, -- Anschlagtafel für Bekanntmachungen, -- Informationsmaterial, Abo von Zeitschriften, -- Internetzugang, -- Fortbildung, -- Reisen zu Heimbeiratsveranstaltungen oder zur Heimaufsichtsbehörde, -- Auslagen für hinzugezogene sachkundige Personen – etwa zur Beurteilung der Angemessenheit einer Entgelterhöhung. Gewählt wird der Heim- oder Bewohnerbeirat, wie er in einigen Landesgesetzen genannt wird, aus der Mitte der Bewohnerschaft. Es können aber auch Externe gewählt werden: Angehörige, der ehemalige Sozialbürgermeister der Stadt, Mitglieder des örtlichen Senioren- oder Gemeinderates, engagierte Bürgerinnen und Bürger. Die Wahlvorschriften sind vielfach sehr stark formalisiert, orientiert an kommunalrechtlichen Spielregeln für Wahlen – und stehen in einem ironischen Verhältnis zu der Bedeutung, die den Wahlvorgängen in der Heimwirklichkeit zukommt. Es ist häufig schwierig, geeignete Kandidaten oder Kandidatinnen zu gewinnen und zu finden. Viele Bewohner beschäftigen andere existenziellere Fragen als der Speiseplan, haben anderes in Kopf und Seele, als sich (noch mal) demokratisch zu betätigen. Gleichzeitig darf das Gremium nicht unterschätzt werden: in der Bedeutung, die es für diejenigen hat, die in ihm tätig sind und in seinem (potenziellen) Einfluss. Der Heimbeirat ist umso wirksamer, je besser die Zusammensetzung und das Engagement sind. Es bewährt sich die Unterstützung von außen, durch kundige und mit den Anliegen der Bewohner und Bewohnerinnen identifizierten Ehrenamtlichen. Sie sind nicht
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> Mitwirkung und Teilhabe
abhängig vom Heim und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, sie können einen konstruktiv kritischen Blick von außen auf die Einrichtung werfen. Sie haben auch ein offenes Auge und Ohr für die Bewohner und Bewohnerinnen, die sich nicht artikulieren und bisweilen auch von den Heimbeiräten „übersehen“ werden. Kann ein Heimbeirat nicht gebildet werden, kann ein Ersatzgremium berufen werden: ein Angehörigenbeirat etwa. Auch sehen die Landesgesetze zum Heimrecht die Einsetzung eines Fürsprechergremiums (Baden-Württemberg) oder Heimfürsprechers vor, der dann von der zuständigen Behörde eingesetzt wird und die gleichen Rechte hat wie der Heimbeirat.
Aufgaben und Möglichkeiten des Heimbeirates Was macht ein Heimbeirat oder Fürsprecher? Zunächst ist er mit vielen Kleinigkeiten beschäftigt: -- Raucherecken für die Bewohner, -- Schwellen für Rollstuhlfahrer, -- Lärmbelästigung in der Umgebung. Er hat sich mit Beschwerden auseinanderzusetzen: -- über das Verhalten dementiell veränderter Mitbewohner, -- über Probleme mit der Wäscheversorgung (kommt immer kaputt oder zur falschen Bewohnerin zurück), -- über das Essen und vieles mehr. Er wird einbezogen in die Qualitätsprüfungen durch den „Medizinischen Dienst der Krankenkassen“ (MDK) und der Heimaufsicht, wirkt mit bei der Änderung der Heimverträge, wird bei beabsichtigtem Verkauf oder Zusammenlegung der Einrichtungen mit einer anderen informiert.
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Heimbeiräte in der Praxis Die Wirklichkeit der Heimbeiräte ist sehr unterschiedlich. Die allermeisten Heime verfügen (formal) über einen Beirat. Sie sind zumeist auch in irgendeiner Weise aktiv. Das Aufgabenspektrum ist aber sehr unterschiedlich: es reicht von einer jährlichen Information bis zur regelmäßigen Beteiligung an Leitungsrunden der Einrichtung. Gefragt ist oft eine intensive Unterstützung durch das Heim, ansonsten würde der Heimbeirat nicht handlungsfähig sein, wenn er sich nur aus zumeist gesundheitlich stark beeinträchtigten Bewohnern zusammensetzt. Externe Mitlieder sind in etwa einem Drittel der Heime vorhanden. Dort, wo kein Heimbeirat gebildet werden kann, fehlt es oft an einem Ersatzgremium oder einem Fürsprecher (immerhin in 70 Prozent der Fälle). Nur drei Prozent der Heime verfügen über ein Ersatzgremium12. Zumeist wird die Arbeit der Heimbeiräte als wichtig und die Zusammenarbeit mit dem Heimträger als gut bewertet. Ihre Mitglieder empfinden die Institution Heimbeirat überwiegend als eine Ermutigung, sich für die eigenen Belange einzusetzen, zu sagen, was ihnen am Herzen liegt. Ausgeschöpft werden die Möglichkeiten des Heimbeirates – auch nach Einschätzung der Heimträger, die meist eine gute Meinung von ihrem Heimbeirat haben – nicht.
Mehr Demokratie in Altenpflegeheimen? Will man „mehr Demokratie“ im Heim „wagen“, muss man sich konzeptionell um die Mitwirkung der Bewohner und Bewohnerinnen und das Engagement von externen Unterstützern kümmern. Gerade bei Einrichtungen für Menschen mit Demenz ist dies gefragt. Zu den erfolgreichen Wegen gehören: -- Öffnung des Heimes nach außen, -- systematische Zusammenarbeit mit Seniorenvertretung und örtlicher Alzheimergesellschaft (wie etwa in Baden-Württemberg), -- Gewinnung von kompetenten externen Mitgliedern, -- personelle Unterstützung des Heimbeirates, -- ein auch für Angehörige und Ehrenamtliche offen stehendes Beschwerdemanagement,
12 vgl.www.biva.de
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> Mitwirkung und Teilhabe
-- Einbeziehung in maßgebliche Entscheidungsprozesse (Personalauswahl, Umbaumaßnahmen), -- Einbeziehung in Fragen und Ergebnisse der Qualitätssicherung, -- Einbindung des Heimbeirates in örtliche Netzwerke, -- Schulungen für Beiräte, -- Einbeziehung der Mitarbeiter bei Heimbeiratssitzungen (Koch, Hauswirtschaft, Pflege), -- in großen Einrichtungen: Heimbeirat mit Vertretern aller Wohnbereiche, -- Tätigkeitsberichte an Kommune und Heimaufsicht, -- enger Kontakt der Heimaufsicht mit den Mitwirkungsorganen, -- Einbindung des Heimbeirates oder Vertreter des Gremiums in Leitungsrunden, -- Würdigung der Arbeit der Beiräte, -- Einbindung der Heimbeirates und seiner Arbeit in ein Gesamtkonzept im Umgang mit Partizipation und Freiwilligen Engagement. Mit Heim- und anderen Beiräten kann in klassischen Heimen das versucht werden zu realisieren, was in Wohngruppen für Menschen mit Demenz vielerorts praktiziert wird: die systematische Einbeziehung der Mitverantwortungsbereitschaft von Angehörigen und Ehrenamtlichen. Heimbeiräte in stationären Einrichtungen für Demenzbetroffene können jedoch für Angehörige, ehemalige Angehörige und engagierte Bürger ein interessanter Ort der Mitgestaltung sein. Auf diese Weise gelingt eine höhere Identifikation mit dem Lebensort der Heimbewohner und häufig auch ein stärkeres Engagement, das für die Teilhabe und Lebensqualität der Bewohner und Bewohnerinnen essentiell ist.
Demokratie in Altenpflegeheimen – eine Chance für ehrenamtliches Engagement Demokratie ist mehr als Wahlen und gewählte Gremien. Demokratie ist eine Lebensform, eine Form des Zusammenlebens und der gemeinsam geteilten Erfahrung. Es geht um die gemeinsame Wahrnehmung von Aufgaben und Herausforderungen: Wie gestalten wir die An- und Herausforderungen mit einem Leben mit Demenz – auch der unserer Angehörigen und anderer Mitbürger und Mitbürgerinnen, wenn sie in einem Heim leben? Heimbeiräte sind für Menschen mit schweren demenziellen Veränderungen meist keine geeigneten Mitwirkungsorte. Sie gehen in ihrer Rationalität an der in-
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neren Wirklichkeit der Bewohner zumeist vorbei. Sie können jedoch für Angehörige, ehemalige Angehörige, engagierte Bürger und Bürgerinnen ein interessanter Ort der Mitgestaltung sein. In ihnen ergibt sich eine Möglichkeit, die Fragen der Teilhabe und Lebensqualität und der Wirklichkeit in Heimen nicht bürokratischen Kontrollinstanzen zu überlassen und sich mit völlig unsinnigen Noten über die Qualität der Pflege abspeisen zu lassen. Die Menschen mit Demenz im Heim bleiben unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen und wir für ihre Teilhabe und ihre Lebensqualität mitverantwortlich.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Der Heimbeirat ist ein Gremium, durch das die Bewohner eines Heimes für alte, pflegebedürftige oder behinderte Menschen in Angelegenheiten des Heimbetriebs mitwirken und mitbestimmen
Rechtsquellen www.biva.de/Gesetze/laender-heimgesetze
Landesheimgesetze
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Land
Mitwirkungsorgan
Rechtliche Grundlage
BadenWürttemberg
Heimbeirat
§ 5 WTPG
Bayern
Bewohnervertretung
Artikel 9 Pflege- und Wohnqualitätsgesetz
Berlin
Bewohnerbeirat
§ 9 Wohnteilhabegesetz
Brandenburg
Bewohnerschaftsrat
§ 16 Brandenburgisches Pflege- und Betreuungswohngesetz
Bremen
Bewohnerinnen- und Bewohnervertretung
§ 10 Bremisches Wohn- und Betreuungswohngesetz
Hamburg
Wohnbeirat
§ 13 Hamburgisches Wohn- und Betreuungsqualitätsgesetz
Hessen
Einrichtungsbeirat
§ 6 Hessisches Gesetz über Betreuungsund Pflegeleistungen
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Land
Mitwirkungsorgan
Rechtliche Grundlage
MecklenburgVorpommern
Bewohnervertretung
§ 7 Einrichtungenqualitätsgesetz
Niedersachsen
Bewohnervertretung
§ 4 Niedersächsisches Heimgesetz
NordrheinWestfalen
Beirat
§ 6 Wohn- und Teilhabegesetz
Rheinland-Pfalz
Vertretung der Bewohnerinnen und Bewohner
§ 9 Landesgesetz über Wohnformen und Teilhabe
Saarland
Bewohnervertretung
§ 9 Landesheimgesetz Saarland
Sachsen
Bewohnervertretung
§ 8 Sächsisches Betreuungs- und Wohnqualitätsgesetz
Sachsen-Anhalt
Bewohnerbeirat
§ 9 Wohn- und Teilhabegesetz
Schleswig-Holstein Beirat
§ 16 Selbstbestimmungsstärkungsgesetz
Thüringen
§ 7 Thüringer Wohn- und Teilhabegesetz (ThürWTG)
Heimbeirat
Weiterführende Hinweise Adressen: Bundesinteressensvertretung der Nutzerinnen und Nutzer von Wohn- und Betreuungsangeboten im Alter und bei Behinderung (BIVA) e.V.: http://www.biva.de/
Literatur Der Heimbeirat: Ein Informationsblatt über die Mitwirkung der Bewohnerinnen und Bewohner in Angelegenheiten des Heimbetriebes Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesinteressenvertretung und Selbsthilfevereinigung der Bewohnerinnen und Bewohner von Altenwohn- und Pflegeeinr. Berlin : Hrsg., 2003
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Nächtliche Assistenz Fixierung wegen Personalmangel? Muss die Personalsituation in jedem Fall hingenommen werden, und deswegen die Gabe von Psychopharmaka oder die Anwendung von Zwang akzeptiert werden? Nein, lautet die Antwort: Es gibt Situationen, in denen ähnlich wie bei somatischen Erkrankungen, etwa wie bei tracheotomierten PatientInnen, eine nächtliche Assistenz notwendig ist, um eine adäquate, die Menschenrechte wahrende und fachlich gebotene Begleitung sicherzustellen.
Nächtliche Assistenz für Demenzbetroffene Sie kennen die Situation: Nichts hilft mehr, außer persönliche Präsenz. Die innere Unruhe, Angstvorstellungen, eine latente Aggressivität verbreiten Ratlosigkeit. Medikamente helfen nicht, Fixierungsmaßnahmen verschärfen die Situation, als dass sie eine fachlich angemessene Antwort darstellen. Ob Heim oder zu Hause, derart herausfordernde und dilemmatöse Konstellationen können sich hier und dort stellen. Menschen mit Demenz kann man in solchen Situationen nicht alleine lassen, ohne Fixierungsmaßnahmen besteht die Gefahr, dass sie sich in ihre Unruhe verirren, dass sie stürzen, dass sie sich in einer für sie bedrohlichen Situation wiederfinden. In der Fixierung allein gelassen bestehen ebenfalls große Gefahren: Angstzustände, Retraumatisierung, Strangulation. In solchen Situationen hilft bisweilen nur eine Assistenz. Tagsüber mögen sich solche Betreuungssituationen mit Hilfe von Angehörigen, Ehrenamtlichen oder in der Tagespflege oder -betreuung auffangen lassen. In der Nacht, in der auch die Angehörigen ihre Ruhe brauchen, in der Störung von Mitbewohnerinnen und Mitbewohner zu vermeiden sind, hier fehlt gegebenenfalls eine persönliche Begleitung. Aus dem Pflegesatz der Heime lässt sich eine solche individuelle Betreuung nicht sicherstellen, auch in der häuslichen Pflege bedarf es dafür eines besonderen „finanziellen Arrangements“. Wer trägt die Kosten, wenn nicht die Angehörigen oder der Betroffene selbst? Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hatte in einer derartigen Situation zu entscheiden. Eine inzwischen hochbetagte psychisch kranke Frau mit einer langen psychiatrischen Karriere ließ sich nachts mit der Normalbesetzung nicht adäquat betreuen. Sie ließ sich auch nicht fixieren: Sie wehrte sich mit Händen und Füssen, schrie und weinte. Der gesetzliche Betreuer beantragte beim zuständigen Sozialamt eine zusätz-
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liche Nachtwache. In dieser spezifischen Situation war die persönliche Begleitung, die Präsenz einer mitschwingungsfähigen Person notwendig, um in adäquater Weise der betreffenden Frau beizustehen. Dabei ging es nicht in engerem Sinne um eine Nachtwache, nicht das stumme Aufpassen, sondern eine Assistenz, die auf die personenbezogene Unterstützung ausgerichtet war. Ob ein nächtlicher Spaziergang, Aufmerksamkeit, Zeit, Beobachtung der gesundheitlichen Situation: das waren die Aufgaben. Das Landessozialgericht ließ sich in einem vorläufigen Rechtschutzverfahren überzeugen, dass es dieser Hilfe bedarf, dass der Sozialhilfeträger über den Pflegesatz hinaus 3.000 Euro monatlich für eine persönliche Assistenz in der Nacht zu zahlen hat. Nicht jede Fixierung kann auf diese Weise abgewehrt werden, nicht überall ist diese individuelle Begleitung erforderlich. Aber es gibt solche Situationen. In der Psychiatrie sind Dienstanweisungen bekannt, dass fixierte Personen nicht allein gelassen werden dürfen. Fixierungen bedeuten für Menschen, die sie in ihren Wirkungen subjektiv intensiv erleben, eine ausgesprochen bedrohliche Situation. Sie wird von den Betroffenen meist als wesentlich belastender empfunden als es Außenstehende mit ihrem fürsorgerischen Blick annehmen. Auch in der Pflege von gerontopsychiatrisch erkrankten Personen kann der Satz seine Geltung beanspruchen: Personen mit einem außergewöhnlichen nächtlichen Unterstützungsbedarf dürfen nicht allein gelassen werden. Sie bedürfen der nächtlichen und persönlichen Assistenz, um belastende freiheitsentziehende Maßnahme zu vermeiden, ihnen in fachlich adäquater Weise beizustehen. In dem Fall aus Baden-Württemberg muss der Sozialhilfeträger zahlen, wobei offen blieb, ob im Rahmen der Eingliederungshilfe oder der Hilfe zur Pflege. Ob im Einzelfall auch die Krankenkassen in Anspruch genommen werden können, wurde in dem Verfahren nicht geprüft: Immerhin geht es nicht primär um Pflege und Eingliederungshilfe, sondern um die Antwort auf einen besonderen psychischen Ausnahmezustand, um die Aktualisierung von Traumatisierungen. In der Psychiatrie ist es selbstverständlich, dass hier die Kassen für entsprechende Leistungen einzutreten haben. Treten nicht die Kassen ein, so sind es zumeist die Betroffenen oder Angehörigen selbst, insbesondere in der häuslichen Pflege, die den zusätzlichen nächtlichen Betreuungsaufwand übernehmen müssen. Viele helfen sich mit Schwarzarbeit, mit Studierenden, mit osteuropäischen Pflegekräften. Es ist ein struktureller Fehler der deutschen Pflegeversicherung, dass besonders betreuungsintensive Situationen zum persönlichen finanziellen Risiko des Einzelnen und seiner Familien werden. Möglicherweise wird sowohl in Heimen als auch zu Hause in ähnlichen Konstellationen, in denen eigentlich eine persönliche Assistenz erforderlich ist, zu fachlich und rechtlich nicht hinnehmbaren Fixierungsmaß-
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nahmen gegriffen. Die Entscheidung des LSG13 macht deutlich, dass nicht immer bei Fixierungen, aber doch in spezifischen Konstellationen sozialstaatliche Hilfe geboten ist und mit entsprechender Unterstützung auch eingeholt werden kann und muss.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Während bei somatisch schwer kranken Menschen, etwa bei beatmeten Patienten recht unproblematisch eine „Rund um die Uhr Versorgung“ durch Fachkräfte von den Kassen geleistet und akzeptiert wird, ist dies bei psychisch Kranken und auch bei Menschen mit Demenz keineswegs selbstverständlich. Dabei steht im Prinzip ein Anspruch bei schweren psychischen Störungen, inneren Angstzuständen zu und auch eine fachlich fundierte Begleitung, die einer Fixierung oder Sedierung immer vorzuziehen ist.
Rechtsquellen §§ 37 SGB V, 53 ff, 61 ff SGB XII
Literatur Hoffmann, Birgit; Klie, Thomas (2004): Freiheitsentziehende Maßnahmen. Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen in Betreuungsrecht und -praxis. Mit der Münchener Studie zu Freiheitsentziehenden Maßnahmen in Pflegeheimen von Prof. Dr. Thomas Klie und Thomas Pfundstein. Heidelberg: C.F. Müller.
13 Gesetzblatt vom 26.03.2012 Abz. B8 SO/11 R
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Osteuropäische Hilfen „Kannst du mir eine Slowakin besorgen?“ Die Frage wird in Österreich, wird in Deutschland und in der Schweiz immer häufiger gestellt. Etwa 200.000 osteuropäische Hilfen sind in bundesdeutschen Privathaushalten tätig, meist in einer Grauzone des Rechtes beschäftigt. Darüber redet die Politik nicht gerne. Anders als in Österreich sind die Rechtsregeln in Deutschland nicht in einer Lage, die Frage der Legalität in jeder Hinsicht zu klären, zumindest dann nicht, wenn die Privathaushalte nicht bereit oder in der Lage sind, in entsprechende Zahlungen zu leisten, die auf der Basis des Mindestlohnes heute gefordert werden müssen. Für viele stellt sich die Beschäftigung von osteuropäischen Pflegekräften als ein Segen dar. Nicht immer aber gelingen die Arrangements. Mit den Vorzeichen einer tendenziellen Erkrankung ändern sich Partnerschaften zum Teil radikal. Dabei spielt die Begleitung und Pflege von Partnerinnen und Partnern die größte Rolle in der Familienpflege in Deutschland. Hierauf ist unter juristischen Gesichtspunkten zu achten, wenn eine demenzielle Erkrankung in die familiäre Partnerschaft „Einzug hält“. Hilfe aus dem Osten statt Pflegeheim? Was Sie beachten müssen, wenn Sie eine ausländische Haushaltshilfe oder Pflegekraft einstellen wollen Ihre Zahl wird auf 150.000 bis 200.000 geschätzt, die zumeist aus osteuropäischen Ländern stammenden Haushaltshilfen und Pflegekräfte, die in deutschen Haushalten tätig sind. In der Studie einer Gemeinde in Baden-Württemberg mit etwa 3.000 Einwohnern sind allein in 20 Haushalten osteuropäische Pflegekräfte tätig. Sie bieten offenbar etwas, was Pflegedienste so nicht bieten können: Eine sehr persönliche, zeitintensive Betreuung zu einem Preis, der auch haushaltsökonomisch verträglich ist. Die Leistungen der Pflegeversicherung reichen im Schnitt dafür, einen Pflegedienst eine Stunde pro Tag im Haushalt tätig werden zu lassen. Die Betreuung eines Menschen mit Demenz ist zumeist ein Fulltimejob. Auch Pflegewissenschaftlicher betonen: Die meisten Familien sind mit Hilfen aus dem Ausland sehr zufrieden, auch wenn sie Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, halten sich die Verständigungsprobleme in Grenzen. Ihr Einsatz macht nicht selten einen Heimeintritt überflüssig oder verzögert ihn. Aber es gilt auch aufzupassen, wie die Zeitschrift Test deutlich macht: Nicht alle sind zuverlässig und vor allem: Nicht alle arbeiten legal.
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Was sind die Voraussetzungen für die zuverlässige Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften. Es gibt hier verschiedene Varianten:
a) Die Entsendung Wird eine Betreuungskraft bei einem ausländischen Unternehmen angestellt, schließt die Familie einen Vertrag mit diesem, zum Beispiel tschechischen Pflegedienst, der dann die Betreuungskraft nach Deutschland schickt. Die Familie zahlt die vereinbarte Vergütung an das ausländische Unternehmen, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge sind Angelegenheit des tschechischen Pflegedienstes. In diesem Modell der Entsendung ist aber Vorsicht geboten: Hält sich die Betreuungskraft über 182 Tage im Jahr in Deutschland auf, wird sie in Deutschland einkommenssteuerpflichtig. Auch können sich Fragen ergeben, ob die Entsende-Konstellationen eigentlich die wahren Verhältnisse abbilden. Faktisch agiert die Familie als Arbeitgeber.
b) Selbstständiger Dienstleister Die Betreuungskräfte können auch selbst ein Unternehmen gründen, müssen dann aber ein Gewerbe in ihrem Heimatland angemeldet haben. Vorsicht: Hier besteht die Gefahr der Schein-Selbstständigkeit. Auch wenn bei Selbstständigen grundsätzlich nicht der gesetzliche Mindestlohn in der Pflegebranche bezahlt werden muss, kann aus den Selbstständigen schnell ein Arbeitnehmer werden. Nur dann, wenn die „Selbstständigen“ mehrere Auftraggeber haben und nachweisen können, trägt das Modell.
c) Angestellte Die Betreuungs- und Kraft- und Haushaltshilfe sollte im Zweifelsfall auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages in einer deutschen Familie beschäftigt werden. Dann wird diese zum Arbeitgeber mit allen daraus resultierenden Pflichten: Steuer, Sozialversicherungsbeiträge, Zahlung des Mindestlohns, Urlaubsgewährung, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Eine Arbeitserlaubnis ist für Tschechen und Polen seit dem 1. Mai 2011 nicht mehr von Nöten, aber durchaus für die EU-Beitrittsländer Bulgarien und Rumänien. Für sie ist der Abschluss eines Arbeitsvertrages nur über die Bundesagentur für Arbeit möglich.
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Anders als in Österreich, in der die 24-Stundenpflege inzwischen gesetzlich geregelt ist, – wenn auch EU-rechtswidrig – gibt es in Deutschland noch keine in jeder Hinsicht tragfähige Rechtslage, die allen Beteiligten Rechtssicherheit vermittelt. Der einzig wirklich legale Weg ist der Abschluss eines Arbeitsvertrages mit einer osteuropäischen Pflegekraft. Dieser Weg ist dann aber nicht mehr der günstige und nicht für 1.200 oder 1.800 Euro im Monat zu haben. Die Beschäftigung einer so genannten „Selbstständigen“ unterliegt sehr schnell dem Verdacht der Scheinselbstständigkeit, auch wenn Kontrollen nicht sehr häufig sind. Die Vermittlung von Haushaltshilfen und Betreuungskräften über Zeitarbeitsunternehmen ist ebenfalls im Einzelfall rechtlich tragfähig, aber eben auch nicht mehr so günstig wie erhofft. Aufzupassen gilt es überdies beim Arbeitsschutz: Die „rund um die Uhr Betreuung“, ohne Pausen und ohne Nachtruhe ist grundsätzlich nicht erlaubt – und stellt sich schnell als Verstoß gegen das Arbeitsschutzrecht dar. Hier können Ausnahmen genehmigt werden. Zumeist geschieht dies aber nicht. In der Sache sinnvoll ist die Kombination von ambulantem Pflegedienst und Haushaltshilfen, seien es nun deutsche oder ausländische. Hier wird die Fachlichkeit sichergestellt, hier kann eine gewisse fachliche Anleitung durch den Pflegedienst zugunsten der Haushaltshilfen sichergestellt werden. Und es wird auch etwas Kontrolle ausgeübt: Immerhin wird die Haushaltskraft zu einer Art Teil des Familienhaushaltes und zu einer wichtigen Vertrauensperson des auf Unterstützung angewiesenen Menschen. Es gibt zahlreiche Vermittlungsagenturen und Beratungsstellen: Die Einbeziehung von ausländischen Haushalts- und Betreuungskräften will gut überlegt sein. Sie kann eine gute Lösung darstellen, auch wenn man die Lebens- und Familiensituation der ausländischen Pflegefachkräfte mitdenken sollte: Sie lassen ihre Familien für die Zeit der Pflege im Ausland zurück. Die osteuropäischen Pflegekräfte und die Nachfrage nach ihnen zeigt vor allem eines: Die Pflegeversicherung ist als solche nicht in der Lage eine häusliche Versorgung umfassend sicherzustellen. Auch die kleinen Leistungserweiterungen, die das Pflegeneuausrichtungsgesetz vorsieht, führen keineswegs dazu, dass Pflegearrangements so unterstützt werden wie durch ausländische Hauswirtschafts- und Pflegekräfte. Zu sehr richtet sich die Pflegeversicherung auf die Finanzierung von Pflegediensten und Heimen, zu wenig auf die wirksame Unterstützung häuslicher Pflegesituation.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Transnationale, besonders osteuropäische Haushaltshilfen und Pflegekräfte spielen in der Versorgung der auf Pflege angewiesenen Menschen, häufig auch für Menschen mit Demenz, eine immer größere Bedeutung. In Deutschland geht man davon aus, dass etwa 200.000 osteuropäische Pflegekräfte in Deutschland in Privathaushalten tätig sind. Die Art und Weise wie sie in Deutschland eingesetzt werden, ihre Arbeitsbedingungen und ihre Bezahlung lassen die meisten Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse als in einer Grauzone des Rechtes angesiedelt erscheinen. Die Nachfrage nach entsprechenden Pflegekräften, die häufig empfundene Alternativlosigkeit zu ihrem Einsatz, weist auf erhebliche Sicherungslücken im System der Langzeitpflege in Deutschland hin.
Weiterführende Hinweise www.pflegestuetzpunkt-ortenaukreis.de/einzugsgebiet/hilfsangebote/betreutes-wohnen-in-gastfamilien/
Literatur Karakayali, Juliane (2007); Die private Beschäftigung von Migranten in Haushalten Pflegebedürftiger in Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, Band 38, Heft 4 S. 74–84, 2007 Frischhut, Elisabeth (2006); Schwarzarbeit ist keine Lösung in: Neu Caritas, Heft 9, S. 9–13, 2006 Lutz, Helma (2007); Vom Weltmark im Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, 2. Aufl., Opladen 2008, S. 176 Ministerium für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg 2006, 1. Bericht der AG Illegale Beschäftigung in Haushalten mit Pflegebedürftigen des Landespflegeausschusses Stuttgart Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe, Positionspapier des TBFK zur illegalen Beschäftigung in der Pflege, Berlin 2006
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Partnerschaft Rollenumkehr in Ehe und Familie und ihre rechtlichen Haken Die Rollenumkehr ist in der Psychologie und Soziologie ein Begriff für den Tausch von Rollen, also ein Tausch der Aufgaben und Funktionen in der Familie. Die Tochter übernimmt Rollenanteile der Mutter, die Ehepartnerin die ihres Mannes. Die Rollenumkehr ist ganz häufig mit einem fortschreitenden Verlauf der Demenz verbunden. Bestimmte Rollen können im Verlauf der Demenz oft nicht mehr aufrechterhalten werden. Ehepartnerin oder Kinder übernehmen „väterliche“ Aufgaben. Damit begrenzen sie meist auch den bisherigen Handlungsspielraum des Vaters. Möglich auch, dass die Ehefrau jetzt ihrem Mann dazwischenfunken muss. Hatte bisher er alle wichtigen Entscheidungen, etwa in Geldsachen oder sonstigen Formalitäten des Lebens getroffen, müssen das jetzt die anderen Familienmitglieder regeln: Sie sind es, die nun über das Haushaltseinkommen verfügen und sich mit dem behandelnden Arzt des Vaters beraten. Bei einer Rollenumkehr in der Familie werden bisherige Aufgaben und Funktionen neu verteilt. Das kann überlebensnotwendig sein, geht aber oftmals nicht ohne Konflikte über die Bühne. Jens Bruder, ein bekannter Gerontopsychiater und Psychotherapeut, nannte dies „filiale Reife“. An einer notwendigen Rollenumkehr ist oftmals nicht zu rütteln. Kommt etwa der Vater aufgrund seiner Demenz mit den bisherigen Aufgaben nicht mehr zurecht, so ist die Rollenumkehr überlebensnotwendig. Das kann aber zu tiefen Konflikten zwischen allen Beteiligten führen. Das ist etwa dann der Fall, wenn – in unserem Fall Ehefrau oder Kinder – nicht in der Lage sind, die neuen Rollen zu übernehmen. Besonders kritisch wird es, wenn die Rollenumkehr von den Beteiligten nicht akzeptiert wird. So berichtet eine Angehörige in einem Blog über ihre Erfahrungen: „Er möchte nach wie vor bei allen Entscheidungen den Hut aufhaben. Wenn man einen dominanten Charakter hat, dann legt man den mit der Demenz nicht ab. Das bleibt.“ Und was tun? Sich gegen den Willen des Mannes stellen, ihn „austricksen“, in die Auseinandersetzung gehen? Die Strategien sind unterschiedlich, Deeskalation ist häufig gefragt, aber auch die Bereitschaft, die neue Rolle anzunehmen.
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Gibt unser Recht überhaupt die Berechtigung dazu, die Rollenumkehr zu vollziehen? Entgegen weit verbreiteter Auffassung in der Bevölkerung existiert in Deutschland kein gesetzlich geregeltes Angehörigenvertretungsrecht. Ein solches ist zwar vor Jahren diskutiert worden, wurde aber in Deutschland – anders als in Österreich und der Schweiz, wo wir es in bestimmten Grenzen kennen – nicht geltendes Recht. Eine gesetzliche Angehörigenvertretung gibt es nur im Bereich der Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern. Gesetzliche Grundlage ist die elterliche Sorge in § 1629 BGB. Innerhalb einer Ehe besteht ein Vertretungsrecht gegenüber dem anderen nur im Rahmen der sogenannten Schlüsselgewalt gemäß § 1357 BGB. Hier geht es um Alltagsgeschäfte zur Deckung des Lebensbedarfs der Familie. Eine weitergehende Vertretung des Vaters und Ehemannes, oder generell der Eltern und Partner, kennt das deutsche Recht nur auf der Grundlage einer Vollmacht oder im Rahmen der gesetzlichen Betreuung. Sie muss durch das Gericht eingerichtet werden. Vorübergehend, beispielsweise in Phasen, in denen der oder die Betroffene stark verwirrt ist, kann man sich noch mit der Rechtsfigur der Geschäftsführung ohne Auftrag helfen. Das geht aber nicht, wenn die Handlungsunfähigkeit des Angehörigen mit Demenz stärker und kalkulierbar wird. Nun schrecken viele Familien davor zurück, das Betreuungsgericht einzuschalten – auch dann, wenn sie keine Vorsorgevollmacht haben, auf die sie die Rollenumkehr stützen können. Das Gericht wird nicht als Hilfe, sondern als Kontrolle und zusätzliche Belastung erlebt. Behandelnde Ärzte, aber auch Pflegkräfte, spielen meist mit und bestehen nicht auf einer rechtlichen Vertretungsmacht, wenn es um Behandlungsentscheidungen geht. Und mancher wird sich fragen: „Was hilft mir denn eine Betreuung?“ Die Rechtslage ist aber eindeutig. Auch mit Demenz bleibt die Fiktion rechtlicher Handlungsfähigkeit bestehen: Das sagt unser Betreuungsrecht, das betont in besonderer Weise die Behindertenrechtskonvention, die auch für Menschen mit Demenz gilt. Nicht alle Rechtsgeschäfte von mittelschwer oder schwerst Erkrankten sind unwirksam. Und auf die Einwilligung von Menschen mit Demenz in ärztliche Behandlung kommt es immer (auch) an: Vielleicht brauchen Betroffene Unterstützung, Diagnosen verstehen zu können. Dann sind ihre Äußerungen als Willensaspekte zu verstehen und zu deuten.
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> Partnerschaft
Die Rollenumkehr ist schwierig zu gestalten und verlangt nach psychologischem Geschick und nach rechtlicher Reflexion – und das immer wieder. Und Familien sollte man nicht allein lassen in dieser schwierigen Situation. Steht eine Rollenumkehr ins Haus, ist oft eine psychologische Beratung sinnvoll. Das gleiche gilt auch für die rechtlichen Fragen der Rollenumkehr. Dabei geht es dann nicht nur um die rechtliche Vertretungsmacht in formeller Hinsicht, sondern auch um andere familiäre Fragen: Wie muss denn der Wille, wie denn die Wünsche des „alten Patriarchen“ gewertet werden? „Filiale Reife“ heißt ja nicht, jetzt alles einfach entscheiden zu dürfen, auch gegen den Willen des Vaters oder des Ehemannes. Vielleicht heißt es zunächst nur: „Du kannst nicht mehr weiterhin für uns oder mich entscheiden, lieber Vater“.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Partnerschaften verändern sich durch die Erkrankung eines Partners zu einer der Formen der Demenz mit der Zeit grundlegend. Die Reorganisation der partnerschaftlichen „Verantwortungsübernahme“ kann helfen, Liebe und Solidarität, die Partner füreinander finden, in Einklang zu bringen mit den Ansprüchen auf eine eigene Lebensführung und den Bedürfnissen des Partners und seiner Unterstützung.
Rechtsquellen § 1357, 1896 BGB
Literatur Wadepohl, Sabine (2008): Demenz und Partnerschaft, Freiburg i.Br., Lambertus
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Patientenverfügungen und Entscheidungen am Lebensende
Muss man heute eine Patientenverfügung haben? Lassen sich mit der Patientenverfügung Befürchtungen wirksam aufgreifen und ihnen vorbeugen, die etwa mit Vorstellungen von einer Medizin, die nicht lassen kann, verbunden sind, nur mit einem als „sinnlos“ erlebten Leiden? Patientenverfügungen werden in ihrem rechtlichen Gehalt häufig überschätzt. Sie stehen in der Gefahr, zu einem modernen Ritual in einer Gesellschaft zu werden, die sich ihrer kulturellen und religiösen Formen des Umgangs mit Tod und Sterben entledigt hat. Gleichzeitig bieten Patientenverfügungen eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit Fragen der Heilbehandlung am Lebensende. Im Einzelfall können sie hilfreich sein, gerade dann, wenn man nicht genau weiß, was einem bevorsteht. Es sind im Wesentlichen drei Vorschriften, in denen der Gesetzgeber die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen geregelt hat: 1. In § 1901a BGB wird die Patientenverfügung definiert: Sie ist eine schriftliche Festlegung, die ein einwilligungsfähiger Volljähriger abgibt, für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit, ob er an bestimmte zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlung und ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. Diese Patientenverfügungen sind grundsätzlich bindend. Sie müssen allerdings vom Betreuer (oder Bevollmächtigten) geprüft werden, ob sie noch auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. 1. In § 1901b BGB ist ein Gespräch zwischen behandelndem Arzt und Betreuer/Bevollmächtigten verbindlich vorgesehen. Sie müssen die ärztlich indizierten Maßnahmen erörtern und prüfen, ob diese Maßnahmen vom Patientenwillen gedeckt sind oder eine Patientenverfügung eine solche Maßnahme ablehnt. 1. In § 1904 BGB wird der Fall geregelt, in dem sich Betreuer und behandelnder Arzt nicht einig darüber sind, ob die Einwilligung in oder Ablehnung einer ärztlichen Heilbehandlungsmaßnahme dem Patientenwillen entspricht oder nicht. In diesen Zweifelsfällen hat dann das Betreuungsgericht, so die neue Bezeichnung des Vormundschaftsgerichtes, zu entscheiden.
> Patientenverfügungen und Entscheidungen am Lebensende Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Eine Reichweitenbegrenzung kennt das Gesetz nicht: Es bezieht sich auch auf Patientenverfügungen, die Heilbehandlungen im Falle einer schweren demenziellen Erkrankung betreffen. Das Gesetz regelt keinen Anspruch auf ärztliche Beratung über eine Patientenverfügung im SGB V. Das ist nicht gut. Das Gesetz bezieht sich für den Fall, dass eine Patientenverfügung nicht vorliegt oder nicht aussagekräftig ist auf den mutmaßlichen Willen des Patienten, der von Arzt und Betreuer zu ermitteln ist. Der Prozentsatz der „eindeutigen“ Patientenverfügungen, die sich auf eine ganz konkrete Behandlungsmaßnahme beziehen, ist niedrig. Etwa zehn Prozent der Bundesbürger haben eine Patientenverfügung unterzeichnet, eine Minderheit, eine solche, die sich auf ganz konkrete Behandlungsmaßnahmen in voraussehbaren Krankheitskonstellationen bezieht. Diese Patientenverfügungen waren auch schon nach altem Recht bindend. Insofern hat sich hier durch das neue Gesetz wenig getan. Für Menschen mit Demenz sind die Regelungen zum mutmaßlichen Willen besonders wichtig. Der muss nun auf der Grundlage konkreter Anhaltspunkte, früherer mündlicher und schriftlicher Äußerung, ethischer und religiöser Überzeugung und sonstiger persönlicher Wertvorstellungen des Betreuten ermittelt werden. Hierüber muss ein Dialog stattfinden und dies unter Einbeziehung der nahen Angehörigen. Dies sieht § 1901 b BGB verbindlich vor. Die gemeinsame Suche nach dem mutmaßlichen Willen, nach dem, was den Wertvorstellungen des Patienten entspricht, soll im Vordergrund stehen. Diese Dialogpflicht ist zunächst adressiert an Arzt und Betreuer/Bevollmächtigten. Den Angehörigen ist, so heißt es in der Gesetzessprache, „Gelegenheit zur Äußerung“ zu geben. Das Ringen um die richtige Entscheidung wird entgegen der Praxis heute zu einer eher exklusiven Angelegenheit, wenn man in der Patientenverfügung nicht bestimmt, dass Freunde und oder nahe Angehörige in den Dialog notwendigerweise mit einzubeziehen sind, da den Angehörigen als solche kein gesetzliches Vertretungs- und Entscheidungsrecht zusteht, ein für die Zukunft besonders wichtiger Bestandteil einer Patientenverfügung. Für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen stellen sich mit dem neuen Recht schwierige Fragen: Erstens geht das neue Gesetz davon aus, dass es sich bei den ärztlichen Maßnahmen, über die gestritten und über die zu entscheiden ist, um „medizinisch indizierte“ handelt. Damit kommt den Ärzten eine erhebliche Definitionsmacht zu. Nicht indizierte, me-
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dizinisch – und ökonomisch? – stehen gar nicht mehr zur Debatte. Insofern wird es in der Umsetzung des Gesetzes sehr darauf ankommen, die Frage der Indikation sehr offen und kritisch zu erörtern – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Rationierung von Gesundheitsleistungen. Zweitens stellt sich die Frage, wie mit Patientenverfügungen umzugehen ist, in der die Verfügenden ärztliche Behandlungsmaßnahmen im Falle einer schweren Demenz ablehnen, die auf die Lebenserhaltung gerichtet sind: Sei es lebenswichtige Medikation, sei es die Ernährung, sei es die Behandlung einer akuten Pneumonie. Entsprechen diese Äußerungen dem Willen des Patienten heute? Sind die Festlegungen in einer Patientenverfügung auch dann noch verbindlich, wenn sie durch Äußerungen des natürlichen Willens, zum Beispiel durch sichtbare Lebensfreude von Menschen mit Demenz, widerlegt und widerrufen werden? Es ist ein weiter Interpretationsspielraum gegeben: Die Patientenverfügung kann jederzeit auch formlos widerrufen werden. Dadurch, dass Patientenverfügungen sich auch auf künftige Situationen, etwa bei schwerer Demenz beziehen können, ist die Möglichkeit der Verfügung über das eigene Leben unter bislang so nicht vorstellbaren Bedingungen – etwa einer Demenzerkrankung – Tor und Tür geöffnet. In der Möglichkeit und in der Erwartbarkeit von Regelungen in Patientenverfügungen, die sich auf ein Leben mit Demenz beziehen, besteht ein erhebliches „Risikopotenzial“ des neuen Gesetzes. Das Gesetz hat sich in der Praxis zu bewähren. Es wird sehr darauf ankommen, dass alle an Entscheidungen am Lebensende Beteiligten sich auf eine fachlich und ethisch sowie rechtlich reflektierte Umgangsweise mit dem neuen Recht verständigen und diese einüben. Aber ist das realistisch?
Patientenverfügungen vollstrecken? – Der aktuelle Wille hat immer Vorrang Ein Leben mit Demenz, das können sich viele Menschen überhaupt nicht vorstellen: lieber sterben als Alzheimer. Solche Vorstellungen und Motive stehen nicht selten hinter der Abfassung von Patientenverfügungen. Was aber, wenn sich die Vorstellungen ändern, der Verfügende sichtbar Lebensfreude zeigt und eine Behandlungsmaßnahme ärztlich indiziert ist, die er in seiner Patientenverfügung abgelehnt hat?
> Patientenverfügungen und Entscheidungen am Lebensende
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Sind Arzt und Betreuer in dem einmal schriftlich niedergelegten Willen gebunden, müssen sie ihn „vollstrecken“? § 1901a BGB sagt ganz deutlich: In der Situation, in der es um Befolgung der Patientenverfügung geht, um den Verzicht oder den Abbruch einer ärztlich indizierten Behandlung, muss jeweils geprüft werden, ob der Verfügende beziehungsweise der Patient sein Empfehlen gegebenenfalls geändert hat. Diese Willensänderung muss er nicht „vernünftig“, nicht sprachlich, er kann sie auch „a-verbal“ durch sein Verhalten zum Ausdruck bringen. Haben nun Angehörige die Gewissheit, dass die oder der Betreffende am niedergelegten Willen nicht mehr festhalten will, Freude am Leben hat, zumindest nicht sterben möchte, Ernährung wünscht, dann haben sie dies dem Arzt und gegebenenfalls auch den Pflegekräften gegenüber deutlich zu machen. Sie haben diese aktuellen Willensäußerungen ernstzunehmen. Wird man sich nicht einig, dann ist das Betreuungsgericht die Instanz, die klären soll, was denn wirklich dem aktuellen Willen des Betroffenen entsprechen würde: Behandlungsverzicht oder Abbruch oder die Behandlung. Wurde bereits ein Betreuer bestellt, dann wird er das Betreuungsgericht anrufen, oder ist noch kein Betreuer bestellt, dann können sich die Angehörigen direkt an das Betreuungsgericht wenden. Dies entscheidet entweder selbst im Rahmen einer Eilentscheidung oder bestellt einen vorläufigen Betreuer. In jedem Fall hat es im Rahmen seines so genannten Amtsermittlungsgrundsatzes alle bedeutsamen Gesichtspunkte mit zu berücksichtigen. Es ist die einmal aufgesetzte Patientenverfügung in Beziehung zu setzen zu den aktuellen Willens- und Wesensäußerungen des betreffenden Menschen. Hier werden dann auch die Angehörigen angehört mit ihrer Einschätzung, ihrem Verstehen, ihrem Wissen um die Hintergründe, die seinerzeit zur Erstellung einer Patientenverfügung geführt haben. Dabei ist es wichtig: Nicht auf die Meinung, nicht auf die Werthaltung der Angehörigen kommt es an, sondern nur darauf, dass sie zum besseren Verstehen des Verfügenden beitragen können. Wenn sie selbst nicht gut Abschied nehmen können, ist das psychologisch bedeutsam, aber nicht juristisch. Das Beispiel macht noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, dass Menschen, die eine Patientenverfügung aufgesetzt haben, Menschen haben, die sie bei ihrer Umsetzung begleiten. Sonst können Patientenverfügungen gegebenenfalls auch ohne Beachtung des aktuellen Willens interpretiert und vollstreckt werden. Im klinischen Alltag ist das leider nicht die Ausnahme.
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> Patientenverfügungen und Entscheidungen am Lebensende
Service-Teil Arten von Patientenverfügungen Arten Arten von von Patientenverfügungen Patientenverfügungen Arten von Patentenverfügungen
Patientenverfügung Patientenverfügung i.e.S. i.e.S. Patientenverfügung Patientenverfügung Patientenverfügung i.e.S. Patientenverfügung
i.w.S. i.w.S. • Einwilligung/Ablehnung • Einwilligung/Ablehnung von • Einwilligung/Ablehnung von von i.w.S. Patientenverfügung i.e.S. Patientenverfügung i.w.S. bestimmten bestimmten bestimmten • Hinweise • Hinweise auf Werthaltungen, auf Werthaltungen, • Hinweise auf Werthaltungen, Heilbehandlungsmaßnahmen - EHeilbehandlungsmaßnahmen inwilligung/Ablehnung H inweise auf Heilbehandlungsmaßnahmen Wünsche Wünsche Wünsche für die Zukunft fürZukunft die Zukunft für die • Festlegungen • Festlegungen zumzumzum • Festlegungen von bestmmten HeilbeWerthaltungen, Wünsche Entscheidungsprozess Entscheidungsprozess Entscheidungsprozess handlungsmaßnahmen für - Festlegungen zum die Zukunft Entscheidungsprozess
Dialogische Dialogische Dialogische Dialogische Vorausplanung Vorausplanung Vorausplanung Vorausplanung ACP ACPACP ACP
Allgemeine Anmerkungen Patientenverfügungen gelten als Instrument der Sicherung der Selbstbestimmung. Sie werden allerdings in ihrer Reichweite häufig überschätzt. Sie lassen sich schwerlich situationantizipieren, die mit einer schweren Erkrankung und der Todesnähe verbunden sind. Insofern lohnt ein differenzierter und kritischer Umgang mit den Wirklichkeiten und Grenzen von Patientenverfügungen. Patientenverfügungen helfen zu überlegen, sind Instrumente des Advance Care Planning.
Rechtsquellen §§ 1901 a f BGB
Weiterführende Hinweise Adressen: Bundesministerium für Gesundheit, Rochusstr. 1, 53123 Bonn
Literatur Klie, Thomas; Student, Johann-Christoph (2011): Patientenverfügung – So gibt sie Ihnen Sicherheit. Freiburg im Breisgau: Kreuz Verlag. Heller, Andreas (Hg.)(2014): Das Jahresheft, vorsorgen-verfügen-bevollmächtigen
> Patientenverfügungen und Entscheidungen am Lebensende
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Pflegenoten Heime und Pflegedienste müssen kontrolliert werden. Pflegeskandale rufen geradezu nach öffentlicher Kontrolle. Aber wie hat diese Kontrolle auszusehen? Der Gesetzgeber hat sich auf ein aus dem Verbraucherschutz bekanntes Konzept verständigt, das den „Kundinnen und Kunden“ in sehr einfacher Weise deutlich machen soll, ob es sich um einen guten oder um einen schlechten Pflegedienst oder -heim handelt. Geht das? Fachlich und politisch muss das Konzept der Pflegenoten als gescheitert gelten. Trotzdem wird daran festgehalten, ohne dass die Noten irgendetwas Verlässliches aussagen.
Schlechte Note für die Pflegenoten Da hängen sie nun, die Pflegenoten, am Eingang der Pflegeheime, in den Büroräumen der ambulanten Pflegedienste. Manche werben im Internet oder auf Pkws mit ihrer 1,0 oder 1,2, dem Notendurchschnitt, der für die Qualität ihrer Pflegeleistung errechnet wurde. Wissen wir jetzt endlich Bescheid, welchem Dienst oder Heim wir unser Vertrauen schenken können? Mehr Transparenz in der Pflege, das war doch lange gefordert worden. Mehr Verbraucherschutz in dieser wichtigen „Humandienstleistung“, das ist doch ein Erfolg!? Sicher, es gibt keinen Grund, die Pflege den Forderungen nach mehr Transparenz zu entziehen. Nur lässt sich die Qualität der Pflege in der für die auf Pflege angewiesenen Menschen, für Menschen mit Demenz in verantwortlicher Weise auf eine Note reduzieren? Zur Erinnerung: Die Bildzeitung titelte im Jahre 2007: „Die Pflegeschande“ und bezichtigte zahlreiche Einrichtungen einer menschenunwürdigen Pflege. Sie gibt es auch in deutschen Heimen. Die Politik, die schon mehrfach Anläufe unternommen hatte, das Thema Qualitätssicherung wirksam aufzugreifen, entschloss sich im Pflegeweiterentwicklungsgesetz 2008, die Veröffentlichung von Prüfergebnissen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) anzuordnen. Der MDK ist mit der Heimaufsicht eine der Instanzen, die den gesetzlichen Auftrag hat, zu prüfen, ob die versprochene und gesetzlich vorgesehene Qualität in Einrichtungen auch tatsächlich erbracht wird. Was in anderen Ländern, etwa in England, schon seit Jahr-
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zehnten praktiziert wird, die Veröffentlichung von Prüfprotokollen der Aufsichtsinstanzen, sollte nun auch in Deutschland erfolgen, und zwar verbraucherfreundlich. Entweder mit einem Ampelsystem, rot für gefährliche, gelb für befriedigende und grün für gute Versorgungsqualität oder mit Noten von eins bis fünf. Nicht jede Bürgerin und jeder Bürger verfügen über das pflegefachliche Wissen, um eine schriftliche Beschreibung von Mängeln in der Pflege nachvollziehen zu können. Darum hatte man sich auf die vereinfachende Veröffentlichungsform der Noten verständigt. Ein Problem war allerdings von Anfang an, dass man zwar weiß, was typische Problemzonen der Pflege sind, etwa Fixierung, Dekubitus, Stürze. Aber was heißt gute Pflege? Und wie misst man sie? Verbindliche Expertenstandards fehlen. Sie würden auch nur etwas über die handwerkliche Qualität der Pflege aussagen. Immerhin. Aber wie kommt die Pflege bei den Heimbewohnern an? Wirkt sie rehabilitativ? Gibt sie Antworten auf die Bedarfe, die dem jeweiligen Menschen besonders bedeutsam sind? Gerade bei Menschen mit Demenz ist es schwierig objektiv zu bestimmen, was ihm gut tut, was für ihn wichtig ist. Hier sind häufig sehr individuelle, kreative, unkonventionelle Antworten auf den Unterstützungsbedarf gefragt. Die Politik hat das Problem gesehen, dass man noch nicht weit genug ist, um die Pflegequalität in einer fachlich belastbaren Weise prüfen und bewerten zu können. Der politische Druck war aber so groß, dass man trotzdem mit der Notengebung begonnen hat. Und alle haben mitgemacht: Die Kassen, Verbände der Einrichtungsträger und die meisten Einrichtungen vor Ort. Man wollte sich ja nicht dem Vorwurf aussetzen, man sei gegen Transparenz und Qualität. Seit Sommer 2009 werden nun Noten vergeben – auf einer fachlich und juristisch höchst problematischen Basis. Bewertet wird nicht die Qualität der Pflege, die bei dem Bewohner oder der Bewohnerin eines Heimes ankommt, sondern im Wesentlichen die, die in der Pflegedokumentation aufgeschrieben wird.
Mängelliste des Punktesystems -- Die den Qualitätsprüfungen zugrunde liegenden Prüfkataloge entsprechen keineswegs im vollen Umfang dem aktuellen Stand der Pflegewissenschaft, -- sie konzentrieren sich auf medizinisch pflegerische Aspekte und, -- sie lassen für die Begutachter einen weiten Bewertungsspielraum. -- Sie sind keineswegs sensibel für neue Konzepte in der Betreuung von Menschen mit Demenz: Wohngruppen kommen regelmäßig schlecht weg, etwa beim Thema Ernährung, wenn sie das Essen gemeinsam herstellen.
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-- Fachlich ungerechtfertigte Fixierungen werden so gut wie nicht berücksichtigt bei der Notengebung. -- Für Aufgaben, für die die Ärzte zuständig sind, werden Pflegedienste und Heime benotet, etwa für die Medikamentenverordnung und -auswahl.
Alle Beteiligten gestehen ein: Das System ist fehleranfällig und dringend revisionsbedürftig. Es schafft eine eigene Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit der Prüfung, nicht des tatsächlichen Pflegegeschehens. Es gibt zahlreiche Berichte, die dokumentieren, dass Einrichtungen, die gestern noch mit einer 1,3 begutachtet wurden, am nächsten Tag Besuch von der Staatsanwaltschaft bekamen, da eklatant gegen Menschenrechte in dem Heim verstoßen wurde. Das Prüfverfahren ist mit erheblichen bürokratischen Kosten verbunden: Auf 100 Millionen Euro pro Jahr werden allein die Prüfkosten veranschlagt, nicht einberechnet die erheblichen Aufwände, die Pflegeeinrichtungen zu verkraften haben, wenn sie Personal für die Prüfung abstellen oder sich gegen ungerechtfertigte Feststellungen bei den Prüfungen zur Wehr setzen müssen. Aber die Beteiligten halten bislang an dem System fest, von dem keiner recht überzeugt ist, um der Öffentlichkeit gegenüber zu dokumentieren: Wir haben die Qualität im Blick und im Griff. Die Bundesregierung hatte schon mit Verabschiedung des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes und der Einführung der Pflegenoten ein großes wissenschaftliches Forschungsprojekt in Auftrag gegeben, das sich um belastbare Grundlagen für Qualitätsmessungen in der Pflege kümmern sollte. Das Projekt ist in Teilen abgeschlossen: Für Heime liegen Vorschläge vor, nicht aber für ambulante Dienste. Das vorgelegte Konzept ist in vielerlei Hinsicht interessant, aber weiterhin diskussionsbedürftig. Sicher ist nur eines: Wenn man dieses System einführt, ist all das, was man bisher im Sog der Einführung der Pflegenoten getan hatte, Makulatur. Das ist keine seriöse Politik. Das ist eine Pflegepolitik, die auf öffentliche Effekte aus ist. Eine solche Politik ist unverantwortlich: -- Sie führt zu einer Art Misstrauenskultur gegenüber den Einrichtungen, -- sie entwertet die Professionalität der in den Einrichtungen Tätigen – und auch die der Prüfer. Sie müssen sich an Qualitätsmaßstäben orientieren, von denen sie selbst fachlich nicht überzeugt sein können. -- Die Pflegenoten führen die Verbraucher in die Irre: Sie meinen, es werde wirklich die Pflegequalität gemessen, dabei geht es im Wesentlichen nur um die der Dokumentation.
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Gute Pflege hat der Teilhabe zu dienen Inzwischen haben die Heime und Pflegedienste mithilfe teurer Berater gelernt, wie sie sich auf die Qualitätsprüfungen so vorbereiten können, dass sie sehr gute Noten bekommen. So liegt der Notendurchschnitt in manchen Bundesländern bereits bei 1,2. Die Noten haben keinerlei Informationswert mehr. Sicher hat das Transparenzverfahren in einigen Einrichtungen auch dazu beigetragen, dass vernachlässigte Aspekte der Pflegequalität stärker in den Blick genommen wurden. Warum aber haben diese Einrichtungen, die die Heimaufsichtsbehörden und der MDK auch vorher schon kannten, nicht vorher schon die verbindliche Aufforderung erhalten, ihre Qualitätsbemühungen zielgerichtet zu verstärken? Die Pflegenoten sind nicht nur fachlich, rechtlich und politisch problematisch, sondern auch unter kulturellen Gesichtspunkten als falscher Weg zurückzuweisen: Sie gehen davon aus, die Bürgerinnen und Bürger könnten sich ihr frei Heim aussuchen, in dem sie leben wollen. In Deutschland haben wir zwar einen so genannten Pflegemarkt, der vom Wettbewerb lebt. Ein Mensch mit Demenz kann sein Pflegeheim aber nicht ohne Weiteres wechseln, wenn er einmal eingezogen ist. Er möchte in der Einrichtung vor Ort leben, da so die Kontakte zu seinen Freunden, Nachbarn und seiner Familie erhalten bleiben. Überall, wo gepflegt wird, muss gut gepflegt werden. Und dass die Qualität stimmt, ist ganz wesentlich auch die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort: es ist ihr Heim, das sie mit zu verantworten haben, und es ist bekannt, dass gute Qualität vor allen Dingen dort zu finden ist, wo ein hohes Maß an bürgerschaftlichem Engagement in und um Heime zu finden ist. Es kann nicht darum gehen, ein Heim auszuwählen, in dem die Bewohner „dioxinfrei ernährt“ und mit der „Note 1“ gepflegt wird: Pflege hat dienenden Charakter, sie dient der Teilhabe und der Lebensqualität. Wir sind in der Betreuung und Begleitung als Bürgerinnen und Bürger, als Angehörige weiter gefragt und sollen uns nicht zufrieden geben mit einer Einrichtung, die gute Noten erhalten hat. Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Pflegenoten lenken hiervon in problematischer Weise ab und reduzieren sie auf eine Dienstleistung.
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Die Dimensionen der Qualitätssicherung Es ist ein anderer Weg gefragt, wenn es um die Sicherung der Qualität in Einrichtungen geht: -- Die Fachkräfte der Pflege müssen den Stand ihrer Kunst gewährleisten, Expertenstandards können ihnen dabei helfen. Sie sind darin zu unterstützen, messbare Kriterien für die Güte professionellen Handelns zu formulieren. Das ist die fachliche Ebene der Qualität und Qualitätsmessung. -- Im Vordergrund muss der einzelne Mensch, das Subjekt stehen. Was ist für ihn wichtig, was sind die für ihn relevanten Entwicklungen seiner gesundheitlichen Situation und des Grades seiner Abhängigkeit von fremder Hilfe. Hier verdient er der Begleitung, der regelmäßigen Inblicknahme seiner Situation: Kann er sich genug bewegen? Bekommt das zu Essen, was ihm schmeckt? Erhält er genügend Anregungen im Alltag? Wurden die Ziele der Pflege und Begleitung erreicht? Assessment nennt man die Instrumente, die in der Lage sind, die individuelle Situation abzubilden. Sie bilden die zweite Ebene: Die Subjektorientierte Qualitätssicherung. -- Pflegekräfte, Angehörige, Ärzte dürfen nicht bestimmen, was für einen anderen wichtig ist, sie haben dies mit ihm auszuhandeln: Welche Ziele verfolgen wir, wo werden Prioritäten gesetzt, was ist dem einzelnen Menschen besonders wichtig, was nicht? Willigt er oder sie in eine medizinische Behandlung ein. Pflege ist einzubinden in einen menschenrechtlich reflektierten Aushandlungsprozess. Genau diese Qualität der Aushandlung, der Pflegeplanung, der Einbeziehung des Betroffenen und seiner Angehörigen macht gute Qualität aus. Das ist die dritte Ebene der Qualität, die der Aushandlung. -- Schließlich geht es um die Teilhabe und Lebensqualität eines Menschen. Lebensqualität ist subjektiv: dem einen ist das bedeutsam, dem anderen etwas ganz anderes. Der Staat ist nicht befugt, die Lebensqualität eines Menschen zu bewerten. Das wäre übergriffig. Gleichwohl brauchen wir Akteure, brauchen wir Institutionen, die sich um das individuelle Wohl und die Lebensqualität des Einzelnen bemühen. Hier sind zivilgesellschaftliche Akteure gefragt, die geschult einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Lebensqualität und Teilhabe in der Pflege zum Thema wird. Ein gutes Unternehmen wird diese Dimensionen der Qualitätssicherung im Rahmen seines Qualitätsmanagements konsequent verfolgen – und viele tun das bereits. Sie werden ihre Bewohner und Angehörigen sowie Interessierte über ihre Qualitätsstandards informieren.
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Vier Aspekte eines intelligenten Qualitätssicherungssystems Der Staat ist gefordert, die Dimensionen in ein intelligentes, ein „gescheites“ Qualitätssicherungssystem aufzunehmen und Rollen zu verteilen: 1. Die Pflegeunternehmen sind berichtspflichtig darüber, welche Maßnahmen der Qualitätssicherung sie ergreifen und haben die Ergebnisse ihrer Prüfung zu veröffentlichen. 2. An Aufsichtsbehörden zu meldende und von ihnen zu überprüfende Fixierungs- und Sturzquoten und ihre Veröffentlichung sorgen für Transparenz von Indikatoren für gute Pflegequalität. 3. Qualitätsberichte von Einrichtungen und Diensten, die Rechenschaft ablegen über die Entwicklung der Gesundheitssituation ihrer Bewohnerinnen und Bewohner beziehungsweise „Kunden“, rücken den Einzelnen in der Qualitätsbetrachtung in den Vordergrund. 4. Veröffentlichte Berichte von Alzheimer Gesellschaften oder der BIVA über die Lebensqualität in Heimen unterstützen die Diskussion um das, was Lebensqualität unter Bedingungen einer schweren Erkrankung und bei Demenz ausmacht. Das wären Bausteine einer Qualitätsberichtserstattung, die Sinn macht. Sie beteiligt viele, unterrichtet die interessierte Bevölkerung und klärt zugleich darüber auf, worauf es in der Pflege ankommt. Und sie lässt die Verantwortung dort, wo sie hingehört, und vermeidet unnötige Bürokratie. Bei Missständen muss der Staat entschieden eingreifen – unverzüglich. Pflegenoten lenken von vielfach unterlassenen staatlichen Aufsichtsmaßnahmen ab. Die Bildzeitung mag nach den guten Noten nun (vorübergehend) schweigen, bessere Heime und Dienste bekommen wir durch sie nicht. Einen Beitrag zur dringend benötigten neuen Kultur der Pflege leisten sie allemal nicht. Und die Attraktivität des Pflegeberufes erhöhen sie mitnichten.
Eine kritische Stimme Prof. Dr. Michael Isfort Professor für Pflegewissenschaft Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) „Die Pflegenoten sind in mehrfacher Hinsicht gescheitert – zum einen zeigen sie auf, was passiert, wenn Bewertungs- und Klassifikationssysteme „mit Heimwerkermethoden“ entwi-
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ckelt werden und methodisches Wissen der Pflegewissenschaft konsequent keine Beachtung findet. Gravierender ist jedoch, dass sie ganz offensichtlich gleichermaßen an als auch in der Praxis scheitern. An der Praxis scheitern sie dadurch, dass Einrichtungen in teuren Seminaren lernen können, sich richtig auf die Prüfungen vorzubereiten, um dokumentierte Wirklichkeiten in gute Noten zu überführen. In der Praxis scheitern sie, weil sie weder für Angehörige noch für Pflegende eine Orientierung darstellen und nur geringfügige Unterscheidungen aufzeigen. Ich würde mir wünschen, dass mit der gleichen Energie und mit dem gleichen finanziellen Aufwand nicht an weiteren Überprüfungen der Praxis, sondern an der Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten der Pflegenden gearbeitet würde.“
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Service-Teil Allgemeine Hinweise Sicherung der Qualität der Pflege von Menschen mit Demenz ist wichtig. Sie liegt primär in den Händen derer, die die Aufgaben der Pflege und Begleitung sowie der Assistenz übernehmen. Eine wichtige Rolle spielen die Bevollmächtigten und gesetzlichen Betreuer, die verantwortlich sind für das Wohl des Betroffenen. Die bisher ergriffenen Qualitätssicherungsmaßnahmen durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherung haben zu einer enormen Bürokratisierung geführt und gelten fachlich, rechtlich und politisch weithin als verfehlt. Das gilt insbesondere für das Konzept der Pflegenoten.
Rechtsquellen § 115 a SGB XI
Weiterführende Hinweise Adressen: Moratorium Pflegenoten , www.moratorium-pflegenoten.de/index.php/unterstuetzer,
Literatur BUKO-QS: Qulitätsniveaus I – III (2007). www.buko-bv.de Beikirch, Elisabeth/Klie, Thomas (2007): Nationale Qualitätsniveaus – Multidisziplinäre Strategien zur Qualitätsentwicklung in Pflege und Betreuung. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Heft 3 Juni 2007, S. 147–157
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Pflegestufe Die deutsche Pflegeversicherung gewährt Geld nach Grad der Pflegebedürftigkeit. Der Unterstützungsbedarf wird in sogenannten Pflegestufen gewichtet. Die Pflegestufen und der Pflegebedürftigkeitsbegriff sind seit vielen Jahren in der Kritik. An einem neuenPflegebedürftigkeitsbegriff arbeitet die Bundesregierung seit Jahren. Insbesondere unser Sozialrecht enthält vielfältige Zusicherung, vermittelt Rechtsansprüche, die die Existenzsicherung ebenso zu garantieren haben, wie sie die Teilhabe von Menschen mit Demenz sichern sollen. Viele Bürgerinnen und Bürger machen gute Erfahrungen mit ihren Kranken- und Pflegekassen oder auch dem Sozialamt. Es gibt aber auch immer wieder Fälle zu Unrecht versagter Sozialleistungen, schroffe Ablehnungen und falsche Informationen. Die Verpflichtung von Kassen und Sozialämtern, Bürgerinnen und Bürgern schnell und unbürokratisch, die für sie existenznotwendigen Hilfen zu gewähren – steht nicht selten in Konkurrenz mit „Kostensteuerungszielen“, (so heißt das, wenn Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter die Ausgaben für die häusliche Krankenpflege etwa absenken sollen) oder einem Zuständigkeitsgerangel gegenüber. Selbstverständlich haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kranken- und Pflegekassen darauf zu achten, dass sie nicht zu Unrecht Leistungen gewähren, sie dürfen aber auch nicht zu Unrecht Leistungen vorenthalten. Die Beispiele sind vielfältig, die versagte Hilfen dokumentieren: Das vom Arzt als Hilfsmittel verordnete Niederflurbett wird versagt. Es sollte das Aufstellen von Bettgittern ersetzen. Es sei als medizinisches Hilfsmittel nicht erforderlich. Verordnete Hüftprotektoren werden abgelehnt: Sie sollten bei sturzgefährdeten Patienten Frakturen vorbeugen. Begründung: Allgemeiner Gebrauchsgegenstand, vom Patient selbst zu zahlen. Die beantragte Pflegestufe wurde abgelehnt: Begründung: Der notwendige Zeitbedarf der Pflege von 90 Minuten für pflegerische und hauswirtschaftliche Verrichtung wurde vom MDK nicht ermittelt. Müssen die Entscheidungen hingenommen werden? Nicht immer lohnt das Einlegen von Rechtsmitteln, viele scheuen aber zu Unrecht die Überprüfung eines ablehnenden Bescheides. Wir leben in einem sozialen Rechtsstaat und es gehört zum guten Recht eines jeden Bürgers, einer jeder Bürgerin, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung eines Kostenträgers überprüfen zu lassen. Nun sind die Rechtsfragen häufig kompliziert.
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Von daher ist (unabhängige) Beratung gefragt. Die Alzheimer Gesellschaft bietet hilfreiches Informationsmaterial, örtliche Beratungsstellen, etwa das Sozialverbandes Deutschland beraten kostenlos und auch das Internet bietet oft hilfreiche Informationsquellen und entsprechende Blogs. Gegebenenfalls kann auch anwaltliche Hilfe gefragt sein und sich auszahlen. Gegen jede ablehnende Entscheidung eines Sozialamtes, einer Kranken- oder Pflegekasse ist der Widerspruch gegeben. Innerhalb von vier Wochen nach Zustellung des Bescheides ist der Widerspruch einzulegen, er soll begründet werden, muss es aber nicht. Widerspruch kann nur der Versicherte selbst oder ein von ihm Bevollmächtigter einlegen. Angehörige als solche haben zunächst nicht das Recht. Sind sie aber zum Betreuer bestellt oder verfügen sie über eine Vorsorgevollmacht, haben sie selbstverständlich das Recht, tätig zu werden. Ein Pflegedienst, ein Pflegeheim darf dies für seine Bewohnerin und Bewohner oder Pflegekunden nicht tun. Der Widerspruch ist an die Behörde, etwa an die Pflegekasse, zu richten, die den Bescheid, etwa die Ablehnung der beantragten Pflegeleistung, erteilt hat. Widerspruchsverfahren können längere Zeit in Anspruch nehmen. Zunächst wird die Kasse selbst prüfen, ob sie die Entscheidung korrigiert. Gegebenenfalls kommt der MDK zu einer Neubegutachtung. Wird der Widerspruch zurückgewiesen ist gegen ihn die Klage beim Sozialgericht möglich. Hier lohnt sich dann in der Regel anwaltliche Hilfe. In der Regel tragen hier Rechtsschutzversicherungen die Kosten oder es tritt die Prozesskostenhilfe ein, wenn das Verfahren als aussichtsreich eingestuft wird. Widerspruchsund Sozialgerichtsverfahren sind kostenfrei. Lediglich die Kosten für die Einschaltung des Anwaltes muss der Widerspruchsführer oder der Kläger übernehmen. Er muss sich aber auch nicht vor dem Sozialgericht anwaltlich vertreten lassen: In der ersten Instanz besteht kein Anwaltszwang. Klageverfahren nehmen meist lange Zeit in Anspruch. Die Sozialgerichte sind überlastet, ein zeitnaher Rechtsschutz ist eher die Ausnahme. Wie heißt es zutreffend: „Die offene Flanke des Rechtsstaats ist der Zeitablauf“. Das lange Warten auf eine endgültige Klärung eines Sozialrechtsstreits ist für die Betroffenen häufig unerträglich und wirklich nicht selten zynisch: Der Hilfebedarf eines Menschen ist nicht wartefähig. Darum gibt es dort, wo man einen langjährigen Entscheidungsprozess nicht abwarten kann, eine schnelle Entscheidung geboten ist, den einstweiligen Rechtsschutz. Nach Ablehnung einer beantragten Leistung kann bevor Widerspruch und Klage eingelegt werden der Anspruch auf dem Wege des einstweiligen Rechtsschutzes mit einer einstweiligen Anordnung geltend gemacht werden. Diese Entscheidungen erfolgen auf der Basis einer summarischen Prüfung. Sie sind mit dem
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(geringen) Risiko verbunden, dass sie in einem ordentlichen Gerichtsverfahren, wenn es zu diesem noch kommt, wieder korrigiert werden. Auch das einstweilige Rechtsschutzverfahren ist kostenfrei. Hier empfiehlt sich in aller Regel anwaltliche Hilfe: Man braucht schon etwas Rechtskenntnisse, um einen solchen Antrag gut zu begründen. Es kann wichtig sein, nicht nur für einen selbst, sondern auch für vergleichbar auf Hilfe angewiesene Menschen, dass man sein Recht durchsetzt, seine Interessen verteidigt, die Relevanz und Bedeutung des eigenen Hilfebedarfes auch rechtserheblich werden lässt. Die entschiedene und „gescheite“ Verteidigung der eigenen Rechte kann seinen eigenen Wert haben – und sowohl die eigene Lebenssituation verbessern als auch der Rechtsfortbildung dienen. Manchmal müssen auch Kassen und Sozialämter lernen, wie Recht auszulegen ist und dass sie, was leider so selten nicht vorkommt, ihren Versicherten diese zustehende Leistung nicht versagen dürfen.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Die Pflegeversicherung wurde 1994 verabschiedet, inzwischen fünfmal geändert. Auch für das Jahr 2016 ist eine weitere, grundlegende Änderung geplant. Mit dem Pflegestärkungsgesetz 2015 wurden einige Leistungsverbesserungen eingeführt. Sie ergeben sich aus nachfolgender Übersicht. Leistungsübersicht Pflegeversicherung Bundesministerium: www.bmg.bund.de/pflege/leistungen/leistungen-der-pflegeversicherung.html
Rechtsquellen §§ 14, 15 SGB XI
Literatur Hoffer, Heike (2013): Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff: Die Empfehlungen des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung seiner Einführung, Bd. 67, 4, S. 14–20 Klie, Thomas, Krahmer, Utz, Plantholz, Markus: Lehrpraxiskommentar LPK SGB XI
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Scheidung Scheidungen von Partnerschaften sind im Alter keine Seltenheit, ihre Zahl nimmt zu. Auch Ehen, in denen einer der Partner an Demenz erkrankt ist, werden geschieden. Mit Trennung und Scheidung sind für die betroffenen Familien, für die Paare und für die jeweils betroffenen Menschen mit Demenz dramatische Fragen verbunden. Das OLG Hamm hatte einen solchen Fall zu entscheiden. Es ging um den in der Fußballwelt bekannten Rudi Assauer.
Scheidung eines an Demenz Erkrankten OLG Hamm, Beschluss vom 16.08.2013, AZ: II-3 UF 43/13 Kann auch eine an fortgeschrittener Demenz vom Alzheimertyp erkrankte Person gegen den Willen des Ehepartners eine Scheidung durchsetzen? Hierüber hatte das OLG Hamm zu entscheiden. Zum Zeitpunkt des Auszugs aus der ehelichen Wohnung hatte der Scheidungswillige sich gegenüber mehreren Zeugen dazu geäußert, dass er sich trennen wolle. Etwa 3 Monate nach dem Auszug wurde ein Betreuungsverfahren durchgeführt. Bei der Anhörung in diesem Verfahren hatte er mehrmals bekundet, dass er sich nicht nur von seiner Frau trennen, sondern auch die Scheidung wolle. Zu diesem Zeitpunkt litt er zwar schon an einer mittelschweren Demenz, doch lag dennoch ein nach außen erkennbarer natürlicher Trennungs- und Scheidungswille des Betroffenen vor, so das OLG nach Einholung von Sachverständigengutachten und Anhörung mehrerer Zeugen. Ein solcher Wille verlange keine volle Geschäftsfähigkeit. Im Laufe des Scheidungsverfahrens war allerdings die Demenz so fortgeschritten, sodass ihm bei der Anhörung durch den Richter ein klares Bewusstsein dafür fehlte, überhaupt noch verheiratet zu sein. Bei einer solchen „äußersten Eheferne“ könne laut BGH eine Ehe auch geschieden werden, wenn sich die betroffene Person bereits bei Stellung des Scheidungsantrags in diesem Zustand befindet und die Ehe zerrüttet ist, stellte das OLG fest. Daher könne erst recht eine Ehe geschieden werden, wenn der Antragsteller noch zur Zeit der Antragstellung einen klaren Trennungswillen zum Ausdruck bringen konnte.
> Scheidung Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Was bedeutet ein Fall, wie jener von Rudi Assauer für Heime? Heime sind vertraut mit komplizierten Familiendynamiken. Es sind auch nicht nur harmonische Ehen und solidarische Partner, mit denen sie konfrontiert werden, obwohl es erstaunlich ist, wie viele Partnerschaften sich auch unter Bedingungen schwerer Pflegebedürftigkeit, Demenz und Heimaufenthalt eines Partners bewähren. Schon bei langjährigen und stabilen Partnerschaften ist die Pflege und Sorge eine Herausforderung: Angehörige von Menschen mit Demenz verlieren, so die Rede in Palliative Care, ihre Angehörigen zweimal: Einmal durch eine schwere Demenz und später durch den Tod. Es ist für viele Ehepartner und Ehepartnerinnen äußerst schmerzlich, wenn sich ihr langjähriger Lebensgefährte so grundlegend verändert, sie ihn und er sie kaum mehr wiedererkennt. Die Partnerschaft und Ehe steht unter ganz neuen Vorzeichen. Vielen gelingt es in beeindruckender Weise, sich der Sorge ihres Partners anzunehmen. Dabei ist es wichtig, dass sie (auch) ihr eigenes Leben weiterführen können. Das gelingt manchen dadurch, dass sie getrennt leben: Der Demenzkranke zieht ins Heim oder in eine Wohngruppe, der Angehörige bleibt in der gemeinsamen Wohnung und kümmert sich trotzdem – bis zur Übernahme von Pflegeaufgaben, wie bei der CBT sogar mit Rückvergütung im Heimvertrag vorgesehen. Aber er oder sie kann wieder gehen. Heime tun gut daran, bei der Beratung von Angehörigen Fragen anzusprechen, wie sich die Angehörigen weiter an der Sorge um ihre Partner beteiligen können. Auch Schuldgefühle können auf diese Weise angesprochen und entkräftet werden. Nähe auf Distanz: solch ein Arrangement kann die Lösung oder Rettung einer tragfähigen Partnerschaft sein. Nicht immer gelingt die Fortsetzung der Ehe. Im vorliegenden Fall war sie schon zerrüttet. Partner von Menschen mit Demenz binden sich neu – auch das muss ihnen ggf. zugestanden werden, incl. der Konsequenz Scheidung. Auch ein Mensch mit Demenz kann sich trennen wollen und die Scheidung einreichen. Meist muss dann ein Betreuer bestellt werden, wie in dem vom OLG Hamm entschiedenen Fall. Im Scheidungsverfahren selbst konnte der Betroffene seinen Scheidungswillen nicht mehr klar zum Ausdruck bringen. Trotzdem wurde die Ehe geschieden, wurde der Scheidungsantrag des demenzkranken Partners in seiner Maßgeblichkeit durch die zwischenzeitliche Einwilligungsunfähigkeit nicht infrage gestellt. Es kann nicht sein, dass bei eingetretener schwerer Demenz aus der Sicht des Menschen mit Demenz, der die Ehe in mehr oder weniger gesunden Tagen nicht fortsetzen wollte, nun zur Fortsetzung gezwungen wird. Nur bedarf der aktuelle Wille, so denn feststellbar, einer besonders sorgsamen
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> Scheidung
Prüfung. Diese hat das Gericht vorgenommen und ist zu dem nachvollziehbaren Ergebnis gekommen: Der Scheidungswillige hatte mit der Ehe abgeschlossen. Die Formulierung des OLG, es handle sich um eine „krankheitsbedingte äußerste Eheferne“, sie hinterlässt ein Störgefühl. Auch unter Bedingungen der schweren Demenz lässt sich eine Ehe fortführen, wenn auch unter grundlegend anderen Vorzeichen. Die Entscheidung des OLG Hamm wirft das Licht auf ein häufig vernachlässigtes Thema: Ehen und Lebenspartnerschaften unter Bedingungen von Demenz und im Heim. Heime sind gut beraten, bei aller Diskretion, die geboten ist, ihre fachliche Kompetenz auch auf die Bedeutung von Partnerschaften ihrer Bewohner zu beziehen: in ihren Wissensbeständen, im „handling“, in der Beratung oder Vermittlung von Beratung.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Die Erkrankung eines Ehepartners an Demenz verändert die Paarbeziehung grundlegend. Es können schon lange schwelende Konflikte zum Ausbruch kommen. Das Paar kann sich aber auch grundlegend entfremden. Insofern sind Scheidungen und Trennungen durchaus verständlich auch wenn sie empirisch eine ausgesprochen untergeordnete Rolle spielen. Es ist eher die Reorganisation der Paarbeziehung, die für die meisten Ehepaare im Vordergrund steht. Eine Trennung vom Partner muss im Übrigen nicht automatisch verbunden sein mit der Aufkündigung der Verantwortung für die Sorge für ihn.
Rechtsquellen §§ 1564 – 1568 BGB
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S chuldfähigkeit – Straftaten von Menschen mit Demenz Aggressionen, die von Menschen mit Demenz ausgehen, sind in der Pflegepraxis bekannt. Sie können sich gegen Pflegekräfte, gegen Angehörige, aber auch gegen Mitbewohnerinnen oder Mitbewohner richten14. Einen besonders dramatischen Fall hatte das Landgericht Konstanz zu entscheiden. Wie ist es um die Schuldfähigkeit eines Menschen mit Demenz bestellt? Wie weit reicht die Verantwortung des Heimes? Mit diesen Fragen trägt sich das viel beachtete Urteil des Landgerichtes Konstanz. Ein an schwerer Demenz leidender Heimbewohner hatte seinen Mitbewohner mit einer Wasserflasche erschlagen, vermutlich weil dieser ihn mit seinem Schnarchen gestört hatte. In dem Strafverfahren vor dem LG Konstanz wurde die Schuldunfähigkeit des demenzkranken Heimbewohners festgestellt, sodass eine Verurteilung wegen Totschlags unterblieb. Allerdings wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, da die Voraussetzungen einer Heimunterbringung, die allein unter bestimmten Bedingungen erfolgen könne (Einzelzimmer und regelmäßige Aufsicht), insbesondere hinsichtlich der Kostentragung noch nicht geklärt seien, so das Gericht. Sobald dies jedoch geklärt sei, könne eine Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommen. „Ich habe meinen Mitbewohner umgebracht, weil dieser laut schnarchte“: In etwa so äußerte sich ein blutbeschmierter Heimbewohner unmittelbar nach seiner Tat. Er lachte verstört. Seinem Opfer hatte er brutal mit einer Wasserflasche den Schädel zertrümmert. Eine solche Geschichte ist der Worst Case für ein Heim, das sich der Aufgabe der Begleitung und Pflege von Menschen mit Demenz widmet. Für die Mitarbeiter ist ein solcher Vorfall traumatisch: Fühlt man sich doch in besonderer Weise verantwortlich für das Wohl und Leben der Bewohnerinnen und Bewohner. Auch wenn es nicht vorauszusehen war, auch wenn keinen die Schuld trifft: Eine solche Geschichte bleibt im Gedächtnis einer stationären Pflegeeinrichtung. Das Gericht hatte dem Täter aufgrund
14 LG Konstanz, Urteil vom 29.10.2013, Az.: 4 KS 30 Js 7263/13
> Schuldfähigkeit – Straftaten von Menschen mit Demenz Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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der schweren Demenz, an der er litt, die Schuldunfähigkeit zum Tatzeitpunkt bestätigt. Es stützte sich dabei sowohl auf ein psychiatrisches Sachverständigengutachten als auch auf einen entsprechenden Demenztest. Das Gericht und auch die Staatsanwaltschaft sahen keinerlei Mitverschulden des Heimträgers. Es handle sich, so die gemeinsame Einschätzung, um einen schicksalhaften Ablauf, „für den man nicht immer jemand anderes verantwortlich machen könne“, so hieß es seitens der Staatsanwaltschaft in der mündlichen Verhandlung. Dennoch, und auch das war Thema in dem strafrechtlichen Verfahren, kann es sein, dass eine bestimmte Medikation, dass eine Beziehungsdynamik das Risiko einer solchen aggressiven Handlung erhöht. Es handelte sich bei dem Täter um einen Kurzzeitpflegegast, den man nicht gut kannte. Aus den der Einrichtung vorliegenden Unterlagen ergaben sich keine Anhaltspunkte für die Aggressivität des Bewohners. Auch wurde regelmäßig Kontakt zu ihm gehalten, eine lückenlose Überwachung daher nicht für notwendig erachtet. Auch die Angehörigen des Opfers waren bei aller Erschütterung über den Tod zurückhaltend mit Vorwürfen gegenüber der Einrichtung und das zu Recht: Den verantwortlichen Pflegefachkräften war nichts vorzuwerfen. Das Gericht sah in dem vorliegenden Fall die Voraussetzung des § 63 StGB als erfüllt an: Die Unterbringung des Täters in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde angeordnet. Er hatte im Zustand der Schuldunfähigkeit eine rechtswidrige Tat begangen und es war davon auszugehen, dass von ihm auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Der Maßregelvollzug für Menschen mit Demenz: Das ist eine ebenso große Ausnahme wie Tötungsdelikte durch Demenzkranke. Richtig aufgehoben ist der Täter im Maßregelvollzug mitnichten. Das sah auch das Gericht so. Ein geschlossenes Pflegeheim kam aber für ihn vor allen Dingen aufgrund der Finanzierungsproblematik nicht in Betracht. Auch sieht das Unterbringungsrecht in der Regel keine Unterbringung in einem Pflegeheim vor, die dem Schutz Dritter dient. Eine betreuungsrechtliche Unterbringung gemäß § 1906 Abs. 1 BGB dient allein dem Wohl des Betroffenen. Sie ist grundsätzlich in jedem Pflegeheim möglich, so die fachlichen Voraussetzungen gegeben sind. Eine Unterbringung, die die Gefährlichkeit eines Menschen mit Demenz für andere reflektiert, ist nur nach dem jeweiligen Landesunterbringungsrecht möglich. Veranschaulicht man sich noch einmal den Hintergrund der Tat, so war der zentrale risikoerhöhende Faktor das Doppelzimmer. In einem Einzelzimmer hätte den Täter ein
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> Schuldfähigkeit – Straftaten von Menschen mit Demenz
schnarchender Mitbewohner nicht gestört und nicht derart in Rage gebracht, dass er ihn umbringen würde. So wohnte das Potenzial zur Aggressivität unerkannt in dem Täter, wie wohl in den meisten Menschen. Es hat sich allerdings erst unter den Bedingungen eines Doppelzimmers entladen – in Verbindung mit der krankheitsbedingt herabgesetzten oder ausgeschalteten Affektkontrolle. Nun ist nicht immer und für jeden das Einzelzimmer die richtige Versorgungsform für Menschen mit Demenz, die im Einzelfall verunsichert reagieren können, wenn sie nachts alleine sind. Die Option der Versorgung in einem Einzelzimmer, sie muss jedoch für jeden bestehen. Das zeigt dieser tragische Fall.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Aggressivität ist eine Dimension menschlicher Existenz, die sich auch im Verhalten von Menschen mit Demenz Ausdruck verschaffen kann und dies in einer für andere gefährliche Art und Weise. Sie kennt als Auslöser häufig Umweltthemen, das Verhalten anderer, angstauslösende Umstände. Es kann aber auch inneres Erleben sein, das Aggressionen auslöst. In Begleitung von Menschen mit Fremd-und autoaggressiven Verhaltensweisen ist in besonderer Weise Fachlichkeit gefragt.
Rechtsquellen §§ 20,21, 63 StGB
Weiterführende Literatur Baer, Udo (2014): Wenn alte Menschen aggressiv werden: Demenz und Gewalt- Rat für Pflegende und Angehörige, Weinheim, Beltz
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Sexualität Auch ein Recht auf Leben einer eigenen Sexualität auch im hohen Alter gehört zu den Menschenrechten. Wir wissen darum, dass die Sexualität für alte Menschen, für Menschen mit Demenz, eine große Bedeutung spielen kann. Sexualität gehört zu den intimsten Lebensbereichen des Menschen. Das gilt für alle an sexuellen Beziehungen und Handlungen Beteiligten. Im Alltag der Begleitung von Menschen mit Demenz stellen sich häufiger komplizierte Fragen im Kontext der Sexualität (auch unter juristischen Gesichtspunkten). Die Solidarität zwischen den Generationen wird in den nächsten Jahrzehnten auf die Probe gestellt: in der Rentenversicherung, in der Finanzierung der Sozialversicherung, aber auch vor Ort. Wie kann ein Generationenvertrag aussehen, der auf eine moderne Solidarität der Bürgerinnen und Bürger vor Ort setzt? Das Beispiel Eichstetten, das sich gerade auch auf Menschen mit Demenz bezieht, ist „besichtigenswert“.
Über das Recht auf Sexualität – und das Recht, damit in Ruhe gelassen zu werden Sexualität und Demenz, dieses Thema berührt viele Tabus. Es ist in hohem Maße komplex und fordert alle Beteiligten in unterschiedlicher Weise heraus, einen menschenfreundlichen, toleranten und von gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme geprägten Umgang mit dem Thema zu finden. Soviel steht fest: Unter Demenz sterben weder der Geist und schon gar nicht die Emotionen. Sehnsucht und Lust können auch bei Menschen mit Demenz zu den elementaren Bedürfnissen gehören. Für Menschen, für die Sexualität immer eine große Rolle gespielt hat, finden wir eine biografische Kontinuität, wurde sie unterdrückt oder zurückgestellt, können sie mit neuer Macht hervortreten. Die Demenz kann zudem Kontrollmechanismen außer Kraft setzen, die im bisherigen Leben sexuelle Wünsche kanalisiert haben. Das gilt für Männer und für Frauen, das belegen zahlreiche Berichte aus der Begleitung von Menschen mit Demenz. Gerade bei Männern können sexuelle Wünsche im hohen Alter eine besondere Intensität entfalten. Wie mit ihnen umgehen? Gibt es rechtliche Maßstäbe?
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Recht auf Sexualität auch für Menschen mit Demenz Ein Recht auf Sexualität steht allen Menschen zu. Es kann und darf ihnen nicht abgesprochen werden – mit hohem Alter, mit der Diagnose Demenz. Auch das Unterbinden von sexuellem Erleben und sexuellen Handlungen im Pflegeheim lässt sich in aufgeklärter Weise mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht vereinbaren. Zu einer der schwierigsten Herausforderungen gehört es, Partnerschaften unter den Vorzeichen von Demenz weiterzuleben. Das gilt prinzipiell für alle Formen der Sexualität: ob nun Hetero-, Homo- oder Autosexualität. Im hohen Alter darf Sexualität überdies nicht nur auf genitale Formen reduziert werden. Berührungen, körperliche Nähe, Zärtlichkeit können in hohem Alter eine größere Rolle spielen als in jüngeren Lebensphasen.
Kein Recht auf Sexualität gegen den anderen: Grenzen respektieren Ehepartner von Menschen mit Demenz berichten bisweilen von einer neuen Hemmungslosigkeit und davon, dass sie Angst haben, verstört sind, ihnen ihr Partner fremd wird. So sind sexuelle Übergriffe in der Partnerschaft durch einen an Demenz Erkrankten wohl bekannt. Manche Ehepartnerinnen sehen in diesen sexuellen Übergriffen die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht. Manch eine nimmt das als Anlass, einen Umzug in ein Pflegeheim zu veranlassen. Die viel zitierten und häufig falsch interpretierten „Pflichten des Ehelebens“ gelten nicht grenzenlos und es gehört zu den schwierigsten Aufgaben, Partnerschaften unter dem Vorzeichen der Demenz (weiter-) zu leben. Vielen Partnerinnen und Partnern gelingt es aber, gerade bei beginnender Demenz, mit der Sexualität eine lebendige Dimension ihrer Beziehung weiter zu leben. Auch Pflegekräfte wissen ein Lied davon zu singen, dass sie mit sexuellen Wünschen und Phantasien ihrer „Pflegekunden’“ oder Heimbewohner konfrontiert sind. Sie müssen mit ihnen umgehen. Das gilt nicht nur für das Verhalten von Männern gegenüber zumeist weiblichem Pflegepersonal. Und auch Zivildienstleistende waren in der Vergangenheit häufig mit sexuellen Bedürfnissen von auf Pflege angewiesenen Frauen konfrontiert. Auch zwischen Heimbewohnern können sich zarte Bande entwickeln, aber auch ganz elementare sexuelle Dynamiken realisieren. Heimbewohner, die sich zu Heimbewohnerinnen ins Bett legen und sie behandeln wie ihre frühere Partnerin, bergen erhebli-
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ches Konfliktpotenzial in sich und stellen sich als hoch belastende Übergriffe dar, vor denen Bewohnerinnen zu schützen sind. Auch exhibitionistische Verhaltensweisen werden beobachtet, öffentliche oder zumindest nicht verborgene Selbstbefriedigung. Die Zeiten, in denen Menschen fixiert wurden, um Autosexualität zu verhindern, sind noch nicht aller Orten vorbei. Mit manchen festzubindenden Pflegehemden wird immer noch geworben, da sie das Herumnesteln der Betroffenen an ihrem Körper verhindern. Eine Legitimation von freiheitsentziehenden Maßnahmen stellen solche Motive niemals dar. Hier gilt es, andere Lösungen zu finden, die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner vor Belästigung schützen, aber gleichwohl auch Sexualität zuzulassen. Kreativität ist hier gefragt, wie etwa in einem Heim für Menschen mit Demenz, in dem eine exhibitionistisch veranlagte alte Dame mit einem Vorhang vor den Blicken der anderen geschützt werden konnte. Wenn Sexualität auch bei Demenzbetroffenen zu den elementaren menschlichen Bedürfnissen gehören kann, so sind in der häuslichen und in der stationären Versorgung Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass sie in einer für andere verträglichen Weise gelebt werden kann. Dazu gehören Rückzugsmöglichkeiten. Einzelzimmer in stationären Pflegeeinrichtungen sollten auch deswegen Standard sein. Die Möglichkeit, Türen zu schließen und unbeobachtet zu sein, ist gefragt. Pflegende Angehörige aber auch Professionelle benötigen Informationen, um Irritationen zu verhindern, Verständnis zu fördern und sexuelle Bedürfnisse wahrnehmbar zu machen. Damit Sexualität gelebt werden kann, müssen auch die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Zärtlichkeit, die Möglichkeit zu „kuscheln“, auch die Ermöglichung von Autosexualität kann einen nicht unbedeutsamen Beitrag dazu leisten, dass sich Situationen entspannen und deeskalieren lassen. Dabei ist zu beachten, dass Menschen hoch verschieden sind und manche mit dem Thema Sexualität im hohen Alter weithin abgeschlossen haben, und auch nicht angesprochen werden wollen auf ihre sexuellen Bedürfnisse.
Schutz gewähren Sowohl Menschen mit Demenz als auch Menschen, die zu möglichen Sexualpartnern von ihnen werden können, brauchen gegebenenfalls Schutz. So gehört es selbstverständlich zu den Pflichten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Wohngruppen, aber
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auch in Pflegeheimen, unerwünschte Sexualkontakte zu verhindern und entsprechende Vorkehrungen zu treffen, etwa dadurch, dass die Zimmer von Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern nicht ohne Weiteres betreten werden können. Aber auch Menschen mit Demenz sind nicht selten schutzbedürftig. Es sind Fälle bekannt, in denen Menschen mit Demenz einen Gutteil ihres Vermögens durch Telefonsexdienstleistungen verloren haben oder in der häuslichen Pflege Opfer sexueller Abhängigkeitsverhältnisse oder sexuellen Missbrauchs wurden. Rechtliche Betreuer sind berufen, einen derartigen Schutz zu gewährleisten und Übervorteilungen zu verfolgen.
Sexual Assistenz – auch für Menschen mit Demenz? Aus der Arbeit mit geistig Körperbehinderten ist die Sexualassistenz inzwischen auch in Deutschland bekannt, nachdem sie in Dänemark, Schweden und den Niederlanden Tabus gesprengt und sich etabliert hat. Sexualassistenz auf Kosten der Sozialhilfe? In der Eingliederungshilfe stehen entsprechende Ansprüche auf der Tagesordnung. Bei Menschen mit Demenz mitnichten. Für Sexualassistenten sind Menschen mit Demenz eine neue Klientel. Berichte zeigen, wie sie arbeiten, welche Bedeutung sie für das emotionale Gleichgewicht haben können, aber auch, wie konflikthaft der Einsatz von Sexualassistenten sein kann. Der Einsatz von Mitteln aus dem Vermögen Betreuter, auch etwa des Barbetrages im Pflegeheim für Sexualassistenz, kann durchaus dem Wohl des Betroffenen im Sinne seiner Wünsche dienen. Hier gilt § 1901 BGB. Zeiten, in denen in dem Einsatz des Barbetrages für Sexualassistentinnen kein „bestimmungsgemäßer Gebrauch“ desselben gesehen wurden, sind vorbei. Für Angehörige, beziehungsweise für Familienangehörige als Betreuer, können allerdings Grenzen des Zumutbaren erreicht werden, wenn sie mit entsprechenden Wünschen ihrer Angehörigen konfrontiert werden. Das Betreuungsrecht kennt die Grenze des Zumutbaren für den Betreuten. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob er in jeder Hinsicht der geeignete Betreuer ist. Die Behindertenrechtskonvention verlangt noch konsequenter die Beachtung des Willens und der Wünsche des Betroffenen, auch des Menschen mit Demenz – solange diese nicht die Rechtstellung anderer beeinträchtigen. Demenz und Sexualität und das Recht: Ein diffiziles Thema, Offenheit, Informiertheit und Interaktionskunst sind gefragt, um mit dem Thema in einer menschenfreundlichen
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Weise umzugehen. Das Thema fordert von uns weiterhin, dass wir Demenz nicht pathologisieren und mit der Pathologisierung Menschen um ihr Recht bringen, dass was ihnen elementar bedeutsam ist, zu leben. Dazu kann – gerade bei Männern – Sexualität auch in hohem Alter, auch bei Demenz gehören.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Sexualität im Alter und insbesondere Sexualität von Menschen mit Demenz ist nach wie vor ein Tabu-Thema. Es fordert moralische Grenzen einzuhalten aber auch Grenzen zu setzen, wenn die Sexualität von Menschen mit Demenz sich für andere als Gewalt oder Übergriff darstellt.
Weiterführende Hinweise www.spiegel.de › Wissenschaft › Mensch › Demenz 23.02.2010 – Interview von Jörg Böckern: Sex-Dienste im Pflegeheim: Die Pionierin Sexuelle Bedürfnisse flammen bei Dementen oft heftig auf. Frauen wie Nina de Vries helfen mit professioneller Zärtlichkeit.
Adressen www.alzheimer-bw.de; [email protected]
Literatur Sexualität im Alter bei Demenz: Schalk-Berten, Antonia in: Alzheimer Aktuell 03/2010
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Solidarität – Generationenvertrag Die Metapher des Generationenvertrages wird seit der Einführung der Rentenversicherung in den 50erJahren unter Adenauer benutzt und ist seitdem fester Bestandteil des sozialpolitischen Vokabulars der Bundesrepublik. Die arbeitende Bevölkerung sichert die Rente, aber nicht nur die, sondern auch die gesundheitliche und pflegerische Versorgung der jeweils älteren Generationen. Der Generationenvertrag steht für die synthetische Solidaritätsform: Nicht aus dem aktuellen Einkommen, nicht als tatsächliche Sorgeleistung hat die mittlere Generation (rechtlich) für die Alten zu sorgen, sie tut dies durch die Einzahlung in die sozialen Sicherungssysteme. Der Generationenvertrag war von vorneherein kein Vertrag. Die jüngere Generation wurde nicht gefragt, ob sie ihn abschließen wolle. Auch ist der Vertrag unvollständig, da es sich nur auf die Vorsorgeleistungen zwischen zwei und nicht drei Generationen bezieht. Die Kinder und die mit der Begleitung von Kindern verbundenen ökonomischen und Erziehungsaufgaben hat man (damals schon wider besseren Wissens) ausgeklammert. In diesem kapitalen Konstruktionsfehler unserer sozialen Sicherung, der sich in der Pflegeversicherung fortsetzt, sind die Sollbruchstellen der Renten-, der Kranken- aber auch der Pflegeversicherung im demografischen Wandel angelegt: Umlagefinanzierte Sozialversicherungen sind nicht demografiefest. Es scheint nachvollziehbar, wenn jüngere Politiker und Bundestagsabgeordnete mit Blick auf ihre Klientel den alten „Generationenvertrag“ infrage stellen und die mit ihm verbundenen Versprechen dechiffrieren: „Wir wissen alle, dass der Pseudogenerationenvertrag nicht eingehalten werden kann“. Ein neuer wird verlangt und vor allem die Berücksichtigung der Interessen nachfolgender Generationen bei sozialpolitischen Gesetzesvorhaben. Schon heute heißt es in Artikel 20a Grundgesetz: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen, die natürlichen Lebensgrundlagen“. Der Gesetzgeber hat im Wesentlichen die natürlichen Ressourcen im Blick, muss allerdings auch die sozialen vermehrt würdigen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Generationenausgleich, der sich in den letzten 200 Jahren verdichtet und weiterentwickelt hat und in dieser Zeit vor allen Dingen eine sozialstaatliche Rahmung fand, künftig so nicht mehr funktionieren wird wie heute und dass aktuelle Prognosen mit der Erwartung sozialen Fortschritts brechen und damit das sozialstaatliche Modell des Generationenvertrages gefährdet erscheint. Generationengerechtigkeit als Gerechtigkeit, die in die Verteilung von Ressourcen aber auch seine Aufmerksamkeit die nachfolgenden Generationen
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mit einbezieht, sie wird immer mehr zu einem Maßstab nachhaltiger Politik, auch der Sozial- und Pflegepolitik. Die Grünen haben in ihrem Papier zu einem neuen Generationenvertrag auch andere als die Fragen der Sicherung der Altersvorsorge integriert, das politische Partizipation ebenso einbezieht wie Bildung und Arbeit für alle Generationen. Damit bleiben aber auch die Grünen bei einem klassischen Generationenvertragsbild und stellen sich nicht in jeder Hinsicht realistisch den neuen Herausforderungen. Wer heute einen neuen Generationenvertrag verspricht, der auf den Sicherungsversprechen der Vergangenheit beruht, der kann nicht einfach bisherige Renten- aber auch Pflegekonzepte weiterentwickeln. Nicht umsonst wird von der Rentenlüge gesprochen. Man könnte auch von der Pflegelüge sprechen. Eine moderate Weiterentwicklung der Beitragssätze in der Pflegeversicherung, Ergänzungen durch verpflichtende private Pflegevorsorgebeiträge, all das wird weder dazu reichen, die Sorge um auf Pflege angewiesene Menschen, die Sorge um Menschen mit Demenz in der Zukunft zu garantieren noch die Finanzierung eines auf Nachhaltigkeit hin angelegten Sicherungssystem in diesen Feldern zu sichern. Schon aktuell greifen die Leistungen der Pflegeversicherung zu kurz, werden zentrale Sicherungslücken vernachlässigt, werden in der Breite Formen illegaler Hilfen hingenommen und wird die Belastung pflegender Angehöriger bagatellisiert. Bei einem pflegepolitischen Festhalten an den Vorstellungen einer auf dem alten Generationenvertrag basierenden Pflegefinanzierung mit ihren Deckelungen werden die Sorgeaufgaben in den nächsten Jahrzehnten nicht bewältigt werden können. Das liegt ganz wesentlich daran, dass bei allen Überlegungen zur Reform und Weiterentwicklung der Pflegesicherung, die Veränderungen in den Konstellationen familiären Generationsausgleiches vernachlässigt werden. In Familien werden heute noch ganz wesentlich die Sorgeaufgaben für Hochbetagte, für Menschen mit Demenz übernommen. Auf dieser Familiensolidarität ist die Pflegeversicherung kalkuliert. Verändern sich die Solidaritätsmuster in den Familien, und davon ist auszugehen, wird dies zu einem Bedeutungszuwachs formeller Hilfen, insbesondere stationärer Versorgungsformen führen. Das wird teuer, das ist auch unter keiner Variante der Prognosen zur Finanzierung der Pflegesicherung hinreichend berücksichtigt. Insofern gilt es nicht allein auf der Makroebene, auf der Ebene der Bundespolitik darum, an einem neuen Generationenvertrag zu basteln, sondern vielmehr realistisch in den Blick zu nehmen, dass Generationensolidarität in einer Gesellschaft des langen Lebens ganz andere Formen und Gesichter braucht. Wenn man jenseits von staatlichen Transferleistungen und Marktleistungen, die über die Pflege- und Krankenversicherung finanziert
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werden, die Sorgeaufgaben für Menschen mit Demenz ernst- und wahrnehmen will, verlangt das in Familie, in Nachbarschaften und auf kommunaler Ebene nach neuen Formen der Sorgegestaltung. Nicht umsonst ist der Quartiersbezug in der Entwicklung neuer Konzepte auch für Menschen mit Demenz aktuell „en vogue“. Von lokalen Verantwortungsgemeinschaften wird gesprochen, von geteilter Verantwortung oder auch von einem neuen Generationenvertrag vor Ort. Es muss gelingen, in die unzweifelhaft wichtigen Garantiefunktionen des Sozialstaats auch für den Bereich Pflege neue, leistungsfähige und faire Solidaritätsformen zu entwickeln und einzubeziehen. Klaus Dörner spricht vom Dritten Sozialraum, dem der Nachbarschaften und sieht hier wichtige Ressourcen und Perspektiven. In den quartiersbezogenen Projekten der Stiftung Liebenau, der Bremer Heimstiftung oder auch der Caritas Betriebsträgergesellschaft (SONG) konnte ökonomisch nachgewiesen werden, dass die Investitionen in den Sozialraum, in Nachbarschaften sich auch fiskalisch auszahlt. Einen Leuchtturm in diesem Zusammenhang stellt immer noch die Kaiserstühler Gemeinde Eichstetten dar. Hier wird explizit ein neuer Generationenvertrag als Ausdruck der Solidargemeinschaft eines Dorfes praktiziert. Die Mehrgenerationennutzung von kommunaler Infrastruktur (Mehrgenerationenhaus), die Generationsübergreifende Solidarität: Hier bürgerschaftliche Sorge für Demenzkranke, dort für die Kernzeitbetreuung in der Schule, gehört zu dem intelligenten Solidaritätskonzept der Gemeinde Eichstetten. Der Adlerhof, eine Wohngruppe für Menschen mit Demenz nach dem Freiburger Modell praktiziert die geteilte Verantwortung zwischen Angehörigen, Professionellen, beruflich Tätigen und bürgerschaftlich Engagierten und dies mit Gesamtkosten für diese neue Versorgungsform, die deutlich unterhalb der vergleichbarer Pflegeheime liegen. 490 Familien des Zweieinhalbtausend-Seelendorfes sind in diesen neuen Generationenvertrag praktizierende Bürgergemeinschaft integriert. Das ist kein Generationenvertrag, der sich in Rentenformeln ausdrücken und berechnen lässt. Es ist keine Versicherungslösung, die Bürgerinnen und Bürger aus der Verantwortung entlässt, wenn sie ihre Beiträge gezahlt haben. Das ist ein hybrider Vertrag, ein kompliziertes Geflecht von Nehmen und Geben, professioneller Unterstützung, alltäglicher Menschenfreundlichkeit im Umgang miteinander, nebenberuflichen Tätigkeitsformen und professionellen Hauptamtlichen. Leuchttürme sind dazu da, um sich an ihnen zu orientieren. Damit das Licht der Leuchttürme – aber nicht im Dunkel verschwindet – sollten, um ein Bild von Sabine Jansen aufzunehmen, aus Leuchttürmen Straßenlaternen werden, damit überall die Möglichkeiten genutzt werden, einen realistischen, aber gleichwohl komplizierten Generationenvertrag zu gestalten – mit Nachjustierungen,
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als Lernprojekt einer lokalen Verantwortungsgemeinschaft. Dafür bedarf es einer unterstützenden Infrastruktur, dafür bedarf es Kompetenzen in der Moderation derartiger Innovationen. Mit leistungsgerechten Vergütungssätzen und wettbewerblich agierenden Pflegediensten ist das allein nicht zu schaffen, auch nicht mit Qualitätsprüfungen und Pflegenoten. Will man Wohngruppen aufbauen, Betreuungsgruppen für Menschen mit Demenz errichten, intelligente Formen zwischen nebenberuflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit einführen, ein effizientes Zusammenwirken von (teuren) professionellen und günstigeren Assistenzkräften etablieren und örtliche Sorgestrukturen verankern, dann darf man das nicht einzelnen Familien überlassen, dann muss man die Logik betriebswirtschaftlich agierender Unternehmen im Pflegebereich einbinden in eine Kultur des Aushandelns sowohl auf der Fall- als auch auf der örtlichen und regionalen Ebene. Pflegestützpunkte sollten so etwas leisten, sie werden aber nur halbherzig aufgebaut. So bedarf es kommunaler und bürgerschaftlicher Initiativen, um den Weg eines neuen sicherlich nicht einfachen aber erfolgversprechenden Generationenvertrages vor Ort einzuschlagen. Menschen, die über Jahre erprobt sind in der Bewältigung eines Lebens mit Demenz, können hier wichtiger Ratgeber sein.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen „Leben und Sterben wo ich hin gehöre“, das ist der Leitsatz, der für die meisten Menschen gilt, wenn sie an ein Leben mit Demenz denken. Sie rückt die Fragen der Generationensolidarität in die öffentliche Aufmerksamkeit und die Bedeutung der Kommunen. Wie lassen sich Quartiere, wie lassen sich Dörfer gestalten, in denen Menschen mit Demenz gefahrlos und gut leben können? Was braucht es für eine Architektur der Pflege?
Literatur Frey/Klie/Köhler Neue Architektur der Pflege Freiburg, 2013, www.buergergemeinschafteichstetten.de/
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Sprache und Verständigung Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Sprache als Kommunikationsmittel eine historisch betrachtet fast einmalige Bedeutung einnimmt. Wie verständigen wir uns mit Menschen mit Demenz, die ihre eigene Sprache sprechen, bei denen Körpersprache einen Zugang zum Verstehen bietet? Welche Bedeutung kommt den sprachlichen Äußerungen von Menschen mit Demenz zu, auch im Kontext von rechtlich relevanten Entscheidungen? Wie ist das bei Menschen mit Migrationsgeschichte, die möglicherweise die später im Leben erworbene Sprache Deutsch wieder verlernen? Haben sie einen Anspruch auf muttersprachliche Begleitung? Das kommt mir Spanisch vor – Das Recht auf muttersprachliche Begleitung von Menschen mit Demenz In den Pflegeheimen in British Columbia (Kanada) gehört es zu den Standards, dass für jeden Bewohner oder jede Bewohnerin eine muttersprachliche Bezugsperson zur Verfügung steht: sei es eine Mitarbeiterin oder ein Ehrenamtlicher. Bei dem Besuch in einer vorbildlichen Einrichtung in Richmond erläuterte mir der Direktor, in seiner Einrichtung müssten für 26 Sprachen „Paten“ zur Verfügung stehen. Das sei aber nicht sonderlich schwierig und fördere die Interkulturalität seiner Einrichtung. Da kämen alle in den Blick: auch Mitarbeiterinnen aus der Küche oder Technik. Besonders wertvoll sind ihm die Ehrenamtlichen aus den vielen ethnischen Gruppen in der multikulturellen Region Vancouver. Von solchen Verhältnissen sind wir in Deutschland noch vergleichsweise weit entfernt. Doch auch bei uns stellt sich immer wieder die Frage, wie eine muttersprachliche Begleitung von Menschen mit Demenz für diejenigen gewährleistet werden kann, die nicht oder nicht mehr deutsch sprechen oder verstehen. Die Bemühungen im Rahmen der kultursensiblen Altenpflege haben für ein neues Bewusstsein gesorgt. Vielerorts bemüht man sich, interkulturelle Teams in jenen Heimen aufzubauen, in denen regelmäßig Russlanddeutsche oder Türkischstämmige aufgenommen werden. In Niedersachen etwa finden sich vorbildliche Betreuungsteams, die sich in ganz besonderer Weise auf Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Sprachen ausrichten.
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Wie in British Columbia sollte es auch in Deutschland zu einem selbstverständlichen Gütekriterium für Dienste und Einrichtungen werden, dass sie ihren Bewohnerinnen und Bewohnern respektive ihren Klienten und Patienten mit muttersprachlicher Kompetenz entgegenkommen. Und nicht nur ihnen, sondern auch den Angehörigen. Dieses allgemeine Gütekriterium für Einrichtungen und Dienste und diese interkulturellen Anforderungen an örtliche Infrastrukturen können sich auch zu einem individuellen Rechtsanspruch auf sprachliche Begleitung verdichten. Geht es etwa um die Einwilligung in eine ärztliche Heilbehandlungsmaßnahme, so ist die informierte Zustimmung Voraussetzung für ihre Rechtmäßigkeit. Das wird mit dem neuen Patientenschutzrecht besonders herausgehoben (§ 636 d BGB). Die Einwilligung in eine ärztliche Heilbehandlungsmaßnahme setzt immer voraus, dass eine entsprechende Aufklärung erfolgt ist und der Patient oder der für ihn Handelnde Informationen über die Heilbehandlung, die möglichen Folgen, Nebenwirkungen und Risiken auch verstanden hat. Gegebenenfalls bedarf es eines Dolmetschers. Diese Funktion können Angehörige übernehmen, was ganz häufig der Fall ist. Diese Funktion kann auch von Ehrenamtlichen wahrgenommen werden, die zur Patientin in einem Vertrauensverhältnis stehen oder es aufbauen können. Gegebenenfalls müssen aber auch bezahlte Dolmetscher ran. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf hat im Jahr 1990 entschieden, dass im Krankenhaus – und das Gleiche gilt für das Heim und für die Arztpraxis – sprachkundiges Personal, Angehörige oder eben Dolmetscher in Anspruch genommen werden müssen15. Ohne Dolmetscher keine Einwilligung.
Muttersprachliche Unterstützung für Demenzbetroffene Bei Menschen mit Demenz kann keineswegs stets unterstellt werden, sie würden eine Information oder Aufklärung „sowieso“ nicht verstehen. Spätestens seit der Behindertenrechtskommission wird der rechtlichen Assistenz eine eigenständige Bedeutung zugesprochen. Die Unterstützung in rechtlichen Angelegenheiten ohne oder vor, gegebenenfalls auch neben der Tätigkeit eines gesetzlichen Betreuers wird stärker gewichtet. So wird man auch dann, wenn die Einwilligungsfähigkeit infrage steht, dafür Sorge tragen müssen, dass Patienten die Informationen zur Heilbehandlung nahe gebracht
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werden: über den Kopf hinweg entscheiden ohne Einbeziehung dessen, um den es geht, geht nicht! Auch der Betreuer oder der Bevollmächtigte hat die Entscheidung über die ärztliche Heilbehandlung im Rahmen der persönlichen Betreuung zu fällen: Er muss mit dem Patienten darüber sprechen und soweit es möglich ist, ihn an der Entscheidung teilhaben lassen. Stellvertretende Entscheidungen kennt das deutsche Medizinrecht grundsätzlich nur für den Notfall. Das, was schon beim muttersprachlich deutschen Menschen mit Demenz nicht selbstverständlich ist, dass ihre Bevollmächtigte und Betreuer und auch sie selbst in die Entscheidung über Heilbehandlungen einbezogen werden, stößt bei Menschen mit Demenz mit „Zuwanderungsgeschichte“, wie es heute heißt, auf zusätzliche Barrieren, die überwunden werden müssen. Doch nicht nur Einwilligungen erfordern die Überwindung von Sprachbarrieren. Der Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe von Demenzbetroffenen, die des Deutschen nicht mächtig sind, erfordert eine muttersprachliche Begleitung – in vertretbarem Umfang. Sie muss auf die individuelle Situation der jeweiligen Betroffenen abgestellt sein. Gegebenenfalls kann es sich dabei auch um eine persönliche Assistenz handeln, die vorliest, übersetzt, zum Friedhof oder in den Moscheeverein begleitet. Natürlich wird man versuchen, Angehörige, Ehrenamtliche, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu finden, die diese Aufgaben übernehmen können. Es wird zu einer ganz wichtigen Aufgabe, auch den sprachlich „Fremden“ im hohen Alter dadurch willkommen zu heißen und seine Teilhabe zu sichern, indem man sich um seine muttersprachliche Begleitung bemüht. Die zusätzliche Betreuungskraft im Heim oder die Alltagsbegleiterin in der häuslichen Versorgung sollte bestenfalls über Kultur- und Sprachkompetenz der Person, für die sie da ist, verfügen. Gelingt dies nicht mithilfe von Mitarbeiterinnen oder Ehrenamtlichen, verdichtet sich der Teilhabeanspruch zum Rechtsanspruch. Dieser kennt sowohl den Dolmetscher in schwerwiegenden Entscheidungen, etwa bei Heilbehandlungen, als auch den muttersprachlichen Begleiter. Eine solche Unterstützung ist wie immer im Sozialhilferecht vermögens- und einkommensabhängig im Rahmen der Eingliederungshilfe. Ein Rechtsanspruch aber besteht zu Hause, im Krankenhaus und im Heim. Auch ein muttersprachliches Fernsehprogramm, das über die üblichen Kanäle in Deutschland nicht zu empfangen ist, kann zu den Teilhabeansprüchen von Heimbewohnern
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aber auch von zu Hause lebenden Menschen gehören. Ein entsprechender Fall ist aktuell am Sozialgericht Freiburg anhängig. Es geht hier um einen Heimbewohner aus Afghanistan. Auch wenn es häufig keine gute Nachrichten sind, die er über das afghanische Fernsehen in sein Zimmer bekommt, so ist er doch dabei und fühlt sich in gewisser Weise mit seiner Heimat verbunden. Sie kennen Dementisch, sie verstehen es? Menschen mit Demenz in ihrem Erleben, in ihren Gefühlen – seien es Ängste oder sei es Freude – zu verstehen, verlangt eine besondere Offenheit, ein spezifisches Verstehen und die Fähigkeit der Interpretation und Deutung der Signale und des Miteinanders. Verhaltensweisen, sprachliche Äußerungen gilt es zu verstehen, die in einer rationalen Welt, in einer von Sachlichkeit geprägten Kommunikation zunächst unverständlich, irritierend oder als sinnlos erscheinen können. Die Vermittlung von Kommunikationskompetenzen im Umgang mit Menschen mit Demenz gehört heute zu den Pflichtbestandteilen in der Weiterbildung für Fachkräfte und Ehrenamtliche. Wir müssen alle etwas „Dementisch“ lernen, wollen wir uns zu einer demenzfreundlichen Gesellschaft entwickeln. Die Fähigkeit zur humorvollen Umdeutung von Situationen und Äußerungen gehört ebenso dazu, wie die Sensibilität für Umgebung, Situation, Konflikte, die ein bestimmtes Verhalten, die eine bestimmte Äußerung von Menschen mit Demenz auslösen und wiederum verstehbar machen. Dementisch lernen meint nicht nur passiv verstehen, sondern schließt die Fähigkeit ein, sich in Kommunikation und im Kontakt zu Menschen mit Demenz zu begeben, sie anzusprechen, mit ihnen ein lebendiges Miteinander zu entwickeln und zu gestalten. Es ist Ausdruck eines tiefen Respektes gegenüber Menschen mit Demenz, sich ihnen verstehend und nicht diagnostisch und pathologisierend zu nähern. Dafür soll „Dementisch“ stehen.
Verbindlichkeit von Sprache Sprache dient im gesellschaftlichen Miteinander zur Verständigung, zum Austausch und nicht zuletzt zur Herstellung von Verbindlichkeit: „Dies will ich, dies will ich nicht“, „dies soll geschehen, dies nicht“. Welche Verbindlichkeit kommt den Willensbekundungen, den bisweilen dementischen Sprachäußerungen von Menschen mit Demenz zu? Artikel 12 der Behindertenrechtskonvention spricht Menschen mit Behinderung
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die Anerkennung als Rechtssubjekt zu und fordert für sie die gleiche Rechts- und Handlungsfähigkeit, wie Nichtbehinderte sie genießen. Auch Menschen mit Demenz sind Menschen mit Behinderungen, sie haben einen Anspruch darauf, bei der Ausübung ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit unterstützt zu werden. Man könnte sagen: sie brauchen bisweilen Dolmetscher. Zunächst gilt also: das, was Menschen mit Demenz als interpretierbare Lebensäußerung, sei es verbal oder averbal, kundtun, ist eine auch rechtlich relevante Äußerung. Sie gibt uns Hinweise auf Bedürfnisse, auf Wohl- oder Unwohlsein, auf Wünsche oder Ablehnung. Im Deutschen, anders als im Schweizer Recht, spricht man von natürlichem Willen und auch dieser ist grundsätzlich beachtlich und verbindlich. Das Schweizer Recht ist dort vorsichtiger: Hier spricht man von aktuell geäußerten Bedürfnissen und Gewohnheiten und lässt den rechtlichen Gehalt dieser Äußerungen offen16. Ist jeder geäußerte Wille, jede Sprachäußerung eines Menschen mit Demenz verbindlich? Soweit würde man im deutschen Recht nicht gehen. Nur bedarf jedes Übergehen und jedes gegen den natürlichen Willen gerichtete Verhalten und jede mit dieser Zielrichtung getroffene Entscheidung eine besondere (rechtliche) Legitimation. Das gilt in besonderer Weise für ärztliche Heilbehandlungen, die sich gegen den natürlichen Willen eines Menschen richten – etwa: ein Patient wehrt sich gegen die Medikamentengabe. Dies gilt für Eingriffe in Freiheitsrechte, etwa bei Fixierungen oder Einschließungen. Dies gilt auch für jede Zwangsmaßnahme, sei es im Zusammenhang mit der Ernährung oder Flüssigkeitszufuhr. Den natürlichen Willen einfach zu übergehen, das verbietet unsere Rechtsordnung.
Die Einwilligungsfähigkeit In vielen Situationen reicht der natürliche Wille nicht aus, um eine weitreichende Entscheidung, etwa im Zusammenhang mit einem medizinischen Eingriff zu treffen. Für die Einwilligung in eine Heilbehandlung bedarf es der Einwilligungsfähigkeit. Auch sie wird grundsätzlich bei Menschen mit Demenz unterstellt, kennt aber Vorausset-
16 V gl. Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (2011): Patientenverfügung. Stellungnahme Nr.17/2011. Bern.
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zungen: Einwilligungsfähig ist derjenige, der Art, Bedeutung und Tragweite (Risiken) einer ärztlichen Maßnahme erfassen kann17. Zur Einwilligungsfähigkeit gehört das Verständnis, etwa einen bestimmten Sachverhalt zu verstehen, die Fähigkeit zur Verarbeitung von Informationen, auf denen eine Entscheidung basieren soll, zur Bewertung unterschiedlicher Handlungsalternativen und schließlich die, den eigenen Willen zu einer Entscheidung zu verdichten. Über diese Fähigkeit verfügen viele Menschen mit Demenz häufig nicht mehr, oder nicht mehr bezogen auf alle Lebenssachverhalte. So haben andere mit und für sie zu entscheiden, seien es Bevollmächtigte oder rechtliche Betreuer. Sie sollen für sie entscheiden, wohlwollend, orientiert an ihren Werthaltungen, an ihren früher und aktuell geäußerten Willensbekundungen – und immer nach Möglichkeit in Kommunikation mit ihnen, so will es § 1901 des BGB.
Patientenverfügungen und natürlicher Wille Besonderes Gewicht wird bei aktuell Einwilligungsunfähigen (im Schweizer Recht: Urteilsunfähigen) Patientenverfügungen zugeschrieben. In ihr kann (verbindlich) festgelegt werden, was in einer vorhersehbaren Situation bezogen auf eine ärztliche Heilbehandlungsmaßnahme geschehen oder nicht geschehen soll. Patientenverfügungen können sich auch auf Hinweise, auf Wünsche beschränken, die bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind – etwa bezogen auf die Einbeziehung von bestimmten Personen in die Entscheidung, die grundsätzliche Ablehnung einer Krankenhausaufnahme18. Besonders kompliziert wird es dann, wenn in einer Patientenverfügung im Duktus der Verbindlichkeit festgelegt wurde, dass etwa eine antibiotische Behandlung bei einer Lungenentzündung unterlassen werden soll, eine kalorische Versorgung mittels einer PEG-Sonde in jedem Fall abgelehnt wird oder lebenswichtige Herzpräparate abgesetzt werden sollen. Nun spielen verbindliche Patientenverfügungen, die exakt für eine vorausbestimmbare Situation eine präzise Willensbekundung beinhalten, in der Praxis eine eher nachgeordnete Rolle. Im österreichischen Sprachgebrauch würde man sagen:
17 BGH: FT Aktenzeichen IV Str525/57. 18 Vgl. Klie/Student (2011): Patientenverfügung. Wie Sie richtig vorsorgen können. Freiburg: Kreuz Verlag.
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nicht die verbindlichen, sondern die beachtlichen Patientenverfügungen dominieren. So entspricht es auch dem Wunsch und den Vorstellungen der meisten Menschen, dass man später einmal in ihrem Sinne, orientiert an ihren Werten und Willensäußerungen auf die aktuelle Situation abgestimmte Entscheidungen trifft – im engen Zusammenwirken von Angehörigen oder anderen Vertrauten und Ärzten. Gleichwohl bleibt es bei einem potenziellen Spannungsverhältnis von früher einmal verbindlich niedergelegten Willensäußerungen auf der einen Seite und aktuellen Bekundungen des Menschen mit Demenz auf der anderen Seite. Nun kann in einer Patientenverfügung nicht alles festgelegt werden: Weder kann die aktive Tötung verlangt werden, noch das Hinnehmen unerträglicher Schmerzzustände. Auch die Missachtung von Grundbedürfnissen des Menschen lässt sich mit Patientenverfügungen nicht „anordnen“. Auch ist ein sogenannter „Odysseus-Vertrag“ nicht zulässig19: Die Anweisung, alle künftigen Willensäußerungen zu ignorieren, ist rechtlich unzulässig. Es liegt nicht in der Verfügungsgewalt eines Menschen seine Zukunft umfassend vorzubestimmen und sich durch Vorausverfügung zum Opfer seiner selbst zu machen. Es kann aber andererseits auch nicht davon ausgegangen werden, dass Patientenverfügungen bei Menschen mit Demenz generell unbeachtlich sind, da sie eine andere Person geworden seien. Wir gehen auch im deutschen wie im Schweizer Recht von der Kontinuität der Person aus. So bleiben Willensäußerungen, die vor Eintritt der Demenz verbindlich niedergelegt wurden, im Prinzip verbindlich. Wer einer Organentnahme oder -Spende widersprochen hat, dem kann als Mensch mit Demenz nicht ein Willenswandel unterstellt werden. Auch eindeutige Willensäußerungen, die sich auf die Ablehnung einer Chemotherapie bei einer Krebserkrankung beziehen, die mit einer demenziellen Erkrankung nichts zu tun haben, lassen sich nicht einfach als unbeachtlich erklären, nur weil inzwischen die Diagnose einer Demenz und aktuell von der Einwilligungsunfähigkeit ausgegangen werden muss. Ehemals geäußerte und aktuelle Willenserklärungen treffen sich in komplizierter Weise, wenn sich in Patientenverfügungen formulierte Festlegungen auf die Antizipation eines Zustandes und der Lebensbedingungen einer schweren Demenz beziehen: „So möchte ich nicht leben“, „keine medizinische Behandlung zur Abwendung einer Infektionserkrankung“. Aktuell zeigt sich
19 V gl. Atkinson (2007): Advance Directives in Mental Health: Theory, Praxis and Ethics. London/Philadelphia: Jessica Kingsley Publishers.
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aber durchaus der Wille zum Leben, die Freude an alltäglichen Dingen, Wohlbefinden. Hier wird man im Dialog mit der aktuellen Person bleiben müssen und das Prinzip der Weltoffenheit akzeptieren müssen: Wir wissen nicht, wer wir einmal sein werden, wir können nicht vollständig antizipieren, wie wir unter Bedingungen von Demenz fühlen und erleben, was wir als Glück oder Unglück empfinden werden. Es gebietet der grundlegende Respekt vor dem Anderen, dass wir ihn auch und gerade unter Bedingung der Demenz ernst nehmen. Dass wir ihn und sein Leben respektieren und ihn in der Realisierung seiner Daseinsthemen, seiner Wünsche und Bedürfnisse unterstützen – ohne uns dabei anzumaßen, die Kontinuität seiner Person infrage zu stellen. Verbindliche Patientenverfügungen, die sich gerade auf die Symptome und Fragen der Lebensqualität unter der Bedingung der Demenz beziehen, sie produzieren einen Konflikt, der nicht nötig ist.
Perspektive: dialogische Vorausverfügung Für die Demenz eignen sich eher dialogische Vorausverfügungen, Advance-Care-Planning Konzepte20. Mit ihrer Hilfe kann die Brücke geschlagen werden zwischen der aktuellen Person, die sich dementisch äußert, ihre Bedürfnisse und Befindlichkeiten in ihrer Sprache zur Geltung bringt und der Person, die einst ihren Willen niedergelegt hat. So kann es gelingen, dass die Lebensäußerung heute, der natürliche Wille, die dementischen Lebens- und Wesensäußerungen, in Beziehung gesetzt werden zur Biografie, zum Charakter und den Werthaltungen eines Menschen. Und eben auch zu seinen Willensäußerungen in gesunden Tagen. Voraussetzung für einen solchen Weg ist es, sich zu öffnen für die Sprache des Menschen mit Demenz.
20 V gl. Heller, Andreas et al. (2012): Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland. Ludwigsburg: Der HospizVerlag
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Die Verständigung mit Menschen mit Demenz ist manchmal schwierig, nichts allerdings, was die Patienten sagen, ist ohne Bedeutung. Solange Menschen mit Demenz sprechen, wollen sie verstanden werden.
Literatur Klie, Thomas (2014): Verstehen Sie Dementisch! Demenzbetroffene bleiben uns sonst fremd und ihre Rechte nicht gewahrt. In: Demenz – Das Magazin (20), S. 40–41. Klie, Thomas (2014): Sprache ist verräterisch. Wie sich in unserer Sprache Einstellungen und Haltungen zum Thema Alter ausdrücken. In: KWA Journal (2), S. 14–15. Schneider-Jansen, Karl Heinz: Demenz – Kein Wort ist unsinnig, Ärztezeitung vom 13.12.2011
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Sterbehilfe Die Kontroverse ist neu entbrannt: Gibt es ein Recht auf den eigenen Tod, auch im Sinne der Unterstützung, des assistierten Suizides? Was wäre mit einer gesetzlichen Regelung, wie sie in der Schweiz besteht, mit Deutschland verbunden? Öffnet sie Schranken, die die Sterbehilfe nicht nur erwartbar, sondern auch zur sozialen Norm erhebt? Und darf es für Menschen mit Demenz, wie in den Niederlanden praktiziert, auch eine aktive Unterstützung beim Sterben geben, wenn sie dies nicht ausdrücklich wünschen? Mein Leben ist nicht mehr lebenswert – ich will sterben. Exit-Optionen und das Recht
Lebenswert eine rechtliche Kategorie? Zum Glück kennt das deutsche, aber auch das europäische Recht keine Kategorie rechtlicher Art, die den Lebenswert eines Menschen bemisst, qualifiziert oder mit Rechtsfolgen belegt. Das war einmal anders: Wir erinnern uns an das Dritte Reich, in dem auch und in besonderer Weise Menschen mit Demenz der Lebenswert abgesprochen wurde. Heute gilt es, die Bedingungen für das subjektive Empfinden von Lebenswert und die würdigende Wahrnehmung zu schaffen, zu fördern und zu erhalten. Wissen wir doch, dass das subjektive Empfinden von Lebenswert und von Lebensqualität von vielfältigen Bedingungen und Kontexten abhängt: von sozialer Teilhabe, kultureller Wertschätzung, sozialer Mindeststandards und guter fachlicher Begleitung. Ebenso wenig, wie man Zufriedenheit verordnen oder Lebensqualität herstellen kann, kann dem Menschen diktiert werden, sein Leben sei auch ihm, nicht nur uns – der Gesellschaft – lebenswert. In einer liberalen Gesellschaft hat das Selbstbestimmungsrecht in der Rechtsordnung einen prominenten Platz. Es gibt keine säkulare Pflicht zum Leben, auch wenn etwa die Polizei verpflichtet ist, das Leben zu schützen, auch des zum Freitod bereiten. Ansonsten gilt aber: Ich muss mich nicht behandeln lassen, wenn ich lebensbedrohlich erkrankt bin, ich muss einer ärztlich indizierten Behandlung nicht zustimmen, ich kann mir auch das Leben nehmen: Der Suizid ist in Deutschland nicht strafbar. Das gilt auch für die Beihilfe zum Suizid, die ebenso wie in Deutschland in den meisten, allerdings nicht in allen europäischen Ländern straffrei ist. Was in Deutschland verboten ist, ist die Tötung auf Ver-
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langen, die so genannte aktive Sterbehilfe: Ich darf auch auf ernstliches Verlangen den anderen Menschen, auch als Arzt nicht, töten. Dieses Tötungsverbot wurde in den Beneluxstaaten durchbrochen: Hier ist unter bestimmten Voraussetzungen die aktive Sterbehilfe zugelassen. Was heißt das nun für sterbewillige Menschen, welche „Optionen“ innerhalb geltenden Rechts haben sie, ihrem Leben ein Ende zu setzen?
Die Exit-Optionen Option 1: Behandlungsabbruch und Behandlungsverzicht Eine ärztliche Heilbehandlung ist immer nur dann und soweit rechtlich zulässig, soweit sie vom Willen des Patienten getragen wird, soweit er (aufgeklärt) eingewilligt hat in die Heilbehandlung. Lehnt er eine Heilbehandlung ab, möchte er, dass sie abgebrochen wird, tut er dies im Wissen darum, dass dies zu möglichem oder sicheren Tod führt, gibt es grundsätzlich kein Recht der behandelnden Ärzte die Behandlung fortzusetzen, kein Gericht kann sie anordnen, wenn der betroffene Mensch einwilligungsfähig ist. Gerade im Hinblick auf Menschen mit Demenz sind drei Grundkonstellationen zu unterscheiden:
1. Einwilligungsfähigkeit liegt vor Der Betroffene ist einwilligungsfähig und in der Lage die Reichweite seiner Entscheidung abzusehen. In der frühen Phase der Demenz wird man regelmäßig von der Einwilligungsfähigkeit ausgehen dürfen und müssen.
2. Einwilligungsunfähigkeit und Patientenverfügungen Ist ein demenziell erkrankter Mensch einwilligungsunfähig, hat er aber in einer Patientenverfügung niedergelegt, dass er in einer ganz bestimmten Situation in einer ganz bestimmten Weise nicht mehr behandelt werden will und hat er die Festlegung in dem Wissen darum getroffen, dass der Verzicht auf die Behandlung zum Tode führen kann oder wird, so ist die in der Patientenverfügung getroffene Festlegung grundsätzlich bindend. Hier muss ich allerdings um in hohem Maße verbindlich zu sein auf eine klar umrissene Situation und Behandlung beziehend, daran fehlt es nicht selten bei Patientenverfügungen. Auch dürfen keine Anzeichen dafür bestehen, dass der Betroffene seinen Willen geändert hat, weiterleben möchte.
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3. Einwilligungsunfähigkeit und mutmaßlicher Wille Ist der Patient nicht mehr einwilligungs- oder wie die Schweizer sagen „urteilsfähig“, liegt keine Patientenverfügung vor oder was weitreichender wäre, advanced guideline, dann kommt es auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen an, der gemeinsam mit Angehörigen, Freunden, behandelnden Ärzten aber auch den Pflegekräften und anderen für den Betroffenen wichtigen Bezugspersonen herauszufinden ist. Nicht objektive Maßstäbe über lebenswertes oder lebensunwertes Leben spielen hier eine Rolle, sondern lediglich der mutmaßliche Wille. Kann dieser nicht ermittelt werden, ist im Zweifel für das Leben, für die lebenserhaltende Behandlung zu entscheiden.
Option 2: Der Suizid Das Recht auf den Freitod hat schon Seneca beschworen und den Freitod sogar ethisch erhöht. Die Begrifflichkeit des Selbstmordes stammt aus einer Zeit der moralischen Ächtung der Selbsttötung, als könne man gegen sich selbst heimtückisch handeln oder niedere Beweggründe hegen. Auch beim Suizid ist rechtlich zu differenzieren:
1. Der eigenverantwortliche Suizid Die Selbsttötung, von einem Menschen vollzogen, der nicht mehr leben möchte, der sich einem zu erwartenden Krankheitsverlauf nicht aussetzen möchte, der sein Leiden nicht mehr ertragen kann, dem wird eigenverantwortliches Handeln unterstellt und dem steht das Recht auf den eigenen Tod zu – auch wenn es für viele Menschen nicht nachvollziehbar sein mag, sie um sein Leben ringen, sie Leiden mindern möchten. Auch dem, der sich sein Leben selbständig nimmt, gilt der Respekt nicht nur der Rechtsordnung, sondern auch der Gesellschaft. Auch wenn es Ängste waren, auch wenn es Fehleinschätzung über einen möglichen Krankheitsverlauf war, hat das Recht auf den Suizid jeder Mensch. Er allein trägt auch das Risiko des Fehlschlages oder des Irrtums.
2. Der Suizid in einer psychischen Ausnahmesituation Menschen in einer schweren Depression oder in einer anderen wahnhaften Krankheitsphase gelten nicht als Ausdruck einer freien Entscheidung, sondern als der Krankheit geschuldet. Hier kann eine Pflicht bestehen, den Betroffenen in einer Weise ärztlich zu behandeln, dass die krankheitsbedingten Selbsttötungswünsche zurückgedrängt werden. Gegebenenfalls besteht auch eine gewisse Obhutsverpflichtung Selbsttötungshandlungen und ihre Folgen zu verhindern.
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3. Der assistierte Suizid Beihilfe zum Suizid ist nicht strafbar. So darf man sterbewilligen Menschen in Deutschland durchaus helfen, sich das Leben zu nehmen. Ärzten ist dies bislang standesrechtlich untersagt. Auch dürfen nach dem geltenden Arzneimittelrecht keine Medikamente verordnet oder von den Apotheken ausgegeben werden, um Menschen zu ermöglichen, sich das Leben zu nehmen. Anders als in Deutschland ist in der Schweiz der ärztlich assistierte Suizid auch standesrechtlich möglich durch bestimmte Regularien, die etwa die Einschaltung der Staatsanwaltschaft vorsehen und das als in Deutschland mit einer vergleichsweise hohen Rechtssicherheit für die Handelnden ausgestattet. Aus diesem Grunde fahren nicht wenige in die Schweiz, um dort ärztlich assistiert aus dem Leben zu gehen. In Deutschland wird aktuell über eine Änderung des Standesrechts nachgedacht21. Organisationen wie DIGNITAS oder der ehemalige Hamburger Justizsenator Kusch treten seit langem für die Zulassung des ärztlich assistierten Suizides ein. Im Jahre 2015 will der deutsche Bundestag über eine gesetzliche Regelung des assistierten Suizides befinden. Es stehen sich höchst unterschiedliche Vorstellungen aus dem parlamentarischen Raum einander gegenüber. Sie reichen von einer weitgehenden Legalisierung des assistierten Suizides (Vorschlag: Künast) über eine strenge Regelung des ärztlich assistierten Suizides (Taupitz) bis hin zum strengen Verbot, insbesondere der organisierten Form des assistierten Suizides (Gröhe).
Option 3: Tötung auf Verlangen In Deutschland ist die Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB verboten. Auch auf ernstliches dringendes Verlangen von Angehörigen dürfen Pflegekräfte oder Ärzte einen Menschen nicht zum Tode verhelfen, ihm die tödliche Spritze setzen, ihm Gift geben oder ihn auf andere Weise töten. Nur der Suizid bleibt dem Sterbewilligen: er muss die den Tod respektive das Sterben auslösende Handlung selbst vollziehen. Das Tötungsverbot gilt im deutschen Recht strikt. § 216 StGB stellt die Tötung auf Verlangen ausdrücklich unter Strafe. Mit etwas voneinander abweichenden Regeln ist die aktive Sterbehilfe, die Tötung auf Verlangen in den Niederlanden, in Belgien und zuletzt in Luxemburg recht-
21 v gl. Presseerklärung Klie/Student: http://christoph-student.homepage.t-online.de//Pressemitteilung_zur_geplanten_Freigabe_der_Suizidbeihilfe_durch_Aerzte_in_Deutschland.pdf, 10 Thesen
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lich zugelassen. Besonders problematisch dabei ist die Regelung in den Niederlanden, wonach auch einwilligungsunfähige Personen auf Verlangen getötet werden können.
1. Indirekte Sterbehilfe Die Rechtsfigur der indirekten Sterbehilfe nimmt eine Problematik der Schmerzbehandlung auf: Auch wenn eine angemessene palliativmedizinische Schmerzbehandlung in der Regel zur Lebensverlängerung und zur Erhöhung der Lebensqualität führt, gibt es Situationen, in denen eine gegebenenfalls notwendige hohe Dosis von Morphin zu Lebensverkürzung führen kann. In derartigen schwierigen palliativmedizinischen Situationen wird die Inkaufnahme des vorzeitigen Todes durch eine Pflegeart der palliativmedizinischen Schmerzbehandlung nicht als strafbare Tötungshandlung qualifiziert. Die Inkaufnahme des vorzeitigen Todes wird den notwendigen und gewünschten Schmerzlinderungen nachgeordnet. Die so genannte indirekte Sterbehilfe ist straffrei, sie kann sogar fachlich und rechtlich geboten sein. Es gibt kein Recht, den Menschen Schmerzen erleiden zu lassen, nur weil die Behandlung das Leben abkürzen könnte. Allerdings wird im Schutze der straffreien „indirekten Sterbehilfe“ gar nicht so selten und von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, ganz bewusst und ohne Rechtfertigung palliativmedizinischer Art „dem Leiden ein Ende gesetzt“. Da handelt es sich rechtlich betrachtet nicht mehr um eine straffreie indirekte Sterbehilfe, sondern um eine vorsätzliche Tötung gemäß § 212 StzGB, die in Deutschland strafbar ist. Man könnte von einer als indirekte Sterbehilfe lavierte aktive Euthanasie sprechen.
2. Bewusstes Verhungern und Verdursten Als Reaktion auf das Verbot der aktiven Sterbehilfe und die Rechtsunsicherheiten beim assistierten Suizid und seine standesrechtliche Ächtung (bislang) wurde in den letzten Jahren der Weg in den Tod durch bewusstes Verhungern und Verdursten „professionalisiert“. Es finden sich inzwischen Anleitungen vom sicheren Verdursten und Verhungern, leidensmindernde Begleitung durch Ärzte, verbunden mit finaler Sedierung. Wir wissen aus Palliative Care-Zusammenhängen, dass der bewusste Nahrungsverzicht, die Reduzierung der Flüssigkeitsaufnahme den Weg zum Sterben bereiten, auf diese Weise auch Sterben erleichtert und Schmerzen bisweilen ihre Kraft genommen werden kann. Diesen Weg aus dem Leben mitzugehen, ihn zu ermöglichen, ist Teil palliativer Praxis und Fachkunde. Menschen im Sterbeprozess durch künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr den Weg aus dem Leben zu erschweren, lässt daraus unter bestimmten Voraussetzungen eine strafrechtliche relevante Körperverletzung werden. Die An-
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leitungen zum Verhungern und Verdursten, sie gelten Menschen, die sterbewillig sind, aber bei denen ein Sterbeprozess nicht in Aussicht steht. Sie ergänzen einen „natürlichen“ Sterbeprozess. Rechtlich betrachtet bestehen gegen die professionelle Anleitung und Begleitung eines bewussten Verhungern und Verdurstens keine Einwände, wenn dieser Weg denn bewusst eingeschlagen und durchgehalten wird. Er ist eine Antwort auf die Rechtslage in Deutschland und wird von seinen „Anbietern“ als rechtlich wasserdicht qualifiziert, wenn dies denn eine angemessene Kategorie in diesem Zusammenhang darstellt.
Selbstbestimmung am Lebensende und Demenz Spätestens mit der Aufklärung sind die Kategorien der Vernunft und Selbstbestimmung zentrale Kategorien des Menschseins – und in ihrer Zeit mit befreiende Kraft. Unter dem Vorzeichen der Demenz verlieren diese Kategorien ihre Strahlkraft. Es gilt, sich anderen Wirklichkeiten gegenüber zu öffnen und auch der Sorge anderer anzuvertrauen. Das Schicksal von Walter Jens lehrt uns, dass auch die in besonderer Weise vernunftbegabten, bei allen Vorkehrungen nicht vor einem Leben mit Demenz gefeit sind. Bei Wegen aus dem Leben mit Blick auf eine bevorstehenden Demenz lässt das deutsche Recht die Menschen (mit Recht) allein. Alles andere, wohl die Öffnung des Weges zum assistierten Suizid als auch zur präventiven Tötung auf Verlangen, wird weit über die von einzelnen gewünschten Wege aus dem Leben mithilfe anderer kulturell und gesundheits-ökonomisch weitgehende Konsequenzen haben. Unter dem Vorzeichen schwerer Demenz gilt es den Betreffenden und/von der kalkulierenden Willenskraft, in die Wege zu gehen, wenn unser Recht uns lässt, dem Leben bewusst ein Ende zu setzen. So bleibt nur das Ringen um menschenwürdige Rahmenbedingungen und Entscheidungen, den jeweiligen Menschen in seinen Willens- aber auch Lebensäußerungen gerecht zu werden. Damit schützt uns das Recht davor, die immer bestehenden Ambivalenzen gegenüber der Vulnerabilität des Alters zu Lasten des Lebensrechts der Betroffenen aufzulösen.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Für gesunde Menschen ist ein Leben mit Demenz nicht vorstellbar. Sie können es mit ihrem Bild von Würde kaum vereinbaren. Insofern kommen vermehrt Wünsche nach der Legalisierung des assistierten Suizides oder bei der Sterbehilfe in die öffentliche Diskussion. Dabei gilt es gerade, Menschen mit Demenz die Zuversicht zu schenken, dass sie auch unter Beginn der Demenz ein demütigungfreies und würdevolles Leben leben können.
Literatur Klie, Thomas; Student, Johann-Christoph (2007): Sterben in Würde. Auswege aus dem Dilemma Sterbehilfe. Freiburg im Breisgau: Herder. Schönhof, Bärbel: Alzheimer und Recht auf Suizid, www.wegweiser-demenz.de/Beitrag/Freitod.html
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Straßenverkehr Wir sind auf dem Weg zum Smart Car, zu dem Wagen, der ohne aktives Eingreifen des Fahrers sicher ans Ziel kommt. Wird da noch für Menschen, die sich im Straßenverkehr nicht mehr so ohne Weiteres zurechtfinden, das Recht auf Mobilität gewahrt? Im Alltag stellen sich ganz andere Fragen, und dies häufig drastisch: Muss ich dem Vater den Autoschlüssel wegnehmen, damit er sich nicht mehr in den Straßenverkehr begibt und andere und sich gefährdet? Brauchen wir (auch) in Deutschland eine generelle Überprüfung der Fahrtauglichkeit? Sind Ärzte verpflichtet, Zweifel an der Fahrtauglichkeit der Polizeibehörde zu melden? Mit der zunehmenden Zahl von Menschen mit Demenz nimmt auch die Relevanz der Rechtsfragen zu, die sich auf die Beteiligung von Menschen mit Demenz am Straßenverkehr beziehen.
Führerschein und Demenz? – Nicht ohne mein Auto Ältere Fahrer sind besser als ihr Ruf: Verkehrsteilnehmer ab 65 Jahren verursachen weniger Unfälle als Jüngere. Doch auch erfahrene PKW-Fahrer geraten in gefährliche Situationen. Mit dem demografischen Wandel steigt die Zahl der älteren Fahrer. Als Werner Klostermann das Gemeindehaus zusperrt, nieselt es. Schwarzgraue Wolken verdunkeln den Winterhimmel über dem badischen Buggingen. Der 74-Jährige spannt einen kleinen schwarzen Schirm auf und huscht zu seinem Kleinwagen. Eigentlich hatte Klostermann seinem Arzt versprochen, sich nachts nicht hinter das Lenkrad zu setzen. Doch da heute niemand den Rentner nach Hause bringen kann, fährt er selbst. Auf die Straße prasseln schwere Tropfen. Bei schlechter Sicht schleicht der Rentner über die Landstraße. Im letzten Augenblick sieht Klostermann den Radfahrer vor seinem Auto. Gerade noch kann er ausweichen. Beide kommen mit dem Schrecken davon. Weniger als elf Prozent aller Unfälle werden durch Senioren verursacht. Eine Studie der Allianz AG für das Jahr 2006 ergab, dass ältere Autofahrer etwa 12.500 Unfälle verursachten, die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen dagegen mehr als 78.000. Doch selbst wenn viele Senioren vorausschauender und bedachter fahren als Jüngere, ihre biologischen Nachteile können sie damit nicht ausgleichen. Das zunehmende Alter schränkt die Beweglichkeit ein: Es fällt schwerer, den Kopf beim Spurwechsel oder Rückwärtsfahren
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zu drehen. Und auch das Reaktionsvermögen und die Sehkraft schwinden mit den Jahren. Gerade in der Dämmerung oder bei Nacht kann es deshalb gefährlich werden. Von bundesweit 53 Millionen Führerscheininhabern sind nach Angaben des ADAC etwa 8,8 Millionen über 65 Jahre alt. Die Situation auf den Straßen wird sich weiter verändern, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre ins Rentenalter kommen. Während die 60- bis 65-Jährigen zu den sichersten Fahrern gehören, zeigt die Statistik, dass die Unfallquote bei den über 80-Jährigen deutlich ansteigt, wenn man danach fragt, wie hoch die Unfallrate der Autofahrer nach Alter pro gefahrenem km ist. Hier schneiden die Hochbetagten ähnlich schlecht ab wie die Youngster zwischen 17 und 21 Jahren. Die Autoindustrie entwickelt diskret das seniorengerechte Auto, mit Nachtsichtgeräten, Notrufsystemen, Einpark- und Spurwechselassistenten, GPS, Bremsautomatik. Dann kann Herr Klostermann ohne Furcht ins Auto steigen? Das deutsche Recht setzt auf seine Selbstverantwortlichkeit. Eine Regelprüfung der Verkehrstauglichkeit, wie es die Schweiz ab einem Alter von 70 Jahren vorsieht, kennt man in Deutschland nicht. Auch auf europäischer Ebene hat man erst jüngst eine regelhafte Gesundheitsprüfung für alle Mitgliedsstaaten verworfen. Einer entsprechenden Prüfung kann sich jeder ältere Mensch selbst unterziehen. Die Polizei kann ihn auch dazu verpflichten, wenn er sich im Verkehr „auffällig“ verhält und Verdachtsmomente für die fehlende Fahrtauglichkeit vorliegen.
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Land
Rechtslage
Deutschland
§ 2 FeV: Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Mängel nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Bei EU-Führerschein für LKW-Klassen C, CE, C1 und C1E: ab 50. Lebensjahr alle 5 Jahre neues medizinisches Gutachten nötig; Bei den übrigen Führerscheinklassen wird kein Gutachten verlangt. In Einzelfällen kann die Polizei der Straßenverkehrsbehörde ein extrem auffälliges Fahrverhalten melden, dann muss der Fahrerlaubnisinhaber zur amtsärztlichen Untersuchung. § 2 Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz: Zuständige Verwaltungsbehörde muss Fahrerlaubnis entziehen, wenn der Fahrerlaubnisinhaber ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeugs ist. Bei bedingter Eignung kann die Fahrerlaubnis beschränkt oder Auflagen verordnet werden.
Schweiz
SVG Art. 14: Lernfahr- und Führerausweise dürfen nicht erteilt werden, wenn der Bewerber (…) nicht über eine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit verfügt, die zum sicheren Führen von Motorfahrzeugen ausreicht. SVG Art. 16: Ausweise und Bewilligungen sind zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht mehr bestehen. VZV Art. 7 Abs. 3b: Einer vertrauensärztlichen Kontrolluntersuchung unterliegen (…) die Ausweisinhaber von mehr als 70 Jahren alle 2 Jahre (…) und Motorfahrzeugführer nach schweren Unfällen oder nach schweren Krankheiten. AVG Art. 14 Abs. 4: Außerdem ist im Straßenverkehrsgesetz ein Melderecht des Arztes enthalten, eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht ist nicht notwendig.
Österreich
Generell wird die Fahrerlaubnis auf Lebenszeit ausgestellt, kann jedoch eingeschränkt oder entzogen werden. § 3 FSG-GV: Zum Lenken vom Kfz ist geeignet, wer die nötige körperliche und psychische Gesundheit besitzt, frei von Behinderung ist und über die nötige kraftfahrspezifische psychophysische Leistungsfähigkeit verfügt. § 17 Abs. 1 FSG-GV: Eine verkehrspsychologische Stellungnahme ist zu verlangen, wenn Verkehrsunfälle oder Verkehrsverstöße begangen wurden, die den Verdacht auf verminderte kraftfahrspezifische Leistungsfähigkeit erwecken. § 17 Abs. 2 FSG-GV: Eine verkehrspsychologische Stellungnahme ist jedenfalls zu verlangen, wenn aufgrund ärztlicher Untersuchungen (…) ein Leistungsabbau im Vergleich zur Altersnorm zu vermuten ist.
Was, wenn Herr Klostermann an einer Demenz zu leiden beginnt? Er verfährt sich. Er vergisst den Weg oder sein Ziel. In der ersten Zeit der Erkrankung kann er seine „Einbußen“ gegebenenfalls durch Erfahrung und Anpassungen ausgleichen: Er fährt weniger, nur noch bekannte Routen, nicht nachts und nach Möglichkeit in Begleitung. Auch können die genannten technischen Maßnahmen und Hilfsmittel am PKW helfen. Voraussetzung ist allerdings eine gute Fahrpraxis, eine sicherheitsbewusste Grundeinstellung und ausreichende Aufmerksamkeit. Ist all dies nicht mehr gegeben,
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dann fehlt es an der Fahreignung, § 2 Absatz 4 StVG. Die Fahrerlaubnisverordnung schreibt vor, dass die Führerscheininhaber selbstständig und eigenverantwortlich zu prüfen haben, ob die Fahreignung noch vorliegt, § 2 Absatz 1 Fahrerlaubnisverordnung (FeV). Das mag schmerzlich sein für Herrn Klostermann, sich von seinem Auto zu trennen. (Auto-) Mobilität gehört gerade für ältere Menschen zu einem selbstbestimmten und teilhabeorientierten Leben und zu einer wichtigen Ressource: Wie kommt Herr Klostermann sonst zum Gemeindehaus, zum Einkaufen, zu seinen Kindern? Und er „liebt“ sein Auto. Er wird den Führerscheinverlust als Kränkung erleben – und bei zunehmender Demenzsymptomatik auch nicht einsehen. Familien mit demenzerkrankten Angehörigen können ein Lied davon singen: Wenn Vater unbedingt allein in seinen Mercedes steigen will, um zur Kirche zu fahren und ärgerlich jede Einmischung zurückweist. Eine Meldepflicht der Angehörigen bei der Polizei gibt es nicht. Auch Ärzte sind dazu nicht verpflichtet – aber gegebenenfalls berechtigt, wenn sie die konkrete Gefahr sehen, dass sich „ein Herr Klostermann“ selbst oder andere erheblich schädigt. In der Schweiz besitzt der Arzt ein ihm gesetzlich eingeräumtes Melderecht (s. Übersichtstabelle). In Deutschland darf er seine Schweigepflicht nur unter Notstandsgesichtspunkten brechen, das heißt nur bei konkreter und erheblicher Gefahr. Er wird auf seinen Patienten und seine Angehörigen einwirken. Das ist nicht einfach: die kritische Selbstreflexion fehlt häufig, die krankheitsbedingten Leistungseinbußen werden ignoriert. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient kann erheblich gestört werden. Präventive Beratungs- und Trainingsangebote können hier helfen und gegebenenfalls wirksam in den ärztlichen Beratungsprozess eingebunden werden (etwa Fahrtraining beim ADAC, Beratung hinsichtlich technischer Nachrüstung). Angehörige werden ihre Kreativität einsetzen, um möglichst wenig kränkend Herrn Klostermann von seinen Autotouren abzuhalten und gleichzeitig ihrer Verantwortung nachzukommen. Um die Konfrontation mit der fraglichen Fahreignung kommt man nicht umhin und falsch verstandene Toleranz ist nicht am Platze. Die Risiken sind zu hoch. Zwar haften Kinder nicht für ihre Eltern, prinzipiell auch nicht im Falle der Demenz, aber in Verantwortung stehen Ärzte und Angehörige trotzdem, wenn auch in der Regel nicht im juristischen Sinne. In einer Gesellschaft, in der immer mehr ältere Menschen leben, auch Hochbetagte, ist gegenseitige Rücksichtsnahme und eine „Awareness“ für hochbetagte Verkehrsteilnehmer – sei es als Fußgänger, Radfahrer oder Autofahrer eine Pflicht für alle Verkehrsteil-
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nehmer. Und irgendwann wird es das vollautomatische, programmierbare Auto geben, mit dem „Geisterfahrten“ ausgeschlossen und ein sicheres Ankommen gesichert ist: Die Technik ist auf dem Weg.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Gerade für Männer ist das Autofahren eine für ihr Selbstwertgefühl und ihre Autonomie hoch bedeutsame Angelegenheit. Im Familienkreis aber auch für Ärzte ist das Thema „Darf Vater noch fahren“ ein kontroverses und schwieriges Thema. Besteht die Pflicht, den Führerschein dann abzugeben, wenn man nicht mehr fahrtauglich ist.
Rechtsquellen § 2 StVG §§ 3, 46 Fahrerlaubnisverordnung
Weiterführende Hinweise Adressen: ADAC: www.adac.de, Info-Service
Literatur Schönhof, Bärbel; Autofahren aus versicherungsrechtlicher Sicht, in: www.wegweiserdemenz.de/Beitrag/Autofahren I.html ALeWo – das praxisnahe Assessment-instrument für Pflegekräfte, Schlütersche Verlag, 2013
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Teilhabe vor Pflege Menschen mit Demenz sind zuvörderst – im rechtlichen Sinne – Menschen mit Behinderung, denen zahlreiche Rechte zustehen. Pflegebedürftigkeit ist nur ein Aspekt von Behinderung, eine Bedarfskonstellation. Haben Menschen mit Demenz auch Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe (andere Leistungen), die Menschen mit Behinderung zustehen? Die Frage wird gerade auch mit Blick auf die Reform des Teilhaberechtes von großer Bedeutung werden. Das Recht, ein Testament zu erstellen, ist ein höchstpersönliches. Es kann einem nicht abgenommen werden. Testamente können auch nicht stellvertretend errichtet werden. Wie sieht es nun aus, wenn Menschen mit kognitiven Einschränkungen ein Testament errichten, abändern? Nicht selten werden Zweifel von Angehörigen, die sich Erbaussichten machen, formuliert, ggf. sogar die Testier-Fähigkeit infrage gestellt, wenn denn der Erbfall eingetreten ist. Erbengemeinschaften sind neben Wohnungseigentümergemeinschaften die kompliziertesten Gemeinschaften im deutschen Recht. In ihnen zeigen sich Höhen und Tiefen deutscher Familienkultur. Gerade im Erbfall kann es zu Konflikten kommen, die sich um die Fragen des Testaments und der Testierfähigkeit drehen.
Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Demenz Jeder Mensch mit Demenz hat Anspruch auf eine qualifizierte Diagnostik, Behandlung und Fachpflege. Gleichzeitig gilt: Das medizinische Paradigma ist nicht das angemessene und weiterführende für die Begleitung von Menschen mit Demenz. Ohne gleich zu sagen „Vergiss Alzheimer“22 bleibt es richtig, die Gefahren einer Pathologisierung der Demenz zu beschreiben. Altern ist keine Krankheit23. Menschen mit Demenz dürfen auch nicht zu „Pflegefällen“ gemacht werden. Der 6. Altenbericht der Bundesregierung hat dieses Unwort zu Recht auf den Index gesetzt. Das Pflegefalldenken reduziert den Menschen auf den Fall der Pflege, auf seine Defizite. Pflege dient
22 V gl. Stolze (2011): Vergiss Alzheimer. Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist. Stuttgart: Kiepenheuer & Witsch. 23 Vgl. Dammann/Gronemeyer (2009): Ist Altern eine Krankheit? Wie wir die gesellschaftlichen Herausforderungen der Demenz bewältigen. Frankfurt: Campus Verlag.
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der Bewältigung der An- und Herausforderungen des hohen Alters durch körper- und personenbezogene Hilfen. Sie darf jedoch nicht bestimmen und dominieren. Es ist gefährlich, dass inzwischen fast alle Hilfebedürfnisse von Menschen mit Demenz als pflegerische gesehen und Leistungen der Pflegeversicherung zum Angelpunkt gemacht werden. Die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes wird vor allem den Demenzkranken gewidmet, die Leistungen für sie sollen ausgeweitet werden. Leistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz sind an sich begrenzte Teilhabeleistungen [§ 45b SGB XI]. Das ist alles wünschenswert, aber gleichzeitig paradigmatisch verfehlt. Wie die Behindertenrechtskonvention betont, sind Menschen mit Demenz Behinderte, die einen Anspruch auf Pflege und soziale Teilhabe haben. Der rechtliche Vorrang der sozialen Rehabilitation vor der Pflege verpflichtet die Sozialleistungsträger zur Beachtung der Teilhabebedürfnisse Demenzbetroffener. Das ist die zentrale Herausforderung für die Lebensgestaltung von Menschen mit Demenz und die ihrer Angehörigen. Alles, was für Menschen mit Demenz elementar bedeutsam ist – Aktivitäten, soziale Kontakte, Spiritualität, Naturerleben, Musik – muss in den Mittelpunkt gestellt werden. Das sollte auch Vorrang vor den Indikatoren haben, die in den Prüfungen der Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) zur Qualität der Pflegeheime eingesetzt werden. Denn diese sind überwiegend medizinisch-pflegerischer Natur. Allein die Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes reicht nicht aus. Auf der Ebene des Leistungserbringungsrechts muss man weiter über das persönliche Budget für Menschen mit Demenz nachdenken und es als Leistungsform anerkennen. Denn das persönliche Budget ist, so hat sich in der Erprobung gezeigt24, oftmals wesentlich besser geeignet, persönliche Präferenzen der Alltagsgestaltung und der Hilfearrangements zu berücksichtigen. Man wird bei einer Strukturreform der Pflegeversicherung darüber nachdenken müssen, ob Teilhabe und Pflege nicht zusammen gedacht und geregelt werden sollten. Die Reform der Eingliederungshilfe steht ebenso auf der sozialpolitischen Tagesordnung wie die Pflegeversicherung. Eine sich sorgende Gemeinde hat sowohl jüngere als auch hochbetagte Menschen mit Behinderung – also etwa Demenzbetroffene – im Blick. Insgesamt geht es dabei um nicht weniger als um Grundfragen des gesellschaftlichen Umgangs mit der sozialpolitischen Gestaltung von Teilhabe- und Sorgeaufgaben.
24 www.pflegebudget.de
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> Teilhabe vor Pflege
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Menschen mit Demenz dürfen nicht zum „Pflegefall“ erklärt werden. Das für sie bedeutsamste ist es, für andere bedeutsam zu bleiben. Genau diesen Aspekt berücksichtigt die Teilhabe. Menschen mit Demenz sind auch Menschen mit Behinderung und haben insofern auch Anspruch auf Teilhabeleistungen, die sich nicht allein auf so genannte zusätzliche Betreuungsleistungen beschränken. www.deutsche-alzheimer.de/unser-service/archiv-alzheimer-info/eingliederungshilfeauch-fuer-menschen-mit-demenz.html
Rechtsquellen §§ 53 ff SGB XII
Literatur Klie, Thomas (2008): Teilhabe und Demenz. In: Betreuungsmanagement, 4. Jg., 01/2008, S. 9–12. Fachanweisung zu § 54 Abs. 1 SGB XII in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 3 und 6 SGB IXBewilligung der Leistungen der „Ambulant betreute Wohngemeinschaft“ für Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen vom 01.02.2014 (Gz. SI 414/112.432-3). www.lebenshilfe.de/de/themen-recht/artikel/Pflegereform-2013.php?listLink=1 www.praxis-soziale-betreuung.de
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Testierfähigkeit Einleitung Kann ich nach der Diagnose einer Demenz ein Testament errichten? Sind Testamente gültig, die von Demenzkranken in der Vergangenheit errichtet wurden? Kann man sie anfechten, kann man sie abändern? Diese und andere Fragen stellen sich Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Dabei sind Testamentsfragen beziehungsweise Fragen im Zusammenhang mit Erbschaft häufig sehr konfliktreich. Hier können Familienstreitigkeiten aufflackern, die zu tiefen Verletzungen und Gräben in den Familien führen. Viele Fragen werden an Anwälte herangetragen: Was ist, wenn mein demenzkranker Vater Geld an seine Betreuungsperson, etwa eine osteuropäische Pflegekraft, verschenkt? Wie schaut es aus mit der Übertragung von Grundeigentum an die pflegende Tochter „zu Lasten“ der anderen Kinder und Erbberechtigten? Kann ich ein Testament anfechten, das zu einem Zeitpunkt erstellt wurde, zu dem bereits eine beginnende Demenz bestand – was wir heute wissen, damals aber nicht? Grundsätzlich können alle volljährigen Menschen ein Testament aufsetzen. Dieses Recht wird juristisch als Testierfähigkeit bezeichnet. Sie geht nur verloren, wenn eine Person wegen geistiger Störungen nicht mehr in der Lage ist, die Bedeutung der abgegebenen Willenserklärung – also in diesem Fall des Testaments – zu begreifen und entsprechend zu handeln. So steht es in § 2029 Absatz 4 des BGB. Derjenige, der das Testament verfügt und entsprechend etwas zu vererben, zu hinterlassen hat, ist der Erblasser. Nach der Rechtsprechung des bayerischen Oberlandesgerichtes ist ein Erblasser solange als testierfähig anzusehen, bis die Testierunfähigkeit mit Gewissheit nachgewiesen ist. Es gilt der Grundsatz, dass die Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bildet25. Bei einer sogenannten vaskulären Demenz ist in der Regel von einer erheblich schwankenden Symptomatik auszugehen. Es kann bei dieser Art der Demenzerkrankung nicht
25 OLG, Beschluss vom 07.09.2004 Az1zbr073/04.
> Testierfähigkeit Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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ausgeschlossen werden, dass sich Zustände der Einsichtsfähigkeit und der Nicht-Einsichtsfähigkeit abgewechselt haben. In einem solchen Fall ist grundsätzlich von einer Testierfähigkeit auszugehen. Das gilt auch bei einer beginnenden senilen Demenz vom Alzheimer-Typ. Testierfähigkeit ist der Regelfall, Testierunfähigkeit die Ausnahme. Wer ein Testament angreifen will, muss ein Gericht davon überzeugen, dass der Ersteller des Testaments zu diesem Zeitpunkt hierzu aufgrund einer demenziellen Veränderung bereits nicht mehr in der Lage war. Das gelingt aber nur sehr selten, der Beweis ist schwer zu führen. Das gilt auch dann, wenn die Angehörigen des Verstorbenen ein Testament finden und über den Inhalt entsetzt sind. Vielleicht, weil sie vom Verstorbenen enterbt wurden oder er Anordnungen getroffen hat, die die Hinterbliebenen für völlig abstrus halten. Leicht werden Behauptungen aufgestellt, der Erblasser sei bereits geschäftsunfähig gewesen, als er sein Testament erstellte. Sind jedoch erst einmal Wochen, Monate oder sogar Jahre nach der Testaments-Verfügung vergangen, lässt sich eine Geschäftsunfähigkeit nur noch schwer nachweisen. Wäre das der Fall, wäre das Testament unwirksam und es träfe die gesetzliche Erbfolge ein, manchmal für Angehörige eine attraktivere Alternative. „Ex post“, das heißt für die vergangene Zeit, gelingt ein solcher Beweis schwer. In einem entsprechenden Verfahren müsste der Sachverständige seine Einschätzung „aus zweiter Hand“ bilden. Das wird nicht selten dadurch erschwert, dass sich nahe Angehörige oder andere dem Verstorbenen nahestehende Personen oft mit gegensätzlichen Interessen gegenüber stehen. Selten kann mit Sicherheit gesagt werden, dass eine Testierfähigkeit nicht mehr vorlag, als der Erblasser sein Testament errichtete. Auch Sachverständigen – etwa Gerontopsychiatern – gelingt es kaum, die Angaben von Angehörigen, die Verhaltensmuster des Verstorbenen oder die Krankenakten in diesem Sinn auszuwerten. Das ist die absolute Ausnahme. Im Übrigen ist nicht jede „unsinnige“ Festlegung in einem Testament Indiz für die Testierunfähigkeit und damit für die Unwirksamkeit des Testaments. Testierfähigkeit ist nicht zu verwechseln mit der Geschäftsfähigkeit. In der Rechtsprechung ist die Freiheit des Willensentschlusses maßgeblich. Dabei geht es nicht um die Vernünftigkeit des Testaments oder um die Intelligenz des Testierwilligen26. Ein verbreiteter Irrtum ist im Übrigen, ein vom Notar beglaubigtes Testament biete größere
26 Siehe hierzu: OLG München Beschluss vom 14.08.2007 Az41wx16/07
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Sicherheit dafür, dass das Testament Bestand hat und der Erblasser als testierfähig angesehen wird. Ein Notar kann nicht beurteilen, ob der Erblasser psychisch krank war, demenziell erkrankt ist oder nicht. Das wissen inzwischen auch die Gerichte. Gilt auf der einen Seite die Testierfähigkeit als Regelfall, so kann andererseits keinesfalls bis in die späten Phasen der Demenz immer von ihr ausgegangen werden. Vor allem die Tatsache, dass ein demenziell Erkrankter eigene Wünsche und Meinungen artikuliert, belegt nicht, dass er noch testierfähig ist. Allein die Fähigkeit des Testierenden, für ihn wichtige Bezugspersonen zu erkennen, einfache Sachverhalte zu erfassen und Wünsche zu äußern, reicht für die Feststellung der Testierfähigkeit nicht aus. Testierunfähigkeit kann laut Oberlandesgericht München (OLG) auch dann vorliegen, wenn noch einzelne rudimentäre intellektuelle Fähigkeiten erhalten sind27. Der Testierende muss in der Lage sein, die Gründe für und wider seine Verfügung abzuwägen, und sich aus eigener Überlegung frei von Einflüssen Dritter ein klares Urteil zu bilden. Das setzt unter anderem voraus, dass es ihm möglich ist, sich an Sachverhalte und Ereignisse zu erinnern, Informationen aufzunehmen, Zusammenhänge zu erfassen und Abwägungen vorzunehmen. Auch die Annahme, ein Testierunfähiger hätte mit den noch vorhandenen maßgeblichen Fähigkeiten gleich entschieden, ersetzt die aktuelle Testierfähigkeit nicht. Daraus kann man ableiten, dass bei einer mittelschweren und schweren Demenz die Testierfähigkeit in aller Regel nicht mehr gegeben ist. Auch ein Notar kann da nicht helfen. Was Schenkungen anbelangt, die ein Testament aushöhlen können, kommt es hingegen auf die Geschäftsfähigkeit des Schenkenden an. Schenkungsverssprechen sind formbedürftig, das heißt: sie bedürfen der notariellen Beurkundung (§ 518 BGB). Werden Schenkungen jedoch noch zu Lebzeiten getätigt, sind sie auch formlos wirksam. Hier hilft nur eine enge Begleitung durch Freunde oder Verwandte oder gegebenenfalls die Bestellung eines gesetzlichen Betreuers, der die Rechtsgeschäfte des Menschen mit Demenz begleitet. Aber auch dann bleibt der Betreute grundsätzlich handlungsfähig, kann Rechtsgeschäfte abschließen, kann Schenkungen vornehmen. Seine Geschäftsunfähigkeit muss auch in solchen Fällen bewiesen werden. Es sei denn, es wurde ein sogenannter Einwilligungsvorbehalt gemäß § 1903 BGB angeordnet. In diesem Fall
27 Beschluss vom 14.08.2007 wx16/07
> Testierfähigkeit
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werden Rechtsgeschäfte erst wirksam, wenn sie vom Betreuer genehmigt wurden. Das kann auch für Schenkungen angeordnet werden. Insgesamt ist es eine Gradwanderung zwischen der Verteidigung und Würdigung der Handlungsfreiheit eines Menschen mit Demenz einerseits und einer fürsorglichen Begleitung und seinem Schutz andererseits. Zur Testierfähigkeit lässt sich zusammenfassend so viel festhalten: Bei einem Testament, das bei einer beginnenden Demenz errichtet wurde, gilt die Regel der Testierfähigkeit. Bei einer schweren Demenz wird man in der Regel von einer Testierunfähigkeit ausgehen müssen. Nachträgliche Änderungen eines Testaments in Phasen schwerer Demenz sind in aller Regel nicht möglich, auch nicht durch einen Notar. Die Anfechtung von testamentarischen Festlegungen in früheren Zeiten dürfte nur ganz ausnahmsweise von Erfolg gekrönt sein. Es lohnt sich eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit testamentarischen Fragen. Und es gilt: Es ist eine Minderheit von Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, die Testamente errichten. Zumeist gilt die gesetzliche Erbfolge und die berücksichtigt durchaus und zumeist interessensgerecht die Interessen der Angehörigen. Bei schwierigen Fallfragen im Zusammenhang mit der Gültigkeit und der Errichtung von Testamenten lohnt es sich, den Fachmann zu fragen und Beratung etwa der Alzheimer Gesellschaft oder auch der Anwälte in Anspruch zu nehmen.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Die Testierfreiheit ist ein Grundrecht (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG). Danach kann der Erblasser eine Erbeinsetzung nach seinem freien Willen vornehmen und hierfür sind weder vernünftige noch von Dritten nachvollziehbare Gründe erforderlich
Rechtsquellen § 2229 BGB
Literatur Schmoeckel: Demenz und Recht: Bestimmung der Geschäfts- und Testierfähigkeit; Nomos-Verlag 2010 Zimmermann: Erbrecht und Betreuung; Gieseking-Verlag 2012, ISBN 978-3-7694-1104-1 Bartsch, Die postmortale Schweigepflicht des Arztes beim Streit um die Testierfähigkeit des Patienten, NJW 2001, 861 Wetterling/ Neubauer: Psychiatrische Gesichtspunkte zur Testierfähigkeit Dementer; ZEV 1995, 46
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Unterhaltspflicht Wie weit geht die Unterhaltspflicht von Angehörigen, wenn der an Demenz erkrankte Vater oder die Mutter im Heim versorgt werden muss und das eigene Geld, die Rente oder Pension, nicht ausreicht? Deutschland ist eines der wenigen Länder, die die Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber ihren Eltern verbindlich und verpflichtend geregelt hat. Nicht nur das eigene Einkommen und Vermögen des auf Pflege angewiesenen Menschen muss im Falle einer Heimunterbringung eingesetzt werden, auch die Angehörigen werden zur Kasse gebeten. Fördert dies die Solidarität zwischen den Generationen oder führt dies zu neuen Friktionen? Pflege kann richtig teuer werden. Im Schnitt müssen jeden Monat 1.583 Euro für einen stationären Heimplatz aus der eigenen Tasche gezahlt werden – trotz Pflegeversicherung. Dafür aufkommen muss zunächst der Pflegebedürftige selbst und sein Ehepartner. Die Betroffenen selbst und sein Ehepartner bleiben von dem Ersparten nur ein Schonvermögen von derzeit 3.214,00 Euro für Ehepaare oder 2.600,00 Euro für Alleinstehende. Die müssen verbraucht werden, bevor der Sozialhilfeträger weitere Kosten übernimmt. Ein Vermögensfreibetrag von 3.000 bis 4.000 Euro für eine angemessene Bestattungsvorsorge muss zusätzlich berücksichtigt werden. Ein eventuell von Pflegebedürftigen und seine Familie bewohntes Einfamilienhaus oder eine Eigentumswohnung gehören ebenfalls zum Schonvermögen, soweit es sich nicht um ein Luxusanwesen handelt. Auch die Kinder müssen ggf. mit ihrem eigenen Einkommen sich an den Pflegekosten beteiligen. Unterhaltverpflichtet sind nur Verwandte in gerader Linie (Kinder und Eltern sowie Ehepartner). Enkel sind zwar auch gerader Linie verwandt, werden aber von den Sozialhilfeträgern zu einer Finanzierung nicht herangezogen, § 94 Abs. 1, Satz 3 SGB XII. Sie können aber familienrechtlich von den Angehörigen, von den Großeltern etwa in Anspruch genommen werden. Als nicht leistungsfähig gelten Angehörige, deren Nettoerwerbseinkommen unter dem Selbstbehalt von derzeit 1.400 Euro (bei Eheleuten + 1.050,00 Euro) monatlich gibt. Übersteigt das Einkommen den Selbstbehalt, muss die hälfte des übersteigenden Betrages für die Erstattung der Sozialhilfe eingesetzt werden. Von dem Einkommen sind allerdings noch ein Reihe von Aufwendungen abzusetzen, Altersvorsorge, Rücklagen, etc. Auch die Schwiegerkinder von Pflegebe-
> Unterhaltspflicht Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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dürftigen Eltern können indirekt zur Unterhaltsverpflichtung herangezogen werden, wenn etwa die unterhaltsverpflichtete Tochter kein eigenes oder nur ein sehr geringes Einkommen hat. In diesem Fall wird ein fiktives Einkommen der Tochter in der Weise berechnet, dass die Tochter ihrem Ehemann gegenüber einen Anspruch von mindestens 5 % des Nettoeinkommens des Ehemannes hat. Dieser Anspruch wird dann als monatliches Einkommen bewertet und muss ggf. für Unterhaltsleistungen gegenüber den Eltern eingesetzt werden. Das Vermögen der unterhaltsverpflichteten Kinder bleibt in aller Regel frei.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen In Deutschland sind Kinder zur Leistung von Elternunterhalt verpflichtet. Bei der Unterbringung der Eltern oder eines Elternteils in einem Pflegeheim sind die monatlichen Entgelte inzwischen so hoch geworden, daß das eigene Einkommen oder Vermögen der Eltern für den Ausgleich der Kosten nicht mehr ausreicht. Wenn die zusätzlichen Kosten von der Pflegeversicherung nicht gedeckt werden, springt zwar das Sozialamt zunächst zur Deckung ein. Dieser Mehrbedarf wird aber bei den Kindern wieder eingefordert.
Rechtsquellen §§ 1601, 1602 BGB
Literatur Apothekenumschau Klie, Thomas (2013): Wann Kinder zum Elternunterhalt herangezogen werden. In: Altenheim 52 (5), S. 26–27 Schönhof, Bärbel: Unterhaltspflicht der Kinder für pflegebedürftige Eltern. Alzheimerinfo 01/2010 sowie Verbraucherzentrale NRW: Wenn Kinder für ihre Eltern aufkommen müssen: Ratgeber Elternunterhalt, Düsseldorf 2014
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> Unterhaltspflicht
Urlaub und Reisen Tapetenwechsel tut gut, Urlaub gehört für viele Deutsche fest in den Jahresrhythmus. Urlaub für pflegende Angehörige ist wichtig, um zu Kräften zu kommen. Urlaub von Menschen mit Demenz kann diesen gut tun, wie viele Beispiele zeigen. Wie flankiert das deutsche Recht den Wunsch auf Urlaub und Reisen?
Mit Recht: Urlaub für Demenzbetroffene Es ist immer wieder beeindruckend, was ein Ortswechsel bewirken kann, was eine veränderte soziale Situation, was eine andere Umgebung und ein anderes Klima bewirken können. Ob nun eine Reise nach Juist auf die ostfriesischen Inseln oder in die Toskana, das St. Carolus Haus in Freiburg etwa hat auf seinen Reisen mit schwerpflegebedürftigen, demenzkranken Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern und einen Teil ihrer Angehörigen immer wieder erfahren, welche Kompetenzen, welche Wahrnehmungen, auch welche Lebensfreude in Menschen mit Demenz geweckt werden können. Auch Angehörige und vor allem Pflegekräfte erleben „ihre Pflegebedürftigen“ ganz anders und werden eingeladen, ihre Routinen und die Wirkung von Institutionen neu zu reflektieren. Ähnliche Erfahrungen machen Angehörige in der häuslichen Versorgung: Auch hier kann ein Tapetenwechsel, auch hier kann eine Reise Wunder wirken. Sie kann auch sehr anstrengend sein, sie kann Familien überfordern, auch die Menschen mit Demenz: Auch will sie gut überlegt und geplant sein. Und wie ist das rechtlich mit dem Reisen von Menschen mit Demenz? Wie bei Reisen mit anderen Behinderten auch, die sich in der Behindertenlandschaft etabliert haben, lassen sich etwa die haftungsrechtliche, die versicherungsrechtlichen Fragen gut klären. Sie stellen sich anders bei privaten Reisen von Familien als bei Reisen durch professionelle Anbieter, von Heimen oder Reiseunternehmen, die sich auf Reisen mit Menschen mit Behinderung spezialisiert haben. In dem Fall sollten Fragen des Rücktransportes bei plötzlicher schwerer Erkrankung ebenso geklärt werden wie Haftpflichtversicherungsfragen, insbesondere wenn es sich um eine Reise ins Ausland handelt.
> Urlaub und Reisen Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Schwerer wiegen sozialrechtliche Fragestellungen. Kann ein Heim einfach mit seiner Bewohnerschaft auf Reisen gehen? Ist das noch vollstationäre Pflege nach den Qualitätsanforderungen, die über den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) geprüft werden? Zum Glück werden diese Fragen in der Praxis zumeist nicht vertieft. Eine verantwortliche Konzeption, eine Reise mit Menschen mit Demenz, stellt die fachliche Begleitung ebenso sicher wie ausreichende Präsenz von Assistenz, seien es nun hauptamtliche oder auch nebenberuflich tätige Begleiter oder Ehrenamtliche und Angehörige. Die Reisen sollten gegebenenfalls als Bestandteil der Heimkonzeption ausgewiesen werden und auch den zuständigen Behörden und den Landesverbänden der Pflegekasse mitgeteilt werden. Diese sollten entsprechende Reisen als besonderen Qualitätsausweis der Einrichtungen würdigen und mitverantworten. Von der stationären Behindertenhilfe lässt sich hier viel lernen. Was die arbeitszeit- und -schutzrechtliche Fragen anbelangt, so lassen sich Anleihen aus der Jugend- und Behindertenarbeit machen: Dort sind die Probleme hinlänglich bekannt. Auch mit den Gewerbeaufsichtsämtern sollten sich Lösungen für solche Reisen finden lassen. Zusätzliche Aufwendungen, die den Heimen durch die Urlaubsreisen, dem Urlaub vom Heim, entstehen, lassen sich mit der Pflegeversicherung zumindest nicht abrechnen. Denkbar – aber in der Praxis so gut wie unbekannt – ist die Übernahme von Zusatzkosten im Rahmen der so genannten Eingliederungshilfe: Geht es doch auch und gerade darum, die soziale Teilhabe auf sehr individuelle Weise durch Urlaubsreisen zu sichern und zu fördern. Die Kosten, die für zusätzliches Begleitpersonal entstehen, ließen sich gegebenenfalls auf diese Weise leistungsrechtlich zuordnen. Bei Sozialhilfeträgern dürfte man mit einem solchen Anliegen aber zumindest einmal auf eine fehlende entsprechende Routine stoßen. Auch würden solche Leistungen sowieso nur für sozialhilfeberechtigte Personen in Betracht kommen und ist es vollstationären Pflegeeinrichtungen in aller Regel auch möglich, solche Reisen gegebenenfalls mithilfe entsprechenden Fundraisings selbst zu finanzieren. Geht eine Familie auf Reisen und möchte sie die Leistungen der Pflege aber auch gegebenenfalls der Krankenversicherung am Urlaubsort weiter nutzen, so mag sie das vor größere Problem stellen. In Deutschland hat der Pflegebedürftige auch an einem dritten, an einem Urlaubsort, oder beim Aufenthalt bei einem Familienmitglied Anspruch auf Sachleistungen der Kranken- und Pflegeversicherung und kann sich am dritten Ort eines Pflegedienstes bedienen. Möchte er aber, dass Mitarbeiter seines Pflegedienstes oder eine von ihm
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> Urlaub und Reisen
ausgewählte Assistenzperson ihn auf der Reise begleiten, so geht das im Rahmen des geltenden Pflegeversicherungsrechts – zumindest im Sachleistungsregime der Pflegeversicherung – in der Regel nicht. Budgets bilden hier eine gute Möglichkeit, wie in den Projekten zum integrierten Pflegebudget gezeigt werden konnte. Eine gute Möglichkeit bietet allerdings auch § 39 SGB XI: Wo die Voraussetzungen der so genannten Verhinderungspflege gegeben sind, kann der Pflegeversicherte für die selbst urlaubmachende Pflegeperson eine Assistenzkraft mitnehmen, die selbst nicht über eine Zulassung als Einzelpflegekraft verfügen oder bei einem Pflegedienst angestellt sein muss. Ausnahmsweise steht dem Pflegeversicherten im Falle der Urlaubspflege ein Kostenerstattungsanspruch zu und er kann eine selbstbeschaffte Pflege- oder Assistenzkraft aus den maximal 1550 Euro finanzieren. Macht er Urlaub in Deutschland, kann er die Inanspruchnahme eines Pflegedienstes kombinieren mit der persönlichen Assistenzkraft. Das kann durchaus attraktiv sein. Die Leistungen gemäß § 39 SGB XI sind auch „exportfähig“: Eine selbstbeschaffte Pflege- und Assistenzkraft kann auch ins Ausland mitgenommen werden, wenn dort Urlaub gemacht werden soll. Dort besteht auch der Pflegegeldanspruch weiter. Allerdings besteht im Ausland in der Regel nicht die Möglichkeit, den Sachleistungsanspruch geltend zu machen und auf Kosten der Pflege- und Krankenversicherung die Leistungen eines dortigen Pflegedienstes in Anspruch zu nehmen. Europarechtlich müsste dies meines Erachtens nach an sich möglich sein, die Praxis der Pflege- und Krankenkassen sieht dies bisher allerdings nicht vor. Mit Spannung wartet man aktuell auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu dieser Frage. Auch und gerade in der familiären Versorgung von Menschen mit Demenz kommen Leistungen der Eingliederungshilfe in Betracht. Nun scheiden diese für die Meisten schon deshalb aus, da sie die einkommens- und Vermögensgrenzen überschreiten, die zur Leistung berechtigen. Aber grundsätzlich gilt auch Menschen mit Demenz gegenüber der Teilhabegedanke. Und in der Behindertenhilfe kennen wir die Assistenz auf der Urlaubsreise, zum Museums- oder Kinobesuch als Leistung der Eingliederungshilfe. Der Gedanke ist hier wichtiger als die Leistung: Die, die wir heute als Pflegebedürftige bezeichnen, gar als „Pflegefälle“, sind Menschen, die als „Behinderte“ genauso die Unterstützung und Sicherung ihrer Teilhabe bedürfen wie Menschen mit Behinderung in jüngeren Lebensaltern. Diesen Teilhabeanspruch einzulösen ist zuvörderst Aufgabe und Leistung der Gesellschaft im Kleinen: Der Familien, von bürgerschaftlich Engagierten, von Selbsthilfegruppen, von Einrichtungen und Diensten, die ihren Auftrag nicht nur in der Erbringung abrechenbarer Dienstleistungen sehen.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkung Der Tapetenwechsel kann auch für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen Wunder bewirken. Er will gut vorbereitet sein und kennt besondere sozialrechtliche Unterstützungsmöglichkeiten.
Rechtsquellen § 39 SGB XI
Weiterführende Hinweise www.demenz-support.de www.deutsche-alzheimer.de http://www.demenz-service-nrw.de
Literatur Arbeitskreis Gerontopsychiatrie Heidelberg (Hrsg.): Ratgeber Demenz 2014, Amt für Soziales und Senioren, Stadt Heidelberg Stoppe, Gabriela & Stiens, Gerthild (2009). Niederschwellige Betreuung von Demenzkranken: Grundlagen und Unterrichtsmaterial. Kohlhammer.
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> Urlaub und Reisen
Verbraucherschutz Welchen Pflegedienst soll ich wählen? In welches Heim ziehen? Sind die Preise angemessen? Auf welche Qualität von Dienstleistung habe ich Anspruch? Bei der Vielzahl von Diensten, die es gerade in Großstädten gibt, fällt die Wahl häufig nicht leicht. Dabei ist Pflege, ist persönliche Unterstützung Vertrauenssache, es geht um mehr als eine normale Kundenbeziehung. Verbraucherschutzrecht in Deutschland bezieht sich auch immer mehr auf Dienstleistungen für Menschen, auf Pflege und Betreuungsdienste. Es hat allerdings eine nicht unproblematische Vermengung von Sozialleistungsrecht und Verbraucherschutzrecht stattgefunden, die die Situation unübersichtlich werden lässt, was die Rechtsfragen des Verbraucherschutzes anbelangt.
Ihr gutes Recht – Ambulante Dienste auf dem Prüfstand Nur 30 Prozent der Pflegebedürftigen, die zu Hause leben und dort versorgt werden, nehmen ambulante Pflegedienste im Rahmen der Pflegeversicherung in Anspruch. Das bestätigt die jüngst veröffentlichte Pflegestatistik 2011. Die meisten Pflegebedürftigen und ihre Familien versuchen, die Pflege und Unterstützung anders zu organisieren. Sie nehmen ärztliche Hilfe in Anspruch, vielleicht auch noch den Pflegedienst für den Verbandswechsel oder die notwendige Injektion. Ansonsten verzichtet die größte Zahl auf die Dienste der Dienste. Woran liegt das? Sind sie zu teuer? Bieten sie nicht das, was gebraucht wird? Passen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Pflegedienstes nicht zum Haushalt? Nimmt man lieber das Pflegegeld oder organisiert man die Pflege mit Hilfe osteuropäischer Haushalts- und Pflegehilfen? Oder weiß man gar nicht, was man an ihnen hätte, an den vielen Pflegediensten, die im Straßenbild über ihre kleinen Flitzer allgegenwärtig geworden sind. Sie haben die Wahl: Pflegedienste gibt es in den meisten Regionen Deutschlands ausreichend, sie stehen in Konkurrenz zueinander, insbesondere im städtischen Bereich. Der Wettbewerb soll die Qualität steigern, auf die Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ein Recht haben. Das ist gesetzlich geregelt, aber das wissen die wenigsten Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen.
> Verbraucherschutz Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Aspekte guter Pflege Auf Bundesebene beschäftigt sich gerade ein Expertenkreis mit der Frage, was gute Pflege ausmacht. Es werden fünf verschiedene Qualitätsaspekte unterschieden:
1. Fachlich gute Pflege! Die Pflege soll fachlich gut sein. Es müssen die aktuellen Erkenntnisse aus Medizin und Pflege beherzigt werden. Menschen sollen keinen Schaden aufgrund von pflegerischen Fehlern erleiden. Zum Teil gibt es Expertenstandards für die Pflege. Daraus kann man auch als Patient und Pflegebedürftiger ablesen, was in dem jeweiligen Beruf an Wissen und Erfahrung beherzigt werden muss.
2. Gelingende Pflege – realistische Ziele Zweiter Aspekt: Wie entwickelt sich die gesundheitliche Situation und die Pflegebedürftigkeit weiter? Gelingt es, schwierige Krankheitsphasen zu überwinden und Krankheitsbeschwerden zu lindern? Hier muss man sich gut über die Ziele klar werden und diese müssen dann auch realistisch sein.
3. Einbeziehung der Betroffenen – Transparenz Die dritte Ebene ist die Qualität der Aushandlung dessen, was in der Pflege geleistet werden soll. Kann man hier offen seine Wünsche äußern, werden die Pflegebedürftigen auch wirklich einbezogen? Werden auch die Angehörigen und Personen des Vertrauens einbezogen? Hier drückt sich auch der Respekt vor den Betroffenen und ihre Familien aus.
4. Lebensqualität – Ausrichtung an den Bedürfnissen des Gepflegten Der vierte Aspekt betrifft die Lebensqualität. Sie lässt sich nur sehr subjektiv bestimmen, da wir alle sehr Unterschiedliches mit Lebensqualität verbinden. Insgesamt soll die Pflege dem dienen, was den Menschen persönlich bedeutsam ist, Für den einen spielt die Religion eine herausgehobene Rolle, der andere will gern „betüttelt“ werden. Pflege hat insofern dienenden Charakter. Und: Pflege ist nicht alles. Schließlich kommt es auch darauf an, dass sie verlässlich organisiert ist.
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> Verbraucherschutz
Die Qualitätsaspekte sind zum Teil auch als Anforderungen an die Dienste zu verstehen. Sie sollen kundenorientiert arbeiten, sich also an den Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer Familien orientieren. Kundenorientierung bedeutet auch, Transparenz hinsichtlich der Verträge zu gewährleisten, die schriftlich abgeschlossen werden und Klarheit über Art und Umfang der Leistungen und der Kosten schaffen sollten. Ambulante Pflegedienste sollten rund um die Uhr erreichbar sein und sich auch hinsichtlich der Pflegezeiten an den Betroffenen und ihren Angehörigen orientieren. Zudem haben die Kunden ein Recht darauf, über die konzeptionelle Ausrichtung des Pflegedienstes informiert zu werden. Die Pflegedienste sind verpflichtet, sich den Qualitätsprüfungen der Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MGK) zu unterziehen. Grundlage ist ein Punktesystem. Da hier aber in der Regel lediglich die Pflegdokumentation überprüft wird, steht dieses Verfahren bei vielen Beteiligten als untaugliche Verbraucherschutzmaßnahme in der Kritik. Immerhin ist diese Form der Überprüfung besser als gar keine. Letztlich hängt die Qualität entscheidend von den Pflegenden selbst ab. Die Betroffenen sollten daher darüber mitentscheiden können, wer zu ihnen kommt und wer nicht, Sympathie und Antipathie sind dabei nicht zu unterschätzende Faktoren. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist in diesem Fall besser. Die Pflegedienste müssen ihre Arbeit dokumentieren und ihre Anwesenheitszeiten von den Kunden abzeichnen lassen. Abrechnungsbetrug kommt leider immer wieder vor. Die Pflegebedürftigen oder ihre Vertrauenspersonen haben ein Recht auf Einsicht in die Pflegedokumentation, und das sollten sie von Zeit zu Zeit nutzen. So lässt sich auch nachvollziehen, welche Leistungen angegeben und abgerechnet worden sind und wie der Gesundheitszustand des Gepflegten sich entwickelt hat. Gibt es eine nachvollziehbare Pflegeplanung? Ein guter Pflegedienst plant unter Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Angehörigen die Pflege und formuliert Pflegeziele. Dabei sind diese Ziele immer wieder neu an der aktuellen gesundheitlichen und sozialen Situation des Betroffenen auszurichten.
Die verbraucherrechtlichen Standards Seriös arbeitende Pflegedienste halten sich an verbraucherrechtliche Standards, wie sie von der Rechtsprechung und vom Gesetzgeber formuliert worden sind.
> Verbraucherschutz
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-- Sie haben das Recht, den Pflegedienst jederzeit fristlos und ohne Angaben von Gründen zu kündigen! Sie können also von heute auf morgen den Pflegedienst wechseln. Kündigungsfristen in Pflegedienstverträgen sind ungültig und unzulässig. -- Unzulässig ist auch die rückwirkende Erhöhung von Entgelten.
Faire Verträge sind die Visitenkarten eines Pflegedienstes -- Obwohl es immer wieder vorkommt, dürfen seitens der Pflegedienste keine Inves titionskosten erhoben werden. -- Pflege ist Vertrauenssache. Ich vertraue mich mit meiner ganzen Person und Gebrechlichkeit einem mir fremden Menschen an, überlasse ihm meine Privatsphäre. Diskretion ist hier das A und O. Sie hat sich in Verträgen in klaren Regelungen zum Datenschutz und zur Schweigepflicht niederzuschlagen -- Auch ein automatischer Austausch von Informationen mit den Ärzten ist nicht zulässig. -- Wird einem Pflegedienst aus praktischen Erwägungen heraus beispielsweise ein Hausschlüssel überlassen, sollte hierüber eine schriftliche Vereinbarung getroffen werden.
Wenn Sie mit der Pflege nicht zufrieden sind, können sie sich beschweren. Zuständig ist, der Pflegedienst selbst, der medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK), in Hamburg auch die Heimaufsicht, die dort auch die Kontrolle ambulanter Dienste wahrnimmt. Sind die Verträge Ihrer Ansicht nach völlig unfair, lohnt ein Gang zur Verbraucherzentrale, die jüngst bundesweit Verträge ambulanter Pflegedienste unter die Lupe genommen hat. Leistet der Pflegedienst ganz schlechte Arbeit, dann sind auch Entgeltminderungen möglich. In diesem Fall lohnt es sich, Beratung, gegebenenfalls auch anwaltliche Hilfe, in Anspruch zu nehmen. Übrigens: Die Pflegekassen sind verpflichtet, jedem Pflegebedürftigen eine Übersicht über die in der Region tätigen Pflegedienste, ihr Angebotsspektrum und die verlangten Entgelte zur Verfügung zu stellen. Ein Anruf sollte genügen.
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> Verbraucherschutz
Auch die Pflegedienste haben es nicht nur leicht. Oft sind bei ihnen die Finanzen knapp, sie werden durch die Kostenträger stark reglementiert und würden häufig gern mehr machen als sie vermögen. Betreuungsangebote dürfen sie nur noch zusätzlich zur Pflege leisten. Wenn sich die Pflegebedürftigen auf die Leistungen der Pflege und der Krankenversicherung beschränken, können sie nur einen Teil des Pflegebedarfs abdecken, in der Regel eine Stunde am Tag pro Pflegebedürftigem. Gerade bei Menschen mit Demenz ist dies nur ein kleiner, wenn gegebenenfalls auch wichtiger Beitrag, dass die Pflege und das Leben mit Demenz gelingen.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Das Thema Verbraucherschutz wird in der Pflegeversicherung groß geschrieben. Pflegebedürftige werden als Kunden gesehen, im Zivilrecht ist von Verbrauchern von Pflegeleistungen die Rede. Ob diese Terminologie zutreffend ist, darüber kann man streiten. In jedem Fall ist es wichtig und richtig, sich als Angehöriger aber auch als Pflegebedürftiger über seine Rechte gegenüber Pflegediensten und Heimen zu ínformieren. Die Verbraucherschutzrechte werden in verschiedenen Gesetzen ausbuchstabiert. Es lohnt die Information.
Rechtsquellen § 2 WBVG §§ 305 ff, 312 f, 474 ff, 481 ff, 491ff, 499 ff BGB
Weiterführende Hinweise Adressen: Verbraucherzentrale NRW: Mintropstraße 27, 40215 Düsseldorf, www.vz-nrw.de/gesundheit-pflege-1 Verbraucherzentrale BW: Paulinenstraße 47, 70178 Stuttgart, www.vz-bawue.de/gesundheit-pflege-1 VZ Bayern:Mozartstraße 9, 80336 München, www.verbraucherzentrale-bayern.de/ gesundheit-pflege-1
> Verbraucherschutz
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VZ Thüringen: Eugen-Richter-Straße 45, 99085 Erfurt, www.vzth.de/gesundheit-pflege-1 VZ Sachsen: Katharinenstraße 17, 04109 Leipzig, www.verbraucherzentrale-sachsen.de/ gesundheit-pflege-1 VZ Saarland: Triererstraße 22, 66111 Saarbrücken, www.vz-saar.de/gesundheit-pflege-1 VZ Rheinland-Pfalz: Seppel-Glückert-Passage 10, 55116 Mainz, www.vz-rlp.de/gesundheit-pflege-1 VZ Hessen: Große Friedbergerstraße 13-17, 60313 Frankfurt am Main, www.verbracuher. de/gesundheit-pflege-1 VZ Sachsen-Anhalt: Steinbockgasse 1,06108 Halle, www.vzsa.de/gesundheit-pflege-1 VZ Niedersachsen: Herrenstraße 14, 30159 Hannover, www.verbraucherzentrale-niedersachsen.de VZ Schleswig-Holstein: Andreas-Gayk-Str. 15, 24103 Kiel, ,www-vzsh.de/gesundheitpflege-1 VZ Mecklenburg-Vorpommern: Strandstraße 98, 30159 Rostock, www.nvzmv.de/gesundheit-pflege-1 VZ Berlin: Hardenbergplatz 2, 10623 Berlin, www.vz-berlin.de/gesundheit-pflege-1 VZ Brandenburg: Templinerstraße 21, 14473 Potsdam, www.vzb.de/Gesundheit-pflege-1 VZ Hamburg: Kirchenallee 22, 20099 Hamburg, www.vzhh.de VZ Bremen: Altenweg 4, 28195 Bremen, www.verbraucherzentrale-bremen.de/gesundheit-pflege-1
Literatur Roth, Günther (2003).Stand und Perspektiven der Qualität und des Qualitätsmanagements in der ambulanten Pflege. Top-online.com
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> Verbraucherschutz
Verhinderungspflege Schön ist der Name nicht: Verhinderungspflege. Man könnte eher von Ermöglichungspflege sprechen, wenn man die flexibelste Vorschrift des Pflegeversicherungsrechts würdigen will. Sie ermöglicht zum Teil auch unkonventionelle Formen der Unterstützung auf Zeit. Sie sich zu erschließen lohnt für viele Familien, die sich Pflegeaufgaben für Menschen mit Demenz widmen.
Verhinderungspflege eröffnet Freiräume Vier Wochen im Kalenderjahr zahlt die Pflegekasse die so genannte Verhinderungspflege gemäß § 39 Sozialgesetzbuch Elf (SGB XI), wenn Angehörige Urlaub machen, krank sind oder aus anderen Gründen eine Auszeit benötigen. Bis zu 1.550 Euro im Monat zahlen die Pflegekassen ab 01.01.2012. Ganz anders als bei der häuslichen Pflege gemäß § 36 SGB XI ist man bei der Verhinderungspflege nicht an die Pflegedienste gebunden, nicht an die Module der großen Toilette oder anderes. Es handelt sich bei den Leistungen gemäß § 39 SGB XI quasi um ein Budget: Ob nun (angemeldet) osteuropäische Pflegekraft, eine Nachbarschaftshilfe, eine Assistenzkraft oder aber eine Reise ins Ausland auch eine Betreuungskraft dort. Der Pflegebedürftige respektive pflegende Angehörige sind (vergleichsweise) frei, wofür sie das Geld der Verhinderungspflege einsetzen. Ob Urlaub in Österreich, Dänemark, auch eine Reise nach Mallorca kann auf diese Weise möglich werden. „Urlaub von der Pflege“ aber auch Urlaub mit dem auf Pflege angewiesenen Menschen: Beides können die Leistungen gemäß § 39 SGB XI ermöglichen. Häufig werden die Mittel der Verhinderungspflege für Kurzzeitpflege eingesetzt. Interessanter, vielfältiger und häufig unbekannt sind die weitergehenden Möglichkeiten der Verwendung der Mittel für die Verhinderungspflege.
> Verhinderungspflege Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Service-Teil » Die Mittel für die Verhinderungspflege werden in voller Höhe nur für Pflegepersonen bezahlt, die nicht im ersten oder zweiten Grad mit dem Pflegebedürftigen verwandt sind. » Verhinderungspflege muss nicht am Stück genommen werden. Es ist auch möglich, mehrmals eine Woche „Urlaub“ zu nehmen. » Die Kosten der Verhinderungspflege müssen der Pflegekasse nachgewiesen werden. » Die Leistung erfolgt auf dem Wege der Kostenerstattung: Ausgelegten Kosten für die Pflege werden dem Pflegebedürftigen respektive seinen Angehörigen von den Pflegekassen überwiesen.
Rechtsquellen § 39 SGB XI
Weiterführende Hinweise www.linara.de/pflege-ratgeber.html
Literatur Clemens Meyer-Holz (2014). Pflegefall – was nun: Hier erfahren Sie, wie Sie erfolgreich den Antrag auf Pflegestufe stellen und welche Leistungen Ihnen zustehen. Pflegestufe.de.
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> Verhinderungspflege
Wahlrecht Können Menschen mit Demenz wählen gehen? Selbstverständlich, heißt die Antwort, wenn man die Behindertenrechtskonvention liest. Ganz so einfach ist es allerdings dort nicht, wo (zumeist aus Bequemlichkeit) Menschen mit Demenz ein Betreuer für alle Aufgabenbereiche bestellt wurde. Das Wahlrecht ist ein höchstpersönliches Recht, ein Bürgerrecht zur Ausübung demokratischer Mitbestimmung und Beteiligung. Niemand darf das Wahlrecht stellvertretend ausüben. Es ist und bleibt eine höchstpersönliche Entscheidung, ob ich wählen gehe, wen ich wähle, welche Partei, welche Person. Das Vorliegen einer demenziellen Erkrankung, einer hirnorganischen Störung, ist kein Grund, der zur Einschränkung des Wahlrechtes oder gar zum Ausschluss der Wahlberechtigung führt. Das heißt: Menschen mit Demenz können selbstverständlich an allen Wahlen, von der Kommunalwahl bis zur Europawahl, an den Wahlen in Kirchengemeinden bis hin zu den Wahlen in Vereinen, mitwirken. Bezogen auf die politischen Wahlen im demokratischen System haben sie ggf. Anspruch auf Unterstützung, dass sie ihr Wahlrecht auch wirklich ausüben können. Dabei dürfen sie nicht manipuliert, das Wahlrecht nicht stellvertretend für sie wahrgenommen werden. Aber auf Assistenz können sie pochen: dass sie zum Wahllokal gebracht werden, dass ihnen jemand zur Seite steht, der ihnen die zum Teil immer komplizierter werdenden Wahlunterlagen erläutert, man denke nur an die Kommunalwahlen mit den vielfältigen Möglichkeiten des Panaschieren und Kumulierens in manchen Bundesländern. Selbstverständlich können Menschen mit Demenz auch an der Briefwahl teilnehmen. Gerade hier besteht die Gefahr verbaler Manipulationen. Wahlmanipulationen sind gemäß § 107a StGB strafbar. Eine Einschränkung kennt das deutsche Recht für das Wahlrecht von Menschen, die einen Betreuer haben. Wurde dieser für alle Aufgabenkreise, für alle Angelegenheiten bestellt, ist das Wahlrecht ausgeschlossen, § 13 BWahlG. Diese Vorschrift begegnet nach Einführung der Behindertenrechtskonvention grundlegenden Bedenken. Dies gilt vor allen Dingen mit Blick auf die rechtstatsächlichen Umstände: Werden doch häufig Betreuungen für alle Angelegenheiten vorsorglich, unter Missachtung betreuungsrechtlicher Grundsätze der Erforderlichkeit, eingerichtet. Insofern sollte bei denjenigen Menschen mit Demenz, die einen Betreuer haben und für die die Wahl ein wichtiges
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politisches Bürgerrecht darstellt, mit Blick auf ihre mögliche Wahlbeteiligung überprüft werden, ob es sich denn wirklich um eine Betreuung für alle Angelegenheiten handelt oder nicht. Gegebenenfalls ist der Aufgabenkreis einzuschränken. Eine Betreuung für alle Angelegenheiten verstößt gegen Artikel 12 Behindertenrechtskonvention und stellt sich faktisch als eine Fortsetzung des alten Entmündigungs- und Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts dar. Nun muss nicht jeder „zum Wählen getragen“ werden. Gleichwohl bleibt das Wahlrecht eines der bedeutendsten politischen Rechte in Deutschland, das auch für Menschen mit Demenz verteidigt werden muss.
Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Menschen mit Demenz verlieren nicht aufgrund ihrer Diagnose das Wahlrecht sondern allenfalls dadurch, dass eine Betreuung für alle Angelegenheiten angeordnet wird. Der Ausschluss vom Wahlrecht von unter umfassende Betreuung gestellten Personen verstößt gegen zentrale Aussagen der Behindertenkonvention, insbesondere gegen §21b.
Rechtsquellen § 13 BWG – Ausschluss vom Wahlrecht Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist, 1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt, 2. derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst, 3. wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet. 4. (weggefallen)
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> Wahlrecht
Wohngemeinschaften Immer mehr Menschen können sich vorstellen, im hohen Alter, bei einer demenziellen Erkrankung „Ja“ zu sagen zu einem Leben in einer Wohngruppe oder einer Wohngemeinschaft: familienähnlich, wohnortnah, überschaubar. Der Gesetzgeber hat nach anfänglicher Zurückhaltung diese neue Versorgungsalternative gewürdigt und unterstützt sie auf verschiedene Weise. Länder, die ihrerseits zuständig sind für das Heimrecht, gehen mit den Wohngruppen unterschiedlich förderlich um. Noch spielen sie versorgungspolitisch keine allzu große Rolle, sind aber in der Mentalität der Bevölkerung inzwischen fest verankert. Hier hat der Gesetzgeber die rechtlichen Rahmenbedingungen für Wohngemeinschaften geregelt. Ambulant betreute Wohngemeinschaften liegen im Trend. Ihre Zahl nimmt zu und der Gesetzgeber akzeptiert sie inzwischen auch leistungsrechtlich. So ist im Pflegeneuausrichtungsgesetz eine Förderung selbstorganisierter Formen von Wohngruppen und Wohngemeinschaften vorgesehen. In manchen Regionen Deutschlands sind sie zu einem festen Bestandteil der Versorgungsinfrastruktur geworden. Das gilt aber nicht überall. In manchen Regionen sind die von den Heimaufsichtsbehörden oder den Kostenträgern aufgestellten Hürden zu groß. Betreute Wohngemeinschaften liegen mit ihrer Konzeption und ihrem Angebot genau zwischen der stationären und der häuslichen Versorgung. Darunter haben sie bisweilen zu leiden. Während die vollstationäre Pflege überall in Deutschland auf verlässliche Rahmenbedingungen rechnen kann, gilt das für ambulant betreute Wohngemeinschaften nicht überall. Mancherorts hat man sich darauf verständigt, ambulant betreute Wohngemeinschaften zu „ermöglichen“: So sind besondere Leistungskomplexe im Rahmen der Pflegeversicherung bekannt, komplementär ergänzt durch pflegestufenunabhängige Leistungen der Sozialhilfeträger. Teilweise wird das persönliche Budget bemüht oder eine Finanzierung der möglichen Differenz zwischen stationärer und ambulanter Pflege durch die Sozialhilfe praktiziert. In vielen Regionen ist eine solche Praxis aber unbekannt und es entstehen immer wieder dieselben Probleme: Sozialhilfeberechtigte Personen in der Pflegestufe 1 werden ausgeschlossen. Die stationäre Pflege wird trotz Anhebung der Leistungen im häuslichen Bereich, gerade für Menschen mit Demenz, immer noch bevorzugt. Das hängt mit der Lobby der stationären Träger und den Interessen der Sozialhilfeträger zusammen. Sie profitieren von den höheren Leistungen der Pflegeversicherung im stationären Bereich, insbesondere in der Pflegestufe 1.
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Von wegen „ambulant vor stationär“, von wegen freie Wahl des Wohn- und Versorgungsortes. Manche Sozialhilfeträger verweisen Wohngruppen-Interessierte auf das „günstigere Heim“: Hier sind die Zuzahlungen für den Sozialhilfeträger niedriger, hier hat er auch den Zugriff auf das Einkommen unterhalb der so genannten Einkommensgrenze: Bewohner von Pflegeheimen werden zu Barbetrags- oder Taschengeldempfängern. Wohngruppen sind eben nur etwas für die, die es sich leisten können.
Vertragsloser Zustand Auch dort, wo es „unverhältnismäßige Mehrkosten“, also die höheren Zahlungen der Sozialhilfe für die Bewohner in einer Wohngruppe nicht zu beklagen gilt, wird bisweilen eine Kostenübernahme abgelehnt. Begründung: Es fehle an Verträgen gemäß § 75 SGB XII. Mit einer eigenständigen Vertragsgestaltung zwischen Sozialhilfeträger und den Leistungserbringern für Wohngruppen wird sehr defensiv umgegangen. In manchen Regionen bestehen entsprechende Verträge, wird der Zugang zu Wohngruppen allen geeigneten Betroffenen eröffnet. Das ist aber nicht die Regel. In vielen Situationen ist es gerade anders herum: Sozialhilfeträger gehen defensiv mit der Entwicklung von Wohngruppen um, möchten verhindern, dass es einen Gründungsboom von Wohngemeinschaften gibt. Bei leerstehenden Heimplätzen passt das sozialplanerisch nicht unbedingt ins Konzept. Manche Sozialhilfeträger bedienen sich dabei eines betreuungsrechtlichen Tricks: Sie verweisen auf die Genehmigungsbedürftigkeit der Vertragsabschlüsse für Wohngruppen gemäß § 1907 BGB. Die hierfür zuständigen Rechtspfleger werden aufgefordert, die Genehmigung solange nicht zu erteilen, solange die Kostenzusage des Sozialhilfeträgers noch nicht vorliegt. Hier ist weniger von Ermöglichungs- sondern vielmehr von Erledigungsverwaltung zu sprechen: Die auf Sozialhilfe angewiesene Person hat keine Chance. Die Finanzierung von ambulant betreuten Wohngruppen ist kompliziert. Sie basiert auf einem Finanzierungsmix. Es werden Beiträge für Miete und Haushaltsausgaben von den Bewohnern, die in einer Wohngemeinschaft leben, gezahlt. Es werden die Leistungen der Häuslichen Pflege, aber auch die der zusätzlichen Betreuung aus dem SGB VI einbezogen und ausgereizt. Für die Sicherstellung einer fachlich guten Begleitung und Pflege ist man auch auf die Leistungen der häuslichen Krankenpflege gemäß § 37 SGB V angewiesen. Überwiegend gibt es keine leistungsrechtlichen Probleme, die Kassen gewäh-
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> Wohngemeinschaften
ren auf ärztliche Verordnung hin den Verbandswechsel, die Insulinversorgung, die Medikamentengabe. Das gilt trotz obergerichtlicher Rechtsprechung, die Leistungspflicht der Krankenkassen auch in ambulant betreuten Wohngemeinschaften (WGs) bejaht, nur nicht überall und für jede Kasse. Manche Kassen versagen die Leistungen der häuslichen Krankenpflege und dies unter Verweis auf die „fehlende eigene Häuslichkeit“. Die Bewohner einer Wohngemeinschaft würden nicht in der Lage sein, ihren Haushalt selbständig zu führen und zu disponieren. Faktisch liege die Haushaltsführung in der Hand eines Pflegedienstes oder eines anderen Dienstleisters. Häufig verfügen WGs auch nicht für jeden über ein eigenes Bad. Damit seien die Voraussetzungen für die eigene Häuslichkeit nicht mehr gegeben. Dass auch in Familien nicht jedes Familienmitglied ein eigenes Bad besitzt und es auch dort nur eine Küche gibt, interessiert dann nicht mehr unbedingt. Die häusliche Krankenpflege ist, obwohl sie im Vergleich mit anderen Kassenleistungen unter Aufgabengesichtspunkten nur eine marginale Bedeutung hat, gleichwohl zum Kostensteuerungsgegenstand mancher Kassen geworden. Auch wird und nicht ganz zu Unrecht befürchtet, dass sich über die Wohngemeinschaften die Regelung gemäß § 43 SGB XI aushöhlen lässt, mit der Folge, dass die Leistungen der so genannten Behandlungspflege nicht weiter den Pflege-, sondern den Krankenkassen obliegt. Es war seinerzeit ein Deal beim Pflegeweiterentwicklungsgesetz: Rechtsanspruch auf geriatrische Rehabilitation im Sozialgesetzbuch Fünf (SGB V), dafür Behandlungspflege in Heimen in die Zuständigkeit der Pflegekassen (respektive der Sozialhilfe). Wenn es mit einmal tausende von ambulant betreuten Wohngemeinschaften gibt, könnte das den Kassen teuer zu stehen kommen. Nochmals: das ist keine generelle Linie der gesetzlichen Krankenkassen, aber durchaus gezielte Praxis einzelner regional Agierender. Die Finanzierung von ambulant betreuten Wohngemeinschaften, insbesondere für Sozialhilfeberechtigte Personen ist damit mancherorts gefährdet. Das gilt im Übrigen eingeschränkt auch für die in einer privaten Kranken- und Pflegeversicherung Versicherten: Auch hier werden die Leistungen, die im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zu der häuslichen Krankenpflege gehören, nicht ohne Weiteres und widerspruchslos gewährt. Nicht alle, die in einer privaten Krankenversicherung versichert sind, sind wohlhabende Menschen. So können sich auch hier im Bereich der häuslichen Krankenpflege bei der Behandlungspflege manchmal Zuzahlungsprobleme ergeben und das Wohnen in einer Wohngruppe in Gefahr bringen.
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Wohngemeinschaften und Wohngruppen sind in der Praxis also nicht selten mit Problemen konfrontiert, von denen zumeist nur einkommensschwächere Personen betroffen sind. Oft werden Wohngemeinschaften nur dann von der Anwendung des Heimgesetzes ausgenommen, sofern sie nicht mehr als acht Bewohner haben. Größeren WGs wird dann die ökonomische Basis genommen. Wer Wohngruppen als realistische Alternative, als Erweiterung der regionalen Infrastruktur will, Wohngruppen fördern will, der wird politisch etwas tun müssen, um die sozialrechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für ambulant betreute Wohngemeinschaften den anderer Versorgungssettings gleichzustellen. Eine entsprechende sozialpolitische Agenda würde auf jeden Fall drei Tagesordnungspunkte kennen: -- Angleichung der Leistungen ambulant und stationär im Bereich der Pflegeversicherung durch alle Pflegestufen hindurch. -- Klarstellung, dass Ansprüche der häuslichen Krankenpflege auch in ambulant betreuten Wohngemeinschaften gewährt werden müssen. -- Förderliche heimrechtliche Rahmenbedingungen, die auf einer verantwortlichen ordnungsrechtlichen Flankierung von Wohngruppen Wert legen und sie nicht verhindern.
Die offenen Rechtsfragen, die mit dem Finanzierungsproblem verbunden sind, müssen offensiv angegangen werden: Mit regional aufgeschlossenen Sozialhilfeträgern konnten Musterprozesse verabredet werden, um die auch aus ihrer Sicht unbefriedigende Rechtslage weiterzuentwickeln. Hier geht es um den Gesichtspunkt des individuellen Wunsch- und Wahlrechtes und der Ungleichbehandlung von ambulant und stationär versorgten Pflegebedürftigen. Die Verhandlung über gesonderte Leistungsverträge mit den Sozialhilfeträgern gilt es regional zu forcieren. Es geht um die Wohngruppen und Wohngemeinschaften, die in geteilter Verantwortung geplant und praktiziert werden. Hier steht das Zusammenwirken von Angehörigen, Profis, Kommune, bürgerschaftlich Engagierten und aufgeschlossenen Trägern im Vordergrund. Dafür gibt es Beispiele: Vorzeigeeinrichtungen, wie die WOGE in Freiburg, der Adlergarten in Eichstetten, die Villa Hittorf in Münster oder die Wohngemeinschaften in Bielefeld können sich vor Besuchern kaum erwehren.
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Service-Teil Allgemeine Anmerkungen Eine Demenz-Wohngemeinschaft ist eine Wohn- und Betreuungsform für Menschen mit einer Demenz-Erkrankung, die zwischen der ambulanten Versorgung in der bisherigen Wohnung und der stationären Versorgung in einem Pflegeheim angesiedelt ist.
Rechtsquellen § 38 a SGB XI
Weiterführende Hinweise www.juraform.de
Adressen www.freiburger-modell.de www.wg-qualitaet.de
Literatur Das Mieterlexikon – Ausgabe 2013/2014 ... Deutscher Mieterbund Verlag GmbH
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Adressen Institutionen: Aktion Demenz e.V. Geschäftsstelle Aktion Demenz e.V. Verena Rothe Aktion Demenz, Karl-Glöckner-Str. 21 E, 35394 Gießen Tel: 0641 / 99 232 06 01577 / 28 883 78 [email protected] www.aktion-demenz.de Demenz Support Stuttgart gGmbH Demenz Support Stuttgart gGmbH Zentrum für Informationstransfer Hölderlinstraße 4, 70174 Stuttgart Tel: 0711 / 99787-10 [email protected] www.demenz-support.de Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz Friedrichstr. 236, 10969 Berlin-Kreuzberg Tel: 030 / 259 37 95-0 [email protected] www.deutsche-alzheimer.de Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie e.V. (DGGPP) Geschäftsstelle Postfach 1366, 51675 Wiehl Tel: 02262 / 797 683 [email protected] www.dggpp.de
> Adressen Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Deutsche Expertengruppe Dementenbetreuung e.V. 1. Vorsitzende Heike Schwabe Landpartie Tagespflege Pastorenweg 1, 27389 Fintel Tel: 03221 / 105 6979 [email protected] www.demenz-ded.de/ Deutsches Institut für Menschenrechte Zimmerstraße 26/27 10969 Berlin, Tel: 030 / 25 93 59-0 www.institut-fuer-menschenrechte.de/ Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in der HelmholtzGemeinschaft Ludwig-Erhard-Allee 2, 53175 Bonn Tel: 0228 / 43302-0 www.dzne.de/home.html Hans und Ilse Breuer-Stiftung Frau Michaela Prims Bockenheimer Landstraße 2-4 60323 Frankfurt am Main Tel: 069 / 21 79 69 90 [email protected] www.breuerstiftung.de/service/kontakt/ Hirnliga e.V. Geschäftsstelle Postfach 1366, 51657 Wiehl Tel: 02262 / 999 99 17 [email protected] www.hirnliga.de
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> Adressen
Kompetenznetz Demenzen e.V. Kompetenznetz Demenzen e.V. c/o Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J 5, 68159 Mannheim vertreten durch: Prof. Dr. med. Wolfgang Maier Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Bonn, Sigmund-Freud-Straße 25 53105 Bonn, Tel: 028 / 287 15722 [email protected] www.kompetenznetz-demenzen.de Pflegeberatung Beratung der AWO: www.awo-pflegeberatung-online.de Pflegeberatung für Privatversicherte: www.compass-pflegeberatung.de Pflegestützpunkte Pflegestützpunkt-Datenbank mit Postleitzahlen-Suche: http://psp.zqp.de/search.php Pflegestützpunkte in den Bundesländern: Baden-Württemberg: www.bw-pflegestuetzpunkt.de Bayern: www.stmas.bayern.de/pflege/beratung/stuetzpunkt.php Berlin: www.pflegestuetzpunkteberlin.de Brandenburg: www.pflegestuetzpunkte-brandenburg.de Bremen: www.bremen-pflegestuetzpunkt.de Hamburg: www.hamburg.de/pflegestuetzpunkte Hessen: www.bkk-hessen.de/pflegestuetzpunkte_in_hessen/
> Adressen
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Mecklenburg-Vorpommern: www.psp-mv.de Niedersachsen: Homepage des Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration Nordrhein-Westfalen: www.landeszentrum-pflegeberatung-nrw.de Rheinland-Pfalz: Liste des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen Saarland: www.psp-saar.net Sachsen: www.pflegenetz.sachsen.de Sachsen-Anhalt: www.pflegeberatung-sachsen-anhalt.de Schleswig-Holstein Gesundheitsseite der Landesregierung Schleswig-Holstein Thüringen www.thueringen.de/th7/tmsfg/soziales/pflegestuetzpunkte/ Sozialverband VdK Deutschland e.V. Wurzerstraße 4 a 53175 Bonn Tel: 0228 / 82093-0 [email protected] www.vdk.de/deutschland/ Verbraucherzentrale Verbraucherzentrale Bundesverband Markgrafenstraße 66 10969 Berlin Tel: 030 / 25 80 00 [email protected] www.verbraucherzentrale.de/home
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> Adressen
Selbsthilfe: Aktion Demenz e.V. Geschäftsstelle Aktion Demenz e. V. Verena Rothe Aktion Demenz Karl-Glöckner-Str. 21 E 35394 Gießen Tel: 0641 / 99 232 06 01577 / 28 883 78 [email protected] www.aktion-demenz.de Alzheimer Telefon der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Tel: 01803 / 17 10 17 (Service-Hotline) 030 / 2 59 37 95 14 (Festnetznummer) [email protected] www.deutsche-alzheimer.de/unser-service/alzheimer-telefon.html Deutsche Alzheimer Gesellschaften in den einzelnen Ländern Übersicht über Gesellschaften aller Postleitzahlenbereiche unter: http://www.deutsche-alzheimer.de/unser-service/alzheimer-gesellschaften-und-anlaufstellen.html?no_cache=1 Wegweiser Demenz des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Übersicht über regionale Beratungsstellen: www.wegweiser-demenz.de
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Kanzleien: Schönhof, Bärbel Rechtsanwaltskammer Hamm Oberlandesgericht Hamm Heßlerstraße 53 59065 Hamm www.rechtsanwaltskammer-hamm.de Rechtsanwältin Bärbel Schönhof Frielinghausstr. 8 44803 Bochum Tel: 0234 / 93 51 38 6 [email protected] www.kanzlei-schoenhof.de/
Weiterführende Literatur (Übersicht u. a. unter: www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/alz/pdf/literaturempfehlungen_dalzg.pdf ) Informationsblätter und Broschüren der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Übersicht unter: www.deutsche-alzheimer.de/unser-service/informationsblaetter-downloads.html Zeitschrift Alzheimer Info Vierteljährlich erscheinende Zeitschrift der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. (Adresse siehe oben) https://shop.deutsche-alzheimer.de/alzheimer_info Zeitschrift Demenz – Das Magazin Monatlich erscheinende Zeitschrift herausgegeben von Peter Wißmann, Michael Ganß und anderen www.demenz-magazin.de/startseite/
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> Adressen
Schlagwortverzeichnis A Angehörige 27, 43, 50, 52, 58, 59, 69, 79, 84, 96, 101, 109, 114, 116, 123, 128, 147, 177, 185, 189, 190, 202 Assistenz 49, 84, 88, 101, 142, 148, 151, 162, 186 Aufklärung 52, 150, 160 Aufsichtspflicht 66, 77 Autonomie / Selbstbestimmung 19, 36, 39, 57, 152, 159, 164, 167, 177 B Behandlungsmaßnahmen 27, 43, 110, 113, 115, 116, 150, 153, 160, 201 Behindertenrechtskonvention 19, 20, 21, 22, 24, 39, 43, 56, 57, 110, 142, 152, 174 Behinderung 20, 21, 22, 24, 28, 39, 40, 41, 44, 88, 152, 169, 174, 185, 187 Beratung 23, 28, 48, 60, 70, 107, 111, 114, 128, 132, 170, 180, 192 Beteiligung 44, 48, 81, 96 Betreuung Betreuung / Begleitung 59, 122 Betreuung, rechtliche 27, 41, 52, 60, 70, 88, 110, 113, 128, 150, 154, 179 Betreuungsrecht 27, 22, 39, 56, 60, 61, 72, 88, 110, 116, 200 Budgets 85, 174, 195, 199 C Case Management 55, 85 D Daseinsvorsorge 81 Datenschutz 35 E Ehrenamt / Bürgerschaftliches Engagement 65, 72, 82, 94, 101, 122, 149, 152, 186, 202 Eingliederungshilfe 24, 88, 102, 142, 151, 173, 174, 186, 187 Einwilligung / Einwilligungsfähigkeit 39, 52, 63, 113, 150, 153, 160, 179 Ernährung 28, 47, 50, 87, 95, 120, 163 Ethik 36, 47, 52, 115 Existenzsicherung 109, 127, 159 F Familie / soziales Netzwerk 43, 55, 83, 97, 109, 122, 159, 174 Freiheit 22, 42, 59, 61, 70, 77 Freiheitseinschränkende / -entziehende Maßnahmen 22, 27, 51, 55, 59, 61, 71, 79, 101, 120 Führerschein 167
> Schlagwortverzeichnis Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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G Geschäftsfähigkeit 89, 131, 178 Gesundheit 50, 55, 63, 89, 113, 124, 163, 168, 190 Gewalt 77, 101 H Haftpflichtversicherung 66, 185 Haftung 69, 76 Handlungsfähigkeit 23, 39, 110, 179 Heimbeirat 48 Heimrecht 50, 93, 132, 202 Humor 75 I Inklusion 20 Interaktion / Kommunikation 24, 42, 52, 69, 77, 90, 95, 102, 109, 114, 116, 152 Intimität / Privatsphäre 36, 56, 139 K Kommunalpolitik / -planung 56, 81, 94, 147, 202 Kultur 40, 47, 62, 80, 83, 88, 114, 149, 159, 185 Kurzzeitpflege 56, 195 L Landesheimgesetz 48, 82, 93 Lebensqualität 57, 80, 87, 97, 122, 156, 159, 190 Leistungsversagung 75 M Medikamente 36, 63, 101, 115, 121, 162 Menschenrechte 19, 49, 79, 121 Menschenwürde 21, 36, 42, 50, 57, 61, 90, 164 Migration 149 Mitbestimmung / Mitwirkung 40, 48, 81, 93 Mobilität 36, 60, 61, 77, 83, 161, 167, 174, 185 O Osteuropäische Hilfen 57, 102, 105, 177, 189 P Partnerschaft 109, 131, 140 Pathologisierung 22, 42, 143, 152, 173 Patientenverfügung 48, 50, 88, 115, 154, 160 Persönlichkeitsrechte 36, 140 Pflege 24-Stundenpflege 107 Palliativpflege / -medizin 51, 132, 163
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> Schlagwortverzeichnis
Pflegebedürftigkeit 35, 132, 174, 190 Pflegedienst 60, 84, 105, 119, 128, 148, 189, 195, 201 Pflegedokumentation 35, 120, 191 Pflegeforschung / -wissenschaft 41, 120 Pflegeplanung 65, 81, 123, 191 Pflegestufe 57, 75, 199 Pflegeversicherung 22, 36, 56, 84, 102, 105, 145, 174, 186, 189, 199 Verhinderungspflege 195 Pflegedienst 189 Pflegeplanung 191 Politik 20, 41, 83, 119, 145, 174 Q Qualität Qualität guter Pflege 49, 120, 190 Qualitätsprüfung 57, 95, 120, 148, 174, 186, 191 Qualitätssicherung 41, 48, 87, 97, 119, 190 Quartiersarbeit / Gemeinwesenarbeit 55, 81, 147 R Rechtsfähigkeit 39, 110 Rechtsschutzversicherung 128 Rehabilitation 56, 120, 174, 201 Religion / Spiritualität 47, 58, 114, 174, 190 S Scheidung 131 Schuldfähigkeit 135 Selbsthilfe 187 Sexualität 88, 139 Sicherheit 22, 36, 63, 71, 77, 83, 169 Solidarität 23, 43, 60, 70, 77, 81, 94, 122, 145 Sozialhilfe / Sozialhilfeträger 57, 84, 102, 142, 151, 174, 186 Sprache 24, 105, 116, 149 Stellvertretung 42, 49, 151 Sterben 28, 50, 56, 115, 159 Sterbehilfe 159 Suizid 159 Strafrecht 60, 136, 163 Subjektorientierung 23, 42, 123, 153, 159 T Technik 36, 60, 169 Teilhabe 19, 50, 55, 82, 88, 93, 122, 127, 151, 159, 170, 174, 186 Testament / Testierfähigkeit 39, 177
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U Unterbringung 23, 56, 57, 61, 63, 135 Urlaub / Reisen 185, 195 V Verantwortung / Verantwortlichkeit 21, 28, 37, 48, 66, 69, 75, 82,89, 93, 119, 135, 145, 161, 168, 186, 202 Verbraucherschutz 119, 189, 191 Versorgung Ambulante / häusliche Versorgung 55, 59, 62, 101, 109, 119, 140, 151, 185, 189, 199 Stationäre Versorgung 35, 47, 52, 55, 61, 69, 82, 93, 119, 140, 150, 174 Teilstationäre Versorgung 47, 60, 101 Vorsorgevollmacht 43, 88, 110, 128 W Wahlfreiheit 55, 200 Widerspruch 128, 201 Wohnen 55, 59, 82, 132, 199 Wohngruppe / -gemeinschaft 69, 120 Wohngruppe / Wohngemeinschaft 57, 97, 141, 147, 199 Z Zwangsbehandlung 153
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Vita
Thomas Klie ist Jurist und Gerontologe. Er lehrt an der Evangelischen Hochschule in Freiburg und praktiziert als Rechtsanwalt. Seit den 1980er Jahren befasst er sich intensiv mit Rechtsfragen der Altenpflege. Er steht für ein Pflegerecht, das den Menschenrechten besonderes Gewicht gibt. Seine langjährigen Erfahrungen aus Unterricht in Altenpflegeschulen, Weiterbildungsinstituten und Universitäten zeigen sich in der sehr anwendungsbezogenen Gestaltung der Rechtskunde, die seit 30 Jahren das Standardwerk für Rechtsfragen in der Altenpflege darstellt.
> Vita Recht und Demenz, Thomas Klie | © Vincentz Network GmbH & Co.KG | Hannover 2015 | ISBN 978-3-86630-112-8
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Lehrbuch Altenpflege Thomas Klie
Rechtskunde Das Recht der Pflege alter Menschen
Thomas Klie · Rechtskunde
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30 Jahre Rechtskunde
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Altenpflege Vorsprung durch Wissen
28.10.2013 12:15:43
Rechtskunde Das Recht der Pflege alter Menschen Thomas Klie Rechtskundig im besten Sinne des Wortes macht dieses Lehrbuch. Fallorientiert und verständlich sind die Rechte der Pflegebedürftigen und der in der Pflege Beschäftigten in diesem Lehrbuch dargestellt. Die zehnte, überarbeitete und erweiterte Auflage berücksichtigt alle gesetzlichen Neuregelungen – vom Pflege-Weiterentwicklungsgesetz bis zu besonderen Aspekten der Behindertenrechtskonvention. Rechte kennen, wahrnehmen, verteidigen. Die eigenen, wie die Rechte der Pflegebedürftigen. Mit diesem Handbuch vom Rechtsexperten Thomas Klie gelingt es! 2013, 10. Auflage, neu bearbeitet und erweitert, 520 Seiten, kart., Format: 14,8 x 21 cm ISBN 978-3-86630-293-8, Best.-Nr. 331
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„Die Werte, die Kultur einer Gesellschaft drücken sich in besonderer Weise darin aus, wie sie mit ihren verletzlichen Mitgliedern umgeht, deren Rechte garantiert und verwirklichen hilft.“ Autor Thomas Klie, ausgewiesener Experte im Recht der Altenhilfe, klärt die Zusammenhänge relevanter Themen wie etwa Betreuung, Datenschutz, Patientenverfügung, Pflegestufe, Solidarität. Jedes Thema wird durch einen Serviceteil abgerundet, der Adressen, Websites, Rechtsquellen, weiterführende Hinweise und Literaturangaben enthält. Für die Pflege von Menschen mit Demenz geht es darum, deren besondere rechtliche Situation zu kennen, zu achten und in der täglichen Praxis auch umzusetzen. Was muss, was kann, was darf, was sollte getan werden? Was muss geändert werden? Dieses Buch bezieht Position, es klärt gesetzliche, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge und bietet so Rechtssicherheit und gleichermaßen wertvolle Denkanstöße.
Thomas Klie ist Jurist und Gerontologe. Er lehrt an der Evangelischen Hochschule in Freiburg und praktiziert als Rechtsanwalt. Seit den 1980er Jahren befasst er sich intensiv mit Rechtsfragen der Altenpflege. Er steht für ein Pflegerecht, das den Menschenrechten besonderes Gewicht gibt.
ISBN 978-3-86630-112-8