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German Pages 500 Year 2020
Martin Deuerlein Das Zeitalter der Interdependenz
Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des . und . Jahrhunderts Band XXXI Herausgegeben von Jan Eckel, Ulrich Herbert, Sven Reichardt und Lutz Raphael
Martin Deuerlein
Das Zeitalter der Interdependenz Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und des SFB »Bedrohte Ordnungen«
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen
www.wallstein-verlag.de Redaktion: Jörg Später Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlagbild: Im Jahr erarbeitete ein Team um den Graphikdesigner Aaron Marcus im Auftrag des East-West Center in Honolulu, Hawaii eine Präsentation, der diese Abbildung entnommen ist. Visualizing Global Interdependencies stellte die Verflechtung der Welt mit Piktogrammen, Karten und Graphiken visuell dar und sollte so in allen Kulturräumen leicht verständlich sein. Quelle: The East-West Center, Honolulu, Hawaii: Visualizing Global Interdepencies, , https://www.youtube.com/watch?v=tcSkqHVwc. ISBN (Print) ---- ISBN (E-Book, pdf ) ----
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
. Evolution und Fortschritt ‒ Interdependenz in der Hochmoderne . . . . . . . . . . . . .
22
. Die Herausbildung eines hochmodernen Interdependenzverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
Das Zeitalter der »ersten Globalisierung« und die Biologisierung des Sozialen 25 — Die Erfindung der nationalen »Gesellschaft« 29 — Nationen und Imperien ‒ Weltpolitik und Weltwirtschaft im Zeichen der Interdependenz 31
. Nationalismus und Interdependenz in der Zwischenkriegszeit . .
38
Interdependenz als Wissenschaft ‒ Die Disziplin der Internationalen Beziehungen 40 — Die Organisation einer interdependenten Welt 45 — Das »Interregnum« in der Politikwissenschaft 49
. »Globalismus« und »Globaloney« – vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
»Air Age Globalism« 55 — Die Suche nach einer neuen Weltordnung 57 — »One World or None« ‒ Internationalismus und Nationalismus im frühen Kalten Krieg 61 — Der Realismus 66 — Der Behavioralismus und das Denken in Systemen 69
. Doppelte Globalisierung? Die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten und die Welt bis in die er Jahre . . .
73
Die sowjetische Auseinandersetzung mit Weltpolitik und Weltwirtschaft, - 74 — »Der Kampf mit dem Kosmopolitismus« ‒ Die Abschließung der Sowjetunion, - 77 — Die sowjetische Rückkehr auf die Weltbühne ab / 80 — Modernisierungstheorie und Konvergenz-These in den USA 84
. Blöcke und Nationalstaaten ‒ Interdependenz bis in die er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bündnisse und Blöcke ‒ Interdependenzdiagnosen in den er Jahren 90 — Der Bedeutungsverlust des »souveränen Nationalstaats« in den er Jahren? 92 — Die er Jahre als Hochphase des »souveränen Nationalstaats« 96
90
. Interdependenz im Umbruch – bis . . . . . . . . .
105
. Von der »holistischen Interdependenz« zu den »Economics of Interdependence« . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 »Globale Probleme« 110 — Kybernetik und die »Grenzen des Wachstums« 113 — Richard A. Falk und das World Order Models Project 118 — Von der »internationalen Arbeitsteilung« zu den »Strömen« der globalen Wirtschaft ‒ Richard Cooper 120
. Sovereignty at Bay? – Multinationale Unternehmen . . . . . . . 123 Multinationale Unternehmen und Interdependenz vor den er Jahren 124 — Multinationale Unternehmen im Fokus der Sozialwissenschaften 125 — The Survival of the Fittest? Multinationale Unternehmen und das Schicksal des Nationalstaates 128
. »Transnationale Politik« und die Transformation der Theorie der internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 »Nichtstaatliche Akteure« und »transnationale Gesellschaft« 141 — Die »Weltgesellschaft« und die Schwächung des hochmodernen Denkens 143 — Political Science in a Shrinking World ‒ das Ende von innen und außen 146 — Die »multinationale Verfilzung des Herrschaftsprozesses« – »transnationale Politik« bei Karl Kaiser 149 — Transnational Relations and World Politics – Robert Keohane und Joseph Nye 151
. Das Ende der Hochmoderne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Das Ende des Konsenses? Krisendiagnosen in den Vereinigten Staaten 160 — The Age of Limits – Reaktionsversuche der Regierung Nixon 163 — Die Orientierungskrise der Sozialwissenschaften 167 — Das Ende der Hochmoderne 171
. Das Zeitalter der Interdependenz, - . . . . . . . . . .
175
. Ölkrise und Neue Weltwirtschaftsordnung, / . . . . . . . 176 Die »Geburtswehen der Interdependenz« ‒ Reaktionen auf die Ölkrise 177 — Nord-Süd-Beziehungen und Interdependenz 183 — Die Dependenztheorie 186 — Kooperative Bemühungen der »Dritten Welt« 189 — Die Neue Weltwirtschaftsordnung 193
. Auf dem Weg zu einer »Strategie der Interdependenz«, / . . 198 Die Formulierung einer neuen amerikanischen Außenpolitik 200 — Neoliberale 202 — Neokonservative 207 — The Challenge of Interdependence ‒ Die Reaktion Henry Kissingers 214
. Wissenschaftlich-technische Revolution ‒ Interdependenz und die Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Die Entstehung einer sowjetischen Politikwissenschaft 229 — Der »sowjetische Realismus« und das eine »internationale System« 232 — Die sowjetische Auseinandersetzung mit der Interdependenz-Theorie 238 — Die wissenschaftlich-technische Revolution 241 — »Globale Probleme« und sowjetische »Globalistik« 250 — Wissenschaft und Politik in der Sowjetunion 257
. »To Make the World Safe for Interdependence« ‒ Die Trilaterale Kommission und die Außenpolitik der Regierung Carter, - . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 The Management of Interdependence ‒ Das ’s Project des Council on Foreign Relations 266 — Interdependendence is a Fact of Life – Zbigniew Brzezinski und die Trilaterale Kommission 268 — Renovating the International System – Carters neue Außenpolitik 278 — Das Scheitern des Ansatzes der Regierung Carter und der Niedergang der Entspannung 287
. Krise der Entspannung ‒ Ende der Interdependenz? Die er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304
. »Neo-Globalismus« als Komplexitätsreduktion ‒ Ronald Reagan
306
Die Rückkehr zu einer bipolaren Weltdeutung 308 — »Neo-Globalismus« ‒ Die Rückkehr des Kalten Krieges? 311 — Reagan, die »Dritte Welt« und das Ende der Neuen Weltwirtschaftsordnung 316 — Das »Information Age« ‒ Verflechtungsdiagnosen in der Regierung Reagan 322
. Neues Denken in der Sowjetunion ‒ Gorbačev und Interdependenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 »Neue Denker« ‒ Gorbačevs Berater 329 — Gemeinsames Haus Europa und globale Interdependenz 333
. Die Disziplinierung der Interdependenztheorie . . . . . . . . . 346 »Komplexe Interdependenz« – Die Weiterentwicklung der Interdependenztheorie 347 — Die International Political Economy und die Verflechtung von Politik und Wirtschaft 350 — Der Neorealismus 353 — Regimetheorie und Neoliberaler Institutionalismus 355 — Internationale Beziehungen als »American Science«? 362
. Ausblick: Das »Zeitalter der Globalisierung«? . . . . . . . . .
367
Globalisierungstheorie in den er Jahren 368 — Das Ende des Kalten Krieges und der Beginn des »Zeitalters der Globalisierung«? 371 — Hyperglobalisten ‒ Globalisierung als Modernisierung 375 — Skeptiker, Kritiker, Alter-Globalisten 379 — Denationalisierung? Die Debatte um das Schicksal des »souveränen Nationalstaates« 384 — Transformationalisten 386 — Interdependenz und Globalisierung 388
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
393
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
405
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
490
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
491
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
493
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
496
Das Zeitalter der Interdependenz Einleitung »Will history recall the th century as a time of mounting global conflict or as the beginning of a global conception? Will our age of interdependence spur joint progress or common disaster?« Henry Kissinger,
Ort und Zeitpunkt waren symbolträchtig gewählt: Am . Januar versammelten sich Senatorinnen und Senatoren sowie Mitglieder des Repräsentantenhauses in der Congress Hall in Philadelphia. Nur wenige Schritte entfernt von dem Gebäude, in dem Jahre zuvor die amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet worden war, setzten sie nun ihre Unterschriften unter eine Erklärung der wechselseitigen Abhängigkeit. Diese Declaration of Interdependence war vom gegründeten World Affairs Council of Philadelphia, einer Organisation aus Vertretern von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vorbereitet worden, um eine »amerikanische Antwort auf neue globale Imperative« zu formulieren. Bereits zwei Jahre zuvor war der Historiker Henry Steele Commager beauftragt worden, den Text der Erklärung zu entwerfen. Ihm stand ein Beratergremium aus »distinguished Americans« zur Seite – genauso viele hatten im Jahr die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet. Den Organisatoren mangelte es dabei nicht an historischem Pathos: »If, in , a small handful of Americans could weld together the beginnings of a nation, could not equally dedicated people of start upon the shaping of a world in which peace and harmony prevailed rather than imminent chaos and catastrophe?« Die selbsterklärten Nachfolger der Gründerväter fühlten sich mit Herausforderungen globalen Ausmaßes konfrontiert: »Offensichtliche Wahrheiten« der Gegenwart wie Hunger, Überbevölkerung, nukleare Rüstung und Umweltverschmutzung waren nur einige Aspekte einer diagnostizierten »globalen Krise«. Der einzige Ausweg sei die Erweiterung der Idee der »independence« zu einem Konzept der »interdependence«. Alle »Völker und Nationen« müssten ihre wechselseitige Abhängigkeit anerkennen und gemeinsam an der Errichtung einer Kissinger, Henry A.: An Age of Interdependence: Common Disaster or Community, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Okt. , S. -, hier: . A Declaration of Interdependence. An American Response to New Global Imperatives, A Program of The World Affairs Council of Philadelphia for the Bicentennial Era: , Hoover Institution Archives, Paul Robert Hanna Papers, box , folder . Unter ihnen waren Diplomaten und Wissenschaftler wie Harlan Cleveland und Richard N. Gardner, der Architekt Buckminster Fuller, aber auch der französische Philosoph Raymond Aron.
»neuen Weltordnung« arbeiten. Aus Sicht der Autoren der Erklärung kam dabei gerade den Vereinigten Staaten eine entscheidende Rolle zu. Das amerikanische Volk müsse wie zur Zeit der Gründung der Republik auch jetzt wieder Mut, Erfindergeist und Großherzigkeit zeigen, um eine neue Ära der menschlichen Geschichte einzuläuten. Selbst im Umfeld der Zweihundertjahrfeier der Vereinigten Staaten war das historische Pathos dieser Declaration of Interdependence eine Ausnahmeerscheinung. Die Diagnose einer fundamental veränderten Gegenwart und der dafür verwendete Begriff der »Interdependenz« waren es dagegen nicht ‒ auch die New York Times hatte den »Independence Day« am . Juli zum »Interdependence Day« erklärt. Im englischsprachigen Korpus von google n-gram lässt sich der Begriff seit immer häufiger nachweisen, der Höhepunkt seiner Verwendung lag zwischen und (siehe Abbildung ). Bezeichnet das Wort »Interdependenz« an sich »wechselseitige Abhängigkeit« zwischen zwei nicht näher festgelegten Einheiten auf ebenso undefinierten Themengebieten, wurde der Begriff in den er Jahren besonders zur Beschreibung von zunehmenden Interaktionen und wachsender Verflechtung in Weltpolitik und Weltwirtschaft verwendet, die heute als »Globalisierung« zusammengefasst werden. Schon vor den er Jahren waren neben der »Interdependenz« auch andere Begriffe wie die »Schrumpfung der Welt« oder die »Eine Welt« genutzt worden, um eine Zunahme solcher Verflechtungen zu beschreiben. Sie erreichten jedoch nie das Abstraktionsniveau und wurden nicht in A Declaration of Interdependence, October , , Hoover Institution Archives, Paul Robert Hanna Papers, box , folder . Liste der Unterzeichner unter http:// thefoundingfamily.com/wp-content/uploads///US_Declaration_of_Interdependence_.pdf (..). Das aus der Erklärung hervorgegangene Global Interdependence Center in Philadelphia ist bis heute tätig, siehe www.interdependence.org/about/ overview-mission/ (..). O. A.: Interdependence Day, NYT, . Juli , S. . Siehe auch National Education Association, A Declaration of Interdependence (). Der Befund einer interdependenten Welt und der Aufruf zu internationaler Kooperation blieben nicht unwidersprochen: Ein von Carl McIntire, einer einflussreichen Figur in der evangelikal-fundamentalistischen Bewegung, herausgegebenes Pamphlet stellte den Text der Unabhängigkeitserklärung von neben den der Declaration of Interdependence von und beschuldigte deren Unterzeichner, den »Ausverkauf Amerikas« zu betreiben. McIntire, The Sell-Out of America (). Die Definition des Oxford English Dictionary von lautet: »The fact or condition of depending each upon the other; mutual dependence«. www.oed.com/view/Entry/?redirectedFrom=interdependenceeid (..). Betrachtet man »Interdependenz« und »Globalisierung« als Quellenbegriffe, stellt sich das Problem, dass keine neutralen Kategorien mehr zu Benennung der damit beschriebenen Entwicklungen zur Verfügung stehen. In dieser Studie wird deshalb von »globalen Interaktionen« und »Verflechtungen« gesprochen, wobei immer mitgedacht werden muss, dass diese nur selten wirklich »weltweit« waren. Rothschild, The Archives of Universal History, S. f. hat aus diesem Grund die etwas sperrige Bezeichnung »Verbindungen und Verflechtungen über große Entfernungen« vorgeschlagen.
Abbildung : Häufigkeit des Begriffes »interdependence« im englischsprachigen Korpus von google n-gram.
gleichem Maße zum Kern gegenwartsdiagnostischer Debatten und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. »Interdependenz« war damit von den er Jahren bis in die er Jahre das zentrale Schlagwort der US-amerikanischen Gegenwartsdiagnostik im Bereich der internationalen Politik und Weltwirtschaft. Unter diesem Begriff wurde eine ganze Reihe von unterschiedlichen Verbindungen, Verflechtungen und Abhängigkeitsverhältnissen zusammengefasst. Die inhaltliche Füllung des Interdependenz-Begriffs, die angenommene Reichweite der Verbindungen und deren prognostizierte Folgen konnten dabei sehr unterschiedlich ausfallen. In einem waren sich jedoch viele Beobachter einig: Die Zeremonie in Philadelphia verlieh dem verbreiteten Gefühl Ausdruck, in einem neuen »Zeitalter der Interdependenz« zu leben, das sich von der Zeit davor durch den hohen Grad an grenzüberschreitender Verflechtung grundlegend unterschied. Die vorliegende Studie wird solche Gegenwartsdiagnosen und die daraus hervorgegangenen Debatten historisieren. Ihren gedanklichen Ausgangs- und analytischen Fluchtpunkt bilden die »langen er Jahre«, das heißt die Zeit zwischen dem letzten Drittel der er und dem ersten Drittel der er Jahre. Sie gelten der historischen Forschung heute als eine Periode des Umbruchs, in der nicht nur der »Nachkriegsboom« an sein Ende gekommen sei, sondern in der sich auch mehrere Transformationsprozesse gebündelt hätten. Diese reichen vom sogennanten »Strukturbruch« im Be Theoretische Überlegungen zu Gegenwartsdiagnosen in Alkemeyer/Buschmann/Etzemüller (Hg.), Gegenwartsdiagnosen. »Age of interdependence« bereits in: Program: Proclamation of the Declaration of Interdependence, Philadelphia, January , , Hoover Institution Archives, Stepan Osusky Papers, box , folder . Zudem u. a. bei Neal/Harvey (Hg.), American Foreign Policy (); Keohane/Nye, Power and Interdependence (), S. . Die »langen er Jahre«, die je nach Autor ungefähr von bis oder reichen, u. a. bei Maier, Two Sorts of Crisis?; Jarausch, Krise oder Auf bruch?; Ferguson, Crisis, What Crisis?; Villaume/Mariager/Porsdam, Introduction: The »Long s«.
reich der Produktionsregime über den Beginn eines neuen Bewusstseins für Umweltprobleme oder eine neue Bedeutung individueller Menschenrechte für die internationale Politik bis hin zu einer »Bezeichnungsrevolution«, in der sich die »neue Wirklichkeit« auch in semantischem Wandel niedergeschlagen habe. Insgesamt erscheinen die er Jahre damit als fundamentaler »Epochenbruch«. Auch im Bereich globaler Interaktion und Verflechtung gilt dieses Jahrzehnt heute als eine formative Ära und der Beginn unserer Gegenwart. Angesichts der Entwicklung neuer Transport- und Kommunikationstechnologien, der Deregulierung der Finanz- und Kapitalmärkte sowie des Beutungszuwachses transnational vernetzter Nichtregierungsorganisationen lässt sich hier der Beginn unserer heutigen, nach dem . Jahrhundert »zweiten Welle« der »modernen Globalisierung« ansetzen. Diese Interpretation der er Jahre als eine Periode wachsender globaler Verflechtung baut dabei auf zeitgenössischen Deutungen auf. Denn schon in diesem Jahrzehnt waren solche Entwicklungen in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere in der Politikwissenschaft und deren Subdisziplin der Internationalen Beziehungen, intensiv diskutiert worden. Die meisten Beobachter gingen dabei davon aus, mit neuartigen Entwicklungen konfrontiert zu sein, zu deren Verständnis sie völlig neue Ansätze entwickeln müssten. »Interdependenz« war jedoch keine »Entdeckung« oder »Erfindung« der langen er Jahre. Aus der historischen Rückschau wird deutlich, dass nicht nur der strukturelle Prozess der »Globalisierung«, sondern auch die Ausei Doering-Manteuffel/Raphael, Der Epochenbruch in den er-Jahren. Zentral: Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom; Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht. Zu den Begriffen Leendertz/Meteling (Hg.), Die neue Wirklichkeit. Zu den Menschenrechten etwa Moyn, The Last Utopia, bes. S. . Ein Überblick über die Forschungen zum Umbruchscharakter der er Jahre bei Bösch, Zweierlei Krisendeutungen; Levsen, Die er Jahre; Doering-Manteuffel/Raphael, Neue Einsichten. Den Zusammenhang mit dem Globalismus dieser Zeit stellen Andersson/Duhautois, Futures of Mankind her. Sargent, The United States and Globalization, S. ; Torp, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg, S. . Noch in den er Jahren hielten die meisten Beobachter »die Globalisierung« für einen historisch einzigartigen Vorgang, dessen Anfänge sie entweder in ihrer unmittelbaren Vergangenheit (Kenichi, The Borderless World () und Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft (), S. ) oder in den er Jahren (Giddens, Runaway World (), S. ) verorteten. Mittlerweile setzt die historische Forschung »Globalisierungen« jedoch in den Plural und geht von einem wellenförmigen Prozess aus, in dem sich Phasen von verstärkter »Globalisierung« und »De-Globalisierung« abwechselten. Siehe Nederveen Pieterse, Globalization as Hybridization, f.; Wilkinson, Globalizations; Osterhammel, Globalisierungen. Zur Periodisierung der »Globalisierung/en« vgl. Fäßler, Globalisierung, S. -; McKeown, Periodizing Globalization; Hopkins, The History of Globalization und Bayly, »Archaische« und »moderne« Globalisierung. Entsprechend der Gepflogenheit im Englischen wird im Folgenden mit »Internationalen Beziehungen« die politikwissenschaftliche Disziplin, mit »internationalen Beziehungen« deren Gegenstandsbereich bezeichnet.
nandersetzung damit eine lange Geschichte hat, deren Konjunkturen ebenfalls in Wellen verliefen. Bereits in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts setzte eine intensive Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung unter dem Begriff der »Interdependenz« ein. Dabei handelt es sich um mehr als eine Vorgeschichte: Die im . Jahrhundert etablierte Deutung wachsender Interdependenz und deren Auf brechen in den er Jahren, so die These, hatten einen großen Einfluss auf Verlauf und Charakter der Interdependenz-Debatte der er Jahre. Diese Geschichte der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit wachsender Interdependenz steht im Zentrum dieses Buches. Es historisiert solche Diagnosen globaler Verflechtung und fragt danach, wie und warum sich ihre Deutung und damit verbundene Zuschreibungen veränderten. Die Debatten der Sozialwissenschaften bildeten jedoch den Verlauf struktureller Globalisierungsprozesse nicht einfach ab oder folgten zeitversetzt der Entwicklung ihres Gegenstandes. Sie hatten vielmehr ihre eigenen Konjunkturen und Bedingungsfaktoren; sie wurden von sozioökonomischen Zeitumständen und politischen Rahmenbedingungen ebenso beeinflusst wie von disziplinären Entwicklungen. Umgekehrt wurden in den Debatten sozialwissenschaftlicher Expertinnen und Experten Begriffe und Deutungen geprägt, die in eine breitere Öffentlichkeit und in die Politik hineinwirkten. Besonders mit der »Ölkrise« im Jahr wurde Interdependenz auch aus Sicht der US-Regierung zu einem akuten politischen Problem. Sozialwissenschaftliche Handlungsempfehlungen dienten nun als Grundlage für Versuche, neue außenpolitische Ansätze zu entwerfen. Henry Kissinger, Außenminister und nationaler Sicherheitsberater der Regierungen Nixon und Ford, argumentierte beispielsweise, Außen- wie Innenpolitik der USA und ihrer Verbündeten müssten an die neuen Rahmenbedingungen einer interdependenten Welt angepasst werden. Diese Wechselwirkungen von sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen und Entwicklungen der internationalen Politik der er Jahre stehen im Zentrum dieser Studie. Bislang ist vor allem der Umgang von Regierungsakteuren in den USA und westeuropäischen Ländern mit Entwicklungen untersucht worden, die als Aspekte von »Interdependenz« oder »Globalisierung« verstanden werden. Neuere Arbeiten betrachten dieses Jahrzehnt als entscheidende Umbruchsphase für die Herausbildung eines Bewusstseins für globale Zusammenhänge und weisen auf dessen große Bedeutung für die internationale Politik dieser Zeit hin, die sie nicht mehr primär durch die Linse des »Kalten Krieges« betrachten. Dabei be Ein solcher Blick auf die Sozialwissenschaften auch bei Wagner, Sozialwissenschaften, S. -. Kissinger, Henry A.: An Age of Interdependence: Common Disaster or Community, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Okt. , S. -. Weitere Belege aus der Politik u. a. bei Congressional Research Service, Science, Technology, and Diplomacy (). Siehe u. a. Graf, Öl und Souveränität; Böhm, Die Sicherheit des Westens; Gavin/Lawrence (Hg.), Beyond the Cold War; McFarland, The New International Economic Order. Aus der Perspektive der Bundesrepublik Spohr, Helmut Schmidt; Bösch, Zeiten-
steht jedoch die Gefahr, heutige Deutungen und Begriffe zurückzuprojizieren: Daniel Sargent hat in seiner grundlegenden Arbeit A Superpower Transformed beispielsweise untersucht, wie US-Entscheidungsträger in den er Jahren auf die »Herausforderungen einer neuen Ära« reagierten. »Interdependenz« firmiert hier als ein anderer Begriff für »Globalisierung«, die als struktureller Metaprozess im Hintergrund verlaufen und als »Schock des Globalen« über die Zeitgenossen hereingebrochen sei. Dadurch habe sich die Ausgangslage für die amerikanische Außenpolitik grundlegend verändert; eine Herausforderung, auf die Zeitgenossen reagiert hätten. So unterschiedliche Themen wie Menschenrechtspolitik, Energiepolitik und die Reform der Weltwirtschaftsordnung, letztlich alles, was in den er Jahren »neu« war oder erschien, wird damit zu Aspekten der »Globalisierung« erklärt. Wie Zeitgenossen selbst globale Verflechtung deuteten und wie sie auf das übergreifende Phänomen der »Interdependenz« reagieren wollten, tritt damit in den Hintergrund. Zudem wird das Bild einer auf dem Kapitalismus aufbauenden, von den USA politisch dominierten »Globalisierung« der er Jahre auf die er Jahre übertragen. Alternative Entwicklungswege und alternative Deutungen geraten aus dem Blick. Neben der Interdependenz-Debatte in den Vereinigten Staaten wird deshalb die Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung in der Sowjetunion den zweiten Schwerpunkt dieses Buches bilden, die unter ganz anderen politischen und ideologischen Vorzeichen stattfand. Denn hier lassen sich nicht nur die Wechselwirkungen zwischen politischen Rahmenbedingungen und der Deutung globaler Verflechtung besonders eindrücklich aufzeigen. Es wird auch deutlich, dass der »Kalte Krieg« und die »Globalisierung« nicht für klar abgegrenzte Themenbereiche oder gar aufeinanderfolgende Epochen stehen, sondern ihrerseits Ausdruck von Deutungen sind. Die Auseinandersetzung mit »Interdependenz« hat ihre eigene Geschichte. Wie Zeitgenossen selbst globale Verflechtungen deuteten, welche Schlussfolgerungen sie daraus zogen und welche Konsequenzen sich für ihr Handeln daraus ergaben, waren zentrale Aspekte der internationalen Politik dieser Zeit. Denn Begriffe wie »Interdependenz« oder »Globalisierung« sind weder unterschiedwende . Eine europäische Perspektive bei Warlouzet, Governing Europe. Für einen Überblick über die Forschung Eckel, Vielschichtiger Konflikt. Stärker auf Interdependenz-Debatten gehen Kuchenbuch, »Eine Welt« und Leendertz, Interdependenz ein. Sargent, A Superpower Transformed, S. : »Globalization was foremost among the forces that changed world politics in the s.« Ähnlich bereits Sargent, The Cold War, S. . Bei Spohr, Helmut Schmidt, S. wird die »Dynamik des Zeitgeschehens« der er Jahre als »Globalisierung« zusammengefasst. »Globalisierung« als externalisierte »Bedrohung« und »Schock« bei Warlouzet, Governing Europe, S. , . Niall Ferguson, der Herausgeber des Sammelbandes, dessen Titel die einprägsame Formulierung vom Shock of the Global geprägt hat, ist sich allerdings nicht sicher, ob die Zeitgenossen die Bedeutung dieser Entwicklungen überhaupt erkannt hätten. Der Schock ist damit eher eine Bewertung aus der Rückschau. Ferguson, Crisis, What Crisis?, S. . Kritik an der Vermischung zeitgenössischer und retrospektiver Deutungsmuster bereits bei Graf/Priemel, Zeitgeschichte, S. und Eckel, Vielschichtiger Konflikt, S. f.
liche Bezeichnungen für den selben, klar zu bestimmenden Metaprozess, noch lassen sie sich jeweils auf eine spezifische Bedeutung reduzieren. Sie wurden und werden vielmehr von Akteuren je nach Kontext und Absicht unterschiedlich gebraucht. Es handelt sich in beiden Fällen um hochgradig aggregierte »Metabegriffe«, die eine ganze Reihe unterschiedlicher Phänomene unter einem Schlagwort zusammenführen und dadurch (vermeintliche) Verbindungen zwischen diesen herstellen. Wie »Interdependenz« ist auch »die Globalisierung« keine überzeitliche oder extra-soziale »Tatsache«, kein mit dem Lauf der Sonne vergleichbarer »Naturprozess«, der direkt »beobachtet« werden könnte. Die Zusammenfassung verschiedener Entwicklungen und Prozesse unter einem solchen übergreifenden Schlagwort ist vielmehr eine Konstruktionsleistung. Solche Begriffe bilden »Deutungsmuster«, die das Denken über zeitliche und räumliche Zusammenhänge strukturieren sowie politisches Handeln und damit auch jene Prozesse beeinflussen, aus deren Beobachtung sie abgeleitet worden sind. Sie sind zugleich Beschreibung und Deutung der Welt und eine Operation der Ordnungskonstruktion. Deshalb müssen solche Interpretamente als Quellenbegriffe betrachtet und konsequent historisiert werden. Der Konstruktionscharakter der »Globalisierung« ist Anfang der er Jahre zunächst von Akteuren aus dem linken Lager betont worden. Der Begriff sei keine neutrale Beschreibung struktureller Prozesse, »Globalisierung« werde vielmehr durch »Deregulierung und Liberalisierung« und die »Erpressung von Shapin, The Scientific Life, S. . Analoge Bezeichnungen sind »leere Signifikanten« (Ernesto Laclau), »Herrensignifikanten« (Jacques Lacan) oder »Metonymien«. Durch »methodischen Globalismus« lassen sich somit ähnlich artifizielle Zusammenhänge konstruieren wie durch »methodischen Nationalismus«. Siehe Osterhammel/Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. . Ähnlich Bell, Making and Taking Worlds, f. Das Bild der »Globalisierung« als »Morgendämmerung«, die man ohnehin nicht beeinflussen könne, bei Friedman, Globalisierung verstehen (), S. . Selbst als im Zuge des spatial turn Raumkonstruktionen zunehmend historisiert wurden, blieben Annahmen von »Globalität« und »Globalisierung« davon zunächst unberührt; vermutlich, weil sie anders als Raumkategorien wie die »Nation« keine Kategorisierung und Abgrenzung zu umfassen scheinen. Siehe inzwischen, mit einem Fokus auf die Wechselwirkung von Globalem und Lokalem, Rau, Räume, S. , f.; Löw, Raumsoziologie, S. -. Am Beispiel der Globalisierungs-Diagnose zeigt das Eckel, Politik der Globalisierung. Osterhammel, Globalifizierung, S. möchte deshalb »Globalisierung« als »Realprozess« von »Globalifizierung« unterscheiden, die das »Eindringen und die Übernahme von grenzüberschreitenden Erkenntnisperspektiven in bestehende Diskurszusammenhänge« bezeichnet. Siehe auch Arnason, Nationalism, Globalization and Modernity (); Bartelson, The Social Construction of Globality, S. . Zum Konzept des »Deutungsmusters« Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. -; Goetz, Wahrnehmungsund Deutungsmuster. Zur Historisierung sozialwissenschaftlicher Konzepte Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen, S. -; Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. , ; Graf/Priemel, Zeitgeschichte, bes. S. -; am Beispiel Großbritanniens Ebke, Britishness, bes. S. -.
Entwicklungsländern« »gemacht«. Die Kritik an einer solchen »neoliberalen Ideologie« des »Globalismus« ist mittlerweile auch von Rechtspopulisten aufgegriffen worden ‒ Donald Trump erklärte im Juli auf dem Parteitag der Republikaner, »Americanism, not globalism« werde sein Credo sein. Für die Forschung ist der Begriff des »Globalismus« dagegen besonders von dem Soziologen Manfred Steger nutzbar gemacht worden. Unter Rückgriff auf das von dem Philosophen Charles Taylor entwickelte Konzept des »sozialen Imaginären« spricht er von »global imaginaries« als intersubjektiv geteilten und unhinterfragten Referenzrahmen, die die Wahrnehmung der Welt strukturieren und damit soziale Praktiken vorprägen. Diese Studie greift auf Stegers Unterscheidung zwischen »Globalismus«, »Globalisierung« und »Globalität« zurück. »Globalismus« steht bei ihm für Grundannahmen, die soziale Interaktion als »weltweit« verflochten denken und von einem Zustand der »Globalität« ausgehen. »Globalisierung« bezeichnet die Zunahme solcher »Globalität«. Die Bedeutung und Reichweite des Begriffs können jedoch je nach Akteur und Situation variieren ‒ nur in Ausnahmefällen ist tatsächlich der gesamte Globus gemeint. Für Steger existieren stets verschiedene, durchaus miteinander konkurrierende Varianten des »Globalismus«. Aus einer wissenshistorischen Perspektive ist der einer bestimmten Weltdeutung zugeschriebene Grad an »Evidenz« das Ergebnis von Aushandlungsprozessen. Mit der »Evidenzerzeugung« ist ein Prozess der »Unhinterfragbarmachung« (decontestation) eng verbunden, in dem eine bestimmte Bedeutung eines Begriffes vorübergehend festgeschrieben wird. Bei So Sahra Wagenknecht, .., www.dielinke-europa.eu/article/.die-globalisierung-ist-kein-naturlaeufiger-prozess-sie-ist-ergebnis-von-politik.html (..). Siehe auch Gowan, The Global Gamble (); Rupert, Ideologies of Globalization (); George, Another World (), S. . www.chicagotribune.com/news/opinion/huppke/ct-trump-jewish-antisemitism-bannon-huppke--story. html (..). Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. nach Taylor, Modern Social Imaginaries, bes. S. , ; Taylor, A Secular Age. Ähnlich bereits Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution (). Der Politikwissenschaftler Duncan Bell spricht von Operationen des »World Making«, symbolischen Konstruktionen von Welten durch Konzeptionalisierungs- und Klassifizierungsleistungen. Bell, Making and Taking Worlds nach Goodman, Ways of Worldmaking. Vgl. Karagiannis/Wagner (Hg.), Varieties of WorldMaking; Hudson/Wilson (Hg.), Revisiting the Global Imaginary. Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. . Ähnlich, aber methodisch weniger ausgearbeitet auch schon Beck, Was ist Globalisierung?, S. -. Dazu auch Kahn (Hg.), Framing the Global. Während Steger zunächst nur von einem »neoliberalen« »market globalism« sprach, differenzierte er seine Sicht später aus. Vergleiche Steger, Rethinking, S. mit Steger, Globalisms. Vgl. dazu Gugerli/Orland (Hg.), Ganz normale Bilder nach Latour, Science in Action () sowie die Beiträge in Lethen/Jäger/Koschorke (Hg.), Auf die Wirklichkeit zeigen. Vgl. dazu Freeden, Ideologies.
besonders erfolgreichen Prozessen der decontestation kann es zu einer »Objektivierung« des Gegenstandes kommen, der fortan kaum noch als Analysebegriff für einen künstlich abgesteckten Untersuchungsbereich verstanden wird, sondern als selbstverständliche Wissensform gilt, die Pierre Bourdieu als doxa bezeichnet hat. Im Extremfall ‒ wie in manchen Strängen der GlobalisierungsDebatte ‒ wird der Gegenstand als vermeintliches Phänomen der extra-sozialen Umwelt »naturalisiert«. In Phasen »begrifflicher Unsicherheit«, in denen etablierte Begriffe die sinnhafte Einordnung neuer Beobachtungen nicht mehr ermöglichen, werden diese dagegen hinterfragt (re-contested) und neue Bedeutungen und Begriffe etabliert ‒ eine solche Phase waren die langen er Jahre. Die Arbeit versteht sich damit als Beitrag zu einer »neuen Ideengeschichte« des globalen Denkens. Dabei kann sie auf Ansätze zurückgreifen, die die Wechselwirkung von Ideen und Wirklichkeit, von Deuten und Handeln betonen und sowohl den sozialen, politischen und institutionellen Kontext von Ideen als auch deren Einfluss als »gesellschaftliche Gestaltungskraft« der »Wirklichkeit« berücksichtigen. Seit der Jahrtausendwende ist diese Perspektive auf Ideen aus dem Bereich des »internationalen Denkens« angewandt worden. In den letzten Jahren hat sich eine Global Intellectual History herausgebildet, die mit ihrer Prämisse der kulturüberschreitenden Zirkulation von Ideen selbst Produkt von Globalitätsdiagnosen ist, sich jedoch auch bemüht, »das Globale« als Narrativ und Akteurskategorie zu behandeln. Historische Arbeiten, die globalistische Gegenwartsdiagnosen im . und . Jahrhundert in der Gesamtschau in den Blick nehmen, sei es unter dem Schlagwort der »Interdependenz« oder unter anderen Begriffen, gibt es noch nicht. Die Historiografie des globalen Denkens konzentriert sich bislang auf Debatten um den Begriff der »Globalisierung«. Jan Eckel hat zwei Aufsätze zur Historisierung des Diskurses der er und er Jahre und zu den Reaktionen der Politik darauf vorgelegt. Das Forschungsprojekt Globalisation and Bourdieu, Sozialer Sinn (), S. . Zur »Verdinglichung« vgl. bereits Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (), S. f. und Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft (), S. . Zur »Naturalisierung« Mirowski (Hg.), Natural Images; Landwehr, Zur Naturalisierung. Siehe Leonhard, Semantische Deplazierung, S. ; Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte, S. . Zur »conceptual insecurity« vgl. Schulz-Forberg, Time and Again. Burke, Stärken und Schwächen, S. 128 und Raphael, Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft, S. . Vgl. u. a. Armitage, The Ideological Origins; Rothschild, Arcs of Ideas; Bell (Hg.), Victorian Visions of Global Order; Bell, Making and Taking Worlds. Vgl. Moyn/Sartori (Hg.), Global Intellectual History und das Forum »Intellectual History in a Global Age« im Journal of the History of Ideas : (), S. -. Die Gefahr des »globality bias« betonen Moyn/Sartori, Approaches, S. , und im selben Band Frederick Cooper sowie Rothschild, Arcs of Ideas, S. und Armitage, Foundations of Modern International Thought, S. f. Eckel, Alles hängt mit allem zusammen. Siehe auch den Schwerpunkt »Globalisierung« der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - () mit Beiträgen von Olaf Bach, Wolfgang Knöbl, Jan Eckel und Andreas Wirsching.
the Formation of Meaning von Paul James und Manfred Steger möchte durch Interviews mit entsprechenden Autorinnen und Autoren zu einer Geschichte des globalen Denkens beitragen. Dabei beschränkt es sich jedoch auf die Verwendung des Begriffs »Globalisierung« und gelangt damit nicht vor die er Jahre zurück. Olaf Bach hat sich in seiner publizierten Studie zur Erfindung der Globalisierung auf die »Globalisierungsrede« konzentriert, jedoch auch »Internationalismus« und die Interdependenz-Theorie ab den er Jahren als Vorläufer erwähnt. Interdependenz-Debatten in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts sind von dem niederländischen Politikwissenschaftler Jaap de Wilde untersucht worden, der sie allerdings primär als Beitrag zur Theorie der internationalen Beziehungen versteht. Er will die »guten Teile« entsprechender Arbeiten nutzen und von der »Spreu« ihres »Idealismus« reinigen, um aktuelle Theorien zu bereichern. Schwerpunkte der Forschung haben sich bislang nur punktuell etabliert: Neben der Zwischenkriegszeit ist auch das Denken in Kategorien der »Einen Welt« in den er Jahren zum Gegenstand historischer Studien gemacht worden. Nicht nur durch ihre Perspektive auf »Interdependenz« als Quellenbegriff, sondern auch durch den analytischen Längsschnitt betritt diese Arbeit somit Neuland. Teil wird sich der Auseinandersetzung mit globalen Interaktionen und Verflechtungen von der Mitte des . Jahrhunderts bis in die er Jahre zuwenden und wertet dafür vor allem publizierte Quellen sozialwissenschaftlicher Autoren aus. Besonders ab den er Jahren verhandelten Zeitgenossen unter dem Begriff der »Interdependenz« die Folgen der heute sogenannten »ersten Globalisierung«. Die Zeit zwischen den /er Jahren und den /er Jahren ist dabei von Ulrich Herbert als »Hochmoderne« beschrieben worden. Während Herbert hier auf strukturelle Prozesse wie die Industrialisierung abhebt und in den Blick nimmt, wie Zeitgenossen darauf reagierten, wird diese Arbeit zeigen, dass die Hochmoderne auch von bestimm James/Steger, A Genealogy of »Globalization«. Siehe auch Middell/Engel (Hg.), Theoretiker der Globalisierung; Jones, Globalization. Zuvor bereits in Ansätzen Chanda, Bound Together, S. -, der jedoch davon ausgeht, vor der Ersterwähnung der »Globalisierung« hätten Zeitgenossen kein Wort gehabt, um wachsende globale Verflechtung zu beschreiben (S. xi). So auch Dirlik, Global Modernity, S. und Rossow, Discourse of Globalism, S. . Dazu Armitage, Pre-History, S. . Bach, Die Erfindung der Globalisierung. Wilde, Saved from Oblivion, S. , . Vgl. u. a. Osiander, Rereading und die Beiträge in Steffek/Holthaus (Hg.), Jenseits der Anarchie. Kuchenbuch, »Eine Welt«; Rosenboim, The Emergence of Globalism. Herbert, Europe in High Modernity. In Herbert, Geschichte Deutschlands, verschiebt er das Ende dieses Zeitraums von den ern auf die er Jahre. Für eine kritische Auseinandersetzung siehe Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Auch Etzemüller, Wie entsteht historische Erkenntnis?, bes. S. - hat festgestellt, dass sich seit dem Ende des . Jahrhunderts ein spezifischer Ordnungsdiskurs herausgebildet habe. Dazu Doering-Manteuffel, Konturen von »Ordnung«.
ten Ordnungsvorstellungen und einer spezifischen Interpretation sozialer Entwicklung und wachsender Verflechtung geprägt war. Parallel zur Entfaltung verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen bildete sich im letzten Drittel des . Jahrhunderts eine hochmoderne Deutung heraus, die Interdependenz als Ergebnis von »Arbeitsteilung« und »Ausdifferenzierung«, als Aspekt sozialer »Evolution« und als Teil eines »gesetzmäßigen« Wachstums von kleinen zu großen sozialen Einheiten auffasste. Dabei standen überwiegend national verstandene Gesellschaften und Staaten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese hochmoderne Vorstellung von Interdependenz sollte die Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung für die nächsten hundert Jahre entscheidend prägen. Erst Mitte der er Jahre gerieten viele dieser Gewissheiten ins Wanken. Teil erklärt die Abkehr vom hochmodernen Interdependenz-Verständnis des . Jahrhunderts und untersucht Faktoren einer neuen Sicht auf globale Verflechtung. Besonders die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit »multinationalen Unternehmen« und anderen »transnationalen Akteuren« trug dazu bei, dass wachsende Interdependenz nicht mehr als Aspekt sozialer »Evolution« erschien, die zur Verflechtung nationaler »Gesellschaften« oder »Volkswirtschaften« geführt habe. An die Stelle des »Weltmarktes« als Summe nationaler Teilmärkte trat nun die Idee eines zusammenhängenden »globalen Marktes«. Die langen er Jahre markieren damit nicht den Beginn der Debatte über »Interdependenz«, sondern vielmehr einen Umbruch und das Ende einer spezifischen Intepretation des Begriffs, die zu dieser Zeit bereits nahezu hundert Jahre alt war. Gerade im Vergleich mit der unmittelbaren Vergangenheit der er Jahre erschien die eigene Gegenwart wegen ökonomischer und sozialer Probleme nun krisenhaft. Gleichzeitig konnten die Sozialwissenschaften ihre Deutungen dieser Entwicklungen nicht mehr mit dem gleichen Selbstbewusstsein vortragen. Denn der Evidenzverlust der hochmodernen Deutung fiel nicht zufällig in eine Zeit, als Vertreter poststrukturalistischer Ansätze die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis grundlegend in Zweifel zogen. Dieser Verlust der bisherigen Deutungssicherheit trug in den Vereinigten Staaten um die Wende von den er zu den er Jahren zu einem Gefühl der Krise und Orientierungslosigkeit bei. Den aus dieser Situation entstandenen politischen Konflikten und Reaktionsversuchen zwischen und widmet sich Teil . Er zeigt, wie Interdependenz-Diagnosen die internationale Politik dieser Zeit entscheidend prägten und umgekehrt von den politischen Entwicklungen dieser Zeit stark beeinflusst wurden. Denn besonders mit der Ölkrise von schien »Interdependenz« nun wirklich »global« und zu einem akuten politischen Problem geworden zu sein. Die Regierungen Nixon, Ford und Carter bemühten sich in den folgenden Jahren auf verschiedene Weisen darum, die globale Führungsrolle der Vereinigten Staaten auch unter den neuen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Mitte der er Jahre versuchten zudem mehrere Organisationen, Ideen und Deutungen aus der Wissenschaft in die Politik zu vermitteln und zu »übersetzen«. Dazu gehörte das Council on Foreign Relations mit seinem »’s Project« und insbe-
sondere die Trilaterale Kommission, deren Ideen über die Person Zbigniew Brzezinskis Eingang in die Bemühungen der Regierung Jimmy Carters fanden, die Vereinigten Staaten an die Spitze des globalen Wandels zu setzen und Interdependenz damit politisch zu steuern. Archivalien dieser Organisationen wurden deshalb ebenso ausgewertet wie Dokumente der Regierungen Ford und Carter sowie die privaten Nachlässe von Cyrus Vance, Eugene V. Rostow, Kurt Birrenbach und weiterer Personen. Zbigniew Brzezinski hat noch zu Lebzeiten die Einsicht in seine in der Library of Congress gelagerten Unterlagen leider abgelehnt. In der Sowjetunion wurden die amerikanischen Debatten genau beobachtet: Den »bürgerlichen« Begriff der »Interdependenz« wiesen die dortigen Wissenschaftler aus ideologischen Gründen zwar zurück. Die Theorie der »wissenschaftlich-technischen Revolution« ermöglichte es ihnen jedoch, ähnliche Fragen in einem spezifisch marxistisch-leninistischen Rahmen zu diskutieren. Dabei verfolgten viele Autoren eine klare politische Zielsetzung, begründeten sie mit der wachsenden Verflechtung der Welt doch die Notwendigkeit einer weiteren Annäherung an den »Westen«. Dadurch sollten nicht nur die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion gelöst, sondern auch die Grundlagen für eine kooperative Bearbeitung »globaler Probleme« und letztlich für eine neue weltpolitische Rolle der Sowjetunion gelegt werden. Neben publizierten Forschungsarbeiten sowjetischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind für dieses Kapitel die im Archiv der Akademie der Wissenschaften teilweise zugänglichen Bestände außenpolitischer Forschungsinstitute ausgewertet worden. Ende der er Jahre waren die Bemühungen der Regierung Carter weitgehend gescheitert, auf die Komplexität einer interdependenten Welt mit einer neuen außenpolitischen Strategie zu reagieren. Die Entspannungspolitik wich einer erneuten Verschärfung des Kalten Kriegs. Ronald Reagan trat im Wahlkampf mit einer Rhetorik an, die die Welt in binären und manichäischen Kategorien deutete und die Sowjetunion für alle Probleme in der internationalen Politik verantwortlich machte. Teil zeigt, wie die Interdependenz-Diagnose mit der Krise der Entspannungspolitik und dem »zweiten Kalten Krieg« sowohl in der Politik als auch in den Sozialwissenschaften an Überzeugungskraft verlor. An die Stelle von Versuchen, Interdependenz durch Kooperation von Regierungen politisch zu steuern, trat nun die Überzeugung, nur rationale Individuen auf einem »freien Markt« seien in der Lage, die Komplexität einer verflochtenen Welt zu durchdringen. Der Aufstieg dieser Überzeugung war auch darauf zurückzuführen, dass nur die Wirtschaftswissenschaften von den Selbstzweifeln der Sozialwissenschaften weitgehend unbelastet geblieben waren. Insofern ist es sicher kein Zufall, dass Mitte der er Jahre mit der »Globalisierung« gerade aus diesem Fach ein Begriff erwuchs, der erneut den Anspruch erhob, globale Zusammenhänge in einem Wort auf den Punkt zu bringen. Die Untersuchung endet in den er Jahren mit dem relativen Bedeutungsverlust des Begriffs der »Interdependenz« gegenüber dem der »Globalisierung« als zentralem Schlagwort der Gegenwartsdiagnostik. Nur in der Sowjetunion nutzte Michail Gorbačev den Begriff im
Rahmen seines »neuen Denkens« in der zweiten Hälfte der er Jahre noch einmal intensiv, um eine neue Rolle der Sowjetunion in der Weltpolitik und Weltwirtschaft zu begründen. Diese Bemühungen Gorbačevs scheiterten jedoch. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und dem Ende des Kalten Krieges sahen viele Zeitgenossen Anfang der er Jahre ein neues Zeitalter angebrochen, für das die alten Theorien und Begriffe nicht mehr zu gelten schienen und für das sich nun die »Globalisierung« als Epochensignum anbot. Teil wagt einen Ausblick auf die Entwicklung der Globalisierungs-Debatte in den er und er Jahren und reflektiert über deren Verhältnis zum Begriff der Interdependenz. Die Historisierung globalistischer Deutungen kann damit auch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis gegenwärtiger Problemstellungen leisten.
Gerade hier sind die Grenzen zwischen Quellen und Sekundärliteratur oft fließend und lassen sich eher nach der Perspektive denn nach einem bestimmten Publikationsjahr bestimmen. Vgl. dazu auch Mende, Nicht rechts, S. -.
. Evolution und Fortschritt ‒ Interdependenz in der Hochmoderne »Aus der Familie wurde der Stamm, aus mehreren Stämmen der Staat und die Nation und schließlich entwickelte sich aus der engen Verbindung der Nationen die Internationalität. Das ist der historische Verlauf.« August Bebel, »[T]he political and legal theories of the nineteenth century were developed by men who looked at the facts of the world of the eighteenth and nineteenth century […]. Later thinkers drew their deductions from those nineteenth-century theorists and not from looking at the changing world in which they lived. We are paying a heavy penalty for the mischievous practice of theorizing from the theories of predecessors.« Linden Mander,
Interdependenz war keine Entdeckung der er oder er Jahre. Diagnosen von Verbindungen und Verflechtungen in globalem Maßstab lassen sich seit Ende des . Jahrhunderts beobachten, nahmen um die Mitte des . Jahrhunderts zu und erreichten in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine erste Hochphase. In dieser Zeit bildete sich ein spezifisch »hochmodernes« Verständnis von sozialer Entwicklung und von Interdependenz heraus, das bis in die er Jahre die Deutung globaler Verflechtungen prägen sollte. Erst dann wurde diese Interpretation explizit thematisiert, infrage gestellt und von anderen Interpretationen abgelöst. Diese hochmoderne Sicht auf Interdependenz entstand in der Auseinandersetzung mit Phänomenen der sogenannten »ersten Globalisierung« in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts. Sie ging aber auch aus Annahmen über die »Gesetzmäßigkeiten« sozialer Entwicklung hervor, die sich im Rahmen der Etablierung sozialwissenschaftlicher Disziplinen verbreitet hatten. In Teil wird deshalb die Geschichte von Interdependenzdiagnosen vor den er Jahren beleuchtet und dabei diese spezifische Deutungsweise sozialer Entwicklung herausgearbeitet. Nur vor dem Hintergrund dieser bereits über einhundert Jahre währenden Geschichte von Interdependenz-Diagnosen wird die Tragweite des Umbruchs der er Jahre und dessen Bedeutung für die daran anschließenden Debatten der er Jahre wirklich verständlich. Denn Deutungen globaler Verflechtung in der Hochmoderne verliefen in Wellen. Nach der Herausbildung eines hochmodernen Verständnisses im späten . Jahrhundert wurden die damit einhergehenden Annahmen und Begriffe schon in den er und er Jahren wieder hinterfragt. Der Zweite Weltkrieg, der beginnende Kalte Krieg und die daraus resultierenden Entwicklungen in den Sozi Bebel/Sparig, Für und wider die Commune (), S. . Mander, Foundations of Modern World Society (), S. v, nach dem Juristen Dean Pound.
alwissenschaften führten jedoch dazu, dass auf diese Debatten nach kein Bezug mehr genommen wurde. Mehr noch, die er Jahre sollten später zu der zentralen Vergangenheit werden, vor der Beobachter der er Jahre ihre eigene Gegenwart deuteten, die ihnen im Vergleich völlig neuartig erschien.
. Die Herausbildung eines hochmodernen Interdependenzverständnisses Das Nachdenken über globale Interaktionen und Verflechtungen hat eine lange Geschichte, die bis in die europäische Antike, das Indien der Sanskrit-Ära oder zumindest die Frühe Neuzeit zurückverfolgt worden ist. Meist geht die Forschung jedoch davon aus, dass sich ein ausgeprägtes Bewusstsein für weltweite Verflechtungen im späten . Jahrhundert herausgebildet habe. In der Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit den Veränderungen ihrer Gegenwart, wozu die Verfestigung von Staatlichkeit und die Zunahme ökonomischer und kultureller Austauschbeziehungen gehörten, entstanden in dieser Zeit nicht nur die vom englischen Philosophen Jeremy Bentham geprägten Begriffe »international« und »internationale Beziehungen«, sondern auch eine Reihe von Ideen, die später als zentrale Grundannahmen des Interdependenz-Denkens gelten sollten. Schon Montesquieu und Kant hatten argumentiert, Handel trage zu Frieden bei. Adam Smith baute dieses Argument in seiner Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations weiter aus. Er argumentierte, Spezialisierung und »Arbeitsteilung« (division of labour), deren »Entdeckung« oft Smith zugeschrieben wird, führten zu einer allgemeinen Steigerung der Arbeitsproduktivität, zum Wachstum des allgemeinen Wohlstandes und zu einer harmonischen Ordnung, von der letztlich alle profitierten – später als »harmony of interests«-These bezeichnet. David Ricardo erweiterte diese Sicht um die Theorie der »komparativen Kostenvorteile«: In der »internationalen Arbeitsteilung« sei für ein Land die Spezialisierung auf ein bestimmtes Gut auch dann vorteilhaft, wenn es in allen Branchen günstiger produziere, durch Spezialisierung und Siehe etwa Schneider, Tordesillas ; Pollock, The Language of the Gods in the World of Men; Bartelson, Visions of World Community, S. -; Flynn/Giráldez, Path Dependence. Vgl. Koselleck, »Neuzeit«, S. f.; Tang, The Geographic Imagination of Modernity; Thielking, Weltbürgertum; Armitage, Foundations of Modern International Thought, S. -. Bentham, An Introduction (), S. . Vgl. Huganami, A Note on the Origin of the Word »International«; Friedmann/Hölscher, Internationale, International, Internationalismus. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (/), S. ; Kant, Zum ewigen Frieden (/). Siehe auch Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte (/). Historische Kontextualisierung bei Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Smith, An Inquiry (/), Zitate S. , , . Ähnlich Bentham, Principles of International Law (), Part IV.
Handel aber auf weniger Einheiten eines anderen Gutes verzichten müsse. Die Verfolgung des individuellen Vorteiles führte für Ricardo jedoch auch zu einer Angleichung von Interessen und damit zu einer »universellen Gesellschaft der Nationen in der gesamten zivilisierten Welt«. Für ihn wie auch für John Stuart Mill schien ungehinderter Handel demnach die beste Garantie für Frieden, Wohlstand und Fortschritt. Diese These von der friedensstiftenden Wirkung ökonomischer Interaktion und Verflechtung wurde in der Folge immer wieder genutzt, um die Abschaffung von Handelsschranken zu fordern: Schon in den er Jahren beriefen sich etwa Anhänger der britischen Anti-Corn Law League auf solche Ideen und läuteten damit eine Phase des Freihandels ein, dessen Vorteile zuvor eher postuliert als beobachtet worden waren. In der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts wurde die Annahme der friedensstiftenden Wirkung wachsender Interdependenz zum zentralen Bestandteil des »liberalen Internationalismus« erklärt, den seine Befürworter mitunter als Antithese zum konfliktträchtigen Nationalismus verstanden. Ihre Kritiker führten dagegen immer wieder gewaltsame Konflikte ins Feld, die trotz oder gerade wegen intensiver Verflechtung ausgebrochen waren, um »liberalen Internationalisten« und Vertretern von Interdependenz-Diagnosen pauschal Naivität und Voreingenommenheit zu unterstellen. In der Disziplin der Internationalen Beziehungen sind die Werke von »Klassikern« wie Kant oder Smith lange als Ausdruck von zeitlich und räumlich ungebundenen Ideen verstanden und mit dem Erkenntnisziel gelesen worden, ob ihre Thesen »richtig« waren oder für die eigene Gegenwart »nützlich« sein konnten. Die Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung im . und . Jahrhundert wurde einer »Denkschule« des »Idealismus« zugeschlagen, die Konstruktion solcher Traditionslinien diente zur Abgrenzung verschiedener Ansätze der Diszip Ricardo, On the Principles of Political Economy (). Mill, Principles of Political Economy (), Vol. II, S. (book III, ch. ). Siehe auch Cain, Capitalism, War and Internationalism, S. . Zur Debatte um die These vom Frieden durch Interdependenz vgl. auch van de Haar, The Liberal Divide over Trade. Cobden, Richard: Manchester, .., in: Bright, John/Thorold Rogers, J. E. (Hrsg.): Speeches on Questions of Public Policy by Richard Cobden, Vol. (Free Trade and Finance), London , S. -, hier: . Vgl. auch die Beiträge in Howe/Morgan (Hg.), Rethinking Nineteenth-Century Liberalism. Zur Ideengeschichte des Freihandels vgl. ausführlich Irwin, Against the Tide und Howe, Free Trade and Global Order. Weitgehend unhinterfragt wird die Bezeichnung »Internationalismus« etwa bei Murphy, International Organization, S. ff.; Geyer/Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism oder Mazower, Governing the World verwendet. Die positive Sicht etwa bei Chickering, Imperial Germany, S. f.; Ishay, Internationalism and Its Betrayal, S. xxi; Iriye, Cultural Internationalism, S. . Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff dagegen bei Latham, The Liberal Moment, S. -; Herren, Hintertüren zur Macht, S. f. und Sylvest, British Liberal Internationalism, bes. S. -. Kritik an der These vom »Frieden durch Interdependenz« noch bei Mearsheimer, The Great Delusion, S. -. Etwa von Wilde, Saved from Oblivion.
lin. Seit den er Jahren ist dieser »Mythos der Tradition« jedoch zunehmend kritisiert und die Annahme einer einheitlichen, überzeitlichen »Denkschule« des »liberalen Internationalismus« als retrospektive Konstruktion betrachtet worden. Interdependenz-Diagnosen wurden keineswegs nur von »Liberalen« vertreten, zeitgenössische Autoren sahen durchaus auch negative Folgen wachsender Interaktion und Verflechtung. Anstatt sie »Denkschulen« zuzurechnen, müssen Interdependenz-Diagnosen deshalb als Ausdruck von zeitlich und räumlich gebundenen Deutungen der jeweiligen Gegenwart historisiert werden, die je nach Sprecher, Zeit und Ort verschiedene Inhalte transportieren konnten.
Das Zeitalter der »ersten Globalisierung« und die Biologisierung des Sozialen Eine deutliche Zunahme von Interdependenz-Diagnosen lässt sich um die Mitte des . Jahrhunderts beobachten. Dahinter standen erstens Entwicklungen im Bereich des Welthandels, im Bereich der Migration sowie weitere Phänomene, die heute als »erste Globalisierung« beziehungsweise erste Hochphase der »modernen Globalisierung« zusammengefasst werden. Nachdem auf eine vom Freihandel dominierte Phase seit der Jahrhundertmitte in den er und er Jahren eine neue protektionistische Welle gefolgt war, gelten heute besonders die Jahre zwischen und als erstes »goldenes Zeitalter der Globalisierung«. Carr, The Twenty Years’ Crisis (/) unterschied zwischen »realism« und »utopianism«, Herz, Politischer Realismus und Politischer Idealismus () zwischen »Realismus« und »Idealismus«. Später folgten die meisten Autoren dem Dreierschema Hedley Bulls, der eine »realistische Tradition« (Thomas Hobbes), eine »universalistische Tradition« (Immanuel Kant) und eine »internationalistische Tradition« (Hugo Grotius) ausmachte. Bull, The Anarchical Society (), S. ff. Dabei baute er auf Vorlesungen Martin Wights aus den er Jahren auf, siehe Wight, International Theory (), S. -. Für zusätzliche Klassifizierungsmöglichkeiten siehe Krell, Weltbilder und Weltordnung, S. f. Kritisch gegen »continuism« dieser Art Keene, International Political Thought. Llanque, Geschichte politischen Denkens spricht hier von »Ideenpolitik« statt Ideengeschichte. In der Disziplin der Internationalen Beziehungen zuerst Gunnell, The Myth of Tradition; Gunnell, Political Theory. Im deutschen Sprachraum besonders Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens I und II. Versuche einer Unterscheidung verschiedener Varianten des »Liberalismus« bei Jahn, Liberal Internationalism, S. ; des »Internationalismus« bei Halliday, Three Concepts of Internationalism und Knock, To End All Wars. Ähnlich schon Lyons, Internationalism in Europe (), S. f. Dazu auch Paulmann, Reformer, Experten und Diplomaten, S. f. Kuehl (Hg.), Biographical Dictionary of Internationalists, S. x hat sogar dafür plädiert, den Begriff des »liberalen Internationalismus« nach Möglichkeit zu vermeiden. Stille, Alexander: Globalization Now, A Sequel of Sorts, NYT, . Aug. , S. B-B. Zur »Globalisierung« der er Jahre Wilson, Heyday. Zum Vergleich der Globalisierung des . Jahrhunderts mit der der er Jahre Torp, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg, S. , -- sowie die dort genannte Spezialliteratur. Eine skeptischere
Das globale Währungssystem des »Goldstandards« beförderte nun die Entstehung eines »Weltmarktes«. Die Industrialisierung, technische Innovationen und die Ausweitung des Welthandels veränderten die Lebenswirklichkeit vieler Menschen grundlegend. Zeitgenossen beschrieben diesen Wandel als »Beschleunigung« der Zeit und »Schrumpfung« des Raums. Ab den er Jahren griffen »Deutungen der eigenen Situation in ›Welt‹-Kategorien« um sich, Begriffe wie »Weltwirtschaft« und »Weltpolitik« fanden jetzt Eingang in den deutschen Wortschatz. Am Ende dieser Phase, im Jahr , beschrieb der deutsche Ökonom Paul Arndt die »Weltwirtschaft« als ein »Netzwerk« mit »äußerst kunstvoll verschlungen[en] wirtschaftlichen Fäden«, die die ganze Erde überzögen und die »den einzelnen Wirtschaftsbetrieb, auch den kleinsten und bescheidensten, in der modernen Welt mit Millionen anderer Wirtschaftsbetriebe« verbänden. Diagnosen globaler Verflechtung hatten jedoch schon um die Mitte des . Jahrhunderts unter dem Begriff der Interdependenz eingesetzt. Ein früher und heute häufig zitierter Beleg stammt von Karl Marx und Friedrich Engels, die im Kommunistischen Manifest feststellten, die »Bourgeoisie« habe »durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet«: »Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. […] An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.« Während Karl Marx wegen dieser und ähnlicher Beobachtungen zum »ersten bedeutsamen Theoretiker der Globalisierung« erklärt worden ist, waren es jedoch in erster Linie die »bürgerlichen« Wissenschaften wie die Ökonomie oder die Soziologie, die ihre Gegenwart ab den er Jahren als eine weltweit ver-
Sicht dagegen bei Hobsbawm/Politio, On the Edge, S. ; Bairoch, Economics and World History, S. - und Bairoch/Kozul-Wright, Globalization Myths. Zum Goldstandard u. a. Eichengreen, Globalizing Capital, Kap. . Zahlen bei Pollard, Free Trade; Maddison, The World Economy (). Zur »Globalität« der »Industrialisierung« vgl. etwa Inikori, Africans and the Industrial Revolution. Vgl. Geppert/Kössler (Hg.), Obsession der Gegenwart. Conrad/Osterhammel, Einleitung, S. . Vgl. auch Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. ; Osterhammel, Auf der Suche nach einem . Jahrhundert, S. ; Bell, Democracy and Empire. Zu den Begriffen Sluga, Internationalism, S. -. Arndt, Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft (), S. f. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei [], in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: , f., Hervorhebung MD. Schon in der ersten englischen Übersetzung von Helen Macfarlane findet sich die Formulierung »inter-dependence among nations« für die »allseitige Abhängigkeit der Nationen«. The Red Republican :, . Nov. , S. . Eine vergleichbare Interdependenz-Diagnose findet sich etwa auch bei List, Das nationale System (), S. , , , einem erklärten Gegner des »Freihandelsliberalismus«.
netzte beschrieben und sich dabei explizit des Begriffes der Interdependenz bedienten. Die Entstehung eines hochmodernen Verständnisses globaler Verflechtung war damit zweitens auch eine Folge von Veränderungen auf der Seite der Beobachter, insbesondere der Herausbildung der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts in Reaktion auf die beobachteten Veränderungen der »Moderne« konsolidierten und diese Zeit zu einer Phase »gesteigerter Selbstreflexion« machten. Dass »bürgerliche« Beobachter und ihre Kritiker wie Karl Marx so übereinstimmend wachsende Verflechtungen und Abhängigkeiten diagnostizierten, ist nicht nur auf die Beobachtung der gleichen Phänomene, sondern auch auf ein gemeinsames Verständnis sozialer Entwicklung zurückzuführen. Die Mehrheit der Philosophen, Sozialwissenschaftler und Publizisten vertrat bis weit in das . Jahrhundert hinein eine hochmoderne Sicht auf Geschichte als gerichteten Prozess, betrachtete den Menschen als grundsätzlich rationalen und kooperationsfähigen Akteur und hing einer positiven Sicht auf Wandel als soziale »Evolution« und einem daraus abgeleiteten Fortschrittsoptimismus an. Besonders Vertreter der noch jungen Soziologie entwickelten ihre Voraussagen durchaus aus historischen und aktuellen Beobachtungen, nutzten jedoch auch aus den Naturwissenschaften entlehnte Methoden und setzten soziale mit biologischen Prozessen gleich. Soziale Entwicklung beschrieben sie demnach mit Kategorien der Biologie als »Evolution« von kleinen zu immer größeren Einheiten und verlängerten die so gewonnenen »Gesetzmäßigkeiten« in die Zukunft hinein. Bereits Henri de Saint-Simon und seine Anhänger hatten sich im frühen . Jahrhundert soziale Prozesse als konzentrische Kreise vorgestellt, deren größter schließlich die gesamte Menschheit umfassen werde. Auguste Comte, der Urheber der Bezeichnung »Soziologie«, ging von einer »natürlichen Entwicklung« menschlicher Gesellschaften aus, die er als stufenweisen Fortschritt in drei Stadien beschrieb und mithilfe seiner »sozialen Physik« beeinflussen wollte. Der Tübinger Nationalökonom und Soziologe Albert Schäffle übertrug in seinem Hauptwerk Bau und Leben des sozialen Körpers (-) besonders explizit biologische Gesetze auf Staat und »Gesellschaftskörper«: Der »Stufengang der natürlichen und der socialen Schöpfung« habe durch »Daseinskampf« und »sociale Auslese« von der »Horde« über die »Völkerschaft«, die feudale Ge Zu Marx Bromley, Marxism and Globalisation, S. . Vgl. auch Mergel, Marx, Engels und die Globalisierung. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. . Wandel wird hier positiv verstanden, da ihn rationale Akteure durch ihre Kontrolle über ihre natürliche und soziale Umwelt mithilfe von Wissenschaft und Technik in die Bahn des »Fortschritts« lenken können. Vgl. Knutsen, A History, S. -, -, f.; Ninkovich, Global Dawn, S. -. Vgl. u. a. Heilbron, Social Thought and Natural Science. Max Weber kritisierte dagegen die Überzeugung, dass man »Weisungen für praktische Wertungen aus ›Entwicklungstendenzen‹ ableiten solle, müsse oder doch könne« heftig, wurde damit jedoch kaum gehört. Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit« (-), S. . Comte, Plan der wissenschaftlichen Arbeiten (), S. , .
sellschaft, stadtstaatliche und territorialstaatliche Gemeinwesen bis zu den modernen »National- und Nationalitätengemeinwesen« der Gegenwart geführt. Wachsende Interdependenz erschien demnach zum einen als konkrete Folge von Veränderungen der unmittelbaren Vergangenheit und Gegenwart, insbesondere technologischer Errungenschaften, gleichzeitig aber auch als allgemein gültige »Gesetzmäßigkeit« sozialer Entwicklung. Denn je größer soziale Gruppen wurden, desto höher erschien auch ihre Komplexität und desto notwendiger wurden »Spezialisierung« und »Arbeitsteilung«. Mit dieser »Ausdifferenzierung« ging, so die Annahme, wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Einheiten größerer sozialer Gruppen, ergo Interdependenz, einher. Auch der englische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer vertrat in den er und er Jahren evolutionäre Vorstellungen von sozialen Zusammenhängen. Gesellschaften seien einem Prozess des stetigen Wachstums unterworfen, wobei ihre Teile ungleicher würden. Diese »ungleichen Teile« übernähmen »zugleich Tätigkeiten verschiedener Art«, von denen »die eine erst die andere möglich« mache. Dadurch würden Gesellschaften komplexer und ausdifferenzierter, aber auch verflochtener: »Die wechselseitige Unterstützung, welche sie sich auf diese Weise gewähren, verursacht dann wieder eine wechselseitige Abhängigkeit der Teile, und indem die wechselseitig abhängigen Teile so durch und füreinander leben, bilden sie ein Aggregat, das nach demselben allgemeinen Grundsatze aufgebaut ist wie ein einzelner Organismus.« In seiner Abhandlung Specialisation of Functions and Division of Labour () analysierte Spencer die Arbeitsteilung sowohl als Voraussetzung wie auch als Ergebnis dieser gesellschaftlichen »Evolution«: »Fortschritt« sei die Entwicklung menschlicher Gesellschaften von der »unzusammenhängenden Homogenität« primitiver Gemeinschaften zur »zusammenhängenden Heterogenität« komplexerer Organisationen. In Auseinandersetzung mit Spencer verfasste der französische Soziologe Émile Durkheim seine Dissertationsschrift Über soziale Arbeitsteilung. Darin ging er der Frage nach, wie es sein könne, dass »das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt?«. Durkheim hatte Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers (/), S. -. In Band beschrieb Schäffle die Volkswirtschaft als »Stoffwechsel« und »Organsystem« des sozialen Körpers. Dabei waren der zweiten Auflage schon viele der biologischen Analogien gestrichen worden, »durch deren Ausführung die . Auflage viel Anstoß erregt hat«. Ebd., S. iv. Etwa Constant, Principes de politique applicables II (). Deutsch nach Spencer, Die Prinzipien der Soziologie (), S. . Zur evolutionären Sicht auf das Soziale allgemein Sanderson, Evolutionism and its Critics. Specialisation of Functions and Division of Labour, in Spencer, The Principles of Sociology (), Part VIII, Chapter II, S. -. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung (), S. . Vgl. ausführlicher Perrin, Émile Durkheim’s Division of Labor.
auch die Arbeiten des Tübinger Soziologen Schäffle intensiv rezipiert und stellte sich »moderne« Gesellschaften als nach außen klar abgegrenzte, nach innen relativ einheitliche soziale Zusammenhänge vor, in denen die einzelnen Teile alle aufeinander bezogen waren. In einer solchen funktional ausdifferenzierten, arbeitsteiligen Gesellschaft seien Individuen nicht nur durch »mechanische Solidarität«, das heißt wegen ihrer Interessen voneinander abhängig, sondern auch durch das Gefühl, aufeinander angewiesen zu sein, das Durkheim als »organische Solidarität« bezeichnete. Durch die Komplexität der modernen Gesellschaft könne es jedoch zum Zustand der »Anomie« kommen, zum Zurückbleiben der »organischen Solidarität« hinter dem Stand der Arbeitsteilung.
Die Erfindung der nationalen »Gesellschaft« Nicht nur bei Durkheim, auch bei den meisten anderen Soziologen des späten . Jahrhunderts war die »Gesellschaft« der zentrale Gegenstand und Analyserahmen, innerhalb dessen solche Prozesse der »Spezialisierung« und »Ausdifferenzierung« untersucht wurden. Die »Gesellschaft« war jedoch kein unabhängig von ihrer Beobachtung ›aufzufindendes‹ Objekt. Erst als das hochmoderne Verständnis sozialer Entwicklung in den er und er Jahren an Evidenz verloren hatte wurde thematisiert, dass die Soziologie diesen Rahmen für ihre Untersuchung selbst gesteckt hatte. Mehr noch, die »Gesellschaft« war erst aus dem »Geist der Soziologie« geboren worden, um ihr einen spezifischen Gegenstand zu geben. Seit dem . Jahrhundert war sie nach ›innen‹ zunehmend von »Staat« getrennt gedacht worden, ihre Abgrenzung nach ›außen‹ wurde gleichzeitig immer stärker mit den Grenzen der »Nation«, der »Kultur«, des »Volkes« und des »Staates« gleichgesetzt. Soziale Zusammenhänge wurden in diesem Rahmen untersucht, Veränderungen nicht als Ergebnis von Austauschbeziehungen, sondern von Entwicklungen innerhalb der jeweiligen »Nationalgesellschaft« verstanden. Damit trugen die Sozialwissenschaften zur »Verdinglichung« von »Gesellschaft« und »Nation« und zur »Naturalisierung« des nationalen Rahmens für das soziale Zu Durkheims Schäffle-Rezeption siehe Feuerhahn, Zwischen Individualismus und Sozialismus. Ausgearbeitet v. a. in Durkheim, Le suicide (). Tenbruck, Emile Durkheim () sieht hier besonders Werk und Rezeption Émile Durkheims als entscheidend. Siehe dazu auch Wagner, An Entirely New Object. Robert Mohl hatte noch betont, »hinsichtlich ihres Umfangs« müssten sich soziale Zusammenhänge »keineswegs nach den politischen Abgrenzungen richten«. Mohl, Gesellschafts-Wissenschaften (), S. . Diese Sicht wurde jedoch nicht nur in Deutschland zunehmend marginalisiert. Für John Stuart Mill war es eine »notwendige Bedingung freier Institutionen«, dass sich die »Grenzen von Regierungen« mit denen von »Nationalitäten« deckten. Mill, Considerations on Representative Government (), S. f. Entsprechend skeptisch blickte Mill auf die Aussichten einer »Weltföderation«. Siehe ebd., S. . Vgl. dazu Angermann, Das »Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft«; Riedel, Gesellschaft, Gemeinschaft; Smelser, Problematics of Sociology.
Leben bei. Fortan wurde die Welt im Rahmen des »methodischen Nationalismus«, der die Sozial- und Geisteswissenschaften bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein prägen sollte, als Nebeneinander von »Nationalgesellschaften« und »Nationalstaaten« imaginiert. Nach diesem Denken bildeten die »Nationalund Nationalitätengemeinwesen« (Schäffle) des späten . Jahrhunderts den Zielpunkt der angenommenen sozialen »Evolution«. Im Zuge zunehmender Arbeitsteilung hätten die einzelnen Bestandteile der verschiedenen Nationalgesellschaften immer spezialisiertere Rollen übernommen, seien dadurch jedoch voneinander immer abhängiger geworden ‒ die beobachtete Nationalisierung sozialer Zusammenhänge war hier in eine allgemeine Theorie überführt worden. Allerdings bildeten Nationalgesellschaft und Nationalstaat im Denken des späten . Jahrhunderts zwar die politischen Ziele, beziehungsweise den bereits erreichten Stand der Entwicklung der Gegenwart, jedoch keineswegs den Endpunkt des historischen »Fortschritts«. Denn soziale »Evolution« und Arbeitsteilung schienen auch darüber hinaus zu einem nahezu gesetzmäßigen Wachstum von kleinen zu immer größeren sozialen Einheiten zu führen. Albert Schäffle etwa vertrat die Auffassung, aus dem »einfachen, wenig differenzierten Grundorganismus einfacher Völkerschaften« seien mittlerweile bereits »große nationale und internationale Organsysteme« geworden. Die »Tendenz der Verwachsung« werde immer stärker und führe »zu ersten wahrhaft menschheitlichen Wechselbeziehungen und Verknüpfungen«. Auch die Nationalstaaten würden in der Zukunft zu Elementen, Gliedern und Organteilen einer »internationalen, schließlich menschheitlichen Gesellschaft«. Die international interagierenden und wechselseitig abhhängigen Einheiten waren damit im hochmodernen Denken fast immer »Nationen«, für die das »universelle Gesetz der Interdependenz« im Weltmaßstab ebenso zu gelten schien wie für Individuen und Gruppen innerhalb von »Gesellschaften«. Im späten . und frühen . Jahrhundert breitete sich das hochmoderne Verständnis sozialer Entwicklung und globaler Verflechtung über die Sozialwissenschaften hinaus aus. Spencers evolutionäre Soziologie wurde zur Grundlage des politischen Denkens vieler »Internationalisten« und des »new liberalism« in Großbritannien. Die Vorstellung, dass »Internationalismus«, möglicherweise Siehe etwa Bluntschli, Lehre vom modernen Staat (), S. . »Methodischer Nationalismus« erstmals bei Smith, Nationalism in the Twentieth Century (), S. . Vgl. dazu auch Glick Schiller/Wimmer, Methodological Nationalism and Beyond; Chernilo, Social Theory’s Methodological Nationalism; Beck, Was ist Globalisierung?, S. f.; Beck/Grande, Jenseits des methodologischen Nationalismus. Vgl. Hobsbawm, Nations and Nationalism since , S. . Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers (/), S. , Hervorhebung im Original. Lieber, Notes on Fallacies Peculiar to American Protectionists (), S. ; Lieber, Nationalism and Internationalism (), S. , . Zu Spencers Einfluss auf »liberale Internationalisten« wie J. A. Hobson oder Norman Angell vgl. Herren, Hintertüren zur Macht, S. und die Belege bei Sylvest, British Liberal Internationalism, S. f.
gar eine »Weltgesellschaft« die evolutionäre Fortentwicklung von Nationalismus und nationalen Gesellschaften seien, ermöglichte es ab dem letzten Drittel des . Jahrhunderts, Nationsbildung und internationale Zusammenarbeit nicht als Widersprüche betrachten zu müssen. Denn beide erschienen nun als notwendige Schritte auf dem Weg des sozialen »Fortschritts«: »Aus der Familie wurde der Stamm, aus mehreren Stämmen der Staat und die Nation und schließlich entwickelte sich aus der engen Verbindung der Nationen die Internationalität. Das ist der historische Verlauf«, erklärte etwa August Bebel .
Nationen und Imperien ‒ Weltpolitik und Weltwirtschaft im Zeichen der Interdependenz Solche hochmodernen Vorstellungen von sozialer Entwicklung hatten ab dem letzten Drittel des . Jahrhunderts enormen Einfluss auf die Deutung globaler Verflechtung. Obwohl das Wachstum der Interdependenz von Staaten und Gesellschaften als »Gesetzmäßigkeit« der sozialen »Evolution« weitgehend unabhängig von politischen Entscheidungen voranzuschreiten schien, stellte sich jetzt immer dringender die Frage, wie auf diese Entwicklung politisch zu reagieren sei. Die Folgen wirtschaftlicher Verflechtung, das Für und Wider von Freihandel und Migration wurde besonders in den letzten beiden Jahrzehnten des . Jahrhunderts in vielen Ländern intensiv diskutiert. Dahinter stand die grundlegende Frage, ob die wachsende Verflechtung positiv oder eher negativ zu bewerten war. Insgesamt dominierten zwischen den er Jahren und dem Ersten Weltkrieg positive Erwartungen ‒ wachsende Interdependenz wurde als soziale »Evolution« im Rahmen des zivilisatorischen »Fortschritts« gedeutet. Francis Lieber, in Preußen geboren und später Professor für Öffentliches Recht an der Columbia University, sah die Menschheit noch in der »nationalen Periode«. Schon bald werde jedoch eine »internationale Periode« anbrechen und sich die »community of nations« zu einem »commonwealth of nations« weiterentwickeln. Jahre später war dieser Moment für den britischen Journalisten W. T. Bebel/Sparig, Für und wider die Commune (), S. . Ähnlich La Fontaine/Otlet, La Vie Internationale (), S. . Vorstellungen von der Nation als funktionalem Äquivalent der Familie im Weltmaßstab finden sich auch noch bei Zimmern (Hg.), Nationality and Government (), S. . Vgl. auch Hobsbawm, Nations and Nationalism since , S. f. Zu den Debatten um Freihandel und Protektionismus u. a. Goldstein, Ideas, Interests, and American Trade Policy; Eckes, Opening America’s Market, Kapitel und ; Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Die deutschen Debatten um die Mobilität von Arbeit behandelt ausführlich Conrad, Globalisierung und Nation. Zu Pass- und Migrationsregimen vgl. Fahrmeir, Passports and the Status of Aliens; Huber, Multiple Mobilities. Lieber, Nationalism and Internationalism (), S. . Zum bewegten Leben Liebers vgl. Mack/Lesesne (Hg.), Francis Lieber and the Culture of the Mind.
Stead bereits gekommen. Das »Jahrhundert des Nationalismus« sei jetzt vorüber, das . werde das »Jahrhundert des Internationalismus« werden. Allerdings waren sich die Zeitgenossen der potenziell negativen Folgen zunehmender grenzüberschreitender Interaktion durchaus bewusst: Das geringste Problem war noch, dass die Einebnung kultureller Unterschiede das Reisen in Zukunft eintönig machen werde. Andere Beobachter fürchteten dagegen die Verbreitung von Seuchen oder die psychologischen Konsequenzen von Technologie, Informationsflut und steigendem Konkurrenzdruck. Ökonomen waren in Sorge, dass sich in Zukunft wegen der nun unendlichen Zahl an »wechselseitig abhängigen Interessen« Finanz- und Wirtschaftskrisen weltweit ausbreiten könnten. Die besorgniserregendste Beobachtung war für zeitgenössische Kommentatoren jedoch, dass das angenommene soziale »Entwicklungsgesetz« und konkret zunehmende Verflechtungen zu internationalen Spannungen in Europa und zwischen den Kolonialreichen führten. Denn wenn soziale Einheiten »gesetzmäßig« immer größer wurden, mussten Staaten expandieren, um nicht zu verschwinden. Der deutsche Geograf Friedrich Ratzel hatte schon »Wachstum« als beste Strategie beschrieben: Alle »Völkereigenschaften, die der politischen Expansion« entgegenkämen und die »Bildung größerer Räume« begünstigten, seien »immer von besonderem Wert«. Nach zwei Jahrzehnten kolonialer Expansion stellte der britische Geograf Halford Mackinder fest, die Welt sei nun aufgeteilt und ein »geschlossenes politisches System« von weltweitem Ausmaß entstanden. Regierungen müssten sich deshalb von territorialer Expansion auf einen Kampf um »relative Effizienz« umstellen. Während Vertreter der sogenannten »Geopolitik« darüber nachdachten, wie sich Staaten in diesem scheinbar unvermeidlichen Wettbewerb durchsetzen konnten, stand für andere Beobachter die Frage im Mittelpunkt, wie seine Austragung unter den neuen Bedingungen der Interdependenz friedlich gestal Stead, The Century of Internationalism (). Siehe u. a. auch Fried, Das internationale Leben (), S. iii; Reinsch, Public International Unions (), S. . Siehe die Belege bei Ninkovich, Global Dawn, S. -, -. In diesem Sinne Seeley, The Expansion of England (), S. . Ratzel, Anthropogeographie (), S. . Siehe auch Ratzel, Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten (). Ratzel leitete aus diesem »Wachstumsgesetz« die Unausweichlichkeit des Kampfes um Raum ab. Siehe Ratzel, Politische Geographie (). Mackinder, The Geographical Pivot of History (), S. . Auch Lenin, Wladimir I.: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): W. I. Lenin: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: f., -, , f., hielt die Welt für »aufgeteilt«. Anders als Luxemburg, Rosa: Die Akkumulation des Kapitals: Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus [], in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Rosa Luxemburg – Gesammelte Werke. Band , Berlin (Ost) , S. - ging er jedoch nicht davon aus, dies werde notwendigerweise zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen. Auch eine »Neuaufteilung« komme infrage, allerdings nur durch Krieg. Vgl. auch Kearns, Prologue: Fin de Siècle Geopolitics; Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes.
tet werden könne. Denn Konkurrenz zwischen Nationen galt nicht per se als schlecht; in gewaltfreier Form führe sie zu Fortschritt und Verflechtung. Manchen Autoren schwebte hier ein »Weltstaat« mit einer »Weltregierung« vor, in dem Nationen und Staaten letztlich aufgehen würden. Der französische Sozialist Gustave Hervé war sich im Jahr beispielsweise sicher, der wissenschaftliche und technische Fortschritt habe nationale Grenzen bereits zum Anachronismus gemacht. In absehbarer Zukunft werde es die »Vereinigten Staaten von Europa«, schließlich die »Vereinigten Staaten der Welt« geben. Die meisten Autoren, die dem »liberalen Internationalismus« zugerechnet werden, wollten die »Unterschiede der Völker und Sprachen, Rassen und Kulturen« gerade nicht »aufgehoben, ausgemerzt und gänzlich verwischt« sehen, wie es ihnen Arthur Moeller van den Bruck in den er Jahren unterstellen sollte. Solche Positionen schrieben »liberale Internationalisten« ihrerseits einem »falschen« Internationalismus oder dem »Kosmopolitismus« zu. Während dieser in egoistischer Weise vom Individuum, der »Imperialismus« von »einem gegebenen Staate« ausgehe, beruhe der Internationalismus »auf einer Vielheit von Staaten«, so zum Beispiel der Schweizer Völkerrechtler Max Huber. Statt einer »Universalmonarchie« als »Moloch einer unnatürlichen Einheit« strebten »Internationalisten« wie der Schweizer Politikwissenschaftler und Jurist Johann Caspar Bluntschli deshalb einen »Gesamtbund« aus Staaten an, der die Unabhängigkeit der Völker ebenso garantiere wie den Frieden. Auch hinter solchen Vorstellungen stand die These der sozialen »Evolution«, die nur über die Nationen zur »Weltgesellschaft« führen werde: Für den britischen Liberalen John Atkinson (J. A.) Hobson war der Nationalismus in diesem Denken »ein gerader Weg zum Internationalismus«, der Berner Philosophieprofessor Ludwig Stein stilisierte ganz im Sinne der hegelschen Dialektik den Kosmopolitismus zur These, den Nationalismus zur Antithese und den Internationalismus zur Synthese der historischen Entwicklung. Um die zeitgenössischen Entwicklungen von Nationalstaatsbildung und wachsender Verflechtung, von kolonialer Konkurrenz und dem Versprechen internationaler Kooperation in Einklang bringen und in ein Fortschrittsnarrativ einfügen zu können, nahmen »liberale Internationalisten« noch zwei weitere Abgrenzungsoperationen vor: Erstens unterschieden sie »guten« von »schlechtem« Nationalismus. Für die positive Variante stand aus britischer Sicht besonders
Reinsch, World Politics (), S. . Hervé, L’Internationalisme (), bes. S. -. Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich (/), S. . Huber, Beiträge (), S. ; Butler, A World in Ferment (), S. -; Lange, Histoire de l’internationalisme (), S. . Zudem Mauss, Nation, nationalité, internationalism (). Vgl. die Beiträge in Long/Schmidt (Hg.), Imperialism and Internationalism. Die Idee des »egoistischen Kosmopoliten« findet sich schon bei Rousseau, vgl. van den Heuvel, Cosmopolite, S. f. Bluntschli, Weltmacht und Weltreich (), S. f. Hobson, Der Imperialismus (), S. ; Stein, Cosmopolitisme (), S. . Ähnlich auch Zimmern (Hg.), Nationality and Government ().
Giuseppe Mazzini, der durch die Zusammenarbeit republikanischer Nationalstaaten ein friedliches Europa habe schaffen wollen. Die bedrohliche Variante repräsentierte dagegen der preußisch-deutsche Nationalismus. Zweitens unterschieden besonders britische Beobachter wie J. A. Hobson zwischen progressivem »Nationalismus« und dessen »Pervertierung« im »Imperialismus«, der »die gesunde, anregende Rivalität verschiedener nationaler Typen in einen mörderischen Kampf konkurrierender Imperien« verwandele. Richtig verstandener Nationalismus und Internationalismus als Reaktion auf wachsende globale Verflechtung waren für diese Autoren demnach keine Gegensätze, sondern »siamesische Zwillinge«, beide untrennbar verbundene Bestandteile des Projekts einer »liberalen Moderne«. Schon der schottische Jurist James Lorimer hatte betont, nationale »Souveränität« und »Unabhängigkeit« entstehe nicht im Gegensatz zu, sondern nur »in und durch die Anerkennung internationaler Abhängigkeit«. Entsprechend argumentiert auch die heutige Forschung, »Prozesse globaler Verflechtung und die Herausbildung nationaler Partikularität« hätten sich gegenseitig bedingt. Die meisten Zeitgenossen gingen dagegen von einem »evolutionären« Wachstum sozialer Einheiten aus, in dessen Verlauf Nationalstaaten von internationalen Formen politischer Ordnung abgelöst würden. Diesen Zeitpunkt sahen Beobachter in verschiedenen Ländern bereits in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg gekommen. Sie waren jetzt überzeugt, grenzüberschreitende Verflechtungen hätten die Vorstellung »souveräner« und »autarker« Staaten Siehe Verbrüderung der Völker (), Die Mitarbeiter der Giovine Italia an ihre Mitbürger (), abgedruckt in Flesch, Siegfried: Giuseppe Mazzini: Politische Schriften, Leipzig , S. -, -; Humanité et Patrie (), La santa alleanza dei popoli (), abgedruckt in Recchia, Stefano/Urbinati, Nadia (Hrsg.): A Cosmopolitanism of Nations. Giuseppe Mazzini’s Writings on Democracy, Nation Building, and International Relations, Princeton , S. -, -. Für die Unterscheidung zwischen italienischem und deutschem Nationalismus siehe u. a. Gooch, Nationalism (), f. Siehe Hobson, Imperialism: A Study (), S. , f., , f. Zitat nach Hobson, Der Imperialismus (), S. . Als »Gegensätze« bei Iriye, Cultural Internationalism, S. ; als »Zwillinge« bei Nairn, Internationalism and the Second Coming, S. . Lorimer, The Institutes of the Law of Nations (), S. . Conrad, Globalisierung und Nation, S. und Conrad/Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen, S. . Dazu auch Karl, Staging the World; McKeown, Periodizing Globalization, S. ; Sassen, Das Paradox des Nationalen. Bartelson, The Social Construction of Globality geht sogar davon aus, die Herausbildung von Vorstellungen der Welt als ein zusammenhängender Raum sei die Voraussetzung für das Denken in territorial abgegrenzten Staaten und Nationen gewesen. Der Nationalismus hatte dabei selbstverständlich längere Wurzeln und war durch eine Reihe von Faktoren bedingt. Er war mehr als ein »backlash« gegen die Globalisierung des 19. Jahrhunderts, wie dies etwa James, The End of Globalization, S. 13 impliziert. Conrad und andere argumentieren vielmehr, der Nationalismus habe auch wegen der wachsenden globalen Verflechtung in der Hochmoderne einen »Formwandel« durchlaufen.
obsolet gemacht. Der britische Soziologe Leonard Trelawny (L. T.) Hobhouse stellte fest, die »alte Doktrin der absoluten Souveränität« sei tot. Die großen Staaten der Gegenwart seien komplexe Systeme der »Regierung innerhalb der Regierung«. Philip Marshall Brown, Professor für internationales Recht und Diplomatie in Harvard, argumentierte , »die Vorstellung von Staaten, die absolut unabhängig voneinander leben, gerade so als befänden sie sich im Naturzustand«, sei mittlerweile ein Anachronismus. Schon fünf Jahre zuvor hatte Max Huber festgestellt, dem Völkerrecht fehle noch das Instrumentarium zur Beschreibung dieser neuen Situation. Der statische Souveränitätsbegriff müsse deshalb durch ein Konzept ersetzt werden, das den Gegensatz »zwischen der staatlichen, territorialen Souveränität und der Tatsache, daß kein Staat eine volle wirtschaftliche und kulturelle ›Souveränität‹« genieße, konzeptionell fassen könne. Bei den meisten Autoren schienen diese Entwicklungen jedoch nicht auf einen »Weltstaat« oder eine »Weltförderation«, sondern auf ein Nebeneinander von kooperierenden Imperien hinauszulaufen, die weit größere Räume umfassten als die bisherigen Nationalstaaten. Diese Beobachtung verweist auf den kolonialen Aspekt der InterdependenzDebatten des späten . und frühen . Jahrhunderts, die natürlich nicht frei waren von zeitgenössischen Vorstellungen über »Rasse« und »Zivilisation«. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift La Vie Internationale stellten die beiden Herausgeber Henri La Fontaine und Paul Otlet fest, so wie die Sozialstruktur der Familie von der Stadt, diese vom Fürstentum und danach vom Staat abgelöst worden sei, brächten Handel und Investitionen, Kommunikation und der Austausch von Ideen gerade eine »weltweite Struktur« hervor, die so dicht sei, dass sie als wechselseitige Durchdringung und Abhängigkeit, als »Kolonisation des Einen durch den Anderen« beschrieben werden könne. Doch hatte die Reichweite von Interdependenz-Deutungen vor dem Ersten Weltkrieg klare Grenzen: So wechselseitig wie von Fontaine und Otlet behauptet war die »Kolonisation« höchstens im europäischen und nordatlantischen Raum. Zwischen seinen »zivilisierten Völkern« fand ein Großteil des Handels und der kommunikativen Verflechtung dieser Zeit statt, auf ihn bezogen sich Diagnosen wachsender Verflechtung. Die Bewohner der Kolonien waren dagegen für zeitgenössische Beobachter in Europa und Nordamerika keine selbstständigen Subjekte des Völkerrechts, keine gleichberechtigten Handelspartner und schlicht Hobhouse, Liberalism (), S. . Brown, The Theory of the Independence (), S. . Ähnlich Gettell, Nature and Scope of Present Political Theory (), S. f. Vgl. dazu Schmidt, The Political Discourse of Anarchy, S. -. Huber, Beiträge (), S. . Siehe etwa Hobson, Imperialism: A Study (), S. . Zu den im Empire geführten Debatten um ein »Greater Britain« vgl. Bell, The Idea of Greater Britain; Bell (Hg.), Victorian Visions of Global Order. La Fontaine/Otlet, La Vie Internationale (), S. , . Dazu mit Zahlen Pollard, Free Trade.
nicht Teil der »Gesellschaft der Nationen«. Für Paul Reinsch, Mitbegründer der American Political Science Association, spürten nur die »unentwickelten, abgelegenen, halb-zivilisierten Staaten« den durchdringenden Einfluss jener weltweiten Kräfte nicht, die sich in seiner Gegenwart des Jahres in internationalem Handeln und in internationalem Recht Ausdruck verschafften. Der Kolonialismus dieser Zeit war auch ein Versuch, aus wachsender Verflechtung entstandenen Problemen zu begegnen ‒ das hochmoderne Interdependenz-Denken wurde wiederum von kolonialen Einstellungen geprägt. »Unentwickelte Völker« schienen damit nicht an den Segnungen des zivilisatorischen Fortschritts teilzuhaben. Noch nicht, denn Deutungen globaler Interaktion waren um mit der Erwartung weltweiter Konvergenz verbunden: »Die Bedürfnisse der Völker der Erde werden immer gleichartiger und ausgeglichener«, schrieb der Prager Jurist Karl Thomas Richter im Jahr , »die Mittel sie zu befriedigen ebenso.« Kulturelle Angleichung basierte nach der Auffassung der meisten Zeitgenossen jedoch nur im nordatlantischen Raum auf Austausch, sonst vielmehr auf der »Zivilisierung« »rückständiger« Völker. Auch dieses Denken hing mit Vorstellungen wachsender Interdependenz als sozialer »Evolution« zusammen. Denn wenn das Wachstum der Nationen eine »Gesetzmäßigkeit« sozialer Entwicklung war, konnte es zur Legitimierung kolonialer Expansion herangezogen werden. Angesichts der globalen Interdependenz schien etwa die »unzureichende Nutzung« tropischer Ressourcen kein lokales, sondern ein weltweites Problem. Bernard Moss, Professor für politische Wissenschaft an der University of California, argumentierte , die Menschheit könne es sich schlicht nicht mehr leisten, unzivilisierten Völkern zu erlauben, »ihr eigenes Leben ohne fremde Einmischung« in »barbarischer Isolation« zu verbringen. Außerhalb des nordatlantischen Raums waren Abhängigkeitsver Reinsch, Public International Unions (), S. . Vgl. dazu auch Schmidt, The Political Discourse of Anarchy, S. -; Schmidt, Paul S. Reinsch. Dahinter konnten durchaus rassistische Vorstellungen stehen, nach denen wie bei Arthur de Gobineau die »weiße Rasse« als mobil und expansionistisch, die »schwarze« als immobil und abgekapselt verstanden wurde. Vgl. Lindner, Koloniale Begegnungen, S. -. Dirlik, Global Modernity, S. . Zum liberalen Imperialismus u. a. Mehta, Liberalism and Empire; Pitts, A Turn to Empire und Hobson, The Eurocentric Conception. Die Bedeutung des Kolonialismus für die Herausbildung globalistischer Vorstellungen betont Agnew, Geopolitics, S. -. Richter, Die Fortschritte der Cultur (), S. . Vgl. auch Robertson, Globalization (), S. . In den Vereinigten Staaten hatte schon John L. O’Sullivan, Herausgeber der New York Evening News das vermeintliche Gesetz des Wachstums der Nationen bemüht, um die »manifest destiny« seines Landes zu begründen. Zit. nach Kern, The Culture of Time and Space, S. . Dort auch weitere Belege. Vgl. dazu auch Rosenberg, Spreading the American Dream. Moses, The Control of Dependencies (), S. . Die Idee stammte im Grunde von Locke, The Second Treatise (/), S. . In Frankreich kritisierte Aimé Césaire den ehemaligen Kolonialminister Albert Sarraut noch dafür, an der École Coloniale ähnliche Ideen zu verbreiten. Césaire, Discourse on Colonialism (/),
hältnisse damit stark asymmetrisch und gründeten nicht selten auf Zwang und Ausbeutung. Die »erste Globalisierung« des späten . und frühen . Jahrhunderts war in weiten Teilen eine »imperiale Globalisierung«.
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Die Deutungen der Folgen wachsender Interdependenz waren in den drei bis vier Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchaus widersprüchlich geblieben. Ebenso wie Industrialisierung oder Urbanisierung hatten auch ökonomische Verflechtung oder Migration für manche Bevölkerungsgruppen neuen Wohlstand und neue Entfaltungsmöglichkeiten gebracht, für andere jedoch zur Verschärfung sozialer Probleme beigetragen. Diese Transformation der Lebenswelt führte damit zu der Infragestellung hergebrachter Ordnungsvorstellungen und Deutungsmuster. Erst in der Folge dieser »Grundlagenkrise der Moderne« konnten sich Fächer wie die Soziologe institutionell an Universitäten etablieren. In den Vereinigten Staaten wurden die ersten Lehrstühle in den er Jahren, im Deutschen Reich erst in den er Jahren eingerichtet. Politische Akteure erwarteten von der Soziologie und anderen Sozialwissenschaften Deutungen des Wandels und Empfehlungen, wie mit ihm umgegangen werden könne. Die verstärkte Nachfrage nach wissenschaftlich abgesichertem Orientierungswissen trug jedoch ihrerseits zur Infragestellung bisheriger Gewissheiten bei. Autoren wie Georg Simmel oder Max Weber betonten nun, dass das, was bisher für »objektives« Wissen gehalten worden war, selbst zeitgebunden, subjektiv und kontingent sei. Die Zeit zwischen den er und den er Jahren ist deshalb als eine »Krise des Wissens«, als »Begriffskrise« oder in Anlehnung an Ludwik Flecks Diagnose von gar als »Krise der Wirklichkeit« beschrieben worden.
S. f. Gleichzeitig wurde die These vom »gesetzmäß[i]gen Wachstum« sozialer Einheiten durchaus auch von nicht-europäischen Akteuren geteilt. Siehe etwa Hsia, Nationalism and Internationalism (). Siehe Thomas/Thompson, Empire and Globalisation; Bandeira, Jerónimo, Imperial Globalisations. Bruch/Graf/Hübinger, Einleitung, S. . Vgl. dazu auch Drehsen/Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse; Küttler/Rüsen/Schulin (Hg.), Krisenbewußtsein; Eckel, Geist der Zeit, S. -. Zu den USA Haskell, The Emergence of Professional Social Science; Ross, The Origins of American Social Science. Zu Deutschland: Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie; Tenbruck, Wie kann man die Geschichte der Sozialwissenschaften in den er Jahren schreiben?; Bock, Die Entwicklung der Soziologie. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (); Weber, Die »Objektivität« (/). Vgl. auch Ghosh, Max Weber in Context. Fleck, Zur Krise der Wirklichkeit (). Vgl. dazu besonders Oexle (Hg.), Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus; Oexle (Hg.), Krise des Historismus, Krise
Doch gerade angesichts dieser politischen wie wissenschaftlichen Orientierungskrise war es vielen Vertretern der jungen Sozialwissenschaften ein umso größeres Anliegen, gesellschaftlich und politisch nutzbares Wissen bereitzustellen. Die Deutung und Bewältigung des häufig als bedrohlich empfundenen Wandels, diese »Anpassungskrise« (Lutz Raphael) ist von Ulrich Herbert zu einem zentralen Charakteristikum der »Hochmoderne« erklärt worden. Dabei bedingen sich Infragestellung und Konsolidierung von Wissen gegenseitig: Die Sicht Durkheims auf Arbeitsteilung und soziale Entwicklung sollte in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts als »funktionale Differenzierung« bei Soziologen wie Norbert Elias, Talcott Parsons oder Niklas Luhmann neuen Einfluss gewinnen. Das hochmoderne Interdependenzverständnis, das sich im letzten Drittel des . Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit den spezifischen Bedingungen dieser Zeit herausgebildet hatte, wurde jetzt zu einem zentralen Merkmal der »Moderne« insgesamt erklärt und wirkte damit bis weit in die zweite Hälfte des . Jahrhunderts fort.
. Nationalismus und Interdependenz in der Zwischenkriegszeit Obwohl sie sich der potenziell bedrohlichen Folgen wachsender Interdependenz durchaus bewusst waren, gingen die meisten zeitgenössischen Beobachter bis unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg davon aus, dass grenzüberschreitende Interaktion und Verflechtung zu friedlicheren internationalen Beziehungen beitragen würden. Dass der große Krieg schließlich doch ausbrach, stellte damit eine große Herausforderung für Vertreter von Interdependenz-Diagnosen dar. Denn er schien die These von der friedlichen Wirkung wachsender Verflechtung ebenso zu widerlegen wie den Glauben an den steten Fortschritt der Kultur und sozialer Organisation. Der britische Liberale L. T. Hobhouse schrieb im Jahr frustiert, der »alte Internationalismus«, der auf den Glauben an eine humanitäre Ethik und auf die friedensförderne Wirkung des Handels gesetzt habe, sei mittlerweile tot. Denn nicht genug, dass sich selbst viele »Internationalisten« schließlich der nationalistischen Kriegsstimmung in ihren Ländern hingegeben hatten. Volkswirtschaften und Kapitalmärkte wurden jetzt staatlicher Kontrolle der Wirklichkeit; Hübinger, Wissenschaften, Zeitdiagnosen und politisches Ordnungsdenken. Herbert, Europe in High Modernity. In der Kritik von Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?, S. - wird dieser Aspekt sogar noch deutlicher herauskonturiert. Siehe u. a. Parsons, Durkheim’s Contribution () und Parsons, Some Considerations () sowie Kapitel .. Für Elias bestimmte die Interdependenz der Menschen den Zivilisationsprozess und zwang ihm eine »Ordnung von ganz spezifischer Art« auf, eine »Verflechtungsordnung«. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (), S. , . Vgl. Tyrell, Zur Diversität der Differenzierungstheorie; Knöbl, Die historisch partikularen Wurzeln. Hobhouse, Questions of War and Peace (), S. .
unterworfen und Einwanderungsbestimmungen verschärft. Damit rissen intellektuelle Netzwerke ab, internationaler Handel und Finanztransaktionen kamen weitgehend zum Erliegen. In der Historiografie ist der zeitgenössische Eindruck einer tiefen Zäsur aufgegriffen und der Erste Weltkrieg als Ende der »ersten Globalisierung« des späten . Jahrhunderts und als Beginn einer bis in die er Jahre andauernden Phase der »Deglobalisierung« gedeutet worden. Die These von einer interdependenten Welt war aus der Perspektive zeitgenössischer Beobachter durch den Krieg jedoch keinesfalls widerlegt worden. Im Gegenteil, der amerikanische Soziologe Robert E. Park argumentierte beispielsweise, gerade wegen der Kriegshandlungen setzten Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraf die Völker der Erde immer schneller in Bewegung. Angesichts dieser »Expansion der Kommunikation« schrumpften die Entfernungen zwischen den Nationen immer schneller. Und tatsächlich hatte der Krieg nicht alle internationalen Verbindungen zum Erliegen gebracht, sondern in manchen Fällen sogar neue geschaffen. Die Entente gewann den Krieg auch deshalb, weil Großbritannien und Frankreich auf die Ressourcen und Bevölkerungen ihrer Kolonialreiche zugreifen konnten. Exporte aus Nordamerika nach Frankreich und Großbritannien nahmen kriegsbedingt massiv zu; sie wurden wiederum mit Krediten amerikanischer Banken finanziert. Sowohl im Bereich der grenzüberschreitenden Interaktionen, als auch im Bereich der Deutung globaler Verflechtung markierte der Weltkrieg damit keine fundamentale Zäsur, sondern diente vielmehr als Katalysator. Denn jetzt war die Frage noch virulenter geworden, welche wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen wachsende Interdependenz haben werde und welche politischen Konsequenzen daraus zu ziehen seien. Gleichzeitig veränderten sich nach dem Krieg die institutionellen und disziplinären Rahmenbedingungen für die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Weltpolitik und Weltwirtschaft. Vor diesem Hintergrund fand in den er und er Jahren vor allem unter britischen Beobachtern eine intensive Debatte über die Bedeutung weltweiter Inter Vgl. Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. -, -, -. James, The End of Globalization; Lindert/Williamson, Does Globalization Make the World More Unequal? Siehe auch Williamson, Globalization, Convergence, and History. Ähnlich schon Deutsch, Shifts in the Balance of Communication Flows (1956) und Deutsch/Eckstein, National Industrialization (1961). O’Rourke/Williamson, Globalization and History, bes. S. , , , f., f. argumentieren dagegen, Abschottung und Deglobalisierung seien ein »backlash« gegen die sozialen Konsequenzen der »ersten Globalisierung« und weniger Folgen des Ersten Weltkriegs gewesen. Park, Race Prejudice (), S. f. Ein Jahr nach dem Ende der Kampfhandlungen war auch der britische Jurist Thomas J. Lawrence überzeugt, die »Internationalisierung« aller Lebensbereiche sei vom Weltkrieg beeinträchtigt, aber nicht beendet worden. Lawrence, The Society of Nations (), S. vi. Die globale und imperiale Dimension des Ersten Weltkriegs betonen u. a. Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive; Gerwarth/Manela (Hg.), Empires at War. Diesen Aspekt betont besonders Tooze, Sintflut.
dependenz statt, in der sich erste Anzeichen für ein Aufbrechen der hochmodernen Deutung beobachten lassen.
Interdependenz als Wissenschaft ‒ Die Disziplin der Internationalen Beziehungen In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg konsolidierte sich zuerst in Großbritannien eine spezialisierte Disziplin der Internationalen Beziehungen. Ihre Entstehung wurde lange mit der Einrichtung des ersten Lehrstuhls in Aberystwyth im Jahr angesetzt. Schon dieser Zeitpunkt ließ die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Weltpolitik als direkte Reaktion auf den Weltkrieg erscheinen. In den er Jahren unterstellten Kritiker wie E. H. Carr den frühen Vertretern der Internationalen Beziehungen deshalb, sich so stark darauf konzentriert zu haben, »eine Wiederholung dieser Krankheit des internationalen politischen Körpers zu verhüten«, dass sie jeden Bezug zu den tatsächlichen Entwicklungen ihrer Gegenwart verloren hätten. Die heutige Forschung hat sich jedoch von diesem Narrativ über die Geschichte der Disziplin verabschiedet. Entgegen dem »Mythos von « hätten sich schon mehrere Jahrzehnte vor dem institutionellen »Gründungsakt« des Faches Historiker, Politikwissenschaftler, Juristen, Philosophen, Geografen und Ökonomen wie Francis Lieber und Paul Reinsch mit internationalen Fragen auseinandergesetzt, auch wenn es sich dabei mehr um einen gemeinsamen Diskussionszusammenhang als um eine institutionalisierte »Disziplin« gehandelt habe. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Weltpolitik war damit nicht ausschließlich durch die Frage der Kriegsverhütung motiviert, sondern, wie auch das vorherige Kapitel gezeigt hat, aus der Auseinandersetzung mit Problemen des »Imperialismus« und einer interdependenten Welt hervorgegangen. Der Politikwissenschaftler Andreas Osiander hält die Interdependenz von Staaten sogar für die zentrale Voraussetzung für die Herausbildung einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen. Frühe Vertreter der Internationalen Beziehungen sahen die Auseinandersetzung mit Fragen von Krieg und Frieden und mit globaler Verflechtung ohnehin als zwei Seiten einer Medaille. Der britische Journalist Norman Angell hatte etwa argumentiert, in einem Zeitalter der Arbeitsteilung und Verflechtung entstehe Wohlstand nicht mehr aus der Kontrolle über Territorium oder Bevöl Carr, The Twenty Years’ Crisis (/), S. . Diese Interpretation ist bis heute verbreitet, siehe etwa Hogan/Paterson, Introduction, S. . Carvalho/Leira/Hobson, The Big Bangs of IR, S. . Siehe auch Schmidt, The Political Discourse of Anarchy, bes. S. -; Knutsen, A Lost Generation? Osiander, Interdependenz der Staaten. Siehe auch Long/Schmidt (Hg.), Imperialism and Internationalism; Morefield, Covenants Without Swords. Schärfere Kritik am Rassismus der jungen Disziplin üben Vitalis, The Graceful and Generous Liberal Gesture; Oren, Our Enemies and US und Hobson, The Eurocentric Conception.
kerung, sondern aus grenzüberschreitenden Handels- und Finanzbeziehungen. Anders als ihm später immer wieder unterstellt wurde, hatte er daraus nicht die Behauptung abgeleitet, in einer interdependenten Welt sei Krieg unmöglich geworden. Er hielt ihn aber für zunehmend irrational und damit unwahrscheinlicher, da Kampfhandlungen genau diese Verflechtungen zerstörten und sich Krieg deshalb selbst für die Sieger nicht mehr lohne. Der Verlauf und die Folgen des Weltkriegs schienen Angells These eindrucksvoll zu bestätigen ‒ obwohl Großbritannien zu den Siegern zählte, hatte sich der Konflikt selbst für dieses Land sicher nicht »gelohnt«. Doch wie ließ es sich nun erklären, dass der große Krieg doch stattgefunden hatte, obwohl er angesichts des hohen Grades an Verflechtung für alle Beteiligten so offensichtlich irrational gewesen war? Manche Zeitgenossen suchten nun nach Profiteuren etwa in der Rüstungsindustrie, die ein rationales Eigeninteresse am Krieg gehabt hatten. Andere hinterfragten dagegen die Annahme, dass Individuen und Staaten in der internationalen Politik überwiegend rational handelten: Früher habe man den »zivilisierten Menschen« als »zu Prozent rational« eingeschätzt, schrieb J. A. Hobson Ende der er Jahre: »Wir haben diesen Prozentsatz jetzt halbiert.« Gleichzeitig war mit dem Krieg noch offensichtlicher geworden, dass Annäherung nicht nur zu Verständigung, sondern auch zu Konflikten führen konnte. Der Soziologe Robert E. Park hatte bereits betont, unabhängig von den unmittelbaren Gründen für den Ausbruch des Weltkrieges müssten die tiefer liegenden Ursachen in der wachsenden Verflechtung der Weltregionen gesucht werden. Denn die »Rassen und Nationalitäten der Welt« seien jetzt in neue Formen »der Vertrautheit und neue Formen des Wettbewerbs, der Rivalität und des Konflikts« gezwungen worden. Im Zentrum der Suche nach den Ursachen des Krieges, aber auch der Auseinandersetzung mit globaler Interdependenz stand in den er und er Jahren jedoch die Anziehungskraft des Nationalismus. Denn nicht nur die nati Illies, , S. paraphrasiert etwa, Angell sei sich sicher gewesen, »es würde nie wieder zu einem Krieg kommen können«. Diese Deutung lässt sich u. a. bereits bei McDougall, Ethics and Some Modern World Problems (), S. f. finden, wurde dann aber besonders von Carr, The Twenty Years’ Crisis (/), S. verbreitet. Ähnlich auch Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Conclusion (), S. . Angell, The Great Illusion (), bes. S. vi-ix, -. Ähnliche Ideen fanden sich bereits bei Bloch, Die Zukunft des Krieges (), bei Butler, The International Mind (), S. viii, , , dem deutschen Ökonom Lujo Brentano und noch bei Kurt Riezler, dem Sekretär von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Siehe Ruedorffer, Grundzüge der Weltpolitik (); Müller, Aus Gärten der Vergangenheit (), S. , f. In diesem Kontext ist etwa die großangelegte Untersuchung des Nye-Comittee des US-Senats zu verorten, die zwischen und den Einfluss der Rüstungsindustrie auf den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten klären sollte. Siehe United States Senate, Munitions Industry (-). Hobson, Confessions of an Economic Heretic (), S. . Park, Race Prejudice (), S. .
onalistische Mobilisierung im Krieg selbst, auch die Folgen des Konflikts bereiteten »liberalen« Beobachtern der internationalen Politik Sorgen: Im Zuge des Krieges war die Rolle des Staates im Wirtschafts- und Gesellschaftsleben in allen beteiligten Ländern gewachsen. Bevölkerungen erwarteten bei Problemen nun Lösungen von ihren Regierungen, die schon deshalb meist eine an nationalen Zielen und Denkrahmen orientierte Politik betrieben. Zudem war »Selbstbestimmung« mittlerweile zu einem »Recht« erklärt worden, auf das sich »Völker« oder »Nationen« nun berufen konnten. Erstmals von den Bolschewiki in ihrem Parteiprogramm formuliert, hatte Vladimir I. Lenin das »Recht auf Selbstbestimmung« von den Völkern des Zarenreichs auf die internationale Politik übertragen, um die antikoloniale Komponente des »Internationalismus« der Arbeiterbewegung zu stärken. Zur weltweiten Verbreitung des Begriffs der »Selbstbestimmung« hatte dann die Tatsache beigetragen, dass er ab Februar von US-Präsident Woodrow Wilson aufgegriffen wurde. Die Hoffnungen, die antikoloniale Bewegungen nun auf Wilson setzten, sollten sich jedoch nicht erfüllen. »Nationale Selbstbestimmung« wurde nur in Mittel- und Osteuropa politisch umgesetzt. Außerhalb Europas wurden die ehemaligen Provinzen und Kolonien des Osmanischen und Deutschen Reichs in das Mandatssystem des Völkerbundes überführt, das im Grunde einer neuen Form des Kolonialismus gleichkam. Insgesamt schienen die »Vervielfachung der Kontakte« und zunehmende Interdependenz anders als zunächst erwartet gegenseitige Vorurteile nicht abzubauen und die »Schranken der Nationalität« nicht niederzureißen, sondern sogar noch zu verfestigen. William McDougall stellte fest, Nationalismus und Rassismus hätten die Geschichte der Welt im vorherigen Jahrhundert stärker geprägt als selbst die »immensen ökonomischen Kräfte des Industriezeitalters«. Sie seien mittlerweile zu den einflussreichsten politischen Kräften der modernen Welt geworden. Kritik am Nationalismus vonseiten des Kosmopolitismus oder Siehe Büttner, Die Zerstörung der Weimarer Republik, S. . Lenin, Wladimir I.: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen [], in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): W. I. Lenin: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -. Für Rosa Luxemburg konnten Nationalitäten dagegen nur das Recht auf kulturelle Autonomie und keine politischen Ansprüche auf einen Nationalstaat geltend machen. Siehe etwa Luxemburg, Nationalitätenfrage (), S. sowie Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie (), S. -. Vgl. Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, hier bes. S. -. Woodrow Wilson: Address to Congress on International Order, . Feb. , www. presidency.ucsb.edu/documents/address-congress-international-order. Eine frühere Formulierung bereits in Woodrow Wilson: Address to the Senate of the United States: A World League for Peace, . Jan. [Peace without Victory Speech], www.pre sidency.ucsb.edu/documents/address-the-senate-the-united-states-world-league-forpeace (beide ..). In seinen berühmten »vierzehn Punkten« kam der Begriff dagegen noch nicht vor. Vgl. Manela, Die Morgenröte einer neuen Ära; Pedersen, The Guardians. McDougall, Ethics and Some Modern World Problems (), S. .
Anarchismus lehnte McDougall jedoch ebenfalls ab. Deren »Kreuzzug gegen den Nationalismus« sei schon deshalb falsch, weil ein auf »Patriotismus« gegründeter Nationalismus das beste Mittel sei, um die Massen der Menschheit »anzuheben«. Deshalb musste es aus Sicht des amerikanischen Psychologen auch nach dem Weltkrieg darum gehen, Nationalismus in einen »wahren Internationalismus« einzubinden, der nur aus einer »Gesellschaft oder Familie starker und stabiler Nationen« entstehen könne. Andere Autoren der er Jahre sahen hier ein noch viel grundlegenderes Problem. Für sie waren die bisherigen Formen sozialer Organisation für die komplexen Probleme einer interdependenten Welt nicht mehr geeignet. Wie schon L. T. Hobhouse im Jahr hatte drei Jahre später auch der Inhaber des ersten Lehstuhls für Internationale Beziehungen, der Altphilologe Alfred Zimmern, festgestellt, der Ausbruch des Krieges habe zwar die Kraft des »Nationalismus« unter Beweis gestellt. Nur ein Blinder könne jedoch übersehen, dass die »Tage des Nationalstaats« gerade jetzt gezählt seien. In der aus den Vorkriegsjahren übernommenen Erwartung einer Welt aus interagierenden Großreichen hatten Zimmern und andere Beobachter zu diesem Zeitpunkt noch angenommen, Nationalstaaten würden bald von multi-nationalen Imperien abgelöst werden. Bereits wenige Jahre später hatten der Aufstieg der Norm der »nationalen Selbstbestimmung«, der Zerfall des Habsburger-Imperiums und des Osmanischen Reiches sowie die Intensivierung antikolonialer Proteste jedoch nicht nur diese Erwartung, sondern insgesamt die These vom »gesetzmäßigen« Wachstum von kleinen zu immer größeren sozialen Einheiten zweifelhaft werden lassen. Nationalstaaten schienen nach wie vor keine geeignete Organisationsform für eine immer verflochtenere Welt mehr zu sein. Die Frage, ob und von welchen anderen politischen Einheiten sie abgelöst werden würden, schien nun jedoch nicht mehr so eindeutig zu beantworten. Schon Norman Angell hatte in seinem viel diskutierten Buch nicht behauptet, Krieg sei unmöglich geworden, sondern genau vor der Great Illusion gewarnt, dass in einer Welt, in der ökonomische, technologische und soziale Entwicklungen in Richtung Interdependenz, Verflechtung und Kooperation wiesen, einzelne Staaten Sicherheit und Wohlstand garantieren könnten. Kultur, Mentalitäten und politische Institutionen hätten mit diesem Wandel allerdings nicht Schritt gehalten und kreisten immer
Ebd., S. xiii, f. Ähnlich Cromwell White, The Structure of Private International Organizations (), S. . Zimmern, German Culture (), S. . Zu Zimmerns Denken vgl. Morefield, Covenants Without Swords und Morefield, »A Liberal in a Muddle«. Kritik an der These vom gesetzmäßigen Wachstum bei Zimmern, The Prospects of Democracy (), S. . Richard von Coudenhove-Kalergi entwarf in seiner Paneuropa-Schrift allerdings noch das Szenario einer Welt, die aus föderalen (Kolonial-)Reichen bestand. Coudenhove-Kalergi, Paneuropa (), bes. Tafel III.
noch um nationalistische und militaristische Konzepte. Damit schienen sich nun der erreichte Stand der »internationalen Arbeitsteilung« und die Einstellungen der Menschen nicht mehr zu decken ‒ ein Zustand, den Durkheim Ende des . Jahrhunderts als »Anomie« bezeichnet hatte. Dieses Auseinanderklaffen der »tatsächlichen« Entwicklung der Welt auf der einen und ihrer mentalen Verarbeitung auf der anderen Seite war schon während des Krieges von Leonard Woolf, Publizist und Ehemann der Schriftstellerin Virginia Woolf, als zentrale Ursache für dessen Ausbruch identifiziert worden. Im Jahr prägte der amerikanische Philosoph und Soziologe William F. Ogburn dafür den Begriff des »cultural lag« (»kulturelle Phasenverschiebung«). Beobachter der er Jahre sahen in der wachsenden Lücke zwischen einer immer verflochteneren Welt und dem Denken in kleinen, meist nationalen politischen Einheiten nicht nur eine zentrale Ursache für den durchlittenen Weltkrieg, sondern auch für die gegenwärtige »Weltkrise«. Für den französischen Ökonomen und Journalisten Francis Delaisi lag deren Kern »nicht in den Dingen wie sie sind, sondern in unserer Auffassung von ihnen«. Die zentralen Probleme der Gegenwart seien »nicht materiell, sondern psychologisch«. Denn zu den zentralen »Widersprüchen der modernen Welt« zählte Delaisi im Jahr , dass einer von ihm als Lebewesen, als »Geon« beschriebenen vernetzten Welt der »Mythos der Nationalität« gegenüberstehe. Während das Konzept der »nationalen Souveränität« im vergangenen Jahrhundert Sicherheit garantiert habe, sei es angesichts der hohen ökonomischen Interdependenz der Welt mittlerweile zur zentralen »sozialen Gefahr« geworden. Alfred Zimmern versuchte den Widerspruch zwischen der zunehmenden Integration der Welt und einem immer gefährlicheren Nationalismus aufzulösen, indem er die verbreitete Gleichsetzung von Nation und Staat aufbrach: In einem Vortrag vor der Deutschen Hochschule für Politik argumentierte er im Dezember in Berlin, Staaten als »selbstständige, souveräne Mächte« im Sinne der Lehrbücher könne er in der Gegenwart nicht mehr erkennen. Als »Teilgebiete« eines gerade entstehenden »weltpolitischen Systems« seien Nationen jetzt Angell, The Great Illusion (), S. , f., und Angell, The Foundations of International Polity (), S. -. Ausgearbeitet v. a. in Durkheim, Le suicide (). Woolf, International Government (), S. , , , f., , , . Ogburn, Social Change (), S. -, bei ihm verdeutlicht durch den Gegensatz von Verkehrsmittelentwicklung und Isolationismus. Für die spätere Weiterentwicklung dieser These siehe Ogburn (Hg.), Technology and International Relations (); Ogburn, Cultural Lag as Theory (). Zum Argument des »cultural lag« vgl. Zaidi, Liberal Internationalist Approaches to Science, S. ff. Delaisi, Political Myths and Economic Realities (), S. f. Ebd., bes. S. , , -. Zeitgenössisch wurde Delaisis Werk viel beachtet, neben dem Englischen auch ins Chinesische übersetzt: Zhengzhi de shenhua yu jingji de xianshi, Übersetzer: Wang Qingbin, Verlag: Shangwu yinshuguan, Shanghai Minguo []. Für Hilfe beim Auflösen dieses Titels danke ich Susanne Stein. Später geriet es jedoch in Vergessenheit und wurde erst in den er Jahren wiederentdeckt. Besonders bei Osiander, Rereading.
gezwungen, miteinander auszukommen. Interdependenz war für Zimmern deshalb das zentrale Merkmal des »modernen Staates«, welches im Zentrum der Arbeit der Internationalen Beziehungen stehen müsse.
Die Organisation einer interdependenten Welt Vertreter dieser neuen Disziplin betrachteten sich in den er und er Jahren häufig zugleich als neutrale Beobachter des Weltgeschehens und als Akteure in den politischen Konflikten dieser Zeit. Angesichts der These, dass die Welt mittlerweile interdependent, dieser Wandel jedoch von der großen Mehrheit der Menschen noch nicht erkannt worden sei, sahen sie in dieser Haltung keinen Widerspruch. Denn die Hauptaufgabe der Internationalen Beziehungen war es etwa für Alfred Zimmern, die »Menschen darin zu unterrichten zu beobachten, die Welt zu sehen wie sie ist und selbst zu erkennen, wie neue Bedingungen neue Probleme geschaffen haben«. In einem zweiten Schritt mussten aus dieser Perspektive die politischen Strukturen der Welt an die neuen Bedingungen angepasst werden, um die gefährliche Lücke zwischen einer interdependenten Welt und ihrer nationalstaatlichen Organisation zu schließen. Denn Nationalisten, das formulierte Leonard Woolf recht drastisch, hielten an Organisationsformen fest, die für das Subsistenzwirtschaft betreibende Dorf des Mittelalters geeignet gewesen sein mochten, nicht jedoch für die komplexe und interdependente Welt der Gegenwart. Bereits hatte er deshalb in einem für die Fabian Society entworfenen Konzept die Errichtung von Formen des »international government« gefordert. Auch andere Akteure aus dem Umfeld des »liberalen Internationalismus«, des »Pazifismus« oder des »Sozialismus« hatten in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien bereits während des Krieges Pläne für eine Umgestaltung der internationalen Beziehungen entworfen, die eine stärkere Beteiligung der Öffentlichkeit oder die Errichtung einer Weltorganisation vorsahen. Zimmern, Internationale Politik als Wissenschaft (), S. , f.; Zimmern, The Study of International Relations (), S. . Ebd., S. . Woolf, The Way of Peace (), S. . Ähnlich Shotwell, On the Rim of the Abyss (), S. , . Woolf, International Government (). Vgl. auch Wilson, Leonard Woolf and International Government. Auf die Öffentlichkeit setzte die britische Union of Democratic Control, der unter anderem J. A. Hobson und Norman Angell angehörten. Dazu Knock, To End All Wars, S. viii-ix, , . Die in den USA gegründete League to Enforce Peace und die britische League of Nations Society setzten stärker auf Völkerrecht und Weltorganisation. Vgl. u. a. Goldstein, Winning the Peace; Williams, Failed Imagination?, S. -; Smith, American Empire, Kap. und . Für die Ursprünge entsprechender Ideen im Ersten Weltkrieg vgl. Hoeres, Krieg der Philosophen, S. -.
Das Ergebnis solcher Bemühungen war der Völkerbund, der Anfang seine Arbeit aufnahm. Die neue Weltorganisation war jedoch anders angelegt, als Zeitgenossen wie Philip Kerr (Lord Lothian) erhofft hatten, die im Konzept der »staatlichen Souveränität« die Hauptursache des Kriegen sahen und deshalb deren Übertragung an einen föderalen Weltstaat gefordert hatten. Denn der Völkerbund war eine zwischenstaatliche Organisation und für seine Arbeit auf die Kooperation seiner Mitgliedsstaaten und besonders der Großmächte angewiesen. Nach der langen vorherrschenden Interpretation sollte er durch die Schlichtung zwischenstaatlicher Konflikte und die Überwachung von Rüstungsabkommen vor allem die Wiederholung eines großen Krieges verhindern. Wirtschaftliche Themen gehörten nach dieser Sicht schon wegen der im Krieg widerlegten These vom Frieden durch Interdependenz nicht zu den Betätigungsfeldern des Völkerbundes. Obwohl darüber hinausgehende Entwürfe nicht umgesetzt worden waren und der Völkerbund keine »Weltföderation« darstellte, wurden im Rahmen dieser neuen Organisation in den er und er Jahren doch auch Versuche unternommen, Antworten auf die Probleme einer interdependenten Welt zu geben. Denn gerade der Weltkrieg hatte die Überzeugung bestärkt, dass globale Verflechtungen verregelt und die Bearbeitung ihrer Folgen institutionalisiert werden müsse, um ihre positiven Möglichkeiten voll auszuschöpfen und negative Konsequenzen zu vermeiden. Neuere Arbeiten haben dementsprechend betont, dass sich die Organisation durchaus mit ökonomischen Fragen befasst habe und gerade ihre Unterorganisationen auf Themengebieten wie der wissenschaftlichen und intellektuellen Zusammenarbeit, der Kontrolle des Drogenund Menschenhandels oder der globalen Gesundheitspolitik tätig geworden seien. Dahinter stand die Überzeugung, dass es sogenannte »Weltprobleme« gebe, von denen einzelne Staaten überfordert seien, die eine mit neutralen Experten besetzte »Welt-Union« oder »internationale Verwaltung« dagegen effizient lösen könne. Deren Bearbeitung wurde nicht als politische, sondern rein »technische« Frage gesehen. Auf diesen Themenfeldern eingeübte internationale Kooperation werde graduell auch auf die »große Politik« überspringen. Gerade in diesen »technischen« Bereichen engagierten sich auch US-Stiftungen wie
Siehe auch Wells, The Shape of Things to Come (). Vgl. Schieren, Lord Lothian. So bei Williams, Failed Imagination?, S. f. Dazu Ninkovich, The Wilsonian Century, S. . Vgl. Endres/Fleming, International Organizations; Decorzant, Internationalism; Clavin, Securing the World Economy. Reinsch, Public International Unions (), S. ; Laski, A Grammar of Politics (), S. f., ; Brown, Elmer: Interdependence Day, NYT, . Juli , S. . Vgl. dazu Boyle, Foundations of World Order. Diese These wurde besonders durch den Historiker David Mitrany in den er Jahren als »Funktionalismus« in eine sozialwissenschaftliche Theorie überführt. Mitrany, A Working Peace System (), S. . Siehe auch Mitrany, The Functional Approach (); Mitrany, The United Nations (), S. ; Mitrany, The Functional Theory of Politics (), S. .
das Carnegie Endowment for International Peace (gegründet ) und die Rockefeller Foundation (). Obwohl der Beitritt der Vereinigten Staaten zum Völkerbund im November am Senat gescheitert war, stand das Land damit auch in den er und er Jahren nicht abseits der Weltpolitik. Die Bezeichnung dieser Zeit als »isolationistische Phase« ist schon in den er Jahren angezweifelt worden. Diese Stiftungen förderten insbesondere auch Forschungseinrichtungen wie das Council on Foreign Relations () oder das Institut für Auswärtige Politik in Hamburg (), an denen neu über internationale Zusammenhänge nachgedacht werden sollte. Die Förderung der Ausbildung von Experten für internationale Fragen, etwa an der ebenfalls unterstützten Deutschen Hochschule für Politik in Berlin (), sollte darüber hinaus zu Bemühungen um eine »internationale Erziehung« beitragen. Dabei ging es dem »liberalen Internationalismus« zugeordneten Akteuren nicht darum, »Ideen zu verändern, um die Welt zu verändern«, wie es H. G. Wells formulierte. Vielmehr sollte Menschen geholfen werden, die »moralischen und intellektuellen Schwierigkeiten« bei der Anpassung an die veränderten »Realitäten« einer interdependenten Welt zu überwinden, die Norman Angell schon als das größte Hindernis bei der Errichtung einer neuen internationalen Ordnung identifiziert hatte. Statt darauf zu hoffen, dass mentale Einstellungen eines Tages zur Wirklichkeit aufschließen würden, müssten sie aktiv beeinflusst werden, um die Welt in ihren geistigen Beziehungen ebenso interdependent zu machen wie in ihren materiellen und ökonomischen. Auch die Bemühungen um eine »internationale Erziehung« waren damit wieder eine Reaktion auf die These wachsender Interdependenz. Besonders das Komitee für Intellektuelle Kooperation des Völkerbundes in Paris bemühte sich in den er und er Jahren, Austauschprogramme und Projekte wie die gemeinsame Überarbeitung von Schulbüchern voranzutreiben. Zusammen mit der Förderung des Tourismus sollten so auch breite Bevölkerungsschichten Williams, Legend of Isolationism (). Ninkovich, The Wilsonian Century, S. deutet diese Zeit entsprechend als »entpolitisierten Internationalismus«, Doenecke, Storm on the Horizon als »anti-Interventionismus«. Zur Debatte um den Völkerbund in den USA vgl. Kuehl/Dunn, Keeping the Covenant. Zu den philanthropischen Stiftungen in der Zwischenkriegszeit vgl. Lavelle, Exit, Voice, and Loyality; Rietzler, Expertenwissen. Zur Deutschen Hochschule für Politik vgl. Nickel, Politik und Politikwissenschaft. Wells, The Way to World Peace (), S. . Angell, The Political Conditions of Allied Success (), S. f., ; Angell, The Public Mind (). Ähnlich bereits Hobson, The Ethics of Internationalism (), S. , ; Fried, Handbuch der Friedensbewegung (), S. und später Muir, The Interdependent World (), S. vii; Zimmern, The League of Nations and the Rule of Law (), S. . Alfred Zimmern: The New International Outlook: Two Lectures at the Fendon Foundation of the University of Buffalo, Nov. , zit. nach Morefield, Covenants Without Swords, S. . Zur »internationalen Erziehung« Iriye, Cultural Internationalism, S. -; Kuehl/Dunn, Keeping the Covenant, S. -.
erreicht werden und deren »Bewusstsein« endlich den »Fortschritt« der strukturellen Verflechtung nachvollziehen. Anlass zu verhaltenem Optimismus gab die Psychologie: Der amerikanische Psychologe Walter Pillsbury hatte argumentiert, »supranationales« sei ebenso wie »nationales Bewusstsein« das Ergebnis sozialer Prägung von Instinkten und Habitus. Sobald einmal der institutionelle Rahmen einer überstaatlichen Ordnung fest etabliert worden sei, werde sich langfristig auch die Einstellung der Menschen ändern. Ende der er Jahre erschienen solche Bemühungen um eine »internationale Erziehung« notwendiger denn je, waren jedoch mit immer größeren Problemen konfrontiert: Die Weltwirtschaftskrise von erschien geradezu wie ein Beleg der These vom »cultural lag« und der damit verbundenen Befürchtungen: Denn die enge Verflechtung der Weltwirtschaft hatte zu einer raschen Ausbreitung der Krise geführt; die politischen Reaktionen darauf waren dagegen international kaum koordiniert. Die meisten Staaten, allen voran die USA, suchten ihre Rettung im wirtschaftspolitischen Nationalismus. Durch protektionistische Maßnahmen, Währungsabwertung und die Errichtung von Zollschranken waren sie bemüht, die eigene Wirtschaft zu stärken, setzten damit jedoch eine Abwärtsspirale in Gang, die die Krise noch verschlimmerte. Damit war die in den er Jahren erreichte Erholung der Weltwirtschaft wieder zunichtegemacht. Den auf den vom Völkerbund organisierten Weltwirtschaftskonferenzen versammelten Ökonomen und Diplomaten gelang es weder in Genf noch in London, Stabilisierungsmechanismen zu entwickeln. Auch die US-Regierung, die sich ab wieder bemühte, den internationalen Handel zu beleben, konnte den Trend zur Desintegration nicht aufhalten. Noch in den er Jahren hatten Migration, Welthandel und grenzüberschreitende Kapitalströme nach Ansicht mancher Autoren zumindest außerhalb Europas weiter zugenommen ‒ Boris Barth spricht für diese Zeit deshalb von einer »Ent-Euro So etwa Angell, The Fruits of Victory (), bes. S. , -; Angell, Popular Education and International Affairs (). Vgl. auch Wöbse, »To Cultivate the International Mind«; Laqua, Transnational Intellectual Cooperation. Pillsbury, The Psychology of Nationality (). Eine zeitnahe Analyse findet sich bei Mander, Foundations of Modern World Society (), Kapitel . Nachdem die Weltwirtschaftskrise und die verschiedenen Reaktionen darauf lange wegen ihrer nationalen Auswirkungen (Aufstieg des Nationalsozialismus beziehungsweise New Deal) betrachtet worden sind, hat sich in den letzten Jahren eine globalere Perspektive durchgesetzt. Siehe James (Hg.), The Interwar Depression; Hesse/Köster/Plumpe, Die Große Depression; Patel, The New Deal. Vgl. Nörr/Waibel, Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von ; Clavin, Explaining the Failure. Die Londonder Konferenz war unter anderem daran gescheitert, dass US-Präsident Franklin Roosevelt kein Interesse an einer multilateralen Lösung der wirtschaftlichen Probleme hatte, sondern auf eine nationale Herangehensweise setzte. Vgl. Dallek, Franklin D. Roosevelt, S. f., f. Ab bekannte er sich wieder explizit dazu, dass ohne einen liberaleren internationalen Handel Krieg drohe. Franklin D. Roosevelt: Address at Chautauqua, N.Y, . Aug. , www.presidency.ucsb.edu/do cuments/address-chautauqua-ny (..).
päisierung« der Weltwirtschaft bei gleichzeitig wachsender globaler Integration. Ab brachen jedoch auch diese Verbindungen weitgehend zusammen. Erst jetzt begann aus Sicht dieser Autoren eine neue Phase der »Deglobalisierung«. Ökonomische und soziale Probleme trugen in den er Jahren zum weiteren Erstarken nationalistischer und faschistischer Bewegungen und zu einer davon ausgelösten tiefen Krise »liberaler« und »internationalistischer« Ideen bei. Die Diktaturen in Italien, Japan und Deutschland strebten jetzt extreme Formen der Autarkie an, die nicht nur durch die Konsolidierung und Abschottung eines bereits vorhandenen Wirtschaftsraums, sondern durch die gewaltsame Eroberung von Gebieten als Rohstoffquellen und Absatzmärkte erreicht werden sollte. Undurchlässige Grenzen, ökonomischer Protektionismus, Zölle und Quoten stellten immer größere Hindernisse für den freien Fluss von Menschen, Gütern, Kapital und Wissen dar und erhöhten aus der Sicht mancher Zeitgenossen die Gefahr eines neuen Krieges noch weiter. Im Laufe der er Jahre machte sich Pessimismus unter den Anhängern von Völkerbund-Idee und Interdependenz-Diagnosen breit. Eugene Staley, Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Fletcher School of Law and Diplomacy, sah im Jahr bereits einen regelrechten »Krieg« im Gange, der zwischen technologischen Entwicklungen auf der einen und Nationalismus und Lokalismus auf der anderen Seite auf dem Schlachtfeld der Wirtschaft ausgetragen werde.
Das »Interregnum« in der Politikwissenschaft Diese Beobachtung führte jedoch nicht dazu, dass Autoren wie Staley ihre Diagnosen einer eng verflochtenen Welt revidiert hätten. Im Gegenteil, seine Arbeit aus dem Jahr stellt eine wichtige Wegmarke des Interdependenzdenkens dar. Denn Staley leitete wachsende Interdependenz nicht mehr nur aus »gesetzmäßiger« sozialer »Evolution« ab, sondern belegte diese Diagnose mit zahlreichen Statistiken. Auch grafisch stellte er dar, dass die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu einer enormen »Schrumpfung von Distanzen«, zu einer Expansion des »Bereichs der Interdependenz« und zur Entstehung einer Barth, Europa nach dem Großen Krieg, S. f. Dazu auch James, The End of Globalization, S. f.; McKeown, Global Migration; McKeown, Periodizing Globalization, S. f.; Dejung, Deglobalisierung?; Petersson, Globalisierung, S. . Bei Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, S. gar zum »Untergang des Liberalismus« überzeichnet. Vgl. Föllmer/Graf/Leo, Einleitung: Die Kultur der Krise und Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Im deutschen Fall von Hitler u. a. in der Niederschrift über die Besprechung in der Reichskanzlei am . Nov. [»Hoßbach-Protokoll«] erörtert. Dazu Mazower, Hitlers Imperium. Deutlich etwa in Avenol, The Future (); Friedmann, The Disintegration of European Civilization (). Staley, World Economy in Transition (), S. .
Abbildung : Die Schrumpfung der Distanzen. »planetarischen Wirtschaft« geführt hätten (Abbildung ). Norman Angell argumentierte noch , die Wachstumsraten des Welthandels seien nach dem Einbruch infolge des Ersten Weltkrieges wieder kontinuierlich gestiegen, auch wenn der Anteil Europas daran abgenommen habe. Angesichts solcher durchaus widersprüchlichen Beobachtungen erschien vielen Kommentatoren der er und er Jahre ihre eigene Gegenwart als eine Phase der Unsicherheit und des Übergangs. Jetzt werde sich entscheiden, ob die Welt die veränderte Realität wachsender Interdependenz anerkennen und damit ihre positiven Früchte ernten oder ob sie vielmehr auf Krieg und Katastrophe zusteuern werde. Francis Delaisi hatte schon festgestellt, er und seine Zeitgenossen seien wie die Passagiere auf einem vom Wind hin und her geworfenen Schiff. Jeder versuche ohne ein klares Ziel, irgendwo Halt zu finden. In der all-
Ebd., S. vii, . Ähnlich bereits Mumford, Technics and Civilization (), bes. S. f. Angell, The Economics of War (), S. ff.
gemeinen Hektik tue jeder lautstark seine Meinung kund und vom Matrosen bis zum Kapitän fragten sich alle ängstlich, wohin das Schiff wohl treiben möge. In dieser Situation schien jenes Orientierungswissen, das die wissenschaftliche Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen versprach, dringend nötig. Doch nur wenn man sich neben den Fakten auch mit den damit verbundenen »vorgefassten Annahmen« auseinandersetze, so Delaisi, könne man in einem »Prozess der Anpassung« den Konflikt zwischen den Tatsachen und den »Produkten der Einbildung in unserem Gehirn« überwinden. Auch Alfred Zimmern war sich in den er Jahren nicht mehr sicher, ob die Instrumente der Sozialwissenschaften in den »Wachstumskrämpfen« der »Weltgesellschaft« wirklich ausreichten, um einen eindeutigen Kurs zu bestimmen. Denn die bisherigen Bücher der Politikwissenschaft seien mittlerweile veraltet, neue könnten noch nicht geschrieben werden ‒ die Disziplin befinde sich in einem »Interregnum«. Die historische Forschung hat diese Situation zu Recht als Begriffskrise bezeichnet, in der die alten, seit Langem eingeübten Kategorien »in heftige Bewegung« gerieten, aber auch neue Fragen auftraten und neue Antworten gesucht wurden. Diese Beobachtung gilt besonders für das hochmoderne Verständnis sozialer Entwicklung und daraus abgeleitete Annahmen über wachsende Verflechtung, die nun zunehmend hinterfragt wurden. Der britische Genetiker Lancelot Hogben verwarf etwa die These, dass »das Wachstum des wissenschaftlichen Wissens engere ökonomische Interdependenz hervorbringt« als ein Dogma der »progressiven Denker« des . Jahrhunderts. Vertreter der Disziplin der Internationalen Beziehungen klammerten sich jedoch nicht an solche vermeintlichen »Dogmen«, sondern versuchten in den er und er Jahren ihrerseits, sich vom hochmodernen Denken zu lösen. In dieser Zeit wurden in der Auseinandersetzung mit den politischen und ökonomischen Entwicklungen der Gegenwart eine Reihe von neuen Ansätzen und Begriffen zur Untersuchung einer gewandelten Welt entworfen: Alfred Zimmern hinterfragte beispielsweise die These vom »gesetzmäßigen« Wachstum sozialer Einheiten und damit die gesamte Vorstellung sozialer »Evolution«. Der amerikanische Historiker und Politikwissenschaftler Raymond L. Buell prägte den Begriff der »komplexen Interdependenz«: Ein hypothetischer »Mann im Mond« als externer Beobachter der Erde werde zu seiner großen Überraschung feststellen, dass die Menschheit in eine Vielzahl von
Delaisi, Political Myths and Economic Realities (), S. . Ebd., S. f. Zimmern, Internationale Politik als Wissenschaft (), S. , . Zimmern, The League of Nations and the Rule of Law (), S. . Nörr/Schefold/Tenbruck, Einleitung, S. . Denn wissenschaftlicher Fortschritt könne auch ökonomische Autarkie begünstigen, etwa durch die Erzeugung künstlicher »Ersatzstoffe«. Hogben, Lancelot: The Creed of a Scientific Humanist, in: Nation, . Nov. , S. . Zimmern, The Prospects of Democracy (), S. .
»Staaten«, »Nationen« oder »Rassen« aufgeteilt sei, die alle das Recht auf Unabhängigkeit und »Souveränität« für sich beanspruchten. In der Realität sei es mit diesem Anspruch jedoch nicht weit her: Kulturell oder ökonomisch ließen sich soziale Gruppen wegen der »komplexen Interdependenz der Welt« nicht so einfach isolieren. Am deutlichsten äußerte sich die Unzufriedenheit mit dem bisherigen analytischen Instrumentarium jedoch in der Kritik am Begriff »international«, die der amerikanische Ökonom Eugene Staley vortrug. Er reduziere Interaktion auf »nationale Einheiten« und könne deshalb eine »Weltgemeinschaft«, die aus einer Vielzahl von »grenzüberschreitenden sozialen und ökonomischen Gruppierungen« zusammengesetzt sei, nicht adäquat erfassen. Alternative, aus »world« gebildete Adjektive wie »world-al« oder »world-ish« verwarf Staley – der »globe« kam ihm als semantischer Ausgangspunkt noch nicht in den Sinn. Schließlich schlug er den Begriff »mondial« vor, der »international im Sinne von die Welt als Gesamtheit betreffend« bedeuten solle. Durch seine Verwendung schlage sich die soziale »Evolution« endlich auch in der »Evolution der Sprache« nieder. Staleys Vorschlag konnte sich jedoch nicht durchsetzen und wurde in das Reich kosmopolitischer Utopien verwiesen. Wie andere in den er und er Jahren entworfene Begriffe und Ansätze war er in späteren Auseinandersetzungen mit den Folgen wachsender Interdependenz wieder weitgehend in Vergessenheit geraten. Das Abreißen dieses Diskussionszusammenhangs ist neben dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor allem auf das von E. H. Carr maßgeblich geprägte Narrativ über die Debatten der Zwischenkriegszeit zurückzuführen. In seinem publizierten Werk The Twenty Years’ Crisis verwarf der britische Historiker eine Reihe von vermeintlichen »liberalen« Grundannahmen wie die These, dass internationale Verflechtung zu Kooperation und Frieden führe, als »Ideologie einer dominanten Gruppe«. Im Fokus von Carrs Kritik standen nicht nur Politiker wie Woodrow Wilson, sondern auch Wissenschaftler wie Norman Angell und Alfred Zimmern, die sich eher damit befasst hätten, wie die Welt sein solle, als wie sie wirklich war. Sie hätten ihre Hoffnungen zu einseitig auf das Völkerecht und internationale Organisationen gesetzt und Konflikte auf psychologische Ursachen und Verständigungsprobleme reduziert. Für Carr hatten Buell, International Relations (), S. . Staley, War and the Private Investor (), S. f. und Anm. . So etwa mit einem gehörigen Maß an Zynismus in der Rezension von Leland H. Jenks, Political Science Quarterly : (), S. -. Noch wurde das Wort »mondial« im New English Dictionary on Historical Principles nur in seiner Bedeutung als »worldly, mondane« geführt. Der Economist schrieb aber von der »mondialisation« des gemeinsamen europäischen Marktes und bezeichnete den Begriff als »latest jargon«, das OED von konnte noch weitere Belege aus den er Jahren anführen. James A. H. Murray: A New English Dictionary on Historical Principles, Vol. VI, : L-N, Oxford , S. ; The Economist . Nov. , S. , R. W. Burchfield (Hrsg.): A Supplement to the Oxford English Dictionary, Volume II: H-N, Oxford , S. . Carr, The Twenty Years’ Crisis (/), S. , , .
sie damit letztlich zum Aufstieg des Faschismus, zur Politik des »Appeasement« und zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beigetragen. Schon zu dieser Zeit lassen sich grundlegend verschiedene Sichtweisen auf das Verhältnis der »tatsächlichen« Welt und ihrer mentalen Verarbeitung beobachten, die auch in den er und er Jahren in der Auseinandersetzung mit Interdependenz relevant bleiben sollten. Denn während Carr den »liberalen« Denkern vorwarf, sich auf Ideen und psychologische Fragen konzentriert und damit die »reale« Welt aus den Augen verloren zu haben, stellte sich dieser Zusammenhang für Alfred Zimmern in seiner Antwort auf Carr gerade umgekehrt dar. Denn bei der zwanzigjährigen Krise, die Carrs Buch im Titel trage, gehe es gar nicht primär um ideologische und politische Spannungen in Europa. Viel grundlegender sei die »Beunruhigung im Bereich des Denkens«, die das Eindringen internationaler Angelegenheiten in die traditionell für Innenpolitik gehaltenen Bereiche ausgelöst habe. Die wirklichkeitsferne Utopie war für Zimmern nicht der Versuch, Antworten auf die Herausforderungen einer interdependenten Welt zu finden, sondern das Festhalten an der Organisationsform des souveränen und ökonomisch autarken Nationalstaats, den es für ihn so nie gegeben hatte.
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In den späten er Jahren wurde im Kontext des frühen Kalten Krieges Carrs Einschätzung der Arbeiten der er und er Jahre jedoch hegemonial. Die Geschichte der Internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg wurde jetzt als »Great Debate« zwischen den jetzt als »Idealisten« bezeichneten »liberalen« Denkern und ihren Kritikern dargestellt. Carrs The Twenty Years’ Crisis galt nun als Gründungsschrift einer »realistischen« Perspektive auf die internationale Politik. Seine später als »veritabler Fall akademischen Rufmords« bezeichnete polemische Abwertung aller vorangegangenen Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen löste eine regelrechte damnatio memoriae aus. Nahezu die gesamte Auseinandersetzung mit internationalen Fragen in der Zwischenkriegszeit wurde jetzt als unwissenschaftliches und »idealistisches« Unter Ebd., S. . hatte Carr die Politik des Appeasement noch unterstützt. Aus der zweiten Auflage von The Twenty Years’ Crisis war diese Passage gestrichen worden, sodass sich die Seitenzahlen hier verschoben. Zimmern, A Realist in Search of a Utopia (). Siehe auch Angell, Who Are the Utopians? (). Beispielsweise bei Herz, Political Realism and Political Idealism () und noch bei Vasquez, The Power of Power Politics, S. - und Mearsheimer, E. H. Carr sowie in einer Vielzahl von Lehrbüchern, die Carvalho/Leira/Hobson, The Big Bangs of IR ausgewertet haben. Steffek/Holthaus, Einleitung: Der vergessene »Idealismus«, S. . Ashworth, Did the Realist-Idealist Debate Ever Happen?, S. .
fangen verworfen, auf die die Sozialwissenschaften nach nicht mehr aufbauen konnten. Davon war natürlich auch die Auseinandersetzung mit Fragen globaler Verflechtung betroffen. Diese Deutungsschwelle in den er Jahren war eine der zentralen Ursachen, weshalb in den er Jahren in den Internationalen Beziehungen das Gefühl aufkommen sollte, vor noch nie da gewesenen Herausforderungen zu stehen, auf die völlig neue Antworten gefunden werden müssten.
. »Globalismus« und »Globaloney« – vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg Ähnlich wie der Erste fungierte auch der Zweite Weltkrieg als Katalysator für globale Entflechtung und Verflechtung, für globalistische Gegenwartsdiagnosen und für die Entwicklung der Sozialwissenschaften. Im Zuge der Kampfhandlungen rissen erneut Handels- und Finanzbeziehungen ab, sofern sie nicht bereits im Rahmen der Weltwirtschaftskrise und der »protektionistischen Spirale« der er Jahre zum Erliegen gekommen waren. Gleichzeitig führte jedoch auch dieser Krieg zu neuen Formen der Interaktion und Verflechtung: Die Mitglieder der jeweiligen Bündnisse waren nun stärker aufeinander angewiesen, Innovationen im Bereich der Transport- und Kommunikationstechnologie bildeten die technologische Grundlage für eine weitere »Schrumpfung von Raum und Zeit«. Diese Entwicklungen führten zu neuen Diagnosen globaler Verflechtungen, die jetzt weniger aus wirtschaftlichen, sondern eher aus militärstrategischen Beobachtungen abgeleitet wurden. Denn auch der Krieg selbst hatte als »Lehrstunde in Weltgeographie« Regionen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, denen zuvor kaum Beachtung geschenkt worden war. Er diente damit als »entscheidender Impulsgeber für die Geburt einer globalen Ära«. Noch während der Kampfhandlungen wurden neue Formen internationaler Ordnung erwogen, die nun traditionell internationalistische Elemente zwischenstaatlicher Kooperation mit zuvor eher dem Kosmopolitismus zugeschriebenen Erst ab den er Jahren wurden Autoren der Zwischenkriegszeit wiederentdeckt, von denen man sich jetzt Inspirationen für die Erforschung einer »globalisierten Welt« erhoffte. Vgl. u. a. Long/Wilson (Hg.), Thinkers of the Twenty Years’ Crisis; Osiander, Rereading; Ashworth, Creating International Studies; Morefield, Covenants Without Swords; Sylvest, British Liberal Internationalism. Im Zuge dieser Neubewertung wurde die Annahme einer »First Great Debate« dekonstruiert: Vor dem Zweiten Weltkrieg habe es keine »Denkschule« des »Idealismus« gegeben, sie sei erst durch retrospektive Zuschreibungen ihrer Gegner konstruiert worden. Vgl. etwa Wilson, The Myth of the »First Great Debate«; Schmidt, Lessons from the Past; Schmidt (Hg.), International Relations and the First Great Debate. Zur Frage des Zweiten Weltkriegs als »Zäsur« vgl. Jureit, Vom Ordnen der Zeit. Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. . »Lehrstunde« bei Hobsbawm, Age of Extremes, S. .
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Ideen verbanden, die auf die Errichtung einer »Weltregierung« abzielten. So sollte nun die politische Ordnung der Welt endlich an ihre ökonomische und soziale Verflechtung angepasst werden, die Beobachter nun schon seit mehreren Jahrzehnten diagnostiziert hatten. Mit dem Beginn des Kalten Krieges verloren solche Projekte jedoch an Schwung, sie wurden bald von einer neuen Form des »Globalismus« als weltweit aktive, antikommunistische amerikanische Außenpolitik abgelöst. Diese politischen Entwicklungen hatten wiederum Auswirkungen auf Diagnosen wachsender Verflechtung und Abhängigkeit: Bis in die er Jahre bezogen sie sich nun weniger auf den gesamten Globus, sondern vielmehr auf die einzelnen »Blöcke« einer geteilten Welt. Der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg prägten zudem die weitere Entwicklung der Sozialwissenschaften in den Vereinigten Staaten entscheidend. Die Etablierung von »realistischen« und »behavioralistischen« Ansätzen auch in den Internationalen Beziehungen führten dazu, dass nach kaum an die Debatten der er und er Jahre um die Folgen wachsender Interdependenz und deren mögliche Steuerung angeknüpft wurde.
»Air Age Globalism« Die während des Weltkriegs diagnostizierte globale Verflechtung im Bereich der militärischen Technologie und Strategie ging mit einer veränderten Raum- und Zeitwahrnehmung einher. Sie versprach zunächst jedoch kaum internationale Annäherung und Kooperation, sondern wirkte eher bedrohlich: Schon Anfang der er Jahre hatte der britische Historiker Robert B. Mowat argumentiert, die Eisenbahn, das Kraftfahrzeug und das Flugzeug scherten sich nicht mehr um »natürliche Grenzen« wie Berge, Wüsten und Sümpfe, die Welt sei »geschrumpft«. Diese Entwicklungen hätten auch militärische Bedeutung, ganz besonders für die Vereinigten Staaten. Denn für Mowat waren die Ozeane, die die USA bislang von den Konflikten der übrigen Welt weitgehend abgeschirmt hatten, nur noch eine »leidlich gute Grenze«. Diese Einschätzung sollte sich schon im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs noch verstärken und hatte damit gravierende Auswirkungen auf die Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt. Mit der weiteren Verbesserung der Luftfahrttechnologie schien der nordamerikanische Kontinent nun endgültig in direkter Reichweite potenzieller Gegner zu liegen. Gleichzeitig stritten Gruppen wie das America First Committee jedoch weiterhin ab, dass Diktaturen in Europa die Sicherheit der Vereinigten Staaten bedrohen könnten. Sie wollten verhindern, dass die USA erneut in einen dortigen Konflikt eingriffen. Zwischen und untersagte der Kongress deshalb in mehreren Neutrality Acts Waffenlieferungen
Umfassend dargestellt bei Rosenboim, The Emergence of Globalism. Mowat, International Relations (), S. v.
an ausländische Kriegsparteien. Aus Sicht der Regierung Roosevelt durften sich die Vereinigten Staaten dagegen nicht länger aus der Weltpolitik fernhalten. Ab unternahm sie mit Unterstützung von Stiftungen koordinierte Anstrengungen, den Faschismus, Nationalsozialismus und japanischen Imperialismus als globale Bedrohungen darzustellen, die auch die USA nicht gleichgültig lassen konnte und damit der anti-interventionistischen Stimmung in der Bevölkerung entgegenzuwirken. Mit Beginn des Krieges wuchs die Gefahr, die Achsenmächte könnten im Falle ihres Sieges freien Handel unmöglich machen und die USA zur permanenten Militarisierung von Gesellschaft und Wirtschaft zwingen. Im Januar hatte Roosevelt in einem Schreiben an den US-Botschafter in Japan seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, die Kämpfe in Europa, Afrika und Asien seien Teil eines »einzigen weltweiten Konflikts«. Die Verteidigung der USA müsse deshalb ebenfalls einer »globalen Strategie« folgen. Im Dezember des Jahres warnte der Präsident zwei Tage nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor in einem seiner berühmten »fireside chats«, Japan und das Deutsche Reich betrachteten »alle Kontinente der Welt und alle Ozeane« als »ein gigantisches Schlachtfeld«. Die Meere schützten die USA nicht mehr vor Angriffen, ihre Sicherheit könne nicht mehr in Meilen auf einer Karte gemessen werden. Zwei Monate später forderte Roosevelt alle Amerikaner auf, einen Blick »auf ihre Karte« zu werfen. Isolationalismus sei eine Illusion, denn die »neue Art von Krieg« werde auf jedem Kontinent, jeder Insel und jeder Flugroute der Welt ausgetragen. Die einzige wirksame Verteidigung sei deshalb, offensiv und weltweit Versorgungs- und Kommunikationswege zu schützen. Wegen der zentralen Bedeutung des Flugzeugs in dieser neuen Form des Krieges argumentierte der Kartograf Walter Ristow , »air-age geography« sei immer »global geography«. Für andere Autoren waren Raum und Entfernungen, und damit Geografie insgesamt irrelevant
Zum sogenannten »Isolationismus« vgl. u. a. Nichols, Promise and Peril, Kap. -; Ninkovich, The Global Republic, Kap. . Vgl. Henrikson, FDR and the »World-Wide Arena«. President Roosevelt to the Ambassador in Japan (Grew), Washington, . Jan. , in: FRUS , The Far East, Vol. IV, Washington D. C. , S. -. Vgl. dazu Cull, Selling Peace und in kritischer Absicht Parmar, Engineering Consent sowie Parmar, Foundations of the American Century. Roosevelt, Franklin D.: December , : War with Japan, in: Buhite, Russell D./ Levy, David W. (Hrsg.): FDR’s Fireside Chats, Norman , S. -, hier: , . Roosevelt, Fighting Defeatism (), S. -. Siehe auch Lawrence, W. H.: Roosevelt to Warn U. S. of Danger. Asks All to Trace Talk on Map, NYT, . Jan. , S. , und Rosenman, Working with Roosevelt (), S. .
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geworden. Der Historiker Alan Henrikson hat diese neue Sicht auf die Welt deshalb als »Air-Age Globalism« bezeichnet. Der neue Blick auf die Welt wurde auch in einer Reihe neuartiger Weltkarten visualisiert, deren bekannteste Richard Edes Harrisons One World, One War von war. Sie zeigte die Globalität des Weltkrieges aus der Perspektive des Nordpols. Ein Jahr später zierte die Karte das Cover von Wendell Willkies Buch One World, dessen Titel in den er Jahren der prominenteste Begriff für Diagnosen globaler Verflechtung wurde. Der Republikaner hatte den Begriff der »Einen Welt« bereits im Wahlkampf gegen Roosevelt verwendet, nach seiner Niederlage reiste er im Auftrag des Präsidenten um die Welt, um die Botschaft internationaler Kooperation zu verkünden. In seinem Bericht von dieser Reise argumentierte Willkie , die Welt sei »klein und vollständig interdependent« geworden. Die politisch-soziale Ordnung müsse dringend an diese neuen Bedingungen angepasst werden.
Die Suche nach einer neuen Weltordnung Willkie stand dabei nicht allein mit solchen Forderungen: Schon in den er und er Jahren hatte eine Reihe von Kommentatoren die Notwendigkeit postuliert, die soziale Organisation der Welt an ihre gewachsene Interdependenz anzupassen. Manche von ihnen hatten ihre Hoffnungen weiterhin auf den Völkerbund gesetzt, andere dagegen wie der amerikanische Journalist Clarence Streit Ristow, Air Age Geography (), S. f. Siehe auch Renner (Hg.), Global Geography (). Für Roosevelts Berater Isaiah Bowman, Geograf und Gründungsdirektor der American Geographical Society, wurde Geografie insgesamt zunehmend irrelevant. Isaiah Bowmann: A Department of Geography, Science, . Dez. , S. , zit. nach Farish, The Contours of America’s Cold War, S. . Die These vom »Tod der Geographie« untersucht Smith, American Empire. Henrikson, The Map as an »Idea«, S. . Harrison, One World, One War (). Die Karte ist verfügbar unter www.davidrumsey.com. Buckminster Fullers »Dymaxion Map« von war eine Projektion der Erdkugel auf einen aufgefalteten Polyeder, die eine originalgetreuere zweidimensionale Darstellung des dreidimensionalen Globus ermöglichen sollte. Life Presents R. Buckminster Fuller’s Dymaxion World, in: LIFE, . März , S. -. Siehe zudem die Karten in Harrison, Look at the World () sowie Boggs, Mapping the Changing World (); Boggs, Samuel W.: Mapping Some of the Effects of Science and Technology on Human Relations, in: Department of State Bulletin (), S. -. Vgl. dazu Schulten, Richard Edes Harrison; Cosgrove/Della Dora, Mapping Global War; Henrikson, FDR and the »World-Wide Arena«; Barney, Mapping the Cold War, S. . Für weitere Beispiele für die Semantik der »One World« aus dieser Zeit siehe Perry, One World in the Making (); Mears, A Trade Agency for One World (); Patterson (Hg.), Looking Toward One World () und Kuchenbuch, »Eine Welt«, S. . Willkie, One World (), S. , . Siehe dazu auch Handlin, One World ().
dieser »Regierung für Regierungen« Pläne für eine länderübergreifende Union der nordatlantischen Demokratien gegenübergestellt, die nicht die Unabhängigkeit und Souveränität von Staaten, sondern von Individuen sichern sollte. Der Zweite Weltkrieg verlieh solchen Forderungen nach der Errichtung einer grundlegend neuen internationalen Ordnung erheblichen Aufwind. Ihre Befürworter leiteten diese Notwendigkeit dabei nicht nur aus diesem globalen Konflikt, sondern auch aus längerfristigen Entwicklungen her. Der an der University of Washington lehrende Politikwissenschaftler Linden A. Mander argumentierte beispielsweise in Foundations of Modern World Society, es sei die wahre Tragödie des Krieges, dass die teilnehmenden Staaten bemüht seien, ein Regierungssystem zu verteidigen, das den Anforderungen der gegenwärtigen, von einer Vielzahl »internationaler, trans-nationaler oder weltweiter« Aktivitäten gekennzeichneten Welt gar nicht mehr gewachsen sei. Doch nicht nur die Organisationsform des »souveränen Nationalstaats«, sondern auch die »Denkkategorien« des . Jahrhunderts mussten für Mander den veränderten Rahmenbedingungen weichen. Denn immer noch argumentierten Beobachter auf Basis von Theorien, die aus der Auseinandersetzung mit Entwicklungen des . und . Jahrhunderts abgeleitet worden seien. Die Forschung zahle einen hohen Preis für diese »Gewohnheit, Theorien aus den Theorien der Vorgänger zu entwickeln«. Zu den jetzt hinterfragten Begriffen zählte erneut das »verwünschte Wort ›international‹«, das Ralph Barton Perry dafür kritisierte, »im Grunde eine nationalistische Einstellung« zu transportieren. Im Jahr befand sich die Menschheit für den amerikanischen Philosophen jedoch bereits am »Beginn des Zeitalters der globalen Annäherung«. Der »Aufhebung von Entfernung« durch moderne Transport- und Kommunikationstechnologien und der »planetaren oder globalen« Ausbreitung der Weltwirtschaft müsse eine bewusste Form der globalen Organisation folgen. Denn nur so könne vermieden werden, dass die Tatsache, dass »alle Nationen und Rassen« nun unfreiwillig »in einer einzigen Gemeinschaft zusammengepfercht« worden seien, zu neuen Konflikten führen werde. Die Errichtung einer neuen Weltorganisation spielte eine wichtige Rolle in den Nachkriegsplanungen der US-Regierung, in die auch Sozialwissenschaftler verschiedener Disziplinen eingebunden waren. Präsident Roosevelt hatte bereits Streit, Union Now: A Proposal (), S. , . Siehe auch die Beiträge in Finkelstein/ MacIver (Hg.), Approaches to World Peace () und Bryson/Finkelstein/MacIver (Hg.), Approaches to Group Understanding () sowie Wright (Hg.), The World Community (). Vgl. Baratta, The Politics of World Federation , S. -; Rosenboim, The Emergence of Globalism, S. -. Mander, Foundations of Modern World Society (), S. v-viii, , ff. Deutsch in Perry, Wie wird die Welt (), S. . Ebd., S. , f., , , teilweise nach Raymond D. Fostdick: American Journal of Public Health : (), S. . »The coming of age of the ›global approach‹« in Perry, One World in the Making (), S. . Nach Harrison, The Face of One World ().
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im Januar die globale Strategie der USA von einem militärisch-geostrategischen Konflikt zwischen Staaten in den Bereich »universeller Werte« überführt und mit der Rhetorik der »Einen Welt« verbunden: Freiheit der Rede, Freiheit der Religion, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht seien Rechte, die Menschen »überall auf der Welt« zukommen sollten. Die zentralen Aspekte einer auf diese Prinzipien auf bauenden neuen Weltordnung legten Roosevelt und Churchill im August in der Atlantik-Charta dar: Ihre Vision einer Nachkriegsordnung beruhte auf den Prinzipien der »nationalen Selbstbestimmung«, auf Freihandel, ökonomischer Kooperation und der Schaffung eines »umfassenden und dauerhaften Systems allgemeiner Sicherheit«. In der »Deklaration der Vereinten Nationen« schlossen sich weitere Staaten, darunter auch die Sowjetunion, Anfang den Prinzipien der Charta an. Die konkrete Ausgestaltung einer neuen Weltorganisation wurde auf Drängen Roosevelts hier noch vage gelassen. Amerikanische Regierungsstellen begannen jedoch bereits, erste Entwürfe zu diskutieren. Die an diesen Gremien beteiligten Diplomaten, Geografen und anderen Sozialwissenschaftler hatten Diagnosen einer schrumpfenden und zunehmend interdependenten Welt aus der Wissenschaft nun in die Überlegungen von Regierungsstellen hineingetragen. Ein Memorandum des State Department hielt im Juli fest, »Entfernung« existiere nicht mehr, die Sicherheit der USA werde deshalb durch Kriege zwischen »anderen Nationen überall auf der Welt« bedroht. Beobachter in den Vereinigten Staaten empfanden jetzt eine besondere Verantwortung ihres Landes für die Gestaltung einer neuen, an Werten wie Demokratie und Freiheit ausgerichteten Weltordnung. Für den Verleger Henry Luce waren die Vereinigten Staaten »die intellektuelle, wissenschaftliche und künstlerische Hauptstadt der Welt« und damit »vor sich selbst wie vor der Geschichte für die Welt verantwortlich« geworden. In diesem Sinne ist auch Luces’ berühmte Aussage zu verstehen, das zwanzigste Jahrhundert werde »the first
Franklin D. Roosevelt: Annual Message to Congress on the State of the Union, . Jan. (The Four Freedoms), www.presidency.ucsb.edu/documents/annual-messagecongress-the-state-the-union (..). Henrikson, FDR and the »World-Wide Arena«, S. f. hat gezeigt, dass Roosevelt bei der Überarbeitung der Rede »international« mehrfach durch »world« ersetzt hatte. Joint Statement by President Roosevelt and Prime Minister Churchill, . Aug. (The Atlantic Charter), in: FRUS , General, The Soviet Union, Volume I, Washington D. C. , S. -. Vgl. dazu Hilderbrand, Dumbarton Oaks, S. -. Auch für antikoloniale Akteure war die Atlantik Charta vor allem wegen ihrer Betonung der Selbstbestimmung interessant. Dazu Eckel, Human Rights and Decolonization, S. f. Preliminary Memorandum on International Organization, . Juli , zit. nach Williams, Failed Imagination?, S. . Im April sprachen sich über Prozent der Befragten in den USA für eine Beteiligung ihres Landes an einer Weltorganisation mit Polizeigewalt aus. Vgl. dazu Ninkovich, The Wilsonian Century, S. -.
great American Century« sein. Unabhängig von den Überlegungen der Regierung hatten verschiedene Gruppen in den Vereinigten Staaten ebenfalls Pläne für eine neue Weltordnung entworfen, die unter anderem auf eine Weltföderation oder eine internationale Wirtschaftsplanung abzielten. Manche Zeitgenossen verbanden damit die Hoffnung, dass Nationalismus und zwischenstaatliche Grenzen nun überwunden werden könnten. Mit dem Ende des Krieges schien die Möglichkeit gekommen, solche Pläne nun institutionell umzusetzen ‒ der Historiker Robert Latham hat diesen Zeitraum als »liberal moment« bezeichnet. Erneut sollte die tatsächliche Ausgestaltung der »neuen Weltordnung« jedoch von den Forderungen solcher Autoren abweichen, die unter den Bedingungen einer verflochtenen Welt im »souveranen Nationalstaat« die zentrale Bedrohung für den Weltfrieden sahen. Bereits auf dem Moskauer Gipfeltreffen hatten sich Vertreter der USA, Großbritanniens, der Sowjetunion und Chinas im Oktober in ihrer Four Nations Declaration darauf geeinigt, die »souveräne Gleichheit aller friedensliebenden Nationen« zur Grundlage einer zukünftigen Weltorganisation zu erklären. Ein Jahr später entwarfen die Teilnehmer der Konferenz von Dumbarton Oaks ein Konzept der kollektiven Sicherheit, das unter der Führung von »four policemen« stehen sollte. Die am . Juni in San Francisco unterzeichnete Charta der Vereinten Nationen sah schließlich eine Organisation vor, die in noch größerem Maße als der Völkerbund auf der Idee des »souveränen Nationalstaates« basierte: In Artikel ihrer Charta wurde jede »Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören« ausgeschlossen. Während das System der Vereinten Nationen auf politischem Gebiet Sicherheit und Stabilität in einer interdependenten Welt gewährleisten sollte, kam diese Aufgabe im Bereich der internationalen Finanz- und Handelsordnung den neu geschaffenen Institutionen des Systems von Bretton Woods zu. Der Internationale Währungsfonds überwachte ein System fester Wechselkurse, ausgerichtet am durch Gold gedeckten US-Dollar als Leitwährung. Die Weltbank-Gruppe, insbesondere die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, sollte durch die Vergabe von Krediten zunächst die ökonomische Erholung Europas, ab den er Jahren primär »Entwicklungsprojekte« in dekolonisierten Staaten finanzieren. Als dritte Säule war schließlich eine Welthandelsorganisation vorgesehen, die verhindern sollte, dass Staaten erneut versuchen Luce, Henry: The American Century, in: LIFE, . Feb. , S. -. Siehe etwa Eichelberger, Organizing for Peace (); Hilderbrand, Dumbarton Oaks, Kap. und . Latham, The Liberal Moment, bes. S. -. Declaration of Four Nations on General Security, abgedruckt in Russel/Muther, A History of the United Nations Charter (), S. , Hervorhebung MD. Artikel , Absatz UN-Charta. Siehe Mazower, No Enchanted Palace, S. . Zur Entstehung der Vereinten Nationen vgl. Schild, Bretton Woods and Dumbarton Oaks; Schlesinger, Act of Creation.
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könnten, durch protektionistische Maßnahmen die eigene Wirtschaft auf Kosten aller übrigen zu stärken. Nachdem die Errichtung dieser Organisation am Widerstand des US-Kongresses gescheitert war, trat das General Agreement on Trade and Tariffs (GATT), ein unterzeichnetes multilaterales Vertragswerk, an deren Stelle. Die Geschichtswissenschaft hat das GATT und das System von Bretton Woods als treibende Kräfte einer grundlegenden Umstrukturierung der Weltwirtschaft gedeutet, welche die wirtschaftspolitischen Grundlagen für die »Globalisierung« gelegt hätten. Die Errichtung dieser Ordnung war aber selbst bereits eine Reaktion auf Interdependenz-Diagnosen. Denn nationale Alleingänge in einer verflochtenen Weltwirtschaft waren in den Nachkriegsplanungen der US-Regierung als Hauptursache der Krise der er Jahre identifiziert worden. Der kooperativen Sicherung weltwirtschaftlicher Stabilität wurde deshalb eine große Bedeutung für Frieden und Sicherheit in einer interdependenten Welt zugeschrieben. Die US-Regierung setzte Mitte der er Jahre auf eine globale, liberale, kapitalistische und multilaterale Weltwirtschaftsordnung. Gleichzeitig hatten Zeitgenossen aus der Weltwirtschaftskrise jedoch auch den Schluss gezogen, dass freier Handel wünschenswert sei, freie Kapitalbewegungen jedoch reguliert werden müssten. Das System von Bretton Woods sollte deshalb nicht nur den Welthandel fördern, sondern gleichzeitig die Weltwirtschaft auch regulieren und »Nationalstaaten vor den negativen Folgen der Globalisierung schützen«.
»One World or None« ‒ Internationalismus und Nationalismus im frühen Kalten Krieg Die konkrete Ausgestaltung der »neuen Weltordnung« hatte damit auch Erwartungen enttäuscht ‒ besonders die Vereinten Nationen hatten aus Sicht mancher Kritiker nicht ausreichend mit der Vergangenheit gebrochen. Im Oktober unterzeichnete unter anderem Albert Einstein einen Brief an die New York Times der davor warnte, die Vereinten Nationen würden als Instrument des Friedens scheitern, da sie auf der »absoluten Souveränität rivalisierender Nationalstaaten« aufgebaut seien. Mit der Erfindung von Nuklearwaffen sei eine »föderale Verfassung der Welt« jedoch noch dringlicher geworden, hatten sie doch eine ganz neue Form der Interdependenz geschaffen: Die Fähigkeit von Staaten, sich wechselseitig zu vernichten. Die Menschheit müsse deshalb wie »Eine Welt« Vgl. die Beiträge von Reisman und Diebold in Kirshner/Bernstein (Hg.), The Bretton Woods-GATT System; Zeiler, Offene Türen in der Weltwirtschaft, S. . Woolner, Epilogue, S. . Ähnlich Steger, Globalization, S. 39. Leddy Memo, . Feb. , zit. nach Pollard, Economic Security, S. . Vgl. dazu auch Zeiler, Free Trade, Free World; Williams, Failed Imagination?, Kapitel ; Scherrer, Globalisierung wider Willen?. Sargent, The Cold War, S. . Siehe auch James, The End of Globalization, S. . Vgl. Baratta, The Politics of World Federation , S. ff.
zusammenarbeiten oder laufe andernfalls Gefahr, nach einem Nuklearkrieg gar keine Welt mehr zu haben – One World or None lautete der Titel eines populären Buches zur Bedeutung der Atombombe aus dem Jahr . Spätestens nachdem die Sowjetunion ab ebenfalls über solche Waffen verfügte, schien ein Zustand erreicht, den der Politikwissenschaftler Daniel Deudney als »gewaltsame Interdependenz« bezeichnet hat. Die Sicherheit der beiden Supermächte schien jetzt unentrinnbar miteinander verflochten. Ein nuklearer Konflikt zwischen ihnen bedrohte jedoch die ganze Welt. Die Mitglieder des Committee to Frame a World Constitution legten deshalb / den Entwurf für eine Weltverfassung vor, die durch den Verzicht auf »Souveränität« zugunsten einer »Bundesrepublik der Welt« den »anarchischen Wettbewerb nationaler Staaten« beenden sollte. Denn das »Zeitalter der Nationalstaaten« müsse enden und die »Ära der Menschheit« beginnen. Mit dem Zerfall der Kriegsallianz und der Zunahme der Konfliktpunkte zwischen den USA und der Sowjetunion waren jedoch auch Fragen internationaler Kooperation und Organisation in den Sog jener ideologischen und weltpolitischen Konkurrenz geraten, die bald als »Kalter Krieg« bezeichnet wurde. Obwohl die amerikanischen Pläne anfangs die Teilnahme der Sowjetunion an der neuen Weltwirtschaftsordnung vorgesehen hatte, ließ diese Ende die Ratifikationsfrist für die Institutionen des Systems von Bretton Woods verstreichen. Diese setzten auch deshalb ihre ursprünglich vorgesehene enge Bindung an die Vereinten Nationen nie wirklich um und wurden zunehmend zu ausführenden Institutionen eines amerikanisch dominierten liberalen Weltwirtschafts Masters/Way (Hg.), One World or None (); Flechtheim, Eine Welt oder keine? (). Siehe auch Bohr, Nils: Open Letter to the United Nations, . Juni , zit. in Wittner, One World or None, S. . »Violent interdependence« bei Deudney, Bounding Power, S. -. Nach dem Ende des »Kalten Krieges« geriet die Bedeutung von Nuklearwaffen für Globalität und Globalismus aus dem Blick, wird in der neuesten Forschung aber wieder stärker betont. Vgl. Munster/Sylvest (Hg.), The Politics of Globality, besonders die Beiträge von Masco und Craig sowie Munster/Sylvest (Hg.), Nuclear Realism. Hutchins (Hg.), Ist eine Weltregierung möglich? (/), S. ; Hutchins, Foundations for World Order (). Die geplante Umsetzung der Weltverfassung war allerdings durch und durch amerikanisch – Weltregionen wie Europa sollten nach dem Vorbild des US-Wahlsystems »Wahlkollegien« (electoral colleges) bilden. Dazu Baratta, The Politics of World Federation , S. -; Rosenboim, The Emergence of Globalism, Kap. . Während manche Autoren der US-Regierung vorgeworfen haben, im Rahmen eines »ökonomischen Globalismus« vor allem nach weltwirtschaftlicher Dominanz gestrebt zu haben (Smith, American Empire), geht die heutige Forschung mehrheitlich davon aus, dass eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion anfangs noch ernsthaft angestrebt wurde. Denn Wachstum und weltwirtschaftliche Stabilität hielt das State Department noch 1946 für systemübergreifende Ziele. Report: American Relations With The Soviet Union, by Clark Clifford, . Sept. , S. , www.trumanlibrary. org/whistlestop/study_collections/coldwar/index.php?action=pdf&documentid=- (..). Vgl. u. a. Ikenberry, After Victory, S. -.
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systems. Doch auch die neue Sicht auf die Erde als ein zusammenhängendes Ganzes war für die Verschärfung der amerikanisch-sowjetischen Spannungen verantwortlich. Die Deutung der Welt in Kategorien des »Kalten Krieges« war aus dem Zusammenfallen einer schon seit bestehenden Konfrontation zwischen den verschiedenen Ideologien und der politisch-militärischen Nachkriegssituation in Europa entstanden. Die konkrete Ausprägung dieser Deutung ergab sich aber aus Diagnosen globaler Verflechtung: Schon in den er Jahren hatte der Geograf Stephen B. Jones festgestellt, Politiker träfen wichtige Entscheidungen im Lichte ihrer »globalen Ansichten«, die mehr als nur ein »Ablagesystem für Informationen« seien. »Global views« seien ein »System der Beurteilung« und könnten damit auch als »System der Verzerrung« wirken. Denn die Sicht auf die Welt als verflochtene Gesamtheit musste nicht unbedingt zu Forderungen nach internationaler Kooperation im Rahmen der »Einen Welt« führen. Sie konnte im Gegenteil auch zu neuen Bedrohungsdiagnosen und neuer Konkurrenz beitragen. Denn intellektuelle Eliten wie breitere Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten waren aus dem Zweiten Weltkrieg mit einem neuen Blick auf die Welt hervorgegangen, die einerseits so erschlossen und gestaltbar erschien wie niemals zuvor, andererseits aber auch bedrohlich nahe gerückt war: Im Jahr hatte der niederländisch-amerikanische »Geostratege« Nicholas J. Spykman dementsprechend gefordert, »die ganze Welt als eine Einheit« zu betrachten. Denn es gebe jetzt keine Region auf der Welt mehr, die keine strategische Bedeutung habe. Auch nach dem Ende des gegenwärtigen Krieges müssten die Vereinigten Staaten deshalb eine globale Politik verfolgen. In dieser Sichtweise war nun alles, was irgendwo auf der Welt passierte, zu einer potenziellen Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten geworden. Gleichzeitig wurden globale Bedrohungsszenarien nun vom Nationalsozialismus und japanischen Imperialismus auf den Kommunismus übertragen. Die Bemühungen der USA um die Errichtung einer »liberalen Weltordnung« verschärften die Spannungen mit der Sowjetunion noch weiter, bedingten sie doch die Ausgrenzung konkurrierender Weltordnungsentwürfe, besonders des Kommunismus. Auf die Frage des Treasury Department, weshalb die Sowjetunion die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds nicht unterstützen wolle, antwortete George F. Kennan, Diplomat an der Botschaft in Moskau, im Februar mit seinem berühmten Long Telegram: Die sowjetische Führung gehe von der Existenz eines kapitalistischen und eines sozialistischen Machtzentrums aus, deren Schicksal sich vor Dazu jetzt Sanchez-Sibony, Red Globalization, S. -. Der Historiker Alan Henrikson hat die »Schrumpfung der Erde« während des Zweiten Weltkriegs gar als eine der Hauptursachen des »Kalten Krieges« ausgemacht. Henrikson, FDR and the »World-Wide Arena«, S. und bereits Henrikson, The Map as an »Idea«, S. . Jones, Views of the Political World (), S. . Spykman, America’s Strategy (), S. , . Latham, The Liberal Moment, S. .
allem im Konflikt um die »Kontrolle der Weltwirtschaft« entscheiden werde. Anfang entwarf Kennan in einem unter Pseudonym als X-Article veröffentlichten Memorandum eine Politik der »Eindämmung« (containment) als angemessene Reaktion auf den sowjetischen Expansionismus. Während Kennan noch für einen lokal begrenzten »geographischen« Ansatz plädiert hatte, um das globale Engagement der USA nicht eskalieren zu lassen, verband der National Security Council Report im April das Szenario einer weltweiten Bedrohung durch den Kommunismus mit Diagnosen einer »schrumpfenden Welt«. Es reiche nicht mehr aus, die kommunistische Expansion einzudämmen, da die »Abwesenheit von Ordnung« in der internationalen Politik immer gefährlicher werde. Die Vereinigten Staaten müssten vielmehr Verantwortung für »world leadership« übernehmen. Damit war die »kommunistische Bedrohung« und die dagegen gerichtete Politik der Eindämmung nun wirklich »global« geworden: Alle Weltregionen schienen von ihr betroffen, während gleichzeitig die Sicherheit der USA von der Stabilität jeder Region der Welt abzuhängen und damit ein weltweites Engagement zu erfordern schien. Anfang der er Jahre begann das Deutungsmuster eines globalen »Kalten Krieges« das Denken in Kategorien der »Einen Welt« zunehmend zu überlagern. Das Adjektiv »global« wurde nun im Kontext der amerikanisch-sowjetischen Konkurrenz häufiger gebraucht, beispielsweise wenn NATO-Generalsekretär Paul-Henri Spaak argumentierte, auf die »globale Herausforderung der Sowjetunion« könnten die westlichen Nationen nur mit einer »globalen Erwiderung« reagieren. Selbst der Begriff der »Globalisierung« wurde Ende der er Jahre von Politikwissenschaftlern für die Beobachtung verwendet, im nuklearen Zeitalter hätten wegen der »Globalisierung der internationalen Politik«
Telegram, George Kennan to George Marshall [»Long Telegram«], . Feb. , www.trumanlibrary.org/whistlestop/study_collections/coldwar/documents/pdf/-. pdf (..). Kennan, George F.: Report by the Policy Planning Staff. PPS/, Review of Current Trends, . Feb. , in: FRUS , Vol. I: General: The United Nations, S. -, hier: ; Kennan, The Sources of Soviet Conduct (). Vgl. dazu Gaddis, Strategies of Containment, S. -. Report to the National Security Council, NSC , . April , S. , , , , www. trumanlibrary.org/whistlestop/study_collections/coldwar/documents/pdf/-.pdf (..). Vgl. dazu Farish, The Contours of America’s Cold War, S. -. John Lewis Gaddis hat diese Sichtweise im Gegensatz zu Kennans »asymmetrischem« Ansatz als »symmetrische Eindämmung« bezeichnet. Gaddis, Strategies of Containment, S. . Auch Richard Edes Harrisons Karten stellten jetzt durch Perspektive und Farbgebung eine Welt dar, die gänzlich in zwei Blöcke aufgeteilt war und in der mitunter die Sowjetunion durch die entsprechende Projektion überproportional groß und bedrohlich erschien. Siehe O. A., Our Narrowing World (). Spaak, Why NATO? (), S. . Siehe auch Arnold, Global Mission (); Liska, Nations in Alliance (), S. .
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auch lokale Vorgänge weltpolitische Bedeutung erhalten. Kommentatoren wie Kennan oder Walter Lippmann forderten dagegen eine abwägende Politik, die die Extreme des Isolationismus auf der einen und der grenzenlosen Expansion amerikanischen Engagements auf der anderen Seite vermeiden sollte, die sie als neuen »Globalismus« bezeichneten. Andere Kommentatorinnen und Kommentatoren übten dagegen grundsätzliche Kritik an den Deutungen einer verflochtenen Welt und den Schlussfolgerungen, die die »Liberalen« daraus abgeleitet hatten. Clare Boothe Luce, republikanische Abgeordnete im Repräsentantenhaus, hatte schon das »globale Denken« von Roosevelts Vizepräsidenten Henry A. Wallace, als »globaloney« verworfen und damit einen Begriff geprägt, der gerade im Rahmen der Globalisierungsdebatten der er Jahre wieder aufgegriffen werden sollte. Noch Ende der er Jahre sprach sich zwar eine Mehrheit der befragten US-Bürger für eine Stärkung der Vereinten Nationen aus. Im neuen weltpolitischen Klima gerieten Bemühungen blockübergreifender internationaler Kooperation jedoch zunehmend unter Beschuss. Hauptzielscheibe solcher Kritik wurde die UNESCO: Obwohl ihr Programm einer »Erziehung für die Weltgesellschaft« explizit auf der »nationalstaatlichen Struktur der Menschheit« aufbaute, stand sie für ihre Kritiker in den USA im Zentrum einer Verschwörung, welche die Ideologie des »One Worldism« verbreiten sollte. Gruppen wie die John Birch Society oder die Daughters of the American Revolution behaupteten, amerikanische Eliten wollten in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nationale Loyalitäten und die »Souveränität« der Vereinigten Staaten unterminieren und eine »weltweite sozialistische Diktatur« errichten. Antikommunismus und Nationalismus So etwa bei Mathiesen, Methodology (), bes. S. ; Brecher, International Relations (); Aspaturian, Soviet Foreign Policy (). Auch in der heutigen Forschungsliteratur wird die »Globalisierung des Kalten Krieges« in einem ähnlichen Sinne verwendet, sie bezeichnet in erster Linie die Ausweitung des Konfliktes in die »Dritte Welt«. Siehe Statler/Johns (Hg.), The Eisenhower Administration und Guderzo/Bagnato (Hg.), The Globalization of the Cold War. Lippmann, Walter: The Country is Waiting for Another Innovator, in: LIFE, . Juni , S. . Der Begiff »Globalismus« u. a. auch bei Boggs, Samuel W.: Global Relations of the United States, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Juni , S. -. Für seine spätere Verwendung in diesem Sinne siehe u. a. Ambrose, Rise to Globalism; Maghroori/Ramberg (Hg.), Globalism versus Realism; Vernon/ Spar, Beyond Globalism (); Hearden, Architects of Globalism. America in the Post-War Air World, speech by Clare Boothe Luce, Congresswoman from Connecticut, delivered in the House of Representatives, Washington D. C., . Feb. . Vital Speeches of the Day : (), S. -, hier: . Boothe Luce bezog sich hier auf ein Statement des Gouverneurs von New York, Alfred E. Smith von : »No matter how thin you slice it, it’s still baloney.« Siehe Artikel »Baloney« in Safire, The New Language of Politics (), S. f. Für die er Jahre siehe u. a. Veseth, Globaloney. Vgl. Weiss, What Happened to the Idea of World Government?, S. . Siehe u. a. die Quellen in Hoover Institution Archives, Radical Right Collection, boxes , , , sowie Smoot, The Invisible Government (). Zur natio-
hatten sich hier zu einer ideologischen Mischung verbunden, die die Grundlage für die Verfolgungswelle des McCarthyism bilden sollte, die sich auch gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit jetzt fragwürdigen internationalen Verbindungen richtete. Dementsprechend machte sich bald Ernüchterung unter den Anhängern internationaler Kooperation und der »Einen Welt« breit. Selbst die United World Federalists schwenkten auf die antikommunistische Linie ein. Ihr Gründungsdirektor Cord Meyer arbeitete seit den späten er Jahren für die CIA und brachte es dort in den ern zum Leiter der Covert Operations-Abteilung – seine Memoiren erschienen unter dem Titel Facing Reality: From World Federalism to the CIA.
Der Realismus In den er Jahren stieg der sogenannte »Realismus« in den Vereinigten Staaten zum zentralen Ansatz zur Untersuchung der internationalen Beziehungen auf. Dafür gab es mehrere Gründe: Gerade angesichts des globalen Blicks auf weltpolitische und weltwirtschaftliche Zusammenhänge schienen sich die Sozialwissenschaften jetzt mit einer schier unendlichen Fülle von teils widersprüchlichen Informationen auseinandersetzen zu müssen. Jedes theoretische Modell musste deshalb eine Auswahl nach bestimmten Relevanzkriterien treffen, um so die aus Sicht der Zeitgenossen gestiegene Komplexität der Welt auf ein handhabbares Maß zu reduzieren. Diese Anforderungen schien der Realismus nun am besten zu erfüllen. Denn er betrachtete internationale Beziehungen als Interaktion von Groß- und Supermächten. Kleine Länder und besonders die »Dritte Welt« waren zunächst nur als »Arena« für deren Interaktion relevant. Schon um eine zu starke Ideologisierung der Außenpolitik zu vermeiden, wurden Regierungsform und innenpolitische Faktoren als »black box« zunehmend ausgeklammert. Auch für nichtstaatliche Akteure, ökonomische Themen oder die Folgen globaler Verflechtung schien nun kein Platz in der Untersuchung der internationalen Beziehungen mehr zu sein.
nalstaatlichen Ausrichtung der UNESCO: Seminar on Teaching About the United Nations and Its Specialized Agencies, Aug. , http://unesdoc.unesco.org/imag es///eb.pdf (..). Dazu u. a. Schrecker, No Ivory Tower und Schrecker, Many are the Crimes. Meyer, Facing Reality (). Dazu Baratta, The Politics of World Federation , S. . Siehe etwa Hartshorne, Political Geography (), S. und Jones, Views of the Political World (), S. f. Kritik daran bei Korany, Strategic Studies; Jackson, Quasi-States; Ayoob, The Third World Security Predicament; Holsti, The State, War, and the State of War. Zum Begriff der »Dritten Welt« Wengeler, Von der Hilfe; Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt, Kap. . Vgl. Murray, Reconstructing the Cold War, S. f.
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Staaten galten nun als die einzig relevanten Akteure und wurden als autonom, abgeschlossen, einheitlich und rational definiert. Das »internationale System«, in dem sie interagierten, wurde raumübergreifend (und teilweise auch überzeitlich) als ein weltweiter Zusammenhang mit einheitlichen Funktionsprinzipien verstanden. Seine angenommenen Eigenlogiken wurden zum zentralen Untersuchungsgegenstand der Internationalen Beziehungen und spielten damit eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis der Disziplin. Mit seiner Konzentration auf die Interaktion der Groß- und Supermächte und dem seinem Ideal einer kühl kalkulierenden, stabilitätsorientierten Politik schien der Realismus damit ideal in das Umfeld des Kalten Krieges der er Jahre zu passen. Er prägte das Denken und das Selbstbild amerikanischer Entscheidungsträger in den er und er Jahren und half ihnen, ihre eher praktisch gewonnenen Ansichten wissenschaftlich zu legitimieren. Im Zuge der Etablierung des Realismus hatte sich analog zu den Machtverhältnissen in der Weltpolitik der Schwerpunkt der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit internationalen Beziehungen von Europa und insbesondere Großbritannien in die Vereinigten Staaten verschoben. Dabei spielten aus dem deutschsprachigen Raum emigrierte Juristen, Geistes- oder Sozialwissenschaftler wie Hans Joachim Morgenthau oder John H. (Hans Hermann) Herz eine zentrale Rolle. Ihre Beschäftigung mit der Weltpolitik fand vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrung mit Nationalismus, Verfolgung und Krieg in Europa statt. Nach dem »Versagen« des Völkerrechts und des Völkerbundes, dem Aufstieg totalitärer Regime und einem zweiten großen Krieg musste es für sie jetzt darum gehen zu untersuchen, welche Faktoren tatsächlich die internationale Politik beeinflussen, und nicht darum, wie die internationale Politik idealerweise beschaffen sein müsse, um Kriege zu vermeiden. Genau das unterstellten sie aber nach dem Vorbild E. H. Carrs den jetzt als »Idealisten« be-
Siehe etwa Kaplan, System and Process (); Herz, International Politics in the Atomic Age (). Diese Sicht war keineswegs auf den Realismus beschränkt, sondern u. a. auch in der Geografie verbreitet. Siehe Jones, Global Strategic Views (). Selbst Kritiker räumten ein, ohne das »internationale System« würde der Gegenstand der »internationalen Beziehungen« schnell wieder in seine Untergebiete der Politik, der Wirtschaft, des Völkerrechts und der Soziologie zerfallen. Buzan/Little, The Idea of the »International System«, S. . Erst in den er Jahren geriet wieder ins Bewusstsein, dass es auch unterhalb der globalen Ebene internationale Systeme im Plural gebe, die keineswegs immer und überall »anarchisch« seien. Vgl. Hoffmann, An American Science (), S. f.; Isaacson/Thomas, The Wise Men. Siehe auch Roberts, »All the Right People«. Oren, Our Enemies and US und Parmar, American Hegemony übertreiben jedoch, wenn sie die amerikanische Politikwissenschaft als »Ideologie« oder die Entstehung der Disziplin der Internationalen Beziehungen als Teil eines Eliten-Projektes zur Erlangung globaler Hegemonie darstellen. Etwa Dunn, The Scope of International Relations (). Zu den Emigranten aus Europa vgl. Rösch (Hg.), Émigré Scholars.
zeichneten Beobachtern internationaler Politik der Zwischenkriegszeit. Durch diese verzerrte Darstellung der Thesen ihrer Vorläufer trugen die »Realisten« der er und er Jahre dazu bei, dass die meisten Beiträge zur InterdependenzDebatte der er und er Jahre jetzt als unwissenschaftlich verworfen wurden. Nicht in einer »Great Debate« zwischen diesen »Idealisten« und ihren Kritikern der er Jahre, sondern erst in der Auseinandersetzung mit Deutungen globaler Verflechtung nach dem Zweiten Weltkrieg und der daraus hervorgegangenen »globalistischen« Außenpolitik der Vereinigten Staaten konstitutierte sich der Realismus. Seine Vertreter lehnten dabei die mit einer »liberalen« Weltordnung verbundenen Werte und Ziele keineswegs ab. Sie waren jedoch der Meinung, die Hoffnungen, die viele ihrer Zeitgenossen auf Freihandel, Weltregierung und Abrüstung setzten, seien naiv und gefährlich. Stattdessen forderten sie eine vorsichtige Abwägung konkurrierender Interessen und vorhandener Kapazitäten. Gleichzeitig war die Weltsicht mancher »Realisten« bei näherer Betrachtung komplexer, als es die spätere Rezeption dieses Ansatzes lange glauben machte. Die Sicht auf internationale Beziehungen als Interaktion von Staaten war für sie nur eine vorübergehende Setzung. Obwohl sie durchaus von zeit- und raumübergreifenden Konstanten der internationalen Politik wie dem »Streben nach Macht« oder der »anarchischen Struktur« des internationalen Systems ausgingen, räumten sie ein, dass sich dessen konkrete Form in Zukunft auch wieder ändern könne. Hans Morgenthau beispielsweise schrieb , ein Weltstaat werde dringender gebraucht denn je. Allerding existiere gegenwärtig nur eine »internationale Gesellschaft aus souveränen Nationen«, keine »supranationale Gesellschaft, die alle individuellen Mitglieder aller Nationen« umfasse. John Herz etwa warf ihnen vor, sie hätten den anarchischen Charakter der internationalen Politik verkannt. Herz, Idealist Internationalism (). Thies, Progress, History, and Identity, S. . Eine längere Vorgeschichte des »Realismus« zeichnen dagegen Ashworth, Realism and the Spirit of und Steffek/Heinze, Germany’s Fight against Versailles. Earle, H. G. Wells (). Dazu Ekbladh, Present at the Creation und ähnlich auch Scheuerman, The Realist Case for Global Reform, S. -. Morgenthau, Scientific Man (), S. -, ; Morgenthau, Politics Among Nations (), S. ff., und Morgenthau, In Defense (). Zur Kritik am »Wilsonianism« u. a. Kirk, In Search of the National Interest (); Morgenthau, The Escape from Power (). Nicht alle dem »Realismus« zugeschriebenen Autoren bezeichneten sich auch selbst so. John Herz bezeichnete seinen eigenen Ansatz eher als »realistischen Liberalismus«, der sich auf »realisierbare Ideale« konzentrieren sollte. Herz, Politischer Realismus und Politischer Idealismus (). Vgl. dazu Jacobs, Realismus. Shilliam, Morgenthau in Context hat diese Haltung als »konservativen Liberalismus« bezeichnet. Morgenthau, Politics Among Nations (), S. betonte das menschliche Streben nach Macht, Herz dagegen das »anarchische Selbsthilfesystem« und das daraus resultierende »Sicherheitsdilemma«. Herz, Idealist Internationalism () und Herz, Political Realism and Political Idealism (). Vgl. auch Stirk, John H. Herz. Morgenthau, Politics Among Nations (), S. , -. Vgl. auch Speer, Hans Morgenthau and the World State.
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Der zentrale Unterschied zwischen »Realisten« und von ihnen als »Idealisten« bezeichneten Autoren lag damit in der unterschiedlichen Einschätzung der Bedeutung mentaler Faktoren in der internationalen Politik und ihres Verhältnisses zu »strukturellen« Entwicklungen. Alfred Zimmern und andere Autoren der er und er Jahre hatten Kriege nicht für die Folge von »Missverständnissen« gehalten, wie es ihnen Hans Morgenthau unterstellte, sondern vor allem auf die Gefahren hingewiesen, die sich aus der wachsenden Lücke zwischen einer interdependenten Welt und deren Deutung und Organisation in nationalstaatlichen Kategorien ergaben. Wenn erst einmal die politische Ordnung an die neuen Bedingungen angepasst worden sei, würden aus ihrer Sicht auch die mentalen Einstellungen der Menschen nachziehen. E. H. Carr dagegen meinte, es müsse zuerst einen globalen »politischen Körper« geben, bevor es Sinn mache, eine Verfassung für einen »Weltstaat« zu entwerfen. Der Theologe Reinhold Niebuhr warnte zwar vor den Konflikten, die sich in einer interdependenten Welt aus »uneingeschränkter nationaler Souveränität« ergäben, glaubte jedoch gleichzeitig, nur eine »Weltgemeinschaft« könne einen »Weltstaat« schaffen, nicht umgekehrt. Erst wenn sich das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen von der Nation auf die Welt verschoben habe, werde auch das Prinzip der »nationalen Souveränität« schwächer werden.
Der Behavioralismus und das Denken in Systemen Bei der vermeintlichen »Denkschule« des »Realismus« handelte es sich zunächst eher um eine Ansammlung von relativ unsystematischen Überlegungen. Erst im Mai kamen wichtige Akteure wie Hans Morgenthau, Reinhold Niebuhr, Paul Nitze und Walter Lippmann zu einer Konferenz zusammen, um die Methoden der Disziplin der Internationalen Beziehungen stärker zu vereinheitlichen. Hauptmotiv für diese Bemühungen war nicht die Abgrenzung vom »Idealismus« oder »Liberalismus«, sondern die Herausforderung durch »behavioralistische« Ansätze in den Sozialwissenschaften. Obwohl »Realismus« und »Behavioralismus« auf ganz verschiedenen Ideen von Wissenschaftlichkeit aufbauten, trugen sie beide zu einer Sicht auf die Weltpolitik als Interaktion von Staaten in einem »internationalen System« bei und ließen damit andere Akteure
Morgenthau, Politics Among Nations (), S. f. Morgenthau berief sich dabei u. a. auf Rommen, Realism and Utopianism (). Carr, The Future of Nations (); Carr, The Conditions of Peace (), S. f. Ähnlich auch Kennan, American Diplomacy (), S. f. Siehe Niebuhr, The Children of Light (), S. -; Niebuhr, America’s Precarious Eminence (); Niebuhr, The Illusion of World Government () und Niebuhr, The Myth of World Government (), S. . Widerspruch u. a. bei Hutchins, The Constitutional Foundations (). Vgl. Guilhot (Hg.), The Invention.
und Verflechtungsphänomene bei der Untersuchung der internationalen Beziehungen bis in die er Jahre in den Hintergrund treten. Worum es sich beim Behavioralismus genau handelt, war dabei schon zeitgenössisch umstritten. Von seinen Befürwortern ist er als Sammelbezeichnung für wissenschaftliche Innovationen der unmittelbaren Nachkriegszeit genutzt worden, unter der sich verschiedene Ansätze fassen ließen. Seinen Kritikern diente der Begriff als Kürzel für eine Reihe negativ bewerteter Entwicklungen in den Sozialwissenschaften. Im Kontext der Interdependenz-Debatte führte der Behavioralismus dazu, dass das hochmoderne Verständnis wachsender Verflechtung als soziale »Evolution« in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts wieder an Einfluss gewann. Das daraus hervorgegangene Denken in Systemen trug zu einer staatszentrierten Sicht auf die internationalen Beziehungen bei, die erst Ende der er Jahre aufgebrochen wurde. Aus der Rückschau lassen sich die Anfänge behavioralistischer Grundannahmen auf die psychologischen Arbeiten Harold D. Laswells in den er Jahren zurückführen. Die Mobilisierung der Wissenschaften im Zweiten Weltkrieg brachte nicht nur finanzielles und institutionelles Wachstum, sondern verstärkte bei vielen Sozialwissenschaftlern auch die Überzeugung, dass interdisziplinär angelegte Forschungen anwendbare Ergebnisse für die politische Steuerung des Sozialen bringen konnten. Mit der Verschärfung der amerikanisch-sowjetischen Ordnungskonkurrenz wurde die weitere »Verwissenschaftlichung des Sozialen« und zugleich die Politisierung der US-Wissenschaft zur »Cold War Science« vorangetrieben. Schon um Vorwürfen ideologischer Vereinnahmung zu entgehen, waren Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler umso stärker auf die Betonung ihrer eigenen Neutralität bedacht. Menschliches Handeln wurde jetzt als Reaktion auf äußere Reize aus der sozialen Umgebung gedeutet und schien sich damit durch die statistische Auswertung quantitativer Daten »objektiv« untersuchen zu lassen. In Zahlen, Statistiken und Formeln ausgedrückte soziale Beziehungen erschienen so in unterschiedlichsten Kontexten messbar und vergleichbar. Zentrales Merkmal behavioralistischer Ansätze wurde damit deren »positivistisches« beziehungsweise »szientistisches« Wissenschaftsver Vgl. Robin, The Making of the Cold War Enemy, S. -. Kontinuitäten von Zweitem Weltkrieg zum Kalten Krieg betonen Lowen, Creating the Cold War University und Engerman, Rethinking, bes. S. , . In späteren Arbeiten zieht Engerman die ideengeschichtlichen Kontinuitätslinien bis in die Zwischenkriegszeit. Siehe u. a. Engerman, Social Science in the Cold War. Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen; Unger, Cold War Science; Lütjen, Vom »Gospel of Efficiency« zum »War of Ideas«. Eine »psychokulturelle« Variante des Behavioralismus betonte zunächst die Bedeutung unbewusster Faktoren, besonders von Kindheits-Traumata, für soziales Verhalten (auch als »Behaviorismus« bezeichnet). Die soziologische Variante hob dagegen die Zugehörigkeit zu Primärgruppen als Erklärungsfaktor hervor. Beide Ansätze wurden jedoch im Laufe der er Jahre von »rational choice«-Ansätzen verdrängt. Vgl. dazu Robin, The Making of the Cold War Enemy, S. -, -. Vgl. dazu Appadurai, Number in the Colonial Imagination; Porter, Trust in Numbers.
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ständnis, das durch theoriegestützte Arbeit eine »wertfreie« Beschäftigung mit menschlichem Verhalten und sozialen Strukturen versprach. Nach dem Vorbild der »exakten« Naturwissenschaften sollte es darum gehen, die Erforschung sozialer Zusammenhänge in eine »systematische Wissenschaft« zu transformieren, deren Grundannahme es war, dass »alles Verhalten, einschließlich dem von Menschen […] nach natürlichen Gesetzen« verlaufe ‒ daher die Bezeichnung »Behavioralismus«. Waren die »elementaren […] Konzepte oder Parameter« gefunden, schien sich menschliches Verhalten prognostizieren und schließlich in eine »allgemeine Theorie« überführen zu lassen. Kulturelle, ideologische oder historische Kontexte wurden dabei weitgehend ausgeklammert. Behavioralistische Theorie hatte den Anspruch, universell und global gültig zu sein. Zwischen den er und er Jahren prägte die »behavioral revolution« von der Psychologie bis zur Ökonomie nahezu alle Bereiche der US-amerikanischen Sozialwissenschaften. In die Soziologie wurden entsprechende Ansätze vor allem über den »Strukturfunktionalismus« von Talcott Parsons eingeführt, der ein »allgemeines System der Theorie« entwerfen wollte, das nahezu alle sozialen Beziehungen auf der Welt erklären könne. Der amerikanische Soziologe hatte ab den späten er und frühen er Jahren Ideen Émile Durkheims aufgegriffen, der davon ausgegangen war, dass »moderne Gesellschaften« von wachsender funktionaler Ausdifferenzierung bei gleichzeitiger zunehmender Interdependenz ihrer einzelnen Teile geprägt seien. Die These Durkheims hatte Parsons jetzt mit der Annahme verbunden, dass die »Subsysteme« einer Gesellschaft jeweils spezifische »Funktionen« zu erfüllen hätten. Diesen kämen sie mithilfe von als »Strukturen« bezeichneten Institutionen und Praktiken nach. Damit verliefen soziale Prozesse für Parsons im Grunde in allen Gesellschaften gleich. Die Folge seien immer ähnlichere und immer größere soziale Einheiten. Behavioralistische Ansätze hatten sich jetzt mit dem seit dem . Jahrhundert etabliertem Denken sozialer »Evolution« verbunden. Während diese Annahmen überall auf der Welt zu gelten schienen, wurde die für Parsons’ Strukturfunktionalismus zentrale Einheit der Analyse, die »Gesellschaft« durch den »höchsten Grad an Selbstgenügsamkeit« gegenüber ihrer Umwelt definiert und somit weitgehend mit Nationalgesellschaften gleichge Im Deutschen wird der Behavioralismus deshalb häufig auch unter dem Begriff »Positivismus« gefasst. Siehe etwa Falter, Der »Positivismusstreit«. Ford, Human Relations Area Files (), S. . So die Forderung in Berkner, Can the Social Sciences Be Made Exact? (), S. . Siehe auch Parsons/Shils, Toward a General Theory of Action (). Ein gutes Beispiel für diese Haltung ist Brodie, Strategy as a Science (). Parsons, The Prospects of Sociological Theory (), S. . Die Trennung von »Strukturen« und »Funktionen« war von dem britischen Durkheim-Schüler Alfred Radcliffe-Brown und seinem Rivalen Bronislaw Malinowski in den er Jahren in der Anthropologie eingeführt worden. Vgl. Ricci, The Tragedy of Political Science, S. . Etwa Parsons, The Social System ().
setzt. Die von Parsons’ Doktoranden Leon Mayhew in der einflussreichen International Encyclopedia of the Social Sciences angebotene Definition sah »Gesellschaft« als eine »relativ unabhängige oder selbstgenügsame Bevölkerung, die durch interne Organisation, Territorialität, kulturelle Besonderheit und sexuelle Rekrutierung« gekennzeichnet sei. Gesellschaften seien nicht völlig isoliert, ihre Interaktionen aber »kontrollierte Beziehungen mit einer Umwelt«. In die Politikwissenschaft fand dieses Denken vor allem über David Easton Eingang, der Politik als Rückkopplungskreislauf darstellte, der innerhalb eines nationalstaatlich abgegrenzten Rahmens des jeweiligen »politischen Systems« stattfand. Besonders Wissenschaftler im Umfeld des gegründeten Committee on Comparative Politics wie Gabriel Almond oder Lucian Pye orientierten sich an den Theorien Eastons und der Soziologie Talcott Parsons’, um »bestimmte universelle Funktionen aller politischen Prozesse« zu identifizieren, die von verschiedenen institutionellen Strukturen erfüllt werden konnten. Damit trugen behavioralistische Ansätze zur Konsolidierung der amerikanischen Politikwissenschaft als sozialwissenschaftliche Disziplin mit spezifischem Theorie- und Methodenarsenal, aber auch zur Bekräftigung der Sicht auf die Welt als Nebeneinander von Nationalstaaten und Nationalgesellschaften entscheidend bei.
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Im Teilbereich der Internationalen Beziehungen konnte sich der Behavioralismus dagegen zunächst nicht durchsetzen. Hans Morgenthau lehnte beispielsweise den Glauben an die Macht der Wissenschaft, alle Probleme zu lösen, »mit denen der Mensch im modernen Zeitalter konfrontiert« sei, grundlegend ab. Und doch war auch die Sicht der »Realisten« kompatibel mit dem behavioralistischen Denken in Systemen. Die Folge war ein Bild der Welt als »Gesamt Besonders in Parsons, The Structure of Social Action (); Parsons, Systems Analysis (), S. f.; Parsons, The System of Modern Society (), S. . Kritik bereits bei Luhmann, Die Weltgesellschaft (/), S. , Anm. . Vgl. dazu auch Urry, Sociology Beyond Societies, S. ; Wagner, An Entirely New Object, S. -. Gerhardt, The Social Thought of Talcott Parsons, S. - argumentiert dagegen, Parsons’ Soziologie sei zur Analyse der globalisierten Welt gut geeignet. Mayhew, Society (), S. , . Allerdings räumt Mayhew selbst ein, »the concept of a society with exclusive boundaries may be obsolete« (S. ). Für weitere Belege im gleichen Sinne siehe Wagner, An Entirely New Object, S. , Anm. . Easton, The Political System (); Easton, An Approach (). Dazu Hughes/Hughes (Hg.) Systems, Experts, and Computers. Vgl. Seybold, The Ford Foundation and the Triumph of Behavioralism; Falter, Der »Positivismusstreit«; Adcock, Interpreting Behavioralism. Morgenthau, Scientific Man (), S. vi, auch , . Zu den Debatten in den Internationalen Beziehungen vgl. Knorr/Rosenau (Hg.), Contending Approaches (). In der klassischen Meistererzählung der Geschichte des Fachs wird diese Auseinandersetzung als »Second Great Debate« bezeichnet.
system«, innerhalb dessen eine Vielzahl klar voneinander abgegrenzter »Teilsysteme« (meist mit »Nationalgesellschaften« gleichgesetzt) nebeneinanderstanden, die nach »außen« als geschlossene Einheiten miteinander interagierten, nach »innen« jedoch alle nach den gleichen Mechanismen zu funktionieren schienen. Mit Parsons’ Soziologie und ihren Auswirkungen in anderen Disziplinen trat das evolutionäre Denken des . Jahrhunderts in eine neue Hochphase ein. Globale Interdependenz wurde nun wieder als Verflechtung von Nationalgesellschaften und Nationalstaaten gedacht, nachdem diese Sicht in den er und er Jahren bereits hinterfragt und eine Anpassung der sozialwissenschaftlichen Methoden und Begriffe an die neuen Bedingungen einer interdependenten Welt eingefordert worden war. Auf die Debatten dieser Zeit wurde in den er und er Jahren jedoch kein Bezug mehr genommen. Die Orientierungskrise der Sozialwissenschaften schien damit beendet, ihre Selbstzweifel stillgestellt. Das lag vor allem an dem von »Realisten« geprägten Narrativ über ihre Vorgänger als »Idealisten«, nach dem den Thesen und Ansätzen der Zwischenkriegszeit nun keine Evidenz mehr für die Deutung der Welt nach zugestanden wurde. Die Ost-West-Konkurrenz deutete der Realismus vor allem als Konflikt von Großmächten und trug damit weiter zum Bild der internationalen Beziehungen als Interaktion von Staaten bei. Gleichzeitig bestand eine enge Wechselwirkung zwischen Deutungen der Welt in Kategorien globaler Verflechtung und in Kategorien des »Kalten Krieges«. Denn Verflechtung bedeutete ja nicht notwendigerweise Harmonie oder Kooperation. Globale Interdependenz konnte auch durch die Fähigkeit entstehen, sich wechselseitig nuklear zu vernichten. Es wäre deshalb irreführend, dem konfrontativen »Kalten Krieg« eine integrative »Globalisierung« als klar abgegrenzte Themenbereiche oder gar aufeinanderfolgende Epochen gegenüberzustellen und ihre Bedeutung für die Geschichte des . Jahrhunderts gegeneinander aufzurechnen. In beiden Fällen handelt es sich um Quellenbegriffe und Gegenwartsdiagnosen, bei der Gegenüberstellung um eine Deutung der er Jahre, die jeweils historisiert werden müssen.
. Doppelte Globalisierung? Die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten und die Welt bis in die er Jahre In der Sowjetunion fand die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit globaler Interdependenz unter ganz anderen Vorzeichen statt als in Großbritannien oder Die Geschichtswissenschaft hat sich für das systemtheoretische Denken bisher eher als Analysekategorie interessiert. Vgl. Becker, Geschichte und Systemtheorie. Die Historisierung der Systemtheorie steht dagegen noch aus. Vgl. bisher Müller, Allgemeine Systemtheorie; Zimmermann, Für eine Geschichte der Systemwissenschaft; Stichweh, Systems Theory. Diese Gegenüberstellung etwa bei Friedman, The Lexus and the Olive Tree (), S. ix-xii; Iriye, Historicizing the Cold War.
den Vereinigten Staaten. In den er und er Jahren lässt sich hier eine Verstaatlichung und Nationalisierung des Marxismus-Leninismus beobachten, die den Stellenwert grenzüberschreitender Verflechtungen in der Ideologie in den Hintergrund treten ließ. Nach der von Stalin in den er Jahren vertretenen These von der Existenz zweier ideologischer Systeme und zweier Weltmärkte konnte es nun gar keine wissenschaftliche Beschäftigung mit »der Weltwirtschaft« oder mit Verflechtungen in globalem Maßstab mehr geben. Gleichzeitig wurden in den er und er Jahren jedoch auch die institutionellen wie ideologischen Grundlagen für die sowjetische Beschäftigung mit internationalen Zusammenhängen gelegt, die nach einer Phase verschärfter Abschottung nach dem Zweiten Weltkrieg in den er Jahren wieder intensiv einsetzen konnte.
Die sowjetische Auseinandersetzung mit Weltpolitik und Weltwirtschaft, - Die sowjetische Auseinandersetzung mit internationaler Politik und Wirtschaft stand zunächst ganz im Zeichen von Bemühungen, die sozialistische Revolution zu verteidigen und gleichzeitig auf andere Länder auszuweiten. Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik war dem Völkerbund nicht beigetreten. Denn aus Sicht Lenins und anderer Bolschewiki stellte er nur eine scheinheilige Fassade dar, die pazifistische Floskeln ausstieß, in Wirklichkeit jedoch den Interessen des Kapitalismus und Imperialismus diente. Dagegen sollte die im März in Moskau gegründete »Dritte Internationale« (Komintern) als wirklich »revolutionäre Internationale« neben europäischen Arbeitern auch die Bewohner der Kolonien für den Kommunismus gewinnen. Schon in den er Jahren setzte jedoch eine zunehmende Nationalisierung und Verstaatlichung des Marxismus-Leninismus ein. Denn nachdem der Kapitalismus nicht zusammengebrochen und weitere Revolutionen ausgeblieben waren, wurde die Frage nach der Stabilisierung der Sowjetunion immer dominanter. Stalins Maxime vom Aufbau des »Sozialismus in einem Land« setzte »internationale Solidarität« mit Loyalität zur Sowjetunion und die Emanzipation des Proletariats mit der weiteren Entwicklung des sowjetischen Staates gleich. »Internationalist« war jetzt, »wer vorbehaltslos, ohne zu schwanken, Siehe die Dokumente in Degras, Jane (Hrsg.): The Communist International (): Documents, Band , London , S. , f. Lenin, Wladimir I.: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (Die Aprilthesen) [. April ], in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): W. I. Lenin: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: . Vgl. Drabkin, Die Idee der Weltrevolution. Stalin, Joseph W.: Über die Grundlagen des Leninismus [], in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): J. W. Stalin: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: . Siehe auch Forman, Nationalism and the International Labour Movement, S. -.
ohne Bedingungen zu stellen, bereit ist, die UdSSR zu schützen«. Gleichzeitig strebte die Sowjetunion nun die Wiedereingliederung in das »bürgerliche« System zwischenstaatlicher Politik an. In einem Interview mit H. G. Wells stritt Stalin rundheraus ab, den Export der Revolution zu betreiben. trat die Sowjetunion schließlich dem Völkerbund bei. Sozialismus war damit vom internationalistischen Klassenkampf mit dem Ziel der Weltrevolution, wie ihn etwa Leo Trockij noch weiter vertrat, zum staatlichen Entwicklungsprogramm geworden. Das sowjetische Interesse an antikolonialen Bewegungen war stark zurückgegangen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde auch die Ideologie zunehmend verstaatlicht und nationalisiert: Auf dem XVI. Parteitag verwarf Stalin die These Karl Kautskys, der Sozialismus werde zur Amalgamierung der Nationen führen. Nationale Unterschiede würden vielmehr selbst nach der weltweiten Durchsetzung einer Diktatur des Proletariats noch lange fortbestehen. Erstmals wurde jetzt deutlich zwischen dem (weitgehend erreichten) innenpolitischen Sieg des Sozialismus und dem (noch zu erreichenden) weltweiten Sieg des Sozialismus unterschieden. Mit der ideologischen Trennung von Innen- und Außenpolitik waren jedoch auch die Grundlagen für eine spezialisierte wissenschaftliche Beschäftigung mit »internationalen« Beziehungen gelegt worden. Das aktuelle Staaten- und Wirtschaftssystem schien zumindest mittelfristig stabil zu bleiben, die Sowjetunion musste darin agieren und brauchte entsprechende Expertise. Im Jahr wurde in Moskau das Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik (Institut mirovogo chozjajstva i mirovoj politiki, IMChMP) ins Leben gerufen, das die sowjetische Führung über zentrale Entwicklungen des »Kapitalismus« und »Imperialismus« informieren sollte. Drei Jahre später übernahm Jenö Varga, ein aus Ungarn stammender Wirtschaftsexperte der Komintern die Leitung des Institutes, das bald als »Varga-Institut« bekannt wurde. Während »Weltpolitik«, verstanden als Kampf zwischen »imperialistischem« Kapitalismus und »anti-imperialistischem« Sozialismus, ein unproblematisches Untersuchungsgebiet war, entbrannte um die Frage, ob es den Gegenstand der »Weltwirtschaft« überhaupt gebe, eine hef Stalin, Joseph W.: Die Internationale Lage und die Verteidigung der UdSSR, Rede am . August , in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): J. W. Stalin: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: . Stalin, Joseph W.: Unterredung mit dem englischen Schriftsteller H. G. Wells (. Juli ), in: ZK der KPD/ML (Hrsg.): J. W. Stalin: Werke, Band , Dortmund , S. -. Schon war die Sowjetunion vom Deutschen Reich, unter anderem von Großbritannien und Frankreich und schließlich auch von den USA diplomatisch anerkannt worden. Stalin, Joseph W.: Schlusswort zum politischen Rechenschaftsbericht des ZK an den XVI. Parteitag der KPdSU(B), . Juli , in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): J. W. Stalin: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -. Zu diesem für ihn schon seit der Oktoberrevolution zu beobachtenden Prozess der »Nationalisierung« des Marxismus-Leninismus auch English, Russia and the Idea of the West, S. -. Zum IMChMP Duda, Jenö Varga. Zu Varga Mommen, Stalin’s Economist.
tige Debatte. Die Redaktion der offiziellen Zeitschrift der Kommunistischen Akademie behauptete , es könne »keine Wissenschaft über die Wirtschaft allgemein«, sondern nur über die kapitalistische oder die sozialistische Wirtschaft geben. Deren Wechselwirkungen mit der Politik sowie die »Gesetze der gesellschaftlichen Produktion« zu untersuchen, war Aufgabe der marxistischen »politischen Ökonomie«, die in den er Jahren zu einer eigenen Wissenschaft erklärt wurde. Auf dem XVI. Parteitag bestätigte Stalin im Jahr die These, dass es keine »Weltwirtschaft« oder gar einen einheitlichen »Weltmarkt« gebe. Denn das »sozialistische System« stehe jetzt dem kapitalistischen gegenüber und demonstriere »durch die bloße Tatsache seines Bestehens« dessen »Fäulnis«. Eine offene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ökonomischen Verflechtungen in globalem Maßstab war damit nicht mehr möglich. Die Aussagen Stalins wurden jetzt zu dogmatischen Formeln, die zur Begründung aller anderen Forschungsergebnisse herangezogen werden mussten. Neben diesen ideologischen Vorgaben beeinträchtigten auch die Wirren der sowjetischen »Kulturrevolution« zwischen und sowie die forcierte Industrialisierung und Zwangskollektivierung die sowjetische Wissenschaft erheblich. / sowie zwischen und kam es zu Verfolgungswellen, die auch Akademiemitglieder betrafen. Die Arbeit der sowjetischen Forschungsinstitute wurde zunehmend dogmatischer und formalistischer, Publikationen der Zensur unterworfen – das »goldene Zeitalter des marxistischen Denkens in der UdSSR« war beendet.
Zit. in Duda, Jenö Varga, S. , Hervorhebung im Original. Ostrovitjanov (Hg.), Političeskaja ekonomija (), zit. nach der deutschen Ausgabe: Akademie der Wissenschaften der UdSSR – Institut für Ökonomie, Politische Ökonomie. Lehrbuch, Berlin (Ost) , S. . Stalin, Politischer Bericht des Zentralkomitees (), S. . Als sich die kapitalistische Wirtschaft Mitte der er Jahre doch wieder etwas belebte, deutete Stalin diese Entwicklung als »Depression anderer Art«. Stalin, Joseph W.: Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU (b), . Januar , in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): J. W. Stalin: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: f. Stalin, Joseph W.: Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus. Brief an die Redaktion der Zeitschrift »Proletarskaja Rewoluzija«, , in: Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED (Hrsg.): J. W. Stalin: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -. Der Begriff nach Fitzpatrick (Hg.), Cultural Revolution in Russia. Siehe auch DavidFox, The Assault on the Universities. Siehe Leonov, V. P. (Hrsg.): Akademičeskoe delo - gg., t. , St. Petersburg , S. XLIXf. Zu den Säuberungen am IMChMP Duda, Jenö Varga, S. -. Schapiro, The Communist Party of the Soviet Union (), S. . Dazu auch Eran, Mezhdunarodniki, S. ; Day, The »Crisis« and the »Crash«, S. .
»Der Kampf mit dem Kosmopolitismus« ‒ Die Abschließung der Sowjetunion, - Auch nach dem Zweiten Weltkrieg konnte in der Sowjetunion zunächst keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der internationalen Beziehungen und der Weltwirtschaft stattfinden. Im Gegenteil, das Land schottete sich immer mehr von der Außenwelt ab. Dabei hatte unmittelbar nach dem Ende des Krieges in den sowjetischen Wissenschaften noch Auf bruchsstimmung geherrscht. Auf der -Jahr-Feier der Akademie der Wissenschaften hatte Außenminister Molotov erklärt, die sowjetische Führung werde alles tun, um eine engere Kooperation mit der »Weltwissenschaft« zu ermöglichen. Hoffnungen, dass die Sowjetunion nie wieder so isoliert sein werde wie vor dem Krieg, zerschlugen sich jedoch bald. Denn mit dem Zerfall der Kriegsallianz beteiligte sich ihre Führung kaum noch an Bemühungen internationaler Kooperation und erzwang wieder eine stärkere Abschottung von der nichtsozialistischen Welt. Nikolaj Novikov, Botschafter in Washington, berichtete im September an Moskau, die USA strebten »Welthegemonie« an. Dazu gehöre auch der Versuch, die Vereinten Nationen zu einer angelsächsisch dominierten Organisation zu machen. Auf seiner berühmten Rede anlässlich der Gründung des Kommunistischen Informationsbüros (Kominform) im September behauptete Parteisekretär Andrej Ždanov, Entwürfe für einen »Weltstaat« seien nur Teil einer großangelegten Kampagne, die Souveränität und Unabhängigkeit der sozialistischen Staaten zu untergraben. Die Welt sei jetzt in »zwei Lager« geteilt, ein imperialistisches, antidemokratisches, kapitalistisches und ein antiimperialistisches, demokratisches, sozialistisches. Entsprechend dieser neuen Linie wies jetzt auch die Akademie der Wissenschaften alle Weltstaatsrhetorik als Versuch zurück, unter dem Deckmantel vermeintlich »progressiver Ideen« die sozialistischen Staaten zur Aufgabe ihrer Unabhängigkeit zugunsten einer »Weltherrschaft der kapitalistischen Monopole« zu bewegen. Ab / stand Ždanov an der Spitze einer Kampagne, die darauf abzielte, die politisch-ideologische Kontrolle über das Wissenschafts- und Kulturleben zu intensivieren. Die Politik der »Ždanovščina« ging auch nach dem Tod des Parteisekretärs im August mit verschärfter Zensur, antisemitischen Ausfällen, chauvinistischer Begeisterung für einen großrussischen Nationalismus und Aufrufen zur Ausmerzung aller »bürgerlichen« und ausländischen Einflüsse auf die Akademija Nauk SSSR, -letie Akademii nauk (). Vgl. auch Duda, Jenö Varga, S. f und Hough, Debates about the Postwar World. The Novikov-Telegram, Washington, . Sept. , in: Jensen, Origins of the Cold War (), S. -. Extract from a Speech by Mr Zhdanov, Wiliza Gora, .-. Sept. , in: Carlyle, Margaret (Hrsg.): Documents on International Affairs -, Oxford , S. . Sergej Vavilov, A. N. Frumkin, A. F. Joffe und An. N. Semyonov in Novoe Vremja, . Nov. , zit. nach Wittner, One World or None, S. .
sowjetische Gesellschaft einher. Als Hauptgegner galten nun die Anhänger eines »bourgeoisen Kosmopolitismus«, die im Jahr auf einer Diskussionsveranstaltung des Instituts für Wirtschaft als »Abtrünnige des Volkes« verurteilt wurden. Das sowjetische Volk verachte diese »vaterlandslosen Kosmopoliten«. In der internationalen Politik sollte der »sozialistische Internationalismus« jetzt primär die Kooperation der regierenden Kommunistischen Parteien fördern. Vom »Kosmopolitismus« wurde er dagegen scharf abgegrenzt. Im Herbst erklärte etwa der stellvertretende Generalsekretär des Schriftstellerverbandes Aleksej Surkov im Rahmen einer Delegationsreise sowjetischer Künstler und Wissenschaftler nach London, der »Kosmopolitsmus« nehme dem Menschen das »heilige Gefühl für sein Heimatland«, und entmachte ihn intellektuell gegenüber der Gefahr des »imperialistischen Super-Staates«. Sowjetbürger würden deshalb stets »Internationalisten« bleiben, aber niemals »Kosmopoliten« werden. Zwischen und nahm der »Kampf mit dem Kosmopolitismus« (bor’ba s kozmopolitizmom) den Charakter einer Säuberungskampagne an. Vor allem jüdische Intellektuelle, Anhänger der Esperanto-Bewegung, aber auch »anti-patriotische« Wissenschaftler und Literaturkritiker wurden jetzt verfolgt. Ihnen wurde vorgeworfen, nicht nur die Bedeutung und Souveränität der Nation nicht anzuerkennen, sondern auch eine servile Haltung gegenüber den vermeintlichen Errungenschaften der »bürgerlichen« Wissenschaften an den Tag zu legen. Damit wurden auch alle Wissenschaftsdisziplinen nationalisiert, wichtige Entdeckungen wurden jetzt Vertretern der russischen Nation zugeschrieben. Für den Ethnologen I. Potechin predigten die Vertreter des »militanten Kosmopolitismus« eine falsche Theorie des »nicht-nationalen Charakters der weltweiten Wissenschaft«. Jede Wissenschaft sei jedoch wie jede Kultur »national in der Form und klassenorientiert im Inhalt«. Es gebe deshalb keine »weltweite Wissenschaft«. Dieser Begriff bezeichne nur die »Zusammenfassung und Synthese der Beiträge von Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern«. Schon seit hatte die Akademie der Wissenschaften keine fremdsprachigen Bulletins mehr veröffentlicht. Bald machte sich jeder verdächtig, der persönliche Kontakte ins nichtsozialistische Ausland pflegte. Zu dieser Phase Vucinich, Empire of Knowledge, S. -; Pollock, Stalin and the Soviet Science Wars. Rasširennaja sessija učenogo soveta Instituta ekonomiki Akademii nauk SSSR, Voprosy Ekonomiki, (), S. , Übersetzung nach Duda, Jenö Varga, S. . Surkov, Soviet Literatur (). Für den Hinweis danke ich Sonja Großmann. Startschuss war der Pravda-Artikel Ob odnoj antipatriotičeskoj gruppe teatral’nych kritikov, . Jan. , S. . Siehe zudem die Beiträge zu dem im Januar abgehaltenen Symposium der Akademie der Wissenschaften, in denen nahezu alle Disziplinen auf ihre russischen Ursprünge zurückgeführt wurden: Vavilov, Voprosy istorii otečestvennoj nauki (). Vgl. dazu Asadovskii/Egorov, From Anti-Westernism to Anti-Semitism; Sonin, Bor’ba s kosmopolitizmom. Potechin, Kosmopolitizm v amerikanskoj etnografii (), S. f.
Wenig überraschend wurden damit Experten und Institutionen, die sich mit internationalen Fragen beschäftigten, von der Kampagne gegen den »Kosmopolitismus« besonders getroffen. Jenö Varga hatte noch im Herbst in einem neuen Buch argumentiert, die Krise des Kapitalismus sei kriegsbedingt und nicht Folge seiner allgemeinen Entwicklungsgesetze. Gleichzeitig waren die »Demokratien neuen Typs« in Mittel- und Osteuropa für ihn aus wirtschaftlicher Perspektive eher eine Belastung für die Sowjetunion. Für diese Thesen wurde Varga im neuen politischen Klima jedoch heftig kritisiert, im September wurde er als Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen abgesetzt. Die Einrichtung wurde mit dem Institut für Wirtschaft zwangsfusioniert, was de facto ihre Schließung bedeutete. Auch die ideologischen Bedingungen für eine Auseinandersetzung mit internationalen Fragen wurden jetzt noch schwieriger. Denn räumte Stalin zwar ein, dass es vor dem Krieg noch einen »einheitlichen, allumfassenden Weltmarkt« gegeben habe. Dessen Zerfall gehöre jedoch zu den wichtigsten Folgen des Konflikts. Die Existenz eines zweiten, sozialistischen Weltmarktes vertiefe die »allgemeine Krise des kapitalistischen Weltsystems« noch weiter. Damit war die sowjetische Forschung zur Weltwirtschaft und den internationalen Beziehungen jetzt »auf dem denkbar niedrigsten Niveau marxistisch-leninistischer Kapitalismusanalyse« eingefroren und in ideologischen Dogmen und propagandistischen Floskeln erstarrt. Gleichzeitig wurden nach dem Abreißen internationaler Kontakte und Handelsbeziehungen wissenschaftliche und ökonomische Netzwerke neu ausgerichtet: Als Stalin die Existenz zweier »Weltmärkte« postuliert hatte, war der sozialistische Weltmarkt noch eher eine Zielvorstellung gewesen. In dieser Zeit entstanden jedoch Institutionen, die Interaktionen entlang der neuen politisch-ideologischen Trennlinien ausrichten und Verflechtungen innerhalb des »Ostblocks« vertiefen sollten. Den Anfang hatte im Januar der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gemacht, der ab Mitte der er Jahre weltweit die »internationale sozialistische Arbeitsteilung« koordinieren sollte. Denn »Sozialismus in einem Land« konnte es unter den neuen Bedingungen nun ebenso wenig geben wie »Kapitalismus in einem Land«. Das »sozialistische Weltsystem« sollte durch den RGW von der Theorie zur Wirklichkeit werden. In diesen Kontext gehörte auch die Ausweitung des sowjetischen »akademischen Regimes« auf Mittel- und Osteuropa. Dort entstand ein System von Akademien und Instituten. In den folgenden Jahren bildete sich damit eine eigene »sozialistische Wissenssphäre« heraus Varga, Izmenija v ekonomike kapitalizma (), S. , Übersetzung nach Duda, Jenö Varga, S. . Perovoj, V.: Izdavať bol’še knig po voprosam ekonomiki, in: Kul’tura i žizn’, . Okt. . Vgl. Duda, Jenö Varga, S. -; Roh, Rethinking the Varga Controversy. Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus (), S. , . Duda, Jenö Varga, S. . Zum RGW vgl. u. a. Ahrens, Gegenseitige Wirtschaftshilfe?; Steiner, The Council of Mutual Economic Assistance.
‒ die von Ždanov postulierten »zwei Lager« wurden durch diese Prozesse der Absonderung und doppelten Integration zunehmend Realität. Obwohl die »sozialistische Integration« nie die erhofften Ergebnisse erzielte, sprechen neuere historische Arbeiten deshalb nicht mehr von einer »halbierten«, sondern eher von einer »doppelten Globalisierung«. Neben der kapitalistischen habe es zumindest in Ansätzen auch eine »rote Globalisierung« gegeben.
Die sowjetische Rückkehr auf die Weltbühne ab / Anfang der er Jahre hatten die Abschließung der Sowjetunion und die Nationalisierung des Marxismus-Leninismus mit der Kampagne gegen den »Kosmopolitismus« ihren Höhepunkt erreicht. Der sozialistische »Internationalismus« war jetzt weitgehend auf die Interaktion zwischen offiziellen Staats- und Parteiorganisationen reduziert worden, in der sowjetischen Außenpolitik erlahmte das Interesse an außereuropäischen Entwicklungen. Die Stabilisierung der Ordnungskonkurrenz in Europa, Stalins Tod und vor allem die Auflösung der europäischen Kolonialreiche führten ab Mitte der er Jahre jedoch zu einer Neubelebung des sowjetischen Interesses an politischen und ökonomischen Zusammenhängen außerhalb Europas. Jetzt wurden die institutionellen und fachlichen Grundlagen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung in den er und er Jahren gelegt. Nach Stalins Tod wurde das Land zunächst von einer »kollektiven Führung« der wichtigsten Funktionäre geleitet, in der sich bis Nikita Chruščev gegen seine Konkurrenten durchsetzen konnte. Schon auf dem Juli-Plenum des ZK hatte Chruščev unter dem Motto »Kampf gegen den Dogmatismus« eine Welle von Kritik an nur die marxistisch-leninistischen »Klassiker« zitierender »Pseudo-Wissenschaft« (citatičestvo) ausgelöst. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar übte er in einer bald im Westen verbreiteten »Geheimrede« scharfe Kritik am »Personenkult« um Stalin. Damit läutete Chruščev eine Zeit der »Entstalinisierung« und des »Tauwetters« ein, die auch für die sowjetische Sicht auf Weltpolitik und Weltwirtschaft einen wichtigen Wendepunkt markierte. Die Grundlagen für eine differenziertere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Zusammenhängen wurden mit der graduellen Abkehr von bisherigen Dogmen gelegt. Chruščev bekräftigte zwar noch einmal die These Vgl. Connelly, Captive University; David-Fox/Péteri (Hg.), Academia in Upheaval. »Halbierte Globalisierung« etwa bei Osterhammel/Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. . Dagegen Sanchez-Sibony, Red Globalization. Dazu abwägend Mark/ Rupprecht, The Socialist World. Vgl. Hilger, Revolutionsideologie, S. . Dazu Dallin, Soviet Foreign Policy after Stalin (), S. -. RGANI, f. , op. , d. , ll. -, abgedruckt in: Ajmermacher/Afiani/Bajrau (Hg.), Doklad N. S. Chruščeva, S. -.
von den zwei »Weltsystemen«, von denen jedes mittlerweile seinen eigenen »Weltmarkt« umfasse. Das sozialistische System dränge das kapitalistische immer mehr zurück, in dem sich auch deshalb die Widersprüche immer weiter verschärften. Im selben Jahr befand der stellvertretende Ministerpräsident Anastas Mikojan jedoch, die neue Stärke der Sowjetunion und ihrer Verbündeten machten einen Krieg zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Lager zunehmend unwahrscheinlich. Die außenpolitische Konsequenz dieser Einschätzung war die Doktrin der »friedlichen Koexistenz«. Chruščev benannte am . Februar die »gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität, Nichtangriff, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten des anderen, Gleichheit und gegenseitiger Nutzen, friedliche Koexistenz und wirtschaftliche Zusammenarbeit« als Grundlinien des sowjetischen Verhältnisses zum »Westen«. Dadurch sei der politisch-ideologische Wettbewerb mit dem Kapitalismus nicht beendet, der Sozialismus wolle jedoch durch die Vorzüge seiner Produktionsweise und nicht durch »bewaffnete Einmischung« siegen. Daraus ergab sich einerseits die Notwendigkeit einer engeren Integration des sozialistischen Lagers. Staatliche Formen würden hier zunächst erhalten bleiben, inhaltlich aber immer weiter ausgehöhlt und Grenzen schließlich bedeutungslos. Andererseits war jedoch gerade der ökonomische Austausch zwischen den beiden »Systemen« nach sowjetischer Darstellung eine zentrale Grundlage für die »friedliche Koexistenz«. Die neue sowjetische Führung strebte nicht nach Autarkie, sondern unter anderem durch Handel mit Japan und Westeuropa nach einer stärkeren Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft, wenn auch nicht in das amerikanisch dominierte System von Bretton Woods. Für Anastas Mikojan war der Austausch von Waren »durch die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung« und die »allgemein bekannte Tatsache, daß es nicht für alle Länder gleichermaßen vorteilhaft ist, alle Arten von Gütern zu produzieren«, sogar »objektiv bedingt«. Chruščev selbst führte die allgemeine Schrumpfung der Welt als Motiv einer weiteren Annäherung an den Westen an. Denn auf dem Planeten sei es mittlerweile »ziemlich eng geworden«: »Ob dir dein Nachbar lieb oder nicht lieb ist, du kannst nichts tun, man muß irgendwie mit ihm auskommen, da wir nur auf einem Planeten leben.« Chruschtschow, Rechenschaftsbericht (), S. , , . Mikojan, Den Leninismus konsequent in die Tat umsetzen (), S. . Siehe auch Chruschtschow, Rechenschaftsbericht (), S. -. Ebd., S. f. Das auf dem XXII. Parteitag beschlossene Programm der KPdSU definierte die »friedliche Koexistenz« dann auch als andere, vorteilhaftere Form des Wettbewerbs mit dem Kapitalismus, als »spezifische Form des Klassenkampfes«. Reč tovarišča N. S. Chruščeva na devjatoj obščegermanskoj rabočej konferencii v gorode Lejpcige marta goda, Pravda No , . März , S. -, zit. nach Brzezinski, The Organization of the Communist Camp (), S. . Siehe auch Fleischler (Hg.), Short Handbook of Communist Ideology (), S. f., f. Dieses Argument betont Sanchez-Sibony, Red Globalization, bes. Kap. und . Mikojan, Den Leninismus konsequent in die Tat umsetzen (), S. f. Chruschtschow, Über friedliche Koexistenz (), S. .
Das bedeutete jedoch nicht, dass der Kapitalismus und der Sozialismus nicht darum konkurriert hätten, die noch nicht klar verorteten Staaten der »Dritten Welt« in ihr jeweiliges »System« und ihren »Weltmarkt« einzubinden. Schon auf dem XX. Parteitag hatte Chruščev die »Kräfte der nationalen Befreiungsbewegung« als Stärkung der sowjetischen Position in der Weltpolitik verbucht. Aus der Doktrin der »friedlichen Koexistenz« war das »heilige und unveräußerliche Recht« der Völker, »für die Befreiung von ausländischen Unterdrückern zu kämpfen« explizit ausgenommen. Beide Supermächte versuchten deshalb, sich durch verschiedene Formen der militärischen und zivilen Unterstützung als die verlässlichsten Förderer antikolonialer Bewegungen darzustellen und, so die sowjetische Formulierung, unabhängig gewordenen Ländern zu helfen, »sich selbst von den Vorzügen des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus zu überzeugen«. Zudem erhoffte sich die sowjetische Führung Vorteile etwa beim Zugang zu gefragten Rohstoffen oder bei der Erschließung neuer Märkte für sowjetische Produkte. Das neue sowjetische Interesse an Weltpolitik und Weltwirtschaft machte jedoch einen eklatanten Mangel an wissenschaftlicher Expertise deutlich. Auf dem XX. Parteitag verbuchte es Mikojan bereits als Erfolg der neuen Führung, die »Isolierung der sowjetischen gesellschaftlichen und staatlichen Organisationen von der Außenwelt« beendet zu haben. Gleichzeitig beklagte er jedoch, die sowjetische Wissenschaft könne »keine umfassende und tiefgründige Einschätzung der Erscheinungen im Leben anderer Länder« geben: »Und wer soll sich bei uns genaugenommen auch ernsthaft mit der Ausarbeitung dieser Probleme befassen? Wir hatten vor dem Kriege ein Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik, aber auch das wurde aufgelöst«. Das einzige verbliebene Institut der Akademie der Wissenschaften, das sich mit asiatischen Ländern (dem »Osten«) befasse, schlafe bis auf den heutigen Tag,
Chruschtschow, Rechenschaftsbericht (), S. f. sowie auch f. Dazu Boden, Die Grenzen der Weltmacht, S. -. In den sozialistischen Ländern wurde der Begriff »Dritte Welt«, der ja auch die Option eines »dritten Weges« enthielt, nicht oder nur in Anführungszeichen verwendet. Vielmehr sprach man von den »Ländern des Ostens« (die nicht nur Asien, sondern auch Afrika und mitunter Lateinamerika umfassten), den »jungen Staaten«, oder den »sich entwickelnden Ländern«, ab den er Jahren von »Entwicklungsländern«. Dazu Boden, Die Grenzen der Weltmacht, S. ff.; Lorenzini, Comecon and the South, S. . Pravda, . Feb. , zit. nach Stöver, Der Kalte Krieg -, S. . Postanovlenie CK KPSS »O meroprijatijach po rasšireniju kul’turnych i obščestvennych svjazej so stranami Azii i Afriki«, marta g. und Rekomendacii sekcii po voprosam sovetskoj propagandy na strany Vostoka i kul’turnych svjazej SSSR s etimi stranami, abgedruckt in Davidson, Apollon B./Mazov, Sergej V.: Rossija i Afrika: Dokumenty i materialy, XVIII v. – g. Tom II: -, Moskva , S. -. Vgl. dazu u. a. Hilger, Revolutionsideologie; Sanchez-Sibony, Red Globalization, Kap. .
während »der ganze Osten […] erwacht« sei. In den nächsten Jahren kam es in der Sowjetunion jedoch zu einer Welle von Institutsgründungen: Noch wurde das Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (Institut Mirovoj Ekonomiki i Meždunarodnych Otnošenij, IMEMO) eingerichtet, das Institut für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems folgte . Im selben Jahr wurden als Reaktion auf die wachsende Bedeutung »nationaler Befreiungsbewegungen« die sowjetischen area studies durch die Gründung eines AfrikaInstituts ausgebaut. folgte das Lateinamerika-Institut als Reaktion auf den Erfolg Fidel Castros auf Kuba. Als Vorbilder dienten dabei amerikanische Think Tanks, deren politisch-ideologische Ausrichtung zwar stets kritisiert, deren Vorgehensweise jedoch als beispielhaft empfunden wurde. Die neuen intellektuellen Freiheiten der Tauwetter-Ära, die neuen institutionellen Voraussetzungen und die neuen Möglichkeiten, Informationen über Entwicklungen außerhalb der Sowjetunion zu erhalten, führten jetzt zu einem Aufschwung des intellektuellen Lebens in der Sowjetunion und damit auch zu einer neuen und differenzierteren Auseinandersetzung mit Weltpolitik und Weltwirtschaft. Im Laufe der er Jahre konnten sich in der Sowjetunion Expertinnen und Experten für internationale Zusammenhänge etablieren, die als »meždunarodniki« (grob übersetzt mit »Internationalisten«) bezeichnet wurden. Neben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der entsprechenden Forschungsinstitute (die »institutniki«) zählten dazu auch die Diplomatinnen und Diplomaten des Außenministeriums, die mit internationalen Fragen befassten Mitarbeiter der Geheimdienste, Journalistinnen und Journalisten der TASS sowie der großen Zeitungen und Zeitschriften wie der Pravda und der Izvestija und schließlich die Funktionärinnen und Funktionäre aus dem Apparat der Kommunistischen Partei. Hier war die Abteilung für internationale Verbindungen für die Beziehungen mit den kommunistischen Parteien der sozialistischen Staaten verantwortlich, die Internationale Abteilung für die Kontakte zu sozialistischen und kommunistischen Parteien im nichtsozialistischen Ausland. Damit nahm jetzt auch die Konkurrenz um Ressourcen und Zuständigkeitsbereiche zu: Auf Kritik durch das Zentralkomitee, den Entwicklungen in der post-kolonialen Welt nicht genügend Aufmerksamkeit zu schenken, wandte die Leitung des IMEMO ein, dass sich regionale Vorgänge nur im globalen Kontext Mikojan, Den Leninismus konsequent in die Tat umsetzen (), S. , f., . Siehe u. a. ebd., S. ; Šejdina, SŠA: »fabriki mysli« (), bes. S. -. Zur sowjetischen Lateinamerikanistik Rupprecht, Soviet Internationalism, zur Afrikanistik Marung, Jenseits der Orthodoxie. Dazu English, Russia and the Idea of the West, S. -. Diese Bezeichnung existierte seit den er Jahren. Dazu Duda, Jenö Varga, S. . Zu den meždunarodniki vgl. Eran, Mezhdunarodniki; Rey, The Mejdunarodniki; Rupprecht, Schreibtischrevolutionäre. Zur »internationalen Abteilung« vgl. Kitrinos, International Department; Kitrinos, The CPSU Central Committee’s International Department; Adams, Incremental Activism; Kramer, The Role of the CPSU International Department; Rey, Diplomatie et diplomates soviétiques; Rey, Le Départment International; Rey, Soviet Foreign Policy.
verstehen ließen. Veränderungen in Lateinamerika seien beispielsweise Aspekte des übergreifenden »weltrevolutionären Prozesses« und beeinflussten wiederum das weltweite Mächtegleichgewicht. Die Gründung weiterer regional spezialisierter Institute konnte das IMEMO dadurch zwar nicht verhindern: wurde ein Institut für den Fernen Osten, das Institut für die internationale Arbeiterbewegung sowie das USA-Institut (ab Institut SŠA i Kanady, ISKAN) eingerichtet. Diese neuen Institute spezialisierten sich jedoch meist auf eng definierte Probleme, Länder oder Regionen, während übergreifende weltpolitische und weltwirtschaftliche Fragen die Domäne des IMEMO blieben. Lediglich das ISKAN befasste sich unter seinem Direktor Georgij Arbatov wegen des globalen Einflusses der Vereinigten Staaten ebenfalls mit weltweiten Zusammenhängen. In den er Jahren sollten besonders diese beiden Institute zu den zentralen Orten der sowjetischen Auseinandersetzung mit Fragen globaler Verflechtungen werden.
Modernisierungstheorie und Konvergenz-These in den USA Schon wegen der wachsenden Konkurrenz mit der Sowjetunion hatten die Vereinigten Staaten im Laufe der er Jahre Forderungen kolonialer Gebiete nach »Selbstbestimmung« zunehmend unterstützt, mitunter auch gegen die Interessen ihrer europäischen Verbündeten. Gleichzeitig schienen viele koloniale Völker aus Sicht des State Department jedoch noch nicht »reif« für die Unabhängigkeit und damit auch anfälliger für den Kommunismus. Daher müsse man sie nicht nur gegen das Entwicklungsversprechen des Marxismus-Leninismus immunisieren, sondern durch ihre ökonomische und soziale Transformation auch die Überlegenheit des eigenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems unter Beweis stellen. Ende der er Jahre wurde dieses Problem auch aus Sicht der amerikanischen Sozialwissenschaften immer dringlicher. Politische Anforderungen verschmolzen jetzt mit behavioralistischen Ansätzen und dem hochmodernen Denken in evolutionären Kategorien zur sogenannten »Modernisierungstheorie«. Als Synthese einer Reihe von Grundannahmen über soziale Entwicklung ging diese Theorie aus dem politisch motivierten Wunsch hervor, besonders in der Polsky, Soviet Research Institutes (), S. -. Zur Geschichte des IMEMO vgl. Schneider, Die Westforschung der UdSSR I; Čerkasov, IMEMO. Dazu Schneider, Die Westforschung der UdSSR II. Memorandum of Conversation, between Secretary of State Dulles and Belgian Ambassador and Belgian Foreign Minister, . Okt. , in: FRUS -, Vol. XIV: Africa, S. -, hier . Für weitere Beispiele siehe ebd., S. -, -. Cole, The Congo Question hat deshalb der Regierung Eisenhower vorgeworfen, das Konzept der Interdependenz als Rechtfertigung dafür genutzt zu haben, um die jetzt formal unabhängigen Staaten Afrikas weiter unter politischer und ökonomischer Kontrolle der USA und ihrer europäischen Verbündeten zu halten.
»Dritten Welt« klar und verständlich formulierte »positive Ziele« in Form eines »Manifestes« nach sowjetischem Vorbild anbieten zu können. Besonders Walt Whitman Rostow, Ökonom am Center for International Studies (CENIS) des MIT, hatte diesen Bedarf nach anwendbarem Entwicklungswissen erkannt. Um eine Antwort auf die politischen Erfordernisse der Zeit zu geben, verband er in seinen Arbeiten den traditionellen »liberalen Fortschrittsoptimismus« mit behavioralistischen Ansätzen und überführte das evolutionäre Denken des . Jahrhunderts und dessen historische Teleologie damit in ein sozialwissenschaftliches Gewand. Denn was bei Durkheim und anderen Soziologen seiner Zeit noch implizit angelegt war, wurde jetzt zur expliziten Theorie: Autoren wie Walt Rostow, Talcott Parsons, Gabriel Almond oder Lucian Pye gingen von einer Welt aus, die zwar in verschiedene Regionen mit jeweils spezifischen »Kulturen« oder »Zivilisationen« aufgeteilt war, die jedoch alle mit den gleichen Methoden untersucht werden konnten und im Grunde alle nach den gleichen Mechanismen funktionierten. Solche raum-, zeit- und kulturübergreifenden »Gesetzmäßigkeiten« sozialer Entwicklung wollten sie nun als wissenschaftliche Theorie formulieren. Dafür fassten sie verschiedene Prozessbegriffe, die aus der Beobachtung der Transformation Europas im . Jahrhundert entwickelt worden waren, zu einem gerichteten Prozess zusammen: Bürokratisierung, Individualisierung, Urbanisierung, Säkularisierung oder Rationalisierung galten jetzt als »Teilprozesse« der übergreifenden »Modernisierung«. Für ihre Protagonisten hatte diese Theorie ganz praktischen Nutzen. Der jeweilige Stand der »Entwicklung« einer »Gesellschaft« lasse sich messen, in dem Stufenmodell lokalisieren und auf einem Zeitstrahl verorten. In bewusster Analogie zum Marxismus-Leninismus schien damit der Verlauf der Geschichte gerichtet und vorhersagbar. Wie der Marxismus gingen auch Rostow und andere Modernisierungstheoretiker von einer Fortentwicklung aller Gesellschaften durch Stufen aus. Hatte Rostow zunächst noch drei Stufen angenommen, finden sich in The Stages of Economic Growth bereits fünf – ebenso viele wie bei Marx und Engels. Der »traditionellen Gesellschaft« folgten drei Phasen der Industrialisierung, deren kritischste, in der die meisten Länder der »Dritten Welt« verortet wurden, die Siehe David J. McDonald (President United Steel Workers) und Jerome Wiesner (MIT), Princeton Economic Conference Transcript, () -, C. D. Jackson Papers, Eisenhower Library, box , S. , , zit. nach Haefele, Walt Rostow’s Stages of Economic Growth, S. f. Vgl. Knöbl, Die historisch partikularen Wurzeln, S. und Knöbl, Spielräume der Modernisierung, S. -. Rostow operierte dabei sogar mit biologistischen Kategorien: Wirtschaftliches Wachstum sei ein »im Grunde biologisches Feld«. Rostow, The Stages of Economic Growth (), S. . Siehe auch Inkeles, Understanding a Foreign Society (); Almond, A Functional Approach (); Parsons, Societies (). Das Konzept der »stages of economic growth« findet sich zuerst in Rostow, The Process of Economic Growth () und wurde von ihm in Rostow, The Take-Off into Self-Sustained Growth () weiter ausgearbeitet.
»Vorbereitungsphase« sei: Hier waren alte Traditionen, Werte und Ideen destabilisiert worden, »moderne« liberale und kapitalistische Strukturen aber noch nicht hinreichend etabliert, die Gesellschaften besonders gefährdet durch die »kommunistische Krankheit«. Hauptziel der Entwicklungspolitik musste es deshalb sein, den Volkswirtschaften der »Entwicklungsländer« mit Technologie und Expertise zu mehr Produktivität zu verhelfen und sie durch externe Entwicklungshilfe und Direktinvestitionen mit ausreichend Kapital zu versorgen, um sie mit einem big push in die Phase des take-off, einer nachholenden industriellen Revolution zu katapultieren. Nach einer Reifungsphase des selbstragenden Wachstums stand am Abschluss der Entwicklung die »Ära des Massenkonsums« nach dem Bild der USA. Die Modernisierungstheorie schien damit die Komplexität der Welt zu reduzieren und ein klares analytisches Werkzeug an die Hand zu geben, um die verwirrenden Entwicklungen sinnhaft zu ordnen und steuernd eingreifen zu können. Sie versprach eine effiziente Nutzung amerikanischer Ressourcen, konnte Entwicklungshilfe doch dort und zu dem Zeitpunkt eingesetzt werden, zu dem sie den take-off maximal beeinflussen würde. Sie sollte es ermöglichen, sich an die Spitze des globalen Wandels zu setzen, antikolonialen Nationalismus in konstruktive Bahnen zu lenken und damit letztlich das Problem des Kolonialismus zu lösen. Gleichzeitig leistete die Theorie jedoch einer nahezu grenzenlosen Expansion von »Bedrohung« und den Voraussetzungen von »Sicherheit« Vorschub: Schon hatte John F. Kennedy angesichts des neuen globalen Engagements der Sowjetunion erklärt, er wage es nicht, auch nur ein einziges Land als verloren aufzugeben. klagte der Präsident, die Vereinigten Staaten hätten eine enorme Aufgabe, da ihre »Verantwortung weltweit und von enormer Komplexität« sei. Sein Nachfolger Lyndon B. Johnson erklärte im April , an nur einem einzigen Ort auf der Welt zu kapitulieren könne bedeuten, Millikan/Rostow, A Proposal (), S. ; Rostow, The Making of Modern America (), S. -. Besonders eine hohe Investitionsrate und ein stabiles Wirtschaftswachstum über zwei Prozent galten als belastbare Indikatoren. Rostow, The Take-Off into Self-Sustained Growth () und Millikan/Rostow, A Proposal (), S. . Zu dieser »temporalization of difference« siehe unter anderem Ferguson, Decomposing Modernity. Chakrabarty, Provincializing Europe, S. hat dafür die Metapher des »imaginary waiting room of history« geprägt, in dem die nichtwestliche Welt auf ihren Eintritt in die Geschichte im Sinne einer nachholenden Modernisierung warten musste. Siehe dazu Klein, Cold War Orientalism. Kennedy, John F.: The Choice in Asia – Democratic Development in India. March , , in: Kennedy, John F. (Hrsg.): A Compilation of Statements and Speeches made during his Service in the United States Senate and House of Representatives, Washington D. C. , S. -, hier: . Summary of President Kennedy’s Remarks to the th Meeting of the National Security Council, . Jan. , in: FRUS -, Vol. VIII: National Security Policy, S. -, hier .
überall geschlagen zu werden. Besonders in Form der »Dominotheorie« trug diese Kombination einer vermeintlich globalen Bedrohung mit den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der USA wesentlich zu ihrer Verstrickung in Vietnam bei. Aus der Rückschau erscheint »die« Modernisierungstheorie jedoch weniger als homogene Theorie, sondern vielmehr als ein Konglomerat verschiedener Arbeiten, in denen eine Reihe von theoretischen Angeboten aufgegriffen und in diesem Prozess teils stark simplifiziert wurde. Vorstellungen sozialer »Evolution« des . Jahrhunderts kamen jetzt mit dem behavioralistischen Glauben an Quantifizierbarkeit und den politischen Nutzen sozialwissenschaftlicher Forschung zusammen und bündelten sich unter einem Oberbegriff, der nicht nur die Entwicklung der »Dritten Welt« zu erklären, sondern auch »liberale« amerikanische Ideen in ein größeres historisches Narrativ einzuordnen versprach. Denn im . Jahrhundert hatte sich die Ansicht herausgebildet, dass die Menschheit eine Einheit bilde, die sich auf dem gemeinsamen Wege des »Fortschritts« befinde. Aus Sicht amerikanischer Beobachter war ihr Land als das »Erstgeborene« der »modernen Welt« um die Jahrhundertwende auf diesem Weg bereits am weitesten vorangekommen. Den Völkern, die noch zurücklagen, sollte aktiv nachgeholfen werden, um sie auf dem Weg des »Fortschritts« schneller voranzubringen ‒ Bemühungen, die zunächst als »Zivilisierung«, ab der Zwischenkriegszeit als »Entwicklung«, dann als »Modernisierung« bezeichnet wurden. Die Modernisierungstheorie war damit die Kulmination hochmodernen Denkens sozialer Entwicklung. Schon seit dem . Jahrhundert rechneten Beobachter zudem damit, dass wachsende Interaktion und Verflechtung die »Bedürfnisse der Völker der Erde« Lyndon B. Johnson: Remarks on Foreign Affairs at the Associated Press Luncheon in New York City, . April , www.presidency.ucsb.edu/documents/remarks-for eign-affairs-the-associated-press-luncheon-new-york-city (..). Vgl. dazu Ninkovich, Modernity and Power, bes. S. -. Gilman, Modernization Theory, S. . Mann, America in Its Relation (), S. und ähnlich Park, Our Racial Frontier (), S. . Vgl. auch Ninkovich, Global Dawn, S. -. Autoren wie Nils Gilman oder David Engerman haben angesichts dieser Vorgeschichte die Sicht auf die Modernisierungstheorie als reines Kind des »Kalten Krieges« relativiert und sie allgemeiner in »hochmodernen« Denkweisen verortet. Siehe Engerman, Modernization from the Other Shore; Gilman, Mandarins of the Future, S. . Der Begriff der »Entwicklung« begann im Rahmen des »colonial development« der Zwischenkriegszeit die »Zivilisierung« abzulösen und hatte sie nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig verdrängt. Siehe Büschel, Geschichte der Entwicklungspolitik. Vgl. auch Barth/Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen; Speich Chassé, Fortschritt und Entwicklung. Nach James Scott gehörte zum hochmodernen Denken gerade die staatszentrierte Rationalisierung der Gesellschaft und Natur sowie die Homogenisierung der Welt im Gegensatz zur organischen Diversität des Lokalen. Scott, Seeing Like a State. Dazu Gilman, Modernization Theory, S. ; Westad, The Global Cold War, S. .
immer gleichartiger machen würden. Als treibende Kraft hinter dieser Entwicklung galten im . Jahrhundert wie in den er und er Jahren vor allem technologische Entwicklungen, deren Ursprung in der Industrialisierung Großbritannien verortet wurde. Der Ökonom Clark Kerr erwartete im Jahr , diese »great transformation« werde zur »Konvergenz« der verschiedenen Kulturen der Welt in einer neuen, auf »Massengeschmack und Massenkonsum« basierenden Kultur führen. Alle »modernen« Länder sähen am Ende dieses Prozesses ähnlich aus, und alle Menschen würden eines Tages gleich sprechen, denken, fühlen und sich verhalten. Der Zielpunkt dieses Prozesses der »Modernisierung« und »Konvergenz« schien für viele Beobachter in den USA ihr eigenes Land zu sein, das als »erste neue Nation« etwa für Seymor Lipset die vorweggenommene Zukunft der Welt repräsentierte. In den er Jahren bestärkte die weltweite Verbreitung amerikanischer Technologie, Kultur und Konsummuster die These von der weltweiten Konvergenz. Gleichzeitig hatte sich mit der Entstalinisierung und dem »Tauwetter« das Bild der Sowjetunion im »Westen« verändert. Die vereinfachenden Annahmen der »Totalitarismus-Theorie« wurden verworfen, die Sowjetunion erschien nun ebenfalls als »moderne, industrialisierte, funktional differenzierte, von politischen Spannungen durchzogene und zugleich stabile Gesellschaft«. Für Talcott Parsons hatte sich damit »unter der Oberfläche der ideologischen Konflikte« ein blockübergreifender »Konsens auf der Ebene der Werte« herausgebildet, der seinen »Mittelpunkt in dem Komplex« habe, der als »Modernisierung« bezeichnet werde. »Ost« wie »West« bewegten sich offenbar auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt zu. Während im Kapitalismus staatliche Steuerung und Planungselemente an Bedeutung gewannen, entwickele sich die sozialistisch-planwirtschaftliche Ordnung in Richtung Dezentralisierung und stärkerer Konsumorientierung. Richter, Die Fortschritte der Cultur (), S. . In den er Jahren postulierte der französische Historiker Lucien Febvre eine »Tendenz der Zivilisation zur Uniformität«. Febvre, La terre et l’évolution humaine (), S. . Später unter anderem aufgegriffen von Mathiesen, Methodology (), S. . Kerr/Dunlop/Harbison/Myers, Industrialism and Industrial Man (), S. , f., und ähnlich Millikan/Rostow, A Proposal (), S. ; Lerner, The Passing of Traditional Society (); McClelland, The Achieving Society (); Inkeles, Making Men Modern (). Vgl. Gilman, Mandarins of the Future, S. , -. Lipset, The First New Nation (). Müller, Reform und Rationalität, S. 77. Für einen zeitgenössischen, kritischen Überblick über die Debatte siehe Weinberg, The Problem of the Convergence (1969). Vgl. auch Gilman, Mandarins of the Future, S. 100-112; Jørgensen, Friedliches Auseinanderwachsen sowie Belge/Deuerlein, Einführung: Ein goldenes Zeitalter der Stagnation, S. -. Talcott Parsons , zit. nach Alexander, Fin de Siècle Social Theory, S. . Linnemann/Pronk/Tinberge (Hg.), Convergence of Economic Systems (), S. . Siehe u. a. auch Feldmann, The Nature of Industrial Societies (); Benoit, Interdependence on a Small Planet (), S. .
Die Bewertungen dieser angenommenen »Konvergenz« divergierten jedoch erheblich. Manche Sowjetologen rechneten mit positiven Folgen: Die Rationalisierung der ökonomischen Struktur des sowjetischen Systems werde auch zu dessen Demokratisierung führen. Konvergenz bedeutete in dieser Perspektive nicht wechselseitige Angleichung, sondern letztlich »Amerikanisierung« und die allmähliche Integration aller Volkswirtschaften in die kapitalistische Weltwirtschaft. Wenig überraschend wurde die Konvergenzthese von sowjetischer Seite zurückgewiesen. Pessimistischere Beobachter in den USA rechneten dagegen nicht mit einer »Liberalisierung« der Sowjetunion. Sie fürchteten vielmehr die negativen Folgen wachsender staatlicher Planung für Freiheit und Demokratie im »Westen«.
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Die Einheiten des modernisierungstheoretischen Denkens waren meist national verstandene »Gesellschaften«, die mit Nationalstaaten deckungsgleich gesetzt wurden. Planung und Steuerung im Rahmen von »Entwicklung« oder »Modernisierung« fand durch staatliche Stellen oder von ihnen beauftragte Akteure statt. Noch ungeklärt war allerdings für zeitgenössische Beobachter das genaue Verhältnis von Modernisierung, Konvergenz, Interdependenz und Nationalismus: Ließen sich die beobachteten Ähnlichkeiten in den innenpolitischen Prozessen und sozialen Strukturen verschiedener Staaten auf »Konvergenzen als Ergebnis ihrer wechselseitigen Interpenetration« zurückführen oder vielmehr auf »transnationale Einflüsse der Modernisierung«, die jede Gesellschaft getrennt betrafen? Führte »Modernisierung« vielleicht gar nicht zu mehr Interaktion und Verflechtung, sondern vielmehr zu Abschottung und ökonomischer Autarkie? Schon Werner Sombart hatte die These in den Raum gestellt, im Rahmen der »Industrialisierung« werde der Anteil des Außenhandels am Nationaleinkommen der meisten Länder nicht zu-, sondern abnehmen. argumentierte der deutschstämmige US-Soziologe Albert Hirschman ähnlich: Im Prozess der »Modernisierung« verstärkten sich Industrialisierung und Zunahme von Importen zunächst gegenseitig. Diese »kreative Rolle« schlage jedoch bald ins Gegenteil um: Ab einem gewissen Zeitpunkt werde Wachstum zunehmend Siehe u. a. Sorokin, Mutual Convergence (); Sorokin, Soziologische und kulturelle Annäherungen (); Tucker, The Marxian Revolutionary Idea (), S. -; Aspaturian, Process and Power (), S. . Siehe Kelley, The Soviet Debate on Convergence (). Beispiele für diese Sicht sind unter anderem Brzezinski/Huntington, Political Power: USA/USSR (); Prybyla, The Convergence (); Boulding, Expecting the Unexpected (), S. . Morse, The Politics of Interdependence (), S. . Sombart, Die Deutsche Volkswirtschaft (), S. -, . Ähnlich später Hogben, The Creed ().
selbsttragend, internationale Verflechtungen nähmen wieder ab. Auch Karl Deutsch argumentierte drei Jahre später, mit fortschreitender Industrialisierung könnten immer mehr zuvor importierte Produkte nun in einem Land selbst hergestellt werden. Diese Entwicklung weise somit eher in Richtung einer wachsenden Bedeutung von ökonomischem Nationalismus und Autarkiestreben denn zunehmender internationaler Verflechtung. In den er und er Jahren befassten sich die Sozialwissenschaften in den Vereinigten Staaten deshalb intensiv mit der Frage, welche Folgen die offenbar gleichzeitig stattfindenden Prozesse der Blockbildung, der wachsenden Interdependenz, der Modernisierung und der Konvergenz für die Rolle des Nationalstaats in Weltpolitik und Weltwirtschaft haben würden.
. Blöcke und Nationalstaaten ‒ Interdependenz bis in die er Jahre Schon Ende der er Jahre hatten sich in den USA gehegte Hoffnungen auf die Institutionalisierung der »Einen Welt« mit der Verschärfung des Ost-WestKonfliktes und der Etablierung des Deutungsmusters des »Kalten Krieges« wieder zerschlagen. In den er Jahren wurden damit auch Verflechtungsdiagnosen zunehmend an die »Teilung der Welt« in zwei konkurrierende »Lager« angepasst. Sie bezogen sich jetzt weniger auf den gesamten Globus, sondern stärker auf einzelne Regionen oder »Blöcke« im Ost-West-Konflikt. Hier zeigt sich, dass der Begriff der Interdependenz skalierbar war und in unterschiedlichen Stoßrichtungen verwendet werden konnte: Nicht nur global und integrativ, sondern auch auf einzelne Räume bezogen und um Abgrenzung zu legitimieren. Insgesamt stellte sich Zeitgenossen die Frage, ob der Grad globaler Verflechtung vor dem Hintergrund von Kaltem Krieg und »Modernisierung« weiter zu- oder eher wieder abnehmen werde und welche Folgen sich daraus für Ordnungsvorstellungen und die politische Organisationsform des »souveränen Nationalstaats« ergaben.
Bündnisse und Blöcke ‒ Interdependenzdiagnosen in den er Jahren In der englischsprachigen Literatur und Öffentlichkeit wurde der Begriff der Interdependenz in den er Jahren primär im Kontext der »transatlantischen Allianz« verwendet. Seit der Gründung der NATO im Jahr betonten Politiker aus deren Mitgliedsstaaten immer wieder, diese seien für ihre Sicherheit und Verteidigung wechselseitig aufeinander angewiesen. Als mit der Intensivierung des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte der er Jahre über eine stärkere po Hirschman, The Strategy of Economic Development (), S. -. Deutsch/Eckstein, National Industrialization (), S. .
litisch-militärische Integration des Bündnisses und eine Ausweitung seiner Aufgaben nachgedacht wurde, gewann diese Rhetorik noch an Bedeutung. Nach einem Treffen in Washington erklärten US-Präsident Eisenhower und der britische Premier Harold Macmillan im Oktober , Vereinbarungen zur kollektiven Verteidigung basierten auf der Anerkennung der Tatsache, dass das Konzept der »nationalen Autarkie« mittlerweile überholt sei. Die »Nationen der freien Welt« könnten nur durch die Zusammenlegung ihrer Ressourcen Fortschritt und Sicherheit gewährleisten. Von Mitgliedern der Eisenhower-Regierung wurde diese Rhetorik der sicherheitspolitischen Interdependenz auf andere Bereiche ausgeweitet: C. Douglas Dillin, Under Secretary of State for Economic Affairs, betonte , die »freien Nationen« seien auch im ökonomischen Bereich immer stärker verflochten ‒ das »Schlüsselwort in jeder Beschreibung der weltwirtschaftlichen Situation« sei heute die »Interdependenz«. Der wohl aktivste Nutzer dieses Begriffes war jedoch John Foster Dulles. In mehreren Reden betonte Eisenhowers Außenminister im Jahr , angesichts der »monolithischen, aggressiven Kraft« des »internationalen Kommunismus« könnten die »freien Nationen« die »Vorzüge ihrer Unabhängigkeit« nur durch ihre militärische, ökonomische und politische Zusammenarbeit, kurz durch das Einüben einer »Praxis der Interdependenz« erhalten. Dabei ‒ das betonte Dulles immer wieder ‒ müssten die englischsprachigen Länder mit ihrer gemeinsamen Tradition und Sprache ein »Beispiel an Interdependenz« setzen: »If we can’t do it, who can you expect to do it?« Während solche Thesen auf britischer und amerikanischer Seite häufig zur Bekräftigung einer »special relationship« der beiden Länder dienten, waren sie im gesamteuropäischen Kontext eng in Debatten um das Verhältnis von euro Diese Debatten sind mittlerweile gut aufgearbeitet, für einen Überblick vgl. Schmidt, A History of NATO und neuer Locher, Crisis? What Crisis?. Die erweiterte Rolle der NATO, die über die eines reinen Verteidigungsbündnisses hinausging, ist auch von der neueren historischen Forschung wiederentdeckt worden. Vgl. Wenger/Nünlist/Locher (Hg.), Transforming NATO. Dwight D. Eisenhower: Declaration of Common Purpose by the President and the Prime Minister of the United Kingdom, . Okt. , www.presidency.ucsb.edu/documents/declaration-common-purpose-the-president-and-the-prime-minis terthe-united-kingdom (..). Zu dieser Rhetorik bei Macmillan siehe auch British Prime Minister Harold Macmillan Talks of »Interdependence« at DePauw’s Nationally Televised th Commencement, . Juni , www.depauw.edu/news-media/latest-news/details// (..). Dillon, C. D.: United States and World Economy, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Aug. , S. -, hier: . Dulles, John F.: NATO: Interdependence in Action, Boston, Sept. , , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Okt. , S. -, hier: . Secretary Dulles Discusses U. S. Foreign Policy for British Television Broadcast, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Nov. , S. -, hier: . Für eine Begründung dieser Interdependenz des Westens aus der Gemeinschaft des Christentums siehe Dulles, John F.: The Mutual Security Program: An Expression of Our Faith, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Juli , S. -, hier: .
päischer und transatlantischer Zusammenarbeit eingebunden. In der Diskussion mit den »Europäern« beziehungsweise »Gaullisten« mobilisierten die »Atlantiker« Interdependenz als Argument. Das Institute for Strategic Studies in London hatte eine Arbeitsgruppe eingesetzt, der unter anderem Walt W. Rostow angehörte. In der aus deren Debatten hervorgegangenen Publikation NATO in the s. The Implications of Interdependence argumentierte Alastair Buchan, Ideen einer »autarken Verteidigung« der Europäer seien wie der »Rückfall eines Abhängigen in seine Wahnvorstellungen« ‒ eine klare Spitze gegen das NATO-skeptische Frankreich de Gaulles. Umgekehrt seien die Vereinigten Staaten jedoch angesichts der weltweiten »Diffusion von Macht« zunehmend auf den europäischen Verteidigungsbeitrag angewiesen. Für den ehemaligen niederländischen Außenminister J. M. Luns waren »europäische Interdependenz« und »atlantische Interdependenz« so eng verflochten, dass eine Integration Europas ohne Beteiligung der USA nur bedeuten konnte, die »alten Fehler des Nationalismus« auf eine neue Ebene zu heben. In den Debatten zeitgenössischer Beobachter waren verschiedene Politikbereiche somit kaum voneinander zu trennen. Die ökonomische Verflechtung des nordatlantischen Raums erschien als Folge seiner sicherheitspolitischen Zusammenarbeit angesichts der sowjetischen Bedrohung.
Der Bedeutungsverlust des »souveränen Nationalstaats« in den er Jahren? Angesichts der neuen weltpolitischen Lage stellte sich für viele Zeitgenossen nun die grundsätzliche Frage, ob die Bedeutung von Nationalismus und Nationalstaaten in der internationalen Politik unter den neuen Bedingungen des Kalten Krieges und wachsender Interdependenz abnehmen oder im Gegenteil noch zunehmen werde. In den er und frühen er Jahren blieben Gegenwartsdiagnosen hier widersprüchlich. Präsident John F. Kennedy brachte diese Uneindeutigkeit in einer Rede in der Frankfurter Paulskirche auf den Punkt: »[…] we live in an age of interdependence as well as independence – an age of internationalism as well as nationalism.« Für eine schwindende Bedeutung von Nationalstaaten in Weltpolitik und Weltwirtschaft sprach erstens der Prozess der westeuropäischen Integration. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien der Nationalismus grundlegend diskredi Buchan, NATO in the s () nach Look to Your Alliance, in: The Economist, . Nov. , S. -. Luns, Independence or Interdependence (). Etwa bei van Cleveland, The Atlantic Idea (), S. f.; Cooper, The Economics of Interdependence (), S. . John F. Kennedy: Address in the Assembly Hall at the Paulskirche in Frankfurt, . Juni , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the-assembly-hall-thepaulskirche-frankfurt (..).
tiert. Gerade in den Widerstandsbewegungen gegen die nationalsozialistische Herrschaft war die Überzeugung gewachsen, dass im »System der Nationalstaaten« und dem Konzept der »nationalen Souveräntität« die Ursachen von Krieg und Massenmord zu finden waren. Um sie zu überwinden, forderten manche Akteure die Errichtung einer neuen internationalen Ordnung für die »Eine Welt«, andere zunächst die Integration Europas. Erste Schritte im ökonomischen Bereich wie die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bildeten die Grundlage für die sozialwissenschaftliche Theorie des »Neo-Funktionalismus«. Der amerikanische Politikwissenschaftler Ernst Haas baute Ende der er Jahre auf die Vorarbeiten David Mitranys auf und argumentierte, Staaten seien für bestimmte Ziele bereit, auf ein gewisses Maß an »Souveränität« zu verzichten. Kooperation in einem Politikbereich werde durch spill-over zu weiterer Integration in anderen Bereichen führen. Im Zuge dieses Prozesses, so schon bald die These der historischen Forschung, sei der Bedeutungsverlust der einzelnen Nationalstaaten von einer ethisch begründeten Forderung nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs dann zu einer Tatsache geworden. Sie hätten immer mehr Bestandteile ihrer »Souveränität« an europäische Institutionen abgetreten. Die europäische Integration sollte einerseits die Wiederholung eines großen Kriegs auf dem Kontinent verhindern, wird aber auch als Antwort »auf eine zunehmende Entgrenzung nationaler Märkte und eine sich ausweitende internationale Arbeitsteilung« interpretiert. Jean Monnet, einer der wichtigsten Wegbereiter der europäischen Einigung, ist von François Duchêne als The First Statesman of Interdependence gefeiert worden. In globalem Maßstab waren es in den er Jahren dagegen zweitens vor allem Nuklearwaffen, die ein neues Prinzip der politischen Organisation unabdingbar zu machen schienen. Im Kontext der »Einen Welt«-Bewegung der späten er Jahren hatten Gruppen wie das Emergency Committee of Atomic Scientists die Ablösung der »absoluten Souveränität rivalisierender Nationalstaaten« durch eine »föderale Verfassung der Welt« gefordert. Aus ihrer Sicht war es bereits eine Tatsache, dass Staaten ihr Territorium nicht mehr gegen nukle Quellen dazu in Lipgens, Walter (Hrsg.): Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen: -. Eine Dokumentation, München . Besonders Haas, The Uniting of Europe () und Haas, Beyond the Nation-State (). Siehe auch Etzioni, The Dialectics (), S. f. Ähnlich argumentierte noch Moravcsik, The Choice for Europe (). Dazu Pine, European Integration. Siehe etwa Lipgens, Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik (). Henrich-Franke/Neutsch/Thiemeyer, Einleitung, S. , . Ähnliche Kontinuitäten implizierte bereits die vom Europarat geförderte und 1963 erschienene Studie von F. S. L. Lyons, die ein breites Panorama des Internationalismus zwischen 1815 und 1914 zeichnet. Dieser wird schon durch das Erscheinen des Bandes in der Reihe »European Aspects: A Collection of Studies Relating to European Integration« als Vorläufer der europäischen Integration nach 1945 gedeutet. Duchêne, Jean Monnet. Milward/Sørensen, Interdependence or Integration? () sehen »Interdependenz« und »Integration« dagegen als zwei unterschiedliche Politikoptionen, die Nationalstaaten verfolgen konnten.
are Angriffe verteidigen und ihre Bürger nicht mehr vor externen Bedrohungen schützen konnten. Damit hätten nicht nur Grenzen ihre Bedeutung verloren, Staaten könnten auch grundlegende Aufgaben moderner Staatlichkeit nicht mehr erfüllen. Der aus Düsseldorf emigrierte und jetzt an der City University of New York lehrende Politikwissenschaftler John H. Herz sprach deshalb Ende der er Jahre vom »Niedergang des Territorialstaates«. Seit dem . Jahrhundert sei dessen »harte Schale« zunehmend aufgebrochen worden, der Luftkrieg habe zu einem »Ende der Grenzen« geführt. Seit der Erfindung von Nuklearwaffen sei es nun mit dem »letzten Rest von Undurchdringbarkeit« endgültig vorbei. Auch Hans Morgenthau hatte die zweite Auflage von Politics Among Nations um ein neues Kapitel ergänzt, in dem er betonte, die gegenwärtige Situation der Weltpolitik sei historisch geworden und damit veränderbar. Schon jetzt deuteten die »koloniale Revolution« und die Errichtung supranationaler regionaler Organisationen in Richtung eines »Bedeutungsverlusts des souveränen Nationalstaats«. In diese Richtung deutete für Zeitgenossen auch noch ein dritter Faktor: Die Integration der »Blöcke« des Kalten Krieges und die von der britischen Politikwissenschaftlerin Mary Kaldor als »Blockismus« bezeichnete Identifikation mit Großgruppen wie dem »Westen« oder der »freien Welt«. Denn angesichts der Bedrohung durch den Kommunismus, aber auch der Auflösung der europäischen Kolonialreiche waren Ende der er Jahre Forderungen laut geworden, die Mitglieder des nordatlantischen Bündnisses müssten auf ihre sicherheitspolitische Interdependenz durch einen Ausbau der NATO zu einer global agierenden atlantischen Gemeinschaft reagieren. Entsprechenden Entwürfen militärischer und politischer Integration schlug jedoch auch Widerstand entgegen. Ein von den Daughters of the American Revolution herausgegebenes Pamphlet beschwor die Gefahr eines »sozialistischen Superstaates«. Statement by Albert Einstein, . Jan. , zit. nach https://fas.org/sgp/eprint/ein stein.html (..). Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter (), S. -, Zitate S. , , . Fast identisch bereits Herz, Rise and Demise of the Territorial State (). Siehe auch Mathiesen, Methodology (), S. und später Virilio, Geschwindigkeit und Politik (/), S. f. Zu Herz www.ulrich-menzel.de/cmsimpleplus/indexd.html?GH:HerzC_John_H. (..) sowie die Beiträge in International Relations : (). Morgenthau, Politics Among Nations (. Aufl., ), S. vii, . Kaldor, The Imaginary War (), S. . Siehe auch Kaldor, Nations and Blocs () und ähnlich Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. . Lecture to the Royal United Service Institution by Viscount Montgomery of Alamein, Okt. , zit. nach Buchan, NATO in the s (), S. . Ähnlich auch Spaak, Why NATO? (1959). Widerstände gegen diese Ausweitung der NATO-Aufgaben behandelt Sayle, »A Great List of Potential Mistakes«. National Defense Committee, National Society, Daughters of the American Revolution: Two Faced NATO, Hoover Institution Archives, Stanford, Radical Right Collection, Box .
Für die meisten zeitgenössischen Beobachter kam ein solcher »sozialistischer Superstaat« Anfang der er Jahre allerdings eher als Folge der weiteren Integration des »Ostblocks« infrage. Der bekannteste Beobachter solcher Entwicklungen war Zbigniew Brzezinski. Der Politikwissenschaftler war in Warschau geboren worden und hatte anschließend in Deutschland, der Sowjetunion und Kanada gelebt, wo sein Vater Tadeusz als Diplomat tätig war. Nachdem seine Famile infolge des Weltkriegs und der sowjetischen Besatzung nicht nach Polen zurückkehren konnte, begann Brzezinski ein Studium an der McGill University in Montreal. wurde er an der Harvard University mit einer von Merle Fainsod betreuten Arbeit zu den stalinistischen Säuberungen promoviert. Zusammen mit dem deutschstämmigen Politikwissenschaftler Carl J. Friedrich sollte Brzezinski in den folgenden Jahren zu einem der zentralen Vertreter der »Totalitarismustheorie« werden. wechselte er an die Columbia University, auch weil er in Harvard im Schatten seines Kollegen Henry Kissinger gestanden hatte. veröffentlichte Brzezinski sein viel beachtetes Werk The Soviet Bloc, in dem er die These vertrat, seit der Entstalinisierung hätten sich die Institutionen des »Ostblocks« von »semi-kolonialen« Instrumenten sowjetischer Herrschaft zunehmend zu Foren der Kooperation entwickelt: Der Warschauer Pakt diene mittlerweile auch zur Aushandlung gemeinsamer außenpolitischer Positionen, der RGW sei zu einem Instrument für die Entwicklung eines wirklichen »sozialistischen Weltmarktes« geworden. Wissenschaftliche Kooperation, kulturelle Kontakte sowie Tourismus erzeugten im »Ostblock« nach und nach ein Gefühl der »gemeinsamen Identität«. Auch in anderen Publikationen argumentierte Brzezinski Anfang der er Jahre, die sozialistische Welt sei damit im Begriff, von einem »nationalen Imperium« der Sowjetunion zu einem »internationalen kommunistischen Imperium« zu werden. Ziel dieser Entwicklung sei die Herausbildung einer »interlocking supra-society«.
Bereits Alastair Buchan hatte argumentiert, selbst die Sowjetunion sei in ihrem Bündnis wechselseitigen Abhängigkeiten unterworfen. Die einzig wirklich unabhängigen Mächte in der Weltpolitik seien die Neutralen. Buchan, NATO in the s (), S. f. Publiziert als Brzezinski, The Permanent Purge (). Zur Biografie vgl. Vaughan, Patrick G.: Zbigniew Brzezinski: The Political and Academic Life of a Cold War Visionary, Dissertation, Morgantown ; Gati (Hg.), Zbig und Vaïsse, Zbigniew Brzezinski. Brzezinski, The Permanent Purge () und Friedrich/Brzezinski, Totalitarian Dictatorship (). Zur Geschichte der »Totalitarismustheorie« Gleason, Totalitarianism. Brzezinski, The Soviet Bloc: Unity and Conflict (), S. xi, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung der ersten Auflage: Brzezinski, Der Sowjetblock (), S. . Dazu Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. f. Brzezinski, The Organization of the Communist Camp (), S. , f. Siehe auch Zauberman, Economic Integration (); London, The Socialist Commonwealth (); Nove, East-West Trade ().
Die er Jahre als Hochphase des »souveränen Nationalstaats« Aus der Perspektive der Zeitgenossen der er und er Jahre führten die von ihnen gemachten Beobachtungen jedoch keineswegs zu eindeutigen Ergebnissen. Während die Integration Westeuropas und der beiden »Blöcke« des Kalten Krieges sowie die politischen Folgen von Nuklearwaffen auf einen Bedeutungsverlust von Territorial- und Nationalstaaten zugunsten neuer, großräumigerer Formen sozialer Ordnung hindeuteten, wiesen andere Entwicklungen in die entgegengesetzte Richtung. Ende der er Jahre zeigte sich erstens, dass der Prozess der Dekolonisation, der noch für Hans Morgenthau zum Bedeutungsverlust der »souveränen Nationalstaaten« beigetragen hatte, deren Anzahl und Bedeutung in Weltpolitik und Weltwirtschaft stattdessen eher erhöhte. Denn verschiedene Pan-ismen, die in der Zwischenkriegszeit noch einflussreich gewesen waren, hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg als weitgehend unrealisierbar herausgestellt und an Attraktivität verloren. Aus der Perspektive antikolonialer Akteure garantierte jetzt alleine ein eigener Staat ökonomisch wie politisch Sicherheit vor Ausbeutung und Fremdbestimmung. Unabhängigkeit barg für sie auch das Versprechen von ›Entflechtung‹, das heißt von autonomer wirtschaftlicher Entwicklung und »Selbstbestimmung«. Zehn Jahre nach Morgenthau stellte J. M. Luns fest, den Konzentrationstendenzen in der »industrielle[n] Welt« stehe die wachsende Fragmentierung der »unterentwickelten Welt« gegenüber. In den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Frankreich und Großbritannien noch versucht, sich gegen die Entwicklung in Richtung einer Welt aus »souveränen Nationalstaaten« zu stemmen und ihre Kolonialreiche auf eine neue, föderative Grundlage zu stellen. Gegen Unabhängigkeitsbestrebungen hatten sie nun auch die Idee kolonialer Interdependenz in Stellung gebracht: Christopher Eastwood, Beamter des britischen Colonial Office war beispielsweise der Meinung gewesen, die Menschheit leide im Moment an zu viel Unabhängigkeit und an zu wenig Interdependenz. Denn er sehe die »Multiplikation von kleinen nationalen Herrschaften« nicht als vielversprechende Zukunftsvision. Auch die französische Regierung bemühte sich noch bis in die frühen er Jahre, unter dem Slogan der »indépendance dans l’interdépendance« Siehe dazu schon Apter/Coleman, Pan-Africanism () und später Aydin, The Politics of Anti-Westernism, S. -, die Beiträge von Cemil Aydin und Andreas Eckert in Conrad/Sachsenmaier, Competing Visions of World Order sowie Mishra, Aus den Ruinen des Empires. Luns, Independence or Interdependence (). Ob solche Versuche jemals Aussicht auf Erfolg hatten, sich also von einem »federal moment« sprechen lässt, ist in der Forschung umstritten. Vgl. Collins, Decolonisation and the »Federal Moment«; Cooper, Citizenship between Empire and Nation. Skeptisch bezüglich der Erfolgsaussichten u. a. Drayton, Federal Utopias. Minute by Eastwood, . April , CO //B, zit. nach Louis, Imperialism at Bay, S. , Hervorhebung dort. Durchaus kompatibel war die Sicht in Dulles, John F.: Problems Facing the United States and the Western World, Interview with Edgar
Algerien im staatlichen Verbund zu halten. Doch wurden solche Pläne bald von den Ereignissen überholt. Auch die Bemühungen mancher Gruppen in Europa und den Vereinigten Staaten, die Vereinten Nationen zu einer »Weltföderation« auszubauen oder gar einen »Weltstaat« zu errichten, mussten aus der Perspektive antikolonialer Akteure überwiegend als Versuche erscheinen, die koloniale Dominanz Europas in neuer Form weiterzuführen. Ein »souveräner Staat« war nun das primäre Ziel von Unabhängigkeitsbewegungen, die »Nation« die Basis, auf der Gemeinwesen imaginiert wurden ‒ bei allen Unklarheiten und Problemen, die deren Definition angesichts der oft sehr heterogenen ethnisch-kulturellen Verhältnisse im Einzelfall mit sich brachte. Die fortschreitende Dekolonisation ‒ gab es international anerkannte Staaten auf der Welt, schon und bereits ‒ bekräftigte solche nationalstaatlichen Ordnungsentwürfe. Gleichzeitig waren Unabhängigkeitsbewegungen ihrerseits transnational vernetzt ‒ Erez Manela hat deshalb von einer »Internationalisierung des Nationalismus« gesprochen. Zweitens hatte der Weltkrieg jedoch auch in Europa nicht für alle Zeitgenossen zu dem Schluss geführt, dass Nationalismus und Nationalstaat überwunden und von einer stärkeren Integration ihres Kontinents und der Welt abgelöst werden müssten. Eine großräumige, Grenzen auslöschende territoriale Neugestaltung Europas war schließlich mit dem Sieg über den Nationalsozialismus gerade erst verhindert worden. Manche Beobachter zogen deshalb aus der gerade überstandenen Katastrophe den Schluss, dass die »unverletzliche Souveränität« des Nationalstaates sowie das Verbot jeglicher Einmischung in dessen »innere Angelegenheiten« als Prinzipien der internationalen Politik gestärkt werden müssten. Denn weder Konferenzen noch Verträge, weder Völkerrecht noch Völkerbund hätten es geschafft, Krieg und Völkermord zu verhindern. Die Exilregierungen der Staaten Europas, die Opfer der nationalsozialistischen Aggression geworden waren, forderten nun vehement die Wiederherstellung ihrer »Souveränität«.
McInnis, June , , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Juli , S. -, hier: . Siehe Vernet, Daniel: L’indépendance dans l’interdépendance, Le Monde, . Nov. ; Connelly, A Diplomatic Revolution, S. , , , f.; Byrne, Mecca of Revolution, S. , -, , . Clarence Streits Pläne für eine »Atlantic Federation« wurden etwa von George Orwell unter dem Titel Not Counting Niggers heftig dafür kritisiert, die Interessen der kolonisierten Völker ignoriert zu haben. Orwell, George: Not Counting Niggers, in: Adelphi, July , S. -. Manela, The Wilsonian Moment, Kap. . Die Zahlen bei Held/McGrew/Goldblatt, Global Transformations, S. . Vgl. auch die Beiträge in Reinhard (Hg.), Verstaatlichung der Welt?. Neuere Perspektiven, die Nationalismus in der »Dritten Welt« nicht mehr nur als »Diffusion« europäischer Konzepte sehen, bei Chatterjee, The Nation and Its Fragments und Karl, Staging the World, bes. S. -.
Auch für ethnische Minderheiten schien ein eigener Staat nun der einzig wirksame Schutz vor Verfolgung und Ermordung zu sein. Schon deshalb ruhten drittens das System der Vereinten Nationen und das System von Bretton Woods von Anfang an auf dem Prinzip der »souveränen Nationalstaaten«. Die »Selbstbestimmung der Völker«, die »souveräne Gleichheit« ihrer Mitgliedsstaaten, der Schutz ihrer »territorialen Unversehrtheit« und das Gebot der »Nichteinmischung« stehen in der Charta der Vereinten Nationen an prominenter Stelle. Auch Menschenrechte wurden im Zuge des wachsenden Einflusses dekolonisierter Staaten in den Gremien der Vereinten Nationen zunehmend als kollektive ökonomische und soziale Rechte und weniger als individuelle Freiheitsrechte aufgefasst. Im Bereich der Weltwirtschaft sollte das System von Bretton Woods nicht nur den freien Handel befördern, sondern auch sicherstellen, dass Nationalstaaten angesichts der neuen Verflechtung der Weltwirtschaft die Kontrolle über ökonomische Transaktionen behielten. Auch die Integration Westeuropas lässt sich als Versuch deuten, durch Abschottung eines gemeinsamen Wirtschaftsgebietes den durch Krieg und wachsende Verflechtung geschwächten Einfluss von Nationalstaaten zu bewahren. James Ruggie hat deshalb argumentiert, die Zeit nach sei von der »Einhegung« der Kräfte des freien Marktes geprägt gewesen. Für Mark Mazower hatte der Zweite Weltkrieg, der die zerstörerische Energie des Nationalismus so deutlich vor Augen geführt hatte, damit ironischerweise eine neue Weltordnung hervorgebracht, die das nationalstaatliche Prinzip in der Weltpolitik stärker betonte und förderte als je zuvor. Doch viertens hatte sich auch die Sicht staatlicher Stellen auf ihre Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft mittlerweile verändert. Seit den er Jahren war ihr Anspruch stark gestiegen, hier planend und steuernd einzugreifen. Der New Deal, vergleichbare Programme in Europa, die Kriegswirtschaft und besonders der Ausbau des Sozialstaates nach dem Ende des Konflikts hatten Staaten im Mazower, No Enchanted Palace, S. . Für einen Überblick über die verschiedenen Positionen zu dieser Frage siehe die Sammelrezension »Geschichte der Menschenrechte« von Julia Eichenberg unter www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb- (..). Artikel ., ., . und . UN-Charta. Die Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker und die beiden UN-Menschenrechtspakte erklärten jeweils das »Recht auf nationale Selbstbestimmung« zur Grundlage aller anderen Menschenrechte. Vgl. Normand/Zaidi, Human Rights at the UN, S. -; Burke, Decolonization, Kap. ; Whelan, Indivisible Human Rights, S. -; Eckel, Die Ambivalenz des Guten, S. -. In diesem Sinne vor allem Milward, The European Rescue of the Nation State und Milward (Hg.), The Frontier of National Sovereignty. Siehe auch Neebe, Weichenstellung für die Globalisierung; Frieden, Global Capitalism, S. -. Zum aktuellen Stand der Debatte Atkinson/Huber/James/Scharpf (Hg.), Nationalstaat und Europäische Union. Ruggie, International Regimes, Transactions, and Change (); Mazower, Governing the World, S. .
nordatlantischen Raum dazu weitere Instrumente in die Hand gegeben. Gerade die Expansion des Sozialstaats in Westeuropa ist als Durchbruch transnationaler Verbindungen gepriesen worden, war im Grunde aber das Ergebnis von »linken nationalistischen Projekten«, die auf der staatlichen Kontrolle von Austausch und Verflechtung basierten. Die Deutung der Welt in Kategorien des »Kalten Krieges« beförderte zusätzlich eine Sicht auf die Welt als Interaktion von Staaten, die globale Politik der USA stärkte die Rolle der Bundesregierung in ökonomischen und sozialen Zusammenhängen. Nie zuvor hatten staatliche Verwaltungen einen solch umfassenden Anspruch vertreten, in ökonomische, soziale und kulturelle Zusammenhänge »ihrer« »Gesellschaften«, aber auch in grenzübergreifende Interaktionen planend und steuernd einzugreifen wie zwischen den er und er Jahren. In ihrem Zusammenspiel trugen diese Entwicklungen zu einer weiteren Verstaatlichung und Nationalisierung der Politik, aber auch des Blickes der Zeitgenossen auf die Welt bei. Während manche dieser Zusammenhänge erst aus der historischen Rückschau deutlich werden, schlug sich die Ambivalenz dieser Entwicklungen vor allem in den Debatten zeitgenössischer Beobachter darüber nieder, wie die Erholung des Welthandels und die erneute Zunahme anderer grenzüberschreitender Verflechtungen nach zu bewerten war. Handelte es sich hier um Indikatoren stetig steigender Interdependenz oder um eine Ausnahmesituation der Nachkriegsjahre? Während die heutige Geschichtswissenschaft für die beiden Nachkriegsjahrzehnte mitunter von einem bedeutenden »Globalisierungsschub« ausgeht, schlossen sich viele zeitgenössische Beobachter im Laufe der er Jahre eher der zweiten Position an, gingen von sinkender Interdependenz aus und revidierten damit auch ihre bisherigen Einschätzungen über das weitere Schicksal des Nationalstaats. Schon hatte Ralph Barton Perry festgestellt, die durch den Krieg hervorgebrachten »technischen Verbesserungen im Nachrichten- und Transportwesen« deuteten in Richtung einer »erdumspannenden Wirtschaft«. Ab den frühen er Jahren lasen auch Wirtschaftswissenschaftler aus ihren Statistiken ein starkes Wachstum des Welthandels ab, das erneut das der Weltproduktion übertraf. Donald B. Marsh, Ökonom an der McGill University, stellte in seinem Lehrbuch World Trade and Investment: The Economics of Interdependence darüber Die theoretische Grundlage dieser Politik war der »Keynesianismus«: Schon Keynes selbst hatte geschrieben, »Ideen, Wissen, Wissenschaft, Gastfreundschaft und Reisen« seien von Natur aus international. Produktion und besonders das Finanzwesen sollten dagegen nach Möglichkeit »primär national« sein. Keynes, National Self-Sufficiency (), S. . Siehe Saunier, Taking Up the Bet on Connections, bes. S. bzw. Eley, Historicizing the Global, S. und Kott, L’État social et la nation allemande. Dazu u. a. Grimm (Hg.), Wachsende Staatsaufgaben; Brownlee, Tax Regimes, National Crisis, bes. S. . Dazu Noiriel, Nations, nationalités, nationalismes; Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?, S. . Für Großbritannien Edgerton, The Rise and Fall, bes. S. xx. Herbert, Geschichte Deutschlands, S. . Perry, Wie wird die Welt (), S. .
hinaus fest, der Welthandel habe sich seit dem Zweiten Weltkrieg auch qualitativ verändert: Noch in den er Jahren seien wie im kolonialen System bilateral Rohstoffe und Nahrungsmittel gegen verarbeitete Güter verhandelt worden. Nun würden dagegen in einem multilateralen Handelssystem industrielle Produkte gegen gleichwertige Güter ausgetauscht, wenn auch bislang vor allem zwischen Nordamerika und Westeuropa. »Interdependenz« dachte Marsh dabei jedoch weiterhin evolutionär und national: Ähnlich wie zuvor die historische Entwicklung von kleineren Gruppen zu Nationen mit Arbeitsteilung und Interdependenz innerhalb solcher sozialer Einheiten einhergegangen sei, führe jetzt die »internationale Arbeitsteilung« zu »internationaler Interdependenz« zwischen national organisierten Volkswirtschaften. Zentrale Beurteilungskriterien waren bei Marsh und anderen Ökonomen die für einzelne Staaten errechneten »nationalen Handelsbilanzen«. Beobachter in den er und er Jahren stellten sich jedoch die Frage, ob es sich bei diesem Wachstum des Welthandels um einen allgemeinen Trend oder vielmehr um eine Ausnahmeerscheinung handelte. Obwohl sie sich kaum auf vor geführte Debatten bezogen, verglichen sie ihre Gegenwart durchaus mit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. In diesem Vergleich erschien das aktuelle Niveau der »internationalen Arbeitsteilung« noch nicht besonders beeindruckend. Karl Deutsch meinte sogar, einen allgemeinen Trend ökonomischer Entflechtung seit dem Ersten Weltkrieg zu beobachten. Das Wachstum des internationalen Handels in den er Jahren markierte für den in Prag geborenen und Ende der er Jahre in die USA emigrierten Historiker und Politikwissenschaftler eine Ausnahmephase, bedingt durch die allgemeine Nachkriegsprosperität. verglich Deutsch zusammen mit Alexander Eckstein für vierzehn Länder aus dem nordatlantischen Raum das Verhältnis von Binnenund Außenhandelsvolumen zwischen und und kam zu dem Schluss, der Exportanteil habe in den meisten Ländern seit stetig abgenommen. Nicht die Internationalisierung ökonomischer Aktivitäten, sondern Produktion
Marsh, World Trade and Investment (), S. -. Für entsprechende retrospektive Statistiken siehe Maddison, The World Economy in the th Century (), S. . Maizels, Industrial Growth and World Trade (). Auch in der Geschichtswissenschaft wird diskutiert, wann die Dynamik der »ersten Globalisierung« nach wieder erreicht wurde. Cornelius Torp setzt diesen Zeitpunkt spät an: Internationale Kapitalströme hätten erst in den er Jahren ihren »absoluten Tiefpunkt« erreicht. Deutschland und Frankreich hätten erst Mitte der er Jahre bei ihrer Außenhandelsquote das Niveau von wieder übertroffen, Großbritannien sogar weiter darunter gelegen. Torp, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg, S. , ; Torp, Die Herausforderung der Globalisierung, S. nach Hirst/Thompson, Globalization and the History, S. . Dazu auch Tilly, Globalisierung aus historischer Sicht, S. . Deutsch, Shifts in the Balance of Communication Flows (). Siehe auch später Deutsch , The Impact of Communications (), S. -. Zu Deutsch vgl. die Beiträge in International Relations : ().
und Austausch innerhalb von Nationalstaaten seien der »Normalzustand« der Weltwirtschaft. Statt wachsender Interdependenz und einem Bedeutungsverlust des Nationalstaats diagnostizierte Deutsch damit einen Trend in Richtung »relativer Isolation« und eine zunehmende Bedeutung von ökonomischem Nationalismus und protektionistischen Ideen. Durch internationale Kooperation könnten Regierungen hier zwar gegensteuern; auf die Integration Europas konnte man für Deutsch dagegen nicht mehr zählen. warnte er davor, die Befragung französischer und westdeutscher Eliten habe ergeben, dass die europäische Integration nach einer Phase stark wachsender Interdependenz in den Jahren bis jetzt ein »Plateau« erreicht habe. Integration und Interdependenz hatten für Deutsch schon wegen des Ausbaus staatlicher Sozialpolitik innerhalb von Staaten wesentlich stärker zugenommen als zwischen ihnen. Die Welt war für den Politikwissenschaftler Ende der er Jahre »weniger interdependent« als noch ein Jahrhundert zuvor. Nachdem die politische Integration des nordatlantischen Bündnisses nie richtig in Schwung gekommen war und die Integration Westeuropas bereits wieder an Dynamik verloren hatte, schienen in der zweiten Hälfte der er Jahre auch die Bemühungen um eine sozialistische Integration weitgehend gescheitert. Die Mitgliedsstaaten des RGW beharrten darauf, selbst Kapazitäten in allen Wirtschaftsbereichen aufzubauen und betrieben teilweise mehr Handel mit dem Westen als untereinander. Der niederländische Ökonom H. Linnemann stellte fest, die kommunistische Welt sei »so wenig international eingestellt wie die westliche Welt, oder wahrscheinlich sogar noch weniger«. Auch die politischen Folgen von Nuklearwaffen waren etwa in den er Jahren widersprüchlicher geworden. Denn einerseits hatten sie die Tendenz zur Integration der beiden »Blöcke« gefördert. Andererseits machten sie jedoch auch für kleinere Staaten militärische Autarkie denkbar und führten so zu militärischer Multipo Deutsch/Eckstein, National Industrialization (), S. , , , . Ähnlich auch Deutsch, Arms Control (1967), S. 219 und Waltz, The Myth of National Interdependence (1970). Deutschs These blieb allerdings nicht unwidersprochen: Der Politikwissenschaftler Edward Morse warf ihm vor, an der falschen Stelle nach Interdependenz gesucht zu haben: Nicht Handel, sondern Kapitalflüsse seien mittlerweile die wichtigste Art internationaler Transaktionen. Morse, The Politics of Interdependence (), S. . Marsh, World Trade and Investment (), S. , f., -. Zum ökonomischen Nationalismus auch Wright, The Study of International Relations (), S. , . Deutsch/Edinger/Macridis/Merritt (Hg.), France, Germany and the Western Alliance (). Für methodische Kritik siehe Morse, The Politics of Interdependence (), S. ff. Deutsch, The Impact of Communications (), S. . Ähnlich skeptisch gegenüber der These, die europäische Integration oder wachsende Interdependenz würden den Nationalstaat obsolet machen Hoffmann, Obstinate or Obsolete? (). Linnemann/Pronk/Tinberge (Hg.), Convergence of Economic Systems (), S. . Siehe auch Nove, East-West Trade (), S. -.
larisierung. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen revidierten manche Beobachter Ende der er Jahre ihre Einschätzung der Rolle des Nationalstaats in Weltpolitik und Weltwirtschaft. John Herz räumte beispielsweise in einem Aufsatz unter dem Titel The Territorial State Revisited ein, die Dynamik der Dekolonisation, den Einfluss des Nationalismus und die Stabilität des nuklearen Gleichgewichts bislang unterschätzt zu haben. Er sprach jetzt von einer »neuen Territorialität« in einer multipolaren Welt der Nationalstaaten. Ironischerweise waren Herz und andere Beobachter damit just zu dem Zeitpunkt zu der Auffassung gelangt, globale Interaktion gehe zurück und dem »souveränen Nationalstaat« gehöre die Zukunft, als das hochmoderne Verständnis von Interdependenz als wechselseitige Abhängigkeit national abgesteckter Einheiten aufzubrechen begann.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde keine Weltordnung jenseits der Nationalstaaten errichtet. Im Gegenteil, über Jahre nach dem Westfälischen Frieden, Jahre nach der Französischen Revolution und Jahre nach der Betonung des Rechtes auf »nationale Selbstbestimmung« hatte sich erstmals wirklich eine »Welt der Nationalstaaten« etabliert. In Europa und in Asien hatten Genozid und ethnisch gelenkte Zwangsmigration dazu geführt, dass bislang weitgehend nur in der Vorstellungswelt existierende ethnisch homogene »Nationalgesellschaften« nun der Wirklichkeit einen großen Schritt näher gekommen waren. Die Stärkung staatlicher Interventionsmöglichkeiten durch den Ausbau des Sozialstaats im nordatlantischen Raum, die Dekolonisation und »nicht zuletzt die relativ erfolgreiche Integration von Millionen von Flüchtlingen und ›displaced persons‹ in West- und Mitteleuropa« ließen es nun laut Wolfgang Knöbl plausibel erscheinen, »die Gesellschaft mit dem westlichen Nationalstaat gewissermaßen in eins zu setzen und eben diese Nationalgesellschaft als fortgeschrittenstes Entwicklungsmodell zu betrachten«. In den Vereinigten Staaten ruhte die Annahme gesellschaftlicher Homogenität zwischen den er und den er Jahren dagegen weniger auf ethnischen Kriterien, sondern auf der zeitgenössischen These vom »liberalen Konsens«. Liska, Nations in Alliance (), S. , , -, ; Burton, International Relations (), S. f. Herz, The Territorial State Revisited (). Die Vernachlässigung der Dekolonisation war ein zentraler Kritikpunkt der Rezensionen zu International Politics in the Atomic Age gewesen. Siehe Herz, Einleitung (), S. . Cooper, States, Empires, and Political Imagination, S. . Ähnlich Mazower, No Enchanted Palace, S. 185. Knöbl, Die historisch partikularen Wurzeln, S. . Dazu Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. -; Angster, Konsenskapitalismus, S. -.
Die Unterstützer des New Deal standen auch nach dem Krieg staatlichen Eingriffen in ökonomische und soziale Zusammenhänge positiver gegenüber als jemals zuvor in der amerikanischen Geschichte. Die Grundannahmen dieses »New Deal liberalism« wiesen zahlreiche Überschneidungen mit Positionen auf, die als »Cold War liberalism« bezeichnet worden sind. Nachdem die Notwendigkeit einer antikommunistischen Eindämmungspolitik erkannt worden sei, hätten weite Teile der Bevölkerung eine starke Rolle der Bundesregierung in einer global aktiven Außenpolitik mitgetragen. Das Bekenntnis zu Freihandel und einer »liberalen Weltordnung« war jetzt aus Sicht der Vertreter der KonsensThese hegemonial geworden. Anhänger einer aggressiven »roll back-Strategie« schienen ebenso marginalisiert wie Isolationisten, Protektionisten oder »radikale« Liberale, die dem sogenannten »vital center liberalism« weichen mussten. Ermöglicht wurde diese Deutung der Gegenwart von der ökonomischen Prosperität der Nachkriegsjahre, die unter Beweis zu stellen schien, dass der Kapitalismus in der Lage war, nahezu unbegrenzt Wachstum zu erzeugen. Diese Einschätzung bildete die Grundlage für eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Theorien, die davon ausgingen, dass das »Ende der Ideologie« gekommen sei. Diese Deutung wurde auch in die Vergangenheit zurückprojiziert: Für »Konsens-Historiker« wie Louis Hartz oder Richard Hofstadter hatte es in den Vereinigten Staaten nie Sozialismus oder Konservatismus im europäischen Sinn gegeben. Damit wurden alle alternativen politischen Einstellungen der Gegenwart als nahezu ›pathologische‹ Abweichungen vom »liberalen Konsens« betrachtet, die über keine eigene intellektuelle Tradition verfügten. Zusammen mit der nationalen Perspektive auf die Welt suggerierte die These vom »liberalen Konsens« eine Stabilität des Analyserahmens und des methodischen Zugriffs der amerikanischen Sozialwissenschaften, die es so vorher nicht gegeben hatte. Nach den Zweifeln der er und er Jahre wurden jetzt Vgl. Fraser/Gerstle (Hg.), The Rise and Fall; Brinkley, The End of Reform; Sparrow, Warfare State und Sparrow, From the Outside In. Kovel, Red Hunting in the Promised Land, S. f. Vertreter des »konservativen« Antikommunismus neigten jedoch stärker dazu, die kommunistische Bedrohung auch im Inneren der USA zu verorten als »Cold War Liberals«. Vgl. dazu Katznelson, Fear Itself, S. -; McGirr, Suburban Warriors, S. -. »Vital center liberalism« nach Schlesinger, The Vital Center (), der wiederum von Niebuhr, The Children of Light () inspiriert war. Kritisch u. a. Shklar, The Liberalism of Fear. Gitlin, The Sixties, S. . Zur zentralen Bedeutung des »Wachstums« für den »Konsensliberalismus« auch Collins, More, S. -. Shils, The End of Ideology? (); Bell, The End of Ideology (). Vgl. dazu auch Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. -, -; Brick, Transcending Capitalism; Leendertz, Schlagwort, Prognostik oder Utopie?. Siehe etwa Hofstadter, Richard: A Long View. Goldwater in History, The New York Review of Books, . Okt. ; Hofstadter, Goldwater and Pseudo-Conservative Politics () und die Beiträge in Bell, The Radical Right (). Der Begriff »consensus history« wurde in kritischer Absicht von John Higham geprägt. Siehe Higham, The Cult ().
das erkenntnistheoretische Selbstbewusstsein der Sozialwissenschaften und die hochmoderne Sicht auf soziale Entwicklung und Interdependenz erneut stabilisiert: Vermeintlich klar abgegrenzte Nationalstaaten galten als die nahezu einzigen Akteure der internationalen Beziehungen. Globale Interaktion wurde nach wie vor vor allem als Austausch zwischen national definierten »Volkswirtschaften« und »Gesellschaften« gedacht. Trotz einiger in eine andere Richtung weisender Faktoren schien dem »souveränen Nationalstaat« noch Ende der er Jahre die Zukunft zu gehören. Die Interaktion von Politik und Ökonomie oder die politische Bedeutung nichtstaatlicher Akteure wurden dagegen zugunsten einer kohärenteren Perspektive auf die Weltpolitik zunehmend ausgeblendet. Das galt für die eher intuitive Sicht des Realismus gleichermaßen wie für die theoretisiertere Variante einer Welt aus Systemen des Behavioralismus. Die Folge war die Normalisierung, gar Naturalisierung einer Welt aus »souveränen Nationalstaaten«, die zwei Jahrzehnte zuvor bereits zum Relikt der Vergangenheit erklärt worden war. Die »langen er Jahre« stellen aus dieser Perspektive eine absolute Ausnahmezeit dar. Zwischen der Mitte der er und der Mitte der er Jahre beobachteten die Zeitgenossen nicht nur eine bis dahin beispiellose wirtschaftliche Prosperität und (vermeintliche) soziale und kulturelle Stabilität. Auch der Staat war gerade in den USA nie zuvor ein solch einflussreicher und unangefochtener Akteur in wirtschaftlichen und sozialen Fragen gewesen. Während zeitgenössische Beobachter meist noch im Blick behielten, dass es sich bei solchen Annahmen um eine künstliche Reduzierung von Komplexität handelte, verflachte das Bild der er Jahre in der Rückschau immer weiter. Gerade als angesichts von Anti-Vietnam-Protesten, Bürgerrechtsbewegung und sozialen Unruhen in der zweiten Hälfte der er Jahre der Eindruck aufkam, der »liberale Konsens« sei bedroht oder schon zerfallen, wurde die Vergangenheit der beiden vorangegangenen Jahrzehnte als homogen, konsensual und übersichtlich verklärt. Im Kontrast zur konfliktträchtigen Gegenwart wurde nun ein Bild »der er Jahre« erzeugt, das als Folie für die Deutung der eigenen Situation diente. Ein eigentlich außergewöhnlicher und zudem relativ kurzer Zeitabschnitt war damit zum »Normalzustand« in Weltpolitik und Weltwirtschaft erklärt worden. Im Vergleich erschien Beobachtern der er Jahre die eigene Gegenwart chaotisch und krisenhaft, der Einfluss von Nationalstaaten geschwächt und globale Verflechtung außergewöhnlich hoch. Die zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildeten jetzt eine Deutungsschwelle, die Entwicklungen und Debatten der Zeit davor für die Gegenwart der er Jahre zunehmend irrelevant erscheinen ließ. Der Begriff bei Abelshauser, Die langen fünfziger Jahre. Etwa bei Hodgson, America in Our Time (). Noch bis in die er Jahre hielt sich in den USA die These, die beiden Nachkriegsjahrzehnte seien von einem »liberalen Konsens« geprägt gewesen, der erst Mitte der er Jahre zerbrochen sei. Etwa bei Morgan, Beyond the Liberal Consensus, bes. S. vii. Der selbe Autor später skeptischer in Mason/Morgan (Hg.), The Liberal Consensus Reconsidered.
. Interdependenz im Umbruch – bis »Die These, daß die Angelegenheiten aller Menschen irgendwie zusammenhängen, dürfte heute kaum Widerspruch finden. Die begriffliche Konstruktion dieses Zusammenhanges und dessen genaueres Verständnis bereiten jedoch beträchtliche Schwierigkeiten.« Niklas Luhmann,
Im Jahr veröffentlichte der Ökonom Edward L. Morse einen Aufsatz, in dem er den bis dahin erreichten Stand der Interdependenz-Debatte zusammenfasste. Dieser Beitrag steht aus der Rückschau für einen grundlegenden Wandel der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit wachsender globaler Verflechtung und deren Folgen gegen Ende der er Jahre. Denn obwohl auch Morse noch in Kategorien der sozialen »Evolution«, der »Modernisierung« und der »Konvergenz« dachte, diagnostizierte der Doktorand am Center of International Studies der Princeton University jetzt eine mehrfache Krise in den internationalen Beziehungen und in der wissenschaftlichen Reflexion darüber: Erstens fungierten »neue Akteure« wie »transnationale Unternehmen« oder internationale Organisationen mittlerweile als »Transmissionsriemen für alle Arten von internationalen Austauschbeziehungen«. Regierungen könnten soziale Entwicklungen damit immer weniger beeinflussen, es sei die Rede von einer »Kontrollkrise« oder gar einer »Krise der Souveränität«. Zweitens diagnostizierte Morse jedoch auch eine »Krise« in der Theorie der internationalen Beziehungen. Widersprüchliche Deutungen von Veränderungen in der internationalen Politik seien auf unterschiedliche ideologische Grundannahmen von »Nationalismus« und »Internationalismus«, vor allem aber auf unterschiedliche theoretische Perspektiven zurückzuführen: »Theoretiker wachsender Unabhängigkeit«, zu denen Morse unter anderem Karl Deutsch zählte, blickten auf Staaten und Regierungen, bekämen damit vor allem deren verbessertes Instrumentarium zur sozialen Steuerung in den Blick und schlössen daraus auf eine weitere »Nationalisierung« der internationalen Politik. »Theoretiker wachsender Interdependenz« nähmen dagegen eine globale, regionale oder transnationale Perspektive ein, gingen grundsätzlich von Kooperation in den internationalen Beziehungen aus und schlössen aus der Beobachtung eines höheren Grades an Interaktion auf wachsende Verflechtung. Beide Seiten der Debatte operierten jedoch mit Begriffen wie der »internationalen Politik«, an denen sich die generelle Unzulänglichkeit der »Staatenperspektive« zeige. Denn wichtige Verbindungen auf der »subnatio Luhmann, Die Weltgesellschaft (/), S. . Seine Dissertation wurde als Morse, Foreign Policy and Interdependence in Gaullist France () publiziert. Zwischen und war Morse Deputy Assistant Secretary of State for International Energy Policy der Carter-Regierung, von bis Chefökonom für Energiefragen bei Lehman Brothers. Morse, The Politics of Interdependence (), S. , f., f., .
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nalen« oder »extra-nationalen« Ebene sowie die enge Verzahnung von politischen und ökonomischen Beziehungen könne sie nicht erfassen. Die Schere zwischen der wachsenden Interdependenz der Welt und den Methoden und Begriffen zu ihrer Analyse öffne sich immer weiter. Insgesamt sah Morse die Wirtschaftswissenschaften damit besser aufgestellt als die Politikwissenschaft, um »die Politik der Interdependenz darzustellen und zu erklären«. Morse und andere Beobachter der späten er Jahre waren überzeugt, dass wachsende Interdependenz in einem ersten Schritt analytisch besser durchdrungen werden müsse, um dann in einem zweiten Schritt politisch »kontrolliert« werden zu können. Dafür mussten die Sozialwissenschaften sich jedoch nicht nur intensiver mit globaler Interaktion und Verflechtung auseinandersetzen, sondern für diese Forschungen auch neue Perspektiven und Begriffe entwickeln. Ab dem Jahr lässt sich eine deutliche Zunahme von Arbeiten zu globaler Interdependenz und ihren Folgen sowie ein Anstieg der Verwendung dieses Begriffes in politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften feststellen (siehe Abbildung ). Gleichzeitig mit diesem quantitativen Anstieg von Diagnosen globaler Interdependenz lässt sich auch ein Umbruch im Verständnis dieses Begriffes beobachten. Die hochmoderne Sicht auf wachsende Verflechtung nationaler Einheiten als Ergebnis sozialer »Evolution« wurde jetzt erstmals thematisiert und infrage gestellt. Dieser Deutungsbruch lässt sich nicht allein aus dem beobachteten Anstieg von Welthandel und Kapitaltransfers erklären. Die neue Sicht auf Interdependenz wird nur durch den Blick auf die Wechselwirkung von zeitgenössischen Gegenwartsdiagnosen, politischen Rahmenbedingungen und disziplinären Entwicklungen in den Sozialwissenschaften wirklich verständlich. Debatten über globale Verflechtung in den Vereinigten Staaten fanden seit Ende der er Jahre vor dem Hintergrund des ausklingenden Nachkriegsbooms, der wachsenden Instabilität des Systems von Bretton Woods sowie ökonomischer wie innenpolitischer Schwierigkeiten statt. Hinzu kamen weltpolitische Veränderungen wie der Ausbau der Entspannungspolitik, der den Kalten Krieg zu einem Phänomen der Vergangenheit zu machen schien. In enger Wechselwirkung mit solchen Entwicklungen standen Veränderungen in den Sozialwissenschaften wie die Krise der Modernisierungstheorie und des Behavioralismus, die bis dahin den methodischen Nationalismus und das erkenntnistheoretische Selbstbewusstsein der entsprechenden Disziplinen stabilisiert hatten. Zwischen der Mitte der er und der Mitte der er Jahre brach dieser Rahmen weg, das hochmoderne Verständnis sozialer Entwicklung wurde destabilisiert. Damit ging nicht nur der traditionelle Fortschrittsoptimismus, sondern auch die mit dem Verständnis von Interdependenz als sozialer »Evolution« verbundene Erwartungssicherheit verloren. Die inhaltliche Füllung des Begriffs, die mit ihm verbundenen Zuschreibungen sowie die prognostizierten Folgen und politischen Handlungsempfehlungen veränderten sich grundlegend. Ebd., S. , Anm. .
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Abbildung : Die Häufigkeit des Begriffs »interdependence« (in Prozent des Gesamtbestandes) in politikwissenschaftlichen Artikeln in der englischsprachigen Datenbank von JSTOR.
In den »langen er Jahren«, der Zeit zwischen dem letzten Drittel der er und dem ersten Drittel der er Jahre, lässt sich vor diesem Hintergrund der Höhepunkt der unter dem Begriff der Interdependenz geführten Debatten über globale Interaktionen und Verflechtungen beobachten. Sie lassen sich ihrerseits in zwei Zeitabschnitte unterteilen: In einer ersten Phase wurde ab / in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen das seit dem späten . Jahrhundert etablierte Verständnis sozialer Entwicklung und die daraus abgeleitete Sicht auf Interdependenz erstmals thematisiert und anschließend infrage gestellt. Jetzt setzte eine neue Phase der Auseinandersetzung mit globalen Interaktionen und Verflechtungen ein. Zeitgenössische Beobachter meinten, gerade im Vergleich zu den langen er Jahren nun neue Akteursgruppen und neue Phänomene zu beobachten und bemühten sich, neue Ansätze und Begriffe zu deren Untersuchung zu entwickeln. Die Interpretation solcher Veränderungen war jetzt jedoch uneindeutiger, ihre Konsequenzen potenziell bedrohlicher geworden als vor dem Deutungsbruch der späten er Jahre. Hatte man bis dahin Interdependenz als nahezu »gesetzmäßiges« Ergebnis zunächst sozialer »Evolution«, dann der »Modernisierung« gedeutet, wurde sie nun sukzessive zu einem immer wichtigeren, aber auch zunehmend unberechenbaren Faktor. Mit der ersten Ölkrise begann eine zweite Phase der Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung. Die Diagnose wachsender Interdependenz war jetzt zu einem akuten politischen Problem geworden und bildete die Grundlage für Versuche, neue Formen der Weltordnung zu entwerfen. Welche politischen Konsequenzen aus den neuen Bedingungen zu ziehen seien, war jedoch stets eine hochgradig umstrittene Frage. Auch die Wissenschaft konnte hier keine eindeutigen Empfehlungen geben. Denn wie Niklas Luhmann schon festgehalten
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hatte, fand »die These, daß die Angelegenheiten aller Menschen irgendwie zusammenhängen«, zu dieser Zeit kaum noch Widerspruch. Gleichzeitig musste der Soziologe jedoch einräumen, dass die »begriffliche Konstruktion dieses Zusammenhanges und dessen genaueres Verständnis« noch »beträchtliche Schwierigkeiten« bereiteten.
. Von der »holistischen Interdependenz« zu den »Economics of Interdependence« »« steht in der zeithistorischen Forschung als Chiffre für eine ganze Reihe politischer und sozialer Veränderungen. In Westeuropa und den USA erinnert dieses Jahr an eine Protestwelle, die an Universitäten besonders ausgeprägt war. Aber auch andere »gegenkulturelle« Gruppen und »neue soziale Bewegungen« verliehen ihren Forderungen nach Veränderung bald lautstark Ausdruck. In den Vereinigten Staaten kamen die Nachwirkungen der Bürgerrechtsbewegung und der Tet-Offensive in Vietnam hinzu, die deutlich machte, dass der Krieg in Südostasien nicht leicht zu gewinnen sein würde. Für die sozialistischen Staaten gilt die Niederschlagung des Prager Frühlings als Umbruch, der sich einerseits in einer Verschärfung politischer Repressionen, andererseits aber auch im Beginn eines Umdenkens bei vielen Intellektuellen äußern sollte, die nun jede Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des Staatssozialismus verloren hatten. Diese deutlich sichtbaren Ereignisse standen in einem komplexen Wechselverhältnis mit unterschwellig verlaufenden Veränderungen: häuften sich erste Anzeichen sowohl für ein Abflauen des nahezu unbegrenzten Wachstums in den westlichen Industriestaaten seit Ende des Weltkrieges als auch für das Ende der amerikanischen Dominanz in der Weltwirtschaft. Denn eine zentrale Ursache für die Probleme der späten er Jahre war das Zahlungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten. In den er Jahren noch als Beitrag zur ökonomischen Erholung Europas gedeutet, wurde es nun als Problem gesehen. Denn jetzt trat das Ungleichgewicht im Wirtschaftsverkehr mit dem Ausland in Kombination mit einer rasch ansteigenden Inflation in den Vereinigten Staaten selbst auf. Diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten unterminierten das Vertrauen in den Dollar als Leitwährung und riefen damit Zweifel an der Stabilität des Weltwährungssystems von Bretton Woods hervor. Noch tiefgreifender wurden nun Keynesianismus und »Wachstumsliberalismus« als Grundlagen der amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik hinterfragt, schienen staatliche Luhmann, Die Weltgesellschaft (/), S. . Zu »« vgl. Gilcher-Holtey (Hg.), ; Fink/Gassert/Junker (Hg.), ; Kurlansky, ; Frei, ; Karner (Hg.), Prager Frühling; Schulze Wessel, Der Prager Frühling. Die Inflationsrate stieg von , Prozent zu Beginn der er Jahre auf , Prozent Anfang . Ihre Ursachen waren der Vietnamkrieg sowie Steuersenkungen und Anreize im Rahmen des »Great Society«-Programms Präsident Lyndon B. Johnsons. Siehe Collins, More, S. .
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Maßnahmen zur Wirtschaftssteuerung und Eindämmung von Zahlungsbilanzdefizit und Inflation doch nicht mehr zu greifen. Die Zeit um erschien damit den Zeitgenossen als Übergang von einer Zeit des »Nachkriegsbooms« zu einer Zeit verlangsamten Wachstums, von Stagnation und Inflation. Die Auseinandersetzung mit Interdependenz entwickelte sich in den USA in diesem Spannungsfeld von internationaler Politik, ökonomischen und innenpolitischen Problemen und wissenschaftlichen Veränderungen. Ende der er Jahre erlangten Diagnosen globaler Verflechtung immer größere Evidenz. Sie gründeten jetzt nicht mehr allein auf ökonomischen und technologischen Entwicklungen und deren weltpolitischen Folgen, sondern wurden stärker in Bezug zu sogenannten »globalen Problemen« wie Umweltverschmutzung und Ressourcenausbeutung gesetzt. Gleichzeitig geriet die optimistische Sicht auf wachsende Interdependenz als »Fortschritt« jedoch gerade im Moment ihrer größten Prominenz in die Krise. Die Sicht auf die potenziellen Folgen dieser Entwicklung differenzierte sich Ende der er Jahre aus, das hochmoderne Verständnis wurde hinterfragt und im gesamten nordatlantischen Raum von heterogeneren Deutungen abgelöst. Das folgende Kapitel wird deshalb auch Akteure in den Blick nehmen, die außerhalb des sozialwissenschaftlichen Mainstreams standen. Ihre Ansätze hatten keinen direkten Einfluss auf die Theoriebildung in den Politik- oder Wirtschaftswissenschaften, trugen jedoch erheblich dazu bei, dass »Interdependenz« gegen Ende der er Jahre zu einem öffentlichkeitswirksamen Schlagwort der Gegenwartsdiagnostik wurde. Die wachsende Bedeutung von Interdependenz-Diagnosen äußerte sich zunächst in einer Reihe von Gegenwartsdeutungen aus dem Bereich der »Umweltbewegung«. Hier anzutreffende Vorstellungen weltweiter Verflechtung und Interdependenz waren weniger aus der detaillierten Analyse von Weltpolitik oder Weltwirtschaft, als vielmehr aus allgemeineren Überlegungen zum Verhältnis des Menschen zur Natur hergeleitet worden. Im Gegensatz zu den »objektivierenden« Interdependenz-Debatten der Sozialwissenschaften kann hier von »moralisierenden« oder »holistischen« Interdependenz-Diagnosen gesprochen werden. Ihre Vertreter argumentierten meist eher sozialphilosophisch und blieben bei der Frage der genaueren Zusammenhänge weitgehend unspezifisch. David Kuchenbuch hat zwei Hauptstränge dieser holistischen Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung unterschieden: Als ersten Strang sieht er die Betonung einer kulturellen, historischen, sozialen und ökonomischen Interdependenz der Bewohner des Planeten Erde, bei der die daraus entstehende »wechselseitige Für zeitgenössische Befürchtungen etwa Rowen, Hobart: Gold, Dollar Threats Affecting War Policy, Washington Post, 24. März 1968; Dale, Edwin L. Jr.: The Gold Rush, New Republic, 23. März 1968. Vgl. zu diesem Abschnitt Collins, More, S. -, -. Zum »Holismus« und »holistischen« Interdependenz-Denken vgl. Gloy, Das Verständnis der Natur; Wood, A More Perfect Union. Für einen Versuch, den Begriff der »Moralisierung« als Analyseinstrument zu schärfen vgl. jüngst Knoch/Möckel, Moral History. Auch die wachsende Bedeutung der Menschenrechte wurde schon zeitgenössisch mitunter mit einer »Ethik der Interdependenz« beründet. Eckel, Neugeburt der Politik, S. .
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moralische Verantwortung« unter dem Schlagwort der »One world to share« ausgedrückt worden sei. Der zweite Strang habe sich um die Erkenntnis herausgebildet, dass die Erde eine endliche Ressource darstelle und sei unter dem Schlagwort »One world only« verhandelt worden. In den Politik- oder Wirtschaftswissenschaften wurden holistische Ansätze kaum für eine eingehendere Untersuchung von Interdependenz-Phänomenen aufgegriffen. Sie stellten jedoch ein wichtiges diskursives Umfeld dar und trugen entscheidend zur öffentlichkeitswirksamen Verbreitung globalen Denkens und damit auch des Begriffes der Interdependenz in den er Jahren bei. Die holistischen Weltdeutungen verdeutlichen zudem, dass sozialwissenschaftliche Ansätze keineswegs die einzige Möglichkeit darstellten, über eine verflochtene Welt zu sprechen. Vielmehr gab es insbesondere in den er Jahren eine Reihe von alternativen oder gar konkurrierenden Deutungen. An ihnen lässt sich schließlich aufzeigen, dass Kategorien wie »Evidenz« oder »Wissenschaftlichkeit« Ergebnisse von Konstruktionsleistungen sind, die auch Operationen der Ab- und Ausgrenzung beinhalten.
»Globale Probleme« An der Schnittstelle der beiden von Kuchenbuch identifizierten Stränge stand die Rede von »globalen Problemen«, die sich sowohl in den disziplinären Sozialwissenschaften als auch in verschiedenen sozialen Bewegungen beobachten lässt. Unter diesem und dem synonymen Begriff der »Weltprobleme« werden bis heute durch länderübergreifende Ursachen bedingte Phänomene wie Umweltverschmutzung, Hunger oder Bevölkerungswachstum zusammengefasst, die ebenso grenzüberschreitende Wirkung entfalteten. Sie könnten deshalb nicht durch nationalstaatliche Politik, sondern nur durch inter- oder transnationale Kooperation beziehungsweise supranationale Institutionen erfolgreich bearbeitet werden. Auch dieses Argumentationsmuster lässt sich schon vor den er Jahren beobachten: hatte Elmer Brown, Kanzler der New York University am . Juli von »Weltproblemen« gesprochen, die nur durch eine »Welt-Union« gelöst werden könnten. Linden A. Mander argumentierte , Aufgaben wie die Bekämpfung des Drogenhandels oder Fragen der Seuchenkontrolle überstiegen die Kompetenz einzelner Nationalstaaten bei Weitem. In den er Kuchenbuch, »Eine Welt«, S. . »One World to Share« nach Shridath Ramphal, One World to Share. Selected Speeches of the Commonwealth Secretary-General, -, London . »One World Only« nach Bielenstein (Hg.), One World Only (). Interdependence Day, NYT, . Juli , S. ; Mander, Foundations of Modern World Society (), S. vi-viii, , . Siehe u. a. auch Staley, War and the Private Investor (); Hutchins, Preliminary Draft of a World Constitution (), S. f.; Boggs, An Atlas of Ignorance (), S. ; Mathiesen, Methodology (), S. . Die Idee der »globalen Probleme« kam somit nicht erst in den er Jahren auf, wie Andersson/ Duhautois, Futures of Mankind, annehmen.
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Jahren lässt sich jedoch eine Intensivierung entsprechender Problemdiagnosen und daraus abgeleiteter Aufrufe zur internationalen Zusammenarbeit beobachten. Ab sprach der US-Architekt und Philosoph Richard Buckminster Fuller vom »Raumschiff Erde«. Fuller betonte einerseits den isolierten Charakter und die Verletzlichkeit der Erde in den Weiten des Kosmos und die daraus entstehende wechselseitige Abhängigkeit all ihrer Elemente und Bewohner. Gleichzeitig macht die von ihm angebotene »Bedienungsanleitung« jedoch deutlich, dass diese Deutung noch stark technokratischem Denken verhaftet war: Mit der richtigen »Steuerung« könne man das Raumschiff auf Kurs halten und seine Leistungsfähigkeit steigern. Diese neue Konjunktur des Bewusstseins für eine »gemeinsame Zukunft« der gesamten Menschheit war auch das Resultat aktiver Bemühungen um die Erforschung von Zukunftsfragen und von »globalen Problemen«. wurde zu diesem Zweck die Universität der Vereinten Nationen gegründet, die zwei Jahre später in Shibuya (Japan) ihre Arbeit aufnahm. Im selben Jahr entstand die bei der UNESCO angesiedelte World Futures Studies Federation, die gerade auch in Zusammenarbeit über Blockgrenzen hinweg ein kooperatives Nachdenken über »Weltprobleme« befördern sollte. Daneben war die Rede von »globalen Problemen« jedoch auch eng mit dem Aufkommen eines neuen Bewusstseins für die Begrenztheit natürlicher Rohstoffe und für die Gefahren von grenzüberschreitend wirkenden Umweltproblemen verbunden. Noch um stand »Natur« in einer engen Verbindung mit »Heimat«; ihr Schutz galt als primär nationale Aufgabe. Schon seit den er Jahren kam jedoch die Vorstellung auf, Pflanzen, Menschen und Tiere seien länderübergreifend verflochten. Die Natur kenne keine Grenzen, ihr Schutz sei eine internationale Aufgabe. Der Biologe Walter P. Taylor hatte schon darauf hingewisen, dass eine Erklärung wechselseitiger Abhängigkeit nicht nur zwischen den Nationen der Erde, sondern auch zwischen »Pflanzen, Tieren und ihrer Umwelt« dringend nötig sei. Eine solche Unanimous Declaration of Interdependence veröffent Die Idee der Erde als »Schiff« in den Weiten des Raumes findet sich bereits bei Perry, One World in the Making (), S. f. Auch in den er Jahren war Fuller keineswegs der Einzige, der diese Metapher gebrauchte. Siehe Wood, Spaceship Earth (); Boulding, Spaceship Earth () und Fuller, Operating Manual (). Vgl. dazu Höhler, Raumschiff Erde. Siehe u. a. Galtung/Jungk (Hg.), Mankind () oder Ornauer/Wiberg, World in the Year (). Dazu Seefried, Zukünfte, S. -. Zur Universität der UN http://unu.edu/about/unu/historyoverview (..). Auch die Pugwash-Konferenz, ein Forum westlicher und östlicher Wissenschaftler zu Fragen der nuklearen Rüstung, erweiterte nun ihr Themenspektrum um Entwicklungspolitik sowie demografische und ökologische Fragen. O. A., Pugwash: Raison d’être (). Vgl. dazu Bont, Borderless Nature. Taylor, What is Ecology (), S. . Er nahm dabei Bezug auf Roosevelts Vizepräsidenten Henry Wallace, dessen Declaration of Interdependence sich im Kontext des Farm Act von allerdings auf die wechselseitige Abhängigkeit der amerikanischen
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lichte der Whole Earth Catalog im Jahr . Sein Herausgeber, der Umweltaktivist Cliff Humphrey, argumentierte hier, in einem Ökosystem seien alle Teile voneinander abhängig. Der Abschlussbericht der im Juni in Stockholm veranstalteten Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen zog aus der »physischen Interdependenz« aller Menschen den Schluss, auch ihre »ökonomische, soziale und politische Interdependenz« müsse weiterentwickelt werden. veröffentlichte die Umweltschutzorganisation Greenpeace ebenfalls eine Declaration of Interdependence, für die deren Mitbegründer Patrick Moore drei »Gesetze der Ökologie« formuliert hatte: Alle Lebensformen seien interdependent, die Stabilität von Ökosystemen sei auf Diversität und Komplexität angewiesen. Jedoch seien »alle Ressourcen (Nahrung, Wasser, Luft, Mineralien, Energie)« endlich, es gebe »Grenzen für das Wachstum aller lebenden Systeme«. Diese Betonung der »Grenzen« verweist auf die wachsende Skepsis gegenüber dem seit dem . Jahrhundert etablierten Glauben an die Möglichkeit, positive Wirkung oder gar Unumkehrbarkeit von »Wachstum« und »Fortschritt«. Seit Ende der er wurde noch tief greifender sogar deren Wünschbarkeit in Zweifel gezogen, da sie die Ressourcen des Planeten zu stark belasteten. Im Umfeld des ersten »Earth Day« im Jahr wurde Kritik an der »runaway U. S. growth economy« laut, der britische Ökonom E. F. Schumacher rief in Small is Beautiful zu Mäßigung und Verzicht auf. Unter diesen neuen Vorzeichen wurde jetzt auch die »internationale Erziehung« wiederbelebt, der es mit ihrem Teaching about Spaceship Earth darum ging, spielerisch Konzepte wie Interdependenz und Welthandel zu verstehen und ein Bewusstsein für die Folgen des eigenen Konsums und notwendige Veränderungen des westlichen Lebensstils zu entwickeln.
Bürger bezog. https://web.archive.org/web//http://newdeal.feri.org/ wallace/haw.htm (..). Vermittelt wurden Robert Taylors Ideen später etwa durch den Ökologen und Geschichtsprofessor Roderick Nash, der dessen Aufsatz von gelesen und zitiert hatte. Nash, The Rights of Nature (), S. . Cliff Humphrey: The Unanimous Declaration of Interdependence, The Whole Earth Catalogue Supplement, Sept. , abgedruckt in Roszak (Hg.), Sources (), S. und unter http://revolution.berkeley.edu/declaration-of-interdependence/ (..). Report of the United Nations Conference on the Human Environment, Stockholm, .‒. Juni , S. , www.un-documents.net/aconf-r.pdf (..). Veröffentlicht in Greenpeace Chronicles (Winter -). Siehe www.greenpeace. org/international/en/about/deep-green/deep-green-special-/ und http://rexweyler. com/greenpeace/greenpeace-history/declaration-of-interdependence (..). In diesem Sinn sind der Begriff der Interdependenz und entsprechende Erklärungen bis heute in Gebrauch: Cullis, Declaration of Interdependence (). Schumacher, Small is Beautiful (). Siehe auch das Sonderheft von Daedalus : () zur »No Growth Society«. Vor diesem Hintergrund wurde auch der »amerikanische Traum« als Glaube an stetes Wachstum und universelle Modernisierung infrage gestellt. Siehe Riesman, The Dream of American Abundance (). Als »age of limits« bezeichnet deshalb Sandbrook, Mad as Hell, diese Zeit. Siehe u. a. King, International Education (); Mastrude, Teaching about Spaceship Earth (). Für weitere Beispiele vgl. Kuchenbuch, »Eine Welt«, S. f.
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Kybernetik und die »Grenzen des Wachstums« Andere Zeitgenossen wollten dagegen mithilfe von »Weltmodellen« die ›natürlichen‹ Grenzen ausloten, bis zu denen der Planet durch Bevölkerungsentwicklung, Ressourcenausbeutung und Nahrungsmittelproduktion »belastbar« sei. Die anspruchsvollsten unter ihnen strebten danach, mit umfangreichen computergestützten Berechnungen ein tatsächlich globales Modell weltweiter Zusammenhänge zu erarbeiten, um danach steuernd eingreifen zu können. Hinter solchen Weltmodellen stand der Blick auf die Welt als »Gesamtsystem«. Umweltverschmutzung wurde jetzt als gesellschaftlich relevantes Problem identifiziert und unter dem Begriff des »Ökosystems« als »rückgekoppelter Regelkreis« gedacht. Diese Neudefinition der »Mensch-Umwelt-Beziehungen« in den er Jahren hat der Historiker Patrick Kupper mit der »Orientierungskrise« dieser Zeit und dem Siegeszug von Ökologie, Systemtheorie und Kybernetik in den Wissenschaften erklärt. In den er Jahren hatte sich der Ansatz der »Kybernetik« herausgebildet, die nach dem Mathematiker Norbert Wiener als die Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Maschinen, Organismen und sozialen Organisationen verstanden wurde. Dieser Ansatz versprach eine streng wissenschaftliche Untersuchung und Durchdringung komplexer Zusammenhänge und stellte damit eine bewusste Steuerung und Kontrolle von Systemveränderungen in Aussicht. Gleichzeitig ging damit eine Mathematisierung und Technisierung sozialer Zusammenhänge einher: Auch »Gesellschaften« wurden jetzt als komplexe Funktionszusammenhänge und Regelkreise aufgefasst, die sich prinzipiell nicht von Maschinen unterschieden. Zentrale Kategorie war auch hier das »System«, verstanden als ein Interaktionszusammenhang aus Rückkopplungskreisläufen, in dem sich die einzelnen Elemente wechselseitig beeinflussten, ja voneinander abhängig waren. Gleichzeitig wurden diese Systeme scharf von ihrer jeweiligen
Vgl. Höhler, Carrying Capacity. Kupper, Die »er Diagnose«, bes. S. , . Wiener hatte auch den Begriff der »Kybernetik« geprägt: Wiener, Cybernetics (). Vgl. Heims, Constructing a Social Science; Pias (Hg.), Cybernetics; Bluma, Norbert Wiener; Seefried, Zukünfte, S. -. Siehe etwa bei Wiener, Human Use (). Seit den er Jahren sind kybernetische Vorstellungen zunehmend historisiert worden. Besonders Zusammenhänge zwischen kybernetischen Annahmen und der amerikanischen Politik des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges sind gut erforscht. Vgl. u. a. Pickering, Cyborg History; Edwards, The Closed World; Bousquet, Cyberneticizing the American War Machine. Zur Ökonomie Mirowski, Machine Dreams. In der Soziologie finden sich kybernetische Ideen etwa im Strukturfunktionalismus Talcott Parsons’ oder in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Zum Umgang mit »Komplexität« Leendertz, Das Komplexitätssyndrom.
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»Umwelt« abgegrenzt, die wiederum aus anderen Interaktionszusammenhängen bestehe. Während in der Soziologie und der Vergleichenden Politikwissenschaft dadurch die Vorstellung befördert wurde, die Welt bestehe aus einer Vielzahl von »Gesellschaften« oder »politischen Systemen«, die weitgehend mit Nationalstaaten gleichgesetzt wurden, verstanden Vertreter kybernetischer »Weltmodelle« die Welt dagegen als »Gesamtsystem«. Die rasante Entwicklung der Computertechnologie schien es jetzt möglich zu machen, das Zusammenspiel aller Elemente dieses weltweiten Systems zu untersuchen: Ab Mitte der er Jahre hatte der Computeringenieur Jay Wright Forrester an der Sloan School of Management des MIT die Methode der »Systemdynamik« entwickelt. Dabei handelte es sich um ein Modell zur computergestützten Simulation der Interaktion von Objekten in komplexen und dynamischen Systemen, das sich vor allem mit der Analyse und Simulierung von Regelkreisen befasste. Die Darstellung solcher Zusammenhänge erfolgte in erster Linie in Flussdiagrammen und mathematischen Formeln. Forresters Arbeiten sollten Ende der er Jahre eine zentrale Rolle für die Gründung des Club of Rome spielen, der sie nutzte, um die Probleme einer als verflochtenes Gesamtsystem verstandenen Welt zu untersuchen. Denn über Arbeiten seiner Schüler, die sein Modell der System Dynamics zur Untersuchung vielfältiger sozialer Zusammenhänge genutzt hatten, kam Forrester in Kontakt mit dem italienischen Industriellen Aurelio Peccei und dem Direktor für Wissenschaft, Technologie und Erziehung der OECD Alexander King, die sich für Zukunftsfragen interessierten. riefen sie zusammen mit dem niederländischen Historiker und Diplomaten Max Kohnstamm und anderen Mitstreitern ein loses Netzwerk ins Leben, dem sie den Namen Club of Rome gaben. Der Club sollte maximal Mitglieder aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft aus verschiedenen Kulturkreisen umfassen und sich der Untersuchung der wichtigsten Probleme der Menschheit widmen. Daraus sollten konkrete Handlungsempfehlungen zu deren Lösung abgeleitet werden. Im Jahr publizierte der österreichische Astrophysiker Erich Jantsch zusammen mit dem Systemtheoretiker Hazan Özbekhan einen ersten Entwurf für das Programm des Clubs. The Predicament of Mankind versprach, nach »strukturierten Antworten« So der Biologe Ludwig von Bertalanffy. Siehe Bertalanffy, General System Theory (/) und Bertalanffy, Outline (). Bertalanffy selbst sprach sich allerdings gegen die Vermischung seiner Systemtheorie mit der Kybernetik aus, da er deren Denken für zu mechanistisch hielt. Die erste Publikation in diesem Zusammenhang war Forrester, Systems Technology (). Zur Theorie vgl. auch Forrester, Counterintuitive Behavior (). Forrester, Industrial Dynamics (); Forrester, Urban Dynamics (). Später arbeitete Forrester an einem Modell, das die gesamte Volkswirtschaft der USA mit den Mitteln der Systemdynamik erfassen sollte. Siehe Forrester, Information Sources (). Zur Geschichte des Club of Rome vgl. bislang Albrecht, The Atlantic Community; Seefried, Zukünfte, S. -.
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auf wachsende »weltweite Komplexitäten und Unsicherheiten« zu suchen. Aus einer Befragung »junger Menschen« in verschiedenen Ländern hatten die Autoren des Programms eine Liste von »globalen Problemen« erstellt, die zusammen als »world problematique« bezeichnet wurden. Die Grundannahme war dabei, dass die Menschheit jetzt in einem »einzigen System« lebe, das auch »systemweit«, das hieß global untersucht werden müsse. Noch im selben Jahr fragte der Club of Rome bei Forrester an, ob sich sein Modell der Systemdynamik zur Simulierung globaler Zusammenhänge nutzen ließe. Der Computer-Ingenieur entwarf daraufhin ein erstes Modell des sozioökonomischen Systems des gesamten Planeten. Dessen Weiterentwicklung »World « stellte die Zusammenhänge von Weltbevölkerung, industrieller Produktion, Nahrungsmittelproduktion, Verfügbarkeit von Ressourcen und Umweltverschmutzung in weltweitem Maßstab dar und sagte den Kollaps des sozioökonomischen Systems der Welt im Laufe des . Jahrhunderts voraus, sollten bis dahin nicht einschneidende Maßnahmen ergriffen worden sein. veröffentlichte Forrester diese Warnung, wollte damit aber auch Möglichkeiten der Steuerbarkeit solcher Entwicklungen aufzeigen. Es gehe darum, den »bestmöglichen Übergang vom dynamischen Wachstum zu einem günstigen Zustand zu finden, in dem ein weltweites Gleichgewicht« herrsche. Schon der Titel der deutschen Übersetzung, Aporie des Globalsystems, macht deutlich, dass Forrester von der Interdependenz aller Elemente eines weltweiten Systems ausging, die bei ihm wie in anderen Weltmodellen jedoch eher analytisches a priori, denn das Ergebnis einer wirklichen Analyse von Weltpolitik und Weltwirtschaft war. Als Reaktion auf die große öffentliche Aufmerksamkeit für diese Thesen gab der Club of Rome eine ausführlichere Studie in Auftrag, für die Forrester seinen ehemaligen Doktoranden Dennis L. Meadows als Bearbeiter vorschlug. Zusammen mit seiner Frau Donella und einer Forschergruppe am MIT entwickelte dieser daraufhin das Modell »World «. Es bestand nun aus einer Reihe von Teilsystemen (unter anderem Nahrungsmittel und Landwirtschaft, Industrie, Bevölkerung, nichterneuerbare Rohstoffe und Umweltverschmutzung). Auf der Basis von Variablen wie Landverbrauch, Düngemitteleinsatz, Bevölkerungsentwicklung und industrieller Produktion wurden verschiedene Szenarien durchgespielt, bei denen Annahmen zu Rohstoffreserven oder Effizienz der Energienutzung variiert wurden. Die errechneten Prognosen deckten sich mit Özbekhan, The Role of Goals (), S. . The Club of Rome, The Predicament of Mankind (), bes. S. , . Vgl. dazu Forrester, From the Ranch (). Forrester, World Dynamics (), Übersetzung nach Forrester, Aporie des Globalsystems (). Das Modell selbst ist dokumentiert in Meadows/Behrens/Meadows, Dynamics of Growth (). Die wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen Faktoren wird u. a. in Meadows/ Meadows/Zahn/Milling, Die Grenzen des Wachstums (), S. - anschaulich ausgeführt.
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denen des World--Modells und wurden als The Limits to Growth veröffentlicht. Die Studie war eine Synthese verschiedener, zu dieser Zeit verbreiteter Krisendiagnosen: Ihre Autorin und Autoren argumentierten, falls die »gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen« unverändert anhalte, würden die »absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre« erreicht. Dann drohe der Kollaps des sozioökonomischen »Weltsystems«. Technologische Innovationen alleine seien keine Lösung; nur durch die effizientere Nutzung von Ressourcen und »freiwillige Wachstumsbeschränkungen« könne ein Gleichgewicht zwischen »Belastbarkeit« der Erde und ihrer Nutzung durch den Menschen hergestellt werden. Die Publikation der Grenzen des Wachstums rief ein noch größeres öffentliches Echo hervor als World Dynamics. Kritiker warfen seinen Autoren dagegen unverantwortliche Panikmache vor. Vertreter der »Entwicklungsländer« argumentierten, technologischen Fortschritt und ökonomisches Wachstum künstlich zu verlangsamen verurteile Millionen Menschen zu dauerhaftem Elend. Andere Kommentatoren setzten sich intensiver mit dem zugrunde liegenden Weltmodell auseinander und monierten unter anderem, dass alle Rohstoffarten zu einer einzigen Variablen aggregiert worden seien, was den Wert der Prognosen infrage stelle. Als Antwort auf solche Kritik entwarfen der deutsche Ingenieur und Ökonom Eduard Pestel und der Mathematiker Mihajlo Mesarovič ein wesentlich differenzierteres Weltmodell: Es unterschied zehn Weltregionen, arbeitete anstelle der Gleichungen von World mit und konnte damit eine Reihe zusätzlicher technologischer und sozialer Faktoren berücksichtigen. wurde die daraus hervorgegangene Publikation als zweiter Bericht an Meadows/Meadows/Randers/Behrens, The Limits to Growth (), deutsch als Meadows/Meadows/Zahn/Milling, Die Grenzen des Wachstums (). Geschichte und Rezeption der Studie sind gut erforscht, vgl. Kupper, Weltuntergangs-Visionen; Freytag, Eine Bombe im Taschenbuchformat; Graf, Die Grenzen des Wachstums; Seefried, Towards The Limits to Growth. Meadows/Meadows/Zahn/Milling, Die Grenzen des Wachstums (), S. , , , -, -. Auch ausgeführt in Meadows/Behrens/Meadows, Dynamics of Growth (), S. ff. Das Buch wurde in mehr als Sprachen übersetzt, bis heute wurden über Millionen Exemplare verkauft. Siehe Simmons, Matthew R.: Revisiting the Limits to Growth: Could the Club of Rome Have Been Correct, After All?, Okt. , www. greatchange.org/ov-simmons,club_of_rome_revisted.html (..). Kaysen, The Computer (); Solow, End of the World (). Zu dieser Debatte auch Sandbach, The Rise and Fall; Seefried, Zukünfte, S. -. Cole/Freeman/Jahoda/Pavit (Hg.), Models of Doom (); Ward/Dubos (Hg.), Only One Earth (). Interview with Robert Solow, Newsweek, . März , S. . Dennis und Donella Meadows hielten dieses Vorgehen auf der Basis von vorangegangenen Studien zu einzelnen Rohstoffarten für gerechtfertigt. Vgl. Meadows/Meadows (Hg.), Toward Global Equilibrium ().
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den Club of Rome angenommen. Mankind at the Turning Point kam zu wesentlich optimistischeren Prognosen, wurde jedoch nicht mehr so stark beachtet wie die Grenzen des Wachstums. An beiden Studien wird deutlich, dass solche holistischen Interdependenzdiagnosen zwar neue Perspektiven boten, gleichzeitig jedoch weiter dem hochmodernen Glauben an Planbarkeit und Steuerbarkeit verpflichtet blieben: Ihre auf kybernetischen Weltmodellen auf bauenden Prognosen offerierten bei aller Wachstumskritik durchaus auch positive Szenarien für die Zukunft. Nicht das Ob, sondern das Wie des Wachstums war etwa für Pestel und Mesarovič die entscheidende Frage, es müsse von »exponentiellem« auf »organisches« umgestellt werden. Nur dann könne eine »neue Welt« als System gegenseitig verflochtener und harmonischer Teile entstehen. Vertreter eines solchen »ökotechnokratischen« Denkens glaubten an die Möglichkeit der Steuerung globaler Verflechtungszusammenhänge im Rahmen eines »planet management«. Gleichzeitig lässt sich in den er Jahren jedoch auch ein Wiedererstarken der »organischen Metaphorik« des . Jahrhunderts beobachten. Anhänger eines häufig »esoterisch« geprägten »Whole Earth«-Diskurses übten heftige Kritik an der Selbstüberschätzung von »Experten« die versprachen, globale Probleme durch Technik und Planung zu lösen. Nur individuelles Umdenken und »Selbstbegrenzung« waren aus dieser Sicht die richtigen Ansätze. Ein Extrembeispiel dafür ist James Lovelocks publizierte »Gaia-Hypothese«, nach der die Erde ein beseelter »Organismus« war, dessen Teile für ihr Überleben aufeinander angewiesen seien. Wie genau auf die »globalen Probleme« der Gegenwart zu reagieren sei, blieb auch im weiteren Verlauf der er Jahre eine umstrittene Frage. Die postulierte Interdependenz aller Elemente des »Weltsystems« betraf dabei nicht nur das »Ökosystem«, sondern auch die internationale Politik und Wirtschaft. So sprachen Harold und Margaret Sprout, die sich schon länger mit dem Einfluss von Umweltfaktoren auf die internationalen Beziehungen beschäftigt hatten, im Jahr von einem »ökologischen Weg« des Denkens, der internationale Politik als ein »System der Beziehungen zwischen interdependenten, erdbezogenen Gemeinschaften« sehe, die sich einen immer überfüllteren Planeten teilen müssten. Dieser werde immer stärker abgeholzt, ausgebeutet und verschmutzt. Werde Deutsch als Mesarovič/Pestel, Menschheit am Wendepunkt (). »Ökotechnokratisches Denken« bei Sachs, Satellitenblick. Zum »planet management« Elichirigoity, Planet Management. Vgl. Cosgrove, Contested Global Visions; Pemberton, Global Metaphors, S. . Das biologistische Denken hinter vielen Weltmodellen hatten auch schon Sagladin/Frolow, Die globalen Probleme der Gegenwart (), S. f. bemerkt. Commoner, Wachstumswahn (); Illich, Selbstbegrenzung (). Siehe auch die Kritik am »Missbrauch« der Erdfotografien für die Propagierung von globalem Management bei Garb, Whole Earth Image (). Kritik an Ideen der Weltregierung bei Gruhl, Ein Planet wird geplündert (), S. -. Lovelock, Gaia ().
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diese Entwicklung nicht aufgehalten, drohe eine »unumkehrbare Katastrophe« für alle Bewohner der Erde. Ein Jahr später veröffentlichte Lester Brown, Experte für Nahrungsmittelpolitik, sein Buch World Without Borders, in dem er argumentierte, um die Bedrohung der Menschheit durch Umweltverschmutzung, Hunger und Armut aufzuhalten, müssten sich die reichen Länder nicht nur von der Idee der »superaffluence« verabschieden, sondern auch eine auf Kooperation und Gemeinsinn basierende »neue Weltordnung« errichten. Andere zeitgenössische Kommentatoren leiteten daraus sogar die Notwendigkeit einer Weltregierung ab. erklärten die Mitglieder der World Constitution and Parliament Association, die Menschheit bilde trotz aller Unterschiede von »Nationen, Rassen, Bekenntnissen, Ideologien und Kulturen« eine Einheit und müsse deshalb im Rahmen einer »Weltföderation« regiert werden. Nach fast zwanzigjährigen Beratungen hatten sie sich nun auf eine Verfassung für diese »Weltföderation« geeinigt und sahen damit eine »neue Weltordnung« anbrechen. Solche Entwürfe waren in den er Jahren jedoch ebenso wenig umsetzbar wie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Zudem trugen sie mitunter stark paternalistische Züge und überführten Ideen der »Zivilisierung« »unvernünftiger Wilder« in neue Kontexte. Der amerikanische Ökologe William Ophuls war etwa der Meinung, die einzige Lösung für die Probleme der Welt sei eine »planetarische Regierung«, die notfalls auch mit Zwang durchsetzen könne, »was vernünftige Menschen als das gemeinschaftliche planetarische Interesse ansehen«.
Richard A. Falk und das World Order Models Project Auch wenn es sich bei Ophuls Forderung um eine Extremposition handelte, teilte doch eine Reihe von Beobachtern in den er Jahren die Einschätzung des Ehepaars Sprout, das gegenwärtige »archaische, fragmentierte internationale System« sei der Überrest einer Ära, in der die Bewohner der Erde nicht »eins, sondern viele« gewesen seien und müsse deshalb grundlegend umgestaltet werden. Konkrete Schritte auf diesem Weg sollte insbesondere das »World Order Models Project« von Richard A. Falk und Saul Mendlovitz einleiten. Im Unterschied zu den auf Forresters Systemdynamik basierenden Weltmodellen wollten die beiden Autoren nie rein analytisch vorgehen, sondern verfolgten ein klares politisches Programm. Besonders Falk, Professor für Völkerrecht an der Princeton University, sah es als bekennender Sozialist und Aktivist in der Friedens- und Anti-Apartheid-Bewegung als seine Aufgabe an, Wege zu finden, wie Sprout/Sprout, Toward a Politics of the Planet Earth (), S. , , Hervorhebung im Original. Brown, World Without Borders (). http://worldparliament-gov.org/constitution/the-earth-constitution/ (..). Vgl. Harris, One World or None (), S. , , . Ophuls, Politics of Scarcity (), S. -. Sprout/Sprout, Toward a Politics of the Planet Earth (), S. , .
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das »Westfälische System« souveräner Nationalstaaten überwunden und internationale Beziehungen in einer interdependenten Welt anders organisiert werden könnten. Mendlovitz, Professor an der Rutgers Law School, hatte Mitte der er Jahre keine Zweifel, dass es bis zum Jahr eine Weltregierung geben werde. Die Frage sei jedoch, ob sie infolge eines neuen Weltkriegs oder durch einen rationalen Entwurf zustande kommen und ob sie totalitär, elitär oder demokratisch sein werde. Insbesondere Falk rückte in den kommenden Jahren jedoch weiter an den Rand des politischen Spektrums: Anfang besuchte er Ajatollah Khomeini in seinem Exil in Paris und pries dessen Modell einer Volksrevolution als dringend benötigtes Vorbild der »human governance« für Länder der »Dritten Welt«. Schon wegen seiner eindeutigen politischen Positionierung wurde der Entwurf des World Order Models Project weit weniger beachtet als die Weltmodelle von Forrester, trug jedoch indirekt zur Herausbildung eines diskursiven Umfeldes bei, in dem wachsende Interdependenz aus neuen Blickwinkeln betrachtet wurde. Denn holistische Perspektiven auf die Erde als Gesamtsystem, gar Lebewesen und Metaphern wie das »Raumschiff Erde«, die Rede von der »world problematique« oder von »globalen Problemen« waren weit eingängiger und medienwirksamer als sozialwissenschaftliche Analysen weltweiter Verflechtung. Sie trugen dazu bei, dass der Annahme globaler Zusammenhänge an der Wende von den er zu den er Jahren wesentlich mehr Evidenz auf unterschiedlicheren Themenfeldern zugeschrieben wurde als noch wenige Jahre zuvor. Auch der Begriff der Interdependenz und das Adjektiv »global« wurden besonders bei ökologischen Themen zunehmend auch in Medien oder der politischen Bildung aufgegriffen. Falk, Legal Order (), S. x-xi; Falk, Manifesting World Order (), S. . Zu Falk vgl. o. A.: Professor Whose Cause is Peace: Richard Anderson Falk, NYT, . Aug. , S. ; http://library.syr.edu/digital/guides/f/falk_ra.htm (..) sowie Griffiths, Fifty Key Thinkers, S. -. Mendlovitz, Just World Order (), S. xvi. Unter der Bezeichnung »Global Civilization: Challenges for Sovereignty, Democracy, and Security« lief das WOMP noch bis . Stern-Petterson, Reading the Project, »Global Civilization« (). Richard Falk: Trusting Khomeini, NYT, . Feb. , S. . Im Laufe der nächsten Jahre änderte Falk jedoch seine Meinung und bezeichnete das Regime Khomeinis als das »terroristischste seit Hitler«. Zit. nach Sick, All Fall Down, S. . Anfang der er Jahre sprach sich Falk gegen den Kapitalismus und den »Imperialismus« der Vereinigten Staaten aus. Falk, Human Rights (). Robert Keohane bezeichnete Falks Buch This Endangered Planet von als nur teilweise korrekte und »überzogene Darstellung«, räumte aber ein, das WOMP habe seine Sicht auf normative Fragen der Weltpolitik entscheidend angeregt. Keohane, Crisis of Interdependence (), S. , Anm. , S. , Anm. . Zu den transnationalen Kontakten Mendlovitz’ Seefried, Zukünfte, S. . Kuchenbuch, »Eine Welt«, S. f., schreibt besonders der »Glokalisierung der Moral« eine wichtige Rolle für den Umbruchscharakter der er Jahre zu. Zur Bedeutung von Weltmodellen in dieser Zeit auch Seefried, Zukünfte, S. -. Dazu Bach, Die Erfindung der Globalisierung, S. -.
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Von der »internationalen Arbeitsteilung« zu den »Strömen« der globalen Wirtschaft ‒ Richard Cooper Auf die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung in den USA hatten »holistische« oder »moralisierende« Debatten dagegen zunächst nur einen geringen Einfluss. Eine wesentlich größere Bedeutung kam hier Diagnosen zu, die aus der Beobachtung weltwirtschaftlicher Entwicklungen abgeleitet worden waren. Gerade in diesem Bereich lässt sich Ende der er Jahre eine Transformation von Interdependenz-Deutungen beobachten. Ein zentrales Werk war in diesem Zusammenhang Richard Coopers The Economics of Interdependence von , das einen Bruch mit etablierten Sichtweisen auf Weltwirtschaft und Interdependenz markiert und für einen Übergang von der Vorstellung eines »Weltmarkts« als Summe nationaler Teilmärkte zum Bild eines einheitlichen »globalen Marktes« steht. Der an der Yale University lehrende Ökonom, der zeitweise auch im Council of Economic Advisors und im State Department tätig war, diagnostizierte wie viele andere Ökonomen dieser Zeit ein »überaus schnelles Wachstum« des internationalen Handels. Zwischen und habe sich dessen Volumen mehr als verdoppelt, es wachse schneller als die Produktion in den nichtkommunistischen Industrieländern. Kapital könne sich nun viel freier zwischen den Nationen bewegen und amerikanische Firmen hätten ihre Tätigkeit in Westeuropa massiv ausgebaut. Diese Verbindungen bei Handel, Technologie und Kapital, aber auch amerikanische Truppenstationierungen, Reisen und Migration hatten für Cooper in den »kapitalistischen Demokratien« zu einem Prozess der »Integration« und »Konvergenz« ihrer ökonomischen Systeme und wirtschaftspolitischen Ziele geführt. In allen Staaten des nordatlantischen Raums sowie in Japan dominiere eine Mischung aus freiem Markt und wohlfahrtsstaatlicher Regierungsintervention. Anders als viele seiner zeitgenössischen Kollegen nahm Cooper die Neuartigkeit dieser Situation nicht einfach an, sondern verglich seine Gegenwart mit der Integration der Weltwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Internationaler Handel habe sich in dieser Zeit wegen der hohen Transportkosten jedoch nur für bestimmte Güter gelohnt, kaum ein Unternehmen sei wirklich »international« tätig gewesen. Die Verflechtung der späten er Jahre erschien Cooper dagegen viel enger, die Kommunikationsmöglichkeiten ausgereifter und ökonomische Indikatoren wie Zinssätze wesentlich interdependenter als in der Vergangenheit. Denn nicht nur das Volumen, auch der Charakter internationaler Für die Rezeption des Buches siehe Morse, The Politics of Interdependence (1969), S. 319 f., wo Cooper als positives Gegenbeispiel zu Karl Deutsch angeführt wird, sowie Kaiser, Transnationale Politik (1969). Cooper, The Economics of Interdependence (), S. f., . Ebd., S. f., , f., . Die Sowjetunion dagegen kam bei Cooper nur als Konkurrent des Westens vor, die dadurch jedoch die Tendenzen zu dessen Integration befördert habe.
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Wirtschaftsverbindungen habe sich verändert. Auch andere Autoren hatten seit den er Jahren bereits festgestellt, dass das System des Handels von Rohstoffen und Nahrungsmitteln aus den Kolonien gegen höherwertige Industrieprodukte aus den Metropolen zunehmend von einem Austausch von verarbeiteten Produkten zwischen »entwickelten Industriestaaten« verdrängt werde. Für Cooper war diese Veränderung vor allem auf die Umstellung der Kriegswirtschaft auf zivile Produktion, auf durch technologische Innovation gesunkene Transportkosten, auf den Wiederauf bau Europas und auf die damit verbundene Liberalisierung des Handels zurückzuführen. Anders als Karl Deutsch glaubte er jedoch, einen anhaltenden Trend wachsender Verflechtung seit den er Jahren auszumachen. Die neue Form des internationalen Austauschs führte bei Cooper darüber hinaus zu einer Abkehr von bisherigen Vorstellungen der »Ausdifferenzierung« und »internationalen Arbeitsteilung«. Denn nicht nur die Art der verhandelten Güter, sondern auch die zentralen Akteure und die Grundzüge der Weltwirtschaft selbst schienen sich verändert zu haben. Neben dem Handel materieller Güter gewannen in Coopers Analyse »ausländischer Direktinvestitionen« (foreign direct investment) immer mehr an Bedeutung. Dabei handele es sich um Investitionen, die ein (zu dieser Zeit meist amerikanisches) Unternehmen in anderen (zu dieser Zeit meist europäischen) Ländern tätigte, um dort einen Produktionsstandort aufzubauen oder Unternehmensanteile zu erwerben. Auch wenn viele Regierungen nach wie vor bemüht seien, ihre Kontrolle über Zinssätze und Geldmengen aufrechtzuerhalten, habe der »international flow of capital« in den letzten beiden Jahrzehnten damit erheblich zugenommen. Unternehmen suchten ein immer größeres Gebiet ab, um neue Märkte oder Standorte zu finden. Diese neuen Formen der Wirtschaftstätigkeit und wachsende Interdependenz insgesamt hatten für Cooper massive Folgen für die »Fähigkeit von Ländern, ihre ökonomischen Angelegenheiten nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten«. Gleichzeitig wollten Regierungen jedoch immer aktiver steuernd in wirtschaftliche Zusammenhänge intervenieren. Es falle ihnen deshalb zunehmend schwerer, »Eingriffe internationaler ökonomischer Integration in die nationale Wirtschaftspolitik« zu akzeptieren. Während ihre »Souveränität« unangetastet bleibe, sei in diesem Zusammenspiel von steigenden Ambitionen und zunehmenden Restriktionen die »nationale Autonomie«, das hieß die Möglichkeit, wirtschaftspolitische Ziele auch tatsächlich umzusetzen, immer stärker eingeschränkt. Ebd., S. -. Ähnlich bereits Marsh, World Trade and Investment (), S. - und Benoit, Interdependence on a Small Planet (). Zu Marsh auch Kapitel .. Danach Shonfield, Modern Capitalism (), S. ; Morse, The Politics of Interdependence (), S. . Cooper, The Economics of Interdependence (), S. . Ebd., S. f., f., , , -, . Dazu auch Cooper, National Economic Policy ().
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Da das weitere Wachstum der Interdependenz für Cooper kaum aufzuhalten und nur bei hohen Kosten zu ignorieren war, musste für ihn möglichst schnell eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie sich zunehmende internationale Mobilität von Unternehmen und die Freiheit des Marktes mit nationaler Regulierung und Besteuerung der Wirtschaft vereinbaren ließen. Als einzige Lösung sah der Ökonom eine enge internationale Abstimmung der wirtschaftspolitischen Ziele und Maßnahmen der einzelnen Staaten. Nur der Verzicht auf ein gewisses Maß an »Souveränität« könne wirtschaftspolitische »Autonomie« zurückgeben ‒ insgesamt war sein Ziel keine Umkehrung, sondern eine Einhegung und Steuerung wachsender ökonomischer Interdependenz.
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Coopers Arbeit aus dem Jahr ist damit nicht nur ein Indikator für das Wachstum grenzüberschreitender Verflechtungen und für eine Transformation der Weltwirtschaft, sondern auch für einen Umbruch bei der Deutung der daraus entstehenden Interdependenz. Denn sie enthielt gleichzeitig Elemente der bisherigen hochmodernen Deutung als auch neue Perspektiven und Begriffe. Wie viele Autoren vor ihm dachte auch Cooper Interdependenz als Folge eines Netzes von Handelsbeziehungen, die sich durch technologische Entwicklungen immer stärker verdichteten. Die zentralen Einheiten der Analyse waren weiterhin Nationalstaaten, deren Handelsvolumen und Zahlungsbilanzen Cooper auf der Basis volkswirtschaftlicher Daten verglich. In großen Teilen vollzogen sich für ihn auf der internationalen Bühne nun jene Verflechtung und Angleichung von Regionen, die zuvor bereits innerhalb von Nationalstaaten stattgefunden hatten ‒ die These vom Wachstum vom »Kleinen« zum »Großen« blieb weiterhin wirkmächtig. Und doch stellt Coopers Arbeit einen entscheidenden Wendepunkt dar. Denn sie enthielt Elemente, die auf Akteure und Austauschbeziehungen jenseits des nationalstaatlichen Rahmens verwiesen. »Ausländische Direktinvestitionen« und die Tätigkeit von Unternehmen »über nationale Grenzen hinaus« lagen quer zu rein nationalen Einheiten und Zahlungsbilanzen. Damit habe die Mobilität der Produktionsfaktoren Kapital, Wissen und Arbeit erheblich zugenommen. Produktionsketten würden immer unabhängiger von geografischen Bedingungen, nationale Finanzmärkte immer stärker international integriert. »Interdependenz« dachte Cooper damit nicht mehr primär als Ergebnis von »internationaler Arbeitsteilung« und »Spezialisierung« zwischen national abgesteckten »Volkswirtschaften«, sondern als das Ergebnis von »Waren- und Kapitalströmen«, die deren Grenzen überspannten. Seine Arbeit ist zudem ein früher Beleg für die Semantik der flows, internationaler Ströme von Kapital, aber auch Cooper, The Economics of Interdependence (), S. , -, f. Etwa ebd., S. f.
von Wissen und Technologie, die bis heute die Rede von der »Globalisierung« prägen. Sie war damit ein entscheidender Schritt auf dem Weg von einer Sicht auf den »Weltmarkt« als Summe vieler nationaler Teilmärkte zu einem Denken in der Kategorie eines einheitlichen »globalen Marktes«. Durch diese neue Perspektive auf internationale ökonomische Austauschbeziehungen trug The Economics of Interdependence entscheidend zur Herausbildung eines neuen Blicks auf das bereits seit über einem Jahrhundert diskutierte Phänomen wachsender Interdependenz bei.
. Sovereignty at Bay? – Multinationale Unternehmen Ein zentraler Faktor für Coopers These einer qualitativen Veränderung der Weltwirtschaft waren sogenannte »ausländische Direktinvestitionen«. Sie wurden von länderübergreifend aktiven oder organisierten Unternehmen getätigt, die Cooper als »international firms« bezeichnete. Seit Anfang der er Jahre wurden sie von Autoren in den Politik- und Wirtschaftswissenschaften jedoch vor allem unter der Bezeichnung »multinationale Unternehmen« oder schlicht »multinationals« diskutiert. Solche Akteure durchkreuzten das Bild der Weltwirtschaft als Interaktion von nationalen Volkswirtschaften. Die Auseinandersetzung damit war ein zentraler Faktor für die Transformation der Sicht auf die Weltwirtschaft und für den Evidenzverlust des hochmodernen Verständnisses von wachsender globaler Verflechtung nationaler Einheiten als Folge von »Arbeitsteilung« und »Ausdifferenzierung«. Einige Jahre vor den zuvor behandelten holistischen Debatten hatte unter Politikwissenschaftlern und unter denjenigen Ökonomen, die sich entgegen dem allgemeinen Trend in ihrer Disziplin weiterhin mit dem Zusammenhang von Wirtschaft und Politik auseinandersetzten, eine Diskussion darüber eingesetzt, welche Folgen die wachsende Bedeutung solcher Unternehmen für Weltwirtschaft und Weltpolitik haben werde. Diese Debatte wurde nicht immer unter dem Schlagwort der Interdependenz geführt, war jedoch eng mit der Frage nach den politischen und sozialen Folgen wachsender Verflechtung verbunden. Insgesamt lässt sich im Laufe der er und er eine graduelle Verschiebung in der Deutung des Verhältnisses von multinationalen Unternehmen und Staaten zugunsten dieser privaten Akteure feststellen. Diese trug entscheidend zur Herausbildung eines neuen Verständnisses globaler Interdependenz und einer neuen Sicht auf den »Weltmarkt« bei, der jetzt nicht mehr als Summe nationaler Teilmärkte, sondern als ein zusammenhängender »globaler Markt« imaginiert wurde.
Ebd., bes. S. x, -. Zur Semantik der »flows« vgl. Rockefeller, Flow. Cooper, The Economics of Interdependence (), S. , .
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Multinationale Unternehmen und Interdependenz vor den er Jahren Grenzüberschreitend tätige und organisierte Unternehmen waren kein neues Phänomen der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts. Ihre konkrete Bezeichnung etwa als »international«, »multinational«, »transnational« oder »global« kann dabei kein neutraler Analysebegriff sein, sondern muss als ein Effekt zeitgenössischer Deutungen selbst historisiert werden. Je nach Definition sind solche Firmen bis in das . Jahrhundert, die Frühe Neuzeit, das Mittelalter oder gar die Antike zurückverfolgt worden. Auch die Beobachtung, dass entsprechende Unternehmen nicht nur ökonomisch eine große Rolle spielten, sondern auch wichtige politische und soziale Fragen aufwarfen, wurde bereits in den er und er Jahren diskutiert. Sogenannte »internationale Kartelle« hatten sich zwischen und ihre weltweiten Absatzmärkte weitgehend aufgeteilt ‒ meist entlang der Grenzen der jeweiligen Kolonialreiche und »Großräume« – und schützten sich durch Absprachen gegen Konkurrenz und Marktschwankungen. Schon auf der Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbundes in Genf im Mai wurde über die Folgen dieser Entwicklung beraten. Während manche Konferenzteilnehmer hier »wirklichen Internationalismus« am Werk sahen, fürchteten andere die Unterminierung staatlicher »Souveränität«. Im Umfeld der Weltwirtschaftskrise identifizierten zeitgenössische Beobachter das Auseinanderklaffen der engen ökonomischen Verflechtung der Welt und ihrer Aufteilung in eine Vielzahl souveräner Nationalstaaten als zentrales Problem der Gegenwart. Dementsprechend erschienen gerade in den er Jahren Arbeiten, die sich mit »internationalen Unternehmen« auseinandersetzten. Der US-Ökonom Eugene Staley argumentierte , Nationalstaaten seien zu kleine Einheiten, um den viel größeren Raum »internationaler Privatinvestitionen« zu regulieren. Entsprechende Firmen müssten deshalb durch »mondiale Die Geschichte solcher Unternehmen selbst ist gut aufgearbeitet, bereits hat Alfred D. Chandler den Aufstieg multi-funktionaler, multi-regionaler und multi-divisionaler amerikanischer Unternehmen erforscht: Chandler, Strategy and Structure (). Darauf auf bauend legte die Wirtschaftshistorikerin Mira Wilkins und in zwei Bänden eine Geschichte der internationalen Tätigkeit amerikanischer Unternehmen von bis vor. Wilkins, The Emergence (); Wilkins, The Maturing (). Wirkliche multinationale Unternehmen habe es jedoch erst ab dem . Jahrhundert gegeben. Wilkins, Multinational Enterprise to (). Zu Wilkins Werk vgl. Corley, Mira Wilkins. Eine international verbindliche Regulierung wurde diskutiert; letztlich wurde aber nur der Völkerbund mit der Sammlung entsprechender Informationen beauftragt. Der Reichswirtschaftsminister, Die Weltwirtschaftskonferenz (); Der Reichsverband der deutschen Industrie, Die internationale Wirtschaftskonferenz (). Siehe zudem Hexner, International Cartels () und die bei Pemberton, Global Metaphors, S. f. zitierten Quellen. Vgl. Nörr/Waibel, Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von und Clavin, Securing the World Economy, S. -. The Prospects of the League, The Economist, . Okt. , S. f. Siehe u. a. Southard, American Industry in Europe (); Remer, Foreign Investment in China (); Phelps, Migration of Industry ().
Autoritäten« wie eine World Investment Commission reguliert werden. Im Zuge des wachsenden Protektionismus und politischer Spannungen wurden die Hindernisse für die Geschäftstätigkeit entsprechender Unternehmen im Laufe der er Jahre jedoch immer höher. Auch aufseiten der Beobachter wurde die Beschäftigung mit grenzüberschreitenden ökonomischen Aktivitäten zunehmend von anderen Problemen überlagert. Erst mit der wirtschaftlichen Erholung Europas in den er Jahren wuchs die Bedeutung grenzüberschreitend tätiger Firmen wieder. Mit leichter Zeitverzögerung setzte auch das wissenschaftliche und noch etwas später das öffentliche Interesse an ihnen wieder ein.
Multinationale Unternehmen im Fokus der Sozialwissenschaften In den er und er Jahren wurden grenzüberschreitende ökonomische Interaktionen unter dem Begriff der »ausländischen Direktinvestitionen« verhandelt, womit zunächst vor allem Investitionen amerikanischer Unternehmen in Produktionsstandorte oder Unternehmen in Europa gemeint waren. Schon hatte der Ökonom Donald Marsh einen Anstieg solcher Finanzströme beobachtet, war sich jedoch nicht sicher gewesen, ob sich letztlich nicht doch protektionistische Bestrebungen durchsetzen würden. Ende der er Jahre wurde der Anstieg solcher Direktinvestitionen dagegen zunehmend als anhaltender Trend eingeschätzt. So legte der britische Ökonom John H. Dunning eine der ersten empirischen Studien zu den Auswirkungen amerikanischer Investitionen in ihrem »Gastland« vor. Die zentrale Analyseeinheit der Arbeit war zwar der Nationalstaat und nicht das Unternehmen, sie befasste sich aber auch mit den spezifischen Charakteristika international tätiger Firmen, für die Dunning noch keinen eigenen Namen hatte. In Frankreich hatte dagegen Maurice Byé schon die Bezeichnung »große interterritoriale Einheit« vorgeschlagen, sprach er von »plurinationalen Unternehmen«. Eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Phänomen begann in der englischsprachigen Literatur um . In diesem Jahr definierte David Lilienthal, der lange als »Erfinder« des Begriffs galt, »multinationale Unternehmen« als Organisationen, die »ihre Heimat in einem Land haben, aber auch unter den Ge Staley, War and the Private Investor (), S. f., . Zu Staley auch Kapitel .. Die Geschichte der Beschäftigung mit multinationalen Unternehmen ist auf verschiedene Publikationen, meist Handbuchbeiträge, verstreut. Siehe etwa Rugman, Forty Years (); Kobrin, Sovereignty@Bay (); Bach, Die Erfindung der Globalisierung, S. -. Marsh, World Trade and Investment (), bes. S. -, . Dunning, American Investment (). Ähnlich auch Penrose, Foreign Investment (); Penrose, The Theory of the Growth of the Firm (). Byé, La grande unité interterritoriale (); Byé, L’autofinancement de la G. U.I. (); Byé, La grande unité interterritoriale (); Byé, Les Firmes plurinationales (). Ähnlich auch Demonts/Perroux, Grande firme – Petite nation (), S. .
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setzen anderer Länder leben und arbeiten«. Im selben Jahr reichte der Kanadier Stephen Hymer seine von Charles P. Kindleberger am MIT betreute Doktorarbeit ein, die das internationale Wirtschaftsgeschehen in ein neues Licht stellte. Wie andere vor ihm ging auch Hymer von stark anwachsenden internationalen Aktivitäten amerikanischer Firmen aus. Auf bauend auf Dunnings empirische Vorarbeiten entwarf er jedoch eine neue Perspektive auf Direktinvestitionen: Anstatt sie lediglich als Kapitalflüsse zu betrachten, die in nationalen Zahlungsbilanzen ausgewiesen wurden, fasste er sie als Ergebnisse der Entscheidungen von Managern auf. Damit waren diese Personen und die von ihnen geleiteten Unternehmen die zentralen Einheiten der Analyse geworden. In den folgenden Jahren entwickelte sich besonders die Region Boston zum Zentrum der Forschung über multinationale Unternehmen. Am MIT arbeitete in erster Linie Charles Kindleberger zu diesem Thema. Anders als viele seiner Kollegen lehnte der Ökonom die zunehmende Mathematisierung seiner Disziplin ab und behielt den Zusammenhang von Ökonomie und Politik stets im Blick. Bereits hatte Kindleberger in der dritten Auflage seines Handbuches International Economics die traditionelle Sicht auf internationale Direktinvestitionen als Kapitalflüsse zwischen national abgesteckten Volkswirtschaften durch Hymers neue Perspektive auf multinationale Unternehmen ersetzt, die Marktentwicklung und politische Rahmenbedingungen auf der ganzen Welt im Blick behielten. Am anderen Ufer des Charles River war an der Harvard Business School das Multinational Enterprise Project gestartet worden, das von Raymond Vernon koordiniert wurde. In Kooperation mit anderen Universitäten ‒ nicht aber dem MIT ‒ sollte es die Dynamik solcher Unternehmen über einen längeren Lilienthal, The Multinational Corporation (). Alternative Begriffe waren zu dieser Zeit u. a. »Weltunternehmen«. Siehe Clee/Di Scipio, Creating a World Enterprise (). Spätere Arbeiten haben frühere, aber wenig systematische Nennungen des Begriffs »multinationale Unternehmen« zutage gefördert. Vgl. dazu Nowrot, Normative Ordnungsstruktur, S. f. Hymer, Stephen H.: The International Operations of National Firms: A Study of Direct Investment, M. I.T. Doctoral Dissertation, Cambridge, Mass. . Hymers Arbeit wurde in den folgenden Jahren immer wieder zitiert, jedoch erst nach seinem Tod als Hymer, The International Operations of National Firms () veröffentlicht. Vgl. Pitelis, Stephen Hymer. Eine methodische Innovation, der etwa der britische Ökonom Alan Rugman große Bedeutung beimaß. Rugman, Forty Years (), S. . Vgl. dazu auch Dunning/Rugman, The Influence of Hymer’s Dissertation (). Zur Biografie Kindlebergers neben Kindleberger, The Life of an Economist () auch Cohen, International Political Economy, S. -. Kindleberger, International Economics (); Kindleberger, European Integration (). Der Ökonom war zunächst Jahre in der freien Wirtschaft und im Staatsdienst tätig gewesen, hatte im State Department maßgeblich an der Gründung des IWF und des GATT mitgewirkt und war seit Professor für Internationale Beziehungen in Harvard.
Zeitraum untersuchen und auch auf ihre Bedeutung für Innen- wie Außenpolitik eingehen. Dafür wurde die Entwicklung von über Firmen in den USA, Japan und Westeuropa von bis erfasst, es entstanden ein statistisches Werk und mehrere computerbasierte Datenbanken. Anfang der er Jahre sahen die Autoren eines von Kindleberger herausgegebenen Sammelbands bereits die gesamte kapitalistische Welt vom Aufstieg solcher Unternehmen geprägt ‒ nur Japan stelle noch eine gewisse Ausnahme dar. Gleichzeitig hatte sich jedoch weder eine einheitliche Terminologie noch Interpretation herausgebildet. Kindleberger bezeichnete solche Unternehmen als »international corporation«, andere Beiträger hingegen als »international firm«, »multinational corporation«, »multinational enterprise« oder schlicht »United States business« oder handelten sie weiterhin unter der Bezeichnung »internationale Direktinvestitionen« ab. Der Gegenstand schien einerseits schwer zu bestimmen, andererseits so offensichtlich zu sein, dass sich kaum ein Autor an einer expliziten Definition versuchte. Die enorme Bedeutung, die solchen Unternehmen zugeschrieben wurde, sollte jedoch den Blick auf globale Verflechtung entscheidend beeinflussen. Auch hier zeigt sich zunächst, wie hochmoderne Deutungen sozialer Entwicklung weiterhin große Bedeutung besaßen, jedoch auch an neue Rahmenbedingungen angepasst wurden. Denn bei der Suche nach den Ursachen für den rasanten Bedeutungszuwachs multinationaler Unternehmen in den letzten beiden Jahrzehnten vertraten manche Autoren die traditionelle These von der sozialen »Evolution« von kleinen zu immer größeren Einheiten, auch wenn diese jetzt nicht mehr auf einen Weltstaat hinauszulaufen schien. Denn multinationals wurden zunächst als Fortentwicklung »nationaler« amerikanischer Unternehmen betrachtet, die ihrerseits aus »lokalen« Unternehmen hervorgegangen seien. Als Motor dieser Entwicklung erschien Kindleberger der Fortschritt der Kommunikations- und Transporttechnologie, der eine weltweite Tätigkeit möglich und profitabel, ja geradezu unvermeidlich gemacht habe. Interdependente Welt und der Aufstieg multinationaler Unternehmen waren in dieser Sichtweise eng verflochten: Wachsende Verflechtung habe zum Bedeutungszuwachs die Zu dem Projekt vgl. Vernon, Multinational Enterprise and the Nation State (); Vernon (Hg.), The Harvard Multinational Enterprise Project (). Vaupel/Curhan, The Making of Multinational Enterprise (); Vaupel/Curhan, The World’s Multinational Enterprises (). Aus dem Projekt gingen bis mehrere Dutzend Doktorarbeiten, über Zeitschriftenartikel und fünf Monografien hervor. Kindleberger (Hg.), The International Corporation (). Für einen frühen Versuch, »internationale«, »multinationale«, »transnationale« und »supranationale« Unternehmen definitorisch zu unterscheiden, siehe Robinson, International Management (), S. ff., . Kindleberger, American Business Abroad (), S. f. Ähnlich Kindleberger, European Integration () und Rolfe, Die internationale Unternehmung im Überblick (). Fast schon technikdeterministisch Demonts/Perroux, Grande firme – Petite nation (), S. . Kritisch gegenüber dieser Sicht Jones, The Evolution of International Business.
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ser Unternehmen geführt, die wiederum wechselseitige Abhängigkeiten erzeugt hätten. Vor dem Hintergrund dieser These war es nur konsequent anzunehmen, dass Unternehmen auch in der Zukunft immer größer werden würden. Raymond Vernon widersprach hingegen der These vom nahezu zwangsläufigen Wachstum von Unternehmen vom Lokalen über das Nationale ins Multinationale. Eine technikdeterministische oder evolutionäre Perspektive könne die gestiegene Bedeutung solcher Unternehmen nicht erklären. Ihr Aufstieg sei historisch viel kontingenter, Faktoren wie »Wissen«, »Organisation« und das neue Selbstverständnis als »global« agierende Unternehmen hätten dabei eine wichtige Rolle gespielt. Andere Autoren betonten die zentrale Bedeutung von politischen Entscheidungen und staatlichem Handeln: David Willey argumentierte in Kindlebergers Sammelband, erst der Abbau staatlicher Regulierung von internationalen Direktinvestitionen habe das Wachstum multinationaler Unternehmen ermöglicht. Aus einer solchen nichtevolutionären Perspektiven ließen sich verlässliche Voraussagen am ehesten für den technologischen Bereich treffen. Hier schien es relativ sicher, dass wie in den letzten Jahren auch in Zukunft Transportkosten ab- und Kommunikationsgeschwindigkeit zunehmen würden. Wesentlich schwerer zu beantworten war dagegen die Frage, ob daraus auch ein weiteres Wachstum von aus den USA gelenkten multinationalen Unternehmen resultieren werde. Denn wenn sich technisches und organisatorisches Wissen durch die Entwicklung der Kommunikationstechnologie weltweit verbreite, könnten davon auch kleinere Unternehmen außerhalb der Vereinigten Staaten profitieren.
The Survival of the Fittest? Multinationale Unternehmen und das Schicksal des Nationalstaates Während sich der Aspekt der sozialen »Evolution« von kleinen zu großen Einheiten noch auf multinationale Unternehmen übertragen ließ, schienen sie ein anderes Element der hochmodernen Deutung wachsender Verflechtung nun zweifelhaft werden zu lassen. Denn seit dem . Jahrhundert waren die meisten Beobachter davon ausgegangen, dass globale Interaktion vor allem zwischen national abgesteckten Einheiten stattfinde und von staatlichen Regierungen betrieben oder zumindest reguliert werde. Multinationale Unternehmen schienen jetzt nicht nur quer zu diesem Bild zu liegen, sondern sogar mit »souveränen Nationalstaaten« in Konkurrenz um Einfluss in Politik und Wirtschaft zu treten. Vernon, Future of the Multinational Enterprise (), S. , . Die entsprechende Theorie des »product life cycle« in Vernon, International Investment (). Willey, Direct Investment Controls (), S. . Dort findet sich auch eine ausführliche Diskussion des Zusammenhangs von Direktinvestitionen, Regulationsmaßnahmen und nationaler Zahlungsbilanz. Vernon, Future of the Multinational Enterprise (), S. , .
In den er Jahren konzentrierte sich die wirtschaftswissenschaftliche Forschung in den USA zunächst auf die Frage, welche Folgen ausländische Direktinvestitionen für die »nationalen Zahlungsbilanzen« sowohl der »Heimat-« als auch der »Gastländer« hatten. Gerade in den Vereinigten Staaten drohten freies Reisen und freier Handel zu einer negativen Zahlungsbilanz beizutragen, die sich in einem System fester Wechselkurse nur schwer bekämpfen ließ. Für Robert Gilpin handelte es sich dabei jedoch um notwendige Kosten, um die amerikanische politisch-ökonomische Hegemonie aufrechtzuerhalten. Weil es sich bei multinationalen Unternehmen in den er Jahren noch fast ausschließlich um in den USA ansässige Unternehmen handelte, fiel die Bewertung ihrer Tätigkeit dort jedoch zunächst überwiegend positiv aus: Aus Sicht der meisten Beobachter in den USA der er Jahre regten sie Wirtschaftswachstum sowohl im »Heimat-« als auch in den »Gastländern« an und stärkten durch Technologieund Wissenstransfer Produktivität und Innovationspotenzial. Auch im Bereich der internationalen Politik wurde mit positiven Wirkungen gerechnet: Charles Kindleberger argumentierte , große amerikanische Unternehmen könnten in Europa als »überparteiliche Dritte« den Fluss von Kapital, die Internationalisierung der Produktion sowie die Angleichung von Löhnen und Gehältern vorantreiben und damit bei der Integration Europas eine vergleichbare Rolle spielen wie »nationale Unternehmen« bei der Integration der Vereinigten Staaten. In anderen Ländern und bei Beobachtern, die nicht auf den nordatlantischen Raum, sondern auf andere Weltregionen blickten, fiel die Bewertung der Tätigkeit multinationaler Unternehmen dagegen schon früh wesentlich negativer aus: argumentierten die beiden französischen Ökonomen Roger Demonts und François Perroux, nach ihrer Unabhängigkeit hätten viele kleine und »wenig entwickelte« Länder oft nicht die Fähigkeiten, ihre Rohstoffe selbst abzubauen. Deshalb seien dort weiterhin große Unternehmen aus den ehemaligen »Metropolen« oder den USA tätig. Deren Interessen entsprächen meist nicht den Entwicklungszielen der jungen Staaten. Die ausländischen Unternehmen verhielten sich so, als ob es sich nicht um das Territorium eines unabhängigen Staates, sondern um ihr eigenes handele. Alle Versuche, etwa durch Verstaatlichungen dagegen vorzugehen, liefen ins Leere, da diese Unternehmen in viel größeren Räumen agierten als den Grenzen des »nationalen Territoriums«. Deshalb rieten die beiden Sozialwissenschaftler gerade afrikanischen Staaten, Souveränität an eine »plurinationale Organisation« abzutreten, um so ihre Verhandlungsmacht gegenüber privaten Unternehmen zu stärken. Siehe Cooper, The Economics of Interdependence (), S. ; Huf bauer/Adler, US Manufacturing Investment (). Für Großbritannien Reddaway/Potter/Taylor, The Effects of UK Direct Investment (). Gilpin, U. S. Power and the Multinational Corporation (). Siehe etwa Dunning, Technology, United States Investment (). Kindleberger, European Integration (). Demonts/Perroux, Grande firme – Petite nation (), S. . Siehe auch Piatier, L’Occident devant les pays sous-développés ().
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Demonts und Perroux waren noch davon ausgegangen, dass multinationale Unternehmen nur »Entwicklungsländer« in Schwierigkeiten brächten, mit »entwickelten« Staaten dagegen zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeiteten. Schon Ende der er Jahre wurde jedoch auch in Ländern der »westlichen Welt« die Befürchtung laut, Unternehmen aus den USA könnten heimische Firmen übernehmen oder verdrängen. Diese Sorge kam zuerst in Kanada auf, das angesichts seiner engen Verflechtung mit den Vereinigten Staaten in den er und er Jahren als zentrale Fallstudie in einer ganzen Reihe von Arbeiten zur Interdependenz diente. Am intensivsten war die Furcht vor der Dominanz amerikanischer Unternehmen bald jedoch in Europa ausgeprägt: publizierte der französische Linksintellektuelle Jean-Jacques Servan-Schreiber sein vielbeachtetes Buch Die amerikanische Herausforderung (Le Défi Américain). Darin warnte er davor, dass in den USA ansässige große Unternehmen Kapital effizienter einsetzen könnten als kleinteiligere europäische, die sie angesichts des überbewerteten Dollars leicht aufkaufen könnten. Danach verlagerten sie alle »hochwertigen« Tätigkeiten wie Forschung und Entwicklung in die Vereinigten Staaten, nur die Produktion verbleibe in Europa. Der daraus resultierende Abfluss von Wissen und qualifiziertem Personal werde das Innovationspotenzial des Kontinents nachhaltig schwächen. Europa müsse deshalb selbst große multinationale Unternehmen herausbilden ‒ andernfalls werde es zu einer »Kolonie« der USA. Ende der er Jahre konnten damit auch Beobachter in den Vereinigten Staaten die negativen Folgen der Tätigkeit multinationaler Unternehmen nicht länger ignorieren. Denn bei ihrer Besteuerung, beim Kartellrecht, beim Verbraucherschutz und bei der Frage von politischen Exportkontrollen drohten sie jetzt zu Konflikten zwischen Staaten zu führen. Denn wer durfte beispielsweise entscheiden, ob ein von einem deutsch-französischen Unternehmen mit amerikanischen Teilen gefertigtes Produkt in die Sowjetunion exportiert werden durfte? Denn immerhin erhoben die Vereinigten Staaten den Anspruch, dass alle Firmen mit amerikanischer Beteiligung, aber auch alle Produkte mit amerikanischer Technologie den Export-Bestimmungen der Vereinigten Staaten unterliegen sollten. Europäische Unternehmen und Regierungen wollten sich Siehe Safarian, Foreign Ownership (); Watkins, Foreign Ownership (); Levitt, Canada (); Levitt, Silent Surrender (). Etwa bei Keohane/Nye, Power and Interdependence (), Kap. . Servan-Schreiber, Le Défi Américain (), deutsch als Die amerikanische Herausforderung, Hamburg . Alleine in Frankreich wurden circa Exemplare des Buches verkauft, es wurde in Sprachen übersetzt und löste eine heftige Debatte um die »amerikanische Herausforderung« aus. Siehe etwa Robock, The American Challenge (); aus marxistischer Perspektive Mandel, International Capitalism and »Supra-Nationality« (); Adam, American Challenge (). Hymer/Rowthorn, Multinational Corporations () widersprachen Servan-Schreibers Interpretation: »Kolonisation« sei ein Problem der »Entwicklungsländer«. Im europäischen Fall sei das Argument der amerikanischen Herausforderung vielmehr eine Rechtfertigung für ökonomischen Nationalismus und Neoprotektionismus.
dieser Kontrolle durch die USA dagegen häufig nicht unterwerfen. Dahinter stand das Problem, dass sich nationale Regierungen nicht nur für die Interessen »ihrer« Unternehmen einsetzten, sondern diese auch als Instrumente zur Verfolgung ihrer Außenpolitik betrachteten. Daraus entstehende zwischenstaatliche Konflikte ließen sich aus Sicht der meisten Kommentatoren jedoch durch zwischenstaatliche Kooperation vergleichsweise einfach lösen. Die Möglichkeit, dass solche Unternehmen ihre eigenen Interessen verfolgen und selbst entwickelte Industriestaaten sie kaum noch beeinflussen könnten, zogen sie zunächst noch nicht in Betracht. Anfang der er Jahre wurde jedoch zunehmend deutlich, dass amerikanische Firmen ihren Vorsprung bei Technologie und Produktivität gegenüber der europäischen und japanischen Konkurrenz weitgehend eingebüßt hatten. Diese waren nun im Begriff, selbst zu multinationalen Unternehmen zu werden und drangen besonders in der Stahl- und Automobilindustrie auf den US-Markt vor. Selbst Übernahmen amerikanischer durch ausländische Unternehmen waren nun nicht mehr ausgeschlossen. Schon deshalb wirkten multinationale Unternehmen jetzt auch aus Sicht von Beobachtern in den Vereinigten Staaten zunehmend bedrohlich. Noch grundlegender war jedoch die Beobachtung, dass nun auch multinationals ihrerseits neue Strategien verfolgten, was die Sicht auf das Verhältnis von solchen Unternehmen und Nationalstaaten, ja auf die Bedeutung von Staat und Nationalität in Weltwirtschaft und Weltpolitik insgesamt verändern sollte. Noch hatte Servan-Schreiber vor allem die Furcht umgetrieben, hochwertige Arbeitsplätze in der Entwicklung könnten in die Vereinigten Staaten verlegt werden. In Europa verbleibe dann nur noch die wenig anspruchsvolle Produktion. Schon wenige Jahre später wurde jedoch erstmals diskutiert, dass ganze Herstellungsprozesse aus den »Industrieländern« in »Entwicklungsländer« verlagert würden. Raymond Vernon bemerkte , Tochtergesellschaften amerikanischer Unternehmen stellten in der »Dritten Welt« sogar technologisch anspruchsvolle Produkte her, die dann auf den Märkten der »entwickelten Industrieländer« ab Zur Besteuerung Bergsten/Horst/Moran, American Multinationals (), S. ; zum Kartellrecht Rubin, Multinational Enterprise and National Sovereignty (); Vagts, The Multinational Enterprise (); zu den Exportkontrollen Craig, Trading with the Enemy Act (); Kobrin, Enforcing Export Embargoes (). Rubin, The International Firm (), S. , ; Vernon, Economic Sovereignty at Bay (), S. f. Samuel, Howard: A New Perspective on World Trade, AFL-CIO American Federationist (), S. , zit. nach Oliveiro, The United States, S. . Siehe dazu auch Hymer/Rowthorn, Multinational Corporations (), bes. S. f. Für eine Analyse dieser Entwicklung aus marxistischer Perspektive siehe Mandel, Where is America Going? (1969). Die Übernahme des US-Schreibmaschinenherstellers Underwood durch die italientische Firma Olivetti im Jahr 1959 erschien allerdings noch 10 Jahre später als ein so ungewöhnlicher Fall, dass er von mehreren Autoren prominent erwähnt wurde. Siehe etwa Benoit, Interdependence on a Small Planet (), S. ; Vernon, Future of the Multinational Enterprise (), S. .
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gesetzt würden. Dieses ab den späten er Jahren als »outsourcing« bezeichnete Vorgehen machte sich zuerst im Textil- und Stahlsektor bemerkbar und schürte schon Anfang der er Jahre Ängste vor dem Verlust amerikanischer Arbeitsplätze. Auf einer noch grundlegenderen Ebene stellte diese Beobachtung jedoch auch hochmoderne Annahmen über internationale Politik und Wirtschaft infrage. Denn seit Ende der er Jahre wurden multinationale Unternehmen immer weniger als »Instrumente« der Wirtschafts- und Außenpolitik ihres »Heimatlandes« gesehen. Ja sie schienen zunehmend weniger an ihre jeweilige »Nationalität« gebunden, sondern traten als eigenständige, ausschließlich nach ihren jeweiligen Interessen handelnde Akteure in Erscheinung und bedrohten damit nationalstaatliche Handlungsmacht und die »Souveränität« nicht nur kleiner Staaten, sondern auch der Vereinigten Staaten selbst. Daraus ergaben sich für die Forschung mehrere grundlegende Fragen: Zunächst galt es zu klären, ob multinationale Unternehmen in näherer Zukunft Staaten als zentrale Akteure bei der Steuerung der Weltwirtschaft, vielleicht sogar der Weltpolitik ablösen würden. Hier gingen die Meinungen stark auseinander. Die Positionen variierten weniger im zeitlichen Verlauf, sondern eher nach Perspektive der jeweiligen Autoren und Publikationsort ihrer Überlegungen. Skeptisch war etwa der an der Brandeis University lehrende Politikwissenschaftler und Ökonomen Kenneth Waltz geblieben. Aus der Perspektive kleinerer Staaten mochten multinationale Unternehmen ja als Bedrohung erscheinen. Im Fall der USA konnte Waltz dagegen keine Schwächung »nationalstaatlicher Souveränität« erkennen. Die meisten international tätigen Unternehmen seien nach wie vor amerikanische Unternehmen und ließen sich als »Instrumente« für deren Außenpolitik einsetzen. Stephen Hymer und Robert Rothorn gingen zwar davon aus, die internationale Flexibilität multinationaler Unternehmen habe viele traditionelle Instrumente der Politik unwirksam gemacht. Durch Zölle und andere Machtmittel könnten Staaten solchen Unternehmen allerdings nach wie vor ihre Grenzen aufzeigen. Die »Schlacht« sei noch lange nicht vorbei: »Nation-states are powerful and are not likely to die easily.« Raymond Vernon hatte sich bereits in einem Aufsatz mit dem aussagekräftigen Titel Economic Sovereignty at Bay vom traditionellen Bild eines »Weltmarktes« als Austausch zwischen national abgegrenzten Volkswirtschaften verabschiedet und es durch die Vorstellung eines zusammenhängenden weltweiten Vernon, Sovereignty at Bay (), S. . Der Kongressabgeordnete Joseph Gaydos aus Pennsylvania beklagte , qualifizierte amerikanische Arbeiter würden jetzt durch die »notleidenden Einwohner der armseligsten Slums des Fernen Ostens« ersetzt. Zit. in Barnet/Müller, Global Reach (), S. . Siehe auch Ádám, Some Implications () und Barnet, Richard J./Müller, Ronald E.: Companies Go Abroad and Jobs Go Along, NYT, . Dez. , S. . Zur Geschichte des Begriffs »outsourcing« Mair, Outsourcing. Waltz, The Myth of National Interdependence (), S. . Hymer/Rowthorn, Multinational Corporations (), S. -.
Marktes ersetzt. Auch er nutzte nun die Semantik der »Ströme des Geldes, der Güter und der Dienstleistungen«. Diese flössen vor allem zwischen den einzelnen Zweigen multinationaler Unternehmen, in denen die Unterscheidung zwischen »Inlandsgeschäft« und »Auslandsgeschäft« kaum noch eine Rolle spiele. »Standort« und Geografie insgesamt würden immer unbedeutender, Regierungen hätten immer mehr Schwierigkeiten, überhaupt noch Einfluss auf die Wirtschaft zu nehmen. Mit noch gravierenderen Auswirkungen rechnete Charles Kindleberger, wobei er neue Beobachtungen mit der traditionellen Perspektive auf das Wachstum von kleinen zu großen sozialen Einheiten vermischte: So wie die Herausbildung »nationaler Unternehmen« dazu geführt habe, dass die Staaten der USA Kompetenzen an die Bundesregierung abgegeben hätten, werde der Aufstieg multinationaler Unternehmen nationale Regierungen dazu zwingen, »Souveränität« an internationale Institutionen abzutreten. Eine als American Business Abroad publizierte Vortragsreihe schloss Kindleberger mit der provokanten These, die Zeit des Nationalstaats als »ökonomische Einheit« sei so gut wie vorbei. Auf die Spitze getrieben wurde diese These von Richard Barnet und Ronald Müller, die in Global Reach (deutsch noch eingängiger als Die Krisenmacher) argumentierten, die wichtigsten Manager »globaler Unternehmen« seien zwar weiterhin amerikanische Staatsbürger, betrachteten jedoch die ganze Welt als »eine ökonomische Einheit«. Nationale Bindungen spielten für sie damit kaum noch eine Rolle. Barnet und Müller zitierten Jacques Maisonrouge, Vizepräsidenten von IBM, mit den Worten, der technologische Fortschritt habe »die politischen Strukturen der Welt« völlig obsolet gemacht. Die wenigsten Autoren aus den Politik- oder Wirtschaftswissenschaften waren bereit, die These in vollem Ausmaß mitzutragen, die Barnet und Müller in ihrem für eine breitere Öffentlichkeit geschriebenen Buch vertreten hatten. Doch obwohl das genaue Ausmaß noch umstritten war, gingen auch die meisten Sozialwissenschaftler in der ersten Hälfte der er Jahre davon aus, dass der Bedeutungszuwachs grenzüberschreitend tätiger Unternehmen gravierende Auswirkungen auf die Handlungsautonomie oder gar die »Souveränität« von Nationalstaaten habe. Dass solche Unternehmen jetzt als eigenständige, von ihrer jeweiligen »Nationalität« weitgehend unabhängige Akteure betrachtet wurden zeigt sich schon daran, dass neben »internationalen« oder »multinationalen« jetzt auch die Bezeichnungen »transnationale« oder »globale« Unternehmen geläufig wurden. Diese neue Bezeichnung lag durchaus im Interesse dieser Firmen Vernon, Economic Sovereignty at Bay (). Ähnlich auch Vernon, Sovereignty at Bay (), S. -. Kindleberger, Introduction (), S. . Siehe dazu auch die Überlegungen zur Fortentwicklung solcher »trans-states« zu »trans-national organizations« und deren jeweiliges Verhältnis zum »Staat« bei Huntington, Transnational Organizations (), S. -, . Kindleberger, American Business Abroad (), S. . Barnet/Müller, Global Reach (), S. -.
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selbst, wurde »multinational« doch zunehmend »mit Gier und Ungleichheit« assoziiert. Die Meinungen darüber, wie diese Entwicklung zu bewerten war, gingen jedoch weit auseinander. Stephen Hymer und Robert Rowthorn betonten besonders die daraus resultierenden Gefahren: Denn Nationalstaaten erfüllten aus ihrer Sicht wichtige Funktionen bei der Umverteilung von Wohlstand und bei der Sicherung des sozialen Friedens. Für den Nationalismus, der Klassenkonflikte aufgelöst und sozialen Zusammenhalt geschaffen habe, gebe es noch keinen Ersatz auf internationaler Ebene. Sollten nationalstaatliche Regierungen zu stark geschwächt werden, drohe ein Zustand »urbaner Krisen«, in denen starke Unternehmen schwachen städtischen Verwaltungen gegenüberstünden. Am anderen Ende des Meinungsspektrums standen »Evolutionisten«, die eine Spirale aus wachsender Interdependenz und staatlichem Kontrollverlust diagnostizierten. Diese Entwicklung deuteten sie ganz im Sinne des hochmodernen Verständnisses als Folge sozialer »Evolution«, als Anpassung sozialer Organisationsformen an veränderte Rahmenbedingungen. Der Staat, der im hochmodernen Denken in seiner Form als Nationalstaat das bisherige Ergebnis oder in seiner Form als Weltstaat die Zukunft dieses evolutionären Prozesses gebildet hatte, schien nun allerdings an Bedeutung zu verlieren. »Evolutionisten« bewerteten diese Entwicklung als »Fortschritt«, waren sich jedoch nicht einig, welche soziale Organisationsform und politische Steuerungsinstanz den Staat jetzt ablösen werde. Marxisten wie der deutsch-belgische Ökonom Ernest Mandel sahen nun endlich den Zeitpunkt des von Friedrich Engels prognostizierten »Absterben[s] des Staates« gekommen. veröffentlichte Mandel einen Beitrag über International Capitalism and Supra-Nationality in dem er argumentierte, die Entwicklung der »Produktivkräfte« sei dessen Rahmen entwachsen. Diese Veränderung der materiellen »Basis« müsse zwangsläufig auch Auswirkungen auf den »Überbau« haben: »Supra-nationale Institutionen« verdrängten den Nationalstaat als »Instrumente bourgeoiser Interessen«. Keine dieser beiden Organisationsformen verdiente aus Mandels Sicht jedoch Unterstützung. Vielmehr sei die Zeit überreif für eine »geplante Wirtschaft auf der Basis kollektiven Eigentums und im Rahmen einer Sozialistischen Föderation Europas«.
Siehe u. a. Robinson, International Management, S. ff., ; Kircher, Now the Transnational Enterprise (); Morse, The Politics of Interdependence (), S. ; Burton, World Society (), S. . Zu den negativen Assoziationen Clavin, Defining Transnationalism, S. . Hymer/Rowthorn, Multinational Corporations (), S. f. Das »Absterben des Staates« u. a. bei Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: . Mandel, International Capitalism and »Supra-Nationality« (), S. , , .
Die These vom »Absterben des Nationalstaates« wurde ebenso von manchen Nichtmarxisten vertreten, die jedoch in multinationalen Unternehmen dessen besten Nachfolger sahen. George Ball, von bis Under Secretary of State unter Kennedy und Johnson, US-Delegierter auf der ersten UNCTADKonferenz und ab US-Botschafter bei der UNO, deutete den Bedeutungszuwachs solcher Unternehmen als unvermeidliche Folgen der »Modernisierung« und der mit ihr stetig ansteigenden Komplexität. Denn die Struktur des multinationalen Unternehmens sei ein »modernes Konzept«, dazu entworfen, den Anforderungen des »modernen Zeitalters« zu genügen. Der Nationalstaat sei dagegen eine »sehr altmodische Idee« und kaum dazu geeignet, die Aufgaben »unserer gegenwärtigen komplexen Welt« zu erfüllen. Hinter solchen Ideen stand die etwa von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Sidney Rolfe vertretene Großthese, der Fortschritt der Kommunikations- und Transporttechnologie mache nationale Grenzen, staatliche Strukturen, ja Zeit und Raum überhaupt obsolet. Der Aufstieg multinationaler Unternehmen sei kein historisches Thema, sondern ein Aspekt der »Evolution«. Am radikalsten vertreten wurde diese Interpretation von Frank Tannenbaum. In einem Artikel mit dem aussagekräftigen Titel Survival of the Fittest machte der Soziologe und emeritierte Professor für Lateinamerikanische Geschichte die Idee der »absoluten Souveränität« als zentrale Ursache von Kriegen aus. Internationale Kooperation oder Integration könnten dieses Konfliktpotenzial nicht einhegen. Erst wenn die Idee der »nationalen Sicherheit« bedeutungslos geworden sei, könne es Frieden geben. Dabei gab es bereits eine Alternative zum Nationalstaat ‒ die »extra-nationale Körperschaft«. Vertreter solcher Unternehmen dächten in »extra-nationalen« Kategorien, träfen ihre Entscheidungen deshalb nach streng rationalen Kriterien und »regierten« über alle Grenzen hinweg. Multinationale Unternehmen waren damit für Tannenbaum die am besten an die Bedingungen der industrialisierten und vernetzten Welt angepasste Organisationsform. Eines Tages werde sich um sie sogar eine grenzüberschreitende »funktionelle Identität« herausbilden. Der Nationalismus verliere dagegen immer stärker an Bedeutung. Nationalstaaten seien in der Defensive und von Angst geplagt. Diese Verschiebung der Machtverhältnisse war für Tannenbaum ebenso »natürlich« wie die Ablösung der feudalen mittelalterlichen Ordnung durch den Nationalstaat. Auch die Tempelritter oder die Hanse hätten schließlich für eine Weile gut funktioniert, seien dann aber wegen einer veränderten Umwelt verschwunden. Ball, The Promise of the Multinational Corporation (). Siehe auch George Ball, Remarks, Annual Dinner of the British National Committee of the International Chamber of Commerce, London, . Okt. , zit. nach Oliveiro, The United States, S. sowie Ball, Cosmocorp (). Rolfe, Updating Adam Smith (), S. f. Tannenbaum, The Survival of the Fittest (), S. f., ; ganz ähnlich Barber, Emerging New Power (), S. und auch Morgenthau, The New Diplomacy of Movement (), S. .
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Demokratische Mitbestimmung spielte für Tannenbaum dagegen keine Rolle. Nachdem er als Anführer der Industrial Workers of the World im Alter von Jahren eine einjährige Haftstrafe verbüßt hatte, weil er für Arbeiterunruhen in New York verantwortlich gemacht worden war, hatte sich Tannenbaum mittlerweile vom kapitalismuskritischen Anarchismus ab- und dem »AnarchoKapitalismus« zugewandt. Während die öffentliche Debatte von alarmistischen oder optimistischen Extrempositionen geprägt war, nahm die amerikanische sozialwissenschaftliche Forschung Anfang der er Jahre eher ausgewogene Positionen ein. Weder Tannenbaums Diagnose, Staaten hätten schon weitgehend die Kontrolle verloren, noch Waltz’ Skepsis waren hier mehrheitsfähig. Für Autoren wie Howard Perlmutter kamen zwar multinationale Unternehmen durchaus als Träger supranationaler Ordnung in Betracht. Die Selbstdarstellung solcher Firmen wollte der Professor an der Wharton School of Business in Philadelphia jedoch mit deren »tatsächlicher Multinationalität« abgleichen. Dabei unterschied er drei Kategorien: Wirklich »geozentrische« Unternehmen richteten Absatz und Kapitalbeschaffung global aus und rekrutierten ihre Mitarbeiter unabhängig von deren Nationalität weltweit. Die Manager »ethnozentrischer« Unternehmen besetzten dagegen Führungspositionen ausschließlich mit Angehörigen ihrer eigenen Nationalität, steuerten das Unternehmen aus der Zentrale und stellten nur weniger anspruchsvolle Produkte im Ausland her. »Polyzentrische« Unternehmen seien schließlich eher lockere Konföderationen weitgehend autonomer Unternehmensteile in verschiedenen Ländern mit jeweils eigenen Geschäftspraktiken. Die Befragung von Managern in den Vereinigten Staaten hatte ergeben, dass nahezu alle von ihnen der Meinung waren, ihre Unternehmen seien bereits oder sehr bald »geozentrisch«. Perlmutter wandte jedoch ein, »Multinationalität« sei ein so prestigeträchtiges Label, um Unternehmen »fortschrittlich, dynamisch und zukunftsorientiert« erscheinen zu lassen, dass Manager auf Strategien von »tokenism« und »window dressing« zurückgriffen, um ihren tatsächlichen Ethnozentrismus zu verschleiern ‒ wirklich »geozentrisch« seien dagegen nur sehr wenige Unternehmen. Der auf Ideen Ludwig von Mises zurückgehende Anarcho-Kapitalismus wurde vor allem von Murray Rothbard entwickelt und strebt die Abschaffung des Staates, nicht aber die Kollektivierung des Eigentums an. Vgl. Brown, The Free Market as Salvation. Perlmutter, The Tortuous Evolution (), S. . Siehe auch Maisonrouge, The Education of International Managers (). Samuel Huntington unterschied ähnlich, aber nach »nationaler Herkunft« der Mitarbeiter zwischen Unternehmen mit einem »dominant«, einem »dispersed« und einem »integrated nationality pattern«. Huntington, Transnational Organizations (), S. -. erweiterte Perlmutter zusammen mit David A. Heenan sein Klassifikationsschema um »regiozentrische« Unternehmen: Perlmutter/Heenan, How Multinational (). Ähnlich skeptisch Thackray, Not so Multinational After All (); Tugendhat, The Multinationals (), S. . Perlmutter, The Tortuous Evolution (), S. . Vernon, Sovereignty at Bay (), S. f. dagegen erkennt ebenfalls den »Wunsch« vieler der entsprechenden Manager,
Für die Debatte um die politischen Folgen ihrer Tätigkeit spielten solche Deutungen und Selbstbilder jedoch eine viel größere Rolle als die von Perlmutter untersuchte »tatsächliche« Multinationalität. Denn wie Raymond Vernon schon Ende der er Jahre betonte, richteten auch staatliche Regierungen ihr Handeln zunehmend nach Gegenwartsdiagnosen aus, die multinationale Unternehmen als die »dominanten Träger der Weltwirtschaft« darstellten. In einem »Amalgam aus Fakten, Furcht und Fantasie« betrachteten sie diese Firmen mit großem Unbehagen. Dieses Argument baute Vernon in einer Monografie unter dem Titel Sovereignty at Bay weiter aus: »Suddenly, it seems, the sovereign states are feeling naked«, began Vernon seine Studie und fuhr fort, Konzepte wie »nationale Souveränität« und »nationale ökonomische Stärke« wirkten mittlerweile merkwürdig sinnentleert. Aus der Economic Sovereignty at Bay des Aufsatzes von war nun allgemeiner Sovereignty at Bay geworden. Dieser Titel war so eingängig, dass Stephen Kobrin die Zeit von den späten er Jahren bis in die er Jahre Anfang des . Jahrhunderts zur »Sovereignty at Bay Era« erklärte. Vernon selbst sollte diese Wortwahl später jedoch bedauern, hatte der einprägsame Titel doch die wesentlich ausgewogenere Analyse des Buches in der Rezeption überlagert. Denn Vernon ging keineswegs davon aus, dass Staaten zum »Absterben« verurteilt seien: Im System der Nationalstaaten stecke ein hartnäckiger Überlebenswille und die Menschheit habe die Neigung, das scheinbar Unvermeidliche unendlich zu ignorieren. Die eigentliche Gefahr liege jedoch gerade in der Uneindeutigkeit dieser Übergangssituation. Denn aus Vernons Sicht konnten Staaten unter diesen Bedingungen nur verlieren: Unternähmen sie nichts gegen den wachsenden Einfluss multinationaler Firmen, schwände ihre Kontrolle über ökonomische Zusammenhänge immer weiter. Nutzten sie die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um Unternehmen in die Schranken zu weisen, schadeten sie sich und anderen Ländern wirtschaftlich. Die größte Gefahr sah Vernon deshalb darin, dass sich eines der »fortgeschrittenen Länder« durch das Gefühl schwindender Kontrolle und »zerfallender Identität« so bedroht fühlen könne, dass es in einem Anfall von Frustration blind gegen Unternehmen oder andere Länder losschlage. Autoren, die sich wie Kindleberger und Vernon in den er und er Jahren mit der Interaktion von Politik und Wirtschaft auseinandergesetzt hatten, kamen zu anderen Schlussfolgerungen als viele ihrer Kollegen in den Wirt-
»global« zu agieren, maß ihm aber eine höhere Bedeutung bei. Zu dieser Debatte auch Aitken, The Multinational Man (). Vernon, Economic Sovereignty at Bay (), S. , f. Vernon, Sovereignty at Bay (), S. . Kobrin, Sovereignty@Bay (). Vernon, Sovereignty at Bay Ten Years After (), S. . Vernon, Economic Sovereignty at Bay (), S. . Dazu Vernon, Sovereignty at Bay (), S. -, - und Kapitel .. Vernon, Economic Sovereignty at Bay (), S. f., ; Vernon, Future of the Multinational Enterprise (), S. , .
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schaftswissenschaften dieser Zeit. Anstatt den Trend der Disziplin zur Abschließung, Mathematisierung und zunehmenden Marktorientierung mitzugehen, beharrten sie auf der fortgesetzten Bedeutung von Staaten nicht nur in der internationalen Politik, sondern auch in der Wirtschaft. Hymer und Rothorn betonten beispielsweise, weltweit aktive Firmen hätten ohne staatliche Unterstützung gar nicht zu ihrer gegenwärtigen Bedeutung aufsteigen können, multinationale Unternehmen bräuchten »multinationale Staaten«. Auch in Zukunft könnten Staaten und Unternehmen nur zusammen, nicht gegeneinander gedeihen. Die hier vorgestellten Autoren empfahlen Regierungen deshalb, ihre Wirtschaftspolitiken zu koordinieren, internationale Organisationen mit der Regulierung von Kartellfragen zu beauftragen, aber auch mit Unternehmen einvernehmliche Lösungen etwa bei der Besteuerung zu finden.
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Aus der Auseinandersetzung zeitgenössischer Beobachter mit der wachsenden Bedeutung multinationaler Unternehmen lässt sich in den späten er Jahren ein Umbruch im Verständnis globaler Verflechtung insgesamt ablesen. Interdependenz war seit dem . Jahrhundert primär als Verflechtung nationaler Gesellschaften und Volkswirtschaften gedacht worden. »Spezialisierung« und »Arbeitsteilung« trieben nach dem hochmodernen Verständnis den Prozess sozialer »Evolution« immer weiter voran. Die Nationalstaaten der Gegenwart würden in größeren Organisationsformen, schließlich in einem Weltstaat aufgehen. Multinationale Unternehmen ließen sich nun zwar einerseits noch in die These vom »gesetzmäßigen« Wachstum sozialer Einheiten einpassen, lagen aber quer zu national abgesteckten Volkswirtschaften und forderten damit nicht nur die hochmoderne Weltsicht, sondern auch ganz konkret die Steuerungsfähigkeit von Nationalstaaten heraus. In der Auseinandersetzung mit ihnen wurde das Bild eines »Weltmarktes«, der aus einer Vielzahl einzelner, überwiegend national definierter Märkte zusammengesetzt war, zunehmend von der These eines einzigen, weitgehend integrierten »globalen Marktes« verdrängt, der das Betätigungsfeld solcher Unternehmen bilde. Kategorien wie die »natio Hymer/Rowthorn, Multinational Corporations (), S. . Siehe etwa Kindleberger, American Business Abroad (), S. ; Vernon, Future of the Multinational Enterprise (), S. ; Goldberg/Kindleberger, Toward a GATT for Investment (). Orientierung bot für den Historiker H. S. Lyons das späte . Jahrhundert: Zu dieser Zeit hätten Staaten schon einmal durch internationale Kooperation auf die zunehmende Internationalisierung der Wirtschaft reagiert. Lyons, Internationalism in Europe (), S. . Jack Behrman argumentierte , die »Essenz« multinationaler Unternehmen sei der Versuch, »die verschiedenen nationalen Märkte so zu behandeln als wären sie ein einziger Markt«. Er schränkte aber ein, dass dies nur in dem Ausmaß möglich sei, in dem es Regierungen zuließen. Behrman, Patterns (), S. . Dass sich dieses Denken un-
nale Handelsbilanz« blieben zwar weiterhin präsent, wurden aber in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zunehmend als anachronistisch erachtet und von der Metaphorik der »Ströme« überlagert. Neben seiner Verwendung im Kontext von Umweltfragen wurde das Adjektiv »global« nun vor allem zur Beschreibung der Organisation, Tätigkeit und Denkweise von grenzüberschreitend tätigen Unternehmen und ihrer Manager genutzt. Die Rede war nun von der »globale Strategie« der »geozentrischen« Manager, die eine »globale Reichweite« ihrer Aktivitäten sicherstellen wollten. Entsprechende Unternehmen selbst wurden ab Mitte der er Jahre zunehmend als »global corporations« bezeichnet. Auch der Begriff der »Globalisierung« veränderte nun seine Bedeutung: Hatte er sich bislang auf die weltweite Dimension von Außenpolitik im Rahmen des »Kalten Krieges« bezogen, wurde er erstmals im Sinne der Ausweitung von Unternehmensaktivitäten gebraucht. Die neuen, global organisierten und agierenden Unternehmen waren deshalb für manche Zeitgenossen mit ihren Vorgängern etwa im . Jahrhundert nicht mehr zu vergleichen. Auch die Herausforderung der Handlungsmacht des »souveränen Nationalstaates« erschien vielen Zeitgenossen als völlig neuartig. Doch auch diese Deutung wurde dadurch verzerrt, dass die unmittelbare Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg den historischen Referenzpunkt für die Bewertung der Gegenwart bildete. Autoren, die sich mit multinationalen Unternehmen beschäftigten, verglichen die Situation ihrer Gegenwart häufiger mit der globalen Verflechtung vor dem Ersten Weltkrieg als Beiträge zur allgemeinen Interdependenz-Debatte. Auch sie blickten jedoch vor allem auf die er Jahre: Aufmerksamen Beobachtern war nicht entgangen, dass sich Staaten im nordatlantischen Raum seit dem New Deal, der Kriegswirtschaft und dem weiteren Ausbau des Sozialstaats nach dem Ende des Krieges zunehmend daran gewöhnt hatten, in soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge planend und steuernd einzugreifen. In den er Jahren waren Handelsvolumen und insbesondere Kapitalflüsse zwischen Nordamerika und Westeuropa zugleich so gering wie seit dem späten . Jahrhundert nicht mehr. Die Bedingungen für eine nationalstaatliche Steuerung der Wirtschaft waren damit noch nie günstiger, nationale Vorstellungen ökonomischer Zusammenhänge noch nie evidenter gewesen als in den er Jahren. In dieser spezifischen Situation wurde eine neue »Normalität« konstruiert, die mit neuen Erwartungen an staatliche Leistungen und neuen Annahmen über staatlichen Einfluss ter anderem schon bei Arndt, Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft () beobachten lässt, war wohl keinem der Autoren der er Jahre bewusst. Etwa in Barnet/Müller, Global Reach () und zunehmend in den er Jahren wie bei Porter, Competition in Global Industries (). Golden, Soma: Grappling with Multinational Corporations, NYT, . Dez. , S. . Von Graf/Priemel, Zeitgeschichte, S. wird dieser Artikel zum Erstbeleg des Globalisierungs-Begriffes überhaupt erklärt. Siehe dagegen die Belege in Bach, Die Erfindung der Globalisierung. Siehe Torp, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg?, S. , .
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einherging. Ab den er Jahren führten vermeintlich »neue« Akteure wie multinationale Unternehmen dazu, dass die Gegenwart diesen Erwartungen nicht mehr entsprach. Bei der nun diagnostizierten Abweichung von dieser vermeintlichen »Normalität«, die als Krise »nationaler Souveränität« beschrieben wurde, handelte es sich somit in erster Linie um eine Krise der gestiegenen Erwartungen und Ansprüche, die nun nicht mehr in vollem Maße umsetzbar schienen und es wohl auch niemals gewesen waren.
. »Transnationale Politik« und die Transformation der Theorie der internationalen Beziehungen Die Debatte um die gestiegene Bedeutung multinationaler Unternehmen und ihre politischen Folgen war jedoch nur ein Aspekt einer viel umfassenderen Transformation des Blicks auf Weltwirtschaft und Weltpolitik. Zur Diagnose einer »Krise des souveränen Nationalstaats«, zum Aufbrechen der etablierten hochmodernen Sicht auf Interdependenz und zur Hinterfragung zentraler Grundannahmen der Theorie der internationalen Beziehungen trugen noch andere Akteure bei, denen ab den späten er Jahren in den Sozialwissenschaften eine neue Bedeutung zugeschrieben wurde. Auch diese waren auf einer Vielzahl von Themenfeldern grenzüberschreitend aktiv, dabei jedoch keine Repräsentanten staatlicher Institutionen und häufig nicht einmal entlang der Grenzen von »Nationalgesellschaften« organisiert. Ende der er Jahre bürgerte sich für solche Zusammenhänge der Begriff der »transnationalen« Akteure ein, die im Rahmen einer »Weltgesellschaft« miteinander interagierten. Für viele zeitgenössische Beobachter schienen »private« Gruppen Staaten nun zunehmend ebenbürtig zu sein, diese vielleicht sogar zu verdrängen und damit die »internationalen« Beziehungen zu »transnationalen« Beziehungen zu machen. Damit wirkte das hochmoderne Verständnis von Interdependenz als Verflechtung von national abgesteckten und von Regierungen repräsentierten »Gesellschaften« oder »Volkswirtschaften« zunehmend anachronistisch.
Entsprechende Überlegungen bei Cooper, The Economics of Interdependence (), S. -; Rubin, The International Firm (), S. . Ähnlich auch Waltz, The Myth of National Interdependence (), S. , der daraus eine grundlegende Kritik an der Interdependenz-These ableitete. So auch Vernon, Economic Sovereignty at Bay (), S. und Vernon, Future of the Multinational Enterprise (), S. f.
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»Nichtstaatliche Akteure« und »transnationale Gesellschaft« Nichtstaatliche Akteure, die über Grenzen hinweg interagierten, gab es natürlich schon viel länger als Nationalstaaten. Auch mit deren Formierung im . Jahrhundert waren anders gelagerte Akteure nicht verschwunden, jedoch zunehmend aus der analytischen Beobachtung der Weltpolitik verdrängt und in der Untersuchung der Weltwirtschaft staatlichem Handeln untergeordnet worden. Methodischer Nationalismus und Etatismus führten dazu, dass Untersuchungen zu »Innenpolitik« an staatlichen Grenzen endeten, Untersuchungen zur »Außenpolitik« oder den »internationalen« Beziehungen von staatlichen Regierungen als alleinigen und nach innen homogenen Akteuren der internationalen Politik ausgingen. Allerdings hatten sozialwissenschaftliche Beobachter des Weltgeschehens seit Ende des . Jahrhunderts immer wieder betont, dass es neben Staaten auch noch andere Akteure in der internationalen Politik gebe. Auch der Begriff »transnational« war Ende der er Jahre bereits über hundert Jahre alt, allerdings nicht sehr häufig und nie systematisch verwendet worden. Lange wurde die Ersterwähnung Randolph Bourne zugeschrieben, der in weltbürgerlicher Absicht und in Abgrenzung von der »Melting Pot-These« die Vereinigten Staaten als »Trans-Nationalität aller Nationen« gefeiert hatte. Vermutlich war der Begriff jedoch erstmals vom Leipziger Linguisten Georg Curtius verwendet worden, um die Ausdehnung von Sprachen jenseits nationaler Grenzen zu beschreiben. In der amerikanischen Soziologie hatte Albion Small bereits die Möglichkeit »transnationaler« Vergesellschaftungsformen in Erwägung gezogen. Die Untersuchung entsprechender Prozesse innerhalb eines einzelnen Staates sei jedoch übersichtlicher, schneller zu bewerkstelligen und solle deshalb beispielhaft für das Ganze stehen. Aus diesen verstreuten Beobachtungen und Begriffsverwendungen bildete sich jedoch noch keine zusammenhängende Debatte heraus. Frühe Versuche, die Bedeutung nichtstaatlicher Akteure für die Weltpolitik eingehender zu untersuchen und neue Begriffe dafür zu entwickeln, erhielten jeweils nur wenig Ob die Bezeichnung »transnational« in den Epochen vor der Entstehung des Nationalstaates verwendet werden sollte, bleibt umstritten. Patel, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, S. hält »transnationale Geschichte« erst ab dem . Jahrhundert für sinnvoll. Vorher sei »Transkulturalität« der bessere Begriff. Für ein epochal breiteres Verständnis spricht sich dagegen Krieger, »Transnationalität« in vornationaler Zeit? aus. Bourne, Trans-National America (), S. . »Eine jede Sprache ist ihrer Grundlage nach etwas transnationales und eben deshalb von dem Standpunkte des Philologen allein nicht völlig zu begreifendes«. Curtius, Philologie und Sprachwissenschaft (), S. . Zur Begriffsgeschichte vgl. Saunier, Learning by Doing; Saunier, Transnational. Patel, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, S. - lässt die Geschichte des Begriffes mit Bourne beginnen. Small, The Scope of Sociology (), S. .
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Aufmerksamkeit und gerieten bald wieder in Vergessenheit. Mehrfach gingen Beobachter zwischen den er und er Jahren deshalb davon aus, es nun erstmals mit diesem Phänomen zu tun zu haben: Der ehemalige griechische Außenminister Nicolas Politis hatte zum Beispiel argumentiert, gegenwärtig seien die Beziehungen zwischen den Völkern noch »international«, weil sie vor allem durch die Vermittlung von Staaten zustande kämen. Dieser »eiserne Käfig« des »souveränen Staates« werde jedoch zunehmend von Beziehungen aufgebrochen, die direkt zwischen den Bürgern der verschiedenen Länder geknüpft würden. Eugene Staley schlug vor, solche »grenzüberschreitenden sozialen und ökonomischen« Beziehungen und Gruppierungen unter dem neuen Begriff »mondial« zu fassen. Bis Anfang der er Jahre wurde das Adjektiv »transnational« sporadisch und nicht selten synonym mit »international« verwendet, in erster Linie, um die Intensivierung grenzüberschreitender ökonomischer Beziehungen oder Kooperation im Rahmen der UNO begrifflich zu fassen. Auch die beiden »Blöcke« des Kalten Krieges wurden als »transnationale Gruppen« beschrieben. Insgesamt dominierte gerade in den er Jahren jedoch das analytische Paradigma des »souveränen Nationalstaats«. In dem Maße, in dem nach dem Weltkrieg weltwirtschaftliche Verbindungen und andere grenzüberschreitende Verflechtungen wieder zunahmen, wuchs jedoch auch die Anzahl von Arbeiten, die sich mit jetzt als »internationale NichtRegierungsorganisationen« bezeichneten Gruppen befassten oder die Staatenfixiertheit der internationalen Theorie infrage stellten. Selbst einige der mit dem Realismus verbundenen Autoren hatten durchaus eingeräumt, auch nichtstaatlichen Akteuren komme bei der Untersuchung der internationalen Beziehungen eine gewisse Bedeutung zu. Im Jahr empfahl Philip Jessup, Juraprofessor an der Columbia University, ein »transnationales Recht« für »transnationale Situationen« zu schaffen, das heißt für Grenzüberschreitungen, die den Kategorien des nationalen oder des zwischenstaatlichen Völkerrechts nicht zugeordnet werden konnten. Politis, The New Aspects of International Law (), S. f. Staley, War and the Private Investor (), siehe auch Kapitel .. Siehe u. a. Angell, The Fruits of Victory (); Cromwell White, The Structure of Private International Organizations (); Schwartzenberger, Power Politics (), S. ; Huxley, On Living in a Revolution (), S. ; Hutchins, Preliminary Draft of a World Constitution (); Mander, Foundations of Modern World Society (), S. vi; Cromwell White/Ragonetti Zocca, International Non-Governmental Organizations () sowie die bei Saunier, Transnational genannten Beispiele. Cromwell White/Ragonetti Zocca, International Non-Governmental Organizations (); Corbett, Law and Society (). Siehe Wolfers, The Pole of Power (); die Beiträge von Paul Nitze und Arnold Wolfers in Fox, Theoretical Aspects of International Relations () und Kapitel .. Die Zunahme entsprechender Situationen führte Jessup auf die Konkurrenz der Supermächte zurück, die beide versuchten, solche Netzwerke juristisch und politisch zu besetzen. Jessup, Transnational Law (). Vgl. dazu Schachter, Philip Jessup’s Life and Ideas; Tietje (Hg.), Philip C. Jessup’s Transnational Law Revisited.
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Während er in der Zwischenkriegszeit auch zur Beschreibung der Kooperation zwischen faschistischen Staaten genutzt worden war, wurde der Begriff »transnational« jetzt fast ausschließlich positiv verstanden: Der Physiker Robert Oppenheimer sprach von »trans-nationalen Gemeinschaften«, die sich für den Weltfrieden einsetzten, George Liska beschrieb die Europäischen Gemeinschaften als »transnationale Union«, ohne diesen Begriff jedoch näher auszuführen. Große Bedeutung für die weitere Forschung hatte vor allem das Konzept der »transnationalen Gesellschaft«. Der französische Philosoph und Soziologe Raymond Aron beschrieb sie als Folge friedlicher Interaktionen im Rahmen von »Handelsbeziehungen, Freizügigkeit von Einzelpersonen, gemeinsamen Glaubensrichtungen, Organisationen, die über die Grenzen hinwegreichen, und schließlich Zeremonien oder Wettkämpfen«. Dieses normative Verständnis bedeutete jedoch auch, dass »transnationale« Organisationen und Kontakte für Aron in der ›großen‹ Politik nur eine unbedeutende Rolle spielten.
Die »Weltgesellschaft« und die Schwächung des hochmodernen Denkens In einem vergleichbaren Sinne wie das Konzept einer normativ verstandenen »transnationalen Gesellschaft« wurde auch der Begriff der »Weltgesellschaft« gebraucht. Auch er ist Indikator eines Übergangs von etablierten Deutungen wachsender Interdependenz hin zu einem neuen Verständnis, in dem interagierende und verflochtene Einheiten nicht mehr ausschließlich national abgesteckt waren. Auch die Begriffe world society oder world community waren bereits seit dem . Jahrhundert immer wieder verwendet worden und wurden besonders im Rahmen der »Eine Welt«-Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg zur Beschreibung der gegenwärtigen oder anzustrebenden Weltordnung eingesetzt. Ab Ende der er Jahre wurde der Begriff der »Weltgesellschaft« jedoch auch in den Sozialwissenschaften vermehrt im Kontext von Bemühungen verwendet, »Gesellschaft« oder »Gemeinschaft« nicht mehr national, sondern auf weltweiter Ebene zu denken. Dieser Deutungswandel war eng verbunden mit der Beobachtung »nichtstaatlicher Akteure«, die über Grenzen hinweg interagierten. So beschrieb Trygve Mathisen die »Weltgesellschaft« als »sozialen Körper«, der sich rasant verändere und im Gegensatz zur »internationalen Gesellschaft« nicht nur Staaten, sondern auch nichtstaatliche Akteure und sogar Individuen umfasse. Der norwegische Politikwissenschaftler schlug deshalb vor, sich für eine neue »Weltsoziologie« an den Erkenntnissen anderer Fächer wie der Geografie, Zit. bei Saunier, Transnational History, S. ; Liska, Nations in Alliance (), S. . Das »closer transnational alignment« der faschistischen Staaten bei Löwenstein, Militant Democracy (), S. . Aron, Frieden und Krieg (), S. -, das Zitat S. , dort jedoch etwas unglücklich als »übernationale Gesellschaft« übersetzt. Siehe etwa Wirth, World Community, World Society ().
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Anthropologie und Soziologie zu orientieren, die auch Veränderungen in der natürlichen Umwelt, kulturelle Prägungen und Religionen berücksichtigten. In der Disziplin der Internationalen Beziehungen wurde Mathiesens Vorschlag nicht unmittelbar aufgegriffen. Er stand aber am Beginn einer ganzen Reihe von Versuchen in anderen Sozialwissenschaften, »Weltgesellschaft« und vergleichbare Begriffe in die Gegenwartsdiagnostik einzuführen. Der kanadische Medien- und Kommunikationsphilosoph Marshall McLuhan hatte beispielsweise schon zu Beginn der er Jahre den Begriff des »globalen Dorfes« geprägt. Grundlage war besonders die in seinem Buch The Gutenberg Galaxy () vertretene ‒ und im Grunde nicht neue ‒ These, Kommunikationstechnologien hätten einen profunden Einfluss auf die Wahrnehmung der Welt und damit auch auf soziale Organisation. So wie der Buchdruck in der Vergangenheit, habe jetzt der Aufstieg elektronischer Medien zu neuen Formen der wechselseitigen Abhängigkeit geführt. McLuhan nutzte hier wie andere Beobachter vor ihm die biologistische Metapher von der Welt als »Nervensystem«, um zu argumentieren, dass Raum und Zeit letztlich zu bedeutungslosen Kategorien würden. Denn die Menschheit sei dabei, eine kollektive Identität zu entwickeln und zu einem »globalen Dorf« zu werden. beschrieb der ehemalige australische Außenminister John Burton in seinem Buch World Society eine Welt, die aus einer Vielzahl miteinander verflochtener Netzwerke bestand. Die wachsende Unzufriedenheit der Sozialwissenschaften mit ihrem an Nationalstaaten und Nationalgesellschaften ausgerichteten Theorie- und Begriffsarsenal zeigt sich jedoch besonders deutlich an Niklas Luhmanns vielzitiertem Aufsatz Die Weltgesellschaft von . Der deutsche Soziologe argumentierte vor dem Hintergrund von Entspannungspolitik und Konvergenz-These, dass die universale Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Herausbildung eines weltweiten Kommunikationsnetzes und nicht zuletzt die wachsende wirtschaftliche Verflechtung zu einer globalen »Angleichung des Erwartungshorizontes« geführt hätten. Dadurch sei eine »auf Weltfrieden beruhende durchgehende Verkehrszivilisation« entstanden, in der sich »ein urban erzogener Mensch gleich welcher Provenienz« zurechtfinden könne. Die politische Konsolidierung dieser »Weltgesellschaft« könne sich anders als die der Nationalgesellschaft jedoch nicht mehr auf eine einheitliche Moral oder Rechtsbildung auf der Basis von »regional konsolidierten politischen Mechanismen«, sprich Nationalstaaten stützen. Weder ein »Weltstaat« noch das »klassische Modell des völkerrechtlich geregelten internationalen Systems« seien deshalb die richtige Antwort. Konkretere Alternativen als die Forderung nach einer »gesamtgesellschaftliche[n] Verwirk »Our field of operation is […] all human behavior which originates on one side of a state border and affects human behavior on the other side of that border«. So Mathiesen, Methodology (), S. . McLuhan, Understanding Media (), S. , . Siehe auch McLuhan, The Gutenberg Galaxy (), S. , , , . Burton, World Society (). Zur Geschichte des Netzwerk-Denkens Friedrich, Vernetzung.
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lichung der Voraussetzungen der Institutionalisierung kognitiven Lernens« hatte Luhmann jedoch nicht anzubieten. Konkreter und umso grundlegender waren dagegen die Schlussfolgerungen, die der Soziologe für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung zog. Denn es könne sein, dass die neu entstandene »Weltgesellschaft« bisher nicht erkannt worden sei, weil sie unter »falschen Kategorien, etwa unter der Idee des Weltreichs« erwartet wurde. Mitte der er Jahre hatte bereits der amerikanische Soziologe Robert Nisbet begonnen, die Theorie Émile Durkheims zu historisieren und im Zuge dessen auch das Entwicklungsdenken der Soziologie und die Kategorie des »Fortschritts« infrage zu stellen. Luhmann arbeitete nun einige Jahre später das im . Jahrhundert grundgelegte hochmoderne Verständnis sozialer Entwicklung und globaler Verflechtung explizit heraus und öffnete es damit für eine kritische Auseinandersetzung: Luhmann argumentierte, noch immer arbeite die soziologische Theorie mit der Annahme einer Vielzahl menschlicher »Gesellschaften«. Diese würden jeweils als Einheiten interpretiert, die ihrerseits aus Teilen bestehen, die sich immer mehr ausdifferenzieren. Der Soziologe kritisierte besonders die von Spencer stammende Idee einer »Evolution menschlicher Gesellschaft«, die seit Durkheim als »funktionale Differenzierung« bezeichnet werde. Die »zunehmende Differenzierung und korrespondierende Integration« erfordere nach diesem Verständnis »wegen der Verschiedenartigkeit funktional spezialisierter Teilsysteme« immer größere soziale Einheiten. Aus dieser theoretischen Lage ergaben sich für Luhmann nun zwei mögliche Pfade für die Gesellschaftstheorie: Entweder sie bleibe auf einzelne Nationalgesellschaften beschränkt und könne »Gesellschaft« wie Talcott Parsons maximal als Teilsystem eines alle Menschen umfassenden Globalsystems betrachten. Oder sie bemühe sich, das theoretische Arsenal auf »das System der Weltgesellschaft« zu erweitern. Dafür müsse sich die Soziologie jedoch von den »überlieferten Denkmitteln« und dem begrifflichen Instrumentarium der »alteuropäischen Tradition« befreien. Denn die Weltgesellschaft sei »ein evolutionär völlig neuartiges Phänomen«, das nur mit einer völlig neuen Theorie der »Gesellschaft« untersucht werden könne. Wie eine solche neu aufgestellte Untersuchung der »Weltgesellschaft« genau aussehen sollte, ließ Luhmann abgesehen von dem Hinweis, dass es um »Welt Luhmann, Die Weltgesellschaft (/), S. f., f., f., , Hervorhebung verändert. Unter anderem Nisbet (Hg.), Emile Durkheim (); Nisbet, The Sociological Tradition (); Nisbet, Social Change and History (); Nisbet, The Sociology of Emile Durkheim (); Nisbet, Sociology as an Art Form (); Nisbet, History of the Idea of Progress (). Siehe zuvor bereits die Einführung von Rodney Needham zu Durkheim/Mauss, Primitive Classification (/). Etwa in Parsons, Systems Analysis (), S. f. Als weitere Beispiele nennt Luhmann hier u. a. Moore, Global Sociology () und Spiro, World Politics: The Global System (). Luhmann, Die Weltgesellschaft (/), S. , f., f.
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vorstellungen und Weltbegriffe« gehen müsse, offen. Seine Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen steht jedoch paradigmatisch für das gestiegene Welt-Bewusstsein der er und er Jahre und zugleich für eine Umbruchphase im Verständnis von Interdependenz. Denn einerseits markiert Luhmanns These von der »Weltgesellschaft« die beginnende Abkehr der Soziologie von der Vorstellung von »Gesellschaft« als national abgestecker sozialer Ordnung. Seit dem . Jahrhundert waren Beobachter davon ausgegangen, dass sich »Gesellschaften« zunächst intern immer weiter ausdifferenzierten und integrierten, um anschließend im Prozess der sozialen »Evolution« zu einem Teil einer ihrerseits immer stärker ausdifferenzierten und integrierten »Weltgesellschaft« zu werden. Luhmann dagegen dachte »Welt« nicht mehr, wie noch Parsons, als Nebeneinander von »Nationalgesellschaften«, sondern brach solche Vorstellungen erstmals für eine kritische Reflexion auf. Andererseits konnte sich Luhmann jedoch nicht vollständig von den Ideen lösen, die er selbst kritisiert hatte. Denn die Theorien des . Jahrhunderts waren für ihn aus der Beobachtung der »Umstrukturierung menschlicher Gesellschaften von segmentärer auf funktionale Differenzierung« hervorgegangen, die Luhmann weiterhin für einen »faktisch-historischen Vorgang« hielt. Die Sicht, dass solche »Ausdifferenzierung« innerhalb national abgesteckter Gesellschaften »gesetzmäßig« zu Interdependenz führe, hatte Luhmann verworfen. Die »Weltgesellschaft« hielt Luhmann dagegen für das Ergebnis »evolutionärer Prozesse« ‒ die These des . Jahrhunderts vom »gesetzmäßigen« Wachstum vom Kleinen zum Großen war bei ihm weiter wirkmächtig.
Political Science in a Shrinking World ‒ das Ende von innen und außen Bereits drei Jahre vor Luhmann hatte der amerikanische Sozialpsychologe und Friedensforscher Herbert C. Kelman ebenfalls von der Herausbildung einer »globalen Gesellschaft« gesprochen, sich dabei aber noch konsequenter als der deutsche Soziologe vom etablierten Verständnis menschlicher Entwicklung zu immer größeren, territorial abgrenzbaren Einheiten verabschiedet. Er vertrat eine netzwerkbasierte Sicht, die von einer ganzen Reihe »transnationaler, globaler Gesellschaften« ausging, die jeweils spezifische »Funktionen« ausführten. Diese neuen Formen von Gesellschaft seien nicht territorial abgesteckt und bildeten sich neben nationalen Gesellschaften heraus. Loyalitäten zu diesen beiden Formen sozialer Ordnung schlössen sich jedoch nicht wechselseitig aus, sondern könnten sich ebenso vermischen wie neue Formen der Politik. Kelmans These Ebd., S. , f., Hervorhebung im Original. In den er Jahren formulierte Luhmann noch expliziter, die Grundannahme, »ohne die es keine Weltgesellschaft und keine Globalisierungen« geben könne, sei, dass »alle Funktionssysteme zur Globalisierung tendieren«. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (), S. . H. C. Kelman: Unpublished paper, zit. nach Burton, World Society (), S. und Kelman, Education for the Concept of a Global Society ().
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zeugt damit nicht nur von einer neuen Bedeutung »transnationaler« Verbindungen und Organisationen und von der wachsenden Unzufriedenheit der Sozialwissenschaften mit dem Analyserahmen einer national definierten »Gesellschaft«, sondern auch von einem neuen Blick, der Ende der er Jahre auf das Verhältnis von »Innenpolitik« und »Außenpolitik« geworfen wurde. Autoren in den er Jahren untersuchten zunächst das Verhältnis dieser beiden Bereiche, um bald darauf deren Unterscheidung entlang der Trennlinie der »nationalen Souveränität« selbst zu hinterfragen. Nachdem die Annahme einer strikten Trennung von »innen« und »außen« an Evidenz verloren hatte, ließ sich auch das hochmoderne Verständnis von Interdependenz als Verflechtung territorial und national eindeutig abgesteckter Einheiten nicht länger halten. Schon seit dem späten . Jahrhundert hatten verschiedene Autoren immer wieder betont, dass nicht nur Regierungen, sondern auch Akteure aus der »Gesellschaft« die Außenpolitik ihrer jeweiligen Staaten beeinflussten. In den er Jahren galt der wachsende Einfluss von Medien und öffentlicher Meinung als Bestandteil des Prozesses der »Modernisierung«. Umgekehrt hatte beispielsweise Ralph Barton Perry vor dem Hintergrund der Debatte um die »Eine Welt« schon den Einfluss weltumspannender Probleme auf innerstaatliche Entwicklungen betont. Die Trennung von Außenpolitik und Innenpolitik sei deshalb irreführend und müsse berichtigt werden. Ab der Mitte der er Jahre lässt sich dann eine transnationale und fächerübergreifende Debatte über die Interaktion von Außen- und Innenpolitik beobachten. In der deutschsprachigen Literatur forderten Wissenschaftler wie Carl Friedrich von Weizsäcker, zur Regulierung der »Weltgesellschaft« eine »Weltinnenpolitik« zu entwickeln. Während es sich hier um einen normativen Strang globalen Denkens handelte, der besonders die moralische Verantwortung der Industriestaaten für die »Entwicklung« der »Dritten Welt« betonte, wurde die Forderung, den »Primat der Außenpolitik« durch einen »Primat der Innenpolitik« zu ersetzen, eher aus gesellschaftspolitisch-ideologischen Gründen vorgetragen. In der amerikanischen Geschichtswissenschaft erklärten die sogenannten »Revisionisten« um William A. Williams seit den späten er Jahren das außenpolitische Ver Etwa in Encyclopaedia Britannica, . Aufl., Cambridge , Band , s. v. Diplomacy (W. Alison Philips), S. -. Siehe u. a. Almond, The American People and Foreign Policy (); Key, Politics, Parties and Pressure Groups (); Eschenburg, Herrschaft der Verbände? (). Weitere Literatur bei Deutsch/Eckstein, National Industrialization (). Vgl. dazu Cohen, International Political Economy, S. -. Perry, Wie wird die Welt (), S. , und ähnlich S. . In diesem Sinne auch Mander, Foundations of Modern World Society (), S. . Ab der zweiten Hälfte der er Jahre wurde der Einfluss internationaler Entwicklungen auf innenpolitische Zusammenhänge näher untersucht. Siehe u. a. Gourevitch, The Second Image Reversed (). U. a. Weizsäcker, Bedingungen des Friedens (); Wischnewski, Nord-Süd-Konflikt (). Vgl. dazu Bartosch, Weltinnenpolitik; Bach, Die Erfindung der Globalisierung, S. ; Seefried, Zukünfte, S. -, -.
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halten der USA im frühen Kalten Krieg primär durch ökonomische Interessen gesellschaftlicher Akteure. In der Bundesrepublik forderten Vertreter einer neuen »Gesellschaftsgeschichte« um Hans-Ulrich Wehler unter dem Schlagwort des »Primats der Innenpolitik« die Hegemonie der traditionellen Außenpolitikgeschichte heraus, blieben dabei aber weiterhin dem analytischen Rahmen des Nationalstaats verhaftet. In der Politikwissenschaft hatte Anfang der er Jahre ebenfalls eine Debatte über das Verhältnis von Außenpolitik und Innenpolitik eingesetzt, die hier jedoch grundlegende Annahmen des Faches zunehmend fragwürdig erscheinen ließ. Denn allen voran der an der Rutgers University tätige Politikwissenschaftler James Rosenau begann nun, die analytischen Kategorien von »innen« und »außen« und die vermeintliche Scheidelinie der »nationalen Souveränität« grundlegend infrage zu stellen. In einem von ihm herausgegebenen Sammelband wollte Rosenau zunächst noch dem Einfluss innenpolitischer Strukturen und öffentlicher Meinung auf die amerikanische Außenpolitikgestaltung nachspüren. Umgekehrt hatte Rosenau in seiner Einleitung jedoch auch festgestellt, es sei bereits eine »Binsenweisheit, dass die Nationen immer interdependenter« würden und dass deren »inneres Leben« deshalb nie frei vom »Eindringen externer Faktoren« sei. Schon deshalb waren ihm erste grundlegende Zweifel an der Unterscheidung von Innenpolitik und Außenpolitik gekommen, an der er aus Gründen der analytischen Klarheit für den Moment jedoch noch festhalten wollte. Zwei Jahre später kritisierte Rosenau jedoch Vertreter der Vergleichenden Politikwissenschaft wie Gabriel Almond oder Lucian Pye noch direkter dafür, die »internationale Umwelt« der von ihnen untersuchten nationalen »politischen Systeme« weitgehend ignoriert zu haben. Political Science in a Shrinking World müsse dagegen aus diesem »konzeptionellen Gefängnis« ausbrechen und statt Außenpolitik oder Innenpolitik Phänomene an deren Schnittstelle untersuchen. Rosenau schlug deshalb eine linkage theory vor, die Interaktionen, aber auch Wahrnehmungen von »Verflechtungseliten« in den Blick nehmen und die konventionelle Sicht auf Staaten als klar voneinander abgegrenzte Akteure der internationalen Politik (Abbildung , figure .) durch eine Verflechtungs-Perspektive ersetzen sollte (Abbildung , figure . und .). Der Abschied von etablierten Sichtweisen falle jedoch sehr schwer. Für Rosenau war deshalb »ein Einstein« Vgl. dazu Levin, Cold War University. Siehe u. a. Wehler (Hg.), Eckart Kehr: Der Primat der Innenpolitik (); Wehler, Moderne Politikgeschichte (), S. . Zu dieser Debatte Conze, »Moderne Politikgeschichte«. Siehe Hoffmann, Contemporary Theory (), S. -; Krippendorff, Ist Außenpolitik Außenpolitik? (); Czempiel, Der Primat der auswärtigen Politik () und Rosenau, Pre-Theories and Theories (). Rosenau, Foreign Policy in an Issue Area (), S. , . Ähnlich auch Friedrich, International Politics and Foreign Policy (), S. . Rosenau, Political Science in a Shrinking World (), S. .
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Abbildung : Rosenaus Visualisierung der bisherigen Sicht auf die internationale Politik (figure .) und Vorschläge für eine neue Perspektive der »linkage« (figure . und .).
vonnöten, der die »eigentliche«, von nationalen Grenzen verdeckte Ordnung der internationalen Politik erkennen, konzeptionelle Schranken durchbrechen und damit einen Paradigmenwechsel in der Politikwissenschaft einleiten könne.
Die »multinationale Verfilzung des Herrschaftsprozesses« – »transnationale Politik« bei Karl Kaiser Ein solcher »Einstein« wollte der in Bonn und Saarbrücken lehrende Politikwissenschaftler Karl Kaiser sicherlich nicht sein. Sein im Jahr veröffentlichtes Konzept der »transnationalen Politik« hatte jedoch einen großen Einfluss auf die weitere Beschäftigung mit Verflechtungsphänomenen und die theoretische Entwicklung der Internationalen Beziehungen. Denn es erfasste auch direkte Interaktionen zwischen Akteuren aus »Gesellschaften verschiedener nationalstaatlicher Systeme« und stellte einen präzisen Begriff zur Verfügung, der neben oder an die Stelle der »internationalen« Beziehungen als Interaktion von Nationalstaaten gesetzt werden konnte. Kaiser ging von der Beobachtung aus, dass es wohl schon immer grenzüberschreitende Kontakte zwischen staatlichen und auch nichtstaatlichen Akteuren gegeben habe. In den letzten Jahren habe der Fortschritt der Transport- und Ebd., S. . Diese Theorie wird in Rosenau, Toward the Study (), detaillierter ausgeführt.
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Kommunikationstechnologie solche Interaktionen jedoch enorm anwachsen lassen. Vorarbeiten wie die These vom Übergang von der »industriellen« zur »postindustriellen« Gesellschaft (Daniel Bell), Brzezinskis Konzept der »technetronischen Gesellschaft« und die Arbeiten Raymond Vernons zum Aufstieg multinationaler Konzerne hätten zudem Zweifel am begrifflichen und methodischen Instrumentarium der Politikwissenschaft geschürt. Diese Arbeiten griff Kaiser nun auf, um sie zu einer neuen Perspektive auf die internationale Politik zu bündeln. Denn bislang habe die Politikwissenschaft so getan, als ob es tatsächlich eine »internationale«, das heißt »eine Politik nur im Raum zwischen den einzelnen Einheiten« gebe, die von der »Scheidewand« der staatlichen »Souveränität« von innenpolitischen Vorgängen abgetrennt werde. Während es sich bei dieser Interpretation schon für das . bis . Jahrhunderts um eine grobe, aber vielleicht noch akzeptable Vereinfachung gehandelt habe, könne sie die »multinationale Verfilzung des Herrschaftsprozesses« in der Gegenwart endgültig nicht mehr erfassen. Kaiser schlug stattdessen eine »Theorie der multinationalen Politik« vor. Zu deren Varianten gehörten erstens die von Rosenau untersuchten »penetrierten Systeme«, in denen Mitglieder anderer Gesellschaften Einfluss auf die Innenpolitik eines Landes nahmen. Die zweite Variante seien »Systeme internationaler Integration«, bei denen Nationalstaaten Kompetenzen an internationale Organisationen abtraten. Der interessanteste Fall sei jedoch die »transnationale Politik«: Dabei handle es sich um »jene politischen Prozesse zwischen nationalstaatlichen Regierungen und/oder zwischen transnationaler Gesellschaft und Regierung(en), deren Anstoß von Interaktionen in der transnationalen Gesellschaft« gegeben worden sei. Zentraler Angelpunkt war hier der Faktor der »Kommunikation«: In einer Illustration (Abbildung ) verdeutlichte Kaiser, dass nicht nur die »horizontale Kommunikation« zwischen Regierungen oder zwischen gesellschaftlichen Akteuren, sondern im Zuge von Demokratisierung und dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates auch die »vertikale Kommunikation« zwischen Gesellschaften und Regierungsinstitutionen ihres oder eines anderen Staates zugenommen habe. An Kaisers Verständnis der »transnationalen Gesellschaft« zeigt sich jedoch auch der Übergangscharakter seines Ansatzes: Denn einerseits sah er diese nicht Kaiser, Transnationale Politik (), S. f. Seit der zweiten Hälfte der er Jahre wurden »multinationale« immer häufiger auch als »transnationale« Konzerne bezeichnet, etwa bei Robinson, International Management, S. ff., oder Morse, The Politics of Interdependence (), S. . Zur »technetronischen«, bei Kaiser fälschlich als »technotronisch« zitierten Gesellschaft siehe Kapitel .. Kaiser, Transnationale Politik (), S. -, f. Als Beispiel diente Kaiser unter anderem die von Kenneth Waltz formulierte Trennung der drei »Ebenen« (später »images« genannt): Individuen und ihre psychologischen Vorgänge, Entwicklungen innerhalb von Staaten und Entwicklungen auf der Ebene des zwischenstaatlichen, internationalen Systems. Waltz, Man, the State, and War (). Kaiser, Transnationale Politik (), S. .
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Abbildung : Karl Kaisers Schema der »transnationalen Politik«.
mehr als Gesamtheit aller nationalen Gesellschaften wie noch Talcott Parsons und auch nicht mehr normativ als kooperative »Weltgesellschaft« wie noch Raymond Aron. Er wollte den Begriff vielmehr nutzen, um »die Perzeption eines nationalstaatlich strukturierten Gefüges« grundlegend infrage zu stellen und ganz neue Interaktionszusammenhänge und Verflechtungen in Weltpolitik und Weltwirtschaft zu beschreiben. Andererseits verdeutlicht gerade die Visualisierung von Kaisers Ansatz, dass hier weiterhin Nationalstaaten gleichsam als ›Pyramiden‹ nebeneinanderstanden, die intern wiederum hierarchisch gegliedert waren. Dass mit der »transnationalen Politik« jetzt ein einprägsamer Sammelbegriff für dieses heterogene Feld von Akteuren und Themen zur Verfügung stand, trug jedoch entscheidend dazu bei, die Neuausrichtung des Theorie- und Begriffsarsenals der Politik- und anderer Sozialwissenschaften voranzutreiben. Als einer von wenigen nichtamerikanischen Wissenschaftlern konnte Kaiser, nicht zuletzt durch seine einflussreiche Begriffsprägung, mit seinem Ansatz auch die Debatten in den Vereinigten Staaten maßgeblich beeinflussen.
Transnational Relations and World Politics – Robert Keohane und Joseph Nye Eine Übersetzung von Kaisers Beitrag erschien in der Zeitschrift International Organization (IO). Diese Zeitschrift war von der World Peace Foundation ins Leben gerufen worden und hatte zunächst vor allem vergleichende Studien zu den Vereinten Nationen und den Institutionen des Systems
So Czempiel, Einleitung (), S. . Erst jetzt wurden »private/transnationale« und »staatliche/internationale« Akteure begrifflich schärfer voneinander abgegrenzt. Noch Vernon, Economic Sovereignty at Bay (), S. hatte dagegen zwischen dem »System der Nationalstaaten« und dem »internationalen System« gesellschaftlicher Akteure unterschieden. Kaiser, Transnational Politics ().
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von Bretton Woods publiziert. Im Jahr luden ihre Herausgeber, zu denen etablierte Größen des Faches wie Lincoln Bloomfield, Lawrence Finkelstein und Richard Gardner gehörten, eine Reihe von jüngeren Wissenschaftlern ein, den zukünftigen Kurs der Zeitschrift mitzubestimmen. Besonders Robert Keohane und Joseph Nye trugen in den folgenden Jahren zu einer grundlegenden Neuausrichtung bei, die die International Organization zum zentralen Forum der politikwissenschaftlichen Interdependenz-Debatte in den Vereinigten Staaten machen sollte. Joseph Nye hatte an der Harvard University eine Dissertation zu Fragen regionaler Integration in Ostafrika eingereicht. Danach forschte er zu Lateinamerika, bevor er eine Professur in Harvard antrat, wo er für den Rest seiner akademischen Karriere bleiben sollte. Vergleichsweise spät hatte Nye erst auf Anraten seines Mentors Stanley Hoffmann an einer Konferenz aus dem Bereich der internationalen Beziehungen teilgenommen. Seine damit etwas überraschende Berufung in das Herausgebergremium der International Organization überzeugte ihn nach eigener Erinnerung davon, das Feld zu wechseln. Robert Keohane war zwei Jahre nach Nye ebenfalls in Harvard promoviert worden. Obwohl sie damit gleichzeitig Promotionsstudenten an derselben Universität gewesen waren, lernten sich Keohane und Nye erst persönlich kennen. Ihr erstes gemeinsames Projekt war die Neuausrichtung von International Organization: Im Juni trafen sich die neuen Mitglieder des Herausgebergremiums, um über die Zukunft der Zeitschrift und der Disziplin der Internationalen Beziehungen insgesamt zu beraten. Denn die Untersuchung internationaler Organisationen erschien ihnen als »altmodisches, deskriptives und theoriefernes Unterfangen«, in dem esoterische Details analysiert, ökonomische Zusammenhänge dagegen vernachlässigt wurden. Dabei schienen sich gerade Ende der er Jahre die internationalen Beziehungen rasant zu verändern. Multinationale Unternehmen waren im Begriff, zu zentralen Akteuren der Weltpolitik zu werden. In Harvard arbeitete Nyes Kollege Raymond Vernon an der Fertigstellung seines Buches Sovereignty at Bay, Richard Cooper hatte gerade einen neuen Blick auf die Weltwirtschaft geworfen. Wichtige Ideengeber waren zu Zur Zeitschrift vgl. Katzenstein/Keohane/Krasner, International Organization (); Martin/Simmons, Theories and Empirical Studies; Cohen, International Political Economy, S. f. Zu den Biografien Joseph Nyes und Robert Keohanes vgl. unter anderem ebd., S. f.; Moravcsik, Robert Keohane (). Nye, Studying World Politics (), S. . Dazu Keohane/Nye, Preface (). Robert Keohane, zit. in Moravcsik, Robert Keohane (), S. , Anm. . Mehr als ein Drittel der später von Keohane und Nye in ihrer Einleitung zitierten Arbeiten befasste sich mit multinationalen Unternehmen. Siehe Katzenstein/Keohane/ Krasner, International Organization (), S. ; Nye, Studying World Politics (), S. . Neben Vernon nennt Keohane noch weitere Ökonomen als Inspirationsquelle, darunter Fred Bergsten. Siehe Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (), S. -.
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dem Karl Deutsch und Ernst Haas, die die Möglichkeit freiwilliger Kooperation zwischen Staaten und die Vielzahl der an den internationalen Beziehungen beteiligten Akteure hervorgehoben hatten. Auch der Ansatz der »transnationalen Politik«, den Keohane und Nye auf die Ideen Raymond Arons, Philip Jessups, Karl Kaisers und James Rosenaus zurückführten, eröffnete ihnen neue Perspektiven auf die internationale Politik. Um solche Ansätze zu bündeln und neue Wege in der Forschung zu beschreiten, organisierten Keohane und Nye im Juni eine Konferenz zu New Forces in World Politics am Harvard Center for International Affairs. Die Beiträge erschienen ein Jahr später in einem Sonderheft der IO, als Sammelband unter dem Titel Transnational Relations and World Politics. Die Bedeutung »transnationaler Beziehungen« lag für Keohane und Nye dabei nicht per se in ihrer Neuartigkeit ‒ in den Jahrzehnten vor seien diese schon einmal besonders intensiv gewesen. In den er Jahren hätten jedoch neue Kommunikationstechnologien die wechselseitige »Sensitivität« von Gesellschaften für eine Vielzahl »transnationaler« Einflüsse enorm erhöht. Den beiden Herausgebern ging es jedoch nicht um eine reine Aufzählung neuer Faktoren und Akteure, sondern um die Kritik grundlegender Annahmen bei der Untersuchung internationaler Beziehungen. Als Kontrastfolie diente ihnen die Sichtweise von Wissenschaftlern wie Hans Morgenthau, Raymond Aron und Kenneth Waltz, die internationale Beziehungen als »Aktionen und Interaktionen von Staaten«, als Ringen um Macht und deshalb als konfliktträchtig verstanden hätten. Diese »staatenzentrierte Sichtweise« werde den viel komplexeren Verhältnissen der Gegenwart jedoch nicht mehr gerecht und müsse deshalb von neuen Perspektiven abgelöst werden. Staaten seien nicht die einzigen Akteure der internationalen Politik, Kooperation sei möglich und Faktoren wie Geografie, Technologie und innenpolitische Einflüsse dürften nicht einfach als »Umwelt« aus dem »internationalen System« herausdefiniert werden. Genannt werden auch Robert Bowie, Samuel Huntington und Alex Inkeles. Keohane/ Nye, International Interdependence () und Nye, UNCTAD (), S. . Arons Konzept der »transnationalen Gesellschaft« kritisierten Keohane und Nye jedoch dafür, die Rolle von »transnationale[n] Koalitionen« zwischen Regierungen und ihren Untereinheiten vernachlässigt zu haben. Keohane/Nye, Preface (). Nye, Studying World Politics (), S. . Zur Vorgeschichte der Konferenz und zum Einfluss Vernons auch Cohen, International Political Economy, S. . International Organization : (), S. -; Keohane/Nye (Hg.), Transnational Relations (). Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Conclusion (), S. f., . Genannt werden hier Morgenthaus Politics Among Nations in der vierten Auflage von , Raymond Arons Peace and War () sowie Kenneth Waltz’ Man, the State and War (). Siehe Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Introduction (), S. , Anm. ; Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Conclusion (), S. . Joseph Nye erinnerte sich später, ein Seminar bei Hans Morgenthau besucht zu haben, in dem er schon zu dieser Zeit mit der »looseness« der von ihm verwendeten Begriffe und Theorien unzufrieden gewesen sei. Nye,
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Das von Keohane und Nye gezeichnete Bild übertrieb die Homogenität und Dominanz des »Realismus«, half ihnen jedoch dabei, das eigene Konzept der »transnationalen Beziehungen« dagegen in Stellung zu bringen und klarer zu konturieren. In expliziter Abgrenzung von der »staatszentrierten Perspektive« sollte es sich mit »Kontakten, Koalitionen und Interaktionen über staatliche Grenzen« befassen, die nicht von Regierungen kontrolliert wurden. Bei genauerem Hinsehen waren die Unterschiede jedoch gar nicht so gravierend. Denn den beiden Politikwissenschaftlern ging es im Grunde nicht um die Gegenüberstellung, sondern um die Interaktion von »transnationalen Beziehungen« und dem »zwischenstaatlichen System«. Sie wollten diejenigen »Bewegung materieller und immaterieller Güter über Staatsgrenzen hinweg« untersuchen, bei denen »mindestens ein Akteur kein Vertreter einer Regierung oder einer internationalen Organisation« war ‒ Staaten blieben für Keohane und Nye zentrale Akteure auch in den »transnationalen Beziehungen«. Ihr neues Modell veranschaulichten die beiden Autoren in zwei Schaubildern (Abbildung ). »Figure « zeigte die »klassische« Sicht, nach der gesellschaftliche Akteure nur mit ›ihren‹ Regierungen, nicht mit Individuen oder Gruppen in anderen Ländern interagierten. »Figure « dagegen war um eine ganze Reihe von »transnationalen Interaktionen« erweitert worden. Auch wenn eine Gesellschaft und ihre Regierung jeweils noch auf einer Seite des Diagramms standen, waren die nationalstaatlichen Gehäuse der noch bei Kaiser abgebildeten ›Pyramiden‹ hier verschwunden. »Transnationale Interaktionen« umfassten demnach nicht nur direkte Kontakte zwischen Gesellschaften sowie zwischen Gesellschaften und anderen Regierungen, sondern auch zwischenstaatliche und »transnationale« Organisationen ‒ insgesamt ergäben sich Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Akteursgruppen in der Weltpolitik. Das Spektrum der Akteure und Themen, die die Beiträge des Themenhefts behandelten, war entsprechend breit. Mehrere Autoren hoben den stark gewachsenen Einfluss von multinationalen Unternehmen (Louis Wells, Raymond Vernon) und die Bedeutung des internationalen Handels- und Finanzsystems (Lawrence Krause, Edward Morse) hervor. Bei der von Keohane und Nye aufgeworfenen zentralen Frage waren sich die Beiträger indes nicht einig: Welche Folgen hatten »transnationale Akteure und Interaktionen« für staatliche Außen-
Studying World Politics (), S. . Hinzu kam noch der Vietnamkrieg, für den die beiden Herausgeber ‒ wie Nye später einräumte, wohl zu Unrecht ‒ das »realistische Paradigma« mit verantwortlich machten. Nye, UNCTAD (), S. . Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Introduction (), S. f.; Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Conclusion (), S. . Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (), S. stellte die Auseinandersetzung mit dem »conventional wisdom« des Faches später als »Großwildjagd« dar, die als Strategie zur Profilierung des eigenen Ansatzes enorme Erfolge verspreche. Siehe die Tabelle in Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Conclusion (), S. .
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Abbildung : »Staatenzentrierte« (Figure ) und »transnationale« (Figure ) Interaktion.
politik, die Steuerungskompetenz von Regierungen und für die »Souveränität« von Nationalstaaten? Solche Fragen waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren für multinationale Unternehmen diskutiert worden. In der Debatte um die Bedeutung transnationaler Akteure allgemein war das Spektrum an Meinungen nun ähnlich breit. Autoren wie Robert Gilpin verteidigten den Primat der Politik über die Ökonomie: Staaten seien nach wie vor die wichtigsten Akteure der Weltpolitik; ökonomische Interaktionen würden von Regierungen so gelenkt, dass sie ihren Interessen dienten. Samuel Huntington ging davon aus, »transnationale Organisationen« stärkten den Einfluss von Nationalstaaten eher als ihn zu schwächen. Denn erstens verfügten Staaten mit der Kontrolle über den Zugang zu ihrem Territorium über ein kostbares Gut, für das sie einen hohen Preis verlangen konnten. Zweitens sei die »transnationale Revolution« eng mit der »globalen Expansion« der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Wenn der weltweite Einfluss der USA schwinde, würden auch transnationale Verbindungen wieder zurückgehen. Grundlage für diese These war ein ganz eigenes Verständnis des Begriffs »transnational«, den der in Harvard tätige Politikwissenschaftler nicht entlang der Trennlinie »staatlich« versus »nichtstaatlich« definierte. Er wollte stattdessen nach der Natur und Reichweite ihrer Tätigkeit »nationale«, »transnationale« (zentral gesteuerte Aktivitäten auf dem Territorium von zwei oder mehr Nationalstaaten), »internationale« (von Vertretern aus zwei oder mehr Nationen gelenkte) und »multinationale« (Men Gilpin, Transnational Economic Relations (). Diese Möglichkeit hatte der Politikwissenschaftler David Singer schon in Betracht gezogen. Er hatte sich zudem dafür ausgesprochen, den Begriff »internationales System« durch »globales System« zu ersetzen, weil Letzterer sowohl nationale, suboder »intranationale« als auch »extranationale« soziale Einheiten umfasse. Singer, The Global System (), S. , Anm. , S. , f.
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schen aus zwei oder mehr Nationen beteiligen sich an ihrer Tätigkeit) Organisationen unterscheiden. Die katholische Kirche oder multinationale Unternehmen waren nach dieser Definition ebenso »transnationale Organisationen« wie die Weltbank. Auch Robert Keohane und Joseph Nye sahen durchaus die Möglichkeit, dass Staaten »transnationale Beziehungen« nutzen konnten, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Denn multinationale Unternehmen oder die Regulierung transnationaler Interaktionen durch Wirtschaftssanktionen konnten auch als Instrumente staatlicher Außenpolitik eingesetzt werden. Nationalstaaten würden damit keinesfalls von »transnationalen Organisationen« verdrängt, auch wenn diese bereits eigenständige Akteure in der Weltpolitik seien. Und doch sprachen zeitgenössische Beobachter immer häufiger von einem staatlichen »Kontrollverlust«, gar von einer »Krise der Souveränität«. Für Keohane und Nye handelte es sich hier primär um ein Wahrnehmungsphänomen, um eine »Kontrolllücke« zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Denn die meisten ihrer Zeitgenossen der frühen er Jahre verglichen ihre Gegenwart vor allem mit der Vergangenheit der er Jahre. In dieser Zeit hätten Nationalstaaten jedoch in zuvor nicht gekanntem Maße den Anspruch erhoben, soziale Zusammenhänge zu kontrollieren. Mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats hätten Regierungen immer neue Instrumente zur Durchsetzung dieses Anspruchs entwickelt. Schon bald sei dieser eigentlich außergewöhnliche Umstand als neue »Normalität« gesehen worden. Je stärker Regierungen soziale Zusammenhänge planen und steuern wollten, desto abhängiger seien sie jedoch von »transnationalen Kräften« geworden, die sie eben nicht kontrollieren konnten ‒ der staatliche Anspruch auf umfassende Kontrolle sei in den er Jahren an die Grenzen seiner Umsetzbarkeit gestoßen. »Souveränität« im völkerrechtlichen Sinne sei von wachsender Interdependenz und transnationale Beziehungen damit kaum betroffen. Abgenommen habe dagegen die »Autonomie« von Nationalstaaten, sprich die Fähigkeit, ihre selbst gesetzten Ziele in der Praxis auch wirklich zu erreichen. Das mache jedoch nicht die Gegenwart, sondern im Gegenteil die er Jahre zu einer Ausnahmezeit: »It may be that United States policymakers have less control now than in the s, but it was the s that were exceptional, not the present.« In dem Moment, als deren vermeintliche »Normalität« brüchig geworden war, traten damit die Ordnungsvorstellungen der er Jahre für Beobachter der
Huntington, Transnational Organizations (). Zu Huntington Putnam, Samuel P. Huntington; Menzel, Ulrich: Huntington, Samuel P., in: Personenlexion Internationale Beziehungen virtuell, unter: http://rzv.rz.tu-bs.de/isw/sandra/lexikon/ cmsimpleplus/?G-H:HuntingtonC_Samuel_P.; Riescher, Politische Theorie der Gegenwart, S. - sowie das Projekt von Cora Schmidt-Ott »Samuel Huntington und die intellectual history des American Century« an der Universität Tübingen.
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er Jahre erstmals deutlich sichtbar zutage. Schon wegen dieser Erkenntnis hielten Keohane und Nye weder Abschottung noch Konfrontation mit multinationalen Unternehmen für eine sinnvolle außenpolitische Strategie für die Vereinigten Staaten oder andere Länder. Stattdessen empfahlen sie eine engere Kooperation zwischen Regierungen, »internationalen« und »transnationalen Organisationen«. Damit könnten auch »arme Länder« von der Verdichtung der transnationalen Beziehungen profitieren und grenzüberschreitende Probleme gemeinsam gelöst werden.
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Die von Robert Keohane und Joseph Nye im Mai in Harvard veranstaltete Konferenz war die erste Veranstaltung dieser Art, die Wissenschaftler (und mit der Soziologin Diane Crane jetzt auch eine Wissenschaftlerin) aus verschiedenen Disziplinen zusammengebracht hatte, um über Ursachen, Phänomene und Folgen »transnationaler Beziehungen« zu diskutieren. Wie Keohane und Nye gingen auch andere Autoren davon aus, dass sich deren Bedeutungszuwachs und wachsende globale Interdependenz wechselseitig verstärkten. In den Jahren danach wurde das Adjektiv »transnational« so schnell zu einem zentralen Begriff zur Beschreibung einer gewandelten Welt, dass Samuel Huntington beklagte, dieses neue »Modewort« habe jede analytische Präzision schon wieder eingebüßt. Denn auch außerhalb der Wissenschaft hatte sich das Adjektiv zunehmend verbreitet: Grenzüberschreitend vernetzte Nichtregierungsorganisationen entdeckten es für sich, um sich deutlicher von Regierungen und zwischenstaatlichen Institutionen abzugrenzen. Keohane und Nye hatten dabei durchaus erkannt, dass das Phänomen grenzüberschreitend vernetzter, nichtstaatlicher Akteure keineswegs neu war. Sie schrieben ihm für ihre Gegenwart der frühen er Jahre jedoch eine neue Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Introduction (), S. f., ; Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Conclusion (), S. f. Ähnlich auch Cooper, The Economics of Interdependence (), S. ; Kaiser, Transnationale Politik (), S. ; Morse, Transnational Economic Processes (); Cooper, Economic Interdependence (). Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Conclusion (), S. f.; Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Introduction (), S. f. Keohane und Nye beschrieben die Konferenz später als »pointing exercise« die deutlich gemacht habe, wie viele interessante Zusammenhänge bisher der Aufmerksamkeit der Analysten entgangen seien. Katzenstein/Keohane/Krasner, International Organization (), S. . Huntington, Transnational Organizations (), S. . wurde in Amsterdam das Transnational Institute als internationale Zweigstelle des Washingtoner Institute for Policy Studies etabliert. Siehe www.tni.org/en/page/ history (..).
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Qualität zu. Die britische Ökonomin Susan Strange hielt dagegen den Begriff »transnational« für eine Innovation der er Jahre. Die damit verbundenen Schlussfolgerungen seien jedoch eine »Wiederentdeckung von Wahrheiten«, die für eine ältere Generation von Autoren schon einmal sehr offensichtlich gewesen seien. Dass internationale Politik nicht ausschließlich als Interaktion von Staaten gesehen wurde, war damit wohl nur im Vergleich zur dominanten Interpretation der er Jahre eine wirkliche Innovation. Diese neue Aufmerksamkeit für keineswegs neue, aber gerade nach nur wenig beachtete Akteursgruppen in den internationalen Beziehungen ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass die Anzahl und der Einfluss von länderübergreifend vernetzten, nichtstaatlichen Organisationen in den er und er Jahren stark zunahm. Sie war aber auch eine Folge weitreichenderer Diagnosen wachsender Interdependenz und der Schwächung der hochmodernen Deutung dieser Zusammenhänge als Interaktion und Verflechtung von nationalen Einheiten. Denn dadurch waren jetzt Spielräume für neue Beobachtungen und Perspektiven entstanden. Umgekehrt zeugt auch die »Entdeckung« »transnationaler Beziehungen« neben der Debatte über die Folgen der Tätigkeit »multinationaler Unternehmen« und über die Bedeutung der »nationalen Souveränität« als Scheidelinie von »innen« und »außen« von den Suchbewegungen der Sozialwissenschaften um die Wende von den er zu den er Jahren. In den Vereinigten Staaten und anderswo bemerkten nun immer mehr Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, dass die Perspektiven, Theorien und Konzepte ihrer Disziplin nicht mehr zu den von ihnen gemachten Beobachtungen in Weltpolitik und Weltwirtschaft passten. Nicht zum ersten Mal wurden Begriffe wie »international« jetzt zur Disposition gestellt und Alternativen vorgeschlagen. Neu war jetzt jedoch, dass neue Konzepte wie »transnational« in den er und er Jahren anders als etwa »mondial« vier Jahrzehnte zuvor so viel Evidenz gewinnen konnten, dass sie traditionelle Zugänge zwar nicht völlig verdrängten, sich jedoch dauerhaft neben ihnen etablieren konnten. Durch ihre Positionen als Herausgeber von International Organization konnten Keohane und Nye die weitere Entwicklung der Debatte über transnationale Beziehungen und Interdependenz entscheidend beeinflussen. Die jetzt angestoßene Neuausrichtung der Internationalen Beziehungen und anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen wurde in den er Jahren als Abkehr vom staatszentrierten Paradigma des »Realismus« und vom rationalistischen »Behavioralismus« gedeutet. Fred Halliday hat diese Entwicklung als Verschiebung zu »pluralistischen« und »globalistischen« Theorien beschrieben. Die ›Ent Strange, The Study of Transnational Relations (), S. . Die These von den er Jahren als transformativem Jahrzehnt für transnationale Akteure u. a. bei Iriye, Global Community (); Khagram/Rikre/Sikkink (Hg.), Restructuring World Politics. Nye wurde Vorsitzender des board of editors, Keohane Ende leitender Herausgeber. Dazu auch Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (). Halliday, The Making of the Second Cold War (), S. , Anm. .
deckung‹ transnationaler Akteure verstärkte jedoch auch noch grundlegendere Zweifel an der strikten Trennung von »Innenpolitik« und »Außenpolitik« und an der Vorstellung einer Welt aus Nationalgesellschaften und -staaten. Denn sie rüttelten an den Grundfesten des hochmodernen Verständnisses internationaler Politik und wachsender Verflechtung. Innerhalb kurzer Zeit wurde damit zwischen und / die über ein Jahrhundert relativ stabile hochmoderne Deutung explizit thematisiert, für Kritik geöffnet und zunehmend von neuen Perspektiven abgelöst.
. Das Ende der Hochmoderne? Gegen Ende der er Jahre hatten sich damit Zweifel an der hochmodernen Sicht auf Interdependenz als Folge sozialer »Evolution« und zunehmender »Arbeitsteilung« immer mehr verdichtet, ohne dass sich ein einheitliches neues Verständnis dieser Entwicklungen herausgebildet hätte. Wachsende Kritik an Modernisierungstheorie und den Annahmen des Behavioralismus schwächte das Selbstbewusstsein der Sozialwissenschaften, soziale Entwicklung nicht nur analytisch durchdringen, sondern auf dieser Grundlage auch zu ihrer politischen Steuerung beitragen zu können. Das Ende der hochmodernen Deutungssicherheit ließ nun die potenziell negativen Folgen wachsender Interdependenz stärker in den Blick zeitgenössischer Beobachter treten. Politische und ökonomische Entwicklungen zwischen und schienen diese skeptischere Perspektive auf globale Verflechtung zu bestätigen: Der Krieg in Vietnam hatte nicht nur die wirtschaftlichen Probleme der Vereinigten Staaten verschärft, sondern schien darüber hinaus zum Zerfall des innen- wie außenpolitischen »Konsenses« geführt zu haben. Damit wurde fraglich, ob die auf die Förderung von freiem Handel und Verflechtung ausgerichtete Weltwirtschaftsordnung noch im Interesse der Vereinigten Staaten lag. Multinationale Unternehmen und andere transnationale Akteure wurden jetzt auch als Bedrohung des weltweiten Einflusses des Landes gesehen. Weiter zunehmende Verflechtung in der Weltwirtschaft, die veränderten politischen Rahmenbedingungen und die Deutung dieser Entwicklungen unter dem Begriff der Interdependenz traten nun in ein noch intensiveres Wechselverhältnis. Denn nachdem die hochmoderne Deutung wachsender Verflechtung als Folge sozialer »Evolution« und Teil des »Fortschritts« zweifelhaft geworden war, schien sie nun zur wachsenden Komplexität der Welt beizutragen und die Formulierung politischer Antworten auf deren vielfältige Problemlagen eher schwerer als einfacher zu machen. Gleichzeitig setzte die Politik der Entspannung zwischen Ost und West jedoch auch Kapazitäten frei, mehr Aufmerksamkeit auf globale Verflechtungen und scheinbar neue Akteure in der internationalen Politik legen zu können. Anfang der er Jahre erschien manchen Beobachtern nicht nur die Nachkriegszeit, sondern auch der Kalte Krieg bereits wieder beendet und ein neues »Zeitalter der Interdependenz« angebrochen, in dem
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neue Akteure und neue Problemlagen auch neue Herangehensweisen in Politik und Sozialwissenschaften erforderten.
Das Ende des Konsenses? Krisendiagnosen in den Vereinigten Staaten Der Evidenzverlust der hochmodernen Deutung sozialer Entwicklung und wachsender Interdependenz fiel mit Diagnosen einer tiefen »Krise« der amerikanischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ab Ende der er Jahre zusammen, deren verbindendes Element der Krieg in Vietnam war. Im wirtschaftlichen Bereich verschärften sich in diesem Zeitraum die Probleme: Die Generation der »Babyboomer« war in das erwerbsfähige Alter gekommen und suchte jetzt nach Stellen, die es in solcher Zahl jedoch nicht gab. Neben dem Krieg in Vietnam hatte besonders Lyndon B. Johnsons »Great Society«, ein ambitioniertes Programm zur Armutsbekämpfung und Verbesserung von Bildung und Gesundheitsversorgung, die Staatsausgaben weiter ansteigen lassen. Aus politischen Gründen wollte die Regierung darauf jedoch nicht mit Steuererhöhungen reagieren. Anfang der er Jahre traten Stagnation und wachsende Arbeitslosigkeit gleichzeitig mit steigender Inflation auf. Dieses neue Phänomen der »Stagflation« konnte mit den existierenden Theorien der Sozialwissenschaften weder ausreichend erklärt noch gesteuert werden. Hinter diesen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Vereinigten Staaten standen jedoch auch längerfristige Entwicklungen: Die dominante Stellung des Landes in der Weltwirtschaft wurde durch den Aufstieg Japans und westeuropäischer Länder wie der Bundesrepublik Deutschland zunehmend herausgefordert. Dort ansässige Unternehmen machten amerikanischen Firmen nun international zunehmend Konkurrenz. Schon hatten die USA erstmals ein vorübergehendes Zahlungsbilanzdefizit zu verzeichnen, wurden sie vom EWG-Raum bei der Industrieproduktion überholt. In den folgenden Jahren häuften sich die Indikatoren für ein Ende der amerikanischen Ausnahmestellung: war das amerikanische Zahlungsbilanzdefizit zum dauerhaften Problem geworden, kam das erste Handelsbilanzdefizit seit hinzu. Der Krieg in Vietnam hatte jedoch nicht nur Ressourcen von innenpolitischen Reformprojekten abgezogen und wirtschaftliche Schwierigkeiten verschärft, sondern bildete auch den Hintergrund der Proteste verschiedener »neuer sozialer Bewegungen« in den Vereinigten Staaten und Westeuropa. Zusammen mit der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, aber auch der Frauenbe Zu diesem Abschnitt Collins, More, Kap. ; Stein, Pivotal Decade, Kap. . Für Strange, The Persistent Myth (1987) war die amerikanische Dominanz in der Weltwirtschaft ohnehin nie so deutlich gewesen wie von den Zeitgenossen angenommen. Entsprechende Daten zeitgenössisch bei Branson, Trends in United States International Trade (). Die große Bedeutung des Vietnamkrieges betont etwa Bernstein, A Perilous Progress.
wegung, der Umweltbewegung oder allgemeiner mit Akteuren aus der »Gegenkultur« prägen solche Strömungen bis heute die Sicht auf die sixties als eine Zeit gesellschaftlicher Unruhe und kultureller wie sozialer Umbrüche. In den Augen ihrer Gegner destabilisierten diese als »radicals« zusammengefassten Gruppen und ihre Forderungen hingegen die amerikanische Sozialordnung. Ende der er Jahre begannen jedoch selbst etablierte »Liberale« wie John Kenneth Galbraith oder Arthur M. Schlesinger Jr. am Sinn des amerikanischen Engagements in Vietnam zu zweifeln. Damit schwand nicht nur der Glaube an die Möglichkeit der Umsetzung »liberaler« Ziele in Sozial- wie Außenpolitik. Auch die bislang angenommene positive Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt wurde jetzt zunehmend fragwürdig. Während aus der Rückschau vor allem die »globalisierende« Wirkung der transnational vernetzten Protestgruppen um »« betont worden ist, hatte die damit verbundene Infragestellung der bisherigen Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt zeitgenössisch auch gegenläufige Konsequenzen. Denn damit war der Raum für Akteure geöffnet worden, die angesichts der ökonomischen und politischen Turbulenzen der späten er und frühen er Jahre eine Abkehr von der »liberalen« Weltwirtschaftsordnung forderten. Eine in den Kongress eingebrachte Gesetzesvorlage, die den Abfluss von Arbeitsplätzen und Technologien stoppen und die Konkurrenz durch Importe aus dem Ausland reduzieren sollte, konnte von Unternehmensvertretern noch zu Fall gebracht werden. Erstmals seit vierzig Jahren konnten sich jetzt jedoch auch Vertreter »isolationistischer« Bestrebungen wieder Gehör verschaffen. Earl Ravenal, Politiker der Libertarian Party, behauptete beispielsweise im Jahr , es liege im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten, sowohl im ökonomischen als auch im politisch-militärischen Bereich ihre Abhängigkeit von der Außenwelt zu reduzieren. Solche »Neo-Isolationisten« forderten deshalb eine Reduzierung des Verteidigungshaushaltes, die Entwicklung von Alternativen zu importierten Rohstoffen und einen schrittweisen Rückzug der USA aus der »Dritten Welt«. Dahinter stand eine skeptische Sicht auf die Folgen wachsender Verflechtung: Anders als viele Beobachter annähmen, verstand Ravenal das weitere Wachstum von Interdependenz nicht als Teil der Lösung, sondern als die zentrale Ursache der Probleme der Vereinigten Staaten und der Instabilität der internationalen Ordnung. Isolation oder Interdependenz waren nach dem Titel eines von Robert
Siehe dazu Hunt, When Did the Sixties Happen?. Für einen Überblick über die umfangreiche Literatur vgl. zudem Heale, The Sixties as History; Varon/Foley/McMillian, Time is an Ocean. Vgl. Gillon, Politics and Vision, S. -; Engelhardt, The End of Victory Culture. Zu »global « Kurlansky, ; Cohen/Frazier, Scale: Exploring the »Global ’«. Dazu Silk, Leonard: Protectionists Mobilize, NYT, . Jan. , S. ; später Gutowski/Borchardt (Hg.), Der Neue Protektionismus (). Vgl. dazu Oliveiro, The United States, S. -. Ravenal, The Case for Strategic Disengagement (), S. .
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Kaplan herausgegebenen Sammelbandes jetzt die beiden alternativen Pfade für die Zukunft Amerikas. Der unter anderem von Philip Karber und William Mengel vertretene Ansatz der »Autarkie« hingegen wollte ebenfalls die Abhängigkeit der USA von internationalen Rohstoffen und Entwicklungen auf dem Weltmarkt reduzieren, dabei aber das globale politische Engagement der USA in größerem Maße aufrechterhalten als »Neo-Isolationisten«. »Autarkisten« ging es vor allem darum, auf wirtschaftliche Eigenständigkeit hinzuarbeiten, militärische Interventionen zu beenden und die Verpflichtungen der USA in ihrem Bündnissystem zu reduzieren. entwarf Robert W. Tucker, Professor für Politikwissenschaft an der Johns Hopkins University (nicht zu verwechseln mit dem Sowjetologen Robert C. Tucker), eine »nicht-interventionistische« Außenpolitik für die Vereinigten Staaten, die sich aus dem transatlantischen Allianzsystem zurückziehen und ihre globale militärische Präsenz beenden sollten, ohne sich dadurch jedoch politisch oder ökonomisch zu »isolieren«. Die Regierung Nixon musste damit nicht nur mit den Herausforderungen einer immer verflochteneren Welt umgehen, sondern sich auch mit innenpolitischen Forderungen nach einer stärkeren Abschottung der Vereinigten Staaten auseinandersetzen. Schon allein die Tatsache, dass solche Forderungen von außenpolitischen und wirtschaftlichen Eliten zwar nahezu einhellig abgelehnt wurden, jedoch auf die Unterstützung eines Viertels der Bevölkerung zählen konnten, verwies in den Augen zeitgenössischer Beobachter auf eine noch viel grundlegendere Entwicklung: den Zerfall des »liberalen Konsenses« der beiden Nachkriegsjahrzehnte. Innenpolitisch schien er durch linke Protestbewegungen wie durch die Formierung einer konservativen Gegenbewegung aufgekündigt worden zu sein. Das Erstarken von Protektionismus und Neo-Isolationismus stand für das Ende der allgemeinen Unterstützung einer »liberalen« Weltwirtschaftsordnung. Mit dem Rückgang der gefühlten Bedrohung durch die Sowjetunion und mit der amerikanischen Verstrickung in Vietnam hatte im Laufe der er Jahre auch die Integrationskraft des Antikommunismus nachgelassen. Damit schien nun auch der »Cold War consensus« zerfallen, auf den sich die global aktive Außenpolitik der USA gestützt hatte. Verbindendes Element solcher Diagnosen war die These vom Ende des »vital center liberalism«: Die sogenannten »Radikalen« warfen dessen Vertretern vor, mit ihrer Orientierung an »Stabilität« und »Status quo« die eigentlichen Konservativen geworden zu sein.
Kaplan (Hg.), Isolation or Interdependence? (). Karber/Mengel, In Defense of Fortress America (). Tucker, A New Isolationism (). Ayres, Fortress America or a World of Hope? (). In Umfragen des Chicago Council on Foreign Relations wurden isolationistische Positionen zwischen und von circa Prozent der Befragten bevorzugt, jedoch nur von bis Prozent der entsprechenden »Meinungsführer«. Zit. in Melanson, American Foreign Policy, S. . Siehe zeitgenössisch Vogelgesang, The Long Dark Night (). Vgl. auch Gitlin, The Sixties, S. f.
Auch wenn es den »liberalen Konsens« der Nachkriegszeit aus Sicht der heutigen Forschung so nie gegeben hatte, war die These von seinem »Zerfall« um das Jahr für viele Zeitgenossen eine wirkmächtige Gegenwartsdiagnose. Sie verband sich mit Klagen über den Niedergang traditioneller Werte und ökonomischen Problemen zum Eindruck einer umfassenden Krise: Schon im Oktober hatte das Time Magazine festgestellt, ein »tiefes Unwohlsein« habe das amerikanische Volk wie eine »psychologische Grippe« überkommen. Der liberale Historiker und ehemalige Kennedy-Berater Arthur M. Schlesinger Jr. argumentierte zwei Jahre später, dass die Amerikaner das Vertrauen in die eigene Stärke verloren hätten. Mit dem Buchtitel The Crisis of Confidence sollte Schlesinger einen zentralen Begriff für die weitere Niedergangsdebatte prägen. Die Annahme, dass die Vergangenheit der er Jahre durch den Konsens übersichtlich, geordnet, stabil und vorhersagbar, die Gegenwart durch dessen Zerfall dagegen unübersichtlich, chaotisch und unvorhersehbar war, trug viel zu dem Gefühl der Orientierungslosigkeit der er und er Jahre bei und beeinflusste damit auch die Interpretation der Folgen wachsender globaler Verflechtung.
The Age of Limits – Reaktionsversuche der Regierung Nixon Auch Richard Nixon, seit Januar Präsident der Vereinigten Staaten, schlug bereits in seiner ersten Rede zur Lage der Nation einen pessimistischen Ton an: Die er Jahre seien zwar ein Jahrzehnt des Wohlstands gewesen, allerdings auch ein Jahrzehnt des Wachstums von Kriminalität, von Inflation und sozialen Unruhen. Vor allem diagnostizierte Nixon aber eine »Krise des Geistes«: Noch nie habe eine Nation mehr besessen, sich gleichzeitig jedoch noch nie weniger an diesem Besitz erfreut als die Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt. Nur wenn es ge Neuere Arbeiten betonen, Widerstand gegen den New Deal, gegen »liberale« Reformprogramme nach und gegen die globalistische Außenpolitik des Kalten Krieges habe es die ganze Zeit gegeben. Die vermeintliche Homogenität der amerikanischen Gesellschaft und der vermeintliche Konsens in Innen- und Außenpolitik erscheinen damit als Konstruktion, die im Zusammenspiel mit den politischen Zeitumständen des Kalten Krieges entstanden war. Siehe Brinkley, The Problem of American Conservatism; Medovoi, Rebels, S. ; Brinkley, The Illusion of Unity; Gifford/Williams (Hg.), The Right Side of the Sixties; Mason/Morgan (Hg.), The Liberal Consensus Reconsidered. A Question of Priorities, in: Time, . Sept. , S. -. Vgl. dazu Zaretsky, No Direction Home. Schlesinger, The Crisis of Confidence (). Nixon, Richard: Inaugural Address, . Jan. , www.presidency.ucsb.edu/documents/inaugural-address-; Nixon, Richard: Annual Message to the Congress on the State of the Union, . Jan. , www.presidency.ucsb.edu/documents/annual-message-the-congress-the-state-the-union- (beide ..). Dazu auch Haldeman, The Haldeman Diaries (), S. , ; Hoff, Nixon Reconsidered, S. -.
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linge, die eigenen Selbstzweifel zu überwinden, werde damit auch die ökonomische Stärke der USA und ihre weltpolitische Führungsposition erhalten bleiben. Versuche, die amerikanische Wirtschaft durch Zinssenkungen und eine Erhöhung der Geldmenge zu stimulieren, brachten jedoch nicht die erhofften Erfolge, sondern trieben nur die Inflationsrate weiter nach oben. Im Rahmen des Systems von Bretton Woods wurden nun immer mehr Dollars gegen Gold eingetauscht. Im August beschloss Nixon deshalb, das »Goldfenster« zu schließen, das heißt die Goldkonvertibilität des Dollar einseitig aufzukündigen. Trotzdem stiegen auch die Staatsausgaben und die Inflationsrate in den USA weiter an, ohne dass es zu einer wirtschaftlichen Erholung gekommen wäre. wurden schließlich die Wechselkurse weitgehend freigegeben. Aus der Rückschau waren die Grundprinzipien der globalen Wirtschafts- und Finanzordnung nach dem Zweiten Weltkrieg ‒ feste Wechselkurse und maximale nationale Kontrolle in der Wirtschaftspolitik bei gleichzeitigem freien Waren- und Kapitalverkehr ‒ nur während der Ausnahmephase der beiden Nachkriegsjahrzehnte miteinander vereinbar gewesen. Das System scheiterte letztlich an seinen eigenen Widersprüchen. Viele Zeitgenossen interpretierten das Ende des Währungssystems der Nachkriegsjahrzehnte dagegen als »Zusammenbruch« des gesamten Systems von Bretton Woods und als ein weiteres Zeichen für das Ende der Führungsrolle der Vereinigten Staaten in Weltwirtschaft und Weltpolitik. Die Anzeichen dafür hatten sich schon seit Ende der er Jahre gemehrt; der außenpolitische Ansatz der Regierung Nixon war von Anfang an von einem neuen Bewusstsein für die »Grenzen« amerikanischer Macht geprägt. Kissinger wollte deshalb die »Pendelbewegung zwischen Überdehnung und Isolation« in Zukunft vermeiden und die amerikanische Außenpolitik stattdessen an einer »klaren Konzeption des nationalen Interesses« ausrichten, um sie auf eine langfristig tragfähige Grundlage zu stellen. Dazu gehörte die »Vietnamisierung« des Konfliktes in Südost-Asien und der Abzug der amerikanischen Truppen. Die ökonomischen und politischen Kosten des amerikanischen Engagements in der Welt sollten durch die »Nixon-Doktrin« reduziert werden: Die USA wollten ihre Verbündeten zwar weiterhin unter ihrem »nuklearen Schirm« halten. Niederschwelligere Nixon, Richard: Remarks to Midwestern News Media Executives in Kansas City, Missouri, . Juli , www.presidency.ucsb.edu/documents/remarks-midwesternnews-media-executives-attending-briefing-domestic-policy-kansas-city (..). Der Ausdruck stammt vom Vorsitzenden des Council of Economic Advisers Herbert Stein, siehe Safire, Before the Fall (), S. . Gowa, Closing the Gold Window macht Nixon als zentralen Verantwortlichen für den Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods aus. Leeson, Ideology and the International Economy und Odell, U. S. International Monetary Policy betonen dagegen die Entstehung internationaler Märkte für Kapital mit kurzer Laufzeit sowie die wachsende Bedeutung einer »Ideologie der Liberalisierung«. Siehe Kissinger in Brandon, The Retreat of American Power (), S. und Kissinger, The White House Years (), S. -, .
Aggression sollte in Zukunft aber von verbündeten Regionalmächten zurückgeschlagen werden. Zu dieser neuen Herangehensweise gehörte außerdem, die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion auszuweiten, nachdem die Annäherung der beiden Supermächte im Laufe der er Jahre wegen des Kriegs in Vietnam wieder an Schwung verloren hatte. Kurz nach ihrem Amtsantritt begann die Regierung Nixon, geheime Kontakte mit der sowjetischen Führung aufzunehmen. trat die Entspannung in die Phase der high détente ein, in der mehrere wichtige Abkommen unterzeichnet werden konnten. Die Forschung hat diese maßgeblich von Kissinger geprägte Politik der Regierung Nixon meist als Versuch gedeutet, die Ost-West-Beziehungen nach dem Vorbild des »Metternichschen Systems« des . Jahrhunderts durch eine »realpolitische« Kooperation der beiden »Supermächte« zu stabilisieren. »Ideologische« Fragen und gesellschaftliche Einflüsse sollten dabei so weit wie möglich aus der Außenpolitik ferngehalten werden. Die im Mai unterzeichneten sogenannten Grundprinzipien der Entspannung legten dementsprechend fest, die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen sollten an den »Prinzipien der Souveränität, Gleichheit und Nichteinmischung in interne Angelegenheiten« ausgerichtet werden. Die Annäherung der beiden Supermächte war jedoch auch eine Reaktion auf innenpolitische Unruhen in den USA und in der Tschechoslowakei um . Zusätzlich hatten die Dekolonisation und Meinungsverschiedenheiten in den beiden »Blöcken« des Kalten Krieges schon während der er Jahre zu Diagnosen einer »Pluralisierung« beziehungsweise »Multipolarisierung« der Weltpolitik geführt. Kissinger hatte schon vor der Übernahme eines Regierungsamts festgestellt, dass unter diesen Bedingungen kein Land »gleichzeitig in jedem Winkel der Erde« handeln könne, sei es auch noch so mächtig. Gleichzeitig sei eine solche Machtverteilung keine stabile Grundlage internationaler Ordnung, ermutige sie doch expansives Verhalten der Sowjetunion, sobald sie eine Ver Nixon, Richard: Address to the Nation on the War in Vietnam, . Nov. , www. presidency.ucsb.edu/documents/address-the-nation-the-war-vietnam (..). Wegen des Vietnamkrieges hatten in der Sowjetunion die Gegner der Entspannung vorübergehend an Einfluss gewonnen. hatten orthodoxe Berater sogar die Tilgung des Prinzips der »friedlichen Koexistenz« aus dem Parteiprogramm vorgeschlagen. Vgl. Zubok, A Failed Empire, S. . »High détente« etwa bei Bundy, A Tangled Web; Wenger/Suri, At the Crossroads. Etwa bei Oldenburg, Der Kalte Krieg, S. . Diese Interpretation bezieht sich meist auf Kissingers Dissertation zu Metternich und Publikationen wie Kissinger, The White Revolutionary (). Basic Principles of Relations Between the United States of America and the Union of Soviet Socialist Republics, . Mai , www.presidency.ucsb.edu/documents/textthe-basic-principles-relations-between-the-united-states-america-and-the-union-soviet (..). Die Bedeutung innenpolitischer Faktoren betont Suri, Power and Protest. Diese Perspektive schon bei Kaldor, The Imaginary War (), S. und später Villaume/Mariager/Porsdam, Introduction: The »Long s«.
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schiebung zu ihren Gunsten zu erkennen glaube. Schon Anfang der er Jahre hatte Kissinger deshalb ein Konzept »föderaler« internationaler Beziehungen entworfen. Auch die Gegner der USA sollten sich in dieses System einfügen können, wenn sie nur dessen Verhaltensmaßstäben folgten. Anfang der er Jahre griff Kissinger den Begriff der »linkage« auf, meinte damit anders als James Rosenau jedoch nicht die Verflechtung von Innenpolitik und Außenpolitik. Im Gegenteil, gesellschaftliche Einflüsse sollten so weit wie möglich aus der Diplomatie ferngehalten werden. Kissinger verstand darunter vielmehr die bewusste Herstellung von Verflechtungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Durch Anreize wie einen im Oktober unterzeichneten Handelsvertrag sollte die Sowjetunion in Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden werden, die es der US-Regierung ermöglichen sollten, unerwünschtes Verhalten auf anderen Politikfeldern zu sanktionieren. Zu dieser Strategie gehörte aber auch die Ausnutzung multipolarer Tendenzen innerhalb des kommunistischen »Blocks«, insbesondere die Annäherung an die Volksrepublik China, der Nixon im Februar einen ersten offiziellen Besuch abstattete. Die neue »triangular relationship« sollte der amerikanischen Außenpolitik ein weiteres Druckmittel gegenüber der Sowjetunion in die Hand geben. Tendenzen zur Auflösung der beiden »Blöcke« ließen sich jedoch auch im »Westen« beobachten: Im Februar sprach die Regierung Nixon erstmals von »Rivalität« und »Konkurrenz« zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Zusammen mit der allgemeinen »Schrumpfung des Globus und der Expansion der Interdependenz« hätten diese Entwicklungen dazu geführt, dass die Weltpolitik insgesamt »fluider«, »multilateraler«, heterogener und komplexer geworden sei, Kissinger, Henry A.: Reflections on Cuba, in: The Reporter, . Nov. , S. -; Kissinger, Central Issues (), S. . Fred Halliday hat die Diagnose einer multipolaren Welt zusammen mit der Überzeugung, dass mit der Sowjetunion Kompromisse möglich seien, sogar als zentrale Voraussetzung der Entspannung bezeichnet. Halliday, The Making of the Second Cold War (), S. . Rockefeller, The Future of Federalism (); Kissinger, Coalition Diplomacy (). Siehe u. a. Doc. : National Security Decision Memorandum , Washington, . Mai , FRUS -, Volume IV: Foreign Assistance, International Development, Trade Policies, -, Washington D. C. , S. - sowie die übrigen Dokumente in diesem Band. Die Argumente der Gegner einer engeren Verflechtung mit der Sowjetunion fasst Nove, East-West Trade (), S. f. zusammen. Vgl. auch Gaddis, Strategies of Containment, S. -. Recommended Positions: United States’ Relations with the USSR, prepared by Kissinger for Nelson Rockefeller’s briefing book, . Mai , RAC, Nelson A. Rockefeller Gubernatorial Recors, Series , box , folder ; Doc. : Memorandum of Conversation (Brezhnev, Gromyko, Dobrynin, Kissinger, Rodman), Moscow, . April , in: FRUS -, Vol. XIV, Soviet Union, October -May , Washington D. C. , S. -; Doc. : Memorandum From the President’s Assistant for National Security Affairs (Kissinger) to President Nixon, Washington, . Mai , in: FRUS -, Vol. XV, Soviet Union, June -August , Washington D. C. , S. -. Vgl. dazu MacMillan, Nixon and Mao.
während sich der Wettbewerb mit der Sowjetunion und zunehmend auch mit der Volksrepublik China immer mehr in die »Dritte Welt« verlagere. Solche Feststellungen wirkten wie selbsterfüllende Prophezeiungen. Denn je weniger die Welt in Kategorien einer bipolaren Konkurrenz zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gedeutet wurde, desto komplexer und unübersichtlicher musste sie erscheinen. Daraus ergaben sich neue Herausforderungen, aber auch neue Optionen für die US-Außenpolitik. Denn das »Zeitalter der Supermächte«, so glaubte Kissinger schon , neige sich seinem Ende entgegen, ein »neuer Entwurf der internationalen Ordnung« werde dringend benötigt. In diesem neuen »polyzentrischen« internationalen System sollten die Vereinigten Staaten jetzt die Rolle eines zentralen Koordinators und Vermittlers einnehmen. Insgesamt stellte die neue Strategie der Regierung Nixon einen Versuch dar, die amerikanische Außenpolitik an die veränderten Rahmenbedingungen der internationalen Beziehungen anzupassen, zu denen aus Sicht der Regierung neben den ökonomischen Problemen der USA auch der diagnostizierte Zerfall des »Konsenses« der er und er Jahre sowie die Auswirkungen wachsender Interdependenz im internationalen Bereich gehörten. Diese Bemühungen waren jedoch nur teilweise von Erfolg gekrönt. Der Eindruck einer krisenhaften Zuspitzung weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Probleme nahm in den folgenden Jahren noch weiter zu.
Die Orientierungskrise der Sozialwissenschaften Die von Nixon als »Krise des Geistes« interpretierte Infragestellung traditioneller Autoritäten, nationaler Selbstbilder und bisheriger Gewissheiten ging auch an den Sozialwissenschaften in den Vereinigten Staaten alles andere als spurlos vorüber. Das diffuse Gefühl der Krise und des Niedergangs verband sich in den er Jahren mit der Infragestellung des hochmodernen Verständnisses sozialer Entwicklung, mit Zweifeln an der positiven Rolle der Sozialwissenschaften für Politik und Gesellschaft und einer neuen Skepsis gegenüber ihren Erkenntnismöglichkeiten zu einer tiefen Orientierungskrise. Gerade die »Modernisierungstheorie« hatte in der Nachkriegszeit einen Kristallisationskern für so viele ideenhistorische Entwicklungen in den Vereinigten Staaten gebildet, dass es kaum überraschen kann, wie heftig sie ab Mitte der er Jahre kritisiert wurde. Mehr noch, diese Kritik wurde zu einem Katalysa Nixon, Richard: Second Annual Report to the Congress on United States Foreign Policy, . Feb. , www.presidency.ucsb.edu/documents/second-annual-report-thecongress-united-states-foreign-policy (..); Kissinger, Henry A.: The Year of Europe, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Mai , S. -. Ähnlich Brandon, The Retreat of American Power () und der Titel des Time Magazine am . März : »Europe: America’s New Rival«. Kissinger, Coalition Diplomacy (); Kissinger, Central Issues ().
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tor für die Transformation der Grundannahmen der Sozialwissenschaften allgemein, die Nils Gilman als »Revolte gegen die Moderne selbst« bezeichnet hat. Zunächst bewegte sich diese Kritik noch innerhalb des modernisierungstheoretischen Denkrahmens: Sie bemängelte, dass Entwicklungsbemühungen nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt hatten. Besonders offensichtlich sei dieses Versagen in Vietnam geworden, wo die enge Verbindung zwischen den amerikanischen Sozialwissenschaften und der Außenpolitik im Kalten Krieg in den Blick trat. Für die »neue Linke« verkörperte die Modernisierungstheorie damit alles, was sie an der amerikanischen Politik und Gesellschaft verurteilte: Überheblichkeit, Elitedenken und Paternalismus. Es handele sich um eine »Ideologie« zur Legitimierung militärischer Interventionen und kapitalistischer Ausbeutung, die unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Objektivität auftrete. Wohlwollendere Beobachter führten die Probleme bei der Umsetzung modernisierungstheoretischer Konzepte darauf zurück, dass Akteure vor Ort nicht alle der empfohlenen Maßnahmen konsequent umsetzten oder gar ganze Stufen »überspringen« wollten. Während sich solche Kommentatoren an den nicht zufriedenstellenden Ergebnissen der Modernisierungstheorie oder ihrer Verstrickung mit der amerikanischen Außenpolitik stießen, gerieten ab Ende der er Jahre auch deren Grundannahmen in den Fokus der Kritik. Denn aus falschen Annahmen über historische Entwicklungen seien fehlerhafte Prognosen abgeleitet worden. Robert Nisbet verortete die Modernisierungstheorie beispielsweise im Geschichtsdenken des . Jahrhunderts: »Wachstum«, »Entwicklung« und »Fortschritt« waren für ihn keine wissenschaftlichen Kategorien, sondern Metaphern, die ideologische Grundannahmen offenbarten. Der Demograf Julien Condé stellte hingegen fest, dass die »demographische Transition« in verschiedenen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten jeweils ganz unterschiedlich verlaufen sei. Die Annahme einer allgemeingültigen »Modernisierung« gründe in Wirklichkeit auf »bestimmten Erfahrungen bestimmter europäischer Völker« und sei lediglich eine Beschreibung einer Abfolge von historischen Ereignissen in einer begrenzten Anzahl von Ländern. Andere Autoren fügten hinzu, die Industrialisierung in Europa sei keineswegs ein »evolutionärer Prozess« gewesen, sie habe nicht unbedingt Demokratisierung, sondern eher Gilman, Modernization Theory, S. . Dafür stand beispielhaft die Ernennung Walt W. Rostows zum Nationalen Sicherheitsberater der Regierung Johnson im Jahr . Etwa bei Chomsky, American Power (). Dazu Nashel, The Road to Vietnam; Latham, Modernization as Ideology; Robin, The Making of the Cold War Enemy, S. -. Für zeitgenössische Kritik siehe u. a. Boulding, Review of Rebellion and Authority (1970); Short, Review of Rebellion and Authority (1971). Dazu Gilman, Modernization Theory, S. 66 und allgemeiner auch Leys, The Rise and Fall. Nisbet, Project Camelot () und Nisbet, Social Change and History (), S. -, . Condé, The Demographic Transition (), S. . Den Hinweis verdanke ich Maria Dörnemann. Siehe zudem Gerschenkron, Economic Backwardness ().
Revolutionen und Bürgerkriege zur Folge gehabt. Damit wurde »Tradition« nun wieder positiver, »sozialer Wandel« negativer beurteilt. Diese Sichtweise kam konservativen Beobachtern entgegen, die schon länger den »liberalen« Fortschrittsoptimismus und sozialen Gestaltungswillen skeptisch betrachtet hatten und jetzt eine stärkere Konzentration auf »Stabilität« statt »Wandel« einforderten. Mit den Grundannahmen der Modernisierungstheorie hatte auch die These von der weltweiten »Konvergenz« an Evidenz verloren. Denn erstens schien es nun wieder eine überaus gewagte Behauptung, dass soziale Entwicklung unabhängig von historischen, räumlichen, kulturellen, sozialen oder ökonomischen Kontexten stets ähnlich verlaufe und dass alle Menschen auf der Welt letztlich die selben Ziele nach »rationalen« Abwägungen verfolgten. Zweitens war nun nicht mehr klar, auf welches Ziel der vermeintliche Prozess der Konvergenz überhaupt hinauslaufen sollte. Denn nachdem Ende der er Jahre Armut, Rassen- und Geschlechterdiskriminierung in den Vereinigten Staaten stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt waren, konnten diese jetzt kaum noch als Verkörperung der »Moderne« dienen, die alle anderen Länder anstreben sollten. Drittens versuchten nun die postkolonialen Staaten nicht mehr unbedingt, »Entwicklung« nach dem Vorbild der westlichen oder sozialistischen »Industriemoderne« zu erreichen, sondern entwarfen auch eigene Ansätze. Auch die Sowjetunion hatte sich schließlich nach dem Scheitern der Reformversuche unter Ministerpräsident Kosygin Ende der er Jahre wieder stärker in Richtung zentralisierte Planung von Wirtschaft und Gesellschaft gewandt und unterdrückte weitergehende Reformforderungen. Mit dem Evidenzverlust von Modernisierungstheorie und Konvergenz-These rückte nun die Diversität verschiedener Entwicklungswege sowie die kulturelle, institutionelle, zeitliche und räumliche Gebundenheit von Weltdeutungen und Rationalitäts-Formen (wieder) stärker ins Bewusstsein. Damit gerieten verschiedene Grundannahmen der behavioralistischen Sozialwissenschaften in die Kritik: In der zweiten Hälfte der er Jahre wurde ihr Selbstverständnis, Blumer, Early Industrialization (); Rhodes, The Disguised Conservatism (). Gusfield, Tradition and Modernity (). Vgl. dazu Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, S. -. So etwa Huntington, Political Development (), S. ; Huntington, Political Modernization (); Huntington, Political Order (), S. ; Huntington, The Change to Change (), S. , . In der außenpolitischen Praxis der er Jahre führte diese neue Betonung von »Stabilität« zur Unterstützung repressiver Sicherheitsapparate und autoritärer Diktaturen. Vgl. u. a. Streeter, The Failure of »Liberal Developmentalism«; Simpson, Economists with Guns; Kuzmarov, Modernizing Repression. In den er Jahren äußerte Huntington noch deutlicher, dass »Modernisierung« weder kulturelle »Westernisierung« voraussetzte noch dazu führe. Huntington, The West (), S. . Siehe etwa Weinberg, The Problem of the Convergence (). Etwa bei Wallerstein, Modernization: Requiescat in Pace (). Siehe dazu die Beiträge in Belge/Deuerlein (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation?.
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»objektive«, »wertfreie« und »exakte« Wissenschaft nach dem Vorbild der Naturwissenschaften zu betreiben, zunehmend in Zweifel gezogen. Der Ansatz des »sozialen Systems« und seine Anwendung auf die unterschiedlichsten kulturellen Kontexte wurde jetzt auch aus den Sozialwissenschaften heraus nicht nur als ahistorisch und ethnozentrisch, sondern auch als ideologisch voreingenommen verurteilt. Denn wer behaupte, die soziale Welt funktioniere wie die »natürliche Welt« nach beobachtbaren Regelmäßigkeiten, »fixiere« vorübergehende soziale und politische Arrangements ‒ das hieß in diesem Fall die amerikanische politische Ordnung der Gegenwart ‒ zu vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten. Die behavioralistischen Sozialwissenschaften seien damit zutiefst autoritätsfreundlich und konservativ. Kritiker betonten jetzt, gerade die am Behavioralismus ausgerichteten Sozialwissenschaftler hätten »soziale Wirklichkeit« nicht ausschließlich »entdeckt« und »objektiv« untersucht, sondern selbst erst erzeugt. Im Jahr musste selbst Talcott Parsons eingestehen, der Behavioralismus sei eher ein »Glaubenssystem« als eine »neutrale Abbildung« der Realität. Damit öffnete sich das theoretische Feld der Sozialwissenschaften, das in den er Jahren schon weitgehend geschlossen schien, nun wieder für neue und alternative Ansätze und Weltdeutungen. Zentral ist hier der Aufstieg von Ansätzen, die heute als »konstruktivistisch« bezeichnet werden. Parallel zur »post-behavioralistischen Revolution« in den amerikanischen Sozialwissenschaften zogen auch in anderen Ländern und anderen Disziplinen Autoren wie Peter Berger und Thomas Luckmann in der Soziologie oder Michel Foucault in der Philosophie ab der zweiten Hälfte der er Jahre die Möglichkeit wertfreier, »objektiver« wissenschaftlicher Erkenntnis in Zweifel und betonten die Bedeutung von Sprache sowie die Zeit- und Standortgebundenheit allen Wissens.
Siehe etwa Gabriel Almonds Aussage von , die Sozialwissenschaften hätten nicht genügend Aufmerksamkeit auf die Folgen der Tatsache gelegt, dass sie sich von den »traditionelleren, geisteswissenschaftlich, historisch und moralisch ausgerichteten« Disziplinen immer mehr abgesondert hätten. Zit. nach Robin, The Making of the Cold War Enemy, S. . Goldschmidt, Democratic Theory (); McCoy/Playford, Introduction (), S. . Parsons, Editor’s Column (). Siehe auch Easton, The New Revolution in Political Science (); Berndtson, Political Science in the Era of Post-Behavioralism (). Jürgen Habermas diagnostizierte , »Kritik und Selbstkritik des Szientismus« seien »in vollem Gange«. Habermas, Erkenntnis und Interesse (), Nachwort zur . Aufl., S. . Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (); Foucault, Die Ordnung der Dinge (); Foucault, Archäologie des Wissens (). Zu entsprechenden Autoren und ihren Theorien existiert eine große Zahl an Überblickswerken. Die konstruktivistische Wende ist dagegen erst in Ansätzen historisiert worden. Vgl. bislang u. a. Kindtner, Strategien der Verflüssigung.
Das Ende der Hochmoderne In diesem disziplinären und erkenntnistheoretischen Umfeld markieren besonders die Jahre zwischen und einen Bruch mit dem seit dem späten . Jahrhundert etablierten Verständnis sozialer Entwicklung. Die daraus abgeleitete hochmoderne Sicht auf Interdependenz als »gesetzmäßige« Folge von Spezialisierung und Arbeitsteilung sowie als Verflechtung nationaler Einheiten, die in der Zukunft in einem Weltstaat aufgehen würden, war für nahezu einhundert Jahre bemerkenswert stabil geblieben. Jetzt wurde sie jedoch innerhalb weniger Jahre aus verschiedenen Richtungen in Zweifel gezogen: Ökonomen wie Richard Cooper betrachteten den Welthandel jetzt nicht mehr als Summe nationaler »Handelsbilanzen«, sondern als ein Netzwerk aus »Strömen« von Waren und Kapital. Aus dem »Weltmarkt« als Summe nationaler Teilmärkte wurde jetzt ein zusammenhängender »globaler Markt« als Betätigungsfeld multinationaler oder globaler Unternehmen. In der Soziologie wurden die großen »Klassiker« wie Émile Durkheim kritischer betrachtet. arbeitete Niklas Luhmann das im . Jahrhundert angelegte und bei Talcott Parsons fortgeführte Verständnis von »Gesellschaft« und sozialer »Evolution« heraus und eröffnete damit den Raum für Reflexion und Kritik. Damit wurde ein Prozess angestoßen, der nicht nur zu einem neuen Blick auf Interdependenz, sondern auch auf grundlegende Theorien, Begriffe und Perspektiven der Sozialwissenschaften führte: Der methodische Nationalismus, der ihre Weltsicht über einhundert Jahre lang geprägt hatte, wurde nun »denaturalisiert« und als Konstruktion offengelegt. argumentierte Friedrich Tenbruck, Gesellschaft sei nicht, wie lange angenommen, in der sozialen »Wirklichkeit« zu beobachten, sondern erst »aus dem Geist der Soziologie« geboren worden. Die alten Deutungen, Theorien und Begriffe schienen jetzt nicht mehr auf die beobachteten neuen Realitäten zu passen und waren verworfen oder neu gefüllt worden, ohne dass im Rahmen dieser »Bezeichnungsrevolutionen« sofort neue an ihre Stelle getreten wären. Mit dieser Erschütterung einer ganzen Reihe von Grundannahmen, die bis dahin die Weltdeutung der Sozialwissenschaften geprägt hatten, erhielt ein Problem neue Aufmerksamkeit, das bereits theoretisch-methodisch eingehegt schien: die »Komplexität« der Welt. Denn gerade die simplifizierenden Annahmen der Modernisierungstheorie und das scheinbar eindeutige methodische Gerüst des Behavioralismus hatten ebenso komplexitätsreduzierend gewirkt wie die hochmoderne Sicht auf soziale Entwicklung als »Evolution« von kleinen zu immer größeren Einheiten, als »Spezialisierung« und »Arbeitsteilung«, die beinahe zwangsläufig zu Interdependenz im Weltmaßstab führen mussten. Jetzt erschien die Welt dagegen (wieder) undurchdringlicher, die Zukunft ungewisser. Unvorhergesehene Entwicklungen Smith, Nationalism in the Twentieth Century (), S. f. Tenbruck, Emile Durkheim (), S. -, . Dazu die Beiträge in Leendertz/Meteling (Hg.), Die neue Wirklichkeit.
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und die negativen Folgen globaler Verflechtung traten stärker in den Blick. Sozialwissenschaftler mussten sich fortan mit immer mehr Details befassen, während sie sich doch gleichzeitig gar nicht mehr sicher sein konnten, ob und wie »Erkenntnis« überhaupt noch möglich war. Diese neuen Selbstzweifel führten zu einer tiefen Orientierungskrise der Sozialwissenschaften und verwandter Disziplinen, die sich in einer Fülle von »wozu noch?«-Literatur äußerte. Damit war eine neue Phase der »begrifflichen Unsicherheit« angebrochen, die durchaus mit der ersten »Krise der Wirklichkeit« um die Jahrhundertwende vergleichbar ist. Die er und er Jahre sind als veritabler Deutungsbruch anzusehen. Kritik am hochmodernen Verständnis globaler Verflechtung und an den Begriffen der Sozialwissenschaften hatte es jedoch schon länger gegeben. Besonders in den er und er Jahren waren schon einmal neue Begriffe und Konzepte wie »mondial« oder die »komplexe Interdependenz« entwickelt worden, die wegen der von den »Realisten« betriebenen damnatio memoriae später jedoch nicht mehr aufgegriffen wurden. Erklärungsbedürftig ist damit weniger, warum in den langen er Jahren Zweifel am hochmodernen Verständnis sozialer Entwicklungen und an den daraus abgeleiteten Begriffen aufkamen ‒ sie hatten die Sozialwissenschaften während ihrer gesamten Geschichte begleitet. Gefragt werden muss vielmehr, warum diese Kritik in den er und er Jahren solche Evidenz erlangen konnte, dass eine Reihe von bisherigen Grundsätzen, Theorien und Begriffen nachhaltig destabilisiert wurde. Einen Teil der Erklärung liefert sicher die Zunahme ökonomischer Interaktion und Verflechtung in den er Jahren. Im Laufe dieses Jahrzehnts nahm das Volumen des Welthandels um das Zweieinhalbfache zu. Durch die neue Bedeutung multinationaler Unternehmen und die weitere Integration des Finanzsektors erreichten heute als »Globalisierung« zusammengefasste Prozesse darüber hinaus eine neue Qualität. Gleichzeitig war die Zunahme globaler Interaktionen und Verflechtungen insgesamt keine neue Entwicklung. Welthandel, neue Kommunikationsformen und anderes mehr hatten schon die Zeitgenossen des . Jahrhunderts beschäftigt. Die Konjunktur solcher Debatten über globale Interdependenz verlief dabei ebenso in Wellen wie Prozesse der »Globalisierung« selbst. »Strukturelle« Prozesse und ihre Deutung folgten jedoch nicht unbedingt den gleichen Rhythmen. Eine Intensivierung globaler Verflechtung erzwang nicht automatisch eine neue Deutung globaler Zusammenhänge. Die Zunahme des Welthandels seit den er Jahren war etwa noch für eine ganze
Ähnlich auch Leendertz, Die pragmatische Wende, S. . Diese Diagnosen reichten von der US-amerikanischen Soziologie bis hin zur bundesdeutschen Geschichtswissenschaft. Siehe exemplarisch Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology (); Koselleck, Wozu noch Historie? (). Für die USA Rodgers, Age of Fracture. Für die Schweiz Kupper, Die »1970er Diagnose«, S. 342. Für die Bundesrepublik Leendertz/Meteling (Hg.), Die neue Wirklichkeit. Zur »begrifflichen Unsicherheit« mit Bezug auf die Zwischenkriegszeit Schulz-Forberg, Zero Hours.
Weile im hochmodernen Denkrahmen gedeutet worden. Erst um brach das hochmoderne Verständnis innerhalb relativ kurzer Zeit auf, vermeintlich neue Zusammenhänge und Akteure traten in den Blick. Um diesen Deutungsbruch zu erklären, muss der Blick auch auf die Entwicklung der Theorien, Begriffe und Perspektiven der Sozialwissenschaften und auf die Veränderung der politischen Zeitumstände gerichtet werden. Neben dem bislang kaum historisierten Evidenzgewinn poststrukturalistischer und konstruktivistischer Ansätze und den als krisenhaft empfundenen wirtschaftlichen und politischen Zeitumständen spielte hier erneut der Vergleich mit der unmittelbaren Vergangenheit eine zentrale Rolle: Es waren die »langen er Jahre«, die die Folie für die Sicht auf die eigene Gegenwart der späten er und frühen er Jahre bildeten. Das galt nicht nur für den Grad an beobachteter Interaktion und Verflechtung, sondern auch für den selbstbewussten Anspruch der Sozialwissenschaften, die Welt immer besser durchdringen zu können. Die seit ihrer Konsolidierung stets vorhandenen Zweifel an den Erkenntnismöglichkeiten der Sozialwissenschaften waren nach dem Zweiten Weltkrieg für einen kurzen Moment stillgestellt worden. Diese Ausnahmesituation wurde jedoch bald als »Normalzustand« betrachtet. Die er Jahre waren damit zu einer Deutungsschwelle geworden, vor die kaum ein Beobachter der er Jahre zurückblickte. Die eigene Gegenwart schien gegenüber allen vorangegangenen Zeiträumen völlig neuartig, vorher entwickelte Ansätze zu ihrer Untersuchung deshalb nicht mehr geeignet. Im Vergleich zu den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte die Situation der Sozialwissenschaften um zudem nur als Zeit des Niedergangs und der Orientierungslosigkeit erscheinen. Gleichzeitig erzeugte diese Situation jedoch auch die Möglichkeit, etablierte Deutungen und Begriffe infrage zu stellen und neue zu entwerfen. Solche Freiräume für eine Neuausrichtung des theoretisch-methodischen Arsenals der Sozialwissenschaften wurden auch von der Entspannungspolitik geschaffen. Denn die bisherige Deutung der Weltpolitik und Weltwirtschaft in den Kategorien des »Kalten Krieges« schien vielen Zeitgenossen Anfang der er Jahre überholt, eine neue Ära schien anzubrechen. Präsident Nixon stellte Mitte vor Pressevertretern fest, der Krieg in Vietnam habe dazu geführt, dass »sehr bedeutsame Veränderungen« der letzten Jahre bislang übersehen worden seien. Ein Jahr später erklärte seine Regierung in ihrem außenpolitischen Bericht an den Kongress, die »Nachkriegszeit« sei nun endgültig vorbei. Andere Beobachter Im Laufe der er Jahre verdoppelte sich zudem der Wert von grenzübergreifenden Kreditvergaben und Spareinlagen. Der Gesamtwert der weltweiten Exporte stieg von Milliarden US-Dollar im Jahr auf Milliarden US-Dollar im Jahr (nach dem Dollarwert von bereinigt). UNCTAD-Statistik nach Sargent, The Cold War, S. , Anm. . Zu den Kontinuitäten dagegen McKeown, Periodizing Globalization, S. . Nixon, Richard: Remarks to Midwestern News Media Executives in Kansas City, Missouri, . Juli , www.presidency.ucsb.edu/documents/remarks-midwestern-news-media-executives-attending-briefing-domestic-policy-kansas-city
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riefen zu dieser Zeit das Ende des »Kalten Krieges« aus: George F. Kennan entwarf in Foreign Affairs eine amerikanische Außenpolitik für die Zeit »nach dem Kalten Krieg«. Zbigniew Brzezinski reflektierte in derselben Ausgabe darüber, wie der Kalte Krieg »gespielt« worden sei. Der Spiegel erklärte den Konflikt mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki für »tot«. Die aus der Weltpolitik der frühen er Jahre abgeleitete Feststellung, jetzt in einer neuen Epoche zu leben, wechselwirkte mit Beobachtungen wachsender Interdependenz im ökonomischen Bereich. Auch deshalb entstand bei Zeitgenossen der Eindruck, jetzt unter völlig neuen Bedingungen zu agieren, zu deren Untersuchung die bisherigen Zugänge der Sozialwissenschaften nicht mehr taugten und zu deren politischer Steuerung neue Instrumente entwickelt werden müssten. Bei späteren Beobachtern schlugen sich das Ende der hochmodernen Weltsicht und der Deutungsbruch der langen er Jahre in der These nieder, in dieser Zeit habe die »Moderne« geendet und die »Postmoderne« begonnen. Der Prozess der Hinterfragung vermeintlicher Gewissheiten wurde bald selbst zum zentralen Merkmal einer neuen Epoche der »reflexiven Moderne« erklärt. Fasst man das spezifische Verständnis sozialer »Evolution« und wachsender Interdependenz als zentrale Merkmale der Hochmoderne, kann man an der Wende von den er zu den er Jahren durchaus deren Ende ansetzen. Obwohl das hochmoderne Verständnis wachsender Verflechtung immer weiter an Evidenz verlor, wurde »Interdependenz« zunächst jedoch noch nicht von einem alternativen Schlagwort zur Beschreibung der Gegenwart verdrängt. Der Begriff erwies sich als erstaunlich wandelbar. Auch vermeintlich neue Akteure und Zusammenhänge konnten unter dem alten Begriff eingeordnet werden. Vorstellungen wie die eines zusammenhängenden »globalen Marktes« konnten nicht erst unter dem Begriff der »Globalisierung« ausgedrückt werden, sondern wurden bereits im Rahmen der »Interdependenz« diskutiert. Doch gerade weil die etablierten Deutungen jetzt hinterfragt worden und bisherige Gewissheiten damit verloren gegangen waren, wurde wachsende Verflechtung Anfang der er Jahre zunehmend zu einem akuten politischen Problem. / galt sie Beobachtern gar als zentrales Signum eines neuen »Zeitalters der Interdependenz«. (..); Nixon, Richard: Second Annual Report to the Congress on United States Foreign Policy, . Feb. , www.presidency.ucsb.edu/documents/second-annual-report-the-congress-united-states-foreign-policy (..). Ähnlich auch Stern, The End of the Postwar Era (). Kennan, After the Cold War () und ähnlich bereits Kennan, To Prevent a World Wasteland (). Brzezinski, How the Cold War was Played (); Der Kalte Krieg ist tot. West-Erfolge auf der Europa-Konferenz, Der Spiegel, , S. - und auch Morgenthau, The New Diplomacy of Movement (), S. . Stöver, Der Kalte Krieg -, S. , , weist darauf hin, dass das »Ende des Kalten Krieges« seit dem Gipfeltreffen von Genf im Juni bei Fortschritten der Entspannungspolitik immer wieder ausgerufen worden war. Anfang der er Jahre häuften sich jedoch solche Diagnosen. Harvey, The Condition of Postmodernity (); Beck, Das Zeitalter der Nebenfolgen (). Vgl. dazu Welsch, »Postmoderne«; Bertens, The Idea of the Postmodern.
. Das Zeitalter der Interdependenz, - »Everyone agonizes about interdependence but no one seems to know quite what to do about it ‒ or even to agree what ›it‹ in fact is, either factually or conceptually.« Lincoln P. Bloomfield,
Im Jahr wurde Interdependenz zum politischen Problem. Dahinter standen ökonomische Schwierigkeiten, die Krise der nach errichteten »liberalen Weltordnung« und die Diagnose, dass der »Kalte Krieg« nun beendet und eine neue Epoche angebrochen sei. Vor allem durch die »erste Ölkrise« im Oktober wurden Fragen globaler Verflechtung jedoch sehr plötzlich in den Fokus der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Denn sie schien die Abhängigkeit der Industriestaaten von den Erdölproduzenten offenzulegen und damit die Richtung von Abhängigkeitsverhältnissen erstmals umzukehren. Auch im »globalen Süden« hatten verschiedene Akteure schon seit den er Jahren wachsende Verflechtung besonders im ökonomischen Bereich beobachtet, diese aber als einseitige Abhängigkeit der kolonialen und post-kolonialen »Peripherie« von den industrialisierten »Zentren« gedeutet. Die sogenannte »Dependenztheorie« wurde zur Grundlage politischer Forderungen nach einer gerechteren und demokratischeren Weltordnung. Mit der Ölkrise schien nun der Moment für die »Dritte Welt« gekommen, ihre Geschlossenheit und ihren neuen Einfluss zu nutzen, um eine für sie vorteilhaftere »Neue Weltwirtschaftsordnung« zu errichten. Vor diesem Hintergrund wurde »Interdependenz« um in den Vereinigten Staaten erstmals explizit als neue Rahmenbedingung und zentrale Herausforderung für die Politik benannt. Der Begriff wurde selbst zum Gegenstand ideologisch aufgeladener Debatten, aber auch zur Grundlage von politischen Strategien, die auf die Transformation der Weltpolitik und besonders auf die Herausforderung durch den »Süden« reagieren sollten. Besonders Henry Kissinger, Außenminister und Nationaler Sicherheitsberater der Regierung Nixon gründete seine Außenpolitik auf Diagnosen wachsender Interdependenz, wollte neue Akteure und neue Abhängigkeiten aber so weit wie möglich einhegen, um Diplomatie auf Basis der Supermächte-Kooperation betreiben zu können. Schon / wurde diese Politik jedoch von »Neoliberalen« und »Neokonservativen« herausgefordert, die einerseits eine entschlossenere Verteidigung des »freien Marktes« gegen Ambitionen globaler Planung, andererseits eine stärkere Betonung des Konflikts mit der Sowjetunion einforderten. Gerade dort lässt sich in dieser Zeit ebenfalls eine intensive Auseinandersetzung mit globalem Wandel beobachten. Sie fand unter ganz anderen politischen und ideologischen Voraussetzungen statt als in den USA und formierte Alker/Bloomfield/Alker, Analyzing Global Interdependence, Vol. I (), S. .
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sich nicht um den Begriff der »Interdependenz«, sondern um das Konzept der »wissenschaftlich-technischen Revolution«. Gleichzeitig beobachteten sowjetische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Debatten im »Westen« genau und zogen daraus politische Schlussfolgerungen, die denen ihrer westlichen Kollegen nicht unähnlich waren. Ihre Forderungen zielten weniger auf eine neue Weltordnung, als vielmehr auf eine weitere Annäherung an den »Westen«. Während der »Brežnev-Ära« fanden sie dafür jedoch nur sehr bedingt Gehör bei der sowjetischen Führung. Den Höhepunkt der Wechselwirkung von Interdependenzdiagnosen und politischen Programmen stellte die Amtszeit der Regierung Carter zwischen und dar. Deren außenpolitische Strategie baute stark auf Empfehlungen der Trilateralen Kommission auf. Diese Organisation bestand aus einflussreichen Persönlichkeiten verschiedener gesellschaftlicher Bereiche in Nordamerika, Westeuropa und Japan, die seit über Fragen der Weltpolitik und Weltwirtschaft diskutiert hatten. In verschiedenen Studien hatte die Kommission empfohlen, weniger Aufmerksamkeit auf den Wettbewerb mit der Sowjetunion zu legen und auf Diagnosen einer profunden »Krise der Interdependenz« mit verstärkter internationaler Kooperation zu reagieren. Besonders über Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski wurden diese Ideen in eine außenpolitische Strategie übersetzt und kulminierten im Versuch der Regierung Carter, die Vereinigten Staaten an die Spitze globalen Wandels zu setzen, um so Interdependenz aktiv zu steuern. Das Scheitern dieser Bemühungen und die Krise der Entspannungspolitik läuteten schließlich auch eine neue Phase der Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung in den er Jahren ein.
. Ölkrise und Neue Weltwirtschaftsordnung, / Das zentrale Ereignis, das die Interdependenztheorie aus der relativen Abgeschiedenheit akademischer Debatten ins Licht der Öffentlichkeit katapultierte, war die sogenannte »erste Ölkrise« im Oktober . Nachdem Israel am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur von Ägypten und Syrien angegriffen worden war, unterstützte die Regierung Nixon das Land mit einer großangelegten Luftbrücke. Die in der Organization of Arab Petrol Exporting Countries (OAPEC) organisierten arabischen Förderländer beschlossen deshalb auf Initiative SaudiArabiens, die »Ölwaffe« ins Spiel zu bringen und kündigten am . Oktober eine monatliche Reduzierung der Ölproduktion um mindestens Prozent sowie ein Lieferembargo gegen die Vereinigten Staaten, die Niederlande und potenziell alle anderen Länder an, die Israel unterstützten. Die Maßnahmen soll-
»Krise der Interdependenz« bei Keohane, Crisis of Interdependence (). Zum Zusammenhang zwischen Ölkrise und Interdependenztheorie Graf, Öl und Souveränität, S. -.
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ten so lange gelten, bis sich Israel vollständig aus den »besetzten Gebieten« zurückgezogen habe; allerdings wurden sie im März weitgehend aufgehoben. Eine von diesem Konflikt eigentlich unabhängige Entwicklung, die die Auswirkungen der Maßnahmen der OAPEC aber noch verstärkte, war die bereits Anfang Oktober erfolgte einseitige Aufkündigung des bisherigen Preisbildungsverfahrens durch die Organization of Petrol Exporting Countries (OPEC). Die OPEC war gegründet worden, um die absolute Dominanz der großen westlichen Mineralölkonzerne zu brechen. Durch die Schwäche des US-Dollars, durch den alle Ölgeschäfte abgerechnet wurden, waren die Einkünfte der Förderländer / stark gesunken und die bisherige Praxis der Aushandlung des Ölpreises mit den Ölkonzernen für diese Länder unattraktiv geworden. Das Ende des bisherigen Preisbildungsverfahrens und die Reduzierung der Fördermenge führten zusammen zu einer Vervierfachung des Ölpreises im Laufe des Jahres (gegenüber sogar eine Verzehnfachung). In Verbindung mit dem Lieferembargo wurde diese Entwicklung zeitgenössisch als eine zusammenhängende »Ölkrise« wahrgenommen, der eine über die kurzfristigen Preis- und Versorgungsschwierigkeiten hinausgehende Bedeutung zugeschrieben wurde: Die New York Times behauptete Ende , in diesem Jahr sei die Ära eines bis dahin noch nie da gewesenen Wachstums zu Ende gegangen ‒ eine Deutung, die zunächst von der Geschichtswissenschaft übernommen, von neueren Arbeiten jedoch relativiert worden ist.
Die »Geburtswehen der Interdependenz« ‒ Reaktionen auf die Ölkrise Obwohl Präsident Nixon bereits zum ersten Mal über das Thema Energie gesprochen und im April vor der »lebenswichtigen Energie-Herausforderung« gewarnt hatte, maßen zeitgenössische Beobachter der Ölkrise große symbolische Bedeutung zu, auch weil sie mit einer Reihe von längerfristigen, nur schwer an konkreten Ereignissen festzumachenden Entwicklungen zusammenfiel. Der steigende Ölpreis hatte die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der USA Dazu Hohensee, Der erste Ölpreisschock, S. -. Resolution for a New Era, NYT, . Jan. , S. . als einschneidende Zäsur u. a. bei Yergin, Der Preis, S. f.; Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, S. ; Maier, Two Sorts of Crisis?; Frieden, Global Capitalism; Killen, Nervous Breakdown; Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland, -, S. -. Eine skeptischere Sicht bei Hohensee, Der erste Ölpreisschock; Graf, Gefährdungen der Energiesicherheit und Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Nixon, Richard: Special Message to the Congress on Energy Resources, . Juni , www. presidency.ucsb.edu/documents/special-message-the-congress-energy-resources; Nixon, Richard: Special Message to the Congress on Energy Policy, . April , www.presidency. ucsb.edu/documents/special-message-the-congress-energy-policy (beide ..). Noch im Juni des Jahres waren deshalb ein Energy Policy Office gegründet und Forschungsprogramme zur effizienteren Energienutzung aufgelegt worden. Vgl. Graf, Claiming Sovereignty, S. .
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nicht verursacht, sie teilweise aber noch verschärft: trat eine Inflationsrate von zeitweise Prozent in Kombination mit der schlimmsten Rezession seit den er Jahren auf. Nach durchschnittlich fast Prozent jährlichem Wachstum zwischen und wuchs die US-Wirtschaft nur noch um Prozent, schrumpfte sie sogar. Auch die Arbeitslosenzahlen erreichten die FünfMillionen-Marke, das amerikanische Handelsbilanzdefizit stieg im August des Jahres auf einen neuen Rekord von , Milliarden Dollar. Die im Keynesianismus vorausgesetzte klare Abgrenzbarkeit ökonomischer und politischer Einheiten sowie die Planungs- und Steuerungskompetenz staatlicher Stellen wurden damit fragwürdig ‒ Veränderungen, die dem Prozess wachsender Interdependenz zugeschrieben wurden. Die Wahrnehmung der Entwicklungen im Bereich der Erdölversorgung ab Oktober als akute und profunde »Krise« ist nur vor dem Hintergrund dieser mehrdimensionalen Problemlage zu verstehen. Anfang Dezember diagnostizierte der Economist eine »simultane Krise der Führungsstärke, Wirtschaft und Energie«. Denn neben der ökonomischen waren die USA aus der Sicht zeitgenössischer Kommentatoren auch mit profunder politischer Instabilität konfrontiert: Der Watergate-Skandal hatte Nixons öffentliche Zustimmungsrate im Laufe des Jahres von auf Prozent abstürzen lassen. Schon deshalb wollte die Regierung ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen und beschloss eine Reihe von Sofortmaßnahmen: Die Sommerzeit wurde auf das gesamte Jahr ausgedehnt, Energiesparen wurde zur patriotischen Pflicht aller Bürger erklärt und schließlich wurde als symbolische Maßnahme sogar der Weihnachtsbaum im Weißen Haus nur noch reduziert beleuchtet. »Energie« wurde jetzt zu einem eigenen Politikfeld, Institutionen wurden neu gegründet, die vor Dazu Sandbrook, Mad as Hell, S. -. Für zeitgenössische Erklärungsversuche siehe Hirsch/Goldthorpe (Hg.), The Political Economy of Inflation (). Zahlen bei Angus Maddison, The World Economy: Millennial Statistics, www.theworldeconomy.org (..). Darauf weist Maier, Two Sorts of Crisis?, S. hin. Dabei lässt sich auch fragen, in wieweit die Deutung der Ereignisse im Umfeld der Ölkrise als bedrohlich und krisenhaft nicht stets ein Elitenphänomen blieb. Denn weite Teile der Bevölkerungen westlicher Länder spürten jenseits der medialen Berichterstattung kaum unmittelbare Konsequenzen. Vgl. Ferguson, Crisis, What Crisis?, S. ; Doering-Manteuffel/Raphael, Der Epochenbruch in den er-Jahren, S. . Into the Dark, The Economist, . Dez. , S. . Von einer »Krise« sprach auch Nixon, Richard: Address to the Nation About Policies To Deal With the Energy Shortages, . Nov. , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the-nation-aboutpolicies-deal-with-the-energy-shortages und Nixon, Richard: Address to the Nation About National Energy Policy, . Nov. , www.presidency.ucsb.edu/documents/ address-the-nation-about-national-energy-policy (beide ..). Gallup (Hg.), The Gallup Poll -, Vol. I (), S. , . Diese Rhetorik Nixons hatte schon vor der Ölkrise eingesetzt, siehe etwa Nixon, Richard: Special Message to the Congress on Energy Policy, . April , www.presidency. ucsb.edu/documents/special-message-the-congress-energy-policy und Nixon, Richard: Statement Announcing Additional Energy Policy Measures, . Juni , www.presi-
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allem die Handlungsfähigkeit und Sachkompetenz der Regierung unter Beweis stellen sollten. Der teils hektische Aktionismus der Regierung blieb allerdings nicht nur weitgehend wirkungslos, sondern verstärkte den Eindruck der Krisenhaftigkeit noch weiter. Am . August sah sich Nixon infolge des Watergate-Skandals auch noch gezwungen, vom Amt des US-Präsidenten zurückzutreten, um einem Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen. Nachfolger wurde Vizepräsident Gerald Ford, der auf seiner ersten Pressekonferenz allerdings nicht die Energieversorgung, sondern die Inflation zum »public enemy number one« erklärte. Doch auch unter Ford stabilisierte sich die ökonomische wie innenpolitische Situation kaum. Ende zeichnete Colman McCarthy in der Washington Post ein düsteres Bild der Gegenwart: Die Bürger der Vereinigten Staaten lebten in einer »Zeit des Zusammenbruchs« und könnten nur noch darauf hoffen, sich an die Probleme ihres Landes zu gewöhnen, nicht mehr darauf, sie zu überwinden. Henry Kissinger war die zentrale Figur, wenn es darum ging, eine amerikanische Antwort auf die Ölkrise und auf die weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre zu formulieren. Auch unter Präsident Ford bekleidete er das Amt des Außenministers und bis Ende auch das des Nationalen Sicherheitsberaters. Für ihn lag die zentrale Bedeutung der Ölkrise weniger in ihren unmittelbaren ökonomischen, als vielmehr ihren langfristigen politischen Folgen. Er deutete sie im Rahmen des binären Nullsummenspiels des Kalten Krieges und wollte vor allem den Eindruck vermeiden, der Westen könne erpressbar sein. Denn in diesem Fall drohe eine Schwächung des amerikanischen zugunsten des sowjetischen Einflusses im Mittleren Osten. Die Regierung Nixon versuchte deshalb einerseits, einen Waffenstillstand im Jom-Kippur-Krieg zu erreichen, andererseits Stärke zu demonstrieren und eine möglichst geschlossene Front der betroffenen erdölimportierenden Länder (»consumer block« oder »counterOPEC«) herbeizuführen. Hier wollten die USA die Führungsrolle übernehmen und damit ihre Hegemonie im transatlantischen Bündnis mithilfe der Ölkrise
dency.ucsb.edu/documents/statement-announcing-additional-energy-policy-measures (beide ..). Das Energy Policy Office der Regierung wurde im Dezember zum Federal Energy Office aufgewertet. Im Juni wurde die Federal Energy Adminstration unter John Sawhill eingerichtet, die im September im neu gegründeten Department of Energy aufging. Transcript of Ford’s First News Conference Since He Assumed the Presidency, NYT, . Aug. , S. . Colman McCarthy, Washington Post, . Dez. , zit. nach Perlstein, The Invisible Bridge, S. . Vgl. Graf, Gefährdungen der Energiesicherheit, S. -. Sargent, The United States and Globalization, S. betont die Bedeutung der Ölkrise für die Transformation von Kissingers Weltsicht. Suri, Henry Kissinger and the American Century dagegen verortet deren Ursachen dagegen bereits in den er Jahren.
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bekräftigen. Überhaupt wies Kissinger der »Energiekrise« eine zentrale Bedeutung für das zukünftige Schicksal der USA und der Welt zu: Sie stehe für die »Geburtswehen globaler Interdependenz«. Keine Nation, nicht einmal eine so mächtige wie die Vereinigten Staaten, könne die damit verbundenen Probleme allein lösen. Wie das westliche Bündnis jetzt auf diese Krise reagiere, werde entscheidend bestimmen, ob es die »internationale Agenda der Zukunft« bewältigen könne oder nicht. Doch gerade die Beziehungen der USA zu ihren Verbündeten, weniger Versorgungsprobleme oder Preissteigerungen, bereiteten der amerikanischen Regierung die größten Sorgen. Denn die transatlantischen Beziehungen waren ohnehin angespannt: Bereits existierende Probleme hatten sich Ende der er Jahre vor dem Hintergrund von Vietnamkrieg und beginnender Entspannungspolitik verschärft. Das Ende des Währungssystems von Bretton Woods und besonders die Art, wie es zustande gekommen war, trug zu weiteren Verstimmungen im transatlantischen Verhältnis bei. Auch für die Frage der transatlantischen Beziehungen lässt sich beobachten, dass sie eng mit anderen Problembereichen, insbesondere den innenpolitischen Unruhen in den Vereinigten Staaten, den daraus resultierenden Selbstzweifeln sowie mit der Diagnose einer interdependenten Welt verbunden war. Zunehmende ökonomische Verflechtung führte auch zu wachsender Konkurrenz zwischen den USA, Japan und Westeuropa, während gleichzeitig Tendenzen zu einer Nationalisierung oder Regionalisierung der Wirtschaftspolitik zu beobachten waren. Eine Neubestimmung der transatlantischen Beziehungen in diesem Gefüge schien damit dringend nötig. »Wirtschaftliche Interdependenz ist eine Tatsache« erklärte Kissinger im Oktober . Das westliche Bündnis müsse Antworten auf die paradoxe Situation finden, dass wechselseitige Abhängigkeiten immer stärker zunähmen, während gleichzeitig nationale und regionale Identitätsangebote wieder mehr Anhänger fänden. Secretary’s Staff Meeting, . Okt. , DNSA KT, https://search.proquest.com/ docview/?accountid= (..), bes. S. , . Dazu auch Graf, Making Use of the »Oil Weapon«; Painter, Oil and Geopolitics. Kissinger, Henry A.: Major Oil-Consuming Countries Meet at Washington. Statement by Secretary Kissinger, . Feb. , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . März , Washington D. C. , S. -, hier . Siehe u. a. Doc. : Information Memorandum From the Assistant Secretary of State for European Affairs (Hillenbrand) to Secretary of State Rogers, Washington, . Nov. : Tensions in US Relations with Europe, in: FRUS -, Volume XLI, Western Europe; NATO, -, Washington D. C. , S. -; Mayne, The New Atlantic Challenge (). Das betont besonders Leendertz, Interdependenz. Vgl. dazu auch Lundestad, The United States and Western Europe; Marcowitz, Im Spannungsverhältnis von Amerikanisierung; Schulz/Schwartz (Hg.), The Strained Alliance. Kissinger, Henry A.: The United States and a Unifying Europe: The Necessity for Partnership, Address by Secretary Kissinger, made before the Pilgrims of Great Britain at London on Dec. , , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Dez. , Washington D. C. , S. -, hier: .
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Um das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und ihren westeuropäischen Verbündeten zu verbessern, hatte Kissinger schon im April das Jahr zum »Year of Europe« erklärt und eine erneuerte Atlantik-Charta vorgeschlagen, in die auch das Thema Energie aufgenommen werden sollte. Diese Bemühungen hatten allerdings nicht die erhofften Ergebnisse gebracht. Im Herbst kam noch die Ölkrise hinzu. Kissinger befürchtete, die Westeuropäer und Japan könnten in Panik geraten und in bilateralen Gesprächen Kompromisse mit den arabischen Erzeugerländern aushandeln. Besonders die Europäer verhielten sich »wie Schakale« und gewährten den Vereinigten Staaten keine Unterstützung, als sie diese wirklich brauchten, klagte er in internen Gesprächen. Die zentrale Herausforderung für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten sei es deshalb nicht, wie der Wettbewerb mit ihren Gegnern reguliert, sondern wie ihre Freunde zu der »Erkenntnis gebracht werden können, dass es größere gemeinsame Interessen gibt als einfache Selbstbehauptung«. Die Europäer befürchteten hingegen, dass es der US-Regierung vor allem darum gehe, bei der Erdölversorgung autark zu werden. Denn im November hatte Nixon das Project Independence angekündigt und dazu aufgerufen, »im Geiste von Apollo, mit der Entschlossenheit des Manhattan Projekts« daran zu arbeiten, die Vereinigten Staaten bis von ausländischen Energiequellen unabhängig zu machen. Dazu seien Einsparungen nötig, es sollte aber auch die eigene Erdölförderung gesteigert und durch die Entwicklung neuer Technologien die Effizienz der Energienutzung erhöht werden. Mehr als vierhundert Personen aus verschiedenen Regierungsabteilungen arbeiteten an dem Projekt, für das zwischen August und Oktober zehn öffentliche Anhörungen mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Interessengruppen stattfanden. Schon bald galt das Projekt jedoch als Fehlschlag; die meisten Experten glaubten ohnehin, dass Energieunabhängigkeit nicht umsetzbar und auch gar nicht erstrebenswert war. Kissinger, Henry A.: The Year of Europe, Address Made before the Annual Meeting of the Associated Press Editors at New York, N. Y., on Apr. , , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Mai , S. -. Doc. : Minutes of the Secretary of State’s Staff Meeting, Washington, . Okt. , : p. m., in: FRUS -, Volume XXV, Arab-Israeli Crisis and War, , Washington D. C. , S. -, hier: . Siehe zudem die in Schwarz, Hans-Peter/ Kroll, Frank-Lothar/Nebelin, Manfred u. a.: Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, , München , S. -, -, -, abgedruckten Quellen. The Times, . März , zit. nach Kaldor, The Disintegrating West (), S. . Angekündigt in Nixon, Richard: Address to the Nation About Policies to Deal With the Energy Shortages, . Nov. , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-thenation-about-policies-deal-with-the-energy-shortages (..). Vgl. dazu Graf, Öl und Souveränität, S. -. Für negative Kommentare siehe Cowan, Edward: Energy Volunteerism, NYT, . Nov. , S. ; Energy Gap, NYT, . Nov. , S. ; The Thermostat, Oil and Independence, WP, ... Zu den Experten Federal Energy Administration, Project Independence Blueprint (); Federal Energy Administration, Project Independence
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Die Befürchtungen der europäischen Verbündeten, dass sie durch einen neuen amerikanischen Protektionismus ökonomisch und energiepolitisch »abgekoppelt« werden könnten, wollte Kissinger mit dem Versprechen besänftigen, Project Independence diene lediglich als eine »Zwischenstation« auf dem Weg zu einem neuen transatlantischen Project Interdependence. Die USA seien bereit, technologische Errungenschaften zu teilen und ihr Vorgehen multilateral abzustimmen. Der Begriff der »Interdependenz« war nun jedoch selbst zum Streitpunkt in den transatlantischen Beziehungen geworden: Die US-Regierung hatte die Feststellung, dass Westeuropa und Nordamerika auf allen Gebieten »wechselseitig interdependent« seien, im November in eine gemeinsame Erklärung mit der EWG aufnehmen wollen. Dagegen sprachen sich jedoch nicht nur die französischen Neo-Gaullisten aus, die stattdessen Begriffe wie »Dialog« und »Unabhängigkeit« einfügen wollten. Kritiker sahen Kissingers Rhetorik der transatlantischen Interdependenz als Versuch, die amerikanische Dominanz über Europa zu festigen und die »imperialistischen« Ziele der USA zu verschleiern. Ende sah sich Kissinger deshalb genötigt zu erklären, »die Beteuerung des allgegenwärtigen Charakters unserer Interdependenz« sei kein »Instrument der Erpressung«. Vielmehr seien nationale Alleingänge, das betonte er Anfang immer wieder, in einer interdependenten Welt unmöglich geworden, wofür die Ölkrise als »Beispiel par excellence« stehen könne. Mitte Februar lud die US-Regierung zu einer Energiekonferenz nach Washington ein, auf der die erdölimportierenden Staaten ihre Positionen koordinieren sollten, um effektiver mit den Förderländern zu verhandeln. Damit wollte die US-Regierung auch dem beunruhigenden Eindruck der »Unfähigkeit« entgegenwirken, den die Europäer aus ihrer Sicht vermittelten.
Report (), bes. S. -. Dazu auch Mieczkowski, Gerald Ford, S. -; Graf, Claiming Sovereignty, S. -. Kissinger, Henry A.: Major Oil-Consuming Countries Meet at Washington. Statement by Secretary Kissinger, . Feb. , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . März , Washington D. C. , S. -, hier: , Hervorhebung MD. Dazu Schulz-Walden, Anfänge globaler Umweltpolitik, S. -. Goldsborough, France, the European Crisis, S. . Calleo/Rowland, America and the World (), S. . Kissinger, Henry A.: The United States and a Unifying Europe: The Necessity for Partnership, Address by Secretary Kissinger, made before the Pilgrims of Great Britain at London on Dec. , , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Dez. , Washington D. C. , S. -. Secretary Kissinger’s News Conference of January , in: Department of State Bulletin Vol. , No. , . Jan. , Washington D. C. , S. -, hier: . Siehe auch Kissinger on Interdependence, Boston Globe, . Dez. , S. ; Telcon Winston Lord/Secretary Kissinger, . Feb. , : PM, https://search.proquest.com/dnsa/ docview//EBEBCEFEFPQ (..). Doc. : Memorandum of Conversation, Energy Conference, Washington, . Feb. , in: FRUS -, Volume XXXVI: Energy Crisis, -, Washington D. C. , S. -.
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In seiner Eröffnungsansprache auf der Washingtoner Energiekonferenz nutzte Kissinger daher die gestiegene ökonomische Interdependenz der »westlichen Welt« als zentrales Argument dafür, dass uni- oder bilaterale Herangehensweisen nur zu negativen Ergebnissen für alle Beteiligten führten. Die Industriestaaten seien vor die Wahl gestellt, ob sie sich weiter in »nationalistischen Rivalitäten« aufreiben wollten, die die neuen »Gegebenheiten der Interdependenz« »selbstmörderisch« gemacht hätten, oder ob sie ihre Interdependenz anerkennen und kooperative Lösungen anstreben wollten. Im ersten Fall, das fügte Kissinger intern hinzu, drohe nicht nur der Zusammenbruch des internationalen Energiemarktes, sondern auch das Ende der amerikanischen wirtschaftlichen Führungsstellung. Ungeachtet solcher Bemühungen der USA hatten die Mitgliedsstaaten der EWG schon Ende beschlossen, in Zukunft eine gemeinsame Außenpolitik zu verfolgen. Von Kissingers Plänen von Anfang der er Jahre, eine »Atlantic Confederacy« als ein beinahe föderales System mit gemeinsamer Kontrolle über Nuklearwaffen zu errichten, war ein Jahrzehnt später nicht mehr viel geblieben.
Nord-Süd-Beziehungen und Interdependenz Im Zuge der Ölkrise wurden jedoch vor allem die »Nord-Süd-Beziehungen« zur zentralen Herausforderung für die amerikanische Außenpolitik. Ihre Bedeutung schien für eine Weile die des transatlantischen Verhältnisses und der Beziehungen zum »Osten« zu übertreffen. Dabei spielten Interdependenz-Diagnosen eine ganz besondere Rolle. Denn diese wurden nun zur Begründung ganz unterschiedlicher Positionen zur weiteren Ausgestaltung der politischen und ökonomischen Weltordnung eingesetzt. Als Startpunkt eines koordinierten Auftretens der Staaten der sogenannten »Dritten Welt« in der internationalen Politik gilt die Konferenz von Bandung, zu der sich im April die Vertreter von asiatischen und afrikanischen Regierungen sowie von mehreren antikolonialen Bewegungen in Indonesien versammelt hatten. Dort sprachen sie sich für eine Politik der Block- beziehungsweise Bündnisfreiheit im Kalten Krieg aus. Gleichzeitig ging es ihnen darum, die politische Dekolonisation voranzutreiben: Die Abschlusserklärung bekräftigte das Prinzip der »Selbstbestimmung der Völker und Nationen« als Grundlage Kissinger, Henry A.: Major Oil-Consuming Countries Meet at Washington. Statement by Secretary Kissinger, . Feb. , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . März , Washington D. C. , S. -, hier: . Kissinger Staff Meeting, . Jan. , NARA, RG , Office of the Secretary of State, Transcripts of Staff Meetings, Box ; Memorandum of Conversation (Nixon, Kissinger, Shultz, Simon, Scowcroft), . Feb. , GFPL, NSA Kissinger Memcons, box . Kissinger, Henry A.: For an Atlantic Confederacy, in: The Reporter, . Feb. ; Kissinger, The Troubled Partnership (). Zur europäischen Außenpolitik Möckli, Europe’s Distinct Identity.
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aller anderen Menschenrechte und beschwor staatliche »Souveränität«, »territoriale Integrität«, die »Gleichberechtigung« der Staaten und die »Nichteinmischung in innere Angelegenheiten«. Ihre Leitvorstellung war in den Worten von Jörg Fisch eine »von Kolonialismus und Fremdherrschaft befreite Welt, die in selbstbestimmte souveräne Einheiten aufgeteilt ist«. In Bandung ging es jedoch nicht nur um »Blockfreiheit«, »dritten Weg« und staatliche Unabhängigkeit in einer Welt nach dem Ende der Kolonialreiche. Gleich mehrere Akteure sprachen auch von einer schrumpfenden und interdependenten Welt, auf deren Neuordnung sie im Sinne der post-kolonialen Staaten und antikolonialen Bewegungen Einfluss nehmen wollten. Sie beschworen deshalb die »transnationale Solidarität der Opfer von Rassismus und Kolonialismus« und wollten eine eigene, von seinen »bürgerlichen« oder »sozialistischen« Varianten unabhängige Version des »Internationalismus« ins Leben rufen. Auch wenn »Bandung« kaum zu greifbaren politischen Ergebnissen führte, kam der Konferenz hier eine große symbolische Bedeutung zu. Denn gerade ihre mediale Vermittlung erzeugte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit der Länder einer nun selbstbewussten »Dritten Welt«. Sichtbares Zeichen der neuen Verhältnisse war die am . Dezember von der UN-Generalversammlung verabschiedete »Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker«. Sie forderte die »unverzügliche und bedingungslose Beendigung« jeder Form des Kolonialismus. Dagegen setzte die Resolution das Recht auf »nationale Selbstbestimmung« sowie den Schutz von »nationaler Einheit und territorialer Integrität«. Die Wirtschaftsspolitik der »jungen Staaten« folgte zunächst noch Strategien, die in der Kolonialzeit entworfen worden waren. Zusammen mit den Rezepten der Modernisierungstheorie führten sie zu einer Politik der »Importsubstitution«, die Einfuhren mittels einer forcierten Industrialisierung und des Ausbaus der Infrastruktur durch eigene Produkte ersetzen sollte. Das damit verbundene Final Communique of the Asian-African Conference, in: The Ministry of Foreign Affairs, Republic of Indonesia (Hrsg.): Asia-Africa Speaks from Bandung, Djakarta , S. -, hier: ; Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, S. . Dazu ausführlicher Deuerlein, Inter-Dependenz. Vgl. Amrith, Asian Internationalism. In diesem Sinne auch Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. . Dieses Argument macht Vitalis, The Midnight Ride of Kwame Nkrumah. Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. betont, dass die Bewegung der bündnisfreien Staaten nicht direkt aus der Konferenz von Bandung hervorgegangen sei. Vgl. zudem Lee (Hg.), Making a World after Empire; Mišković/Fischer-Tiné/Boškovska Leimgruber (Hg.), The Non-Aligned Movement; Lüthi, The Non-Aligned Movement. Resolution der Generalversammlung (XV). Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker, . Dez. , www.un.org/depts/ german/gv-early/ar-xv.pdf (..). Zehn Jahre später wurde der »Kolonialismus in allen seinen Formen und Erscheinungen« sogar zu einem Verbrechen erklärt. UN-Generalversammlung, Resolution (XXV), . Okt. , Art. I, https://digitallibrary.un.org/record//files/A_RES_XXV-EN.pdf (..).
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Ziel war (noch) nicht die Abkopplung vom Weltmarkt, wohl aber eine möglichst umfassende staatliche Kontrolle über die Wirtschaftspolitik. Die durch solche Strategien induzierte fünfzehn- bis zwanzigjährige Phase ökonomischen Wachstums kam jedoch in der zweiten Hälfte der er Jahre an ihr Ende. Nun wurde deutlich, dass weder Industrialisierung und Importsubstitution noch die »UN-Entwicklungsdekade« die erhofften Erfolge gebracht, sondern lediglich zu einer Verschiebung von Abhängigkeiten geführt hatten: Anstelle fertiger Produkte mussten nun Bauteile oder Wissen importiert werden. Gleichzeitig waren die »entwickelten Industriestaaten« nicht bereit, die für sie vorteilhaften Bedingungen des Welthandels grundlegend zu verändern. Ab Mitte der er Jahre begannen deshalb solche ökonomischen Fragen die politischen im NordSüd-Verhältnis zu überlagern, auch weil die formale Dekolonisation mit Ausnahme des portugiesischen Kolonialreiches mittlerweile weitgehend abgeschlossen war. Während wachsende ökonomische Verflechtung mit der »entwickelten« Welt bis dahin Teil des »Entwicklungsversprechens« gewesen war, wurde sie nun von Akteuren aus dem »Süden« zunehmend negativ bewertet. Als zentrales Problem galten jetzt »multinationale Unternehmen«: Obwohl Anfang der er Jahre auch in Europa eine entsprechende Diskussion einsetzte, war die Problematik zuerst für die »Dritte Welt« thematisiert worden. Denn über die politische Dekolonisation hinaus waren europäische und teilweise nordamerikanische Unternehmen oft Eigentümer von Betrieben und Rohstoffvorkommen in den nun formal unabhängigen Ländern geblieben. Diese Situation wurde zunehmend als Bedrohung der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaftspolitik und der gerade erst errungenen »Souveränität« empfunden. Zudem hatten Akteure aus dem »Süden« das Gefühl, solchen Zusammenhängen hilflos ausgeliefert zu sein: Die postkolonialen Staaten waren nun zwar »souverän« und konnten nationale Entwicklungsstrategien verfolgen. Sie waren gleichzeitig aber nach wie vor ökonomisch auf den Export von Rohstoffen ausgerichtet und hier wie beim Import von Nahrungsmitteln stark von Preisschwankungen auf dem Weltmarkt abhängig, auf die sie keinen Einfluss hatten. Damit mussten sie erkennen, dass sie trotz ihrer mühsam errungenen »Souveränität« letztlich doch keine »effektive Macht« über wirtschaftliche Entwicklungen hatten.
Vgl. Cooper, Africa since , S. -; Maddison, The World Economy (), S. . Zwischen und soll der Anteil des Handels zwischen »entwickelten« und »unterentwickelten« Ländern am gesamten Welthandel gar bei Prozent gelegen haben. Siehe Hoogvelt, Globalisation, S. -. Zu dieser »Wende« Decker, Dekolonisation der Wirtschaft?, S. f. Dazu Kapitel .. Nyerere, McDougall Memorial Lecture () und The Process of Liberation. Rede an der Ibadan Universität, Nigeria, . Nov. , zit. nach Kunkel, Geschichte des NordSüd-Konflikts, S. .
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Die Dependenztheorie Eine theoretisch fundierte Erklärung für die Ursachen dieser Beobachtung boten dabei Ansätze, die seit den er Jahren in Lateinamerika in Auseinandersetzung mit den Beziehungen der Region zu den Vereinigten Staaten entwickelt worden waren. Sie legten eine langfristige Perspektive an und stellten fest, dass der europäische Kolonialismus nahezu alle Weltregionen in wirtschaftliche Verflechtungszusammenhänge gezwungen habe. Anders als die von ihnen explizit kritisierten Interdependenz-Theoretiker in den Vereinigten Staaten gingen sie nicht von wechselseitigen, sondern von sehr einseitigen Abhängigkeitsverhältnissen aus. Unter dem Label der »Dependenztheorie« dienten solche Ansätze als intellektuelles Fundament für politische Bemühungen, die strukturellen Bedingungen der Weltwirtschaft durch die Errichtung einer »Neuen Weltwirtschaftsordnung« grundlegend zu verändern. Um diese Argumentation zu verstehen, muss zunächst ein Blick zurück in die er Jahre geworfen werden: stellte der Ökonom und ehemalige Direktor der argentinischen Zentralbank Raúl Prebisch die These auf, die südamerikanischen Volkswirtschaften seien seit der Kolonialzeit vom Verkauf von Rohstoffen abhängig, für die sie wiederum verarbeitete Produkte importierten. Dabei waren sie in Prebischs Sicht als »Peripherie« strukturell von den industrialisierten »Zentren« Europas und Nordamerikas abhängig. David Ricardos These der komparativen Kostenvorteile, nach der alle beteiligten Seiten von internationalem Handel profitierten, gelte unter diesen Bedingungen nicht. Vielmehr verschlechterten sich die Handelsbedingungen immer weiter zum Nachteil der noch nicht industrialisierten Länder. Parallel zu Prebisch hatte auch der deutsch-britische Ökonom Hans Wolfgang Singer an einer vergleichbaren Argumentation gearbeitet ‒ daher spricht die Literatur auch von der »PrebischSinger-These«. »Unterentwicklung« war für die Anhänger dieser These damit keine »Phase« mehr, die jede »Gesellschaft« irgendwann einmal durchlaufen musste. Vielmehr erklärten sie das beobachtete starke Wohlstandsgefälle zunächst mit dem Fortdauern kolonialer Handelsstrukturen ‒ dem Austausch von Rohstoffen und Agrarprodukten gegen verarbeitete Güter ‒ die ehemalige Kolonien im kapitalistischen Weltwirtschaftssystem weiterhin benachteiligten. Der in Chile lebende deutsch-amerikanische Ökonom André Gunder Frank machte im Jahr mit
Für einen Überblick über die Debatte vgl. Arndt, Economic Development, S. 49-87; Menzel, Geschichte der Entwicklungstheorie, S. 199-262. Zu Prebisch Dosman, The Life and Times of Raúl Prebisch. Prebisch, The Economic Development of Latin America (). Singer, Post-war Price Relations (). Die Diagnose ebenfalls im Haberler-Report von . Vgl. dazu Toye/Toye, The Origins.
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seinem Aufsatz The Development of Underdevelopment diese Interpretation international bekannt; ab diesem Jahr firmierte sie als »Dependenztheorie«. In den er Jahren weiteten Dependenztheoretiker ihre Theorie auf die gesamte globale »Peripherie« aus und griffen Diagnosen globaler Transformation auf: Die klassische koloniale Wirtschaftsstruktur sei durch die Industrialisierung der »Peripherie« aufgebrochen worden. Gleichzeitig seien »multinationale Unternehmen« nicht mehr nur an der Ausbeutung von Rohstoffen oder dem Absatz von Produkten interessiert, sondern übten umfassende Kontrolle über Ökonomien in der »Dritten Welt« aus. Abhängigkeitsverhältnisse seien damit transformiert, aber nicht abgebaut worden: Die »lokalen Staaten« und der »internationalisierte Sektor der Bourgeoisie« hätten zusammen mit dem »internationalen Kapital« seit den er Jahren zu neuen Formen von »international kontrollierter« Dependenz geführt. Für viele Intellektuelle und kritische Sozialwissenschaftler wurde die aus der Beobachtung der Verhältnisse in Lateinamerika hervorgegangene Dependenztheorie bald zum zentralen Bestandteil eines größeren Projekt der Emanzipation des »Südens« von europäisch-nordamerikanischen Vorstellungen. Der kenianische Politikwissenschaftler Ali Mazrui argumentierte , das Modernisierungs-Paradigma beinhalte ethnozentrische Vorstellungen: Schon seit Darwin sei »soziale Evolution« stets als »evolution towards Western ways« verstanden worden ‒ für Mazrui eine entbiologisierte Version des Sozialdarwinismus. Auch André Gunder Frank betrachtete die westliche »Moderne« kritisch: »Unterentwicklung« war für ihn nicht die Folge von mangelnder »Modernität«, sondern im Gegenteil erst durch die koloniale Ausbeutung der »Dritten Welt« im Namen von »Zivilisation« und »Moderne« hervorgebracht worden. Zu dieser Abgrenzung von »westlich-nördlichen« Vorstellungen gehörte in den er Jahren auch die explizite Kritik an Interdependenz-Deutungen ame Frank, Capitalism and Underdevelopment (); Frank, Latin America: Underdevelopment or Revolution (). Zu ihrer Verbreitung auch in Nordamerika und Westeuropa trugen öffentlichkeitswirksame Bücher wie Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas () entscheidend bei. Der US-Soziologe und Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein entwickelte auf der Grundlage der Dependenztheorie seine These vom »modernen Weltsystem«, das sich im Zuge der europäischen Expansion seit dem . Jahrhundert herausgebildet und zu einer »asymmetrischen Arbeitsteilung« zwischen »Kern«, »Semi-Peripherie« und »Peripherie« geführt habe. Siehe Wallerstein, Immanuel: The Modern World System, Bände, New York -. Cardoso, The Consumption of Dependency Theory (), S. -, f.; Cardoso/Faletto/Urquidi, Dependency and Development in Latin America (), S. xvi-xxiv, . Kritiker wie Packenham, The Dependency Movement, S. - dagegen betonten, die Dependenztheorie sei selbst von europäischen marxistischen Ideen »abhängig«. Mazrui, From Social Darwinism (), S. . Shils, Political Development (), S. hatte »Modernität«, das Ziel dieses Entwicklungsprozesses, noch als »being Western without the onus of dependence on the West« definiert. Frank, The Development of Underdevelopment () und noch direkter Frank, The Sociology of Development ().
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rikanischer Prägung. Der brasilianische Soziologe Fernando Henrique Cardoso (von bis Präsident seines Landes) stellte fest, mit »oberflächlichen oder apologetischen Analysen« verdecke die Debatte in den USA die ausbeuterischen Aspekte der internationalen Wirtschaft. Anstatt einfach Plattitüden der Interdependenz von sich zu geben, sollten auch amerikanische Analysten die konkreten Formen von Abhängigkeit und die Herrschaftsverhältnisse in den internationalen Beziehungen untersuchen. Dass auch ökonomischer »Imperialismus« und »Neokolonialismus« Formen der »transnationalen Politik« in ihrer Variante der »außengesteuerten Durchdringung« waren, hatte jedoch bereits Karl Kaiser bemerkt. Ein von der DFG gefördertes und von dem Politikwissenschaftler Gilbert Ziebura an der FU Berlin geleitetes Projekt befasste sich von bis mit solchen Fragen. Dessen Bearbeiter vertraten die These, dass »in einem durch drastische Ungleichheiten gekennzeichneten internationalen System auch nur annährend symmetrische Interdependenz-Verhältnisse zwischen verschiedenen Gesellschaften die Ausnahme, einseitige Abhängigkeits-Verhältnisse die Regel« waren. Doch auch Keohane, Nye und andere Politikwissenschaftler hatten festgestellt, dass wachsende Interdependenz und transnationale Beziehungen keineswegs immer »gerecht« seien. Im Gegenteil, von der Entstehung einer »einheitlichen globalen Wirtschaft« profitierten vor allem die »transnational mobilen« Akteure des »Westens«, während den »national Immobilen« und den »weniger entwickelten« Staaten vor allem neue Probleme entstünden. »Transnationalismus« laufe damit Gefahr, zu einer Ideologie der Reichen und Starken zu werden, während bei den Armen und Schwachen der Nationalismus viel verbreiteter sei, von dem sie sich eine Überwindung kolonialer Abhängigkeiten erhofften.
Cardoso/Faletto/Urquidi, Dependency and Development in Latin America (), S. xxi-xxii; Cardoso, The Consumption of Dependency Theory (), S. . Kaiser, Transnationale Politik (), S. , , f., . Junne/Nour, Internationale Abhängigkeiten (), S. . Ergebnisse des Projektes waren auch Schlupp/Nour/Junne, Zur Theorie und Ideologie internationaler Interdependenz () und Junne/Nour/Schlupp, Zur Grobstruktur des internationalen Systems (). Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Introduction (), S. , ; Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Conclusion (), S. -, -, und auch Keohane, Crisis of Interdependence (), S. f., teilweise nach Lewis, Oil (). Ähnlich auch Cox, Labor and Transnational Relations (), S. ; Bergsten, Future of the International Economic Order (), S. , ; Skolnikoff, The Governability of Complexity (). Herren, Sozialpolitik, S. wirft Keohane und Nye trotzdem vor, die Bedeutung der Vereinigten Staaten überschätzt und die Rolle von »Peripherien« in den transnationalen Beziehungen vernachlässigt zu haben.
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Kooperative Bemühungen der »Dritten Welt« Bei solchen Fragen handelte es sich keineswegs um rein akademische Überlegungen. Die Prebisch-Singer-These war bereits Mitte der er Jahre von antikolonialen Eliten aufgegriffen worden. Als sich ein Jahrzehnt später die ökonomische Situation ihrer Länder nicht verbessert, sondern eher noch verschlechtert hatte, gab die erweiterte Argumentation der Dependenztheorie Politikern aus dem »globalen Süden« ein Instrument an die Hand, um das Scheitern von Entwicklungsbemühungen strukturell zu erklären. Sie argumentierten nun, die aktuelle »internationale Arbeitsteilung« halte die »Entwicklungsländer« trotz ihrer politischen und völkerrechtlich weitgehend abgeschlossenen Dekolonisation weiterhin in einem Zustand der ökonomischen Abhängigkeit. Im Jahr sprach Ghanas Präsident Kwame Nkrumah sogar von »Neo-Kolonialismus«, um deutlich zu machen, dass die Kolonialmächte ihre »direkte Territorialherrschaft« nur aufgegeben hätten, »um die bisherige Dominanz künftig risikolos auf indirekte Weise«, das hieß insbesondere auf ökonomischem Gebiet auszuüben. Die Annahmen der Dependenztheorie schienen hier den politischen Weg zur Lösung dieses Problems vorzuzeichnen. Denn die Theorie legte nahe, dass das zentrale Hindernis auf dem Weg zu »Entwicklung« in den langfristigen, Länder und Kontinente überspannenden Strukturen der Weltwirtschaft zu verorten sei. Es lasse sich nur durch deren grundlegende Umgestaltung beseitigen. Vor diesem Hintergrund setzte sich im Laufe der er Jahre zunehmend die Auffassung durch, dass »Entwicklung« nicht durch Bemühungen einzelner Staaten, sondern nur durch koordiniertes Vorgehen des »Südens« im weltweiten Maßstab zu erreichen war. Auf der ersten Konferenz der Bewegung der bündnisfreien Staaten standen noch politische Fragen im Mittelpunkt; die Teilnehmer forderten aber bereits Verhandlungen über eine Umgestaltung der Welthandelsordnung. Ein Jahr später trafen sie sich in Kairo erstmals, um explizit über Fragen der Wirtschaft und »Entwicklung« zu beraten. Mit Unterstützung der sozialistischen Staaten gelang es ihnen im Herbst , in der UN-Generalver Zu diesen Zusammenhängen zwischen Theorie und Politik im Bereich des Erdöls vgl. Dietrich, Oil Revolution, bes. Kap. . Die Bedeutung der Dependenztheorie für die NIEO betont Murphy, The Emergence of the N. I.E.O. Ideology, S. -. Nkrumah, Neo-Colonialism (). Das Zitat von Sieberg, Dritte Welt – vierte Welt (), S. . Bretton, The Rise and Fall (), S. , , Anm. hat allerdings angezweifelt, dass Nkrumah dieses Buch selbst verfasst hat. Geprägt wurde der Begriff »Neo-Kolonialismus« wohl von Sartre, La Mystification néo-colonialiste (), um den fortgesetzten Einfluss Frankreichs in Afrika zu beschreiben. Vgl. Mommsen, Imperialismustheorien, S. -; Young, Postcolonialism, S. -. Zum Vorwurf des »Neo-Imperialismus« auch Kindleberger, American Business Abroad (), S. -. Siehe etwa Address by The Hon. L. F. S. Burnham, Prime Minister of the Co-Operative Republic of Guyana on the Occasion of the Opening of the Conference of Foreign Minister of the Non-Aligned Countries. Turkeyen Hall University of Guyana, . Aug. , zit. nach Dinkel, »Third World Begins to Flex its Muscles«, S. .
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sammlung die Einberufung einer Konferenz zu Handels- und Entwicklungsfragen durchzusetzen. Die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) tagte im Frühjahr und brachte Vertreter der post-kolonialen Staaten mit denen des industriellen »Nordens« zusammen, um neue Regeln für den Welthandel auszuarbeiten. Als erster Generalsekretär der UNCTAD trug Raúl Prebisch maßgeblich dazu bei, die Grundannahmen der Dependenztheorie in ein politisches Programm zu überführen. Noch gründeten Vertreter des »Südens« die »Gruppe der « (G), um ihre Positionen zu koordinieren. Da sie mittlerweile über eine Mehrheit der Stimmen in der UN-Generalversammlung verfügten, gelang es ihnen, die zunächst als einmalige Konferenz geplante UNCTAD zu verstetigen und damit die Agenda der Vereinten Nationen neu auszurichten. Aus Sicht der »Entwicklungsländer« konnten hier durchaus Erfolge erzielt werden: Nachdem besonders die Vereinigten Staaten zunächst Widerstand geleistet hatten, willigten sie grundsätzlich in eine bevorzugte Behandlung der Länder der »Dritten Welt« ein. Das Präferenzsystem des GATT und ein vergleichbares der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft waren in der Praxis durch eine Vielzahl von Ausnahmeregelungen jedoch wenig effektiv. Um die Wende von den er zu den er Jahren setzte sich unter Akteuren aus dem »globalen Süden« zunehmend die Überzeugung durch, dass wirkliche Forschritte nicht innerhalb der bestehenden weltwirtschaftlichen Ordnung und nicht im Konsens mit den Industrieländern zu erreichen waren. Um der politischen auch wirkliche ökonomische Unabhängigkeit folgen zu lassen, sei es deshalb an der Zeit, so Julius Nyerere , über Klagen und Interessensbekundungen hinauszukommen und gemeinsam konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der eigenen Situation zu unternehmen. Hier boten sich drei Strategien an: Die erste Option war eine stärkere Regulierung »multinationaler Unterneh Vgl. Garavini, After Empires, S. -; Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. -. Wichtigen Einfluss nahm er auch über seinen Bericht: Towards a New Trade Policy for Development, Report by the Secretary General of the United Nations Conference on Trade and Development, New York , www.washingtontradereport.com/Prebisch_ UNCTAD_.pdf (..). Vgl. u. a. Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt, S. -; Williams, Third World Cooperation; Braveboy-Wagner, Institutions of the Global South, S. -. Siehe Doc. : Circular Telegram From the Department of State to Certain Posts, Washington, . Aug. , in: FRUS -, Volume VIII, International Monetary and Trade Policy, Washington D. C. , S. -. Vgl. McKenzie, Free Trade; Garavini, After Empires, S. . . April , zit. nach Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. f. Dort auf S. auch der Hinweis auf die semantische Verschiebung vom »Gewissen der Welt« Anfang der er Jahre zur Bewegung, die aus eigener Kraft aktiv auf Wandel hinarbeitete. Diese Verschiebung lässt sich u. a. in den Verhandlungen der bündnisfreien Staaten beobachten. Dazu die Quellen in Jankowitsch, Odette/Sauvant, Karl P. (Hrsg.): The Third World Without Superpowers. The Collected Documents of the Non-Aligned Countries, Vol. I, Dobbs Ferry, NY , S. -, -, -.
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men« im Rahmen der Vereinten Nationen: rief der Wirtschafts- und Sozialrat eine »Group of Eminent Persons« ins Leben, die sich mit dem Einfluss von Unternehmen auf Entwicklungsfragen befassen sollte und deren Bericht eine stärkere Kontrolle durch Regierungen empfahl. Eine zweite Option war der Versuch, das eigene Land stärker vom Weltmarkt abzuschotten und ökonomisch autarker zu werden. Tansanias Präsident Julius Nyerere erklärte im Februar in der Arusha-Deklaration, der »afrikanische Sozialismus« und die ökonomische »Autarkie« (self-reliance) seien nun die zentralen Leitlinien seiner Politik. Erreicht werden sollten diese Ziele durch eine Abkehr von Strategien exportorientierter Industrialisierung und durch eine Hinwendung zur Förderung von Landwirtschaft und Binnenkonsum. Eine weitere Maßnahme war die Etablierung »kollektiven Eigentums« über die Bodenschätze und Produktionsmittel des Landes. Auf Initiative Nyereres nahm die Bewegung der Bündnisfreien das Konzept der »kollektiven Eigenständigkeit« (collective self-reliance) auf dem Gipfeltreffen in Lusaka in ihre Erklärungen auf: Eine bessere Abstimmung ihrer Positionen und Bemühungen um stärkere regionale Integration sollten ihre Verhandlungsmacht gegenüber Industriestaaten und multinationalen Konzernen stärken. In Richtung größerer wirtschaftspolitischer Autonomie zielte auch eine Ende der er Jahre einsetzende Welle der »Nationalisierung« oder Verstaatlichung von Rohstoffvorkommen, insbesondere im Bereich des Erdöls. hatte Algerien bereits fünf Unternehmen, schließlich als erstes Land sämtliches Eigentum ausländischer Ölfirmen verstaatlicht. Der Irak und Lybien folgten /. Als diese Enteignungswelle gegen wieder abflaute, hatten in den USA ansässige rohstofferzeugende Unter United Nations Center on Transnational Corporations, Transnational Corporations (). Unmittelbarer Hintergrund war die Beteiligung der amerikanischen International Telephone and Telegraph Corporation, die in Chile Kupferminen betrieb, an CIA-Operationen zum Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Vgl. McKenzie, Free Trade. The Arusha Declaration: Socialism and Self-Reliance, February , in: Nyerere, Julius K. (Hrsg.): Freedom and Socialism. A Selection from Writings and Speeches , Dar es Salaam , S. -. Vgl. Eckert, Herrschen und Verwalten, S. . Für eine Abkopplung vom Welthandel sprach sich unter anderem auch Amin, Zur Theorie der Akkumulation () aus. Preparatory Conference of Non-Aligned Countries: General Report, Dar-es-Salaam, .-. April , Address by President Nyerere, in: Jankowitsch, Odette/Sauvant, Karl P. (Hrsg.): The Third World Without Superpowers. The Collected Documents of the Non-Aligned Countries, Vol. I, Dobbs Ferry, NY , S. -; Third Conference of Heads of State or Government of Non-Aligned Countries: Declaration on NonAlignment and Economic Progress, Lusaka, .-. Sept. , in: ebd., S. -. Einen zeitgenössischen Überblick über die Debatten um Integration vs. Autarkie bietet Väyrynen, Interdependence (). Laut Decker, Dekolonisation der Wirtschaft? müsste dieser Vorgang besser als »Indigenisierung« bezeichnet werden. Vgl. auch Anghie, Imperialism, Sovereignty, S. ; Oliveiro, The United States; Lüthi, Non-Alignment. Zur »Sambianisierung« ab Kreienbaum, Der verspätete Schock, S. .
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nehmen innerhalb weniger Jahre über Prozent ihres Eigentums in der »Dritten Welt« verloren. Ökonomische Autarkie war jedoch nur schwer zu erreichen, Verstaatlichungen provozierten internationale Konflikte. Auch Raúl Prebisch hatte schon in einem Bericht an die UNCTAD vor »exzessivem« Protektionismus gewarnt und stattdessen darauf gesetzt, dass »Entwicklungsländer« durch die Steigerung ihrer eigenen Produktivität ihre Stellung im internationalen Wettbewerb verbessern könnten. Dafür war jedoch eine grundlegende Umgestaltung der internationalen Rahmenbedingungen nötig. Ein dritter Lösungsweg lag deshalb nicht in der Abschottung von der Weltwirtschaft, sondern darin, deren Strukturen zum eigenen Vorteil zu verändern. Auf der dritten UNCTAD in Santiago de Chile forderten die Staaten der G im Frühjahr erstmals explizit eine Reform der Weltwirtschaftsordnung. Statt einer kooperativen, graduellen Reform des Welthandelssystems standen die Zeichen nun auf Konfrontation. Hintergrund dieser neuen Haltung war neben der schlechteren ökonomischen Situation die veränderte internationale Lage: Einerseits verloren die Länder der »Dritten Welt« im Zug der Entspannungspolitik zwischen den USA und der Sowjetunion ihre letzte Möglichkeit, die Weltpolitik zu beeinflussen, indem sie die beiden Supermächte gegeneinander ausspielten. Aus ihrer Sicht drohte jetzt eine Aufteilung der Welt in Einflusssphären und in eine »europäisch-nördliche« Friedenszone und eine »südliche« Konfliktzone. Gleichzeitig erschien die Gegenwart Anfang der er Jahre als eine Übergangsphase. Besonders das Ende des Währungssystems von BrettonWoods wirkte wie der Zusammenbruch der gesamten von den USA dominierten Nachkriegsordnung, die den Ländern des »Südens« nun die Gelegenheit bot, ihre Interessen bei der Neugestaltung der Weltordnung einzubringen. Die Kritik an den etablierten weltwirtschaftlichen Strukturen kristallisierte sich als zentraler Punkt heraus, um den sich ein Konsens herstellen ließ. Insbesondere die Bündnisfreien beanspruchten, für die gesamte »Dritte Welt« zu Die Zahl bei Krasner, Commercial and Monetary Policy (), S. . Zu dieser Problematik zeitgenössisch auch Vernon, Sovereignty at Bay (), S. -, -; Kobrin, Foreign Enterprise and Forced Divestment (); Kobrin, Expropriation (). Vgl. Gore, Global Interdependence. Packenham, The Dependency Movement, S. , zählt Prebisch deshalb nicht zu den Dependenztheoretikern im engeren Sinn. Siehe die Quellen in Sauvant, Karl P. (Hrsg.): The Third World Without Superpowers, Second Series: The Collected Documents of the Group of , Vol. II, New York , S. -. Vgl. dazu Dinkel, »Third World Begins to Flex its Muscles«. Siehe etwa Third Conference of Ministers of Foreign Affairs of Non-Aligned Countries: The Georgetown Declaration, Georgetown, August -, , in: Jankowitsch, Odette/Sauvant, Karl P. (Hrsg.): The Third World Without Superpowers. The Collected Documents of the Non-Aligned Countries, Vol. I, Dobbs Ferry, NY , S. -, hier: und weitere Belege bei Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. f.
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sprechen. Obwohl sich ihre politische Situation völlig anders darstellte als die der erst kürzlich unabhängig gewordenen Staaten Afrikas und Asiens, schlossen sich zwischen und mehrere lateinamerikanische Länder der Bewegung an. Damit rückten die beiden wichtigsten Interessenvertretungen der »Dritten Welt«, die G und die Bewegung der Bündnisfreien, enger zusammen ‒ ökonomische und politische Fragen wurden zunehmend als zwei Facetten des selben Problems gesehen.
Die Neue Weltwirtschaftsordnung Kurz vor den Ereignissen um die erste Ölkrise trafen die Bündnisfreien im September zu ihrem vierten Gipfeltreffen in Algier zusammen. Auf diesem Treffen ging es erstens darum, einer »Abkoppelung« der »Dritten Welt« von der Politik der Supermächte entgegenzuwirken und den eigenen Zusammenhalt weiter zu stärken. Zweitens konzentrierten sich seine Teilnehmer auf den Kampf gegen »Imperialismus« und »neo-koloniale Ausbeutung«. Eine »ökonomische Erklärung« beschuldigte »transnationale Unternehmen«, offene und verdeckte »ökonomische Aggression« zu betreiben und die »Prinzipien der Souveränität, Selbstbestimmung und Nichteinmischung« zu verletzen. Zudem erhob sie explizit den Vorwurf, das System von Bretton Woods diene nur den Interessen der »entwickelten Länder«. Alle Reformversuche seien an deren mangelnder Kooperationsbereitschaft gescheitert. Die Erklärung postulierte dagegen ein »Recht auf Nationalisierung«, das sich aus der »nationale[n] Souveränität« aller Länder über ihre Bodenschätze und wirtschaftlichen Aktivitäten ableite. Schließlich forderten die in Algier Versammelten eine »neue Art von internationalen wirtschaftlichen Beziehungen« und eine »neue internationale Arbeitsteilung«. Vgl. Brands, Third World Politics; Garavini, After Empires, S. . Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. f., , , setzt den Beginn einer institutionalisierten »Bewegung der Bündnisfreien« überhaupt erst zwischen und an. Zur besonderen Rolle Algeriens seit den er Jahren vgl. Connelly, A Diplomatic Revolution; Byrne, Mecca of Revolution. Zu den spezifischen Motiven seines Präsidenten Houari Boumedienne vgl. Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. -. Fourth Conference of Heads of State of Government of Non-Aligned Countries: Political Declaration, Algiers, .-. Sept. , in: Jankowitsch, Odette/Sauvant, Karl P. (Hrsg.): The Third World Without Superpowers. The Collected Documents of the Non-Aligned Countries, Vol. I, Dobbs Ferry, NY , S. -; O. A.: Third World Attitude Hardens at Algiers, The Times, . Sept. . Der algerische Diplomat Mohammed Bedjaoui bescheinigte dem Treffen von Algier einige Jahre später, im »Kampf der Dritten Welt um ökonomische Emanzipation« die Rolle eingenommen zu haben, die die Gipfeltreffen von Bandung und Belgrad für die »politische Befreiung« gespielt hatten. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (), S. . Fourth Conference of Heads of State of Government of Non-Aligned Countries: Economic Declaration, Algiers, .-. Sept. , in: Jankowitsch, Odette/Sauvant, Karl P. (Hrsg.): The Third World Without Superpowers. The Collected Documents of the
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Dieses Projekt einer »new international economic order« ‒ noch klein geschrieben ‒ erhielt einen Monat nach dem Gipfeltreffen von Algier durch die Ölkrise entscheidenden Auftrieb. Die Versorgungsengpässe offenbarten das Thema Rohstoffe als schwache Stelle des »Westens« und weckten Hoffnungen auf die Schlagkraft der koordinierten Solidarität aller rohstoffproduzierenden Länder. Denn die Entscheidung der arabischen Erdölproduzenten, die Förderung zu drosseln und ein Lieferembargo gegen bestimmte Staaten zu verhängen, erschien vielen zeitgenössischen Beobachtern als der erste Moment in der Geschichte der modernen Welt, in dem »unterentwickelte« Staaten direkten Druck auf die Industrieländer ausüben konnten. Fast spiegelbildlich zur negativen Grundstimmung in den Vereinigten Staaten waren die Jahre bis somit für die »Entwicklungsländer« ein Höhepunkt ihres Selbstbewusstseins auf der internationalen Bühne: Die allgemeine Krise der Nachkriegsordnung und die Ölkrise im Besonderen schienen für einen kurzen Moment ein Möglichkeitsfenster aufgestoßen zu haben, in dem es nicht ausgeschlossen schien, dass die von Europa und Nordamerika dominierte Weltwirtschaftsordnung durch einen radikal anderen Ordnungsentwurf abgelöst und ein stärkeres Mitspracherecht der »Dritten Welt« in internationalen Institutionen durchgesetzt werden könnte. Auch die hergebrachte Sicht auf ökonomische wie politische Abhängigkeitsverhältnisse schien damit nicht mehr zu greifen. Die Krise hatte vor den Augen der Welt deutlich gemacht, was manche Theoretiker bereits angedeutet hatten: Im Gegensatz zur Annahme der Dependenztheorie schien nicht nur der »Süden« vom »Norden« in Abhängigkeit gehalten zu werden, sondern der »Norden« war gleichzeitig auf die Rohstoffversorgung aus dem »Süden« angewiesen – wahre Inter-Dependenz also: »Falls noch eine weitere Veranschaulichung der Interdependenz der Nationen dieser Welt nötig war«, so Kissinger im Januar , hätten die Ereignisse auf dem Feld der Energie hier keine Wünsche offengelassen. In internen Gesprächen wurde Kissinger noch deutlicher: »We are now living in a never-never Non-Aligned Countries, Vol. I, Dobbs Ferry, NY , S. -. Zum Recht auf »permanente Souveränität« vgl. Dietrich, Oil Revolution, Kap. . So sah das etwa der algerische Präsident Boumedienne in einem Gespräch mit UN-Generalsekretär Kurt Waldheim am . April . Zit. in Kunkel, Geschichte des NordSüd-Konflikts, S. . Für weitere Stimmen Kreienbaum, Der verspätete Schock, f. Die Verbindungen zwischen Ölkrise und NIEO betont Dietrich, Oil Revolution, Kap. . Hans Wolfgang Singer, einer der zentralen theoretischen Protagonisten der NIEO, räumte jedoch selbst ein, dass die Konsequenzen der Ölkrise eher psychologischer als materieller Natur gewesen seien: Singer, The New International Economic Order (). Dazu Jessop, What Follows Fordism?. C. Fred Bergsten, - Kissingers Assistent für internationale ökonomische Beziehungen im NSC, fürchtete nun, auch andere Rohstoffproduzenten könnten Kartelle bilden: »Oil may be merely the start«. Bergsten, The Threat from the Third World (), S. . Secretary Kissinger and Federal Energy Administrator Simon Hold Joint News Conference, . Jan. , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Feb. , Washington D. C. , S. -, hier: .
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land, in which tiny, poor, and weak nations can hold up for ransom some of the industrialized world.« Damit hatte wechselseitige Verflechtung und Abhängigkeit im Denken der Zeitgenossen in den USA erstmals über den nordatlantischen Raum ausgegriffen. Interdependenz wurde jetzt zu einem zentralen, in seiner Auslegung allerdings heftig umstrittenen Aspekt der »Nord-Süd-Beziehungen« und schien damit erstmals wirklich »global« geworden zu sein. Dabei ging es weniger um harmonische Vorstellungen weltweiter Annäherung ‒ die neue Interdependenz von »Nord« und »Süd« schien vielmehr eine »Waffe« in den Händen der »Dritten Welt« zu sein, mit der sie den »Norden« zu einer Reform der Handelsbedingungen notfalls auch zwingen konnte. Diese neue Verhandlungsmacht versprach auch Erfolge auf politischem Gebiet: Im November weitete die OAPEC das Ölembargo auf Bitten der Organisation für Afrikanische Einheit auf Südafrika, Rhodesien und Portugal aus, um deren Kolonial- und Apartheidspolitik zu sanktionieren. Damit wurde um das Jahr auch die Bezeichnung »Nord-Süd-Konflikt« allgemein gebräuchlich. Am . Mai verabschiedete die UN-Generalversammlung auf ihrer sechsten Sondersitzung eine Resolution, die die Errichtung einer »Neuen Weltwirtschaftsordnung« (New International Economic Order, NIEO) forderte. »Interdependenz« und ihr Gegenstück »Dependenz« spielten hier eine zentrale Rolle: Resolution stellte fest, die Weltwirtschaft habe seit eine Reihe von schweren Krisen erlebt, von denen die »Entwicklungsländer« besonders schwer getroffen worden seien. Diese Wirtschaftskrisen stellten zudem die Legitimität der internationalen Ordnung infrage, die »Dritte Welt« müsse an der Umgestaltung der Weltordnung beteiligt werden. Die geforderten Schritte waren im Einzelnen nicht unbedingt neu und im Kontext der G schon in den er Jahren ausformuliert worden, wurden jetzt aber gebündelt und mit neuer Vehemenz vorgetragen: Statt »Entwicklungshilfe«, um im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Weltwirtschaft Wachstum zu erzielen, forderten diese Länder jetzt eine grundlegende Umstrukturierung der internationalen Weltwirtschaftsordnung selbst, »die auf Gerechtigkeit, souveräner Gleichheit, wechselseitiger Abhängigkeit, dem gemeinsamen Interesse und der Zusammenarbeit aller Staaten unabhängig von ihrem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem« beruhen sollte. Ziel sei es, Ungleichheiten zu beheben und Ungerechtigkeiten zu besei Doc. : Minutes of the Secretary of State’s Staff Meeting, Washington, . Jan. , in: FRUS -, Volume XXXV: National Security Policy, -, Washington D. C. , S. -, hier: . So ein indischer UNCTAD-Delegierter , zit. in Garavini, The Colonies Strike Back, S. . Allgemeine Überlegungen zu ökonomischer Interdependenz als »Waffe« bei Farrell/Newman, Weaponized Interdependence. Vgl. Wengeler, Von der Hilfe, S. . Dahinter stand die schon länger geäußerte Befürchtung, »race« und »colour« könnten den Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus als zentrale Konfliktlinien der Weltpolitik ablösen. So etwa die Beiträge in Franklin (Hg.), Colour and Race () und Tinker, Race, Conflict and the International Order ().
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tigen, um so die »Kluft zwischen den entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern« aufzuheben und »Entwicklung in Frieden und Gerechtigkeit« zu gewährleisten. Zusammen mit einem dazugehörigen Aktionsprogramm forderte die Resolution unter anderem die Stabilisierung der Rohstoffpreise durch einen Rohstofffonds, eine Reform des Weltwährungssystems, eine bevorzugte Behandlung der »Entwicklungsländer« im Bereich des internationalen Handels, ein allgemeines Schuldenmoratorium sowie international koordinierte Entwicklungsanstrengungen ohne politische oder ideologische Vorbedingungen. Bei der Formulierung dieser Dokumente hatten sich Stimmen, die auf Kooperation mit dem »Norden« zum gegenseitigen Vorteil setzten, gegenüber anderen Akteuren durchgesetzt, die wie der algerische Präsident Boumedienne eine konfrontativere Haltung hatten einnehmen wollen. Der Text der Resolution betonte deshalb weniger den Zusammenhalt des »Südens« gegenüber dem »Norden« als vielmehr die Interdependenz dieser beiden Weltregionen und brachte das Argument vor, eine Neue Weltwirtschaftsordnung liege im Interesse der gesamten Menschheit. Denn die Veränderungen der letzten Jahre hätten »die Realität der wechselseitigen Abhängigkeit aller Mitglieder der Weltgemeinschaft schlagartig deutlich gemacht«, deren Interessen nicht mehr voneinander zu trennen seien. Eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung werde zu mehr Wachstum in den »Entwicklungsländern« führen und damit auch den Wohlstand der »entwickelten Länder« mehren. Es gehe hier nicht um utopische Forderungen, sondern um eine »realistische« Haltung – die Wirklichkeit einer interdependenten Welt anzuerkennen, hieß in den Augen des »Südens«, die Neue Weltwirtschaftsordnung zu unterstützen.
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Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, UN Generalversammlung Res. (S-VI), . Mai , www.un.org/Depts/german/gvearly/ar-s-vi.pdf (..). Ausgeführt im Programme of Action on the Establishment of a New International Economic Order, United Nations General Assembly Res. No. (S-VI), . Mai , https ://digitallibrary.un.org/record//files/A_RES _ S-VI -EN .pdf (..). Boumedienne hatte seine Behauptung, es sei unumgänglich, nach einer »neuen Lebensweise« zu suchen, mit der Drohung untermauert, ansonsten werde es nicht genug Atombomben geben, um die Invasion von Milliarden Menschen aus dem »Süden« im »Norden« einzudämmen. Connelly, A Diplomatic Revolution, S. . Vgl. Gilman, The New International Economic Order, S. , ; Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. -. Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, UN Generalversammlung Res. (S-VI), . Mai , www.un.org/Depts/german/gvearly/ar-s-vi.pdf (..). Siehe etwa die Erklärung von Perus Präsident Juan Velasco Alvarado, G- Doc. MM//II/SR., . Okt. , in: Jankowitsch, Odette/Sauvant, Karl P. (Hrsg.): The
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Die Vision einer Neuen Weltwirtschaftsordnung sah einerseits vor, Entwicklungsbemühungen durch eine supranationale Autorität zu koordinieren, die dafür Züge eines Weltstaates hätte tragen müssen. Gleichzeitig sollte sie jedoch Strategien der »gelenkten Industrialisierung«, »autonomen Entwicklung« und der »Importsubstitution« fördern, die auf eine stärkere Abkopplung der »Entwicklungsländer« vom Weltmarkt hinausliefen. Die Kategorien »Armut« und den Stand von »Entwicklung« maßen ihre Unterstützer in noch stärkerem Maße als die Modernisierungstheorie nicht für Individuen, sondern in der Einheit ganzer Nationen. Das Projekt zielte damit auf die Stärkung oder Wiedergewinnung der »ökonomischen Souveränität« der Staaten der »Dritten Welt«. Resolution der Generalversammlung betonte die Prinzipien der »souveränen Gleichheit«, die »Selbstbestimmung der Völker«, »territoriale Integrität« und das Gebot der »Nichteinmischung in innere Angelegenheit«, die jetzt vom Politischen auf das Ökonomische ausgeweitet worden waren. Ende wurde von der Generalversammlung gegen die Stimmen der USA, der Bundesrepublik und vier weiterer europäischer Länder die »Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten« verabschiedet. Sie formulierte »internationale soziale Gerechtigkeit« als Grundprinzip der internationalen Beziehungen und »Entwicklung« als ein jedem Staat zukommendes »Recht«, das sich aus »nationaler Selbstbestimmung« und »Souveränität« ableite. Letztlich sollten Regierungen damit die absolute Kontrolle über alle ökonomischen Aktivitäten in ihrem Land erhalten. Die Vereinigten Staaten reagierten hingegen mit der Forderung, auch die Pflichten von Staaten gegenüber Unternehmen müssten international festgeschrieben werden, um diese vor willkürlichen Enteignungen zu schützen. Das Projekt einer Neuen Weltwirtschaftsordnung war damit einerseits eine Fortsetzung klassischer keynesianischer Ideen der staatlichen Wirtschaftssteuerung ins Globale hinein, andererseits ein Aspekt der auf dem Prinzip der »nationalen Souveränität« basierenden Dekolonisation, die jetzt auch ökonomisch zum Abschluss gebracht werden sollte.
Third World Without Superpowers. The Collected Documents of the Non-Aligned Countries, Vol. II, Dobbs Ferry , S. . Haq, The Poverty Curtain (), S. f. Programme of Action on the Establishment of a New International Economic Order, United Nations General Assembly Res. No. (S-VI), . Mai , https://digitallibrary.un.org/record//files/A_RES_S-VI-EN.pdf (..). Charter on the Economic Rights and Duties of States, Gen. Ass. Res. (XXIX), . Dez. , www.un-documents.net/ar.htm (..). Siehe auch Alexandrowicz, The Charter of Economic Rights and Duties of States () und vgl. Dell, The United Nations. wurde das »Recht auf Entwicklung« von der Generalversammlung erneut bekräftigt. www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar.pdf (..). Vgl. Plath, Christopher: Kéba M’Bayes Arbeitspapier über das Recht auf Entwicklung (), in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, Aug. , www. geschichte-menschenrechte.de/schluesseltexte/recht-auf-entwicklung/ (..). Sluga, Internationalism, S. . Dazu auch Anghie, Imperialism, Sovereignty, S. .
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Obwohl die Neue Weltwirtschaftsordnung damit auf eine Stärkung von Staaten in der Wirtschaftspolitik hinauslief, sollte sie nicht als rückwärtsgewandter Versuch interpretiert werden, sich gegen den Prozess wachsender Interdependenz zu stemmen. Dieses Projekt war vielmehr selbst Ausdruck von Verflechtungsdiagnosen, die jedoch im intellektuellen Rahmen der Dependenztheorie als einseitige Abhängigkeit des »Südens« vom »Norden« in einer von diesem dominierten Weltwirtschaftsordnung interpretiert wurden. Auch Akteuren aus dem »Süden« wie Julius Nyerere war durchaus bewusst, dass Regierungen zwar nationale Entwicklungsstrategien verfolgen konnten, volle Kontrolle über wirtschaftliche Entwicklungen oder gar Autarkie jedoch unmöglich war, schon allein deshalb, weil es so etwas wie eine »nationale Wirtschaft« überhaupt nicht gebe. Als Zielvorstellung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung stand damit nicht nationale Autarkie, sondern die Integration in ein gerechteres Weltwirtschaftssystem. Sie erscheint damit als alternativer Entwurf globaler Integration, die stärker zum Vorteil der »Entwicklungsländer« gestaltet werden sollte. Für Victor McFarland war das Projekt Ausdruck einer weiteren Variante der Interdependenz-Diagnosen der er Jahre, die er als »emanzipatorische Interdependenz« oder »Interdependenz der Hoffnung« bezeichnet.
. Auf dem Weg zu einer »Strategie der Interdependenz«, / Die weltweiten Reaktionen auf die Forderungen des »Südens« nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung fielen unterschiedlich aus. An ihnen werden neue Themen und Konfliktlinien in der Weltpolitik deutlich; sie waren aber auch in den etablierten Deutungsrahmen des »Kalten Krieges« eingebunden. Sowjetische Kommentatoren stimmten grundsätzlich der Kritik an der »neo-imperialistischen« Ausbeutung der »Dritten Welt« durch den Kapitalismus zu und unterstützten rhetorisch die Forderung nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung. Die sowjetische Führung kümmerte sich jedoch wenig um konkrete Themen wie Handelspräferenzen oder Rohstoffabkommen und empfahl, weiterhin auf Industrialisierung als Weg zur »Entwicklung« zu setzen. Dafür Julius Nyerere: The Process of Liberation, Rede an der Ibadan Universität, Nigeria, . Nov. , zit. nach Kunkel, Geschichte des Nord-Süd-Konflikts, S. . Siehe Nyerere, McDougall Memorial Lecture (), S. -; Frank, Capitalism and Underdevelopment (), S. xi-xiii. Vgl. Chilcote/Edelstein (Hg.), Latin America (), S. ; Packenham, The Dependency Movement, S. , . Der kenianische Politikwissenschaftler Ali A. Mazrui formulierte auf einer Podiumsdiskussion, es gehe um eine »neue Basis des Austauschs in einer interdependenten Welt«. Mazrui, Panel Discussion, S. . Diese Interpretation auch bei Gilman, The New International Economic Order, S. . McFarland, The New International Economic Order, S. , dort auch weitere Belege. Dass die »Dritte Welt« überhaupt die Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung erheben konnte, wurde als Resultat der Schwächung des »Imperialismus« durch die sowjetische »Friedenspolitik« dargestellt. Gromyko, A.: V interesach
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stellte sie alternative Absatzmärkte und eine »gleichberechtigte Integration« im Rahmen des RGW in Aussicht, die bereits Kuba, Vietnam oder der Mongolei geholfen habe, sich aus der Abhängigkeit vom Kapitalismus zu befreien. Der »kapitalistische Westen« stand der Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung jedoch selbst keineswegs als geschlossene Front gegenüber. Schon auf der UNCTAD in Santiago de Chile hatten Vertreter der USA und Westeuropas den Eindruck gewonnen, es sei schwieriger geworden, dem »Süden« mit einer gemeinsamen Haltung entgegenzutreten. Im selben Jahr beschlossen die Mitgliedsstaaten der EWG, in Zukunft eine gemeinsame Politik verfolgen zu wollen, die den Interessen der Entwicklungsländer stärker entgegenkommen solle. Auf Regierungsebene warben insbesondere Sozialdemokraten wie der schwedische Ministerpräsident Olof Palme, der niederländische Ministerpräsident Johannes Marten den Uyl oder der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt dafür, zumindest teilweise auf die Forderungen des »Südens« einzugehen. Erstes Ergebnis war die im Februar mit afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten unterzeichnete Lomé-Konvention. Auch wenn es den EWG-Staaten letzten Endes darum ging, den kollektiven Bemühungen der »Entwicklungsländer« durch kooperative Gesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, beobachtete die US-Regierung doch jedes Zugeständnis an den »Sü-
sotrudničestva, Pravda No. , . Okt. , S. . Vgl. Valkenier, The Soviet Union and the Third World, S. , -; Fritsche, Blockfreiheit aus sowjetischer Sicht; Allison, The Soviet Union, S. -; Lorenzini, Comecon and the South. Bogomolov, The CMEA Countries and the NIEO (), S. f. Für eine umfassende Auseinandersetzung der sozialistischen Staaten mit der NIEO siehe auch das Projekt Stern II: »Probleme der Herausbildung eines neuen Systems der internationalen Wirtschaftsbeziehungen«, -, Barch-SAPMO, DY /IV B //; DY /. Dazu Kapitel .. Eine in diesem Zusammenhang gerne zitierte Quelle ist das Gespräch zwischen Kommissionspräsident Sicco Mansholt und Nixons Wirtschaftsberater Peter Flanigan, in denen der stark von den Ideen des Club of Rome inspirierte niederländische Sozialist ankündigte, die EWG werde in Zukunft mehr auf die Befürfnisse der Entwicklungsländer achten. Doc. : Report [of visit to Western Europe] by the President’s Assistant for International Economic Affairs (Flanigan), Washington, . Juni , in: FRUS -, Volume III, Foreign Economic Policy; International Monetary Policy, -, Washington D. C. , S. -. Vgl. Garavini, After Empires, S. -. Vgl. u. a. Rother, Sozialdemokratischer Internationalismus; Schmidt, A Prophet Unheard sowie das Projekt von Christopher Seiberlich (Universität Tübingen): Die Sozialdemokratie und die postkoloniale Ordnung der Welt. Hier konnten die »Entwicklungsländer« Zugeständnisse erwirken: Die EWG gewährte Handelspräferenzen für die Einfuhr von Rohstoffen, ohne auf Wechselseitigkeit zu beharren und erklärte sich zur Erweiterung des europäischen Entwicklungshilfefonds bereit. Vgl. Reyels, Die Entstehung des ersten Vertrags von Lomé; Vahsen, Eurafrikanische Entwicklungskooperation; Garavini, After Empires, S. -, -; Migani, Lome and the North-South Relations.
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den« und damit eine Aufweichung einer gemeinsamen Position des »Westens« mit Argwohn. Für Beobachter internationaler Beziehungen in den Vereinigten Staaten hingen solche Unstimmigkeiten im transatlantischen Verhältnis mit der Diagnose zusammen, Interdependenz nehme jetzt nicht mehr nur im nordatlantischen Raum, sondern auch zwischen »Industrie-« und »Entwicklungsländern« enorm zu. Solche langfristigen Entwicklungen verbanden sich jetzt mit den Folgen der Ölkrise und den wachsenden Spannungen im Nord-Süd-Verhältnis zu Diagnosen einer wahren »Weltkrise«. Robert Keohane vertrat im Frühjahr die These, es handele sich hier um eine »Krise der Interdependenz«, die nicht mehr nur ökonomische, sondern mittlerweile ganz grundlegende Fragen von Krieg und Frieden betreffe. Interdependenz und ihre Folgen beschäftigten jetzt nicht mehr nur Sozialwissenschaftler und andere professionelle Beobachter des Zeitgeschehens. Auch die Politik musste nun Antworten auf wachsende globale Verflechtungen und Abhängigkeiten finden. Mittelfristig ging es hier um die Neugestaltung der politischen wie ökonomischen Weltordnung und der amerikanischen Rolle darin, kurzfristig um den Umgang mit den Folgen der Ölkrise und den Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung.
Die Formulierung einer neuen amerikanischen Außenpolitik In den Vereinigten Staaten war in erster Linie Henry Kissinger dafür zuständig, eine Antwort auf die Forderungen der »Entwicklungsländer« zu formulieren. Die Neubestimmung des Nord-Süd-Verhältnisses erschien nun als zentraler Aspekt Mit einiger Berechtigung: Auf der Conference for International Economic Cooperation verhandelten zwischen Dezember und Juni die EWG-Staaten mit »Entwicklungsländern« über Fragen der Energieversorgung und Handels- und Entwicklungspolitik. Gerade Frankreich ging es jedoch auch darum, die ökonomische und politische Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten zu verringern und das auf Freihandel ausgerichtete System von Bretton Woods durch eine andere Ordnung abzulösen. Diese sollte durch ein »kollektives Management der globalen Mechanismen durch die Staatengemeinschaft« die freie Zirkulation von Menschen, Gütern und Kapital mit dem Recht jeder Regierung verbinden, das Schicksal ihres Landes selbst zu bestimmen. M. de Guiringaud, Rapport a M. le Président de la République, . Okt. , zit. nach Garavini, The Colonies Strike Back, S. . Siehe auch Türk, The Oil Crisis; Garavini, After Empires, S. -. Barraclough, Geoffrey: The Great World Crisis I, The New York Review of Books, . Jan. . Eine »globale Krise« wurde im Oktober auch in der eingangs erwähnten Declaration of Interdependence diagnostiziert. Siehe Hoover Institution Archives, Paul Robert Hanna Papers, box , folder . Entsprechende Verbindungen bemerkte zeitgenössisch auch Deutsch, On Inequality and Limited Growth (). Die Bedeutung dieses Kontextes für die amerikanischen Reaktionen auf die NIEO betont Sargent, North/South. Keohane, Crisis of Interdependence (), S. . Dazu auch Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane ().
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einer neuen amerikanischen Außenpolitik. Das State Department beuaftragte deshalb im Jahr das Center for International Studies (CIS) des MIT, die entstehenden »Muster von Interdependenz in einer multipolaren Welt« eingehender zu untersuchen. Unter dem Titel Toward a Strategy of Interdependence sollte ein einjähriges Forschungsprojekt neue Methoden zur Bewertung dieser Entwicklungen entwerfen und damit auch Optionen aufzeigen, wie die amerikanische Politik reagieren könne. Seine Leitung lag bei dem Politikwissenschaftler Lincoln P. Bloomfield, der nicht nur über gute Kontakte in die Sowjetunion verfügte ( war er der erste amerikanische Gast am Moskauer Institut für USA- und Kanadastudien gewesen), sondern schon in Nelson Rockefellers Präsidentschaftskampagne für Kissinger gearbeitet hatte. Als zentrales Merkmal der bisherigen Debatte machte Bloomfield die Darstellung wachsender Verflechtung als »Tatsache« aus. Nahezu alle Beobachter seien sich einig, dass Interdependenz von Handel und Finanztransfers über Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsmittelversorgung bis hin zu Fragen globaler Gerechtigkeit alle Politikbereiche betreffe. Doch niemand scheine wirklich zu wissen, wie man mit Interdependenz umgehen solle oder wie sie »sachlich oder konzeptionell« überhaupt zu fassen sei. Solange er alles und nichts bedeuten könne, sei der Begriff jedoch wertlos. Um den analytischen Wert des Konzeptes zu schärfen und daraus die gewünschten Empfehlungen für die Politik ableiten zu können, arbeitete Bloomfield zunächst drei »Typen« von Interdependenz heraus. Der Begriff umfasse in seiner aktuellen Verwendung Zusammenhänge im Bereich der Umwelt, im Bereich der Sicherheit und Nuklearstrategie, und schließlich das »Netz von Transaktionen, Strömen und Interaktionen in den Bereichen des Handels, der Rohstoffe, der Investitionen und des Geldes«. Ökonomische und Sicherheitsfragen seien eng verbunden und stünden im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzung. Anschließend betonte der Politikwissenschaftler, dass globale Verflechtung kein unabwendbares »Schicksal«, sondern das Ergebnis bewusster Entscheidungen sei. Hierfür biete gerade die Ölkrise anschauliche Belege. Sie machte jedoch auch deutlich, dass Abhängigkeitsverhältnisse nicht nur von quantifizierbaren Noch Anfang der er Jahre hatte Kissinger die Konferenzen der Bündnisfreien Staaten dagegen für irrelevant gehalten. Siehe Doc. : Memorandum from the President’s Assistant for National Security Affairs (Kissinger) to President Nixon, Washington [], in: FRUS -, Volume XXIX, Eastern Europe; Eastern Mediterranean, -, Washington D. C. , S. -. Die Ergebnisse des Projekts erschienen in vier Bänden: Band I befasste sich mit analytischen Perspektiven und politischen Handlungsempfehlungen. Band II widmete sich dem Energiebereich, Band III methodischen Fragen, Band IV fasste die Ergebnisse des Projektes zusammen. Teil I und III des ersten Bandes wurden zusammengefasst publiziert als: The Department of State, Toward a Strategy of Interdependence (). Zu seiner Biografie siehe Bloomfield, Accidental Encounters with History (). Weitere Bearbeiter waren Bloomfields Frau, die ehemalige neuseeländische Diplomatin Irirangi C. Bloomfield, die beiden IB-Spezialisten Hayward und Ann Alker sowie Nazli Choucri und Vincent Ferraro.
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Indikatoren, sondern auch entscheidend von Wahrnehmung geprägt wurden: »You are dependent if you think you are.« Die Sozialwissenschaften müssten deshalb neue und präzisere »konzeptionelle Werkzeuge« entwickeln und für eine differenzierte Analyse von Interdependenz Kategorien wie »Sensibilität« und »Verwundbarkeit« einbeziehen, sowie die »Kosten« berücksichtigen, die entstünden, wenn Akteure aus Abhängigkeitsverhältnissen ausbrächen. Der US-Regierung empfahl Bloomfield, durch die Regulierung der Tätigkeit multinationaler Unternehmen auf die »Dritte Welt« zuzugehen. Gleichzeitig sollten jedoch die wichtigsten Erdölproduzenten stärker in die Weltwirtschaft eingebunden werden, um ihr Interesse an deren Stabilität zu erhöhen. Insgesamt riet Bloomfield, die Vereinigten Staaten dürften nicht nur auf Probleme reagieren, sondern müssten sich an die Spitze der Suche nach einer besseren, für alle Seiten vorteilhaften neuen Weltordnung setzen und damit eine bewusste, zielgerichtete »Strategie der Interdependenz« verfolgen. In der Praxis waren Bloomfields Empfehlungen jedoch alles andere als leicht umzusetzen. Denn Henry Kissinger musste nicht nur die Forderungen der »Dritten Welt« und die Positionen der Verbündeten berücksichtigen, sondern war auch mit konkurrierenden Lagern unter Experten für Weltwirtschaft und Weltpolitik, aber auch unter Mitgliedern der US-Regierung selbst konfrontiert. Manche Kommentatoren wiesen die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung rundheraus zurück und vertraten ganz eigene Interpretationen der Folgen einer interdependenten Welt. Solche Positionen speisten sich aus zwei unterschiedlichen Quellen: Dem Glauben an das ungehinderte Spiel des freien Marktes einerseits und dem Glauben an die nahezu absolute Handlungsmacht der amerikanischen Regierung andererseits. Diese unterschiedlichen Sichtweisen auf den Charakter und die Konsequenzen einer interdependenten Welt äußerten sich besonders deutlich in unterschiedlichen Reaktionen auf die Ölkrise und die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung.
Neoliberale In der Regierung Ford stellten vor allem Finanzminister William Simon und William Seidman, der Wirtschaftsberater des Präsidenten, die Neue Weltwirtschaftsordnung als sozialistisches Konzept dar. Jedes Entgegenkommen kompromittiere deshalb die grundlegende amerikanische Verpflichtung auf den »freien Mark und freies Unternehmertum«. An dieser Sicht auf das Nord-Süd Alker/Bloomfield/Alker, Analyzing Global Interdependence, Vol. I (), S. , -, das Zitat S. . Ebd., S. -, -, , . Zum letzten Teil ausführlicher The Department of State, Toward a Strategy of Interdependence (), S. -. Ähnliche Empfehlungen zur Nord-Süd-Kooperation auch bei Cooper, Panel Discussion (). Doc. : Memorandum From the Economic Policy Board to President Ford, Washington, undated, in: FRUS -, Volume XXXI, Foreign Economic Policy, , Washington D. C. , S. f. Vgl. dazu auch Bair, Taking Aim.
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Verhältnis wird hier eine weitere Variante des Umgang mit globaler Verflechtung und der ihretwegen aus Sicht der Zeitgenossen gestiegenen Komplexität der Weltwirtschaft und Weltpolitik deutlich. Denn während sich Marxisten, Keynesianer und »liberale Internationalisten« in den er Jahren bemühten, die soziale Welt so weit wie möglich analytisch zu durchdringen, um so Interdependenz politisch steuern zu können, hielten sogenannte »Neoliberale« solche Versuche für kontraproduktiv. Auch die unter diesem Begriff zusammengefassten »marktliberalen« Ansätze und Politikrezepte waren keine Innovation der er Jahre. Vor dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Selbstzweifel der er Jahre und den wirtschaftlichen Problemen dieser Zeit, bei deren Bewältigung klassische keynesianische Instrumente zu versagen schienen, konnten sie nun jedoch an Evidenz in den Wirtschaftswissenschaften und an Einfluss in der Politik gewinnen. Bereits in den er Jahren hatten Ludwig von Mises und sein Schüler Friedrich August von Hayek angesichts der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs »totalitärer« Ideologien den »freien Markt« gegen staatliche Planung und Steuerung gestellt. Als dessen wichtigster Verteidiger erschienen nun die Vereinigten Staaten, wohin von Mises , Hayek emigrierte. Dort konnten sie mit ihren Ideen an »libertäre« Traditionen des Individualismus anschließen. In den Folgejahren entstand ein transnationales Netzwerk von Instituten, Stiftungen und Think Tanks, die entsprechende Theorien für die praktische Politik übersetzten und marktorientierte Lösungen für soziale Probleme propagierten. Anfang der er Jahre sorgte das Zusammenspiel von ökonomischen, politischen und fachlichen Krisendiagnosen dafür, dass das »marktliberale« Paradigma in Wissenschaft und Politik an Evidenz gewinnen konnte. In den amerikanischen Wirtschaftswissenschaften war nach dem Zweiten Weltkrieg »Wissenschaftlichkeit« besonders konsequent als Theoriebildung mittels abstrakter mathematischer Modelle interpretiert worden. Seit den er Jahren dominierte die »neoklassische Synthese« (Paul A. Samuelson), die keynesianische Makro- und »neoklassische« Mikroökonomie miteinander verband. Die Methoden des Fachs konzentrierten sich daher auf »Spieltheorie« und »rational choice-Ansätze«, die vor allem die Optimierung von Ressourcenallokation in den Blick nahmen. Ab Mitte der er Jahre machte sich jedoch auch in den Für einen Überblick vgl. Steger/Roy, Neoliberalism; Ther, Der Neoliberalismus. »Freiheit« bedeutete für Hayek primär ökonomische Freiheit des Individuums gegenüber staatlicher Intervention und Bevormundung. Hayek, Why I Am Not a Conservative (); Hayek, Liberalism (). Dazu Slobodian, Globalists, Kap. und . Etwa das Institute for Economic Affairs () in Großbritannien und das American Enterprise Institute () sowie die Heritage Foundation () in den USA. Vgl. Beaud/Dostalter (Hg.), Economic Thought Since Keynes; in kritischer Absicht Bernstein, Academic Research Protocols; Bernstein, A Perilous Progress. Zur »Neoklassik« Morgan, Economics. Zudem Mirowski, Machine Dreams; Amadae, Rationalizing Capitalist Democracy; Backhouse, The Stabilization of Price Theory; Backhouse, Economics.
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Wirtschaftswissenschaften die »post-behavioralistische Revolution« bemerkbar. In der Mikroökonomie wurde jetzt wieder über die Formalisierung und Mathematisierung der Disziplin gestritten. rief die britische Ökonomin Joan Robinson eine »zweite Krise« der ökonomischen Theorie aus, nachdem deren erste in den er Jahren die Dominanz des Keynesianismus eingeläutet hatte. Der »Konsens« der »neoklassischen Synthese« war damit aufgebrochen worden und konnte von neuen Ansätzen herausgefordert werden. Die einflussreichste Alternative wurde von der sogenannten »Chicago School« vertreten. An der dortigen Universität hatten im Anschluss an Hayek Ökonomen um Milton Friedman Ansätze entwickelt, die statt einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik auf die Beeinflussung der Geldmenge (»Monetarismus«), die Verbesserung der Bedingungen auf der Angebotsseite und eine »Freisetzung der Marktkräfte« abzielten. Keynesianismus und Staatsintervention erschienen ihnen als »Sozialismus« und »Kollektivismus«, der »freie Markt« dagegen als ein »unverzichtbares Mittel auf dem Weg zu politischer Freiheit«. Die wachsende Attraktivität solcher Ansätze in den er Jahren ergab sich auch aus den Problemen, vor die der Umgang mit wachsender Verflechtung die Sozialwissenschaften stellte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen die selbstbewusste Haltung vorgeherrscht, soziale Zusammenhänge nicht nur nahezu vollständig analytisch durchdringen, sondern damit auch politisch steuern zu können. Im Lauf der er Jahre waren innenpolitische Reformvorhaben wie Johnsons »Great Society«, aber auch Entwicklungsprojekte nach den Vorgaben der Modernisierungstheorie jedoch an ihre Grenzen gestoßen. Auf der Deutungsebene trug die stetig wachsende Verflechtung und Interdependenz der Welt dazu bei, deren »Komplexität« immer weiter zu steigern, während gleichzeitig die bisherigen Gewissheiten der hochmodernen Interpretation dieser Entwicklungen verloren gingen. Während Anhänger von Weltmodellen versuchten, der wachsenden Komplexität des Gegenstandes mit einer Steigerung der Komplexität ihrer Theorien und mit computergestützten Berechnungen beizukommen, schlugen Vertreter »neoliberaler« Ansätze einen entgegengesetzten Weg ein: Sie standen der Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Weltdurchdringung grundsätzlich skeptisch gegenüber. Friedrich von Hayek hatte schon in den er Jahren argumentiert, die Vernunft könne soziale Zusammenhänge nie völlig erfassen. Die Versuche der behavioralistischen Sozialwissenschaften, mit ihren Arbeiten die Grundlagen für staatliche Planung und Steuerung zu legen, hielt Hayek für einen Abuse of Reason, den er in die Nähe zum Sozialismus rückte. Denn menschliches Wissen Siehe etwa Morgenstern, Limits (); Robinson, The Second Crisis of Economic Theory (). Friedman, Capitalism and Freedom (), S. f. Dazu Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. . Dazu Kapitel .. Hayek, The Counter-Revolution of Science (). Vgl. dazu auch Caldwell, Hayek’s Challenge, S. -. Aus dieser Stoßrichtung hatte Hayek schon gegen Ende des
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sei so weit verteilt, die Welt so komplex und kontingent, dass keine Sozialwissenschaft sie je vollständig erfassen, keine Planungsautorität sie je steuern könne ‒ ein Argument, das Hayek so wichtig war, dass er es zum Thema seiner Vorlesung in Stockholm machte, als ihm der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen wurde. Der von Politikwissenschaftlern wie Lincoln Bloomfield, Robert Keohane oder Joseph Nye vertretene Ansatz, wachsende Interdependenz durch umfassend angelegte sozialwissenschaftliche Untersuchungen so gut wie möglich zu verstehen, um sie anschließend durch die Kooperation von Regierungen politisch zu steuern, war in Hayeks Perspektive nicht nur unmöglich umsetzbar, sondern auch gar nicht wünschenswert. Denn solche Bemühungen unterdrückten nur Innovation und Eigeninitiative. Lasse man sie dagegen frei agieren, sorgten rationale Individuen durch die Verfolgung ihrer Eigeninteressen letztlich auch für das Gesamtwohl. Gegen den Ansatz der Weltmodelle und gegen die kooperative Steuerung von Interdependenz stellte Hayek damit die Idee vom »Markt« als einem dezentralisierten Informationsprozessor, der alleine in der Lage sei, aus konkurrierenden Ideen die besten herauszufiltern, für eine effiziente Allokation von Ressourcen zu sorgen und damit den hohen Grad an Komplexität sozialer Zusammenhänge zu bewältigen. In Zeiten »post-behavioralistischer« Selbstzweifel der Sozialwissenschaften stand den Wirtschaftswissenschaften damit unmittelbar ein erklärungsstarkes Alternativangebot zur Verfügung: Der »Markt« wurde jetzt als vermeintlich ahistorische, kulturunabhängige und extra-soziale Gegebenheit naturalisiert und mit Qualitäten eines Akteurs ausgestattet. Gleichzeitig wurde er zu einer Ordnung erklärt, die ihrerseits so komplex sei, dass sie nur durch »Evolution« zustande gekommen sein könne. Mit dem Evidenzgewinn dieser AnZweiten Weltkriegs Konzepte einer internationalen Wirtschaftsplanung kritisiert, die nur zu Konflikten und kolonialen Verhältnissen führen würden. Ein stabiler Frieden entstehe dagegen aus dem freien Spiel des Marktes, das ökonomische Verflechtungen erzeuge. Nötig sei lediglich eine internationale Organisation, ausgestatt mit den »powers of the ultra-liberal ›laissez-faire‹ state«, die Staaten von Aktionen abhalten sollte, die anderen schaden könnten. Hayek, The Road to Serfdom (), S. . Hayek, The Pretence of Knowledge (). Dazu Guilhot, One Discipline, Many Histories, S. f. Hayek, Liberalism (), S. . Buckley/Casson, Future () argumentierten hingegen im Rahmen ihrer Theorie der »Internationalisierung«, Interdependenz dürfe nicht einfach dem »freien Mark« überlassen werden, sondern müsste von multinationalen Unternehmen organisiert werden. Denn diese könnten in unvollkommenen Märkten Transaktionskosten niedriger halten, als dies im Falle eines freien Austausches zwischen unabhängigen Firmen der Fall sei. Laut Slobodian, Globalists sprachen sich »Neoliberale« nicht gegen jegliche staatliche Regulierung des Marktes, sehr wohl jedoch gegen seine Aufteilung in und Kontrolle durch Nationalstaaten aus. Vgl. Hodgson, Hayek; Angner, Did Hayek Commit the Naturalistic Fallacy?. Hayek hatte sogar einen neuen Begriff entworfen: Während »economics« suggeriere, dass Menschen in einer sozialen Gruppe gemeinsame Werte und Ziele besäßen, sollte »catallaxy« vermitteln, dass Preise das Ergebnis konkurrierender Ziele von Individuen
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nahme schienen sich die Wirtschaftswissenschaften weder mit der Konstruktion sozialer Zusammenhänge auseinandersetzen zu müssen, noch waren sie von der wachsenden Verzweiflung anderer Sozialwissenschaften an der Komplexität der Welt betroffen. Damit konnten sie als einzige Disziplin mit gestärktem Selbstbewusstsein aus der Krise der Sozialwissenschaften der er Jahre hervorgehen und im folgenden Jahrzehnt die Soziologie als zentrale Leitwissenschaft ablösen. In einer übersetzten Version spielten marktliberale Ansätze ab Mitte der er Jahre eine zunehmende Rolle für wirtschaftspolitischen Entscheidungen von Regierungen in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern. Nachdem die etablierten Instrumente zur Wirtschaftssteuerung und -stimulierung versagt hatten, half das Vertrauen auf den »Markt« dabei, die Komplexität der verschiedenen miteinander verbundenen Problemlagen zu reduzieren. Deren Lösung schien nun im Rückzug der Politik und der Freisetzung der Kreativität individueller Akteure zu liegen. Die Politik hatte dann nur noch die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Mitte der er Jahre rückten Vertreter solcher Ansätze in politisch einflussreiche Positionen ein. Alan Greenspan, ein Anhänger der libertären Ideen Ayn Rands, wurde im September Vorsitzender von Fords Council of Economic Advisers. William Simon, selbsterklärter Verteidiger des freien Marktes gegen die »dominante sozialistisch-etatistisch-kollektivistische Orthodoxie«, war seit Mai dieses Jahres Finanzminister. Der Umgang solcher Akteure mit einer verflochtenen Welt zeigt sich besonders deutlich an ihrer Reaktion auf die Forderungen der »Dritten Welt«. Denn sie
einer sozialen Gruppe waren. U. a. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Vol. (), S. f. So auch Hesse, Keynes’ zweiter Frühling; Backhouse/Fontaine, Toward a History of the Social Sciences, S. . Zu den ideenhistorischen Verschiebungen Rodgers, Age of Fracture, S. -. Ursache und Wirkung sind hier nur schwer zu bestimmen: »Liberalisierung« beziehungsweise »Deregulierung« der Finanzmärkte nach dem Ende des Systems von Bretton Woods waren gleichzeitig Folge und Verstärker dieses Paradigmenwechsels. Siehe MacKenzie, An Engine, Not a Camera. Manche Autoren sehen diese Transformation durch ökonomische Entwicklungen weitgehend vorgegeben, etwa Webb, The Political Economy. Andere erklären sie durch bewusste Entscheidungen politischer Akteure, besonders in der US-Regierung: Kapstein, Governing; Helleiner, Explaining; Helleiner, States. Diesen politisch-pragmatischen Aspekt betont besonders Krippner, Capitalizing on Crisis. Dazu für die Bundesrepublik Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. ff. und Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. . Gerade bei der Reaktion auf die finanzpolitischen Folgen der Ölkrise lassen sich erste Einflüsse dieses Denkens beobachten: Das »Petrodollar-Recycling« fand, anders als von Saudi-Arabien und den meisten westeuropäischen Ländern geplant, auf Druck der US-Regierung nicht mittels einer Institution des IWF, sondern über private Banken und Finanzmärkte statt. Sargent, The United States and Globalization, S. . Simon, A Time for Truth (). Zu Greenspan und dem Einfluss Ayn Rands siehe Burns, Goddess of the Market, S. - und Greenspan, The Age of Turbulence (), S. -.
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wiesen jede Verpflichtung der »entwickelten« Staaten zurück, ihre Hilfe auszuweiten. Im Gegenteil, besonders von Regierungen kontrollierte »Entwicklungshilfe« schade sowohl den ökonomischen Möglichkeiten als auch den individuellen Menschenrechten der dortigen Bevölkerungen. Für ein optimales und für alle Beteiligten vorteilhaftes Funktionieren der Weltwirtschaft brauchte es aus dieser Perspektive keine internationalen Institutionen oder Abkommen, sondern ausschließlich das freie Spiel des Weltmarktes. Wenn es darum ging, die Strukturen der Weltwirtschaftsordnung so zu ändern, dass sie die »Industrieländer« nicht mehr einseitig bevorteilten und für die »Entwicklungsländer« wenigstens gleiche Wettbewerbsbedingungen bereitstellten, hatte der Glaube an den »freien Markt« jedoch seine Grenzen. Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung wurden nicht nur von Fords Finanzminister Simon oder von dessen Wirtschaftsberater Seidman, sondern auch von Ökonomen wie Harry Johnson von der Universität Chicago abgelehnt, der dahinter merkantilistische Ideen vermutete. Arthur Burns, Chairman der Federal Reserve, deutete die NIEO im Mai nicht als Ausdruck des Strebens nach gerechteren Wettbewerbsbedingungen unter den neuen Bedingungen der Interdependenz, sondern als verdeckten Versuch, den Weltmarkt zu manipulieren oder zu kontrollieren. Jeder Versuch der Regulierung und Steuerung globaler Interdependenz durch Regierungen war ihm und anderen »Neoliberalen« höchst suspekt. Für Burns ging es dabei um einen grundlegenden ideologischen Konflikt zwischen »freiem Unternehmertum im Gegensatz zu Sozialismus«.
Neokonservative Während die »Neoliberalen« Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung vor allem als Bedrohung des »freien Marktes« zurückwiesen, führte eine andere Akteursgruppe stärker machtpolitische Argumente dagegen ins Feld. Die sogenannten »Neokonservativen« oder »neocons« teilten durchaus die Diagnose wachsender globaler Interdependenz, betonten aber die negativen Folgen Johnson, Panel Discussion (). Ähnlich auch Friedman/Friedman, Free to Choose (), S. -. Slobodian, Globalists, S. - hebt zwar auch die Bedeutung des freien Flusses von Informationen für das »neoliberale« Denken hervor, betont aber im Gegensatz zu anderen Autoren, dass dieser durchaus durch internationale Normen im Rahmen des GATT reguliert und dadurch vor der NIEO »geschützt« werden sollte. Johnson, The New International Economic Order (). Doc. : Memorandum of Conversation (Ford, Kissinger, Simon, Murton, Dunlop, Greenspan et al.), Washington, . Mai , in: FRUS -, Volume XXXI, Foreign Economic Policy, -, S. -, hier: . Auch der Politikwissenschaftler Stephen Krasner interpretierte die NIEO als regelrechten Angriff auf den »globalen Liberalismus«. Krasner, Transforming International Regimes () und ausführlicher Krasner, Structural Conflict ().
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dieser Entwicklung für internationale Stabilität. Statt multilateraler Kooperation brauchte eine verflochtene Welt aus ihrer Sicht mehr denn je die selbstbewusste Führung durch die Vereinigten Staaten. Was passieren konnte, wenn das Land Schwäche zeigte, sei an der Ölkrise und der Debatte um eine Neue Weltwirtschaftsordnung mehr als deutlich geworden, auf die »Neokonservative« deshalb mit Demonstrationen amerikanischer Entschlossenheit und Stärke reagieren wollten. Bei den so bezeichneten Akteuren handelte es sich um ein loses »Denkkollektiv« ohne organisatorische Struktur ‒ prominente Vertreter wie Norman Podhoretz oder Irving Kristol haben »Neokonservatismus« als »tendency« oder »persuasion« bezeichnet. Deren Ursprung liegt in den innenpolitischen Debatten der er Jahre: »Neokonservative« der »ersten Generation« hatten in ihrer Jugend häufig mit marxistischen oder trotzkistischen Ideen sympathisiert und wohlfahrtsstaatliche Reformen durchaus befürwortet. Die ambitionierten Sozialprogramme der Great Society und jegliche Form der affirmative action lehnten sie jedoch zunehmend ab. Denn solche Maßnahmen konnten aus ihrer Sicht wegen der angenommenen »kulturellen« Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen niemals zu den versprochenen Ergebnissen führen. Auch bei »Neokonservativen« wuchs damit die Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Sozialwissenschaften, die Komplexität des Sozialen analytisch zu durchdringen. Der Soziologe Daniel Patrick Moynihan argumentierte Ende der er Jahre ähnlich wie Hayek, dass Wissenschaftler und staatliche Stellen die Folgen ihres Handels bei Weitem nicht so gut prognostizieren könnten wie sie gerne behaupteten. Nach Irving Kristols einflussreicher Definition war ein »Neokonservativer« damit ein ehemaliger »Liberaler«, der von der Realität »überfallen« worden sei. Der Begriff »Neokonservative« war seit Ende der er/Anfang der er Jahre in Gebrauch, wurde aber als Selbstbezeichnung meist noch abgelehnt. In den er Jahren war er bereits zu einer eingeführten Bezeichnung geworden (vorher u. a. »new conservatives«). Dazu Vaïsse, Neoconservatism, S. -. Podhoretz, Neoconservatism (); Kristol, The Neoconservative Persuasion (). Moynihan, The Professionalization of Reform (). Zur »ersten Generation« werden u. a. Daniel Bell (-), Nathan Glazer (geb. ) oder Irving Kristol (-) gezählt. Vgl. dazu Vaïsse, Neoconservatism, S. -, -. Hier löste besonders der sogenannte »Moynihan-Report« im Jahr eine große Kontroverse aus, in dem die Probleme der »Negro Family« vor allem auf die kulturell bedingte Abwesenheit der Väter zurückgeführt wurden. Dazu zusammenfassend Moynihan, Maximum Feasible Misunderstanding (). Siehe auch Glazer, The Limits of Social Policy () und rückblickend Glazer, Neoconservative from the Start (), S. . Moynihan, Where Liberals Went Wrong (), S. ; Moynihan, The Professors and the Poor (); Moynihan, Maximum Feasible Misunderstanding (), bes. S. xiiixiv, liv, . Ähnlich Ginzberg/Solow, Some Lessons of the ’s (). Goodman, Walter: Irving Kristol: Patron Saint of the New Right, in: The NYT Magazine, . Dez. und Kristol, Reflections ().
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Das traf auch auf die »Neokonservativen« der sogenannten »zweiten Generation« zu. Bei ihnen handelte es sich überwiegend um Mitglieder der Demokratischen Partei, die in der »neuen Linken« und der »Gegenkultur« einen Verfall »amerikanischer Werte« erblickten. Die Nominierung George McGoverns zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten war für sie ein Zeichen dafür, dass die Partei die Interessen ihrer Basis in der traditionellen Arbeiterschaft, die »unyoung, unpoor, unblack« sowie »middle-class, middle-aged, and middleminded« sei, aus den Augen verloren habe. Während manche deshalb öffentlich zur Wahl Nixons aufriefen, vertraten die meisten »Neokonservativen« den Anspruch, die wahren Werte des »vital center liberalism« gegen Angriffe von links wie rechts zu verteidigen. Zu diesem Zweck formierte sich im Dezember um den demokratischen Senator Henry »Scoop« Jackson die Coalition for a Democratic Majority (CDM), die die Demokratische Partei wieder auf einen Kurs in der Tradition des »New Deal« ausrichten wollte. Ihr hatte sich auch Zbigniew Brzezinski angeschlossen, der für gewöhnlich nicht dem »Neokonservatismus« zugerechnet wird. Der Beitritt des eher an außenpolitischen denn an sozial- oder kulturpolitischen Fragen interessierten Politikwissenschaftlers macht deutlich, dass sich der Fokus der Aufmerksamkeit mittlerweile verschoben hatte. Obwohl auch viele »Neokonservative« den Vietnamkrieg abgelehnt hatten, sahen sie im daraus hervorgegangenen »Vietnam-Syndrom« die größte Bedrohung für die amerikanische Position in der Welt. Denn mit dem Krieg in Südost-Asien hatte die Bereitschaft der Amerikaner, eine global aktive Außenpolitik ihres Landes zu unterstützten, stark abgenommen. Die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion ließ Anfang der er Jahre das Szenario einer globalen kommunistischen Bedrohung immer unglaubwürdiger erscheinen und trug damit zusätzlich zu dem Eindruck bei, der außenpolitische »Konsens« des Kalten Krieges sei jetzt zerfallen. Für »Neokonservative« ging die größte Bedrohung des Weltfriedens, der Demokratie und der Menschenrechte nicht vom amerikanischen »Imperialismus« aus, wie die »neue Linke« behauptete, ja nicht einmal mehr von der Sowjetunion selbst. Die größte Bedrohung seien vielmehr Behauptungen wie die McGoverns, der sowjetische Expansionismus existiere »mehr in unseren Köpfen als in der Realität«. Denn damit drohten aus neo Scammon/Wattenberg, The Real Majority (), S. . Vgl. dazu Miroff, The Liberals’ Moment. Die Liste mit Nixon-Unterstützern (u. a. Gertrud Himmelfarb, Fred C. Ikle, Morton A. Kaplan, Irving Kristol, George Liska, Robert A. Nisbet, Edward Shils und Leo Strauss) erschien am . Oktober in der New York Times, Section , S. . Themen wie Religion, traditionelle Familienwerte oder Abtreibung, die jetzt die »Konservativen« zunehmend beschäftigten, spielten bei »Neokonservativen« jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Anschaulich beschrieben bei McGirr, Suburban Warriors. Gegen den Slogan McGoverns »Come Home, America«. Am . Dezember in der New York Times und der Washington Post veröffentlicht. Eine Analyse der Mitgliederstruktur des CDM in Vaïsse, Neoconservatism, S. -. Semple, Robert: McGoverns Position on Foreign Policy: A Broad Pattern Seems to Be Emerging, NYT, . Sept. .
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konservativer Sicht das Abgleiten der Amerikaner in dekadente Isolation, Protektionismus und eine Politik des »Appeasement« gegenüber der Sowjetunion. Diese Entwicklungen schwächten zudem die transatlantische Allianz: Auf dem Pariser Treffen der Atlantic Treaty Organization klagte der französische Philosoph und Soziologe Raymond Aron im Oktober , die wachsende Interdependenz im nordatlantischen Raum sei nicht genug, um das westliche Bündnis zusammenzuhalten. Es brauche vielmehr einen gemeinsamen Feind, der mit der Entspannung jedoch verloren gegangen sei. Die Feststellung, dass das zentrale Problem der Vereinigten Staaten und des westlichen Bündnisses schwindendes Selbstverstrauen und der Verlust eines klaren Feindbildes waren, stand auch hinter dem Umgang der »Neokonservativen« mit wachsender Interdependenz, besonders zwischen »Nord« und »Süd«. Auch in diesem Zusammenhang waren der Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel und die anschließende Ölkrise im Herbst ein zentraler Wendepunkt. Der Einfluss dieser Ereignisse auf die Deutung der Weltpolitik lässt sich nahezu idealtypisch am Beispiel des Juristen Eugene V. Rostow beobachten, dem Bruder von Walt Whitman. Nachdem er von bis Under Secretary of State for Political Affairs in der Regierung Johnson gewesen war, hatte er bereits heimlich für Nixon gestimmt, war aber dennoch der CDM beigetreten. Kissingers Entspannungspolitik hatte Rostow zunächst unterstützt. Die Ereignisse im Herbst führten jedoch dazu, dass er seine Meinung innerhalb kürzester Zeit revidierte: Der Jom-Kippur-Krieg habe bewiesen, dass die Entspannung bloß eine »Illusion« gewesen sei, die ein trügerisches Gefühl der Sicherheit vermittelt habe. Denn in Rostows Augen stand hinter dem Angriff auf Israel und dem Erdölembargo die steuernde Hand der Sowjetunion, die damit das globale Mächtegleichgewicht zu ihren Gunsten verändern wolle ‒ die weltweite Lage sei damit so gefährlich geworden wie seit nicht mehr. Raymond Aron: The Ambiguities of Interdependence, Presented at the ATA Annual Assembly in Paris, France, .-. Okt. , EVRP, Original Accession, box , folder: Atlantic Treaty Association. Zustimmung erfuhr Aron hier von Eugene Rostow: The Certitudes of Interdependence. Closing Remarks to ATA annual Assembly in Paris, France, . Okt. , EVRP, Original Accession, box , folder: Atlantic Treaty Association. Rostow to Hillary Clinton, . Dez. , EVRP, Accession -M-, box , folder Correspondence C-F. Memorandum: Talking Points for a Speech on Foreign Policy by Senator Jackson, . Juni , EVRP, Accession -M-, box , folder: Fosdick, Dorothy; Eugene Rostow: The Best is Yet to Be, Remarks at the Yale Law School Dinner during the Annual Convention of the American Bar Association, Washington D. C., . Aug. , EVRP, Accession -M-, box , folder: Freedom House. Eugene Rostow to Hubert Humphrey, . Okt. , EVRP, Original Accession, box , folder: Hc-Hz (-Present); Middle East Crisis Led World to Brink, ex-U. S. official says, St. Louis Globe-Democrat, October , , EVRP, Accession -M-, box , folder: The American Jewish Committee; Eugene Rostow: Draft of Comment for the New Leader on Professor Morgenthau’s Article in the Issue of December , , EVRP, Original Accession, box , folder: New-Nz (-Present); Eugene Rostow,
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Rostow teilte die Unzufriedenheit der Regierung Nixon mit dem Verhalten der europäischen Verbündeten im Rahmen der Ölkrise, machte dafür aber die Vereinigten Staaten selbst verantwortlich. Denn die amerikanische Niederlage in Vietnam, die Annäherung an die Sowjetunion, das Ende des Systems von Bretton Woods, die Nixon-Doktrin und der Neo-Isolationismus in den Vereinigten Staaten hätten Zweifel an der amerikanischen Führungsstärke entstehen lassen und die Verbündeten so verunsichert, dass sie jetzt glaubten, ihr Heil in bilateralen Abkommen mit den Erdölproduzenten suchen zu müssen. Entsprechende Rückmeldungen kamen auch aus Europa: Kurt Birrenbach, langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter, verglich in einem Brief an Rostow die Situation Mitte der er Jahre mit dem Rückzug der USA aus der Weltpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. »Neokonservative« hatten damit eine ganz eigene Meinung zu der Frage, wie auf die Ölkrise reagiert werden sollte: Der Politikwissenschaftler Robert W. Tucker, der noch für einen »neuen Isolationismus« geworben hatte, sprach sich in der Zeitschrift Commentary für eine militärische Intervention in der Golfregion aus. Auch andere »Neokonservative« empfahlen zumindest eine harte Haltung gegenüber den Erdölproduzenten, eine Erhöhung der Rüstungsausgaben und der amerikanischen Truppenpräsenz in der Region. Noch im Frühjahr hatte die Washington Post Akteure auf beiden Seiten des Atlantiks, die sich nicht mit »neuen Problemen« wie der Regulierung der Weltwirtschaft, sondern mit den »alten Problemen« des Kalten Krieges befassten, als »Yesterday’s Men« bezeichnet. Jetzt stießen deren Forderungen nach einer stärkeren Konzen-
article draft: What’s Wrong with Step-by-Step Diplomacy, Feb. , EVRP, Original Accession, box , folder: Wa-Wek. Eugene Rostow: The Soviet Threat to Europe through the Middle East, . Juni , EVRP, Accession -M-, box , folder: The Soviet Threat to Europe through the Middle East. Ähnlich Wohlstetter, Threats and Promises of Peace (). Dazu Rosenberg, The Quest against Détente. Rostow, Eugene V.: Implications of October War and Echoes of the Rhineland, International Herald Tribune, . April . An den ehemaligen belgischen Premierminister Pierre Harmel schrieb Rostow, Nitze und andere Mitglieder des Atlantic Council seien »disgusted« gewesen. Eugene Rostow to Pierre Harmel, . Nov. , EVRP, Original Accession, box , folder: Correspondence Ha-Hd. Siehe auch Eugene Rostow: Where are We, and Where are We Going? Reflections on the Future of Atlantic Relations, Prepared for Delivery at the Annual Dinner of the British Atlantic Committee, London, . Dez. , EVRP, Accession -M-, box , folder: MiscellaneousEVR. Kurt Birrenbach to Rostow, . Feb. , EVRP, Original Accession, box , folder: Atlantic Treaty Association. Zu den Netzwerken Durham/Power, Transnational Conservatism. »Neokonservatismus« ist ein auch für eine intellektuelle Strömung in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte gebrauchter Begriff, der jedoch andere Ideen und Akteure bezeichnet als im amerikanischen Fall. Dazu Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Tucker, Oil: The Issue of American Intervention ().
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tration auf die sowjetische Bedrohung und einer Bekräftigung der globalen Führungsrolle der Vereinigten Staaten wieder verstärkt auf Resonanz. Akteure wie Paul Nitze, der unter Johnson stellvertretender Außenminister und noch bis Mitte Vertreter der Regierung Nixon in den Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion gewesen war, kritisierten nun die von Kissinger vorangetriebene Entspannungspolitik zunehmend schärfer. Dessen Bemühungen, die amerikanische Außenpolitik an die neuen Umstände einer multipolaren und interdependenten Welt und die daraus entstandenen Grenzen amerikanischer Macht anzupassen, interpretierten sie als Kapitulation vor der Behauptung, dass sich die Vereinigten Staaten im Niedergang befänden. Gegen solchen angeblichen Defätismus stellten »Neokonservative« die starke Überzeugung, dass die Macht der Vereinigten Staaten ungebrochen sei. Ihrer Bevölkerung und insbesondere ihrer Führung fehle nach dem Vietnamkrieg und den Unruhen der er Jahre lediglich das Selbstvertrauen und die Entschlossenheit, um ihre Position in der Welt zu verteidigen. Bei diesen Debatten handelte es sich um grundlegende Auseinandersetzungen um die ›richtige‹ Deutung der gegenwärtigen Welt. Viele »Neokonservative« teilten durchaus die Diagnose wachsender Interdependenz, zogen daraus jedoch andere Schlüsse als »liberale« Politikwissenschaftler, denen sie die »naive« Annahme unterstellten, wachsende Verflechtung werde zu einer friedlicheren Welt führen. Gerade die Doppelkrise im Herbst und die Reaktion der Europäer darauf wiesen aus ihrer Perspektive in eine ganz andere Richtung. Paul Nitze sah jetzt die Annahme widerlegt, dass wirtschaftliche Faktoren in den internationalen Beziehungen wichtiger geworden seien als diplomatische oder militärische und dass eine multipolare Welt von mehreren Machtzentren kooperativ gesteuert werden könne. Gerade die Ölkrise habe gezeigt, dass »ein hohes Niveau an wirtschaftlicher Entwicklung« ohne Verbindung mit anderen Elementen von Macht primär eine Quelle der Verwundbarkeit darstelle. Auch für Robert Tucker war Nossiter, Bernard D.: Yesterday’s Men in Europe, U. S. Upset at New Policies, WP, . März , S. A. Solche Treffen fanden etwa jährlich im Rahmen der gegründete Atlantic Treaty Association statt, die eine Dachorganisation für nationale Gruppen wie das Atlantic Council in den USA oder die Deutsche Atlantische Gesellschaft darstellte. Paul H. Nitze: Presentation before the Conference on OPEC: Confrontation or Accomodation, The Johns Hopkins School of Advanced International Studies, Washington D. C., . Mai , Library of Congress, Washington D. C., Paul H. Nitze Papers, box I:, folder : Lord, Winston, . Zumwalt, On Watch (), S. . Zu Admiral Zumwalt, der als überzeugter Antikommunist und Bürgerrechte-Verfechter ein nahezu prototypischer »Neokonservativer« war, vgl. Vaïsse, Neoconservatism, S. -. Paul H. Nitze: Where We Are, How We Got There, Presentation before the Miami Council on Foreign Relations, . April , LoC, Nitze Papers, box I:, folder . Siehe auch Eugene Rostow: Draft of Comment for the New Leader on Professor Morgenthau’s Article in the Issue of December , , EVRP, Original Accession, box , folder: New-Nz (-Present), Rostow to Humphrey, . April , EVRP, Original Accession, box , folder: Hubert H. Humphrey.
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militärische Macht nach wie vor der zentrale Faktor der Weltpolitik. Die Ölkrise stellte für ihn durchaus eine »Lehrstunde in der Politik der Interdependenz« dar ‒ bisher sei diese Lektion allerdings nicht sehr vertrauenserweckend. Denn die gegenwärtige Entwicklung weise nicht in Richtung Verflechtung, sondern in Richtung Spaltung und nationale Autarkie. Eugene Rostow argumentierte ähnlich: Chaos und Konflikt seien die wahrscheinlichsten Folgen wachsender globaler Interaktion. Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung waren damit für »neokonservative« Kommentatoren keine notwendige Anpassung der Weltordnung an die neuen Rahmenbedingungen internationaler Politik, sondern Ausdruck eines gefährlichen »Egalitarismus«, der nur zu neuen Konflikten führen werde. Für Irving Kristol war die ganze Debatte um internationale Verteilungsgerechtigkeit nur vorgeschoben: »Unterentwicklung« sei schließlich kulturell und politisch, nicht strukturell bedingt. Die Forderungen der »Dritten Welt« waren für ihn vielmehr der Beginn eines »neuen Kalten Krieges« zwischen »liberal-kapitalistischen Gesellschaften« und ihren Gegnern aufseiten des Kommunismus, des Sozialismus oder des Neo-Faschismus, in dem es die grundlegenden Werte der »liberalen Zivilisation« zu verteidigen gelte. Die ›richtige‹ Deutung der aktuellen Entwicklung der Weltpolitik war dabei ein zentrales Schlachtfeld dieses Konflikts, auf dem »Neokonservative« nun in die Offensive gehen wollten: Norman Podhoretz argumentierte , die amerikanische Stärke lasse sich am besten bündeln, wenn die gesamte Aufmerksamkeit wieder auf die nach wie vor wichtigste Herausforderung der Gegenwart gerichtet werde: den Konflikt mit der Sowjetunion. Denn sie stand aus Sicht der »Neokonservativen« hinter der Ölkrise und auch hinter den Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Die plötzliche Begeisterung der Anhänger einer »Politik der friedlichen Interdependenz« für Entwicklungen, die die Vereinigten Staaten nicht kontrollieren konnten, war für »Neokonservative« dagegen nur ein Indiz für deren Bemühungen, ihre politische Inkompetenz und mangelnde Willensstärke zu rationalisieren. Die Rede vom »Ende des Kalten Krieges« und seiner Ablösung durch ein »Zeitalter der Interdependenz« erschien Tucker, Oil: The Issue of American Intervention (), S. . Eugene Rostow: The Agenda for Atlantic Action. Address before the Deutsche Gesellschaft für Auswaertige Politik, . Nov. , EVRP, Accession -M-, box , folder Second Amsterdam Conference. Tucker, A New International Order? (); Tucker, Egalitarianism (). Kristol, Irving: The »New Cold War«, WSJ, . Juli . Podhoretz, Making the World Safe for Communism (). Tucker, Oil: The Issue of American Intervention (), S. . In einem Leserbrief kritisierte der in Harvard lehrende Politikwissenschaftler Stanley Hoffmann die Thesen Tuckers und argumentierte, die Ölkrise habe die Stellung der USA im westlichen Bündnis eher gestärkt als geschwächt. Die Vereinigten Staaten müssten auf dem Weg zu einem »world system both less brutal and less unfair than that of the past« mit gutem Beispiel vorangehen und Lösungen suchen, die »Interdependenz maximieren« und bewusst wechselseitige Abhängigkeit zwischen Erdölproduzenten und -konsumenten herstellen halfen. Hoffmann, Oil & Force (), S. . Siehe auch die Reak-
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damit geradezu gefährlich: Sie schwäche den Verteidigungswillen der westlichen Allianz, indem sie eine friedliche und harmonische Welt suggeriere, die es in Wirklichkeit nicht gebe.
The Challenge of Interdependence ‒ Die Reaktion Henry Kissingers Zwischen solchen gegensätzlichen Weltdeutungen und politischen Strategien in der amerikanischen Gesellschaft und Regierung, zwischen den Forderungen des »globalen Südens«, der Haltung der Verbündeten und den Interessen der Vereinigten Staaten selbst musste nun Henry Kissinger navigieren. Als Außenminister und Nationaler Sicherheitsberater war er auch in der Regierung Ford weiterhin federführend für alle internationalen Angelegenheiten verantwortlich. Als wichtigste Aufgabe erschien nun die Erarbeitung einer außenpolitischen Strategie für das neue »Zeitalter der Interdependenz« und als deren zentraler Bestandteil die Formulierung einer amerikanischen Antwort auf die Herausforderung durch das Projekt einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Dabei setzte Kissinger stark auf eine Rhetorik globaler Verflechtung, aus der er jedoch ganz andere Schlussfolgerungen zog als die Vertreter des »Südens«. In internen Gesprächen machte Kissinger deutlich, dass er das Projekt einer Neuen Weltwirtschaftsordnung verhindern, dafür jedoch keine offene Konfrontation suchen wollte. Denn in diesem Fall fürchtete er, selbst von den Westeuropäern in den Vereinten Nationen im Stich gelassen zu werden. Er verfolgte deshalb eine Strategie des »konstruktiven Appeasement«: Öffentlich äußerte er ein gewisses Verständnis für die Forderungen der »Dritten Welt« und die relativ entgegenkommende Haltung der europäischen Verbündeten. Die ideologisierte Gegenüberstellung von »freiem Markt« und »reguliertem Markt«, wie sie manche Mitglieder der Regierung Ford vertraten, wollte Kissinger ebenso vermeiden wie Demonstrationen militärischer Stärke, um moderate Staaten des »Südens« und die Westeuropäer nicht auf die Seite der radikalen Kritiker der »liberalen Weltordnung« zu zwingen. Bei der Stabilisierung von Nahrungsmittelund Rohstoffpreisen wollte Kissinger den Forderungen des »Südens« entgegenkommen, um so radikale Kräfte zu isolieren, den »Block« der G aufzubrechen
tion in Tucker, Further Reflections on Oil & Force () und später Tucker, Oil and American Power (). Rostow, Eugene V.: Implications of October War and Echoes of the Rhineland, International Herald Tribune, . April . »Beaten back and back, with no support«. Doc. : Memorandum of Conversation (Ford, Kissinger, Simon, Murton, Dunlop, Greenspan et al.), Washington, . Mai , in: FRUS -, Volume XXXI, Foreign Economic Policy, -, S. -, hier: .
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und einen Keil zwischen erdölproduzierende und erdölimportierende Länder der »Dritten Welt« zu treiben. Zu dieser Strategie gehörte wie schon im Umfeld der Ölkrise auch eine Rhetorik der Interdependenz: Das Argument der Unterstützer einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, dass das Wohlergehen jedes einzelnen Staats von der Prosperität der gesamten »internationalen Gemeinschaft« abhänge, findet sich auch bei Kissinger. Er zog aus dieser Einschätzung jedoch andere Schlussfolgerungen und argumentierte, gerade deswegen schade eine konfrontative Haltung der OPEC und der »Dritten Welt« allen und nütze keinem. Schon im April hatte Kissinger vor der UN-Generalversammlung argumentiert, die Ölkrise habe bisherige Vorstellungen eines »reichen Nordens« und eines »armen Südens« ad absurdum geführt. Gerade die »großen Fragen der Entwicklung« dürften nicht als Verteilungskampf aufgefasst werden. Die Regierungen der Welt müssten stattdessen »mit der Tatsache unserer Interdependenz zurechtkommen« und gemeinsam Entscheidungen treffen. Denn was auch immer ihre jeweilige ideologische Überzeugung oder soziale Struktur war ‒ alle Länder seien Teil eines einzigen internationalen Wirtschaftssystems. Keine Nation und kein Block von Nationen könne deshalb unilateral die Gestalt der Zukunft bestimmen. Gerade im Bereich der Energie könne keine Nation ein Interesse daran haben, eine Inflationsspirale und eine »globale Rezession« in Gang zu setzen, die am Ende das Einkommen aller Staaten reduziere. Die Handlungen der OAPEC und der OPEC hätten jedoch die Lage der Entwicklungsländer noch verschlimmert ‒ der Pfad zu »Entwicklung« sei im Gegensatz zu deren Ansatz nicht Umverteilung, sondern weiteres Wachstum im Rahmen einer liberalen Weltwirtschaftsordnung. Auf der siebten Sondersitzung der Generalversammlung im September ließ Kissinger eine Rede verlesen, die Maßnahmen gegen die Hungerkrise, neue Handelspräferenzen sowie die Kooperation der Vereinigten Staaten bei der Stabilisierung der Rohstoffpreise versprach – nicht jedoch durch eine grundlegende Umgestaltung der Weltordnung, sondern durch fallweise zu
»Constructive appeasement« nach Sargent, North/South, S. . Dazu die Dokumente bis in: FRUS -, Volume XXXI, Foreign Economic Policy, -, Washington D. C. , S. - sowie die Ausführungen in der anschließenden Editorial Note, S. -. Zudem Kissinger, Years of Renewal (), S. -. Vgl. auch Berger, The Nation-State. The Challenge of Interdependence. Statement by Secretary Kissinger before the Sixth Special Session of the United Nations General Assembly, . April , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Mai , Washington D. C. , , hier: f. Für Reaktionen darauf siehe Kissinger at UN, NYT, April , ; Resources for Mankind, NYT, . April ; Turning towards Global Problems, Washington Post, . Mai . The Global Challenge and International Cooperation, Address by Secretary Kissinger, . Juli , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Aug. , Washington D. C. , S. -.
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verhandelnde Vereinbarungen. Im Frühjahr nahm er schließlich persönlich an der vierten UNCTAD in Nairobi teil, um zu demonstrieren, welch hohe Bedeutung die USA der Notwendigkeit »neuer kooperativer ökonomischer Arrangements« zumaßen. Hier schlug Kissinger anstelle des von der UNCTAD geforderten Rohstoff-Fonds die Errichtung einer Internationalen Rohstoffbank vor, zu der es jedoch nie kam. Eng verbunden mit dieser Rhetorik der Interdependenz war eine Rhetorik der »globalen Probleme«: Gerade die Frage der Nahrungsmittelversorgung erklärte Kissinger zu einem solchen Weltproblem. Früher sei Hunger als lokale, maximal nationale Tragödie verstanden worden. Mittlerweile sei das Bewusstsein dagegen »global« und Hunger zu einer »weltweiten politischen Angelegenheit« geworden, zu einem Problem, das nur gemeinsam, nicht durch eine fordernde Haltung der »Dritten Welt« gelöst werden könne. Ein international koordiniertes System nationaler Nahrungsmittelreserven sollte deshalb dabei helfen, Hungerkrisen weltweit zu bekämpfen. Präsident Ford kündigte im September in einer Rede vor der UN-Generalversammlung an, die Nahrungsmittelhilfe der Vereinigten Staaten auszuweiten, erwartete jedoch auch von anderen Ländern, insbesondere den Erdölproduzenten, verantwortungsbewusstes Handeln. Die USA würden sich keinesfalls einer »Tyrannei der Mehrheit« beugen, in einer eng verflochtenen Welt schadeten sich Vertreter einer konfrontativen Politik am Ende nur selbst. Denn alle Länder, gleich ob entwickelte oder sich entwickelnde, ob Marktwirtschaften oder Nicht-Marktwirtschaften seien Teil »eines interdependenten Wirtschaftssystems«. Anstatt sich so zu verhalten, als lebe die Mensch-
Global Consensus and Economic Development. Text of Address by Secretary Kissinger, Read before the Seventh Special Session of the U. N. General Assembly on Sept. by Daniel P. Moynihan, U. S. Representative to the United Nations, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Sept. , Washington D. C. , S. -. Dazu auch Moynihan/Weaver, Einspruch! (), S. ff. Kissinger, Years of Renewal (), S. ; UNCTAD IV: Expanding Cooperation for Global Economic Development. Address by Secretary Kissinger, . Mai , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Mai , Washington D. C. , S. -. Siehe dazu auch Report on Secretary Kissinger’s Trip to Africa, . Mai , GFPL, National Security Advisor Files, Memoranda of Conversations, box und die Dokumente - in: FRUS -, Volume XXXI, Foreign Economic Policy, -, Washington D. C. . World Food Conference Meets at Rome, Address by Secretary Kissinger, . Nov. , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , December , , Washington D. C. , S. -, hier: . Strengthening the World Economic Structure, Address by Secretary Kissinger, . Mai , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Juni , Washington D. C. , S. -. Zu dieser Thematik auch die Dokumente , und in: FRUS -, Volume XXXI, Foreign Economic Policy, -, Washington D. C. .
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heit noch in einer »Zeit der Dependenz«, müssten sich alle Länder deshalb ihrer Pflichten in einer neuen »Ära der Interdependenz« bewusst werden. Auf die Strategie der US-Regierung, die Politik der Erdölproduzenten und die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung gegeneinander auszuspielen, reagierten die Mitgliedsstaaten der OPEC mit dem Argument, die Preiserhöhungen seien im Interesse der gesamten Menschheit gewesen, weil sie ein neues Bewusstsein für die Begrenztheit des Rohstoffes Erdöl geschaffen hätten. Zudem betonten sie noch stärker die Interdependenz aller Nationen, insbesondere aber die der erdölproduzierenden und erdölimportierenden Länder des »Südens«: »Die Interdependenz der Nationen, deutlich geworden in der wirtschaftlichen Lage der Welt«, mache internationale Kooperation, ein neues Preisbildungsverfahren für Rohstoffe und die Umsetzung der Neuen Weltwirtschaftsordnung unabdingbar, erklärte die OPEC im März . Je deutlicher sich das Scheitern ihrer Forderungen abzeichnete, desto mehr setzten auch andere Befürworter der Neuen Weltwirtschaftsordnung auf Argumente, die die Verflechtung der Interessen von »Nord« und »Süd« betonten. Der ägyptische Ökonom Samir Amin argumentierte noch , das Projekt sei absolut konform mit den Prinzipien des »liberalen Westens«. Denn es lege den größten Wert auf das Ziel »intensivierter, weltweiter ökonomischer Interdependenz« und hätte damit von »Wirtschaftsprofessoren an den konservativsten Universitäten« entwickelt worden sein können. Diese Rhetorik der konstruktiven Kooperation mit dem »Norden« und der Geschlossenheit des »Südens« verhinderte jedoch nicht, dass die USA zu einigen Mitgliedsstaaten der G besondere Beziehungen aufbauen konnten. Lincoln Bloomfield hatte schon in seiner Studie für das State Department empfohlen, durch engere wirtschaftliche Zusammenarbeit bewusst Verflechtungen und wechselseitige Abhängigkeiten mit Erdölproduzenten herzustellen, um so den Rückfluss von »Petrodollars« in den amerikanischen Markt sicherzustellen, das Interesse dieser Länder an der Stabilität der Weltwirtschaft zu erhöhen und sie zu »verantwortungsvollem« Handeln anzuhalten. bezeichnete er diese Strategie als »deliberate interdependence«. Die Regierung Nixon griff diesen Vorschlag auf, ergänzte Ford, Gerald, Address to the UN General Assembly, Sept. , www.presidency. ucsb.edu/documents/address-the-th-session-the-general-assembly-the-unitednations (..). Solemn Declaration of the Conference of the Sovereigns and Heads of State of the OPEC Member Countries, Algiers, .-. März , www.opec.org/opec_web/ static_files_project/media/downloads/publications/Solemn_Declaration_I-III .pdf (..). Weitere Belege bei McFarland, The New International Economic Order, S. f. Amin, NIEO (), S. . Alker/Bloomfield/Alker, Analyzing Global Interdependence, Vol. I (), S. ; Statement by Lincoln Bloomfield in U. S. Arms Sales Policy: Hearings before the Committee on Foreign Relations and the Subcommittee on Foreign Assistance of the Committee on Foreign Relations, United States Senate, th Congress, nd Session, on Proposed Sales of Arms to Iran and Saudi Arabia, ., . und . Sept. , Wash-
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ihn jedoch um Waffenlieferungen, schon weil Staaten wie der Iran oder SaudiArabien im Rahmen der »Nixon-Doktrin« auch die politische und militärische Stabilität in ihrer jeweiligen Region garantieren und damit die Erdölversorgung des Westens in doppelter Weise sichern sollten. Kissinger nutzte damit ökonomische Fragen, um eine neue und stabile politische Weltordnung nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Eine weitere Maßnahme, um mit den Herausforderungen einer interdependenten Welt umzugehen, war die Verbesserung der Koordination und Kooperation innerhalb des »westlichen Bündnisses«. Deshalb sollten nun die jeweiligen Positionen zur Erdölversorgung und zur zukünftigen Gestalt der ökonomischen Weltordnung besser abgestimmt werden. Neue, informelle Foren des Austausches sollten die Formierung gemeinsamer Positionen außerhalb der jetzt vom »Süden« dominierten Strukturen des UN-Systems ermöglichen. Dazu zählten insbesondere die »Weltwirtschaftsgipfel«, zu denen sich die Staats- und Regierungschefs der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland, Italiens und Japans erstmals im November im französischen Rambouillet trafen. Diese sechs großen Industrienationen (G), ab um Kanada zur G erweitert, wollten hier in informeller Runde über Fragen der Weltpolitik, insbesondere aber der Weltwirtschaft und der Energieversorgung beraten und eine Nachfolgelösung für das zerfallene Währungssystem von Bretton Woods erarbeiten. Schon weil diese Themenfelder jetzt zunehmend als »sicherheitsrelevant« gesehen wurden, sollten die Gipfel auch dazu dienen, das transatlantische Bündnis wieder zu stabilisieren, das seit den er Jahren eine Reihe von Krisen erlebt hatte. Weder auf diesem noch auf den folgenden Treffen gelang es jedoch, eine Weltwirtschafts- und Weltfinanzordnung zu entwerfen, die das System von Bretton Woods hätte ersetzen können. Nachdem das sogenannte Jamaica Agreement vom Januar endgültig freie Wechselkurse im Rahmen der IWF-Vereinbarungen festschrieb, verlagerte sich die Zusammenarbeit der westlichen Industriestaaten auf die kurzfristige Koordination
ington D. C. , S. -, hier: . Simon Bromley hat unter anderem deshalb die Ölkrise nicht als Schwächung, sondern als Stärkung des amerikanischen Einflusses in der Welt interpretiert. Bromley, American Hegemony. Siehe etwa Doc. : Memorandum of Conversation, Washington, . Aug. , in: FRUS -, Volume XXXVII, Energy Crisis -, Washington D. C. , S. -. Ähnlich auch Helmut Schmidt in Doc. : Minutes of the Rambouillet Economic Summit Meeting, Rambouillet, . Nov. , in: FRUS -, Volume XXXVII, Energy Crisis -, Washington D. C. , S. -, hier: . Doc. : Memorandum of Conversation [Ford, Kissinger, Scowcroft], Washington, . Mai , in: FRUS -, Volume XXXI, Foreign Economic Policy, , Washington D. C. , S. -. Dazu James, Rambouillet; Mourlon-Druol/Romero (Hg.), International Summitry. Das Argument der »Versicherheitlichung« dieser Themenfelder bei Schulz-Walden, Anfänge globaler Umweltpolitik; Böhm, Die Sicherheit des Westens; Seefried, Globale Sicherheit.
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ihrer Politik. Hier wurden die Gipfeltreffen der G, die bis heute jährlich stattfinden, schnell zu einem zentralen Forum. Das Treffen in Rambouillet mochte zunächst wenig konkrete Ergebnisse gebracht haben, nach Meinung der amerikanischen Botschaft in Paris sensibilisierte es die großen Industrieländer jedoch stärker als je zuvor für ihre »profunde Interdependenz«. In ihrer Abschlusserklärung hielten die versammelten Staats- und Regierungschefs im November fest, »in einer Welt wachsender Interdependenz« müssten über alle Unterschiede »in den Stadien der wirtschaftlichen Entwicklung, im Besitz natürlicher Reichtümer und in den politischen und gesellschaftlichen Systemen« hinweg Bemühungen um eine »engere internationale Zusammenarbeit und konstruktiven Dialog« intensiviert werden. Nur so ließen sich Arbeitslosigkeit, Inflation und Energieprobleme überwinden und langfristig Wachstum und Stabilität sichern. Die Teilnehmer des Treffens verpflichteten sich deshalb, fortan auf Maßnahmen zu verzichten, die die Probleme des einen auf Kosten der anderen lösen sollten. Obwohl hier und auf späteren Treffen immer wieder von »weltweiter Interdependenz« die Rede war, ging es jedoch primär um wechselseitige Abhängigkeit zwischen den »Industrieländern« und um den Versuch, nationale Alleingänge auf Kosten der anderen Gipfelteilnehmer zu vermeiden. Die übrige Welt spielte primär als Objekt solcher Koordinationsbemühungen eine Rolle: Schon in Rambouillet hatten die G erklärt, die Wiederbelebung ihres eigenen Wachstums werde letztlich auch den »Entwicklungsländern« zugutekommen. Auch die folgenden Weltwirtschaftsgipfel waren von einer Rhetorik der Interdependenz geprägt, die primär Zusammenarbeit von Industriestaaten mit ähnlichen ökonomischen Interessen begründen sollte. Gleichzeitig nahmen die G-Staaten für sich in Anspruch, im Interesse der Welt als Gesamtheit zu handeln. In der Abschlusserklärung ihres dritten Gipfels in London erklärten sie , das Treffen habe ihr Bewusstsein für die enge Wechselbeziehung aller behandelter Fragen sowie für »unsere eigene Interdependenz« gestärkt. Maßnahmen, die den hier vertretenen Industriestaaten zugute kämen, seien aber auch für die übrige Welt vorteilhaft: »We have agreed on how we can best help to promote the well-being both of our own countries and of others.« Solche Behauptungen wirkten aus Sicht des »Südens« wenig überzeugend. schaukelte sich die Auseinandersetzung zwischen den radikaleren der in der G vertretenen Länder und den Vereinigten Staaten in der UNO noch weiter Paris Embassy to [State] Department, Evening Report, . Dez. , GFPL, National Security Adviser Files, International Economic Affairs Staff, box , Economic Summits ‒ Puerto Rico. Erklärung von Rambouillet, . Nov. , www.g.utoronto.ca/deutsch/ram bouillet/.pdf (..). International Economic Summit Meeting ‒ Joint Declaration Issued at the Conclusion of the Meeting, . Mai , www.presidency.ucsb.edu/documents/international-economic-summit-meeting-joint-declaration-is sued-the-conclusion-the-meeting (..). Dazu auch McFarland, The New International Economic Order, S. .
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hoch. Wie andere »Neokonservative« hatte auch Daniel Patrick Moynihan, der aus dem Soziologie-Department in Harvard auf den Posten des US-Botschafters in Indien gewechselt war, hier eine konfrontative Haltung eingenommen: Die Entwicklungsländer seien für ihre Probleme selbst verantwortlich, wollten das jedoch nicht zugeben und hätten sich deshalb einer »sozialistischen« und »umverteilenden« Ideologie verschrieben. Diese Haltung war innenpolitisch so populär, dass Moynihan im Juni von Präsident Ford zum US-Botschafter bei den Vereinten Nationen ernannt wurde. Moynihan verband nun vorher weitgehend getrennte Politikfelder und mobilisierte ganz im Sinne der »neokonservativen« Agenda die Sprache der »individuellen Menschenrechte« gegen die Forderungen der Entwicklungsländer, aber auch gegen die »Realpolitik« Kissingers. Unrühmlicher Höhepunkt der Konfrontation in den Vereinten Nationen war Resolution der Generalversammlung, die im November den Zionismus zu einer »Form des Rassismus und der rassischen Diskriminierung« erklärte. US-Botschafter Moynihan vermutete ganz im Deutungsmuster des bipolaren »Kalten Krieges«, dass die Sowjetunion hinter dieser Resolution steckte und sah die Vereinten Nationen endgültig zum »Theater des Absurden« verkommen. Im Februar wurde Moynihan auf Drängen Kissingers als UNBotschafter abgelöst, zog jedoch nur ein Jahr später in den Senat ein. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch bereits deutlich geworden, dass die Vereinigten Staaten und der »Westen« insgesamt, anders als noch / befürchtet, keinesfalls als »Verlierer« aus dem »Nord-Süd-Konflikt« hervorgehen würden. Der Höhepunkt des Selbstbewusstseins und der Einheit der »Dritten Welt« war schon wenige Jahre nach der Ölkrise wieder überschritten und einer anderen Sicht auf die weltweiten Machtverhältnisse gewichen. Damit wurde selbst die partielle Umsetzung des Projekts einer Neuen Weltwirtschaftsordnung immer unwahrscheinlicher. Autoren wie Michael Hudson oder Mark Mazower haben dafür den Widerstand des »Westens«, in erster Linie die unnachgiebige Position der US-Regierung verantwortlich gemacht. Daniel Sargent bewertet Kissingers Strategie dagegen positiver: Er habe die Notwendigkeit einer Reform der internationalen Ordnung erkannt, jedoch eine Spaltung des »Westens« und eine revolutionäre Umgestaltung der bereits geschwächten »liberalen Weltordnung« Moynihan, The United States in Opposition (). UN General Assembly Resolution , A/RES/, . Nov. , »Elimination of All Forms of Racial Discrimination«. Dazu Troy, Moynihan’s Moment und zum Hintergrund in der Bewegung der Bündnisfreien Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. -. Moynihan/Weaver, Einspruch! (), S. , . Dazu auch Mazower, Governing the World, S. -. Dazu zeitgenössisch Bhagwati, Introduction (). Das zeigte sich auch im Unterschied zwischen Lomé I () und Lomé II (). Dazu die Einschätzung der CIA: International Issues Review, November , www.cia.gov/library/readingroom/ docs/CIA-RDPTA-.pdf (..). Hudson, Global Fracture (); Mazower, Governing the World, bes. S. -.
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verhindern wollen. Kissingers Strategie sei zwar durchaus zynisch gewesen, insgesamt jedoch auch »umsichtig«, »kreativ« und »progressiv«. Gleichzeitig darf bei der Suche nach den Ursachen des Scheiterns der Neuen Weltwirtschaftsordnung nicht nur auf die US-Politik geblickt werden. Sie finden sich ebenfalls in den kritisierten strukturellen Bedingungen, aber auch in der Politik der »Entwicklungsländer« selbst. Versuche, neben der »Ölwaffe« auch andere Rohstoffkartelle zur Durchsetzung politischer Ziele des »Südens« zu nutzen, waren nie richtig in Fahrt gekommen. Nachdem beispielsweise die Preise für Kupfer mit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods und im Zuge des Petrodollar-Recyclings zunächst gestiegen waren, brachen sie Ende wieder dramatisch ein. Daneben hatten auch Bemühungen, durch die Stärkung der ökonomischen Süd-Süd-Kooperation und den Aufbau eines Solidaritätsfonds die »kollektive Eigenständigkeit« (collective self-reliance) der »Dritten Welt« zu stärken und ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt und der Wirtschaftspolitik der Industrieländer zu verringern, letztlich nicht zu den erhofften Erfolgen geführt. Das lag auch daran, dass sich »der Süden« auf dem scheinbaren Höhepunkt seiner Geschlossenheit und seines politischen Einflusses in Wirklichkeit noch weiter auseinanderentwickelt hatte. Eine zentrale Ursache war hier gerade die Ölkrise: Viele Länder, die über keine eigenen Erdölvorkommen verfügten, hatten schon ab die negativen Folgen steigender Rohölpreise zu spüren bekommen. Gleichzeitig waren angesichts der Inflation in Westeuropa und Nordamerika die Preise für Industriegüter und Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt gestiegen, es kam zu einer regelrechten »oil and food crisis«. Mit der »zweiten Ölkrise« infolge der Islamischen Revolution im Iran im Jahr mussten Länder der »Dritten Welt« ohne eigene Erdölvorkommen für den Import dieses Rohstoffes ihre letzten Devisen aufwenden. Jetzt konnten viele »Entwicklungsländer« Kredite nicht mehr bedienen, die sie wegen der »Petrodollarschwemme« zuvor relativ leicht erhalten hatten. Noch verschlimmert wurde die Lage dadurch, dass die meisten OECD-Staaten angesichts ihrer eigenen ökonomischen Schwierigkeiten im Laufe der er Jahre ihre Aufwendungen für »Entwicklungshilfe« stark zurückgefahren hatten. Hinzu kamen schließlich noch durch politische Konflikte bedingte Probleme: Ägyptens Friedensschluss mit Israel und das anschließende Zerwürfnis innerhalb der Bündnisfreien hatten zur Folge, dass auch die arabischen Erdölproduzenten ihre finanzielle
Sargent, North/South, S. -. Vgl. Kreienbaum, Der verspätete Schock, S. . Am Beispiel Sambias ebd., S. -. Barraclough, Geoffrey: Wealth and Power: The Politics of Food and Oil, in: The New York Review of Books, . Aug. . Vgl. Johnson/Wilson, The »Oil Crisis« and African Economies (). Dazu Killick, Eurocurrency Recycling (); Hallwood/Sinclair, Oil, Debt and Development (). Am Beispiel Sambias gezeigt von Kreienbaum, Der verspätete Schock. Andere Länder wie Indien konnten sich schneller wieder von den negativen Folgen der Ölkrise erholen, siehe Venn, The Oil Crisis, S. -.
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Unterstützung für andere Länder des »Südens« stark zurückfuhren. Die sowjetische Invasion in Afghanistan Ende und der irakisch-iranische Krieg im Jahr darauf führten zu einer weiteren Polarisierung innerhalb der Bündnisfreien und der OPEC und machten die Formulierung gemeinsamer Positionen »des Südens« so gut wie unmöglich. Letztlich war es der »Dritten Welt« zwar für einen kurzen Moment gelungen, aus der »nördlichen« Beobachterperspektive als eine bedrohliche Einheit zu erscheinen. Selbst die Neue Weltwirtschaftsordnung war jedoch eher ein Sammelbegriff für eine ganze Reihe von teils konkurrierenden Zielen denn eine kohärente politische Strategie. Der mit dem Projekt verbundene Anspruch zur Umgestaltung der Weltordnung war gewaltig ‒ die zur Umsetzung dieses Anspruches zur Verfügung stehenden ökonomischen und politischen Mittel waren es nicht. Die Folgen dieser Entwicklungen der er Jahre für die Länder der »Dritten Welt« waren somit keine Stärkung staatlicher Steuerungskompetenz und keine Verbesserung der strukturellen Bedingungen der Weltordnung, sondern im Gegenteil ökonomische Stagnation, politisch-soziale Probleme und eine dramatische Schuldenkrise in den er Jahren, die zu neuen, noch intensiveren Abhängigkeitsverhältnissen und einer Schwächung von Staatlichkeit in diesen Weltregionen führte. Mit der schwindenden Stoßkraft der Forderungen nach einer Umgestaltung der Strukturen des Welthandels gewannen marktorientierte Herangehensweisen an Fragen der Weltwirtschaft und der »Entwicklung« immer mehr an Einfluss, was die Situation des »Südens« letztlich noch weiter verschlechtern sollte.
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Im Zuge ihrer durch die erste Ölkrise stark gestiegenen politischen Bedeutung war »Interdependenz« zwischen und zu einem zentralen Schlagwort zur Beschreibung der gegenwärtigen Entwicklungen in Weltpolitik und Weltwirtschaft geworden. In der Debatte um die Neue Weltwirtschaftsordnung wurde der Begriff von Vertretern des »globalen Südens« genutzt, um ihre Forderungen nach einer grundlegenden Umgestaltung der ökonomischen und politischen Weltordnung zu begründen. Doch auch Henry Kissinger und andere Mitglieder der US-Regierung beriefen sich auf die wachsende Interdependenz von »Nord« und »Süd«. In ihrer Argumentation schadete Konfrontation in einer verflochtenen Welt letztlich allen. Sie versuchten zudem, die sozialistischen Staaten in Verflechtungszusammenhänge einzubinden. Während sich amerikanische In-
Die Konflikte innerhalb des Südens tragen etwa auf der sechsten Konferenz der Bündnisfreien in Havana im September deutlich zutage. Siehe Addresses delivered at the Sixth Conference of Heads of State or Government of Non-Aligned Countries, Havana, - September , La Habana , S. f., , , f.
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terdependenz-Rhetorik bis dahin vor allem auf den nordatlantischen Raum bezogen hatte, war sie damit nun erstmals wirklich global geworden. Historiker wie Mark Lawrence haben Kissingers Rede von einer veränderten Welt als pure Rhetorik verworfen, die die Forderungen des »Südens« delegitimieren und die ökonomische wie politische Hegemonie der USA sichern sollte. Aus der Sicht amerikanischer Beobachter traten Mitte der er Jahre jedoch eine ganze Reihe von Problemkomplexen plötzlich und nahezu gleichzeitig in Erscheinung, die noch dazu alle miteinander verbunden schienen. Es ist daher plausibler davon auszugehen, dass es sich bei einer Sicht auf Interdependenz, die deren potenziell negative Folgen betonte, nicht um bloße Rhetorik, sondern vielmehr um den Ausdruck einer tiefen Verunsicherung über die amerikanische Rolle und Handlungsoptionen in einer sich verändernden Welt handelte: »We are challenged by the huge problems, peace and war, energy, food, and we have a real belief in interdependence ‒ it is not just a slogan«, erklärte Kissinger im Oktober in einem Interview. Dahinter stand die in den Quellen dieser Zeit immer wieder zu beobachtende Diagnose, jetzt in einer neuen Ära zu leben, die ganz neue Anforderungen an die amerikanische Außenpolitik stellte. In ihrem ersten Bericht an den Kongress zur Außenpolitik hatte die Regierung Nixon schon im Februar erklärt, die »Nachkriegszeit in den internationalen Beziehungen« sei beendet. Gleichzeitig sei in einer »zunehmend interdependenten Weltwirtschaft« die politische Bedeutung ökonomischer Fragen noch gestiegen. Auch Kissinger vertrat wiederholt die Auffassung, die Nachkriegszeit sei nun endgültig beendet: Die »alten internationalen Muster« zerfielen, die »alten Slogans« sprächen niemanden mehr an und die »alten Lösungen« fruchteten nicht mehr. Damit sei eine neue Ära der Interdependenz angebrochen, in der »keine einzelne Nation, kein einzelner Teil der Welt« auf sich alleine gestellt Wohlstand oder Sicherheit erreichen könne. Paradoxerweise hatte für Kissinger jedoch gerade in dem Moment, als kooperatives Handeln so dringlich geworden war, das Bewusstsein für nationale und regionale Identitäten ebenfalls einen neuen Höhepunkt erreicht. Die »simplen Kategorien der Nachkriegszeit« passten damit endgültig nicht mehr auf die »komplexen Realitäten der modernen Welt«. Zum ersten Mal in der Geschichte, so Kissinger im Januar in einem Interview, sei Außenpolitik nun So Lawrence, Containing Globalism, S. . Reston, James: Partial Transcript of an Interview With Kissinger on the State of Western World, NYT, . Okt. . Nixon, Richard: First Annual Report to the Congress on United States Foreign Policy for the s, . Feb. , www.presidency.ucsb.edu/documents/first-annualreport-the-congress-united-states-foreign-policy-for-the-s (..). Kissinger, Henry A.: A New National Partnership. Speech by Secretary of State Henry A. Kissinger at Los Angeles, . Jan. , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Feb. , Washington D. C. , S. -, hier: . Kissinger, Henry A.: American Unity and the National Interest. Address by Secretary Kissinger, . Aug. , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Sept. , Washington D. C. , S. -, hier: .
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»wirklich global und deshalb wirklich kompliziert« geworden. Dahinter stand die stetig wachsende Verflechtung der Welt: »Unsere Interdependenz auf diesem Planeten«, so Kissinger im Juli , »ist die zentrale Grundlage unserer Diplomatie geworden«. Im November erklärte Kissinger, die Welt stehe an der Schwelle einer neuen Weltordnung, die sich jedoch erst langsam herausbilde: »We are stranded between old conceptions of political conduct and a wholly new environment, between the inadequacy of the nation-state and the emerging imperative of global community.« In Kissingers Haltung zu wachsender Interdependenz lässt sich kein grundlegender Widerspruch zwischen öffentlichen Verlautbarungen und internen Dokumenten feststellen. Seine Betonung der wechselseitigen Abhängigkeit der USA und Westeuropas, des »Nordens« und des »Südens« war instrumentell eingesetzte Rhetorik, gleichzeitig aber auch eine ernst zu nehmende Gegenwartsdiagnose. Anders als »Neoliberale« wollte Kissinger Verflechtung durchaus politisch steuern und nicht dem freien Spiel des Marktes überlassen. Anders als »Neokonservative« gefordert hatten, verzichtete er auf Konfrontation und eine Demonstration amerikanischer Stärke. Kissinger bewertete Interdependenz jedoch auch anders als »holistische« oder »emanzipatorische« Ansätze. Er baute seine Strategie auf die Annahme globalen Wandels auf, betonte aber eher dessen negative Folgen. Die rasche Ausbreitung ökonomischer Krisen gefährde die Stabilität der Weltwirtschaft, neue Akteure und ihre Forderungen schränkten den Handlungsspielraum nationaler Regierungen immer mehr ein und gefährdeten damit die Stabilität der Weltpolitik. Der emanzipatorischen »Interdependenz der Hoffnung« aufseiten des »globalen Südens« stand in den Worten Victor McFarlands bei Kissinger eine »Interdependenz der Furcht« gegenüber. Zentrales Ziel der außenpolitischen Strategie Kissingers war es deshalb durchaus, Interdependenz im Interesse der Vereinigten Staaten zu beeinflussen und damit »an element of choice from the pressure of circumstances« zu retten. Während »liberale« Politikwissenschaftler wie Lincoln Bloomfield jedoch empfahlen, hier möglichst viele Themen und Akteure in eine kooperative Steuerung von Verflechtung einzubeziehen und die Vereinigten Staaten Secretary Kissinger Interviewed for »Bill Moyers’ Journal«, . Jan. , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Feb. , Washington D. C. , S. , hier: . The Global Challenge and International Cooperation, Address by Secretary Kissinger, . Juli , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Aug. , Washington D. C. , S. -. Siehe auch Memorandum of Conversation, Cabinet Meeting: Puerto Rico Economic Summit, . Juni , GFPL, National Security Adviser Files, Memoranda of Conversations, box . Kissinger, Henry: The Global Community and the Struggle Against Famine. Address before the World Food Conference, Rome, Italy, GFPL, Ron Nessen Papers, box , folder: International Food Aid. Auch zit. in Keohane, Crisis of Interdependence (), S. . McFarland, The New International Economic Order, S. , . Kissinger, The White House Years (), S. .
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damit an die Spitze globalen Wandels zu setzen, wollte Kissinger die negativen Folgen wachsender Interdependenz für den politischen Einfluss und die Handlungsfreiheit der Vereinigten Staaten so weit wie möglich eindämmen und »neue« Themen und Akteure so lange wie möglich aus der Diplomatie fernhalten. Dazu gehörte die Aufmerksamkeit, welche die »Entwicklungsländer« für ihre Forderungen im Rahmen der UN-Generalversammlung erhielten. Denn die »Dritte Welt« war für Kissinger vor allem deshalb relevant, weil ihre Forderungen innen- wie außenpolitisch Probleme verursachten und ihre Konflikte das Verhältnis der Supermächte destabilisierten. Eine wichtigere Rolle in einer »demokratischeren« internationalen Politik wollte Kissinger Akteuren aus dem »Süden« dagegen nicht zugestehen. Das primäre Ziel für diese Weltregionen, dem auch die Entspannung mit der Sowjetunion dienen sollte, war damit »Stabilität«, um negative Einflüsse auf andere Politikfelder zu vermeiden. Fragen wie die Ausgestaltung der Weltwirtschaftsordnung sollten aus Sicht der US-Regierung in Foren wie der Weltbank, dem IWF oder dem GATT verhandelt werden, in denen sie einen größeren Einfluss ausüben konnte. Aus wachsender Verflechtung ergab sich für Kissinger somit keine Notwendigkeit für kooperatives Handeln aller Bewohner der Erde. »Interdependenz« war für ihn vielmehr der zentrale Begriff für neue Bedingungen für die US-Außenpolitik, unter denen es darum ging, den diagnostizierten Wandel so zu beeinflussen, dass die dominante globale Rolle der USA erhalten oder sogar gestärkt werde. Denn eine Welt, die von Turbulenzen und Wandel geprägt sei, brauchte für Kissinger mehr denn je ein selbstbewusstes Amerika, ohne dessen Führung es keine Stabilität, keine Verbesserung der Lebensbedingungen und keinen dauerhaften Frieden geben könne. Die aktive Gestaltung von Interdependenz stellte zudem in Aussicht, den Glauben der amerikanischen Bürger an eine positive Rolle ihres Landes in der Welt wiederherzustellen, dessen Verlust im Zuge des Vietnamkriegs die »Neokonservativen« so heftig beklagten. Für Winston Lord, unter Kissinger Leiter des Policy Planning Staff des State Department, lag die »new frontier« in einer global verflochtenen Welt nicht im Weltraum, sondern innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, die zunächst ihr Selbstbewusstsein wiedererlangen müsse. Kissinger, Central Issues (), S. -. Auch Richard Nixon hatte prognostiziert, es werde noch fünfzig Jahre dauern, bis Lateinamerika, fünfhundert bis Afrika eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielen könne. Recording of Nixon Meeting with Donald Rumsfeld, . März , Nixon Tapes, Oval Office Recordings, Conversation -, https://millercenter.org/the-presidency/secret-white-house-tapes/- (..). So Lawrence, Containing Globalism und Ferguson, Crisis, What Crisis?, S. . Kissinger, Henry A.: The Testing of American Commitment, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Nov. , Washington D. C. , S. -, hier: . Lord, Winston: America’s Purpose in an Ambiguous Age, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Nov. , Washington D. C. , S. -, hier: f.
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Mitte der er Jahre sah Kissinger die Welt damit am Scheideweg zwischen einem drohenden Chaos und einer besseren Weltordnung, mithin in einem Moment der »Krise« im wahrsten Sinne des Wortes. Alles hänge jetzt von der Entschlossenheit und dem Gestaltungswillen der Menscheit, insbesondere aber der Vereinigten Staaten ab: »We are at a period which in retrospect is either going to be seen as a period of extraordinary creativity or a period when really the international order came apart, politically, economically, and morally. […] if we act wisely and with vision, I think we can look back to all this turmoil as the birth pangs of a more creative and better system. If we miss the opportunity, I think there is going to be chaos.« Kissingers »Strategie der Interdependenz« beruhte letztlich auf einer ambivalenten Mischung aus einer neuen Perspektive auf die Welt einerseits und dem Festhalten an alten Denkmustern andererseits, insbesondere dem Blick auf die Weltpolitik als Wettbewerb der beiden Supermächte. Damit mag Kissingers Antwort auf die Diagnose wachsender Interdependenz nicht dem entsprechen, was wir heute unter global governance verstehen ‒ sie deshalb als pure Rhetorik abzutun würde jedoch verkennen, dass es auf die Diagnose einer zunehmend interdependenten Welt eine ganze Reihe von möglichen politischen Reaktionen gab.
. Wissenschaftlich-technische Revolution ‒ Interdependenz und die Sowjetunion Die sowjetische Auseinandersetzung mit Verflechtungen im Weltmaßstab war in ein ganz anderes politisches und ideologisches Umfeld eingebettet als in den Vereinigten Staaten, operierte mit anderen Begriffen und bot eine alternative Deutung wachsender Interdependenz. Gleichzeitig setzten sich sowjetische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler intensiv mit den Debatten im »Westen« auseinander und zogen politische Schlussfolgerungen aus ihren eigenen Beobachtungen, die denen ihrer »bürgerlichen« Kollegen nicht unähnlich waren. Hier wie dort wurden wissenschaftliche Handlungsempfehlungen in politische Strategien und Entscheidungen übersetzt. Für die historische Forschung sind solche Prozesse in der Sowjetunion bis heute allerdings nur schwer zu greifen. Einen ungewöhnlichen Einblick in die Debatten sowjetischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bietet das Protokoll einer Sitzung, zu der die Mitglieder des Direktoriums des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (Institut Mirovoj Ekonomiki i Meždunarodnych Otnošenij, Zit. in Reston, James: Now for the Last Quarter, NYT, . Jan. , S. . Mario Del Pero hat betont, dass sich Kissinger durch den Versuch der Entideologisierung der Weltpolitik einerseits von der Logik des »Kalten Krieges« entfernt habe. Andererseits habe er jedoch letztlich wieder eine bipolare Perspektive angelegt. Del Pero, The Eccentric Realist, S. f.
- IMEMO) am . November zusammengekommen waren, um den nächsten
Fünfjahresplan für die Arbeit ihrer Einrichtung zu besprechen. Das Institut der Akademie der Wissenschaften war im Zuge des wiederbelebten Interesses der sowjetischen Führung an der internationalen Politik gegründet worden. Seine Forschung wurde wie auch die der anderen Akademie-Institute seit jeweils für ein Jahr im Voraus geplant und orientierte sich an den Erfordernissen des allgemeinen Fünfjahresplans und an den Vorgaben des Zentralkomitees und des Außenministeriums. Für die jeden November oder Dezember stattfindende Sitzung reichten die einzelnen Abteilungen Vorschläge ein, wie die größeren Forschungsvorhaben – eventuell in Kooperation mit anderen Abteilungen oder anderen Instituten ‒ thematisch umgesetzt, welche Methoden und Quellen dafür genutzt und welche Berichte und Publikationen als Ergebnis dieser Arbeiten erstellt werden sollten. Für gewöhnlich sind solche Treffen keine besonders aussagekräftigen Quellen, wurden doch meist hinlänglich bekannte Themen verhandelt und die Anzahl der zu erstellenden Publikationen mit ihren genauen Seitenzahlen festgelegt. Auch im November ging es bei der Präsentation der zu bearbeitenden Themenbereiche durch Institutsdirekor Nikolaj N. Inozemcev zunächst um sozialistische ›Klassiker‹ wie den »modernen Imperialismus«, die »Krise des Kapitalismus« und die »Probleme des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus«. Allerdings waren mittlerweile auch Themen wie »die technologische Revolution und die Effizienz der Wirtschaft der wichtigsten kapitalistischen Länder« hinzugekommen. Nachdem diese eine Weile diskutiert worden waren, warf Lev M. Gromov, Leiter der Abteilung für technisch-ökonomische Forschung, die Frage auf, ob nicht »globale Probleme« (global’nye problemy) einen eigenen Forschungsbereich bilden sollten. Unterstützung erhielt er von Margarita M. Maksimova, die die Bezeichnung »Weltwirtschaft und globale Probleme der Gegenwart« vorschlug (vsemirnoe chozjajstvo i global’nye problemy sovremennosti). Die Ökonomin war am IMEMO Direktorin der einflussreichen Abteilung für die Außenwirtschaftsbeziehungen der kapitalistischen Länder, die sich unter anderem mit der EWG, der Weltbank und dem Weltwährungsfonds befasste. Damit war Maksimova schon qua Amt für Fragen der Interdependenz innerhalb des »kapitalistischen Systems« zuständig. Institutsdirektor Inozemcev schlug vor, diesen Themenbereich in drei Teile zu untergliedern: »Haupttendenzen der internationalen Beziehungen und der Au Protokol zasedanija Direkcii Instituta mirovoj ekonomiki i meždunadrodnych otnošenij Akademii nauk SSSR, nojabrja goda. Prospekta dnja: Obsuždenie prespektivnogo plana IMEMO na predctojaščuju pjatiletku, ARAN, fond , op. , d. , ll. -. Vucinich, Empire of Knowledge, S. f. Zur Forschungsorganisation des IMEMO und den einzelnen Publikationstypen Polsky, Soviet Research Institutes (), S. -. Zum Gromov (-) Čerkasov, IMEMO, S. f. Zur Biografie Maksimovas Polsky, Soviet Research Institutes (), S. .
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ßenpolitik der UdSSR«, »Weltwirtschaft« und »technologische Revolution«, die jeweils von einer Abteilung des Instituts bearbeitet werden könnten. Keines der anwesenden Direktoriumsmitglieder äußerte Kritik an diesem Vorschlag, die Diskussion glitt jedoch schnell in Detailfragen ab. Doch dann ergriff Inozemcev erneut das Wort: Das zentrale Charakteristikum der internationalen Beziehungen der Gegenwart sei es, dass Fragen der Außenpolitik eng mit denen des politischen und ideologischen Kampfes verflochten seien. Studien zu traditionellen Themen und einzelne Weltregionen seien weiterhin notwendig, doch müssten die Institutsmitglieder auch darüber nachdenken, wie sie mit ihren Arbeiten angemessen auf die jüngsten Entwicklungen reagieren könnten. Denn in den internationalen Beziehungen seien »soziale Bewegungen« und »internationale Organisationen« in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Für die sowjetische Forschung handele es sich bei diesen Akteuren und Themen jedoch um einen »weißen Fleck«, den sie unbedingt füllen müsse. Gleiches gelte für »globale Probleme« ‒ »das muss unbedingt gemacht werden«. Dass Direktor Inozemcev sich hier so deutlich auf die Seite Margarita Maksimovas und ihrer Abteilung schlug, mag einerseits auch damit zu erklären sein, dass die beiden verheiratet waren. Andererseits machte er in der Diskussion jedoch auch deutlich, dass das Themenspektrum der Forschungsarbeiten des IMEMO dringend erweitert werden müsse: »Alles, was wir bisher getan haben, ist jetzt veraltet.« Das folgende Kapitel wird sich deshalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Beobachtungen wachsender Verflechtung in globalem Maßstab in der Sowjetunion während der Brežnev-Ära zuwenden. Es wird zunächst die Entwicklung der theoretischen, institutionellen und disziplinären Voraussetzungen für die Beschäftigung mit internationalen Fragen darstellen, insbesondere die Entstehung einer sowjetischen Politikwissenschaft und ihrer Unterdisziplin der Internationalen Beziehungen. Dabei wird aber auch deutlich werden, wie die Herausbildung eines auf Interaktion von Staaten konzentrierten »sowjetischen Realismus« es erschwerte, andere Entwicklungen analytisch zu fassen. In einem zweiten Teil wird die Auseinandersetzung sowjetischer Expertinnen und Experten mit »bürgerlichen« Gegenwartsdiagnosen und Theorien der »Interdependenz« untersucht. Anschließend wird mit der »wissenschaftlich-technischen Revolution« ein spezifisch marxistisch-leninistisches Konzept in den Blick genommen, mit denen sich der beobachtete Wandel gleichzeitig deuten und in den vorgegebenen ideologischen Rahmen integrieren ließ. Damit stellt sich abschließend die Frage, ob und wie Weltdeutungen und Politik in der Brežnev-Ära interagierten.
ARAN, fond , op. , d. , l. .
Siehe Polsky, Soviet Research Institutes (), S. .
ARAN, fond , op. , d. , ll. , .
Als »Brežnev-Ära« wird in der Geschichte der Sowjetunion die Amtszeit Leonid Il’ič Brežnevs als Generalsekretär der KPdSU von Chruščevs Sturz bis zu Brežnevs Tod bezeichnet. Diese Zeitspanne entspricht damit grob den »langen er Jahren« im Westen. Vgl. Belge/Deuerlein (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation?.
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Die marxistisch-leninistische Theoriebildung ist im »Westen« bereits zeitgenössisch untersucht worden. Im Rahmen der Gegneranalyse, aber auch mit dem Ziel des besseren gegenseitigen Verständnisses werteten amerikanische Beobachter jede verfügbare sowjetische Publikation aus und zeichneten die darin ablesbaren Entwicklungen in einer Detailfülle nach, die wichtige Quellen für die Forschung liefert. Dabei konzentrierten sich diese Arbeiten jedoch auf Themen von ›strategischer‹ Bedeutung; die sowjetische Debatte um Fragen wie internationale Verflechtung oder »globale Probleme« ist zeitgenössisch kaum zur Kenntnis genommen worden. Als in der zweiten Hälfte der er Jahre unübersehbar wurde, dass es sich bei der marxistisch-leninistischen Ideologie nicht um ein unveränderliches Ideologiegebäude handelte, häuften sich Arbeiten, die sich mit den Entwicklungen sowjetischer Theorien der internationalen Beziehungen beschäftigten. Auch die Auseinandersetzung der sowjetischen Führung mit »globaler Interdependenz« wurde erstmals von Walter Clemens unter dem Titel Can Russia Change? untersucht. Als neue Archivfunde in den er Jahren spektakulärere Erkenntnisse auf dem Bereich der »großen Politik« versprachen, gerieten Weltdeutungen von Akteuren in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern jedoch wieder aus dem Blick. Selbst Robert English interessieren in seiner zentralen Studie Russia and the Idea of the West die Weltdeutungen der er Jahre primär als Vorgeschichte der Perestrojka.
Die Entstehung einer sowjetischen Politikwissenschaft Zwischen den er und den er Jahren war eine ergebnisoffene Analyse internationaler politischer und ökonomischer Beziehungen in der Sowjetunion so gut wie unmöglich. Die marxistisch-leninistische Theorie hätte durch ihre »transnationale« Anlage im Grunde gute Anknüpfungspunkte für die Analyse grenzüberschreitender Probleme geboten. In den er Jahren war sie in der Sowjetunion jedoch immer stärker verstaatlicht worden. Ab den er Jahren machte die These von den zwei »Lagern«, zwei »Systemen« und zwei »Weltmärk Ausnahmen waren Shulman, Toward a Western Philosophy of Coexistence () und Clemens, The U. S.S.R. and Global Interdependence. Siehe etwa Hough, The Struggle for the Third World; Lynch, The Soviet Study of International Relations; Light, The Soviet Theory of International Relations; Lynch, Gorbachev’s International Outlook. Clemens, Can Russia Change?. English, Russia and the Idea of the West. Den dortigen Wissenschaften wurde mitunter vorgeworfen, eine »Perversion des Wissens« gewesen zu sein. Deshalb lasse sich ihre Ideen- oder Wissensgeschichte gar nicht schreiben, sondern nur institutionsgeschichtlich darstellen, »wie Ideen in den Kommunikationsprozessen [der] Wissenschaftsordnungen des Sozialismus negiert und unterbunden wurden«. Birstein, The Perversion of Knowledge; Mertens, Rote Denkfabrik?, S. . Dazu kritisch Füllsack, »Perversion« oder »Konstruktion«?. Neuere Arbeiten, die diese Behauptung ebenfalls widerlegen, werden an den entsprechenden Stellen in den Anmerkungen genannt.
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ten« die Untersuchung blocküberschreitender Verflechtungen so gut wie unmöglich. Doch selbst innerhalb des sozialistischen »Lagers« erschien eine sozialwissenschaftliche Analyse der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Verbindungen nun überflüssig: Ihre Struktur und weitere Entwicklung war nach der offiziellen Doktrin zwingend aus dem »historischen Materialismus« ableitbar. Außenpolitik und internationale Beziehungen wurden jetzt mit Marx und Lenin als bloße Ableitung der Produktionsverhältnisse und Klassenkonflikte der jeweiligen Gesellschaften gesehen; ihre Untersuchung war Aufgabe der politischen Ökonomie. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit internationalen Zusammenhängen und damit auch mit globaler Verflechtung mussten nach der StalinÄra zunächst zwei Bedingungen erfüllt sein: Die institutionellen Voraussetzungen wurden durch die Neugründung von entsprechenden Forschungsinstituten nach dem XX. Parteitag geschaffen. Dort, nicht an Universitäten, waren die zentralen Akteure der sowjetischen Debatte über globalen Wandel beschäftigt. Zu den theoretisch-disziplinären Voraussetzungen gehörte die Abkehr von stalinistischen Dogmen, aber auch die Etablierung neuer sozialwissenschaftlicher Disziplinen, insbesondere einer sowjetischen Politikwissenschaft und einer spezialisierten Unterdisziplin der Internationalen Beziehungen in den er Jahren. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU hatte Anastas Mikojan in seiner Kritik an den sowjetischen Wissenschaften Ökonomen, Historiker, Philosophen und Juristen erwähnt, aber noch keine »Sozial-« oder gar »Politikwissenschaftler«. Die in den folgenden Jahren gegründeten Forschungsinstitute waren zunächst mit Vertretern dieser Fächer und mit Spezialisten für die jeweiligen Kulturräume besetzt. Doch bereits einen Monat nach dem XX. Parteitag forderten Fedor Burlackij und Georgij Šachnazarov in einem Artikel in der Literaturnaja Gazeta eine wissenschaftlichere Herangehensweise an das Studium der Politik in der Sowjetunion. Siehe Zentralkomitee der KPdSU (B), Kurzer Lehrgang (), S. . Nachdem in den er Jahren Versuche gescheitert waren, den »historischen Materialismus« zu einer spezifisch marxistischen Sozialwissenschaft auszubauen, diente »Soziologie« als abwertender Begriff für nicht-marxistische Theorien. Dazu Vucinich, Empire of Knowledge, S. -. Vgl. Berki, On Marxian Thought (). Dazu Kapitel .. Burlackij, Fedor M./Šachnazarov, Georgij C.: Obščestvennye nauki i žizn’, in: Literaturnaja Gazeta, . März. , S. -. Burlackij, geboren , hatte Rechtswissenschaften studiert und in Philosophie zu Machiavelli promoviert. Nach einer kurzen Tätigkeit für die Akademie der Wissenschaften wurde er Redakteur der Zeitschrift Kommunist. Siehe Burlatsky, Khrushchev and the First Russian Spring () sowie Brown, Archie: Fedor Burlatsky Obituary, The Guardian, . März . Der geborene Šachnazarov hatte nach seinem Kriegsdienst ein Jurastudium in Baku abgeschlossen. Von bis arbeitete er als Herausgeber für den Verlag Polizdat. Zu seiner Biografie Montgomery, Isobel: Obituary: Georgy Shakhnazarov, The Guardian, . Mai .
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Im Jahr hatte der Appell der beiden Autoren allerdings noch keine greifbaren Konsequenzen. Elf Jahre später warf Burlackij jedoch mit einem prominent in der Pravda platzierten Artikel erneut die Frage auf, ob nicht eine eigenständige Disziplin der Politikwissenschaft in der Sowjetunion errichtet werden müsse. Er kritisierte die Arbeit der bisherigen »politischen Wissenschaften«, die von Juristen, Philosophen und Vertretern des »wissenschaftlichen Kommunismus« betrieben wurden, als unzureichend. Wirkliche Forschung erfordere es, Fragen zu stellen, deren Antworten man nicht bereits im Vorfeld kenne. Diesmal löste Burlackij mit seinem Artikel eine lebhafte Debatte aus: Zu den Unterstützern zählte Jenö Varga, der noch kurz vor seinem Tod »konkrete wissenschaftliche Analyse der historischen Faktoren« statt »geistlosem Dogmatismus« forderte. Denn die vermeintlichen »Gesetze der Gesellschaft« seien letztlich auch nur »rationale Abstraktionen«. Kritik kam dagegen aus den Reihen des Instituts für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften. Die hier dominierenden Juristen sahen durch Burlackijs Vorstoß die Autorität ihres Faches bedroht und argumentierten, alle von ihm aufgeworfenen Fragen könnten im Rahmen der bestehenden Disziplinen bearbeitet werden. Sollte überhaupt eine neue Herangehensweise nötig sein, müsse sie »konkrete Politik« heißen. Letztlich setzten sich die Befürworter einer neu zu gründenden sowjetischen Politikwissenschaft jedoch durch. Zwar gelang es ihnen nicht, eine eigene Zeitschrift oder gar ein eigenes Institut zu etablieren. Allerdings identifizierte sich in den bestehenden Institutionen in der zweiten Hälfte der er Jahre eine wachsende Zahl von Forschern als politologi. Das Jahrbuch der Assoziation für politische (Staats-)Wissenschaften sowie Zeitschriften wie Sovetskoe gosudarstvo i prava oder Voprosy filosofii publizierten nun entsprechende Beiträge. Fedor Burlackij und Georgij Šachnazarov sollten nun zu den wichtigsten Vertretern einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Politik, insbesondere den internationalen Beziehungen, in der Sowjetunion werden. waren političeskaja Burlackij, Fedor M.: Politika i nauka, in: Pravda, . Jan. , S. . Vgl. Brown, Political Science in the USSR. Varga, Očerki (), S. . Tadevosjan, Diskussija o političeskoj nauke (). Für eine Zusammenfassung der Argumente beider Seiten siehe O razrabotke problem političeskich nauk: obzor pisem čitatelej, Pravda, . Juni , S. -. Aus dem gegründeten Institut für konkrete soziologische Forschung wurden schon wieder Mitarbeiter entlassen, die zu reformorientiert eingestellt waren. Siehe English, Russia and the Idea of the West, S. . wurde Šachnazarov Präsident der Sowjetischen Assoziation der politischen (Staats-)Wissenschaften, die in Sowjetische Assoziation der politischen Wissenschaften umbenannt wurde. Ein wichtiger Schritt bei der Anerkennung der sowjetischen Politikwissenschaft war zudem die Ausrichtung des . Weltkongresses der International Political Science Association (IPSA) in Moskau im August . Vgl. etwa Smirnov, K itogam () sowie die Berichterstattung in der Izvestija am . und . August , in der Pravda am . August sowie in Novoe vremya (), S. f. und (), S. .
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nauka und politologija durch ihre Aufnahme in das Kurze politische Wörterbuch endgültig zu anerkannten Begriffen geworden.
Der »sowjetische Realismus« und das eine »internationale System« Eng mit der Entstehung der Politikwissenschaft verbunden war die Etablierung einer spezialisierten Disziplin der »Internationalen Beziehungen«. Gerade in diesem Bereich war der Mangel an Expertise von der sowjetischen Führung ab Mitte der er Jahre als besonders eklatant empfunden worden. Die neu gegründeten Forschungsinstitute erwiesen sich in der Folge auch als Zentren theoretisch-methodischer Innovation. Für die Ausdifferenzierung der sozialwissenschaftlichen Forschung war die Diagnose zentral, dass »die Welt im letzten Viertel des . Jahrhunderts […] von hochgradig komplexen und oft widersprüchlichen Prozessen charakterisiert« werde, wie es das Autorenkollektiv um Nikolaj Inozemcev in der Einleitung zu Leninskaja teorija imperializma i sovremennosť formulierte. Schon hatte Vladimir Gantman am IMEMO einen runden Tisch zu Theorien der internationalen Beziehungen zusammengerufen. Mehrere Teilnehmer betonten dabei die »steigende Komplexität der internationalen Beziehungen«, die auch einen ausdifferenzierten (kompleksnyj) sozialwissenschaftlichen Ansatz und eine eigenständige, spezialisierte Disziplin nötig mache. Zwei Jahre später argumentierte Aleksandr Bovin, gerade internationale Politik sei von einer »praktisch unendlichen Vielfalt von Fakten und Ereignissen, [von] hochgradig wandelbaren und widersprüchlichen Prozessen« geprägt. klang Andrej Kokošin vom Nordamerika-Institut schon fast verzweifelt, als er klagte, es werde »zunehmend schwieriger zu sagen, wer von wem abhängt«. Diese Komplexität ließ die hergebrachten Annahmen und »Gesetzmäßigkeiten« des Marxismus-Leninismus zunehmend unzureichend erscheinen. Plumper materialistischer Determinismus und ein enger Fokus auf »Imperialismus« und »Klassencharakter« der beteiligten Staaten wurden den neuen Bedingungen aus Sicht vieler sowjetischer Wissenschaftler schlicht nicht mehr gerecht. Dmitri Tomaševskij zum Beispiel argumentierte scheinbar konventionell, die Geschichte habe »Lenins Theorie der sozialistischen Revolution basierend auf einer vollständigen Erfassung der gestiegenen Rolle externer Faktoren, besonders der internationalen Beziehungen«, bestätigt. Offenbar fühlte er sich damit ausrei
Onikov/Šišlin (Hg.), Kratkij političeskij slovar’ (), S. f. Inozemcev (Hg.), Leninskaja teorija imperializma (), S. . Kruglyj stol »ME i MO« I () und Kruglyj stol »ME i MO« II (). U. a. Inozemcev, Aktual’nye zapači teoretičeskogo issledovanija (), S. ; Gantman, Mesto v sisteme obščesvennych nauk (). Ähnlich auch später Pozdnjakov, Sistemnyj podchod (), S. -, . Bovin, Lenin o politike (), S. . Kokošin, O buržuaznych prognozach (), S. .
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chend abgesichert, um in der gleichen Arbeit zu fragen, ob manche der Thesen Lenins mittlerweile nicht doch überholt seien. Zu diesem Zeitpunkt existierte zwar noch kein entsprechendes Fach, doch zeigen diese Beispiele, dass die internationalen Beziehungen mittlerweile als Sphäre mit eigenständigen Mechanismen und Dynamiken gesehen wurden, die isoliert von innergesellschaftlichen Problemen untersucht werden konnten. Arbeiten, die auch »bürgerliche« sozialwissenschaftliche Ansätze aufgriffen, firmierten jetzt als »Soziologie der internationalen Beziehungen«. Allerdings führte das Nachdenken über eine immer vielschichtigere internationale Politik in der Sowjetunion nicht dazu, dass nun die Verflechtung von Politik und Wirtschaft unter dem Banner der Interdependenz betont oder »transnationale« Faktoren untersucht worden wären. Solche Fragen wurden allerdings in anderen Zusammenhängen verhandelt; im Feld der Internationalen Beziehungen hingegen gewannen Staaten noch an Bedeutung ‒ eine Art »sowjetischer Realismus« bildete sich heraus. Nikolaj Inozemcev argumentierte fast wie Niccolò Machiavelli, die sowjetischen Theoretiker müssten »die Welt ansehen, wie sie ist, nicht wie wir sie uns wünschen«. Die Ursachen dieser Entwicklung sind in der Abgrenzung von bisherigen ideologischen Herangehensweisen zu finden: Im Laufe der er Jahre hatten »materialistische« Erklärungsfaktoren, die internationalen Beziehungen lediglich als Ableitung der Produktionsverhältnisse und der innergesellschaftlichen Konflikte sahen, ebenso ihre privilegierte Position verloren wie die »Klasse« als Subjekt aller historischen Entwicklung. Dadurch wurden »subjektive« Faktoren des »Überbaus« wie politische Prozesse, Interessen und Kultur aufgewertet; das etablierte Verhältnis von Ursache und Wirkung kehrte sich um. sprachen die Autoren des von Nikolaj Inozemcev herausgegebenen Bandes zu Lenins Theorie des Imperialismus gar von der »Priorität der Politik gegenüber der Wirtschaft«.
Tomaševskij, Leninskie idei (), S. , , . Yermolenko, Sociology and International Relations (); Ermolenko, Sociologičeskie issledovanija () sowie Ermolenko, Sociologija i problemy meždunarodnych otnošenij (). Dazu auch die Rezension von Vladimir Gantman in Gesellschaftswissenschaften : (), S. f. Inozemcev, Aktual’nye zapači teoretičeskogo issledovanija (). Vgl. Zimmerman, Soviet Perspectives, S. -. Dieser Wandel wird auch an der immer emphatischeren Verteidigung des alten Ansatzes deutlich: Siehe etwa Sanakoev, Leninskaja teorija i praktika. Etwa Ermolenko, Sociologičeskie issledovanija (), S. -. Inozemcev (Hg.), Leninskaja teorija imperializma (), S. . Hintergrund dieses Umdenkens war unter anderem das Zerwürfnis der sowjetischen Führung mit Jugoslawien und der Volksrepublik China, das sich nicht mit Veränderungen in den »Produktionsverhältnissen« oder der »Klassenstruktur« erklären ließ, sondern »subjektive« Ursachen in der »reaktionären Politik« dieser Länder haben musste. U. a. Tichwinski, Die Apologetik des Hegemonismus ().
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Zu diesem bis dahin vernachlässigten »Überbau« gehörte nun auch der Staat: »Beziehungen in der internationalen Sphäre finden nicht zwischen Völkern, sondern zwischen Staaten statt« stellte Dmitri Ermolenko fest. Als »Weltgemeinschaft« galt nun die Summe von Staaten, deren Außenpolitiken unabhängig von ihrer sozialen Strukturen betrachtet wurden. Auch die Arbeit internationaler Organisationen wie der UNO war für Vladimir Petrovskij eine bloße »Reflexion eines definitiven Mächteverhältnisses zwischen Staaten«, auf deren Interaktion sie umgekehrt keinen Einfluss ausüben könne. Wer etwas anderes behaupte, wolle nur das Prinzip der »nationalen Souveränität« durch die Errichtung einer »Weltregierung« unterminieren und damit die Sowjetunion destabilisieren. Eine wirklich »universelle Form der Macht«, das behauptete Georgij Šachnazarov , nachdem er fünf Jahre zuvor die internationale Politik als Interaktion der Großmächte beschrieben hatte, könne dagegen nur auf einer sozialistischen Grundlage errichtet werden. Vergleichbares galt aus Sicht sowjetischer Autoren für nichtstaatliche Akteure: Das Autorenkollektiv des von Vladimir Gantman herausgegebenen Überblicksbandes zu »bürgerlichen Theorien« machte gerade den »primitiven Ansatz des Realismus«, der alle Verbindungen »zwischen der internen politischen Situation und der Außenpolitik von Staaten« ignoriere, für den Aufstieg des »transnationalen« Ansatzes in den USA verantwortlich. Diese unterkomplexe Sicht habe eine ebenso überzogene Reaktion provoziert, nach der angeblich sogar einzelne Personen Subjekte der internationalen Beziehungen sein könnten. Am Ende stand bei aller Verurteilung des amerikanischen Realismus aber auch in diesem Band wieder die Feststellung, es seien »die intergouvernementalen Beziehungen, die das Herz der internationalen Beziehungen bilden«. Ironischerweise Ermolenko, Sociologija i problemy meždunarodnych otnošenij (), S. , f., . Schachnasarow, Zur »Macht«-Konzeption (). Petrovskij, OON i mirovaja politika (), S. . Hintergrund der Vernachlässigung von internationalen Organisationen war unter anderem die Ablehnung der struktur-funktionalistischen Theorie von Ernst Haas. Sie vernachlässigte aus der Perspektive sowjetischer Kritiker Dialektik, Konflikt und internationalen Wandel. Nur innerhalb von Systemen mit ähnlichen sozio-ökonomischen Bedingungen wurde ihr eine gewisse Erklärungskraft zugebilligt, also etwa für die westeuropäische Integration. Siehe Modrzhinskaya, Lenin’s Theory (); Sojak, Zapadnye modeli (); Lebedev, The System of World Relations (). Vgl. auch Dallin, Sowjetunion und Vereinte Nationen (). Nahezu einzige Ausnahme waren die Arbeiten G. Morozovs am IMEMO: Er hatte festgestellt, internationale Organisationen seien ein »wichtiges Element der internationalen Beziehungen«. Morozov, Mežduanrodnye organizacii (), S. f. Shakhnazarov, Great Powers Approach (); Shakhnazarov, Political Science and New Factors (), S. . In Šachnazarov, K probleme sootnošenija sil () gestand er sozialen Bewegungen und internationalen Organisationen dagegen einen größeren Einfluss zu. Gantman (Hg.), Sovremennye buržuaznye teorii (), S. , . E. Obminskij kommentierte dagegen etwas wohlwollender in seiner Rezenzion von Transnational Relations and World Politics, die Thesen Keohanes und Nyes besäßen für die Bezie-
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verabschiedeten sich die sowjetischen Theoretiker damit just in der Zeit von ihrer traditionell »transnationalen« Perspektive, als die Rolle von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in der internationalen Politik von westlichen Sozialwissenschaftlern neu gewichtet wurde. Doch wenn Staaten die zentralen Akteure der internationalen Politik waren und ihre innere Verfasstheit eine immer geringere Rolle spielte, was bestimmte dann ihr Verhalten? Hier kam auch in der Sowjetunion die Theorie des (internationalen) »Systems« ins Spiel. Ab Anfang der er Jahre sprachen dort Beobachter nicht mehr ausschließlich von zwei Lagern, Weltmärkten oder internationalen Systemen, sondern zunehmend von einem »politischen Weltsystem«. Damit war ein wichtiger Schritt vollzogen, um globale Verflechtungen fassen zu können, die mitunter auch die Grenzen der »Blöcke« und Ideologien überspannten. arbeitete Fedor Burlackij in seinem Buch Lenin, Staat und Politik erstmals mit den Konzepten »politisches System«, »politisches Regime« und »politische Kultur« und führte damit Systemtheorien in der Sowjetunion ein. tauchte der Begriff »politisches System« bereits in der neuen sowjetischen Verfassung auf und war damit zum Bestandteil des offiziellen Diskurses geworden. Obwohl sich die meisten sowjetischen Kommentatoren große Mühe gaben zu demonstrieren, dass die Welt weiterhin vom Wettbewerb der unterschiedlichen Ideologien geprägt war, verbreitete sich in den er Jahren die Kategorie eines »internationalen Systems« immer weiter. Damit wurden nun eine Reihe von vermeintlichen Gewissheiten infrage gestellt. Oleg T. Bogomolev, Direktor des Instituts für die Wirtschaft des Sozialistischen Weltsystems stellte fest, nicht alle »durch die Praxis einiger Länder bestätigten […] allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten des sozialistischen Auf baus« äußerten sich auch in der »Entwicklung des sozialistischen Weltsystems« insgesamt. Zudem seien »die Wichtigsten von ihnen den in der internationalen Arena wirkenden Gesetzmäßigkeiten analog«. Das hieß einerseits, dass selbst innerhalb des »sozialistischen Weltsystems« unterschiedliche »nationale« Entwicklungen möglich waren. Gleichzeitig waren Kapitalismus und Sozialismus in dieser Sichtweise zu »Subsystemen« des einen, übergreifenden »internationalen Systems« geworden.
hungen zwischen den kapitalistischen Ländern eine gewisse Erklärungskraft. Für die »inter-systemischen« Beziehungen sei ihr Ansatz allerdings nicht geeignet. Obminskij, Upravljaemy li »nadnacional’nye« factory? (). Vgl. Zimmerman, Soviet Perspectives, S. . Burlackij, Lenin, gosudarstvo, politika (), bes. S. -. Die Verfassung (Grundgesetz) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, . Okt. , www.dokumente.de/pdf/dok__ver_de.pdf (..) Gantman, Klassovyj charakter (); Gavrilov, Sovetskij Sojuz () und Pozdnjakov, Sistemnyj podchod (). Zur Auseinandersatzung mit systemischen Ansätzen vgl. Lynch, The Soviet Study of International Relations, S. - Am runden Tisch der Redaktion (), S. . Eine vergleichende Politikwissenschaft konnte ab der zweiten Hälfte der er Jahre die politischen Systeme sozialistischer, kapitalistischer und Entwicklungsländer mit
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In ihm schienen in erster Linie Staaten zu agieren, deren Handeln weitgehend unabhängig von ihrer inneren Struktur erfolge und das deshalb auf »systemischer Ebene« untersucht werden müsse, wo ganz spezifische Handlungslogiken galten. Diametral entgegengesetzt zur bisherigen Annahme von Wirkungsbeziehungen ging A. Nikonov bereits sogar so weit zu argumentieren, sowohl Außen- als auch Innenpolitik seien in hohem Maße von den internationalen Beziehungen beeinflusst. L. Nežinskij behauptete sogar, die Außenpolitik des Sozialismus sei mittlerweile eine »Funktion« des gesamten internationalen Systems. Hintergrund dieser Umdenkprozesse unter sowjetischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ‒ und zugleich die zweite Ursache für die Konzentration auf Staaten als zentrale Akteure der internationalen Beziehungen ‒ war eine noch entschlossenere Politik der Entspannung der Beziehungen zum »Westen« und insbesondere zu den Vereinigten Staaten. Auf sowjetischer Seite hatte nach dem Sturz Nikita Chruščevs dessen Nachfolger Leonid Brežnev den Kurs der »friedlichen Koexistenz« in weiten Teilen fortgesetzt. Die Motive der sowjetischen Führung waren vielfältig: Die wachsenden Spannungen mit der Volksrepublik China erhöhten ihr Interesse an einer Stabilisierung der internationalen Situation ebenso wie die Ereignisse um den Prager Frühling . Anfang der er Jahre war die Sowjetunion nach massiven Aufrüstungsbemühungen mit den USA im strategischen Bereich gleichgezogen. Diese Position der Stärke zwang die »imperialistischen Staaten« aus sowjetischer Sicht nun zu einer Politik der Entspannung, die damit »objektiv« determiniert sei. Gleichzeitig wollte die sowjetische Führung ihren Status als ebenbürtige globale Supermacht durch neue Abkommen festschreiben lassen. Rüstungskontrolle und eine zurückhal-
ähnlichen Kategorien untersuchen. Burlackij/Čirkin (Hg.), Političeskie sistemy sovremennosti (). Beispielsweise kamen zunehmend Zweifel daran auf, ob es einen qualitativen Unterschied zwischen den staatlichen Beziehungen innerhalb des »sozialistischen Systems« und denen im »internationalen System« allgemein gebe (und ob nicht etwa Nationalismus hier doch auch eine Rolle spielte). Vgl. Lynch, The Soviet Study of International Relations, S. -. Verschiebungen im internationalen Kräfteverhältnis etwa hätten in den letzten Jahren das Verhalten der »imperialistischen« Staaten verändert, wenn auch nicht die Natur des »Imperialismus«. Nikonov, Meždunarodnye otnošenija i politika gosudarstv (), S. f. Ähnlich Modržinskaja, Leninizm i razrabotka teoretičeskich problem (); Lebedev, Sistema mirovych otnošenij (); Burlackij/Galkin, Sociologija. Politika. Meždunarodnye otnošenija (). Nežinskij, Issledovanie (), S. . »Auf die BRD kann ich spucken, die Hauptgefahr heißt China.« Brežnev auf einem Gipfel des Warschauer Paktes am . März , zit. nach Schäfer, Krieg schafft Revolutionen, S. . Die Bedeutung des Prager Frühlings betont Suri, Power and Protest. Siehe Kokošin, O buržuaznych prognozach (), S. -; Appatov, S. Š.A. i Evropa (), S. . Dieses Ziel war Brežnev sehr wichtig. Siehe Kissinger, The White House Years (), S. f.
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tendere Politik in der »Dritten Welt« sollten Ressourcen für innenpolitische Reformen und Konsum freimachen. Der Handel mit dem »Westen« versprach darüber hinaus, zur Sicherung des Friedens beizutragen. Mit dem Amtsantritt der Regierung Nixon Anfang war auch die amerikanische Seite wieder interessierter an einer Annäherung. Deren gradueller Rückzug aus Vietnam räumte ein wichtiges Hindernis aus dem Weg. Eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Entspannungspolitik Anfang der er Jahre in eine neue Hochphase eintreten konnte, war jedoch, dass die zentralen Entscheidungsträger in den USA wie in der Sowjetunion einen ähnlichen Blick auf die Welt warfen. Besonders für Generalsekretär Leonid Brežnev und Außenminister Andrej Gromyko war pragmatische »Realpolitik« gerade gegenüber den USA wichtiger als ideologische Orthodoxie. Die »Brezhnev-Nixon Doktrin« basierte auf einem geteilten Interesse an der Aufrechterhaltung von »Stabilität« und »Ordnung« in der internationalen Politik. Dazu gehörte für beide Seiten, den multipolaren Tendenzen in der internationalen Politik und den zentrifugalen Tendenzen innerhalb des eigenen Bündnissystems entgegenzuwirken. Nixon und Kissinger, aber auch Brežnev und Gromyko wollten »große« internationale Politik vorzugsweise bilateral betreiben und ihre Verbündeten nicht unmittelbar einbeziehen. In den sowjetischen Sozialwissenschaften war die Herausbildung eines staatszentrierten »sowjetischen Realismus« ebenfalls Ausdruck dieser Stabilitätsorientierung. Was Anhängern Brežnevs als Phase innen- wie außenpolitischer »Stabilität« erschien, betrachteten Kritiker jedoch vor allem aus der Rückschau als Zeit der »Stagnation«. Die Entwicklung der sowjetischen Sozialwissenschaften war in dieser Zeit jedoch von vergleichsweise großer Dynamik gekennzeichnet. Denn die neuen Rahmenbedingungen der Entspannungsphase begünstigten nicht nur Interdependenz-Diagnosen in den Vereinigten Staaten, sondern schufen auch in der Sowjetunion die Möglichkeit, Weltpolitik neu zu denken. Hier wurde die Diagnose, der »Kalte Krieg« sei beendet, in der zweiten Hälfte Siehe Brežnevs Rede vor dem Parteiplenum, .., RGANI fond , op. , d. , l. . Dazu auch Lorenzini, Comecon and the South. Ein Bericht der New York Times zitierte wichtige sowjetische Akteure mit der Aussage, sie würden danach streben, es für beide Seiten so gut wie unmöglich zu machen, »to revert to hostility even if the costs of détente should become at least significantly higher than they are today«. Topping, Seymor: Answers by Soviet To West’s Questions, NYT, . Dez. . Zum bewussten Aufbau von Ost-West-Verflechtungen auch Jermolenko, Die wissenschaftlich-technische Revolution (), S. . Die Grundannahme der US-Regierung war laut Dobrynin, dass die Sowjetunion von »realistisch denkenden Politikern« regiert werde. Bericht Anatoly Dobrynins an das Politbüro über ein Gespräch mit Henry Kissinger, . Juli , RGANI, fond , op. , d. , ll. -. Laut Richard Nixon würden Historiker die Entspannungspolitik eines Tages so bezeichnen. Dobrynin, In Confidence (), S. . Siehe Wenger/Suri, At the Crossroads, S. . Dazu Belge/Deuerlein, Einführung: Ein goldenes Zeitalter der Stagnation.
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der er Jahre sogar zur offiziellen Position: Die Große Sowjetische Enzyklopädie behauptete , der »Kalte Krieg« als aggressive Strategie bestimmter Kreise im »Westen« sei »zusammengebrochen«.
Die sowjetische Auseinandersetzung mit der Interdependenz-Theorie Bei ihrer Auseinandersetzung mit Beobachtungen grundlegender weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Veränderungen beschäftigten sich Vertreter der noch jungen Disziplin der Internationalen Beziehungen und ihrer Nachbarwissenschaften in den er Jahren intensiv mit den unterschiedlichen Versuchen der »bürgerlichen« Wissenschaften in den USA und Westeuropa, diese Entwicklungen zu deuten und zu erklären. Nachdem im Rahmen der Anti-Kosmopolitismus-Kampagne ab die Kontakte der sowjetischen Wissenschaften zum nicht-sozialistischen Ausland weitgehend zum Erliegen gekommen waren, wurden die dortigen wissenschaftlichen Entwicklung seit dem »Tauwetter« unter Chruščev wieder aufmerksam verfolgt. starteten neue Austauschprogramme zwischen amerikanischen und sowjetischen Universitäten und Forschungsinstituten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beider Seiten trafen sich auf Foren wie den Pugwash- (ab ) oder Dartmouth-Konferenzen (ab ). Die wichtigste Möglichkeit, sich mit den Thesen der »westlichen« Wissenschaften auseinanderzusetzen, blieb jedoch die Lektüre entsprechender Forschungsliteratur. Über die Methode der »Kritik« (kritika) oder »Widerlegung« (falsifikacija) konnten auch kontroverse Thesen in die sowjetische Debatte eingeführt werden. Am Ende solcher Texte musste immer das Ergebnis stehen, dass »bürgerliche« Theorien wissenschaftlich nicht haltbar waren und ka Asanov, »Cholodnaja Vojna« (). Siehe auch den »historischen Rückblick« in Stepanova, »Cholodnaja vojna« (). Vgl. dazu Wiederkehr, Die Verwendung des Terminus »Kalter Krieg«. Die Reduktion der »Ära des Kalten Krieges« auf Konflikt und Konkurrenz hat solche Austauschprozesse lange verdeckt, erst in den letzten Jahren sind sie als »multileveledmultipolar interaction« verstärkt in den Blick der Forschung geraten. Autio-Sarasmo/ Miklóssy, Introduction, S. . Vgl. zudem u. a. Niederhut, Wissenschaftsaustausch im Kalten Krieg; sowie das Themenheft Kooperation trotz Konfrontation. Wissenschaft und Technik im Kalten Krieg, hrsg. von Klaus Gestwa und Stefan Rohewald, Osteuropa : (). Siehe etwa die Berichte von A. M. Kokeev über seinen Besuch an der Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Mai-Juli und von N. P. Ivanov über eine Reise nach Harvard, Berkely etc. im April-Juli . ARAN, fond , op. , d. , ll. - bzw. ll. -. Eine eigene »internationale Abteilung« koordinierte und kontrollierte an jedem Forschungsinstitut solche Aktivitäten. Dazu schon Polsky, Soviet Research Institutes (), S. f. Siehe etwa Kalenskij, Političeskaja nauka v SŠA (); Gracianskij, Političeskaja nauka v Francii (); Fedoseev, Politika kak ob’ekt; Šachnazarov (Hg.), Sovremennaja buržuaznaja političeskaja nauka ().
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pitalistischen Interessen dienten. Zuvor wurde es so allerdings möglich den Inhalt und die Thesen solcher Publikationen ausführlich zu referieren. Strategien und Theorien der »Interdependenz« (im Russischen vzaimozavisimosť, wechselseitige Abhängigkeit) wurden in sowjetischen Publikationen einhellig zurückgewiesen. Eine ausführliche Auseinandersetzung bot Andrej A. Kokošin, Experte für strategische Rüstung am ISKAN und ausgewiesener Kritiker (und damit Kenner) westlicher Theorien. Sein Artikel Vzaimozavisimosť: real’nosti, koncepcii i politika liest sich über weite Strecken als konzise Zusammenfassung amerikanischer Publikationen, nur gelegentlich unterbrochen von einem Brežnev-Zitat. Kokošin stellte eine extreme Ausweitung des Interdependenz-Begriffes in den letzten zwei bis drei Jahren fest. Hätten sie sich zuvor vor allem auf den NATO-Raum konzentriert, würden jetzt politische, militärische, ökonomische, ökologische und kulturelle Phänomene auch in Bezug auf die »Entwicklungsländer« und die sozialistischen Staaten einbezogen. Aus heutiger Sicht durchaus zutreffend stellte er fest, diese Entwicklung könne man nur verstehen, wenn man die Krise des Kapitalismus in den Jahren bis berücksichtige. Sie habe die Verflechtung der Volkswirtschaften des »Westens« sowie die neue Abhängigkeit der Vereinigten Staaten von Rohstoff- und besonders Erdölimporten deutlich gemacht und damit ihre Führungsrolle im westlichen Bündnis weiter geschwächt. Als Reaktion auf diese Entwicklungen machte Kokošin drei Hauptströmungen im amerikanischen außenpolitischen Diskurs aus: »Neoisolationismus«, »Autarkie« und eine »Strategie der Interdependenz«. Den ersten beiden Ansätzen räumte er trotz Unterstützung in der Bevölkerung keine großen Erfolgsaussichten ein, da die außenpolitischen Eliten sie strikt ablehnten. Die »Strategie der Interdependenz« deutete er dagegen als Versuch, die außenpolitische Position der USA durch die Reorganisation der internationalen Hierarchiebeziehungen zu verbessern. Vertreter der Interdependenz-Theorie wie Lincoln Bloomfield, Zbigniew Brzezinski, Joseph Nye und Fred Bergsten erfüllten vor allem ihre »soziale Verpflichtung gegenüber den herrschenden Kreisen«, nämlich als »Reservoir von Ideen« zu dienen, aus dem sich die politische Führung bedienen könne, um die »überaus komplexen Probleme« der außenpolitischen Strategieformulierung zu lösen. Seit der »Energiekrise« in der kapitalistischen Welt tauche die Interdependenz deshalb immer häufiger in den Reden amerikanischer Politiker auf. Eine vom IMEMO herausgegebene Sammlung Gegenwärtiger bürgerlicher Theorien der internationalen Beziehungen war beispielsweise ebenso Anthologie westlicher Theorien wie Medium der Kritik: Gantman (Hg.), Sovremennye buržuaznye teorii (). Politisch vermeintlich »neutrale« Konzepte wie Spieltheorie, Kybernetik und mathematische Modelle oder auch regionalspezifische Analysen konnten dagegen leichter in sowjetische Arbeiten inkorporiert werden. Nach dem Ende der Sowjetunion war Kokošin Duma-Abgeordneter, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und als Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates unter El’cin für die russischen Nuklearstreitkräfte zuständig. Siehe Kokošin, Andrej Afanas’evič, Bol’šaja rossijskaja enciklopedija, tom , Moskva , S. f.
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Seine bis dahin überwiegend neutrale Analyse schloss Kokošin mit der ideologiekonformen Schlussfolgerung, das Scheitern aller Koordinationsbemühungen etwa im Energiebereich habe gezeigt, dass »die extrem komplexen Probleme, mit denen die westlichen Länder konfrontiert sind, […] im Rahmen des kapitalistischen Systems objektiv unlösbar« seien. Über die Aussagekraft von Interdependenz-Deutungen selbst verlor Kokošin dagegen kein einziges Wort. An seiner Auseinandersetzung mit amerikanischen Ansätzen ist jedoch abzulesen, dass er sie durchaus anerkennenswert fand, dies aber wohl nicht allzu deutlich äußern konnte, da es eine Reihe ideologisch begründeter Kritikpunkte gab: Vladimir Petrovskij, Absolvent des IMEMO, Experte für die USA und die Vereinten Nationen und später unter Gorbačev stellvertretender Außenminister, warf den amerikanischen Interdependenztheoretikern vor, sie würden den »Klassencharakter« der internationalen Beziehungen vernachlässigen und damit den »hegemonialen Aspirationen« der amerikanischen Außenpolitik Vorschub leisten. Denn ähnlich wie die These von der »Konvergenz« der Systeme in den er Jahren solle nun die Interdependenz dazu beitragen, die »Souveränität« der sozialistischen Staaten und der Länder der »Dritten Welt« zu untergraben. In diesem Sinne behaupteten sowjetische Autoren besonders nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, dass die Diagnose der »Multipolarisierung« der internationalen Politik nur für den »Westen« gelte und dass Ideen einer »neuen polyzentrischen Welt« fehlgeleitet seien. Diese Ablehnung überrascht kaum. Denn die Feststellung blockübergreifender wechselseitiger Abhängigkeiten hätte ja bedeutet, dass die weitere Entwicklung der sozialistischen Staaten nicht allein von historischen »Gesetzmäßigkeiten« und deren optimaler wissenschaftlicher Durchdringung abhing. Sie wäre mit dem Schicksal des Kapitalismus eng verbunden und damit der Kontrolle durch die kommunistischen Parteien entzogen worden. Vergleichbar mit der Interdependenz-Kritik der Dependenz-Theoretiker hatte auch die Zurückweisung entsprechender Theorien durch sowjetische Autoren primär politisch-ideologische Gründe: Der britische Politikwissenschaftler Hedley Bull hat zu Recht festgestellt, aus der Perspektive der zwei »schwächeren Teile des politischen Weltsystems« handele es sich bei der »globalistischen Doktrin« in erster Linie um die »Ideologie der dominanten westlichen Mächte«. Kokošin, Vzaimozavisimosť (). Noch kritischer gegenüber der amerikanischen Interpendenz-Theorie Volkov, Koncepcija »vzaimozavisimosti nacii« () und Chozin, Global’nye problemy sovremennosti (). Zu Chozins ganz anders ausgerichteten Arbeiten der er Jahre English, Russia and the Idea of the West, S. ff. Ebd., S. , Anm. wird eine interne Studie zitiert, in der sich auch Kokošin anders äußerte als in seinen publizierten Arbeiten. Petrovskij, Buržuaznye vnešnepolitičeskie koncepcii (), S. . Zur sowjetischen Sicht auf »Konvergenz« Gantman (Hg.), Sovremennye buržuaznye teorii (), S. -. Gantman, Klassovyj charakter (); Schachnasarow, Zur »Macht«-Konzeption (). Bull, The State’s Positive Role (), S. .
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Die Zurückweisung des Interdependenz-Begriffs und der entsprechenden Theorie bedeutete damit keineswegs, dass sowjetische Autorinnen und Autoren die zugrunde liegenden Diagnosen einer grundlegenden Transformation der internationalen Beziehungen nicht teilten, die in den USA unter dem Schlagwort der »Interdependenz« subsumiert wurden. Sie waren wie gesehen seit den späten er Jahren zunehmend diskutiert worden. Allerdings sollte man sich nicht zu der Annahme verleiten lassen, dass alle sowjetischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gedacht und geschrieben hätten wie im »Westen«, wenn sie nur gekonnt hätten. Nach mehreren Jahrzehnten sozialistischer Sozialisation argumentierten selbst die meisten Dissidenten mit Konzepten und Begriffen des Marxismus-Leninismus. Über das ideologisch gebotene Maß hinaus lassen sich mehrfache Prozesse der Übersetzung, Aneignung und Modifikation beobachten, die es einerseits erlaubten, »bürgerliche« Ansätze und Begriffe in den sowjetischen Kontext einzupassen, aber auch die durchaus widersprüchlichen Elemente der marxistisch-leninistischen Ideologie »kreativ« auszulegen, um die eigenen Thesen und Argumente zu stützen.
Die wissenschaftlich-technische Revolution Doch konnte es überhaupt ein genuines marxistisch-leninistisches Konzept geben, das den auch aus Sicht der sowjetischen Beobachter stattfindenden Wandel erklären konnte, ohne dafür »bürgerliche« Theorien der »Interdependenz« oder der »transnationalen Politik« bemühen zu müssen? Hier kam die Theorie der »wissenschaftlich-technischen Revolution« (naučno-techničeskaja revoljucija) ins Spiel: Dieser Ansatz ermöglichte es, Wandel in Weltpolitik und Weltwirtschaft in Übereinstimmung mit den Vorgaben der marxistisch-leninistischen Ideologie als »objektiven«, revolutionären Prozess zu deuten und gleichzeitig zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die sich nur in Details von denen westlicher Interdependenz-Diagnostiker unterschieden. Umstritten und hochgradig politisch blieb allerdings die Frage nach der politischen Bedeutung dieser Entwicklungen. Die Grundlagen der Theorie der wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR) leiteten sich aus der Überzeugung des Marxismus-Leninismus ab, historische Entwicklung sei ein dialektischer Prozess, der von der Veränderung Für die Anfangsphase des »speaking Bolshevik« vgl. Kotkin, Magnetic Mountain, bes. Kap 5. Brown, Political Science in the USSR, S. . Zum »kreativen Leninismus« Šachnazarov, Politika skvoz’ prizmu nauki (); Linder, Kniga o leninskom nasledii (). Dazu auch Gerovitch, Writing History. Die sowjetische Theoriebildung zur wissenschaftlich-technischen Revolution ist bereits zeitgenössisch im Westen untersucht worden. Vgl. zum Folgenden Hoffmann, Contemporary Soviet Theories; Hoffmann/Laird, The »Scientific-Technological Revolution«.
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der materiellen »Basis« bestimmt werde. Wenn die »Produktivkräfte« (Werkzeuge und Maschinen, menschliche Qualifikationen) in Widerspruch zu den »Produktionsverhältnissen« (Eigentumsverhältnisse, Organisationsformen der Gesellschaft und Wirtschaft) gerieten, verschärfe sich der Kampf zwischen den Klassen als Repräsentanten bestimmter Produktionsverhältnisse. Als Ergebnis dieser Entwicklung stehe die Veränderung des immateriellen »Überbaus« und der Produktionsverhältnisse, möglicherweise auch Revolution und der Übergang zu einer neuen »Produktionsweise« (als Summe des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen) und damit zu einer neuen »Gesellschaftsformation«, letztlich also zum Kommunismus. Bereits in den er Jahren hatte der Komintern-Sekretär Karl Radek aus der Beobachtung der Wirtschaftsorganisation und technologischen Entwicklung in den USA die These von einer »technischen Revolution« in der kapitalistischen Welt abgeleitet, von der sich die Sowjetunion selbst Anregungen für die eigene Industrialisierung erhoffte. Das Konzept der »wissenschaftlichtechnischen Revolution« war dann in den er Jahren vor allem von dem Philosophen Radovan Richta in der Tschechoslowakei entwickelt worden: Wissenschaft und Technologie waren für Richta zentrale Elemente der historischen Entwicklung in Richtung Kommunismus geworden. Die »industrielle Produktionsweise« werde durch neue, vollautomatisierte Produktionsformen abgelöst. In Anknüpfung an Karl Marx und den britischen Physiker John Desmond Bernal argumentierte der Philosoph, Wissenschaft sei jetzt selbst eine »direkte Produktivkraft« geworden. Dadurch werde eine Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen, rationalere Steuerung und damit eine »Optimierung« des Sozialismus möglich. Mit ihrer Abkehr von der industriellen Produktion als dem Hauptfaktor sozialer Entwicklung und ihrer Hinwendung zu den Folgen wissenschaftlicher und technischer Innovation stellte die WTR in der sozialistischen Wissenschaftsland Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie [/], in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: ; Marx, Karl: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band [], in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band , Berlin (Ost) , S. -, hier: f. Radek, Stabilizacija kapitalizma (), bes. S. f. Vgl. auch Duda, Jenö Varga, S. . In Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [/] hatte sich dieser mit dem Übergang von manueller Arbeit zu neuen Produktionsformen auseinandergesetzt. Bernal hatte bereits von der Wissenschaft als »direkte Produktivkraft« gesprochen. Vgl. Sommer, Scientists of the World, Unite!, S. . rief das Institut für Philosophie der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe ins Leben, die sich unter Leitung Richtas mit der WTR beschäftigen sollte. Ihre Forschungen fanden ihren Niederschlag in Zivilisation am Scheideweg, das im Original veröffentlicht und anschließend in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Richta, Zivilisation am Scheideweg (). Vgl. dazu auch Bollinger, Der »Richta-Report«.
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schaft einen neuen Ansatz dar. Daraus folgte einerseits eine Aufwertung von »Experten« zum eigentlichen »revolutionären Subjekt«. Andererseits ergab sich infolgedessen aber auch ein Plädoyer für die Notwendigkeit von Dezentralisierung und einer breiteren Beteiligung an Entscheidungsprozessen in der neuen »wissenschaftlichen Zivilisation«, letztlich eine Demokratisierung des Planungsprozesses. Richtas Arbeiten zur WTR waren wichtige Elemente der Bemühungen, den Sozialismus in der Tschechoslowakei zu reformieren. Nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« wurden dagegen im Rahmen der »Konsolidierung« und »Normalisierung« der tschechischen Sozialwissenschaften »technokratische« statt demokratischer Elemente stärker betont. In Zusammenarbeit mit sowjetischen Wissenschaftlern wurde die Theorie der WTR jetzt primär als ein Instrument zur Optimierung zentralisierter, staatlicher Planungstätigkeit und zur Steuerung sozialer Prozesse durch die kommunistischen Parteien präsentiert. Gleichzeitig behielt das Konzept seine Zweideutigkeit: Seine reformerischen und kooperativen Elemente konnten auch in der sowjetischen Debatte der er Jahre dazu genutzt werden, die Ideen des Reformkommunismus in verschlüsselter Form weiterzutragen. Denn bei der Theorie der WTR handelte es sich nie um eine klar definierte oder gar dogmatisierte Doktrin. Einer offiziellen Position relativ nahe kam die Definition, die Petr N. Fedoseev ‒ ZK-Mitglied und Vizepräsident der sowjetischen Akademie der Wissenschaften ‒ in einem von Ralf Dahrendorf herausgegebenen Sammelband anbot: Bei der »wissenschaftlich-technischen Revolution« handele es sich im Grunde um die »qualitative Reorganisation der Produktivkräfte als Ergebnis der Transformation der Wissenschaft in einen Schlüsselfaktor der sozialen Produktion«. Manuelle Arbeit und die direkte Partizipation des Menschen im Produktionsprozess werde durch Technologie und Wissen ersetzt, die WTR verändere die »gesamte Struktur der Produktivkräfte, die Bedingungen, Art und den Inhalt von Arbeit« radikal. Aus dieser Perspektive gab es keinen Lebensbereich, der nicht von ihren Folgen betroffen war: Diese Revolution verkörpere die wachsende Integration von Wissenschaft, Technologie und Produktion, beeinflusse jedoch auch das industrielle Management, die Erziehung, das Alltagsleben, die Kultur, Psychologie und die Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft. Doch wie waren die Folgen dieses Prozesses nun zu deuten? Einigkeit bestand letztlich nur darüber, dass es sich bei der WTR um ein globales Phänomen handelte, das in der Sowjetunion Mitte der er Jahre (im Westen etwas früher, in den Entwicklungsländern später) eingesetzt habe. Wissen und Technologie würden als Produktivkräfte immer wichtiger und stünden zunehmend im Widerspruch zu den herrschenden Produktionsverhältnissen. Damit bahne sich der Dazu Schulze Wessel, Der Prager Frühling, S. -. Etwa in Kedrov/Mogilev/Lebedeva (Hg.), Naučno-techničeskaja revoljucija i socializm (); Richta/Mikulinskij (Hg.), Socialism and Science (). Fedoseev, Social Significance (), S. .
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Übergang zu einer neuen Produktionsweise an, der in seinem Ausmaß nur mit dem Übergang von der »Feudalgesellschaft« zum Kapitalismus und mit der »industriellen Revolution« vergleichbar schien. Die große Bedeutung dieser Vorgänge stand damit außer Frage: Nur durch die »volle Nutzung der gesellschaftlichen Möglichkeiten der wissenschaftlichen und technologischen Revolution« werde es möglich sein, den Kommunismus aufzubauen. Für das Autorenkollektiv eines sowjetisch-tschechoslowakischen Bandes handelte es sich dabei nicht nur um eine »Frage der rechtzeitigen und vollen Nutzung aller bereits verfügbaren Errungenschaften dieser Revolution«, sondern es ging darum, »zu lernen, sie zu lenken«. Für sowjetische Beobachterinnen und Beobachter, die sich mit internationalen und globalen Fragen auseinandersetzten, konnte die Theorie der wissenschaftlichen-technischen Revolution dabei helfen, Veränderungen im internationalen Bereich ideologiekonform zu deuten. Bei den »objektiven« Veränderungen der Produktionsverhältnisse handelte es sich aus ihrer Sicht vor allem um die »Internationalisierung der Produktion« und die Entstehung einer neuen Form der »internationalen Arbeitsteilung«. Diese habe sich zunächst innerhalb der kapitalistischen Welt als Folge von Spezialisierung und Konzentration der Produktion herausgebildet und zu einer wachsenden Abhängigkeit der dortigen Volkswirtschaften von Außenwirtschaftsbeziehungen geführt: »Der Produktionsprozess in einem Land« werde »Teil des Produktionsprozesses in internationalem oder weltweitem Maßstab«. Unter den Bedingungen der WTR vertiefe sich die internationale Arbeitsteilung jedoch immer weiter; was zunächst für die westliche Welt galt, konnte bald auch andere Räume betreffen. Schon jetzt sei die klassische »imperialistische Arbeitsteilung« zwischen den industrialisierten Zentren und der rohstoffproduzierenden Peripherie von neuen Formen der »Vergesellschaftung von Arbeit und Produktion, einschließlich ihrer Internationalisierung« abgelöst worden. Für den Ökonomen Igor’ Faminskij bildete diese Internationalisierung der Produktion die »objektive Basis für alle Formen internationaler Wirtschaftsbeziehungen« und damit auch für »alle anderen Formen internationaler Beziehungen« im Bereich der Politik oder Kultur. Technologische Innovationen im Bereiches des Transports, der Telekommunikation, der Informationsverarbeitung und der Militärtechnologie hatten für sowjetische Beobachter alle unmittelbare Auswirkungen auf die internationale Politik. Mittelbar wirke sich die WTR über die Technologisierung und Intensivierung der Produktion oder über soziale Wandlungsprozesse wie Urbanisierung und Bildungsrevolution auf das »internationale Kräfteverhältnis« aus. Mitte der er Jahre begannen sowjetische Kedrov/Mogilev/Lebedeva (Hg.), Naučno-techničeskaja revoljucija i socializm (), S. . Faminskij, Vlijanie naučno-techničeskoj revoljucii (), S. , . Zur Arbeitsteilung auch Markušina, Meždunarodnye naučno-techničeskie svjazi (). Bogomolow, Die Internationalisierung des Wirtschaftslebens (), S. . Faminskij, Vlijanie naučno-techničeskoj revoljucii (), S. .
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Beobachter von einer »generellen Umstrukturierung der internationalen Beziehungen« zu sprechen, die sowohl Transformationsprozesse innerhalb der beiden sozio-ökonomischen Systeme als auch Veränderungen in den Beziehungen zwischen diesen beiden Systemen und zur »Dritten Welt« umfasste. Die angenommene Folge dieser Entwicklungen war ein stetes Wachstum wechselseitiger Abhängigkeiten. Umstritten war allerdings ihre genaue Reichweite: Bei Faminskij blieb etwa unklar, ob sich die »Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung« ausschließlich auf die Beziehungen zwischen den »kapitalistischen Ländern« oder nicht doch auf »alle Formen internationaler Wirtschaftsbeziehungen« und damit auf alle Staaten, unabhängig von ihrer »Klassenstruktur« bezog. Gerade diese Offenheit machte die Theorie für die marxistisch-leninistische Verortung des diagnostizierten Wandels in Weltpolitik und Weltwirtschaft allerdings so nützlich. Denn mit ihr ließen sich ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen begründen. Die Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution für die kapitalistische, die sozialistische und die »Dritte Welt« sowie für die Beziehungen zwischen diesen war eine intensiv diskutierte Frage, die konkrete politische Implikationen hatte: Würde die sie unausweichlich zu mehr wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Ost und West führen und damit verbesserte Beziehungen unabdingbar machen oder würde sie dem sozialistischen Lager endlich die Möglichkeit eröffnen, die globale Ordnungskonkurrenz doch noch für sich zu entscheiden? Davon hing ab, welche politische Strategie als angemessene Reaktion auf diese Umwälzungen zu empfehlen war. Um ihre Folgen einschätzen zu können, musste zunächst geklärt werden, welche Konsequenzen die WTR in den kapitalistischen Ländern hatte. Einig waren sich die sowjetischen Autorinnen und Autoren darin, dass sie die Interaktion zwischen den entwickelten kapitalistischen Staaten erweitert und vertieft habe. Besonders die Kapitalflüsse zwischen den USA, Westeuropa und Japan hätten zugenommen und damit auch den kapitalistischen Welthandel stimuliert. Im Zuge der »Entwicklung der Produktionsfaktoren und der Komplexität der modernen Produktion« nähmen damit Verflechtungen und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den kapitalistischen Ländern zu. Äußerst umstritten blieben jedoch die Konsequenzen dieser im besten Sinne dialektischen Entwicklung: Würden sie dem Kapitalismus Stabilität und Wachstum bringen oder die »intraimperialistische« Konkurrenz verstärken? Die aus der Beobachtung der Dekolonisation, der wirtschaftlichen Probleme der westlichen Länder sowie aus dem Zerfall des Systems von Bretton Woods und aus der Ölkrise abgeleitete offizielle sowjetische Position war Mitte der er Jahre, dass der Kapitalismus in die »vierte Stufe« seiner »allgemei-
Gromeka, NTR i sovremennyj kapitalizm (); Chvojnik, Vnežneekonomičeskaja sfera kapitalizma (), S. ; Maksimova, Vsemirnoe chozjajstvo I (); Maksimova, Vsemirnoe chozjajstvo II (). Faminskij, Vlijanie naučno-techničeskoj revoljucii (), S. .
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nen Krise« (obščij krizis kapitalizma) eingetreten sei. Ideologisch ›orthodoxe‹ Autoren betonten die sozialen Kosten, die bei der Anpassung an die WTR entstünden: Schon allein die hohe Geschwindigkeit der Entwicklung werde die politische, geistige und ideologische Krise der »bürgerlichen Gesellschaften« vertiefen. Außerdem nehme der Widerspruch zwischen der Internationalisierung der Produktion und des Kapitals auf der einen und der nationalstaatlichen Steuerung und Regulierung der Wirtschaft auf der anderen Seite zu. Denn sowjetische Beobachter stellten wie einige ihrer Kollegen im Westen fest, dass die Staaten des kapitalistischen Wirtschaftssystems seit den er Jahren durch Planung und technokratische Steuerung eine stärkere Rolle im Wirtschaftsleben übernommen hatten. Man habe es deshalb jetzt mit einem »staats-monopolistischen Kapitalismus« zu tun. Gleichzeitig diagnostizierten aber auch sie gegenläufige Entwicklungen, welche die Handlungsmacht der Regierungen der kapitalistischen Staaten stark beschränkten. Dazu gehörte auch aus sowjetischer Sicht der wachsende Einfluss »internationaler« beziehungsweise »multinationaler Unternehmen« (meždunarodnye/ mul’tinacional’nye korporacii) oder »internationaler Monopole«. Sowjetische Forscher beschäftigten sich gerade am IMEMO in den er Jahren intensiv mit der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung dieser Firmen. Die »Neigung gigantischer Unternehmen, Niederlassungen in verschiedenen Ländern zu errichten« und die Ausweitung ihrer Handlungssphäre hatten für Igor’ Faminskij ihre Basis in der »objektiven Tendenz zur Internationalisierung der Produktion und der wachsenden Interdependenz [rastuščej vzaimozavisimosti] der Produktion in verschiedenen Ländern«. Sie seien eine »Anpassung des Kapitals an die Erfordernisse der gegenwärtigen Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte, die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Revolution«. Die »allgemeine Krise des Kapitalismus« habe mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution begonnen. Ihre »zweite Stufe« sei mit dem Zweiten Weltkrieg und den anschließenden »sozialistischen Revolutionen« in Europa und Asien eingetreten. Die »dritte Stufe« habe mit der Dekolonisation begonnen und sei mit den ökonomischen und politischen Krisenerscheinungen der er und er Jahre in die »vierte Stufe« übergegangen. Siehe u. a. Kuz’minov, Nekatorye aspekty (); Domdey/ Dragilew, Aktuelle Aspekte (); Dragilev, Obščij krizis kapitalizma () und die internationale Konferenz sozialistischer Gewerkschaften zum Thema Krizisa kapitalističeskogo mira im Jahr , GARF fond , op. , d. sowie die internationale Konferenz Sovremennyj etap obščego krizisa kap. sistemy im Jahr , RGANI fond , op. , d. . Siehe dazu u. a. O. A., Naučnaja konferencija: Sovremennyj etap obščego krizisa kapitalizma (). Für eine detaillierte Behandlung der sowjetischen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus in dieser Zeit vgl. Hoffmann/Laird, The »Scientific-Technological Revolution«, S. -. Gromeka, NTR i sovremennyj kapitalizm (); Inozemtsev, Contemporary Capitalism (), S. f. Siehe Belous, Meždunarodnye monopolii (); Ivanov, Mežduanrodnye korporacii (); Bol’šakova/Kočetov, Strategija monopolii () Faminskij, Vlijanie naučno-techničeskoj revoljucii (), S. f., .
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Die politisch-gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklungen erschienen den sowjetischen Beobachtern jedoch ebenso widersprüchlich wie ihren Kollegen im »Westen«: Einerseits profitierten gerade die Vereinigten Staaten vom Aufstieg multinationaler Unternehmen, stellte amerikanisches Kapital doch die Hälfte aller ausländischen Direktinvestitionen. Dank der WTR hätten Westeuropa und Japan jedoch auch die ökonomische Lücke gegenüber den USA schließen können; das internationale Kräfteverhältnis verschiebe sich. Europa sei neben den USA und Japan zu einem dritten, multinationalen Zentrum des Kapitalismus aufgestiegen. Manche sowjetischen Beobachter folgerten daraus, dass der Wettbewerb zwischen den »drei Zentren des Imperialismus« zunehmen werde. Denn »ungeachtet der wachsenden Internationalisierung des Kapitals« könnten Monopole zur Verteidigung ihrer Position gegen ausländische Wettbewerber immer auf »›ihren‹ Staat zurückgreifen«. Jurij Judanov beschrieb dementsprechend die Kapitalinvestitionen zwischen den USA und Westeuropa in konflikthafter Semantik als »Invasion« und »Gegeninvasion«. Gleichzeitig beschrieben auch sowjetische Beobachter, dass die »Internationalisierung der Produktivkräfte« die Steuerungsfähigkeit von Staaten insgesamt geschwächt habe. Denn die Länder des »kapitalistischen Weltsystems« seien mittlerweile so eng »in das einheitliche Gewebe der Weltwirtschaft« eingebunden, dass keines von ihnen mehr in der Lage sei, isoliert zu funktionieren. Für Faminskij bestand der »Hauptwiderspruch des Kapitalismus« damit nicht nur aus dem Widerspruch »zwischen der Sozialisierung der Produktion in globalem Maßstab« und der »Erhaltung der privatkapitalistischen Aneignung«, sondern auch aus dem Widerspruch »zwischen der Internationalisierung der Produktion und des Kapitals« und den »engen Grenzen des Nationalstaats«. Andere sowjetische Beobachter betonten dagegen stärker die positiven Folgen der WTR für den Kapitalismus. Der wissenschaftliche und technologische Fortschritt habe ihm bereits entgegen den ursprünglichen Erwartungen zu einem bemerkenswerten Maß an Wohlstand und Stabilität verholfen; diese Entwicklung werde sich in den folgenden Jahren noch weiter beschleunigen. Bei einer Diskussion zu den Auswirkungen der WTR auf die kapitalistische Wirtschaft
Die Auswertung entsprechender Statistiken aus amerikanischen Quellen bei Kokošin, Vzaimozavisimosť (). Borisov, O nekotorych osobennostjach (); Maier/Me’nikov/Šenaev, Zapadnoevropejskij centr (). Faminskij, Vlijanie naučno-techničeskoj revoljucii (), S. ; Inozemcev (Hg.), Leninskaja teorija imperializma (), S. -. Judanov, Zapadnoevropejskij kapital I () und Judanov, Zapadnoevropejskij kapital II (). Schischkow, Die Krise im Mechanismus (), S. f., . Faminskij, Vlijanie naučno-techničeskoj revoljucii (), S. , . Inozemcev, Naučno-techničeskaja revolucija (), bes. S. , . Siehe auch Modrižinskaja/Stepanjan (Hg.), Buduščee čelovečeskogo obščestva (), S. .
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warnte Nikolaj Inozemcev im Jahr , dass es ein Fehler wäre, »die großen Möglichkeiten zu unterschätzen, über die der heutige Kapitalismus verfügt«. Um die globale Bedeutung der wissenschaftlich-technischen Revolution wirklich einschätzen zu können, untersuchten sowjetische Beobachter zudem deren Folgen für die »Entwicklungsländer«. Auch hier war die Analyse widersprüchlich, die Entwicklung im besten Sinne »dialektisch«: Das Ende des Kolonialsystems und der zunehmende Widerstand dieser Länder gegen ihre ökonomische Ausbeutung wurden als Beweis für den Beginn der »vierten Stufe der allgemeinen Krise des Kapitalismus« gedeutet. Gerade die Ölkrise habe gezeigt, dass die internationalen Machtverhältnisse im Umbruch waren. Damit sei für die sozialistische und die »Dritte Welt« die Gelegenheit gekommen, gemeinsam »die Herausbildung eines neuen Systems der internationalen Wirtschaftsbeziehungen« durchzusetzen. Gleichzeitig hatte jedoch gerade die »Energiekrise« technologische Innovation forciert und zu einer »weiteren WTR im Energiesektor« geführt. Die kapitalistischen Staaten könnten, so glaubten andere sowjetische Beobachter, mithilfe ihrer technologischen und ökonomischen Dominanz aus ihrer Abhängigkeit im Bereich der Energie ausbrechen und das asymmetrisches System der Arbeitsteilung mit den »Entwicklungsländern« aufrechterhalten. Damit drohten Abhängigkeitsverhältnisse gar noch einseitiger, die Bindung der »Dritten Welt« an das »internationale kapitalistische System« noch tiefer zu werden. Aus dieser Gesamtschau ergab sich für die sowjetischen Beobachterinnen und Beobachter natürlich die besonders dringliche Frage nach der Bedeutung der WTR für den Sozialismus selbst. Welche Elemente betont und wie ihre Folgen eingeschätzt wurden, hing dabei primär von der politischen Position und den argumentativen Zielen des jeweiligen Autors oder der Autorin ab. Die These von der wissenschaftlich-technischen Revolution konnte zur Begründung und Legitimierung entgegengesetzter Handlungsempfehlungen herangezogen werden. Nahezu alle sowjetischen Arbeiten betonten, dass »nur in einer Gesellschaft, die nicht in Klassen gespalten ist«, und damit nur im »entwickelten Sozialismus« die Bedingungen für die volle Nutzung der positiven Elemente der WTR und die »Neutralisierung ihrer negativen Konsequenzen« gegeben seien. Die Frage war nun allerdings, was das konkret bedeutete. Einige Beobachter kamen zu dem Schluss, der Sozialismus könne durch die WTR die Konkurrenz mit dem Kapitalismus doch noch für sich entscheiden. Wissenschaftliche und techno Inosemzew, Die WTR (), S. . Solodivnikov, Likvidacija kolonial’nogo sistemy (); Brutenz, Der Imperialismus und die freigewordenen Länder (). Andreassjan/Solonizki, Neue Tendenzen (), S. . Faminskij, Vlijanie naučno-techničeskoj revoljucii (), S. . Siehe etwa den Eintrag zu »Neokolonialzm« in Rumjancev (Hg.), Naučnyj kommunizm: slovar’ (), S. f; Tezisy Instituta MEMO AN SSSR (), S. sowie Brutenc, Karen N.: Imperializm i osvobodivčiesja strany, Pravda, .., S. -. Fedossejew, Der entwickelte Sozialismus ().
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logische Entwicklungen stellten eine Beschleunigung des weiteren Ausbaus des Sozialismus in Aussicht, ohne dass dabei Reformen durchgeführt werden müssten, die die Dominanz der Partei gefährden könnten. Autoren, die dieser Deutung nahestanden, sahen endlich die Gelegenheit zu einer autarken Entwicklung des sozialistischen Wirtschaftssystems gekommen, das intern weiter integriert werden sollte. Sie warnten davor, diese ökonomische Autarkie durch eine weitere Annäherung an den Westen aufzugeben und sich in gefährliche Abhängigkeiten zu begeben. G. Volkov erging sich sogar in schon fast vergessenen utopischen Erwartungen und sprach davon, die WTR werde für eine optimale Verteilung natürlicher und menschlicher Ressourcen sorgen und schließlich zum »Absterben des Staates« und in den Kommunismus führen. Bei dieser optimistischen Sicht handelte es sich jedoch um eine Minderheitenposition. Den meisten sowjetischen Autoren war durchaus bewusst, dass große Anstrengungen und Reformen nötig waren, um im »Wettbewerb der beiden Systeme unter den Bedingungen der WTR« durch eine »rationalere oder effizientere Anwendung von Material und menschlichen Ressourcen und durch eine Verbesserung des Systems der Planung und Verwaltung« zu beweisen, dass der Sozialismus zur »Modernisierung« und »intensivem Wachstum« besser in der Lage sei als der Kapitalismus. Die meisten sowjetischen Sozialwissenschaftler sahen in der wissenschaftlich-technischen Revolution auch keinen Weg, um endlich volle ökonomische Autarkie zu erreichen. Im Gegenteil, sie argumentierten in der genau entgegengesetzten Stoßrichtung: Die WTR erweitere und vertiefe »wirtschaftliche, wissenschaftliche und technologische Bindungen zwischen Ländern, besonders zwischen jenen mit unterschiedlichen sozialen Systemen«. Damit schien es nun immer weniger möglich, die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten als eigenständiges sozio-ökonomisches System zu betrachten. Sie müssten sich vielmehr an der »weltweiten Arbeitsteilung« intensiver beteiligen, auch wenn die globale Wirtschaftsordnung zurzeit noch von den kapitalistischen Staaten dominiert werde. Bei vielen der hier genannten Autoren war die Theoriebildung und Gegenwartsdeutung durchaus von einem politisch-reformerischen Motiv getragen, das sich auch bei der noch jungen Disziplin der sowjetischen Politikwissenschaft ins Siehe etwa den sowjetischen Handelsminister Katušev, Glavnoe napravlenie (). Dazu Shulman, Toward a Western Philosophy of Coexistence (), S. . Volkov, Istoki i gorizonty progress (), S. , f. Zu den Debatten um Autarkie vs. Integration vgl. Miller, The Scientific-Technical Revolution (); Hoffmann/ Laird, The Politics of Economic Modernization, bes. Kap. und ; English, Russia and the Idea of the West, S. -. Glezerman (Hg.), Razvitoe socialističeskoe obščestvo (), S. ; Inozemtsev, Contemporary Capitalism (), S. . Čubar’jan, Mirnoe sosuščestvovanie (), S. , Hervorhebung MD. Schmeljow, Sozialismus und Weltwirtschaft (). Dazu auch English, Russia and the Idea of the West, S. -. Laut Clemens, The U. S.S.R. and Global Interdependence, S. - gehörte besonders das Staatskomitee für Wissenschaft und Technologie zu den zentralen Unterstützern einer Annäherung an den »Westen«.
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gesamt beobachten lässt. Dass die Beziehungen gerade zu den kapitalistischen Ländern des »Westens« verbessert werden müssten, ließ sich nun als »objektive Notwendigkeit« begründen: Sowjetische Kommentatoren betonten, der von der WTR erzwungene Übergang von »extensivem« zu »intensivem« Wachstum vervielfache die Vorteile internationalen Handels und internationaler Kooperation, sowohl zwischen den sozialistischen Staaten als auch zwischen verschiedenen sozio-ökonomischen Systemen. Vladimir Osipov argumentierte im Februar in der Izvestija, die »globale Natur der Interdependenz der Staaten« mache außenpolitische Konzepte anachronistisch, die auf Konflikt und der Bildung militärischer Allianzen auf bauten. Igor Faminskij schließlich wollte Skeptikern mit dem Argument begegnen, im Zuge »des Prozesses der Internationalisierung des ökonomischen Lebens, der sich in der Epoche der WTR sowohl in sozialistischen als auch kapitalistischen Ländern entfaltet«, würden die »technisch-wirtschaftlichen Grundlagen für die Schaffung der zukünftigen internationalen sozialistischen Ökonomie« gelegt. In diesem Zusammenhang lässt sich nur schwer feststellen, was Ursache und was Wirkung war: Die Notwendigkeit der systemübergreifenden Kooperation wurde einerseits aus Diagnosen einer immer verflochteneren Welt im Zeichen der wissenschaftlich-technischen Revolution abgeleitet. Gleichzeitig war es natürlich gerade dieses Konzept, das es ermöglichte, einen ohnehin vorhandenen Wunsch nach Annäherung an den »Westen« im Rahmen der marxistisch-leninistischen Ideologie als eine aus »objektiven« Prozessen entstehende »Notwendigkeit« darzustellen. Hier mag durchaus die politische Überzeugung vor der Deutung der Welt in den Kategorien der WTR gestanden haben. Die Debatte über diese neue »Revolution« war auch eine Möglichkeit, Reformideen wie sie sich etwa im Umfeld des Prager Frühlings geäußert hatten, im Rahmen des offiziellen Diskurses weiterzuführen.
»Globale Probleme« und sowjetische »Globalistik« Eine zweite Möglichkeit, weltweite Verflechtungen ideologiekonform zu deuten und eine weitere Annäherung an den »Westen« zu legitimieren, bot das Konzept der »globalen Probleme« (global’nye problemy). Die Feststellung, dass Um Arbeiten zur Rolle der Kommunistischen Partei im sowjetischen politischen System oder zur öffentlichen Meinung forderten besonders Anfang der er Jahre einen besseren Informationsfluss von der Regierung zu den Bürgern und umgekehrt. Sie zielten damit auf eine »Effizienzsteigerung« des politischen und ökonomischen Systems und letztlich auch eine »Demokratisierung« der Strukturen. Siehe etwa Šachnazarov/Tichomirov (Hg.), Aktual’nye problemy (); Kurašvili, Gosudarstvennoe upravlenie (); Butenko, Protivorečija razvitija socializma (). Bogdanov, Centry soperničestva (), S. . Zit. in Shulman, Toward a Western Philosophy of Coexistence (), S. . Faminskij, Vlijanie naučno-techničeskoj revoljucii (), S. .
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weltverschmutzung, Migration, Bevölkerungswachstum, Nahrungsmittelversorgung, Ressourcenausbeutung und ähnliche Themen nicht vor nationalen oder ideologischen Grenzen Halt machten und nur durch internationale Kooperation effektiv bearbeitet werden könnten, war keine Erfindung sowjetischer Wissenschaftler oder der er Jahre. Sie lässt sich spätestens ab den er Jahren beobachten und wurde in den Vereinigten Staaten der er Jahre unter dem Begriff der »Weltprobleme« behandelt. In den er Jahren spielten »globale Probleme« in Umwelt- und Bevölkerungsdiskursen eine wichtige Rolle in den USA und Westeuropa. Vergleichbar mit dem Umbruch im Interdependenz-Verständnis änderte sich jetzt die Sicht auf solche Fragen: Einerseits wurden sie im Kontext wachsender globaler Verflechtung als immer drängender empfunden ‒ ihre Bearbeitung erschien gleichzeitig jedoch immer schwieriger. Denn während bis dahin die Überzeugung vorgeherrscht hatte, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Entwicklungen könnten, gerade wenn sie international koordiniert würden, den Schlüssel zur Lösung solcher Probleme liefern, setzte sich in diesem Jahrzehnt eine skeptische Sicht durch, die auf die negativen Auswirkungen technischer Lösungen und die Grenzen von »Fortschritt« und »Wachstum« hinwies. Auch in der Sowjetunion lassen sich Einflüsse dieses eher pessimistischen Denkens feststellen: Der Physiker Andrej Sacharov hatte bereits in seinem Buch Wie ich mir die Zukunft vorstelle zu amerikanisch-sowjetischer Zusammenarbeit bei der Verbesserung der Lebensbedingungen auf dem Planeten Erde aufgerufen. Da Sacharov bald als Dissident galt, konnte dieser Appell in der sowjetischen Wissenschaft jedoch nicht explizit aufgegriffen werden, auch wenn er etwa auf Fedor Burlackij einen großen Eindruck gemacht hatte. Vergleichbares gilt für Kritik an Wachstum und Umweltverschmutzung, wie sie etwa vom Club of Rome geübt wurde: Die Sowjetunion wies solche Positionen zurück und boykottierte die UN-Umweltkonferenz in Stockholm, weil die DDR nicht teilnehmen konnte. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Rede von den »Weltproblemen« in der Sowjetunion nicht beachtet worden wären. Ganz im Gegenteil, hier wurde global’nye problemy und ihrer kooperativen Bearbeitung ab den er Jahren eine politische Bedeutung zugemessen, die weit über die einzelnen Themenbereiche selbst hinausging. Nur in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten bildete sich in dieser Zeit mit der »Globalistik« (global’istika) eine eigene
Siehe Kapitel .. Der Glaube an technologische Lösungen findet sich noch bei Rock, Science and Technology (), der sich aber auch für eine intensivere Kooperation zwischen Ost und West ausspricht. Sacharov, Wie ich mir die Zukunft vorstelle (). Burlackij, Voždi i sovetniki (), S. . Dazu English, Russia and the Idea of the West, S. f.
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Herangehensweise heraus, die sich mehr als ein Jahrzehnt vor der Einrichtung von global studies in den USA bereits mit entsprechenden Fragen beschäftigte. Den Anfang einer an den offiziellen marxistisch-leninistischen Diskurs anschlussfähigen Beschäftigung mit »globalen Problemen« machten Vadim Zagladin und Ivan Frolov mit einem Artikel in der zentralen sowjetischen Zeitschrift für ideologische Fragen, Kommunist. Zagladin war seit erster stellvertretender Leiter der Internationalen Abteilung, ab stellvertretendes und ab Vollmitglied des ZK. Er hatte seine Ausbildung am MGIMO im selben Jahrgang abgeschlossen wie Georgij Arbatov und Nikolaj Inozemcev und stellte eine wichtige persönliche Verbindung zwischen der Internationalen Abteilung und den Forschungsinstituten her. Zudem verfasste er mehrfach Reden für Brežnev und hatte gute Kontakte in das Politbüro. Frolov war korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften, hatte bei der Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus in Prag gearbeitet und gab zwischen und die Zeitschrift Voprosy Filosofii heraus. Dort hatte er schon eine Debatte zu drängenden internationalen Fragen untergebracht, deren Beiträger auch kritische Positionen etwa zu Umweltfragen eingenommen und sich für internationale Kooperation ausgesprochen hatten. Im Jahr setzten sich die beiden Autoren in ihrem Artikel mit verschiedenen Varianten der »bürgerlich-reformerischen Konzeptionen« des »Globalismus« auseinander. Dieser Begriff war in der Sowjetunion nicht unbekannt, bislang jedoch in kritischer Absicht für die amerikanische geostrategische Expansion seit dem Zweiten Weltkrieg genutzt worden. Die Annahmen, dass »Ereignisse neue Dimensionen aufweisen, dass Prozesse nationale Rahmen sprengen und zum Globalen tendieren, das heißt, dass sie die ganze Welt, die gesamte Menschheit und jeden einzelnen von uns erfassen«, kennzeichneten dagegen eine neue Variante des westlichen »Globalismus«. Zagladin und Frolov stimmten hier durchaus zu; das Grundproblem von »bürgerlichen« Modellen des »Weltsystems«, des »Welthumanismus«, der »Einheit des Weltbewußtseins« oder des »Kosmopolitismus« sei jedoch, dass sie alle von einem »übersozialen«, »übernationalen« oder »übernatürlichen« Charakter der globalen Probleme ausgingen. Der zweite Bericht an den Club of Rome vertrete etwa die irrige Annahme, dass das »globale Krisensyndrom« neben der kapitalistischen auch die sozialistische Welt betreffe. Für Zagladin und Frolov dagegen existierten die Die Referenz auf das »Spaceship Earth« von Džermen Gvišiani. Siehe Clemens, The U. S.S.R. and Global Interdependence, S. . Vgl. dazu Clemens, Can Russia Change?, S. -. Zagladin/Frolov, Global’nye problemy sovremennosti (). Deutsch als Sagladin/ Frolow, Die globalen Probleme der Gegenwart (). Zu Zagladins Biografie Kitrinos, International Department, S. f. Etwa in Voprosy Filosofii - (). Dazu English, Russia and the Idea of the West, S. f. Etwa bei Bykov, Obščaja strategija (). Sagladin/Frolow, Die globalen Probleme der Gegenwart (), S. .
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»heutigen globalen Probleme real nur unter den spezifischen Bedingungen dieser oder jener sozioökonomischen Ordnung«. Sie seien eine »Erscheinungsform der allgemeinen Krise des Kapitalismus«, ihre Ursachen fänden sich in der fortgesetzten Existenz des Privateigentums und des »Monopolkapitals«. Eine wirkliche Lösung »globaler Probleme« sei deshalb nur im und durch den Sozialismus möglich. Nur dieser könne die von der wissenschaftlich-technischen Revolution zur Verfügung gestellten neuen Mittel optimal auszunutzen. An den marxistischen Wissenschaften sei es deshalb, eine »nach Möglichkeit eindeutige Problemstellung der globalen Probleme, eine wissenschaftliche Auffassung ihres Wesens und ihrer Wechselwirkung, ihrer Ursachen und Folgen« zu finden. Es handele sich hier um »Komplexprobleme«, deren Verständnis die Anwendung der »Systemanalyse« auf dem »methodologischen Fundament der materialistischen Dialektik« erfordere. Auch wenn der »bürgerlich-reformerische Globalismus« aus ideologischen Gründen zurückgewiesen wurde, liest sich Zagladins und Frolovs Übung in falsifikacija doch über weite Strecken wie eine Zusammenfassung der Thesen von Mankind at the Turning Point für sowjetische Leser; erst am Ende erfolgte eine vergleichsweise knappe ›Widerlegung‹. Bei einer Präsentation des Computermodells des Club of Rome sollen sogar fünf Mitglieder des Politbüros anwesend gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten sowjetische Wissenschaftler bereits seit fünf Jahren mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA und anderen kapitalistischen Ländern zusammen, um die Methoden der »Kybernetik« und der »angewandten Systemanalyse« zur Bearbeitung länder- und ideologieübergreifender Probleme einzusetzen. Das International Institute for Applied System Analysis (IIASA) in Laxenburg bei Wien war aus einer Initiative von Lyndon B. Johnson und Aleksej Kosygin hervorgegangen und befasste sich mit »globalen Fragen« in einer Welt, die als »Gesamtsystem« betrachtet wurde. Von sowjetischer Seite war hier Džermen M. Gvišiani (-) die zentrale Figur. Er war Philosoph, Soziologe, Schwiegersohn Kosygins und Mitglied des Club of Rome. Ab leitete er das neu gegründete Allunionsforschungsinstitut für Systemanalyse (Vsesojuznych naučno-issledovatel’skij institut sistemnych issledovanij, VNIISI).
Ebd., S. -. Zur Rezeption der Arbeit des Club of Rome in der Sowjetunion vgl. auch Geierhos, Die Sowjetunion und der Club of Rome (). Interview mit Alexander King, . Feb. , in: Clemens, Can Russia Change?, S. , Anm. . Vgl. ebd., S. -; McDonald, Scientific Cooperation; Rindzevičiūtė, Toward a Joint Future; Rindzevičiūtė, The Power of Systems sowie jüngst Schrickel, IIASA. Zur Kybernetik in der Sowjetunion Gerovitch, From Newspeak to Cyberspeak. Siehe Emel’jan, D. M. Gvišiani und www.miepl.ru/dgermen-gvishiani.html (..). Im Kontext dieser Arbeit: Gvišiani, Metodologičeskie problemy (); Gvišiani, Naučno-techničeskaja revoljucija (). Seine Personalakte in ARAN, fond , op. , d. .
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Die Jahre / markieren damit einen ersten Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit »globalen Problemen« und systemanalytischen Methoden in der Sowjetunion. Zagladin und Frolov hatten mit ihrem Aufsatz einen Nerv getroffen, in den nächsten Jahren folgte eine wahre Fülle von Publikationen. Im russischsprachigen Korpus von google books steigt die Anzahl der Nennungen des Begriffs »global’nye problemy« zwischen und stark an. Nach einem Plateau und einem letzten Höhepunkt in der frühen Gorbačev-Zeit sinkt die Begriffshäufigkeit ab wieder. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde auch dieser Begriff seltener genutzt, erst das Einsetzen der Globalisierungs-Debatte im nachsowjetischen Russland verlieh ihm neue Prominenz. (Abbildung ). Die quantitative Entwicklung der Begriffsverwendung verläuft damit parallel zu entsprechenden Debatten über globale Zusammenhänge, auf die später für die Gorbačev-Zeit noch zurückzukommen sein wird. In diesem Kontext wurde auch das Adjektiv »global« im Russischen ab den späten er Jahren mit neuer Bedeutung gefüllt und verbreitete sich im Sprachgebrauch; zuvor war es vor allem im Zusammenhang mit Raketentechnologie aufgetaucht. Anfang der er Jahre wurde die »Globalistik« (global’istika) als neue fächerübergreifende, Natur- wie Sozialwissenschaften überspannende Disziplin aus der Taufe gehoben, die sich aus marxistisch-leninistischer Perspektive mit »globalen Problemen« und ihren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen auseinandersetzen sollte. Auch aus diesen Arbeiten sollte jedoch keine einheitliche Theorie hervorgehen. Obwohl es im Laufe der er Jahre zu einer ganzen Reihe von disziplinären, institutionellen, ideologischen, theoretischen und semantischen Innovationen gekommen war, hatte die sowjetische Wissenschaft große Probleme, widersprüchliche Diagnosen einer veränderten Weltpolitik und Weltwirtschaft in kohärentere Deutungen zu übersetzen. Denn trotz der These von der »wissenschaftlich-technischen Revolution« und der Rede von den »globalen Problemen« fehlte ihr ein mit der »Interdependenz« vergleichbarer Begriff, an dem sich Diagnosen und Deutungen kondensieren konnten. Am IMEMO kreiste die Debatte im November daher vor allem um die Frage, wie sich die Untersuchung »globaler Probleme« auf einzelne Abteilungen verteilen ließ. Margarita Maksi Für die 1970er Jahre siehe u. a. Zagladin/Frolov, Global’nye problemy i buduščee (1979); Inosemzew, Die Grundlagen (1979); Chozin, Global’nye problemy naučnotechničeskoj revoljucii (1979); Nikoforov, »Vzaimozavisimosť« i global’nye problemy (). Dazu Kapitel .. Unter anderem hier http://sovdoc.rusarchives.ru/elib/prezidium-ck-kpss--volume-/index.html// (..). Zur Begriffsgeschichte von »global’nyj« im Russischen siehe Clemens, Can Russia Change?, S. , Anm. . Vgl. ebd., S. -. Bis heute operiert die Erforschung der »Globalisierung« in Russland in Anknüpfung an die »Globalistik« der er und er Jahre. Siehe u. a. Grinin/Ilyin/Korotayev (Hg.), Globalistics and Globalization Studies.
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Abbildung : Begriffshäufigkeit von »global’nye problemy« im russischsprachigen Korpus von Google n-gram. mova hielt fest, das Institut befinde sich noch in einer »Periode des Übergangs«: »Wir führen in der Abteilung eine intensive Debatte und haben uns noch nicht auf einen abschließenden Standpunkt geeinigt.« Bemerkenswert ist hier wie in vielen Publikationen die für sowjetische Verhältnisse ungewöhnliche Vielfalt der Standpunkte und Offenheit der Deutungen. Auch die Beiträge zu einer vom Außenministerium, dem Staatskomitee für Wissenschaft und Technologie, dem IMEMO, dem ISKAN, dem Orientinstitut, und dem VNIISI an der Diplomatischen Akademie veranstalteten Konferenz verdeutlichen dies: Die behandelten Themen reichten von der Landwirtschaft über das Gesundheitswesen bis zur Erkundung des Weltraums; die Meinungen von der Feststellung, alle notwendigen Antworten fänden sich in den marxistischen Klassikern bis hin zu Plädoyers für neue Formen der Wissenschaft wie der »Ökonologie« (Ökologie plus Ökonomie, N. F. Reimers). Am IMEMO beschloss das Direktorium , einen gemeinsamen Band zu »globalen Problemen« und zur wirtschaftlichen wie politischen »Interdependenz« herauszugeben und die einzelnen Abteilungen mit Publikationen zu Energieproblemen, zu Umweltfragen, zu Nahrungsmittelversorgung oder zur Interaktion der beiden Weltwirtschaftssysteme und der Rolle der »Entwicklungsländer« darin zu beauftragen. Schon das sei eine »sehr große Aufgabe für ein sehr großes Kollektiv«. Diese Feststellung galt jedoch umso mehr für ein integriertes Projekt, das in Zusammenarbeit mit Instituten aus anderen sozialistischen Ländern ins Auge gefasst wurde. Ein solches großangelegtes Forschungsprojekt wurde bereits seit Oktober im Rahmen des RGW durchgeführt. Neben sowjetischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des IMEMO, des Instituts für die Wirtschaft des ARAN, fond , op. , d. , ll. f. Tichvinskij (Hg.), Global’nye problemy (). ARAN, fond , op. , d. , l. .
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Sozialistischen Weltsystems und des ISKAN waren daran auch Vertreterinnen und Vertreter Bulgariens, der ČSSR, Polens, Ungarns und der DDR beteiligt. Bei manchen Sitzungen waren auch kubanische Wissenschaftler anwesend, die eingeladenen rumänischen Vertreter hatten ihre Teilnahme dagegen abgesagt. »Projekt Stern« (Proekt svezda) sollte sich in sechs Phasen mit einer ganzen Reihe von Themen befassen: Diese reichen von den »Probleme[n] der Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern und den kapitalistischen Ländern Europas in den er Jahren« (Stern I, Mai bis Dez. ) über »Probleme der Herausbildung eines neuen Systems der internationalen Wirtschaftsbeziehungen« (Stern II, -), »Probleme der langfristigen Strategie der ökonomischen Beziehungen der Länder des RGW mit nichtsozialistischen Staaten« (Stern III, -), »Aktuelle Probleme der Politik der Länder der sozialistischen Gemeinschaft gegenüber den entwickelten kapitalistischen Staaten in den er Jahren« (Stern IV, -), »Das Zusammenwirken der sozialistischen und der Entwicklungsländer unter den komplizierter gewordenen Bedingungen der er Jahre« (Stern V, -) bis hin zu den »Neue[n] Tendenzen der weltwirtschaftlichen Entwicklung und [der] Beziehungen zwischen den Ländern der sozialistischen Gemeinschaft und den entwickelten kapitalistischen Ländern« (Stern VI, -). Am Anfang stand jeweils das Treffen einer »internationalen Problemkommission« mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den beteiligten Ländern, die ein Abschlussdokument vorbereiteten, das anschließend von einer internationalen Redaktionsgruppe weiter beraten und schließlich auf einer Plenarsitzung als Studie des Projektes verabschiedet wurde. Diese Ergebnisse wurden nicht publiziert, sondern als vertrauliche Verschlusssache wissenschaftlichen Institutionen sowie den Staats- und Parteiführungen der beteiligten Länder zugänglich gemacht. Die einzelnen Thesen dieses breit angelegten Forschungsvorhabens lassen sich hier nicht im Detail darstellen. Insgesamt dominierte jedoch in den verschiedenen Abschlussberichten die Einschätzung, dass die neuen Herausforderungen einer gewandelten Welt nur durch verbesserte Kooperation innerhalb des RGW-Raums, aber auch über ideologische Grenzen hinweg bewältigt werden könnten. Diese Einschätzung findet sich auch bei den meisten sowjetischen Autorinnen und Autoren der späten er Jahre: Aus der zunehmenden Bedeutung »globaler Probleme« ergab sich für sie die Notwendigkeit, auf internationaler Ebene verstärkt zu kooperieren. Schon Zagladin und Frolov hatten zwar betont, dass die Weltpolitik eine »Sphäre der Auseinandersetzung der beiden Systeme« bleibe. Gleichzeitig könne die Lösung von Problemen wie nukleare Rüstung, Hunger, Unterlagen dazu in Barch-SAPMO, DY /IV B //-; DY /-; DY /. argumentierte Nikolaj Inozemcev, internationale Kooperation sei unerlässlich, um eine Reihe von »globalen Problemen« zu bearbeiten. Inozemcev, Problemy sovremennogo mirovogo razvitija (), S. . Den Weg zu einer solchen Lösung sah er aber weiter im wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt. Siehe Inozemtsev, Contemporary Capitalism (), S. .
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Bevölkerungsentwicklung und Umweltverschmutzung nur »im Maßstab unseres gesamten Planeten« erfolgen. Die Entspannung der Beziehungen zwischen den »Blöcken« und die Lösung solcher Probleme ständen sogar in einem »dialektischen Wechselverhältnis«: Denn stabile politische Beziehungen ermöglichten Kooperation bei der Bearbeitung entsprechender Herausforderungen. Diese Zusammenarbeit werde dann ihrerseits »zum Faktor der Festigung und Vertiefung der friedlichen Koexistenz« und der durch sie bewirkten »Umgestaltung des Systems der internationalen Beziehungen auf gesunder Grundlage«.
Wissenschaft und Politik in der Sowjetunion Solche Deutungen, die von wachsender internationaler Verflechtung im Zuge einer wissenschaftlich-technischen Revolution ausgingen und deshalb internationale, auch blockübergreifende Kooperation für geboten hielten, konnten in den ersten beiden Dritteln der er Jahre auf die Unterstützung der sowjetischen Führung zählen. Generalsekretär Brežnev hatte nicht nur dazu aufgefordert, »die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution organisch mit den Vorzügen des sozialistischen Wirtschaftssystems zu verbinden«, sondern drei Jahre später auch festgestellt, viele Länder stünden »vor immer akuter werdenden Problemen wie dem Energie- [und] dem Ernährungsproblem«. Um die »nie dagewesenen Möglichkeiten für das Aufblühen der gesamten Menschheit« im Rahmen der WTR zu nutzen, müsse ein »dauerhafter Frieden« gewährleistet und der Entspannungsprozess vertieft werden. Die Sowjetunion strebe keine Autarkie, sondern breite Kooperation mit der übrigen Welt an. Im Jahr betonte Brežnev, weltweite Probleme übten einen immer stärkeren Einfluss auf das »Leben jedes Volkes, auf das ganze System der internationalen Beziehungen« aus. Auch die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder könnten deshalb »bei der Lösung dieser Probleme, die die ganze Menschheit angehen, nicht abseits stehen«. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik, nach dem Einfluss wissenschaftlicher Politikberatung auf die Außenpolitik der Sowjetunion in den er Jahren. Dieser Zusammenhang wurde im »Westen« Sagladin/Frolow, Die globalen Probleme der Gegenwart (), S. , , f. Ähnlich Sovetov, Détente and the Modern World (), S. , . Im Rahmen der »Tripartite Industrial Cooperation«, der Idee einer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit aller drei »Welten« zum allseitigen Vorteil, ließ sich eine solche blockübergreifende Kooperation in ersten Ansätzen bereits beobachten. Vgl. dazu Lorenzini, Comecon and the South, S. -. Breschnew, Leonid I.: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXIV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, . März , in: Breschnew, Leonid I. (Hrsg.): Auf dem Wege Lenins. Reden und Aufsätze, Band : Mai –März , Berlin (Ost) , -, hier: . Breschnew, Unser Kurs, Frieden und Sozialismus (), S. . Breschnew, Rechenschaftsbericht (), S. .
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bereits zeitgenössisch diskutiert. Lange herrschte dabei die Meinung vor, wissenschaftliche Arbeiten hätten die Politik so gut wir gar nicht beeinflusst, während man umgekehrt aus wissenschaftlichen Publikationen relativ direkte politische Vorgaben herauszulesen glaubte. Als unter dem neuen Generalsekretär Michail S. Gorbačev / mehrere Experten in zentrale Beraterpositionen aufrückten, die in den Jahren zuvor an Forschungsinstituten und in den Abteilungen des ZK zu internationalen und globalen Fragen gearbeitet hatten, änderte auch die »westliche« Forschung ihre Einschätzung: Einigen Wissenschaftlern wurde jetzt ein »signifikanter politischer Einfluss« zugeschrieben, die Perspektive auch auf die vorherige sowjetische Geschichte übertragen. Wie weit dieser Einfluss genau reichte und durch welche Kanäle er ausgeübt werden konnte, ist jedoch besonders für die Brežnev-Zeit bis heute nur sehr schwer nachzuvollziehen. Seit ihrer Gründung arbeiteten außenpolitische Forschungsinstitute auch im Auftrag der sowjetischen Staats- und Parteiführung. Das IMEMO erstellte zum Beispiel auf Anfrage der Internationalen Abteilung des ZK vertrauliche Berichte. Direktor Inozemcev sah darin die wichtigste politische Einflussmöglichkeit des Institutes. Ziel der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Meždunarodnye Problemy war eine aktive Beeinflussung außenpolitischer Akteure. Anders als die Forschungszeitschrift MEiMO wurde sie nicht publiziert, sondern nur an das ZK, das MID, den KGB und andere Staats- und Parteiorgane verteilt. Daneben war das Institut auch an sogenannten »Situationsanalysen« (situacjonnij analiz, sitan) beteiligt. Hierbei handelte es sich um Arbeitsgruppen aus Vertretern verschiedener Institutsabteilungen, die ein spezifisches Problem der internationalen Politik und Weltwirtschaft diskutierten. Diese Analysen wurden nach ihrer Genehmigung durch den Direktor als politische Empfehlung des Instituts an das Zentralkomitee geschickt. Darüber hinaus gab es einen regen Personalaustausch zwischen Forschungsinstituten und Abteilungen und Ministerien der Staats- und Parteiführung. Gleichwohl ist der wirkliche Einfluss der Wissenschaft auf die Politik für die Brežnev-Zeit nur sehr schwer zu fassen. Die Forschungsinstitute erstellten zwar unablässig Studien und Empfehlungen für das Zentralkomitee; nach Aussagen mancher Zeitzeugen landeten die meisten davon dort jedoch im Papierkorb. Eine unter anderem von Georgij Arbatov, Nikolaj Inozemcev und Oleg Bogomolev mitverfasste Studie, die ökonomische Probleme benannte und zu Reformen aufrief, versank Brown, Political Science in the USSR, S. . Dazu Eran, Mezhdunarodniki, S. , ; English, Russia and the Idea of the West. Besonders beliebt war die befristete Tätigkeit als Analyst oder Übersetzer für die staatliche Außenwirtschaftskomission, die meist mit umfassenden Reisemöglichkeiten einherging. Für Beispiele Polsky, Soviet Research Institutes (), S. f. Galina Orionova, ehemalige ISKAN-Mitarbeiterin, in: Beloff, Nora: Escape from Boredom: A Defector’s Story, Atlantic Monthly, Nov. , S. f. Georgij Arbatov berichtet, die Allgemeine Abteilung des ZK unter Konstantin Černenko habe alle Papiere, die an die höhere Führungsebene gerichtet waren, geprüft und das meiste aussortiert. Arbatow, Das System (), S. .
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in der Parteiführung beispielsweise »wie ein Stein«. Zudem ist der Zugang zu entsprechenden Archivquellen, mit denen sich politische Entscheidungsprozesse nachvollziehen ließen, heute wieder stärker eingeschränkt als noch in den er Jahren. Selbst mit vollem Zugang zu außenpolitischen Dokumenten wäre der Entscheidungsprozess allerdings nur schwer zu rekonstruieren. Denn politisch brisante Themen wurden meist im kleinen Kreis verhandelt, aus dem nicht nur Experten und Berater, sondern mitunter sogar manche Mitglieder des Politbüros ausgeschlossen wurden. Entscheidungen basierten meist auf mündlichen Beratungen, Einfluss auf persönlichen Netzwerken, die nur selten ihren Niederschlag in schriftlichen Dokumenten fanden. Trotz aller Probleme ist jedoch davon auszugehen, dass es wie im »Westen« auch in der Sowjetunion einen intensiven Austauschprozess zwischen Wissenschaft, Partei- und Staatsapparat gab. Das zeigen zwei bis heute aber kaum erforschte Gruppen von Denkern. Jurij Andropov, zu dieser Zeit Leiter der ZKAbteilung für Kommunistische und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder, hatte Fedor Burlackij aus der Redaktion der Zeitschrift Kommunist in seine Abteilung berufen, wo er unter anderem Reden für den Ersten Sekretär Nikita Chruščev verfasste. wurde Burlackij aufgefordert, innerhalb der Abteilung einen Beraterkreis unter seiner Leitung einzurichten. Er habe die Mitglieder dieser »Aristokraten des Geistes« selbst rekrutieren dürfen, berichtete der Politikberater in seinen Memoiren, und sich zunächst für Georgij Šachnazarov entschieden, den er noch aus dem Jurastudium und von der gemeinsamen Arbeit an ihrem erschienenen Artikel zur sowjetischen Politikwissenschaft kannte. Neben Šachnazarov, den Burlackij aus der Prager Redaktion der Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus abwarb, gehörten unter anderem Oleg Bogomolov, zuvor Wirtschaftsexperte bei Gosplan, Aleksandr Bovin und ab Mai Georgij Arbatov dieser Gruppe an.
Arbatow, Das System (), S. . English, Russia and the Idea of the West, S. . Eine ganze Reihe von Quellen aus dem RGANI, die Odd Arne Westad für sein The Global Cold War einsehen konnte, sind dort heute beispielsweise nicht mehr zugänglich. Dazu u. a. Wehner, Gescheiterte Revolution. Ein zentrales Beispiel ist die Entscheidung zur militärischen Intervention in Afghanistan Ende . Vgl. Deuerlein, Die Sowjetunion in Afghanistan, S. -. So auch Arbatow, Das System (), S. . Einen seltenen Einblick gewährt hier das Tagebuch Anatolij Černjaevs, in dem die unterschiedlichen Positionen der verschiedenen Akteure und Institutionen anschaulich deutlich werden. Publiziert als Černjaev, Sovmestnyj ischod (). Das National Security Archive in Washington D. C. arbeitet an einer englischen Übersetzung, die Anfang die Jahre - und umfasste. Siehe https://nsarchive.gwu.edu/anatoly-chernyaev-diary (..). In seinen Memoiren übertreibt Burlackij seine Rolle wohl etwas, wenn er seine Bedeutung für Chruščev als Äquivalent zu Ted Sorensens Funktion für John F. Kennedy beschreibt. Siehe dazu Burlatsky, Khrushchev and the First Russian Spring (), S. ; Arbatow, Das System (), S. -; Šachnazarov, S voždjami i bez nich (), S. -.
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Die insgesamt elf Mitglieder dieses Beraterstabs sollten Andropov nicht nur mit Redemanuskripten versorgen, sondern hatten auch den Auftrag, innovative Ideen für die Außen- wie Innenpolitik zu entwickeln. Nach dem Sturz Chruščevs waren unter seinem Nachfolger Leonid Brežnev die intellektuellen Freiheiten der Tauwetter-Zeit wieder eingeschränkt worden. Die Protektion durch einen hochrangigen Funktionär wie Jurij Andropov ‒ ab als Direktor des KGB ironischerweise selbst für die Verfolgung Andersdenkender zuständig ‒ bot dagegen die Möglichkeit, zumindest intern auch kritische Meinungen zu äußern. Fedor Burlackij berichtet, Andropov habe die Gesellschaft dieser »Kolonie freier Intellektueller« sehr genossen und sich nach den offiziellen Tagesgeschäften bei deren Diskussionen entspannt. Laut Aleksandr Bovin habe Andropov seine Berater dazu aufgefordert, »ohne Rücksicht auf Ideologie« zu denken und zu schreiben. Er werde dann schon selbst wissen, was er davon an das Politbüro weiterleiten könne und was nicht. Entsprechende Beratergruppen, die sich ohne ideologische Zwänge über die wichtigsten Fragen der Politik Gedanken machen konnten, wurden auch in anderen Abteilungen eingerichtet: Boris Ponomarev hatte als sowjetischer Vertreter im Exekutivkomitee der Komintern (-) und erster stellvertretender Direktor der Kominform (-) bereits Erfahrung in der internationalen Politik sammeln können, bevor er Direktor der Internationalen Abteilung des ZK geworden war. stellte er dort eine informelle Gruppe zusammen, die zunächst von E. I. Kuskov geleitet wurde und zu der unter anderem Anatolij Černjaev und Vadim Zagladin gehörten. Obwohl Ponomarev als Protegé des »Chefideologen« Michail Suslov eher als ideologischer Hardliner galt, berichtet auch Černjaev, sein Vorgesetzter sei von seinen Kollegen im Sekretariat des ZK die ganze Zeit damit gepiesackt worden, dass er in seiner Abteilung »Leute mit fragwürdigen Ideen ›halte‹«. Gegenüber seinem Mitarbeiter gestand er ein, er wisse sehr wohl, dass manche von ihnen »revisionistisch angehaucht« seien. Dafür handele es sich aber um »denkende und gebildete Leute«, die wüssten, wie man schreibt. Die Hardliner [tverdokamennye] könnten »in der Regel weder das eine noch das andere«. Kritik musste nun wieder in ›verschlüsselter‹ Form geäußert werden. Fedor Burlackij schrieb etwa eine Mao-Biografie, die gleichzeitig ein nur dünn verschleierter Kommentar zur Sowjetunion unter Stalin war. Burlatsky, Khrushchev and the First Russian Spring (), S. . Bovin, XX vek kak žizn’ (), S. , f. Ganz änlich Arbatow, Das System (), S. . Siehe etwa Melyakova (Übers.), The Diary of Anatoly S. Chernyaev , S. . Zu Ponomarev Kitrinos, International Department, S. . Suslov war seit ZK-Sekretär, von / bis zu seinem Tod Mitglied des Politbüros, wo er für ideologische Fragen verantwortlich war. In der Darstellung vieler sowjetischer Berater war Suslov als ideologisch ›Orthodoxer‹ und Gegner der Annäherung an den Westen der große Gegenspieler Brežnevs im Politbüro. Černjaev, Moja žizn’ i moe vremja (), S. . Ähnlich Dlja projekta Stenford-Gorbačev-Fond, Interv’ju s Černjaevym, A. S., Hoover Institution Archives, Stanford,
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Diese ›intellektuelle Immunität‹ war keineswegs absolut, konnte im Falle von ›Verfehlungen‹ jedoch die Konsequenzen abmildern. Besonders in den Jahren nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nahmen die Schwierigkeiten zu. Fedor Burlackij, nach eigener Darstellung ein energischer Verteidiger der Ideen des XX. Parteitags, musste Andropovs Beratergruppe verlassen, nachdem mehrere seiner außenpolitischen Vorschläge von der neuen Brežnev-Führung abgelehnt worden waren. Er wechselte als politischer Kommentator zur Pravda, die er jedoch nur zwei Jahre später wegen eines kritischen Artikels wieder verlassen musste. Andropov, der gerade KGB-Direktor geworden war, konnte oder wollte ihm nicht mehr helfen. Durch die Patronage Ponomarevs und Zagladins konnte Burlackij jedoch zunächst an das Institut für konkrete soziologische Forschung wechseln. Als der auch dort entlassen wurde, kam er schließlich am Institut für Sozialwissenschaften des Zentralkomitees unter, wo er bis zur Perestroijka blieb. Seine Nachfolge als Leiter von Andropovs Beratergruppe hatte Georgij Arbatov angetreten, der von bis Lektor der Zeitschrift Probleme des Friedens und des Kommunismus gewesen war und anschließend bis am IMEMO gearbeitet hatte. Als dieser Direktor des ISKAN wurde, übernahm Aleksandr Bovin diese Funktion. Schon ein Jahr später wurde er jedoch wegen seiner kritischen Haltung zur Niederschlagung des Prager Frühlings zur Zeitung Izvestija abgeschoben, konnte seine Beratertätigkeit jedoch noch bis weiter ausüben. Auch Georgij Šachnazarov musste zurück in die Redaktion der Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus ‒ in diesem Fall wohl wegen eines von ihm verfassten Science-Fiction-Romans, der Suslov missfiel. konnte er jedoch in Ponomarevs Internationale Abteilung wechseln. Solche Schwierigkeiten resultierten meistens daraus, dass die Mitglieder dieser Beratergruppen zu explizit eine Reform der kommunistischen Ideologie und der sowjetischen Ordnung unterstützt oder sich für eine Annäherung an den »Westen« ausgesprochen hatten. In der Perestrojka zählte Fedor Burlackij zu deren aktivsten Unterstützern in der Presse, Georgij Šachnazarov und Anatolij Černjaev konnten ihre Ideen als Gorbačev-Berater direkt in die Politik einbringen. Andere Mit-
Hoover Institution and the Gorbachev Foundation (Moscow) collection, box , folder , S. . Anders als Andropov, der zwar den Rat ›seiner‹ Experten geschätzt, für Beförderungen aber stets auf ehemalige Komsomol-Mitglieder zurückgegriffen habe, besetzte Ponomarev laut Fedor Burlackij sogar Führungspositionen in seiner Abteilung aus den Reihen dieser Beratergruppe. Burlatsky, Khrushchev and the First Russian Spring (), S. f. Siehe ebd., S. f., f. und für weitere ähnliche Fälle English, Russia and the Idea of the West, S. . Auch Bovin hatte Jura studiert und als Richter gearbeitet. Nach seiner Promotion in Philosophie arbeitete er für die Zeitschrift Kommunist, bevor er in Andropovs Beratergruppe berufen worden war. Zu seiner Biografie Mydans, Seth: Aleksandr Y. Bovin, , Who Twitted Kremlin, NYT, . Mai , S. A; Bovin, XX vek kak žizn’ (). Arbatow, Das System (), S. . Dazu Kapitel ..
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glieder dieser Gruppen gelangten wie Georgij Arbatov als Direktor des ISKAN schon in der Brežnev-Zeit zu einiger Prominenz. Zusammen mit dem IMEMO unter dessen Direktor Nikolaj Inozemcev, mit dem Arbatov persönlich befreundet war, zählte das Amerika-Institut zu den wichtigsten institutionellen Unterstützern des Entspannungs-Kurses der er Jahre. Inozemcev selbst sprach sich auch Ende der er Jahre noch für eine stärkere Integration der Sowjetunion in die Weltwirtschaft aus. Der politische Einfluss von Forschungsinstituten wie dem IMEMO ergab sich dabei in erster Linie aus den persönlichen Beziehungen ihrer Direktoren und weniger aus formalisierten Beratungskanälen. Ein gewisser Einfluss solcher Experten und ihrer Arbeiten auf die sowjetische Politik ist damit auch während der Brežnev-Zeit nicht von der Hand zu weisen. Arbatov selbst sah ihn darin, dass sie Denkweisen in der Führung verändert und die friedliche Koexistenz befördert hätten ‒ konkret nachzuweisen ist er dagegen nur selten. Darüber hinaus waren auch nicht alle sowjetischen Außenpolitik-Experten Unterstützer einer Annäherung an den Westen. Entspannungskritische Positionen wurden etwa vom Institut für die Weltarbeiterbewegung vertreten: Verän Arbatovs Sohn Aleksej machte unter der Patronage Inozemcevs schnell Karriere am IMEMO, aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ohne familiäre Beziehungen wurden zwischen den beiden Instituten ausgetauscht. Polsky, Soviet Research Institutes (), S. f. Auch inhaltlich gab es Kooperationen zwischen den verschiedenen Instituten: In den er Jahren entstanden eine Reihe von gemeinsamen Studien zu Fragen der Friedenssicherung und der Rüstungskontrolle. Etwa Bykov/Žurkin, Aktual’nye problemy razoruženija (). Das IMEMO veröffentlichte in Büchern und in seiner Zeitschrift MEiMO wiederholt Beiträge, die die ökonomischen und politischen Vorteile der Entspannung betonten und sich für eine weitere Annäherung an den Westen aussprachen. Siehe u. a. Primakov, Političeskaja razrjadka (); Bykov, SŠA i realnosti meždunarodnoj razrjadki (); Šmelev, Mirnoe sosuščestvovanie (); Senaev/Andreev (Hg.), Materializacija razrjadki () (erstellt von der Abteilung für die Wirtschaft Westeuropas des IMEMO); Belčuk, Novyj etap ekonomičeskogo sotrudničestva () (ein Vertrauter Maksimovas in ihrer Abteilung). Vom ISKAN unter anderem Berežkov, Perspektivy razrjadki (). Siehe seine Artikel in den Materialien zu einer Internationalen Konferenz zur WTR in MEiMO - () und Primakov, Evgenij M.: Mužestvo preodelenija, in: Sovetskaja Kul’tura, . März . Geboren im Jahr , hatte Inozemcev im Zweiten Weltkrieg an der Front gekämpft, danach sein Studium am MGIMO abgeschlossen und als Redakteur bei der Zeitschrift Kommunist begonnen. Kurz darauf wurde er Mitarbeiter am IMEMO, stellvertretender Direktor. Anschließend war er stellvertretender Chefredakteur der Pravda, um nach dem Tod des Gründungsdirektors Anušavan Azurmanjan als Institutsdirektor ans IMEMO zurückzukehren, wobei er sich gegen seinen institutsinternen Konkurrenten Stanislav Men’šikov durchgesetzt hatte. wurde Inozemcev »Akademik«, das heißt Vollmitglied der Akademie der Wissenschaften, deren Forschungsrat zu Frieden und Abrüstung er fortan leitete. Seit war er Kandidat des Zentralkomitees der KPdSU, Vollmitglied. Siehe Kraus, The Composition, S. ; Polsky, Soviet Research Institutes (), S. f. Arbatow, Das System (), S. f.
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derungen in der Haltung des »Westens« oder den globalen Rahmenbedingungen, wie sie etwa IMEMO-Publikationen diagnostizierten, spielten für dessen Direktor Timur Timofeev keine Rolle: Nur durch eine entschlossene politische wie ideologische Konfrontationshaltung könnten dem »Westen« weitere Zugeständnisse abgerungen werden. Paradoxerweise waren es Mitte der er Jahre weniger solche ›orthodoxen‹ Ideologen, sondern Mitarbeiter der Internationalen Abteilung, die zum zentralen Problem für den sowjetischen Entspannungskurs werden sollten. Denn diese sprachen sich zusammen mit dem KGB für eine offensivere globale Rolle der Sowjetunion aus. Damit wollten Vertreter der Internationalen Abteilung, die für die Beziehungen der KPdSU zu sozialistischen Parteien in der »Dritten Welt« zuständig war, auch ihren Einfluss gegenüber dem Außenministerium ausbauen, das sich unter Andrej Gromyko auf die Beziehungen zu den USA und Westeuropa konzentriert hatte und zur Bastion einer stabilitätsorientierten »Realpolitik« geworden war. Das offensivere Auftreten der Sowjetunion in der »Dritten Welt« löste in den Vereinigten Staaten Mitte der er Jahre große Besorgnis aus. Gleichzeitig rüstete das Land konventionell wie nuklear weiter auf. Das sowjetische Handeln folgte dabei nach heutigem Kenntnisstand keiner kohärenten Strategie. Es trieb die Idee der Entspannung jedoch immer weiter in die Krise. Die sowjetische Führung war sich allerdings keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil, die »Kampagne« gegen »Menschenrechtsverletzungen« in der Sowjetunion und die Verleihung des Friedensnobelpreises an Andrej Sacharov im Oktober schienen in den Augen des KGB zu bestätigen, dass sowjetfeindliche Kreise in den USA die Entspannungspolitik sabotieren wollten. Als sich Brežnevs Gesundheitszustand in der zweiten Hälfte der er Jahre immer weiter verschlechterte, verlor der sowjetische Entspannungskurs seinen wichtigsten Protagonisten, der ihn zusammen mit »Pragmatikern« wie Außenminister Gromyko und Premierminister Timofeev, Rabočij klas i krizis antikommunizma (). Dazu Polsky, Soviet Research Institutes (), S. . Obwohl die Internationale Abteilung mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern viel kleiner war als das MID mit Personen, war sie ihm als Organ der Partei übergeordnet und kontrollierte den Fluss von Dokumenten des MID und der Forschungsinstitute an das ZK und das Politbüro. Als »Kandidat« konnte Ponomarev ab an Politbüro-Sitzungen teilnehmen, zu denen Gromyko erst ein Jahr später Zutritt erhielt. Zur Internationalen Abteilung vgl. Kitrinos, International Department; Kitrinos, The CPSU Central Committee’s International Department; Kramer, The Role of the CPSU International Department; Rey, Le Départment International. Die Zahl der Mitarbeiter bei Hough, Soviet Policymaking, S. . Siehe auch Central Intelligence Agency: The Soviet Foreign Policy Apparatus (PR -C), (Top Secret), . Mai , verfügbar unter www.cia.gov/library/readingroom/docs/DOC_. pdf (..). Die Gründe sind dabei bis heute nicht ganz geklärt. Dazu Savel’yev/Detinov: The Big Five, S. -; Jervis, The Meaning of the Nuclear Revolution, S. -, -. Dazu Andrew/Mitrochin, The Sword and the Shield, S. ; Zubok, The Soviet Union and Détente.
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Kossygin auch gegen Widerstände von Hardlinern wie Andrej Grečko, Dmitiri Ustinov oder Michail Suslov durchgesetzt hatte.
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In dem Maße, in dem die sowjetisch-amerikanische Entspannung Mitte der er Jahre in die Krise geriet, schwanden auch die Aussichten, internationale Kooperation über ideologische Gräben hinweg als »objektiv« notwendige Folge der »wissenschaftlich-technischen Revolution« und der Bewältigung »globaler Probleme« zu legitimieren. Deutungen einer verflochtenen, interdependenten Welt hatten in der Sowjetunion wieder einen schweren Stand. Neben den politischen Rahmenbedingungen trugen jedoch auch bestimmte Charakteristika der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu dieser Entwicklung bei. Während die politische Stoßrichtung vieler Beobachterinnen und Beobachter recht eindeutig war, gilt dies nicht für ihre theoretische Auseinandersetzung mit Beobachtungen wachsender Verflechtung. Sowjetische Beobachter sprachen zwar von der »wissenschaftlich-technischen Revolution« oder von »globalen Problemen« und lasen daraus auch den Beginn einer neuen Epoche der Weltpolitik ab. Um diese Begriffe bildete sich jedoch nie in gleichem Ausmaß eine zusammenhängende Debatte über die Transformation der Gegenwart heraus wie um das Konzept der »Interdependenz« in den Vereinigten Staaten. Schon wegen der ideologischen Vorgaben betonten sowjetische Autoren in klassischer Dialektik vielmehr die Widersprüche jener Entwicklungen, die die WTR angestoßen habe. Petr Fedoseev sah in der »Abfolge von wissenschaftlich-technologischen und sozialen Revolutionen« den »konkreten Ausdruck der grundlegenden Widersprüche unserer Zeit«. Sie sei »eine Manifestation der vielen Formen historischer Entwicklung in der gegenwärtigen Ära«. Die Reichweite solcher Entwicklungen sowie ihre Folgen für jede der »drei Welten« und für deren Verhältnis zueinander blieben schon deshalb umstritten. Was die Synthese dieser dialektischen Entwicklungen sein werde, vermochte noch niemand abzusehen. Insgesamt war das sowjetische Wissenschaftssystem durch die Auseinandersetzung mit dieser diagnostizierten »neuen Welt« noch stärker überfordert als sein amerikanisches Pendant. Denn trotz aller Forderungen nach neuen Ansätzen waren auch die Forschungsinstitute nach »fordistischen« Prinzipien organisiert: Wissenschaft fand in klar abgegrenzten Abteilungen statt, die sich nach in Fünfjahresplänen festgelegten Leitlinien mit ihren Themen auseinandersetzten. Dass die Welt immer komplexer und interdependenter wurde, stellten auch viele sowjetische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fest. Für das sowjetische Wissenschaftssystem galt das allerdings nicht. Siehe Arbatow, Das System (), S. -. Vgl. Zubok, A Failed Empire, Kap. und , der die persönliche Rolle Brežnevs aber vielleicht etwas zu stark betont. Fedoseev, Dialektika sovremennoj epochi (), S. .
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Es sollte letztlich an dem Versuch scheitern, die Komplexität dieser »neuen Welt« so zu reduzieren, dass sie in einzelnen Arbeiten mit vorher festgelegten Seitenzahlen durchdrungen werden konnte.
. »To Make the World Safe for Interdependence« ‒ Die Trilaterale Kommission und die Außenpolitik der Regierung Carter, - In den Vereinigten Staaten war »Interdependenz« im Zuge der Ölkrise und der Debatten um die Neue Weltwirtschaftsordnung ab ein immer wichtigeres Thema in Forschung und Politik geworden. Gleichzeitig hatte die räumliche und thematische Reichweite der Debatte um globale Verflechtung zugenommen: Hatte sich die Feststellung von Interdependenz bis Anfang der er Jahre vor allem auf wirtschaftliche Zusammenhänge innerhalb des transatlantischen Raums bezogen, so schien das Phänomen nun global beobachtbar zu sein und insbesondere die Nord-Süd-Beziehungen zu betreffen. Damit wurde die Frage nach der Reichweite, der Wechselseitigkeit und der Symmetrie oder Asymmetrie von Abhängigkeitsverhältnissen politisch immer brisanter; neue Aspekte wie beispielsweise die Energieversorgung kamen in den Blick. Mitte der er Jahre war es unumstritten, dass die Politik, und insbesondere die USRegierung auf diese Entwicklungen reagieren musste. Doch konnte sie nur mit den Konsequenzen solcher neuen Verflechtungszusammenhänge umgehen oder ließ sich der Prozess wachsender Interdependenz selbst beeinflussen, gar steuern? Politische Akteure in den Vereinigten Staaten verlangten ab verstärkt nach wissenschaftlich abgesichertem Orientierungswissen. In noch höherem Maße als die universitäre Politikwissenschaft bemühten sich nun Think Tanks darum, wissenschaftliche Deutungen in konkrete politische Handlungsempfehlungen zu überführen und Experten und Entscheidungsträger enger zu vernetzen. Das vom State Department in Auftrag gegebene Projekt um Lincoln P. Bloomfield war nur der erste von mehreren Versuchen, die verschiedenen Aspekte globaler Interdependenz umfassend zu analysieren und so dazu beizutragen, ihre sozialen wie politischen Folgen zu bewältigen. Ein Jahr nach dem State Department setzte das Aspen Institute, als Forum des deutsch-amerikanischen Austausches gegründet, eine National Commission on Coping with Interdependence ein. Hier arbeiteten Juristen, Ökonomen, Historiker und Journalisten an insgesamt fünf Berichten, die in der Interdependence Series des Instituts veröffentlicht wurden. Dem Institut ging es dabei besonders um die Einstellung der amerikanischen Bevölkerung zu Interdependenz. Aus der Untersuchung der öffentlichen Meinung sollten Empfehlungen für Öffentlichkeitsarbeit, politische Bildung und Erziehung erarbeitet werden. Moynihan, Attitudes of Americans (); Sirkin, Living with Interdependence
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Die prominentesten und ambitioniertesten Bemühungen, um die Rolle der Vereinigten Staaten in einer interdependenten Welt neu zu bestimmen, waren das ’s Project des Council on Foreign Relations und die Treffen und Berichten der Trilateralen Kommission. Das folgende Kapitel wird sich solchen Unternehmungen an der Schnittstelle von Politik und Wissenschaft zuwenden. An ihnen zeigt sich so deutlich wie an kaum einem anderen Beispiel die Interaktion von Wissenschaft und Politik, die wechselseitige Bedingtheit von Gegenwartsdeutungen und internationalen Beziehungen. Denn die in diesen Projekten entwickelte Idee, dass Interdependenz gerade von den Vereinigten Staaten aktiv gesteuert werden konnte und musste, sollte zur Grundlage von Bemühungen der ab amtierenden Regierung unter Präsident Jimmy Carter werden, eine neue außenpolitische Strategie für das »Zeitalter der Interdependenz« zu entwerfen. Das Scheitern dieses Ansatzes war eng verflochten mit dem Niedergang der Entspannungspolitik Ende der er Jahre, was wiederum Rückwirkungen auf die Interdependenz-Debatte haben sollte.
The Management of Interdependence ‒ Das ’s Project des Council on Foreign Relations Das gegründete Council on Foreign Relations (CFR) wollte von Anfang an nicht nur die Vernetzung von Experten, Unternehmern und Politikern, sondern auch die außenpolitische »Bildung« der Bevölkerung verbessern, um so zu Frieden, Freihandel und internationaler Stabilität beizutragen. Diesem Zweck dienten neben der vom CFR herausgegebenen Zeitschrift Foreign Affairs auch thematisch spezialisierte Arbeitsgruppen (study groups). Hier tauschte man auf vertraulicher Basis Meinungen zwischen den Mitgliedern des CFR und externen Fachleuten aus. Die Ergebnisse dieser Diskussionen wurden als Forschungsberichte veröffentlicht. Die erste Arbeitsgruppe, die sich mit Fragen wachsender globaler Verflechtung auseinandersetzte, trat zusammen. Hier setzten sich unter anderem Raymond Vernon und George Ball, die bereits einschlägig publiziert hatten, mit dem Thema Multinational Enterprise in International Affairs auseinander. (); Morehouse, A New Civic Literacy (); Ketcham, From Independence to Interdependence (); Yarmolinsky, Organizing for Interdependence (). Zur Gründungsgeschichte Parmar, Anglo-American Elites. Council on Foreign Relations: Discussion Group on Multinational Enterprise in International Affairs, List of Members as of December , , Princeton University Library, Seeley G. Mudd Manuscript Library, Princeton, USA: Council on Foreign Relations Records, -, Series : Studies Department, - [im Folgenden: CFR Studies Department], box , folder . Zu der Debatte dieser Zeit Kapitel .. Acht Jahre später wurde das Thema Transnational Enterprises and the Future of International Relations erneut aufgegriffen, diesmal mit noch stärkerer Beteiligung von Unternehmensvertretern. Die Unterlagen in CFR Studies Department, box , folder bis box , folder .
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/ wurde eine breiter aufgestellte Diskussionsgruppe zu New Forces in World Politics ins Leben gerufen, die von dem Historiker Fritz Stern geleitet wurde und an der unter anderem Daniel Bell, Richard Falk, Stanley Hoffmann und Arthur Schlesinger Jr. teilnahmen. Eine von bis tagende Gruppe über die internationale Ordnung und ihre Institutionen brachte unter anderem Lincoln Bloomfield, Richard Cooper, Joseph Nye und Raymond Vernon zusammen, die sich ebenfalls mit multinationalen Unternehmen, aber auch mit Fragen der Entwicklungspolitik oder der nuklearen Proliferation beschäftigten. Im Jahr veröffentlichte die Ökonomin Miriam Camps, ehemalige stellvertretende Leiterin des Planungsstabs des State Department, in der Reihe des CFR eine Monografie, in der sie die Ergebnisse der bisherigen Diskussion zusammenfasste. Camps argumentierte, unter den neuen Bedingungen dürften die USA nicht mehr in engen Kategorien des »nationalen Interesses« denken, sondern müssten sich darüber klar werden, wie ein für sie und die Welt insgesamt vorteilhaftes internationales System der Zukunft aussehen solle und wie dieses »gemanagt« werden könne. Ähnlich wie Lincoln Bloomfield in seinem ebenfalls erschienenen Bericht an das State Department vertrat damit auch Camps unter dem Titel The Management of Interdependence die Vorstellung, der Prozess wachsender Interdependenz könne und müsse politisch gesteuert werden. Diese Idee stand auch hinter einem weiteren Projekt des CFP ‒ dem ’s Project. Die Vorbereitungen dafür hatten auf dem Höhepunkt der Ölkrise begonnen und gingen von der Annahme aus, dass sich die internationalen Rahmenbedingungen drastisch verändert hatten: »Neue Probleme, neue Verhaltensweisen und die Anerkennung neuer Interdependenzen« erforderten nicht nur neue Formen des Nachdenkens über internationale Beziehungen, sondern auch eine Reform der Institutionen, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage der amerikanischen Außenpolitik gebildet hatten. Das ’s Project sollte sich deshalb zwischen und mit eben jener Transformation von Weltpolitik und Weltwirtschaft befassen. Es sollte herausarbeiten, welches internationale Umfeld für die er Jahre wünschenswert sei und welche Schritte die Vereinigten Staaten baldmöglichst einleiten könnten, um die weitere Entwicklung der Welt in diesem Sinne zu beeinflussen. Denn wachsende Interdependenz wurde in diesem Projekt nicht als »struktureller« oder gar »natürlicher« Prozess, sondern vielmehr als Folge bewusster politischer Entscheidungen verstanden. Sie könne deshalb beschleunigt oder verlangsamt, kurz »gesteuert« werden. Daraus ergab sich die zentrale Aufgabenstellung des Projektes: »The ’s Project is Council on Foreign Relations: Discussion Group on New Forces in World Politics, List of Members as of . Juni , CFR Studies Department, box , folder . Die Unterlagen in CFR Studies Department, box , folder -. Camps, The Management of Interdependence (). CFR Studies Department, box , folder . Council of Foreign Relations: ’s Project: Objectives of the Project, . April , CFR Studies Department, box , folder , S. .
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a systematic endeavor to develop guidelines for orienting and managing change in the international system during the course of the next decade.« Zu diesem Zweck brachte es einschlägige Experten an einen Tisch, zu denen unter anderem Richard Cooper, Richard Falk, Stanley Hoffmann, Samuel Huntington, Marshall Shulman, Fritz Stern, Zbigniew Brzezinski sowie Joseph Nye gehörten. Zu ihren Diskussionen waren aber auch sowjetische Experten vom IMEMO eingeladen. Die Ford Foundation hatte als wichtigster Geldgeber zudem auf eine intensive Vernetzung mit Entscheidungsträgern bestanden. Das ’s Project sollte damit die größte Unternehmung des Council seit den er Jahren werden. Bis Ende der er Jahre ging daraus eine ganze Reihe von Publikationen hervor, die sich mit so diversen Themen wie internationaler Katastrophenhilfe, nuklearer Proliferation, dem Weltfinanzsystem und der Rolle Chinas in der internationalen Politik beschäftigten. Eine abschließende Empfehlung, wie aus dieser Vielzahl von miteinander verbundenen Themen und Problemlagen eine neue, kohärente amerikanische Außenpolitik entwickelt werden könne, hatte das Projekt am Ende jedoch nicht anzubieten.
Interdependendence is a Fact of Life – Zbigniew Brzezinski und die Trilaterale Kommission Die Trilaterale Kommission war explizit ins Leben gerufen worden, um sich nicht nur mit »neuen Herausforderungen« der Gegenwart und der neuen »Tatsache der Interdependenz« auseinanderzusetzen, sondern auch um konkrete Handlungsempfehlungen für die Politik zu entwickeln. Eine zentrale Rolle für die Gründung sowie die inhaltliche Ausrichtung der Kommission spielte Zbigniew Brzezinski. Nachdem er sich in den frühen er Jahren vor allem auf die Erforschung des »sowjetischen Blocks« konzentriert hatte, war Brzezinski von bis im Planungsstab des State Department der Johnson-Regierung tätig. In den folgenden Jahren unterstützte er die Entspannungspolitik, die Bürgerrechtsbewegung sowie das Programm der Great Society. Den Vietnamkrieg befürwortete er im Prinzip, auch wenn er sich als Berater des demokrati Council on Foreign Relations: The ’s Project, Draft, . März , CFR Studies Department, box , folder , S. . Council on Foreign Relations: ’s Project: Summary Description, Sept. , CFR Studies Department, box , folder , S. Richard H. Ullman to Nikolai N. Inozemtsev, . Sept. , CFR Studies Department, box , folder . Ob G. I. Mirskij wirklich an einem der Treffen teilnehmen konnte, ließ sich aus den Unterlagen leider nicht ermitteln. Dort auch Korrespondenz mit Vladimir Gantman, der reges Interesse an dem Projekt zeigte. Siehe Patricia P. Gesell to Gyula Gyovai, . Okt. , CFR Studies Department, box , folder . Für Literatur zu Brzezinskis Biografie siehe Kapitel ., Anmerkung . Siehe u. a. Brzezinski/Griffith, Peaceful Engagement ().
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schen Präsidentschaftskandidaten Hubert Humphrey für eine Deeskalation aussprach. Ende der er Jahre machte Brzezinski die neuen Bedingungen der Weltpolitik zu seinem Untersuchungsgegenstand: In einem in der Zeitschrift Encounter erschienenen Aufsatz mit dem Titel America in the Technetronic Age argumentierte er, die Gegenwart sei eine »metamorphosische Phase« in der Menschheitsgeschichte, in der sich ein so dramatischer Wandel abspiele, dass Robespierre und Lenin im Vergleich wie »milde Reformer« wirken mussten. Brzezinski sprach hier vom Übergang in die »technetronische Gesellschaft«, eine durch die Auswirkungen von Technologie und besonders Elektronik innerhalb kurzer Zeit grundlegend umgestaltete Welt. Der primäre Fokus des Aufsatzes lag auf den innergesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung: Immer bessere »Planung« und »Programmierung« des menschlichen Verhaltens verbesserten nicht nur die materielle Absicherung der Menschen. Die »Informationsrevolution« umfasse auch die Möglichkeit, Daten zu speichern, in Echtzeit darauf zuzugreifen und Bilder und Töne in fast jedes private Heim zu übertragen. Gleichzeitig warnte Brzezinski aber davor, diese Technologien könnten zur »totalen Überwachung« und zur Errichtung einer »technokratischen Diktatur« eingesetzt werden. Wenn es nicht gelinge, steigende Ansprüche auf Teilhabe mit immer komplexeren Problemstellungen in Einklang zu bringen, drohe zudem der Zerfall der amerikanischen Gesellschaft in einzelne Interessengruppen und zunehmend isolierte Individuen. Brzezinski hatte damit eine Reihe neuer Deutungen vorgelegt, blieb jedoch auch modernisierungstheoretischen Vorstellungen verhaftet: Die amerikanische Gesellschaft sei die einzige, die die Zukunft des »technetronischen Zeitalters« schon in der Gegenwart erfahre. Im internationalen Bereich stelle die »Kommunikationsrevolution« eine »kosmopolitische« Einbindung der Menschen in internationale Angelegenheiten in Aussicht. Gleichzeitig wachse jedoch die Kluft zwischen der »entwickelten« und der »unterentwickelten« Welt noch schneller; selbst Europa und Amerika befänden sich schon nicht mehr »in der selben historischen Ära«. Die paradoxe Folge der neuen »technetronischen Gesellschaft« könne damit globale Fragmentierung und die Entstehung »mehrerer unterschiedlicher Welten« auf einem Planeten sein – im schlimmsten Fall drohe ein »globaler Bürgerkrieg«. Aufgabe der Vereinigten Staaten sei es deshalb, durch internationale Kooperation die »technetronische«, aber besonders die »psychosoziale« Kluft zum Rest der Welt zu schließen. Gefragt sei jetzt nicht mehr diplomatische oder militärische, sondern »intellektuelle Führung« in globalem Maßstab.
Vgl. Vaïsse, Zbig. Brzezinski, America in the Technetronic Age (), S. , , . Dazu Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. -. Brzezinski, America in the Technetronic Age (), S. , .
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Zwei Jahre später veröffentliche Brzezinski seine Thesen unter dem Titel Between Two Ages in Buchform. Die Folgen der »technetronischen Ära« und der wachsenden »globalen Interdependenz« erschienen Brzezinski widersprüchlich: Einerseits markiere die »technetronische Revolution« den Beginn einer »globalen Gemeinschaft«, andererseits fragmentiere sie die Menschheit. Die bessere Bildung vieler Menschen und die neuen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten hätten die alten Ideologien und damit auch den »Ostblock« destabilisiert. Das Zusammenfallen von immer pluraleren und kurzlebigeren Weltdeutungen mit der steigenden Komplexität vieler Problemlagen bedrohe jedoch auch die innenpolitische Stabilität der westlichen Demokratien. Gleichzeitig überfordere die neue Komplexität der »globalen Realität« das Individuum immer stärker. Damit sei auch der etablierte Rahmen der Weltpolitik überholt: »Einflusssphären, militärische Bündnisse zwischen Nationalstaaten, die Fiktion der Souveränität« und ideologische Konflikte, die aus den Problemen des . Jahrhunderts erwachsen waren, erschienen Brzezinski mittlerweile anachronistisch. Die Aufgabe der Vereinigten Staaten sei es deshalb, aktiv daran mitzuwirken, dass internationale Politik und internationale Institutionen an diese neuen Rahmenbedingungen angepasst würden. Brzezinski war mit seiner Feststellung, neue Rahmenbedingungen erforderten eine Anpassung der Formen internationaler Kooperation, keineswegs allein. Im November klagte Robert Schaetzel, der amerikanische Vertreter bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, die US-Außenpolitik müsse mit Institutionen arbeiten, die für einfachere Probleme entworfen worden waren. Mit zunehmender Verzweiflung müssten Diplomaten deshalb eigentlich verflochtene Probleme so behandeln, als ob sie nichts miteinander zu tun hätten und könnten damit die Folgen ihres Handelns kaum absehen. Diese Problematik erschien vielen Beobachtern in den transatlantischen Beziehungen besonders akut. Brzezinski hatte argumentiert, die gesamte »Zivilisation des Westens« hänge davon ab, dass die Vereinigten Staaten und Westeuropa gemeinsam »eine neue Struktur der internationalen Beziehungen« errichteten. Doch waren die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt, gemeinsam an der Errichtung einer neuen
Brzezinski, Between Two Ages (), S. . Ebd., S. , f. -. Ebd., S. . Schaetzel, J. Robert: U. S. Policy Toward Western Europe ‒ In Transition. Off the Record speech, Royal College of Defense Studies, London, Nov. , , S. , Princeton University, Seeley G. Mudd Library, George Ball Papers, Box , Folder . Dazu Leendertz, Interdependenz, S. f. Brzezinski, America and Europe (), S. . Ähnlich unter anderem Calleo, The Atlantic Fantasy (), S. ix-x; Burgess/Huntley, Europe and America (), S. ; Camps, Sources of Strain (), S. ; Hillenbrand, Martin J.: U. S.-German-European Community Economic Relations: The Need for Common Approaches to Common Problems, in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Mai , S. -, hier: .
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Weltordnung zu arbeiten. beklagte ein unter anderem von Richard Cooper verfasster Bericht der Brookings Institution, die Regierungen Nordamerikas, Westeuropas und Japans seien nicht einmal in der Lage, Probleme wie Währungsschwankungen anzugehen oder eine gemeinsame Position gegenüber der »Dritten Welt« zu entwickeln. Mit der Ölkrise und der Forderung des »Südens« nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung verschärften sich die transatlantischen Unstimmigkeiten noch weiter ‒ ein Problem, das nicht nur die Regierungen Nixon und Ford, sondern auch eine ganze Reihe von Institutionen des transatlantischen Austausches unterhalb der Regierungsebene beschäftigte. Für Brzezinski reichten solche Institutionen jedoch angesichts der wachsenden Interdependenz nicht mehr aus. Ihm schwebte ein »council for global cooperation« vor, das auf einer höheren Ebene als die OECD operieren und sich nicht um militärstrategische Fragen kümmern sollte wie die NATO, sondern um »politische Strategien der Zukunft«. Brzezinskis Pläne beeindruckten auch David Rockefeller, den Enkel des Erdölmagnaten John D. Rockefeller. Denn der Generaldirektor der Chase Manhattan Bank und Vorstandsvorsitzender des Council on Foreign Relations war überzeugt, dass die Regierung Nixon nicht angemessen mit den Folgen wachsender Interdependenz umgehe und keine Antwort auf den Trend in Richtung Nationalismus und Protektionismus in den internationalen Beziehungen habe. Damit setze sie den Zusammenhalt des »westlichen Bündnisses« aufs Spiel. Für Rockefeller und Brzezinski war das »westliche« darüber hinaus nicht deckungsgleich mit dem »transatlantischen« Bündnis. In ihren Augen war die Bedeutung Japans bislang sträflich vernachlässigt worden. Das Land sei wegen seiner Wirtschaftskraft und der strategischen Bedeutung Ostasiens ein zentraler Verbündeter der Vereinigten Staaten. Brzezinski hatte dieses Argument bereits in seinem publizierten Buch The Fragile Blossom vertreten, Rockefeller warb im April dieses Jahres auf dem Treffen der Bilderberg-Kommission in Belgien dafür, in Zukunft auch Japaner einzuladen. Nachdem sein Vorschlag abgelehnt worden war, entschloss er sich zusammen mit Brzezinski, eine »International Commission for Peace and Prosperity« ins Leben zu rufen, die die »klügsten Köpfe der Welt« zusammenbringen sollte, um über die »Probleme der Zukunft« nachzudenken. Im Mai fand dazu ein erstes Vorbereitungstreffen statt, an Reshaping the International Order. A Tripartite Report by Twelve Economist from Nord America, the European Community and Japan, The Brookings Institution, Washington DC, January , Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow, USA [RAC]: The Trilateral Commission (North America) Records [TCR], box , folder . Ähnlich kritisch Bergsten, New Econonomics (). Dazu gehörten die Bilderberg-Treffen, das Atlantic Institute, das Aspen Institute oder die Mitgliedsorganisationen der Atlantic Treaty Association. Brzezinski, Between Two Ages (), S. , . Rockefeller, Erinnerungen eines Weltbankiers (), S. ; Brzezinski, The Fragile Blossom (). Siehe auch Brzezinski, Japan’s Global Engagement (). The Trilateral Commission: A New Initiative, March , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder , Gerard Smith (File – Chron File, /). Zur Rolle Brzezinskis Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. -.
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dem neben Rockefeller und Brzezinski auch der Jurist und Diplomat Robert Bowie, McGeorge Bundy von der Ford Foundation sowie Henry D. Owen teilnahmen. Während sich die zukünftige Organisation nach Rockefellers ursprünglichen Plänen vor allem mit ökonomischen Fragen wie der Reform des Weltwährungssystems befassen sollte, erweiterte sich dieses Themenspektrum schnell. Denn zwei Monate später waren sich die Teilnehmer des nächsten Treffens einig, dass die existierenden Foren des transatlantischen Austauschs die »Probleme der Zukunft« wie Bevölkerungswachstum, die Nord-Süd Beziehungen und die Auswirkungen des technologischen und sozialen Wandels auf die Politik bislang vernachlässigt hatten. Man beschloss daher, eine neue Organisation zu gründen, die sich mit solchen Themen befassen und dazu Führungspersönlichkeiten aus Nordamerika, Westeuropa und Japan zusammenbringen sollte ‒ sie wurde deshalb als »Trilateral Commission« (TC) bezeichnet. In jeder dieser Regionen der »westlichen Welt« sollte ein eigenes Komitee gegründet werden, das wiederum nationale Gruppen umfassen sollte. Auf dem dritten und letzten Vorbereitungstreffen, das im Januar in Tokio stattfand, wurden die drei regionalen Vorsitzenden bestimmt. Die japanische Kommission wurde von Takeshi Watanabe geleitet, dem ehemaligen Präsidenten der Asian Development Bank. Vorsitzender der westeuropäischen Kommission wurde der niederländische Historiker und Diplomat Max Kohnstamm. Für Nordamerika übernahm Gerard C. Smith dieses Amt. Das zwei bis dreimal jährlich tagende Executive Committee sollte die regionalen Komitees koordinieren, als Direktor der Kommission wurde Zbigniew Brzezinski bestätigt. Sekretär (bis , danach bis Koordinator) der nordamerikanischen Kommission wurde George S. Franklin, von bis Executive Director des Council on Foreign Relations. Die im März von der Planungsgruppe fertiggestellte Constitution of the Trilateral Commission sah vor, dass die Kommission ungefähr Mitglieder Der studierte Ökonom Owen hatte von bis für den Planungsstab des State Department gearbeitet (seit als dessen Direktor), für den er auch Brzezinski rekrutiert hatte, und war von bis Direktor für außenpolitische Studien der Brookings Institution. Vitello, Paul: Henry D. Owen, , Dies; Shaped Global Fiscal Order, NYT, . Nov. . Meeting on Proposed Commission on Peace and Prosperity, . Mai , RAC, TCR, box , folder . Meeting on Proposed Trilateral Commission, .‒. Juli , RAC, TCR, box , folder ; David Rockefeller: Comments on Proposed Comission, . Mai-. Juni , RAC, TCR, box , folder . Smith war Jurist, von bis Direktor des Planungsstabs des State Department und von bis als Direktor der Arms Control and Disarmament Agency maßgeblich an den SALT-I Verhandlungen beteiligt gewesen. Darüber hinaus war er in den er Jahren maßgeblich für die Gründung der Zeitschrift Interplay verantwortlich, die sich mit Fragen der transatlantischen Beziehungen und der globalen Interdependenz auseinandersetzte. Meetings in Tokyo, .‒. Jan. , RAC, TCR, box , folder .
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umfassen sollte, wobei akribisch darauf geachtet wurde, dass verschiedene Gesellschaftsbereiche (unter anderem Wissenschaft, Wirtschaft, Kirchen, Medien) und Regionen (in Nordamerika etwa die Südstaaten und Kanada, in Europa die einzelnen Länder) angemessen vertreten waren ‒ weibliche Mitglieder sollten allerdings nicht explizit angesprochen werden. Inhaber politischer Ämter mussten ihre Mitgliedschaft in der TC ruhen lassen; durch diese Regelungen war die Kommission bemüht, parteipolitisch neutral zu bleiben. Ihre eigentliche Arbeit sollte auf regionalen und trilateralen Treffen stattfinden. Die inhaltliche Grundlage legten sogenannte Task Force Reports. Diese Berichte wurde von jeweils drei Autoren zu Themen verfasst, die das Executive Committee ausgewählt hatte. Nachdem die Mitglieder Stellungnahmen abgeben konnten, wurden sie in der Reihe Triangle Papers veröffentlicht. Durch ihre alle drei Monate erscheinende Zeitschrift Trialogue und die Einbindung von Medienvertretern wollte die Kommission in die Öffentlichkeit hineinwirken. Denn ihr Ziel war es nicht nur, Experten und Eliten zusammenzubringen, sondern auch eine breite Debatte über »Zukunftsthemen« anzustoßen. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Ölkrise nahm die Kommission im Oktober ihre Arbeit auf. Die Teilnehmer des ersten Treffens des Exekutivkomitees in Tokio legten in ihrer Abschlusserklärung die grundlegende Position der Kommission zu den weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre dar: Wachsende Interdependenz sei eine Tatsache (»a fact of life«) der gegenwärtigen Welt. Sie überspanne und beeinflusse »nationale Systeme«. Diese wechselseitige Abhängigkeit sei zwischen Japan, Westeuropa und Nordamerika besonders intensiv und strahle von dort auf andere Weltregionen aus. Das internationale System, so die Kommission im Dezember , durchlaufe eine »drastische Transformation durch eine Reihe von Krisen«. Besonders die Ölkrise hatte für Brzezinski das Selbstbewusstsein der Länder der »Dritten Welt« gestärkt und markierte damit eine »Wasserscheide« von welthistorischem Ausmaß. Die errichtete Weltordnung sei an ihr Ende gekommen; Brzezinski hoffte, dass damit auch ihre Neugestaltung begonnen habe. Denn es schien sinnlos, die Constitution of the Trilateral Commission, . März , RAC, TCR, box , folder ; Criteria for Selection of American Members of Proposed Commission, RAC, TCR, box , folder ; Possible Breakdown of Commission, RAC, TCR, box , folder . Zur Rekrutierungsstrategie und Mitgliederstruktur der TC ausführlicher Knudsen, The Trilateral Commission, S. -. Von Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, Kap. wird der Aufstieg Brzezinskis selbst als Indikator für innenpolitischen Wandel und den Bedeutungsgewinn neuer Eliten in den USA interpretiert. Verfügbar unter http://trilateral.org/file.showdirectory&list=Triangle-Papers (..). Verfügbar unter http://trilateral.org/file.showdirectory&list=Trialogue-Series (..). Dort findet sich auch ein Pressespiegel mit Berichten über die Kommission. Statement of Purposes, Abschn. I., -, Trialogue , November , S. -, hier: . Trilateral Commission Executive Committee: Resolution, . Dez. , RAC, TCR, box , folder . Brzezinski, Zbigniew: Trilateral Relations in a Global Context (excerpts), May , , in: Trialogue (), S. -, hier: .
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sem Wandel etwa durch Isolationismus entgegensteuern zu wollen. Nordamerika, Westeuropa und Japan müssten in den Augen der Kommission den Wandel der Welt vielmehr gemeinsam gestalten ‒ die Idee des »Managements« der Interdependenz, die im ’s Project eine wichtige Rolle gespielt hatte, war auch für die Trilaterale Kommission zentral. Dabei war man sich im Klaren, dass die zentralen Themen ihrerseits alle eng miteinander verflochten waren. Denn die wachsende Interdependenz habe die Unterscheidung zwischen Außen- und Innenpolitik ebenso verwischt wie die zwischen Wirtschaft und Politik, schrieb Zbigniew Brzezinski im August im Policy Program der Kommission. Dennoch musste die Kommission versuchen, ihre zentralen Betätigungsfelder so zu ordnen, dass sie sich in einzelnen Berichten bearbeiten ließen. Dazu gehörten erstens die allgemeinen politischen und sozialen Folgen wachsender Interdependenz, zweitens die Beziehungen zu den sozialistischen Staaten, drittens die Entwicklung der »westlichen Allianz« und die Frage, wie sie auf die Veränderungen in Weltpolitik und Weltwirtschaft angemessen reagieren könne. Den vierten Bereich bildeten Fragen der Energieversorgung und anderer »globaler Probleme«, in den Jahren / nahmen schließlich die Nord-Süd-Beziehungen eine prominente Rolle ein. Schon das zweite Treffen des Exekutivkomitees konzentrierte sich im Juni auf die Energiekrise und die Beziehungen zu den »Entwicklungsländern«. In seiner Abschlusserklärung empfahl es eine abgestimmte und arbeitsteilige Energie- und Entwicklungspolitik der Industrieländer. Dadurch sollte das »westliche Bündnis« gestärkt werden, unilaterale oder protektionistische Antworten auf den Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods oder die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung galt es aus Sicht der Kommission zu verhindern. Gleichwohl hielt es beispielsweise der von Richard Gardner, Saburo Okita und J. B. Udink verfasste dritte Bericht an die Kommission für unumgänglich, auf die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung zu einem gewissen Grad einzugehen. Koordinierte Anstrengungen und eine Reform der entsprechenden internationalen Institutionen seien nötig, so der von C. Fred Bergsten, Georges Berthoin und Mushakoji Kinhide vorgelegte elfte Bericht, um die »effektive Partizipation« der »Entwicklungsländer« am internationalen System sicherzustellen und mehr Verteilungsgerechtigkeit zwischen verschiedenen Ländern zu schaffen. Gleichzeitig sollten die Staaten der OPEC stärker an den »Westen« gebunden werden, weshalb der Physiker Harold Brown im Juni Zbigniew Brzezinski: The Trilateral Policy Program, . Aug. , RAC, TCR, box , folder . Trilateral Commission Executive Committee Meets in Brussels, Discusses Task Force Reports, and Issues Joint Statement sowie Full Text of the Statement, . Juni , Trialogue , May-July , S. -, -. Siehe auch Rockefeller, Erinnerungen eines Weltbankiers (), S. . Gardner/Okida/Udink, A Turning Point (). Bergsten/Berthoin/Mushakoji, The Reform of International Institutions ().
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vorschlug, ihnen dort Investitionen zu erleichtern. Die Industriestaaten müssten dagegen Energie einsparen, durch technologische Entwicklungen neue Erdölvorkommen und neue Energieformen erschließen und im Falle eines erneuten Konflikts mit der OPEC mit einer gemeinsamen Stimme sprechen. In der »Dritten Welt« sollte die US-Außenpolitik nach den Empfehlungen der Kommission den »globalistischen« und »bipolaren« Ansatz des Kalten Krieges hinter sich lassen, der jeden regionalen Konflikt in den Rahmen des globalen Wettbewerbs mit der Sowjetunion einordne. Er müsse von einem »regionalen Ansatz« abgelöst werden, der Ursachen wie Lösungen für räumlich begrenzte Konflikte in regionalen Zusammenhängen betrachte. Im Bereich der »Entwicklung« und bei der Bearbeitung »globaler Probleme« sah die Trilaterale Kommission damit Chancen für eine engere Zusammenarbeit nicht nur zwischen »Nord« und »Süd«, sondern auch zwischen »Ost« und »West«. Dafür müsse jedoch zunächst die Entspannungspolitik multilateralisiert werden. Gerade bei Fragen der Rüstungskontrolle und der nuklearen Proliferation sollten alle betroffenen Staaten einbezogen werden, die Annäherung an China dürfe nicht auf Kosten Japans, die an die Sowjetunion nicht auf Kosten Westeuropas stattfinden. Die durch Abrüstung frei werdenden Mittel könnten dann für die Entwicklungspolitik und die Bearbeitung »globaler Probleme« eingesetzt werden. Die einzelnen Gegenwartsdiagnosen und daraus abgeleiteten Empfehlungen der Kommission waren dabei nicht wirklich neu. Schon Politikwissenschaftler wie Keohane und Nye, der Bericht Bloomfields an das State Department oder die Ergebnisse des ’s Project des CFR hatten in der ersten Hälfte der er Jahre nahegelegt, den Fokus der US-Außenpolitik vom Wettbewerb mit der Sowjetunion auf Interdependenz und Weltprobleme zu erweitern und auf regionale Zusammenhänge zuzuspitzen. Auch das Grundmuster, das die Berichte und Veröffentlichungen der Trilateralen Kommission in den er Jahren durchzog, findet sich bereits in anderen Studien und Berichten: Die Kommission rief zu enger Kooperation und zu multilateraler Entscheidungsfindung zwischen den Vereinigten Staaten, Westeuropa und Japan auf. Dadurch sollte nicht nur eine engere Zusammenarbeit des »Westens« mit den Ländern der »Zweiten« und »Dritten Welt«, sondern auch die kooperative Steuerung wachsender Interdependenz ermöglicht werden. Solche Vorschläge liefen letztlich auf eine Abkehr von Kissingers Strategie der Entspannungspolitik hinaus, die vor allem darauf abzielte, die Volksrepublik China und die Sowjetunion gegeneinander auszuspielen und Wandel im internationalen System, einschließlich der Forderungen ›kleiner‹ Staaten und der »Dritten Welt« nach mehr Mitsprache, so lange als Brown, Harold: The American Condition, given at the Executive Committee Meeting in Brussels June , , in: Trialogue (), S. -. Siehe die Beiträge in Managing Global Problems: Avenues for Trilateral-Communist Collaboration, Trialogue () sowie Hosoya/Owen/Shonfield, Collaboration with Communist Countries (). Siehe die Berichte vom . Trilateral Meeting in Tokyo in Trialogue (). Smith, Remarks on Non-Proliferation ().
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möglich aus den Supermächte-Beziehungen fernzuhalten. Der von Richard Cooper, Karl Kaiser und Masataka Kosaka vorgelegte Bericht Towards a Renovated International System empfahl angesichts der stetigen Ausweitung und Verdichtung des globalen »Netzes der Interdependenz« eine breit angelegte Strategie zu ihrem »Management«, bei dem die »trilaterale Region« durch gemeinsame Initiativen vorangehen sollte. Vergleichsweise neu war an der Arbeit der Kommission hingegen, dass sie nicht nur Wissenschaftler, sondern Vertreter verschiedenster gesellschaftlicher Bereiche zusammenbrachte, dass dieser Austausch nicht nur für ein spezifisches Projekt stattfand, sondern verstetigt wurde, und dass die Kommission darauf achtete, dass hier auch Japan und kleinere europäische Länder vertreten waren. Auch andere Projekte und Forschungsarbeiten hatten versucht, der Politik Empfehlungen zu geben, wie sie auf die Folgen wachsender Interdependenz reagieren konnte. Die Trilaterale Kommission legte hier jedoch das wohl umfassendste Konzept für eine neue internationale Politik vor, das sich auch in konkrete Ansätze für eine neue amerikanische Außenpolitik überführen ließ. Denn besonders Brzezinski und die amerikanischen Mitglieder der Kommission hatten die Interessen ihres Landes stets im Blick behalten. Ihre Empfehlungen liefen keineswegs darauf hinaus, dass die Vereinigten Staaten ihre globale Führungsrolle aufgeben sollten ‒ im Gegenteil, es ging gerade darum, sie unter gewandelten Rahmenbedingungen auf neue Weise zu sichern. hatte Brzezinski die neue weltpolitische Situation in einer groben Skizze visualisiert: Die USA standen hier an der Spitze zweier Dreiecke, von denen eines mit »China« und »Russland«, das andere mit »Europa« und »Japan« gebildet wurde ‒ die »Dritte Welt« tauchte hier nicht auf (Abbildung ). Da die Vereinigten Staaten als einziges Land enge Verbindungen in alle Richtungen dieses neuen Koordinatensystems unterhielten, sollten sie jetzt weniger als klassischer »Hegemon«, denn vielmehr als unabdingbarer Vermittler in Konflikten, als Vorreiter bei der Bearbeitung »globaler Probleme« und als Koordinator neuer multilateraler Ansätze auftreten. Während sich aus den Debatten und Berichten der Trilateralen Kommission eine immer umfassendere Strategie herauskristallisierte, wie auf die neuen Bedingungen einer interdependenten Welt reagiert werden sollte, brachte ihre praktische Arbeit ganz eigene Probleme mit sich: Mangelhafte Kenntnisse über Japan in Europa und Nordamerika sowie das mitunter geringe Engagement vieler japanischer Mitglieder erschwerten ihre Tätigkeit ebenso wie sprachliche Verständigungsschwierigkeiten. Gleichzeitig sahen manche ihrer europäischen und Cooper/Kaiser/Kosaka, Towards a Renovated International System (), S. -. Brzezinski, Zbigniew: The »Global Triangle«. The Changing Power Balance in Asia, and its Consequences for the Foreign Policy of the Atlantic Nations, Prepared for the Europe-Amerian Conference, Amsterdam, .‒. März , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder , Gerard Smith (File – Chron File, /), S. . Zanchetta, The Transformation, bes. S. - argumentiert, dass die Transformation der amerikanischen Position in der Welt von einer Rolle der »dominance« zu einer der »leadership« während der er Jahre alles in allem erfolgreich gewesen sei.
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insbesondere westdeutschen Mitglieder wie der CDU-Politiker Kurt Birrenbach die Kommission weniger als Inkubator neuer Lösungen für Weltprobleme, sondern primär als ein weiteres Forum des transatlantischen Austauschs. Sie wollten eher über klassische Sicherheitsfragen des Kalten Krieges sprechen als über Weltwirtschaft oder wachsende Interdependenz. Der globalen Perspektive der Kommission stand zudem eine durch und durch nationale Organisations- und mitunter auch Denkweise der Mitglieder gegenüber. Dadurch entstanden mitunter bizarre Probleme: Die Aufnahme des in München lehrenden Professors für Internationale Beziehungen Gottfried-Karl Kindermann in die deutsche Kommission scheiterte beispielsweise daran, dass er österreichischer Staatsbürger war. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Arbeit der Trilateralen Kommission in den er Jahren dagegen viel beachtet. Teilweise wurde ihr politischer Einfluss so hoch eingeschätzt, dass sie zum Gegenstand einer Reihe von Verschwörungstheorien wurde. Auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung wurde die Kommission lange kritisch beäugt. Dabei ist kaum von Siehe etwa Birrenbach an Arndt, . Juli , Birrenbach an D. Rockefeller, . Sept. , Brzezinski an Birrenbach, . Okt. , D. Rockefeller an Birrenbach, . Okt. , alle in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin (ACDP), Nachlass Birrenbach, -, /. Siehe die Korrespondenz in ACDP, Nachlass Birrenbach, -, /. Siehe etwa das in RAC, TCR, box , folder aufbewahrte Plakat, auf dem die vermeintlichen Verbindungen der verschiedenen Organisationen dargestellt sind. Die hier vorgebrachten Theorien waren meist nicht neu: Schon in den er Jahren hatten rechte Gruppen wie die John Birch Society im Klima der antikommunistischen Hysterie behauptet, »Kosmopoliten« im CFR und andere »One Worlder« versuchten, die Vereinten Nationen zu einem »sozialistischen Superstaat« auszubauen. Verbindendes Element war schon zu dieser Zeit die Familie Rockefeller. Siehe etwa Josephson, Rockefeller, »Internationalist« (). In den er Jahren behaupteten Akteure der Evangelikalen und der extremen Rechten erneut, das CFR, die TC und die BilderbergGruppe strebten in Zusammenarbeit mit der UNO, Freimaurern, Illuminaten und Bankiers eine »New World Order« an, um einen »sozialistischen Superstaat« zu errichten und die Freiheitsrechte der amerikanischen Bürger zu beschneiden. Siehe etwa Robertson, The New World Order () und Ross, Who’s Who of the Elite (), das eine mit verschwörungstheoretischer Intention zusammengestellte Liste der Mitglieder dieser drei Organisationen enthält. Vgl. dazu Berlet/Lyons, Right-Wing Populism in America, S. -; Kuzmick, Council on Foreign Relations; Schweikart, Rockefeller Family. Ein von der amerikanischen Journalistin Holly Sklar herausgegebener Sammelband (Sklar, Trilateralism) sowie das aus neo-gramscianischer Perspektive verfasste Buch des britisch-kanadischen Politikwissenschaftler Stephen Gill (Gill, American Hegemony) waren bis vor Kurzem die einzigen ernst zu nehmenden Arbeiten. In den letzten Jahren hat sich jedoch Daniel Sargent mit dem Einfluss der Kommission auf die Regierung Carter auseinandergesetzt, Dino Knudsen hat eine neue Monografie vorgelegt: Sargent, A Superpower Transformed, bes. Kap. und ; Knudsen, The Trilateral Commission. Für weitere Aufsätze, die sich (auch) mit der Trilateralen Kommission befassen, siehe Drago, Dealing with an Interdependent and Fragmented World; Leendertz, Interdependenz; Ahlberg, Trilateralism. In Deutschland arbeitet Frank Reichherzer zu diesem Thema: Reichherzer, Trilateral Commission.
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Abbildung : The »Global Triangle«, März . der Hand zu weisen, dass sich etwa in der Person David Rockefellers politische Überzeugungen und ökonomische Interessen untrennbar vermischt hatten. Allerdings beruhte der politische Einfluss der Kommission nicht auf einer »geheimen Weltregierung« oder einer konspirativen Unterwanderung der US-Regierung. Ja er ergab sich nicht einmal aus der Tatsache, dass sie eine große Zahl von einflussreichen Persönlichkeiten zusammenbrachte. Vielmehr konnte die Trilaterale Kommission der Politik bei ihrer Suche nach neuen Ansätzen im richtigen Moment plausible Deutungen der Folgen wachsender Interdependenz und daraus abgeleitete konkrete politische Handlungsempfehlungen zur Verfügung stellen.
Renovating the International System – Carters neue Außenpolitik Die Analysen und die politischen Empfehlungen der Trilateralen Kommission sollten im letzten Drittel der er Jahre die Grundlage für die neue außenpolitische Strategie der Regierung Carter bilden. Diese verfolgte das Ziel, den mentalen Ballast des »Kalten Krieges« abzuwerfen, die Vereinigten Staaten an die Spitze des globalen Wandels zu setzen und damit den neuen Rahmenbedingungen einer interdependenten Welt gerecht zu werden. Nicht nur im Bereich der Weltdeutungen, sondern auch bei Begriffen und beim Personal der Administration waren hier Transfers von der Wissenschaft in die Politik zentral. Die politische Karriere von James Earl (»Jimmy«) Carter war dabei selbst ein Indikator veränderter Umstände. in Plains, Georgia geboren, hatte Carter nach einer Zeit bei der US Navy die Erdnussfarm seiner Eltern übernommen.
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In den er Jahren zog er für die Demokraten in den Senat von Georgia ein. wurde er im zweiten Anlauf zum Gouverneur gewählt. Als Vertreter des »neuen Südens«, der sich für die endgültige Aufhebung der Rassentrennung aussprach, war Carter für die Trilaterale Kommission interessant; im April konnte ihn George Franklin als commissioner gewinnen. Nach Ablauf seiner Amtszeit als Gouverneur erklärte Carter im Dezember dem überraschten Executive Committee, dass er sich um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten bewerben wolle. Die Ausarbeitung seines außenpolitischen Programms fand in enger Kooperation mit der Trilateralen Kommission statt, von deren Mitgliedern besonders Zbigniew Brzezinski, Richard Gardner und Henry Owen eng mit Carter zusammenarbeiteten. Nach seinem überraschenden Sieg in den demokratischen Vorwahlen half Carter sein Status als politischer Außenseiter, um im November Gerald Ford knapp zu schlagen, der mit den Skandalen Nixons in Verbindung gebracht wurde. Zusammen mit Carter zogen am . Januar Mitglieder der Trilateralen Kommission in Regierungsämter ein: Zbigniew Brzezinski wurde Nationaler Sicherheitsberater, Cyrus Vance Außenminister. Auch Vizepräsident Walter Mondale, Verteidigungsminister Harold Brown, Finanzminister Michael Blumenthal, UN-Botschafter Andrew Young und Paul A. Volcker, Chairman of the Federal Reserve Board, hatten der Trilateralen Kommission angehört. Aus dem Bereich der Experten, die mittlere Positionen in der neuen Regierung besetzten, ist Richard Cooper zu nennen, der Undersecretary for Economic Affairs wurde. C. Fred Bergsten, der schon unter Kissinger im National Security Council gearbeitet hatte, wurde zum Assistant Secretary for International Affairs im Finanzministerium und Henry Owen zum United States Ambassador at Large for Economic Summit Affairs im Nationalen Sicherheitsrat ernannt, wo er für die Vorbereitung der G-Gipfel zuständig war. Samuel P. Huntington wurde Coordinator of Security Planning im NSC. Gerald Smith schließlich
Zu Carters Biografie vgl. seine Memoiren Carter, Why Not the Best? () und Carter, Keeping Faith () sowie Bourne, Jimmy Carter. Dean Rusk to Gerard Smith, . März , RAC, TCR, box , folder . Dazu George Franklin to Peter Bourne, . Jan. , JCPL, Vertical File, box , Trilateral Commission. Rockefeller, Erinnerungen eines Weltbankiers (), S. . Memorandum from Zbigniew Brzezinski, Richard N. Gardner, Henry Owen: Foreign Priorities for the First Six Months, . Nov. , Sterling Memorial Library, Manuscripts Division, Yale University, New Haven, USA, Cyrus R. and Grace Sloan Vance Papers (CVP), box , folder . Für Carters Sicht: Address by Governor Carter to the Chicago Council on Foreign Relations, . März , JCPL, Records of the Campaign Committee to Elect Jimmy Carter, Stuart Eizenstat’s Subject Files, box , folder: Foreign Policy, /-/. Vgl. Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. -. Zudem hatte Ford die Probleme der Wirtschafts- und Energiekrise geerbt, die auch seine Regierung nicht wirklich in den Griff bekam. Zum Wahlkampf Anderson, Electing Jimmy Carter.
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wurde Special Presidential Representative for Non-Proliferation Matters. Mit Joseph Nye und Lincoln Bloomfield rückten unter Carter zudem wichtige Protagonisten der sozialwissenschaftlichen Interdependenz-Debatte in Regierungsämter auf, die keine Mitglieder der Kommission gewesen waren. Nye wurde von Cyrus Vance, der ihn aus den Arbeitsgruppen des CFR kannte, als Deputy Undersecretary for Security Assistance, Science and Technology ins State Department berufen. Zudem leitete Nye die Arbeitsgruppe des Nationalen Sicherheitsrats zu nuklearer Nonproliferation. Er schied aus der Regierung aus, im selben Jahr wurde Lincoln Bloomfield Director of Global Issues im Nationalen Sicherheitsrat. Trotz seiner Personalpolitik, die seinen Kritikern wie ein »trilateraler Staatsstreich« vorkam, war Carters Außenpolitik nicht einfach eine Umsetzung des Programms der Kommission. Vielmehr hatte gerade die Tatsache, dass er kaum über außenpolitische Vorerfahrung verfügte und nicht den traditionellen Eliten der Ostküste angehörte, Carter befähigt, einen neuen Blick auf die Welt zu werfen. Die Diskussionen der Kommission hatten seine Aufmerksamkeit für eine Reihe von Themen und Ansätzen geschärft, die im »trilateralen Denken« zu zentralen Elementen einer neuen amerikanischen Außenpolitik erhoben werden
Weitere commissioners in Regierungsämtern waren: Warren Christopher (stellv. Außenminister), Paul C. Warnke (Direktor der Arms Control and Disarmament Agency), Lucy Wilson Benson (Undersecretary of State for Security Assistance), Robert R. Bowie (Deputy Director for National Intelligence), Lloyd N. Cutler (White House Counsel), Hedley Donovan (Senior Advisor Domestic and Foreign Policy and Media Relations), Richard N. Gardner (Botschafter in Italien), Richard Holbrooke (Assistant Secretary of State for East Asian and Pacific Affairs), Sol Linowitz (Special Middle East Negotiator), Elliot L. Richardson (Ambassador at Large, UN Law of the Seas Conference), John Sawhill (Deputy Secretary of Energy), Anthony M. Solomon (Undersecretary of the Treasury for Monetary Affairs) und Leonard Woodcock (Botschafter in Peking). Edward Morse, der sich ebenfalls bereits mit Fragen der Interdependenz beschäftigt hatte, wurde Deputy Assistant Secretary of State for International Energy Policy. Nachdem so viele ihrer Mitglieder politische Ämter übernommen hatten und damit ihre Mitgliedschaft ruhen lassen mussten, veränderte sich die personelle Aufstellung der Trilateralen Kommission. Die Position des Direktors wurde abgeschafft, George Franklin übernahm die neue Rolle des Koordinators. David Rockefeller folgte Gerard C. Smith als North American Chairman nach (bis , - Joseph S. Nye). hatte zudem Georges Berthoin Max Kohnstamm als europäischen Vorsitzenden abgelöst ( folgte Otto Graf Lambsdorff, seit Jean-Claude Trichet). Ende der er Jahre wurde die Kommission damit auch in der Struktur ihrer Mitglieder heterogener, auf gemeinsame Abschlusserklärungen konnten sich diese häufig nicht mehr verständigen. Siehe dazu das Findbuch des Rockefeller Archival Center unter http:// rockarch.org/collections/rockorgs/trilateral.pdf (..). Sanders, Peddlers of Crisis, S. . Knudsen, The Trilateral Commission, S. - argumentiert ähnlich, nicht die Kommission habe Carter ins Weiße Haus gebracht, sondern Carter habe die TC als Sprungbrett genutzt, um Präsident zu werden.
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sollten. Carters Berater Richard N. Gardner nutzte zur Beschreibung dieser neuen Strategie einer Wilson’schen Semantik: Ihr zentrales Ziel müsse es sein, die Welt »safe for interdependence« zu machen. Zentral war dabei wie schon bei Kissinger die Betonung von »limits«: In seiner Ansprache zur Amtseinführung hatte Carter davon gesprochen, »mehr« sei nicht notwendigerweise besser, sogar die Vereinigten Staaten müssten Grenzen des ökonomischen Wachstums und ihrer Macht anerkennen. Sie könnten weder alle Fragen beantworten noch alle Probleme lösen: »We cannot afford to do everything.« Auf die veränderten weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sollte jetzt jedoch ganz anders reagiert werden als unter Kissinger: »Balance of power politics« sollte von »world order politics« abgelöst werden. Im Mai hielt Carter im Rahmen der Absolventenfeier der University of Notre Dame in Illinois seine erste programmatische Ansprache zur Außenpolitik: Die Welt habe sich in weniger als einer Generation dramatisch verändert. Besonders der Prozess der Dekolonisation und die Entwicklung der Kommunikationstechnologie hätten nicht nur die Anzahl souveräner Staaten auf der Welt vervielfacht und die Bedeutung des Nationalismus in der internationalen Politik gesteigert, sondern auch zu steigenden Ansprüchen geführt. Dieser Gedanke stammte von Brzezinski, der ihn bereits in seinen Arbeiten zum Technetronic Age entwickelt und im Oktober vor der Trilateralen Kommission zu der These zusammengefasst hatte, überall auf der Welt verlangten und behaupteten Menschen »wegen höherer Bildung, besserer Kommunikation und eine[s] engeren Gefühl[s] der Interdependenz« ihre grundlegenden Rechte ‒ Carter sprach im Mai von einem »global political awakening«. Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten musste für Carter auf dieser Erkenntnis »globalen Wandels« aufbauen, den er jedoch nicht als Bedrohung, sondern als Chance verstanden wissen wollte. Das erste Kernelement der neuen Strategie seiner Regierung war es, die Bedeutung des Wettbewerbs mit der Sow In seiner zur Vorbereitung seiner Präsidentschaftskandidatur publizierten Autobiografie Why Not the Best? schrieb Carter, die Mitgliedschaft in der Kommission sei eine außergewöhnliche Möglichkeit für ihn gewesen, Neues zu lernen und außenpolitische Expertise zu sammeln. Carter, Why Not the Best? (), S. . Gardner, To Make the World Safe for Interdependence (). Auch in: JCPL, Records of the Campaign Committee to Elect Jimmy Carter, Stuart Eizenstat’s Subject Files, box , folder: Foreign Policy, /-/. Die Formulierung auch bei Bergsten, Reform of International Institutions (), S. . Carter, Jimmy: Inaugural Address, . Jan. , www.presidency.ucsb.edu/documents/inaugural-address- (..). Siehe auch Carter, Keeping Faith (), S. . Address by Jimmy Carter on Nuclear Energy and World Order at the United Nations, . Mai , verfügbar unter www.mnhs.org/library/findaids//pdfa/-.pdf (..). Zbigniew Brzezinski: Remarks to the Trilateral Commission, . Okt. und Zbigniew Brzezinski: White House Press Briefing, . Dez. , beide JCPL, Hendrik Hertzberg Papers, box , folder: Foreign Policy. Zu Brzezinskis Rolle Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. -.
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jetunion für die amerikanische Außenpolitik zu reduzieren. Denn die Logiken der Systemkonfrontation seien mittlerweile überholt, so Carter. Die Vereinigten Staaten hätten sich von jener »übermäßigen Furcht vor dem Kommunismus« befreit, die sie in der Vergangenheit dazu gebracht habe, im Namen der Eindämmung autoritäre Regime zu unterstützten. Damit habe die Regierung nun die Freiheit gewonnen, weltweit offensiv für Menschenrechte und Meinungsfreiheit einzutreten, die Initiative in der Rüstungskontrolle und der Entspannungspolitik zu ergreifen und die Kooperation mit den europäischen Verbündeten und den Staaten der »Dritten Welt« zu verbessern. Das zweite Kernelement griff ebenfalls Empfehlungen der Trilateralen Kommission und anderer Projekte auf. Durch eine aktive Steuerung wachsender Interdependenz sollten die Vereinigten Staaten ihre Politik an die »neuen und sich schnell verändernden historischen Umstände« anpassen. Wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg werde das Land auch diesmal erneut die Führung bei der Suche nach einer »neuen Weltordnung« übernehmen; das war Carters Vision für die neu definierte Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt. In einem Rückblick auf sein erstes Amtsjahr formulierte Brzezinski die Grundlagen der neuen Außenpolitik im Januar noch deutlicher: Die Regierung habe die Amtsgeschäfte in einer Zeit übernommen, die von Selbstzweifeln, der Rede von einer »allgemeinen Krise des Kapitalismus« und Spannungen in den Beziehungen zu den Verbündeten und zur »Dritten Welt« geprägt gewesen sei. Die Regierung Ford habe sich zu stark auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen konzentriert, damit eine Reihe von »globalen Themen« vernachlässigt und keine wirkliche Reform der politischen oder ökonomischen Weltordnung zustande gebracht. Besonders sein Vorgänger Kissinger hatte für Brzezinski den Eindruck vermittelt, er habe Angst vor globalem Wandel und wolle diesen eher verhindern als gestalten. Auf diese Weise könnten die Vereinigten Staaten jedoch nie jene »kreative Führung« ausüben die nötig sei, um historischen Wandel in die richtige Richtung zu lenken. Die neue Regierung habe deshalb »die Realität der Komplexität und des Wandels« akzeptiert und weniger auf Finten und Ausweichmanöver gesetzt, sondern sich bemüht, neue Beziehungen zu ihren Freunden, Gegnern und zu den »Entwicklungsländern« aufzubauen ‒ in der Hoffnung, dadurch das internationale System zu erneuern. Die amerikanische Rolle sei nun keine hegemoniale mehr ‒ hier konnte Brzezinski auf seinen seit Ende der er Jahre entwickelten Gedanken der »intellectual leadership« zurückgreifen ‒ sondern eine der »subtilen Inspiration und kooperativen Führung«. Zur reduzierten Bedeutung des »Kalten Krieges« auch Carter, Keeping Faith (), S. . Carter, Jimmy: Address at Commencement Exercises at the University of Notre Dame, . Mai , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-commencement-exercises-the-university-notre-dame (..). Zu dieser Rede Gassert, Jimmy Carters Rede. Zbigniew Brzezinski to the President: NSC Report for : A Critical Self-Appraisal, . Jan. , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder : Weekly Reports, -, /-/, S. B, f.
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Die Neuausrichtung der Außenpolitik unter Carter betraf damit alle Politikfelder, schwerpunktmäßig jedoch die Beziehungen zur Sowjetunion und zu anderen sozialistischen Ländern, das Verhältnis zur »Dritten Welt« inklusive der Energiepolitik, die Beziehungen zu den amerikanischen Verbündeten, die Menschenrechtspolitik sowie die Frage »globaler Probleme«. Die Carter-Regierung war entsprechend darum bemüht, die ins Stocken geratene Entspannung neu zu beleben und Ziele zu finden, die Kooperation zum beidseitigen Vorteil erlauben sollten. Dazu gehörte erstens ein Ausbau des Ost-West-Handels, wie ihn besonders die Sowjetunion anstrebte, zweitens wirkliche Abrüstungsschritte statt bloßer Rüstungskontrolle, die Zusammenarbeit bei der Verhinderung nuklearer Proliferation und der Erarbeitung von Regeln für die friedliche Nutzung der Nuklearenergie. Drittens strebte Carter ganz im Sinne der Studien der Trilateralen Kommission nach der gemeinsamen Bearbeitung von »globalen Problemen«, insbesondere bei dem Kampf gegen nukleare Proliferation, bei der Beilegung regionaler Konflikte und in der Entwicklungspolitik. Im Sinne des ebenfalls von der Kommission formulierten »regionalen Ansatzes« sollte das Verhältnis der Vereinigten Staaten zur »Dritten Welt« nun vom Wettbewerb mit der Sowjetunion entkoppelt und als eigenständiges Politikfeld betrachtet werden. Das bedeutete erstens, die Ursache von Konflikten im »globalen Süden« in regionalen Zusammenhängen zu suchen und nicht unmittelbar die Sowjetunion verantwortlich zu machen. Zweitens wollte Carter Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung nicht mehr als Bedrohung begreifen, sondern als Gelegenheit, eine konstruktive neue Rolle für die USA in der Welt zu finden. Zumindest bei einigen Punkten wie der Reform diskriminierender Zölle oder mehr Mitsprache in internationalen Organisationen wollte er der G deshalb entgegenkommen. Auch versprach Carter, die verdeckten Einsätze der CIA zu reduzieren und die amerikanische Abhängigkeit von Rohstoffimporten abzubauen. Das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu ihren Verbündeten in Europa bedurfte in den Augen der Regierung Carter ebenfalls einer grundlegenden Reform. Schon die »gestiegene wirtschaftliche Interdependenz« der OECD-Staaten mache einen »historisch beispiellosen Grad an internationaler Kooperation« er Zu Carters außenpolitischer Agenda Zanchetta, The Transformation, S. -. Sargent, A Superpower Transformed, Kap. . Denn die Ost-West-Beziehungen seien mittlerweile viel komplexer geworden: »Managing them requires patience and skill.« Carter, Jimmy: NATO Ministerial Meeting Text of Remarks at the First Session of the Meeting, . Mai , www.presidency. ucsb.edu/documents/nato-ministerial-meeting-text-remarks-the-first-session-themeeting (..). Siehe dazu etwa Jackson, Jimmy Carter and the Horn of Africa, S. -. Siehe Carter, Keeping Faith (), S. -. In der Forschungsliteratur wird Carters neuer Ansatz gegenüber der »Dritten Welt« im Vergleich zu Themen wie der Rüstungskontrolle und den Menschenrechten vernachlässigt (beziehungsweise unter diese subsumiert). Siehe etwa Mitchell, Jimmy Carter in Africa. Zu den Verbindungen dieser Themenbereiche jetzt Franczak, Human Rights.
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forderlich, wie Finanzminister Michael Blumenthal feststellte. Die transatlantische Interdependenz hatten jedoch auch schon Vorgänger Carters betont, ohne dass die Probleme im transatlantischen Verhältnis damit verschwunden wären. Die neue Regierung wollte es deshalb auf eine neue psychologische Grundlage stellen. Dazu galt es, jenseits der Abwehr der »sowjetischen Bedrohung« gemeinsame Ziele für den »Westen« zu finden und in Abgrenzung von Kissingers Konzeption eines Weltdirektorats der Supermächte die Entspannung zu multilateralisieren. Gerade den Westeuropäern sollte nun das Gefühl vermittelt werden, dass es sich wirklich um Kooperation auf Augenhöhe handele. Der »Atlantizismus« sollte zudem durch ein Netz weltweiter bilateraler Zusammenarbeit mit Regionalmächten, insbesondere Japan, ergänzt werden. »Multilateralisierung« bedeutete in weltpolitischem Maßstab aber auch, dass die »Normalisierung« der Beziehungen zur Volksrepublik China weiter vorangetrieben werden sollte. Kissingers Ansatz sollte jetzt allerdings der Vergangenheit angehören. Der britische Sinologe Endymion Wilkinson schrieb in der Zeitschrift Trialogue, China sei schließlich keine passive »Karte«, die man gegen die Sowjetunion »ausspielen« könne. Auch Brzezinski riet dem Präsidenten, es sei »nicht weise«, die Beziehungen zu China nur durch das Prisma der Beziehungen zur Sowjetunion zu betrachten. Produktive Beziehungen zu einer starken und stabilen Volksrepublik seien vielmehr für sich genommen zentral für den Frieden in Asien und für die Lösung von Problemen, welche »die gesamte Menschheit betreffen«. Schließlich sei das Land auch ein potenzieller Markt für amerikanische Produkte und Investitionen. Im Januar nahmen die beiden Staaten offizielle diplomatische Beziehungen auf. Weniger erfolgreich waren dagegen die Bemühungen der Regierung Carter, gleichzeitig die Beziehungen zur Volksrepublik Vietnam und zu Kuba zu verbessern. Während die vietnamesische Führung ablehnend reagierte, war es im Fall Kuba besonders dessen Engagement im Bürgerkrieg in Angola, das Fortschritte verhinderte. Die heute wohl bekannteste außenpolitische Neuausrichtung der Regierung Carter betraf aber den Bereich der Menschenrechtspolitik. Henry Kissinger hatte sich als nüchtern abwägender »Realpolitiker« inszeniert; gerade die Zusammen Talking Points, . Feb. , JCPL, Anthony M. Solomon Papers, Chronological Files, box , folder: /. Zu den transatlantischen Beziehungen unter Carter Renouard/Vigil, The Quest for Leadership. Wilkinson, Endymion: China and the International Community, in: Trialogue (), S. -. Zbigniew Brzezinski to the President: Vance and Brown Exchange on China Policy, . Dez. , JCPL, Brzezinski Material, Country File, box , folder: China (People’s Republic of ) /-/. Vgl. dazu und zu »neokonservativer« Kritik Kirby/Gong/ Ross, Normalization of U.S-China Relations. Bis heute ist Carter in China deshalb der populärste (ehemalige) US-Präsident: www.chinausfocus.com/culture-history/ why-president-carter-is-popular-in-china (..). Zu Vietnam vgl. Hurst, The Carter Administration and Vietnam. Zu Kuba und Angola siehe weiter unten.
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arbeit der US-Regierung mit autoritären Regimen in Chile oder im Iran wurde jedoch zunehmend kritisiert. Carter wollte hier einen neuen Kurs einschlagen und sich aktiv weltweit für Menschenrechte einsetzen. Seine Regierung schuf die neue Position eines stellvertretenden Außenministers für Menschenrechtsfragen und verfolgte gerade in ihrem Verhältnis zu Staaten der »Dritten Welt« die Maxime, Hilfsgelder und Kredite des IWF an die Menschenrechtsbilanz der Empfängerstaaten zu koppeln. Schon zeitgenössisch wurde dieser neue Kurs meist mit den moralischen und religiösen Überzeugungen Carters erklärt, die jedoch auch als klassische Erklärung seines späteren Scheiterns an den Zwängen der »Realpolitik« herhalten mussten. Carter hatte das Thema der Menschenrechte jedoch erst spät im Wahlkampf aufgegriffen; auch diese Thematik muss im Kontext der Bemühungen der er Jahre gesehen werden, nach dem Debakel in Vietnam ein positives Selbstbild der Vereinigten Staaten wiederherzustellen. Die Betonung der Menschenrechte bot Carter eine Möglichkeit, sich von der Politik seiner republikanischen Amtsvorgänger zu distanzieren, den Fokus der Außenpolitik auf den Kalten Krieg zu überwinden und damit zu einer »moralischen Erneuerung« der amerikanischen Außenpolitik beizutragen. Gleichzeitig konnten sich sowohl »Liberale« als auch »Neokonservative« aus unterschiedlichen Motiven mit der Verteidigung von Menschenrechten identifizieren; das Thema versprach eine lager- und parteienübergreifende neue Vision für die amerikanische Rolle in der Welt. Carters Menschenrechtspolitik war damit ein weiterer Aspekt einer grundlegenden Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik angesichts Diagnosen wachsender Interdependenz: Denn schon in seiner Notre-Dame-Rede hatte der Präsident erklärt, die »traditionellen Themen Krieg und Frieden« ließen sich nicht länger von den »neuen globalen Fragen« der juristischen und materiellen Gerechtigkeit und der Menschenrechte trennen. Angesichts des »globalen politischen Erwachens« müsse die US-Politik in Einklang mit der Mehrheit der »globalen öffentlichen Meinung« gebracht und die »Dritte Welt« ernst genommen werden. Durch amerikanischen Druck zustande gekommene Reformen dienten
Carter, Jimmy: Inaugural Address, . Jan. , www.presidency.ucsb.edu/documents/inaugural-address- (..). Zur Einordnung Eckel, Die Ambivalenz des Guten, S. -. Siehe Brzezinski and Frank Moore to Carter: Administration Strategy on Human Rights Amendments, . April , JCPL, Records of the Office of the Staff Secretary, Handwriting File, box sowie Presidential Directive , Human Rights, . Feb. , www.fas.org/irp/offdocs/pd/pd.pdf (..). Auch Carter selbst argumentierte in seinen Memoiren, die Verteidigung der Menschenrechte sei schlicht »the right thing to do« gewesen. Carter, Keeping Faith (), S. . Das Motiv des aus moralischen Überzeugungen handelnden, deshalb aber auch naiven Präsidenten findet sich noch bei Glad, An Outsider in the White House. Zu den Motiven Eckel, Schwierige Erneuerung, bes. S. -.
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der weltweiten Stabilität ohnehin besser als »Realpolitik«, die autoritäre Regime unterstütze und damit nur Revolutionen hevorbringe. Die Thematik der Menschenrechte war damit ein Aspekt jener »globalen Probleme«, deren Bearbeitung sich die neue Regierung verstärkt annehmen wollte. Die Basis dafür sollte eine Studie zur nachhaltigen sozialen Entwicklung bilden, die Carter im Mai in Auftrag gab: Die Arbeit an diesem Global Report wurde vom Council on Environmental Quality und dem Außenministerium organisiert. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erarbeiteten auf Basis von Daten verschiedener Regierungsbehörden und der Weltbank ein Computermodell (The Government’s Global Model), das zukünftige Entwicklungen in Bereichen wie Rohstoffversorgung, Demografie, Wirtschaft und Umwelt prognostizieren sollte. Die Autoren des im Juli vorgelegten Abschlussberichts argumentierten, wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungstrends fortsetzten, werde die Welt im Jahr »noch überbevölkerter, verschmutzter, ökologisch noch weniger stabil und für Störungen anfälliger sein als die Welt, in der wir heute leben«. Deshalb seien »mutige und entschlossene neue Initiativen« nötig. Unter Führung der USA müsse eine »neue Ära der Zusammenarbeit« anbrechen. Im historischen Längsschnitt stellte die Strategie der Regierung Carter eine neue Variante des »Globalismus« der US-Außenpolitik dar: Sie ging einerseits davon aus, dass viele Themenbereiche in weltweiten Zusammenhängen betrachtet werden mussten und wechselseitig eng miteinander verbunden waren. Ihr Bewusstsein für Interdependenz und Komplexität führte zu dem Versuch, verschiedenste Problemlagen in einer neuen Strategie der »world order politics« zusammenzudenken und Interdependenz aktiv zu »managen«. Gleichzeitig wollte sie auf Konflikte jedoch nicht mit einer globalen, sondern einer explizit regional und thematisch differenzierten Herangehensweise reagieren, um sie voneinander zu entkoppeln und jeweils einzeln, mit Rücksicht auf die entsprechenden Akteure, Interessen und Rahmenbedingungen, zu behandeln. In ihrem Zusammenspiel sollten sich die neuen Ansätze auf verschiedenen Teilgebieten dann wechselseitig verstärken: Eine Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion sollte auch ein besseres Verhältnis zur »Dritten Welt« ermöglichen. Dieses werde vor allem durch eine neue Energiepolitik begünstigt, die gleichzeitig die Abhängigkeit von autoritären Regimen reduzieren helfe und damit ein glaubhaftes Engagement für Menschenrechte möglich mache. Verbesserte Zusammenarbeit mit den eigenen Verbündeten, mit der Sowjetunion, mit anderen sozialistischen Carter, Jimmy: Address at Commencement Exercises at the University of Notre Dame, . Mai , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-commencementexercises-the-university-notre-dame (..); Carter, Keeping Faith (), S. , . Barney, The Global Report (), Vol. II, Kap. - sowie Vol. III. Barney, Global (), S. , f. Kritik bei Kahn/Simon (Hg.), The Resourceful Earth (). Die sowjetische Sicht in Fedorov, SŠA pered licom global’nych problem ().
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Staaten und mit den »Entwicklungsländern« ‒ letztlich also mit der »ganzen Welt«, wie es Brzezinski Anfang in seinem Memorandum formuliert hatte ‒ sollte schließlich die kooperative Lösung »globaler Probleme« ermöglichen. Viel umfassender hätte sich der Ansatz der Trilateralen Kommission, Interdependenz zu »managen«, die Vereinigten Staaten an die Spitze globalen Wandels zu setzen und dadurch ihre Rolle als zentrale Weltmacht auf neue Weise zu sichern, kaum in eine politische Strategie überführen lassen.
Das Scheitern des Ansatzes der Regierung Carter und der Niedergang der Entspannung Ende der er Jahre war der außenpolitische Neuansatz der Regierung Carter in den Augen vieler Zeitgenossen jedoch schon wieder gescheitert. Das betraf besonders die Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion, die Anfang der er Jahre einer Phase neuer Spannungen im sogenannten »zweiten Kalten Krieg« weichen sollte. Dass es dazu kommen konnte, hatte viel mit der neuen Strategie der Regierung Carter selbst, aber auch mit den Eigendynamiken von Konflikten in der »Dritten Welt« und den Logiken des Rüstungswettlaufs zu tun. Die neue außenpolitische Strategie, die eigentlich aus dem Wechselspiel verschiedener Themenbereiche positive Dynamiken erzeugen sollte, führte letztlich zum genauen Gegenteil. In der Sowjetunion war die Außenpolitik der Carter-Regierung von Anfang an kritisch beobachtet worden. Schon im Herbst war in Moskau eine »Sitan-Gruppe« des IMEMO und des ISKAN zusammengetreten, um den Wahlkampf in den USA analytisch zu begleiten. Auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass Carter die Wahl gewinnen sollte, rechnete ihr Leiter Nikolaj Inozemcev mit einer Phase erhöhter Spannungen in den nächsten Jahren. Die Teilnehmer waren sich jedoch weitgehend einig, dass angesichts des immer enger verwobenen Netzes aus wechselseitigen Interessen der »Geist der Entspannung« letztlich die Oberhand behalten werde; eine Rückkehr zum »Kalten Krieg« schlossen sie aus. Auch nach Carters Amtsantritt gab sich Generalsekretär Brežnev im Januar in einem Schreiben an den neuen Präsidenten noch zuversichtlich, dass der »Wettbewerb der Ideale und Ideen« den »gemeinsamen Bemühungen für eine friedlichere, gerechtere und humanere Welt« nicht im Weg stehen werde. Carter entgegnete jedoch, er halte es für nötig, »öffentlich den ernsten und tiefen Gefühlen« Ausdruck zu verleihen, die es zu einer Verpflich Dazu Westad (Hg.), The Fall of Détente, wo auch zentrale Quellen abgedruckt sind, sowie Nuti (Hg.), The Crisis of Détente in Europe. Weitere Quellen, einschließlich mehrerer Oral-History-Konferenzen, hat das Carter-Brezhnev Project des National Security Archive gesammelt. https://nsarchive.gwu.edu/carterbrezhnev/ (..). Für eine ausgewogene Diskussion der Ursachen vgl. Melanson, American Foreign Policy, S. -. Siehe Polsky, Soviet Research Institutes (), S. -.
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tung machten, Menschenrechte zu fördern. Der holprige Start der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen unter Carter ist damit in erheblichem Maße der Menschenrechtsthematik zuzuschreiben. Denn der neue Präsident ließ seinen Ankündigungen rasch Taten folgen: Am . Februar schrieb er einen persönlichen Brief an den sowjetischen Dissidenten Andrej Sacharov. Die sowjetische Führung war spürbar irritiert vom neuen Ansatz Carters, der einerseits betonte, die amerikanisch-sowjetische Zusammenarbeit vorantreiben zu wollen, gleichzeitig jedoch auf dem Gebiet der Menschenrechte neue Probleme schuf. Auf Carter wirkte die Sowjetunion hingegen unnachgiebig und unflexibel. Unter dieser Situation litten bald auch die Verhandlungen im Bereich der Rüstungskontrolle: Noch vor seiner Vereidigung hatte Carter der sowjetischen Führung signalisieren lassen, dass er an einem schnellen Abschluss von SALT II interessiert sei. Brežnev reagierte mit einer am . Januar in Tula gehaltenen Rede, in der er beteuerte, die Sowjetunion strebe keinesfalls strategische Überlegenheit an. Hier war es den »Internationalisten« aus Ponomarevs Beraterkreis gelungen, gegen »Internalisten« wie Brežnevs Berater Andrej Aleksandrov-Agentov einen Entwurf durchzusetzen, der versöhnliche Töne anschlug. Doch hatte Carter schon im Wahlkampf angekündigt, statt neuer Obergrenzen wirkliche Abrüstung bei Nuklearwaffen erreichen zu wollen: Diesen Vorschlag unterbreitete er Mitte Februar der sowjetischen Führung, die jedoch darauf beharrte, zunächst einen Vertrag auf der Basis der noch mit Ford vereinbarten Prinzipien abzuschließen. Die weitere Korrespondenz drehte sich im Kreis. Außenminister Gromyko hatte erhebliche Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass mit einer neuen amerikanischen Regierung alte Absprachen nicht mehr gelten sollten. In der ersten Hälfte des Jahres verdichtete sich auf sowjetischer Seite der President Carter’s Letter to General Secretary Brezhnev, . Jan. und Brezhnev’s Letter to Carter, . Feb. , beide CWIHP Bulletin, Issue (Spring ), S. -; Jimmy Carter’s Letter to Leonid Brezhnev, . Feb. , abgedruckt in Westad (Hg.), The Fall of Détente, Doc. A, S. -. Siehe auch Dobrynin, In Confidence (), S. -. Record of Conversation between Soviet Foreign Minister Gromyko and President Carter, . Sept. , CWIHP Bulletin, Issues - (Winter /), S. -; Leonid Brezhnev’s Letter to Jimmy Carter, . Feb. , abgedruckt in Westad (Hg.), The Fall of Détente, Doc. A, S. -; Extract from the minutes of the TsK KPSS Politburo re instructions to the Soviet ambassador to the United States, Feb. , RGANI, fond , p. , d. . Ambassador A. F. Dobrynin’s Conversation with Averell Harriman, . Dez. , CWIHP Bulletin, Issue (Spring ), S. f.. Dieser Konflikt ist durch Anatolij Černjaevs Tagebuch ungewöhnlich gut dokumentiert: Melyakova (Übers.), The Diary of Anatoly S. Chernyaev , S. -. Dort auch die Bezeichnungen »Internationalisten« und »Internalisten«. Siehe auch Dobrynin, In Confidence (), S. -. Brzezinski, Power and Principle (), S. ; Carter, Keeping Faith (), S. . Vgl. Schors, Doppelter Boden, S. -. »You, Mr. Vance, are a new person«. Talks between A. A. Gromyko and Cyrus Vance, .‒. März , CWIHP Bulletin, Issue (March ), S. ; Record of Conver-
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Eindruck, die Abrüstungsforderungen der US-Regierung sowie ihre konstante Kritik wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen seien Teil einer breit angelegten Propagandakampagne der Gegner der Entspannungspolitik. Und tatsächlich waren die neuen Probleme im amerikanisch-sowjetischen Verhältnis auch das Resultat eines aktiv betriebenen Angriffs auf die Entspannungspolitik und die Weltdeutung Carters: Nur neun Tage nach seinem Wahlsieg war am . November das Committee on the Present Danger (CPD) aus der Taufe gehoben worden, das jetzt als Sammelbecken für eine ganze Reihe von »konservativen« und »neokonservativen« Denkern diente, die schon Kissinger das Leben schwer gemacht hatten. Im Gegensatz zum »regionalen Ansatz« der Regierung Carter führten sie nahezu alle Konflikte und Krisen auf der Welt auf den schädlichen Einfluss der Sowjetunion zurück. Das CPD behauptete im November entsprechend, der »sowjetische Drang nach Vorherrrschaft« sei die zentrale Bedrohung der Sicherheit der Vereinigten Staaten und forderte deshalb, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Den vielbeschworenen außenpolitischen »Konsens« wollten seine Mitglieder nicht dadurch herstellen, dass die Vereinigten Staaten die Führung bei der kooperativen Steuerung globaler Interdependenz übernahmen, sondern indem das Land sich wieder entschlossen der sowjetischen Bedrohung entgegenstellte. Doch nicht einmal das CPD konnte sich den zeitgenössischen Debatten um Interdependenz, globale Probleme und eine Neue Weltwirtschaftsordnung völlig entziehen. Es fügte sie aber in seine eigene Argumentation ein: Das Manifest Common Sense and Common Danger bekräftigte, nur aus einer Position der amerikanischen Stärke werde es möglich sein, in einer »Welt im Fluss« einen stabilen Frieden und eine »gerechte und fortschrittliche Weltwirtschaft« herzustellen sowie »neu entstandene Probleme« im Bereich der Nahrungsmittel- und Energieversorgung, der Bevölkerungsentwicklung und der Umwelt zu bearbeiten. Präsident Carter wurde in diesen Kreisen zunächst noch überwiegend positiv beurteilt. In einem Brief an Kurt Birrenbach beschrieb ihn Eugene Rostow im März als fähigen Außenpolitiker mit der richtigen Einstellung. Negativ fiel allerdings ins Gewicht, dass der neue Präsident nicht nur den vom CPD bevorzugten Kandidaten Henry »Scoop« Jackson in den demokratischen Vorwahlen geschlagen, sondern bei der Besetzung von Regierungsämtern statt auf
sation between Soviet Foreign Minister Gromyko and President Carter, , Sept. , CWIHP Bulletin, Issues - (Winter /), S. -. Memorandum of Conversation between Soviet Foreign Minister Gromyko and U. S. Secretary of State Vance, . Mai (excerpts), CWIHP Bulletin, Issues - (Winter /), S. -, hier: . Siehe auch Arbatov, Georgij A.: Sovetsko-Amerikanskie otnošenija segodnja, in: Pravda, . Aug. , S. -. Zum CPD Sanders, Peddlers of Crisis sowie Vaïsse, Neoconservatism, S. -. Zur Vorgeschichte Kapitel .. Committee on the Present Danger, Common Sense and Common Danger (). Für die Ansichten des CPD siehe auch Pipes, Why the Soviet Union (). E. Rostow an K. Birrenbach, . März , ACDP, Nachlass Birrenbach, -, /.
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Mitglieder der Coalition for a Democratic Majority auf solche der Trilateralen Kommission zurückgegriffen hatte ‒ zumal Rostow selbst als stellvertretender Außenminister gehandelt worden war. In ihrem zweiten Amtsjahr fiel die Carter-Regierung bei Rostow jedoch immer mehr in Ungnade. Der Präsident sei noch viel schlimmer, als er sich das je habe vorstellen können. Er habe sich als »secret McGovernite« entpuppt. Zusammen mit der ähnlich ausgerichteten Coalition for Peace Through Strength startete das CPD jetzt eine Kampagne gegen die Entspannungspolitik: Wenn die Vereinigten Staaten nicht massiv aufrüsteten, werde sich Anfang der er Jahre ein gefährliches »window of vulnerability« ergeben, das die Sowjetunion für einen nuklearen Erstschlag nutzen könne. Diese Kampagne hatte durchaus Erfolg: Immer mehr Amerikaner glaubten an eine militärische Überlegenheit der Sowjetunion. Bei der Debatte um den Entspannungskurs der Carter-Regierung ging es um mehr als die Einschätzung der militärischen Kapazitäten und Intentionen der Sowjetunion. Es handelte sich vielmehr um eine Auseinandersetzung um die ›richtige‹ Deutung der Welt und um die globale Rolle der Vereinigten Staaten. War der »Kalte Krieg« wirklich vorbei, die Welt interdependent und Kooperation damit unabdingbar, wie die Carter-Regierung behauptete? Oder gab es dieses Ende des »Kalten Krieges« nur in den Köpfen der »Liberalen«, während die Welt mehr denn je von bedrohlichen Spannungen geprägt war, die letztlich alle auf den negativen Einfluss der Sowjetunion zurückzuführen waren? Als Beleg für die Behauptung, die Regierung Carter sei blind gegenüber den »expansionistischen« Zielen der Sowjetunion, dienten dem Committee on the Present Danger eine Reihe von regionalen Konflikten in der »Dritten Welt«. Die grundlegend verschiedenen Weltdeutungen der Regierung und ihrer Gegner zeigen sich jedoch besonders deutlich am Konflikt um die Rückgabe der Souveränität über die Kanalzone an Panama. Für Carter stand das im September unterzeichnete Abkommen für einen neuen, respektvolleren Umgang mit Lateinamerika und der gesamten »Dritten Welt«. Aus genau diesen Gründen wurde der Vertrag jedoch zu einem Kristallisationskern für die Kritik von rechts. Ronald Reagan, der in den republikanischen Vorwahlen schon Präsident Siehe K. Birrenbach an E. Rostow, . Dez. , ACDP, Nachlass Birrenbach, -, /. Eine Ausnahme war Energieminister James Schlesinger, der zwar weder Mitglied der CDM noch des CPD war, aus Sicht der »Hardliner« aber als einer der ihren galt. E. Rostow an K. Birrenbach, . Mai , ACDP, Nachlass Birrenbach, -, /. Der Begriff »window of vulnerability« wurde vermutlich im US-Verteidigungsministerium geprägt. Vgl. Johnson, Periods of Peril; Podvig, The Window of Vulnerability that Wasn’t. Im Dezember glaubten Prozent der Amerikaner, die Sowjetunion sei den USA militärisch überlegen, im Juni Prozent und Ende schon Prozent. Bis stieg ihre Zahl sogar weiter auf Prozent. Die Zahlen bei Njølstad, Key of Keys?, S. f.; Walsh, The Military Balance, S. . Siehe Luttwak, Defense Reconsidered (), S. f. Siehe zudem die Diskussion in Lee Auspitz/Barrett/Berger/Birnbaum (Hg.), America Now: A Failure of Nerve? (); Tucker, Beyond Détente (); Rustin/Gershman, Africa ().
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Ford für dessen Entspannungskurs kritisiert hatte, unterstellte jetzt Carter, die Position der USA in der Region auf gefährliche Weise zu schwächen. Angesichts solcher Widerstände war der Versuch, die amerikanischen Beziehungen zum »globalen Süden« neu auszurichten, weitgehend zum Scheitern verurteilt: Eine Mehrheit der Amerikaner lehnte eine Erhöhung des Entwicklungshilfeetats ab; gemessen am Bruttosozialprodukt sank er bis sogar. Im Laufe des Jahres gewannen damit Deutungen der Welt in den Kategorien des »Kalten Krieges« wieder die Oberhand über Ansätze, die andere Faktoren und die Folgen wachsender Interdependenz ernster nehmen wollten. Der neue Ansatz der Regierung Carter scheiterte jedoch nicht nur an externer Kritik, sondern auch an den Eigendynamiken regionaler Konflikte und den Beharrungskräften des bipolaren Denkens innerhalb der Regierung. Selbst Zbigniew Brzezinski, Vordenker des »trilateralen Ansatzes«, hatte schon wenige Monate nach Übernahme der Regierungsgeschäfte geostrategische Ziele wieder über wirtschafts- und entwicklungspolitische gestellt. Besonders folgenreich war jedoch der im April ausgebrochene Konflikt zwischen Somalia und seinem Nachbarland Äthiopien. Die beiden Länder lagen schon seit Jahrzehnten im Konflikt um die Region Ogaden. Somalia war anfangs mit der Sowjetunion verbündet, die sich jedoch zusammen mit Kuba bald auf die Seite Äthiopiens schlug, dessen Diktator Mengistu Haile-Mariam sich ebenfalls zum MarxismusLeninismus bekannte. Somalias Präsident Siad Barre wurde dagegen von der sowjetischen Führung verdächtigt, den USA und der Volksrepublik China ein Einfallstor zu bieten, um die Kontrolle über das Rote Meer zu erlangen. Die Regierung Carter hatte zu Beginn ebenfalls Äthiopien unterstützt und wandte
Dazu u. a. Sánchez, Panama Lost?; Clymer, Drawing the Line. Sargent, North/South, S. . Zbigniew Brzezinski to the President: NSC Weekly Report , . Juni , JCPL, Brzezinski donated, box , folder : Weekly Reports, -, /-/. Für Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. wollte er schon ab März »Ärger hinter dem Eisernen Vorhang« erzeugen. Siehe zum Folgenden die Quellen in CWIHP Bulletin, Issues - (Winter /), S. -; Dobrynin, In Confidence (), S. f.; Brzezinski, Power and Principle (), S. -, -. Vgl. Westad, The Global Cold War, S. -; Gleijeses, Moscow’s Proxy?; Zanchetta, The Transformation, S. -. Botschaft der DDR in der UdSSR: Vermerk über ein Gespräch mit dem Stellvertreter des Leiters der . Afrika-Abteilung im MID der UdSSR, Genossen S. J. Sinitsin, am . Feb. , BArch-SAPMO, DY IV /./, Bl. -, -. Für Castro war Barre in Wirklichkeit kein Sozialist, sondern Nationalist und Chauvinist, Mengistu dagegen ein wirklicher Revolutionär. Gespräch zwischen Erich Honecker und Fidel Castro, Ost-Berlin, . April , BArch-SAPMO DY/J IV //, abgedruckt in CWIHP Bulletin, Issues - (Winter /), S. , -, -. Carter erkannte diese Interpretation der Sowjets, hielt sie aber für völlig ungerechtfertigt. Carter, Keeping Faith (), S. .
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sich erst mit dem Ausbruch der Kämpfe stärker Somalia zu, das im Juli mit regulären Truppen in Ogaden einfiel. Anfangs waren Brzezinski und Carter noch bemüht, ihren »regionalen Ansatz« umzusetzen und mithilfe anderer afrikanischer Staaten den Konflikt einzudämmen. Als jedoch Kuba im November mithilfe der Sowjetunion Kampftruppen zur Unterstützung Äthiopiens entsandte, änderte sich die Haltung der US-Regierung. Die Äthiopier und die Kubaner erschienen jetzt im Deutungsmuster des »Kalten Krieges« wieder als sowjetische »Stellvertreter«. Brzezinski wollte seinerseits Anfang Saudi-Arabien und den Iran gegen Somalia mobilisieren, um »die Sowjets bluten zu lassen«. Als diese Pläne gescheitert waren, wollte er die Kosten der sowjetischen und kubanischen Einmischung wenigstens durch Strafmaßnahmen in anderen Bereichen erhöhen. Er schlug vor, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion in der Raumfahrt zu beenden, den Ost-West-Handel zu beschränken, die SALT-Verhandlungen zu verschleppen oder die Volksrepublik China gegen die Sowjetunion in Stellung zu bringen. Der Konflikt zwischen Somalia und Äthiopien, der bei näherer Betrachtung lokale Ursachen hatte, die sehr wenig mit der amerikanisch-sowjetischen Konkurrenz zu tun hatten, sollte damit das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten Ende der er Jahre schwer belasten. stellte Brzezinski rückblickend fest, das Anfang der er Jahre endgültig gescheiterte zweite SALT-Abkommen liege »im Sand von Ogaden« begraben. Im Sand von Ogaden war aber nicht nur die Rüstungskontrolle, sondern auch der Versuch der Regierung Carter versunken, Außenpolitik neu zu denken und zu gestalten: Denn die Ereignisse am Horn von Afrika wurden besonders von Brzezinski immer stärker »global« und im Kontext des Wettbewerbs mit der Sowjetunion gedeutet: Ende formulierte er die These vom »Krisenbogen« (Arc of Crisis), der sich von Bangladesch über Pakistan bis in den Jemen erstrecke und der gegenwärtig die größte strategische Schwachstelle der Verei Präsdent Carter selbst befürwortete eine härtere Haltung. Sein handschriftlicher Kommentar zu einer Empfehlung des NSC: »Sounds too easy on Ethiopia. Why just ›wait & see‹?« PRC Meeting, Ethiopia and Horn of Africa, . April , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder : Meetings – PRC , //, verfügbar unter https:// nsarchive.gwu.edu/carterbrezhnev/ [der Kommentar Carters in der JCPL nicht in der Akte]. Zbigniew Brzezinski to the President: PRC Review of Situation in Horn of Africa, . Aug. , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder : Meetings ‒ PRC : //, S. B. Abteilung Internationale Verbindungen, ZK der SED: Bericht über ein Gespräch Friedel Trappens mit Carlos Rafael Rodríguez, Mitglied des Politbüros des ZK der KP Kuba in Havanna, Feb. , BArch-SAPMO, DY IV /./, Bl. - sowie die Berichte des MID und der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU an das Politbüro vom . April , RGANI fond , op. , d. , ll. - und -. Special Coordination Committee Meeting on the Horn of Africa, . März , JCPL, Brzezisnki Donated, box , folder : Meetings ‒ SCC , /, B, S. . Siehe auch Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. . Brzezinski, Power and Principle (), S. .
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nigten Staaten darstelle. Durch eine Kombination aus internen Problemen und externer Bedrohung durch die Sowjetunion stehe die gesamte Region an der Schwelle einer großen Krise, vergleichbar mit der Situation Europas Ende der er Jahre. Dadurch schien nicht nur die Stabilität des Mittleren Ostens und die Erdölversorgung in Gefahr. Von diesem Krisenbogen aus könne sogar Westeuropa bedroht und die »trilaterale Kohäsion« damit entscheidend geschwächt werden. Je konfrontativer Brzezinskis Haltung wurde, desto stärker unterschied sie sich von den Positionen von Außenminister Cyrus Vance. Carter hatte den aus der Ostküstenelite stammenden Anwalt bewusst in seine Regierung berufen, um ein größeres Spektrum an Perspektiven abzudecken. Anfangs ergänzte sich die Sicht des Außenministers mit der des Sicherheitsberaters. Beide wollten die Bedeutung des Ost-West-Konflikts reduzieren und Fragen der Interdependenz einen höheren Stellenwert einräumen. Bei dem Konflikt am Horn von Afrika widersetzte sich Vance jedoch jeder Form der Verknüpfung verschiedener Themengebiete, da die Regierung durch eine solche Politik jede Übereinkunft mit der Sowjetunion auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle aufs Spiel setze. Brzezinskis Position setzte sich jedoch zunehmend durch: In einer von seinem Sicherheitsberater entworfenen Rede warnte Carter im Juni , die Sowjetunion sehe offenbar militärische Macht als das beste Mittel, ihren weltweiten Einfluss auszuweiten. »Regionen der Instabilität« stellten hier verlockende Ziele dar. In Äthiopien sei zudem deutlich geworden, dass die Sowjets auf »Stellvertreter« setzten, um ihre Ziele zu erreichen. Auch im Bereich der Menschenrechte hatte Vance behutsam vorgehen wollen, um die Entspannung mit der Sowjetunion nicht zu gefährden. Brzezinski hingegen empfahl im Laufe des Jahres häufiger, die Thematik der Menschenrechte bewusst als »Hebel« gegen die Sowjetunion einzusetzen: Indem die US-Regierung Verstöße öffentlich anprangere, sollte die Opposition im »Ostblock« gestärkt und die Sowjetunion für »Fehlverhalten« in der »Dritten Welt« »bestraft« werden. Im Mai kritisierte Carter in diesem Sinne öffentlich den Prozess gegen die beiden Dissidenten Anatolij Ščaranskij und Aleksandr Ginzburg und forderte deren Freilassung. Auch die amerikanischen Kontakte zu den Zbigniew Brzezinski to the President: NSC Weekly Report , . Dez. , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder : Weekly Reports, /-/, S. -. Siehe auch The Crescent of Crisis: Iran and a Region of Rising Instability, in: TIME Magazine, . Jan. , S. ; Lenczowski, The Arc of Crisis (). Dazu u. a. Rodman, Presidential Command, S. f. Siehe Appendix I: Overview of Foreign Policy Issues and Positions, . Okt. , in: Vance, Hard Choices (), S. - und ebd., S. . Special Coordination Committee Meeting on the Horn of Africa, . März , JCPL, Brzezisnki Donated, box , folder : Meetings ‒ SCC , /, B, S. . Siehe auch Vance, Hard Choices (), S. -. Carter, Jimmy: United States Naval Academy Address at the Commencement Exercises, . Juni , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the-commencement-exercises-the-united-states-naval-academy (..).
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Regierungen der sowjetischen Verbündeten sollten ausgebaut werden, um so ihr Verhalten unter Umgehung der Sowjetunion direkt beeinflussen zu können. Neben der regionalen war nun auch die thematische Differenzierung des neuen Ansatzes der Regierung Carter einer Außenpolitik zum Opfer gefallen, die sich von Kissingers Politik der »linkage« nur dadurch unterschied, dass sie bereit war, stärker auf Konfrontationskurs mit der Sowjetunion zu gehen. Die sowjetische Führung ließ hingegen keine Kritik an ihrem Vorgehen in Afrika gelten. Als globale Supermacht nahm sie für sich ebenfalls das Recht in Anspruch, bei lokalen Krisen in der »Dritten Welt« zu intervenieren. Außenminister Gromyko versicherte Carter allerdings, die Sowjetunion strebe keinesfalls aktiv danach, ihren Einfluss in Afrika auszuweiten. Doch wer könne schon die Verbreitung einer erfolgreichen Ideologie aufhalten? Aus sowjetischer Sicht erschienen die Probleme in Afrika nur als ein Vorwand, um Spannungen im amerikanisch-sowjetischen Verhältnis zu erzeugen. Dahinter stand für Brežnev der schädliche Einfluss Brzezinskis: Er habe den Präsidenten überzeugt, dass die Verschlechterung der internationalen Position der Vereinigten Staaten durch eine konfrontative Politik gegenüber der Sowjetunion aufzuhalten sei. Carter wolle jetzt »unter dem Banner einer anti-sowjetischen Politik und einer Rückkehr des ›Kalten Krieges‹« um seine Wiederwahl kämpfen. Doch ging die sowjetische Führung davon aus, anders Siehe dazu Vance, Hard Choices (), S. ; Brzezinski, Power and Principle (), S. -, -, ; Carter, Keeping Faith (), S. -. Vgl. Clifford, An Examination; Vaughan, Brzezinski and the Helsinki Final Act. Boris Ponomarev verstand beispielsweise nicht, warum sowjetische Waffenlieferungen an Äthiopien ein Problem sein sollten, wenn die USA doch den Iran, einen direkten Nachbarn der Sowjetunion, viel umfassender unterstützten. Vermerk über ein Gespräch des Genossen Paul Markowski mit Genossen B. N. Ponomarjow, Kandidat des Politbüros und Sekretär des ZK der KPdSU, am . Feb. , Berlin, den . Feb. , BArch-SAPMO, DY/IV /./, Bl. -. Allerdings war keine amerikanische Regierung je wirklich bereit, der Sowjetunion das gleiche Recht auf globale Interventionen zuzugestehen, das sie für sich selbst in Anspruch nahm. Carter ließ Brežnev auf dem Wiener Gipfeltreffen ganz deutlich wissen, Entspannung bedeute für ihn, dass die Sowjetunion die existierende Verteilung des weltweiten Einflusses zu akzeptieren habe. Carter, Keeping Faith (), S. , . Vgl. Westad, The Global Cold War, S. f. Carter’s Conversation with Andrei Gromyko, . Mai , abgedruckt in Westad (Hg.), The Fall of Détente, Doc. A, S. -; Gespräch Carter mit Gromyko, . Sept. , abgedruck in CWIHP Bulletin, Issues - (Winter /), S. , hier: ; Gespräch Carter mit Brežnev, . Juni , abgedruckt in Westad (Hg.), The Fall of Detente, Doc. A, S. -. Ambassador Dobrynin’s Political Report to Gromyko on Soviet-American Relations, . Juli , abgedruckt in ebd., Doc. A, S. -. Rede Brežnevs vor dem Politbüro, . Juni , RGANI, fond , p. , d. ; Bericht über das Treffen zwischen E. Honecker und L. I. Breschnew am . Juli auf der Krim, in: Hertle/Jarausch (Hg.), Risse im Bruderbund, S. -; Speech by Brezhnev at the Political Consultative Committee Meeting of the Warsaw Pact, Moscow, Nov. , in: Mastny, A Cardboard Castle?, S. -.
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als ihre Regierung unterstütze eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung weiterhin die Entspannung. Gerade deshalb entschloss sie sich zu einer harten und kompromisslosen Linie: Nach einer Phase der Zurückhaltung begann der KGB , wieder verstärkt gegen Dissidenten vorzugehen. Dieser Kurs hatte jedoch genau den gegenteiligen Effekt. Die sowjetische Unnachgiebigkeit machte es für die Regierung Carter nahezu unmöglich, aus der Eskalationsspirale noch auszubrechen. Anstelle der erwarteten positiven Wechselwirkung verschiedener Themengebiete setzte nun eine Negativspirale ein: Fragen wie die nukleare »Nachrüstung« der NATO führten zu Unstimmigkeiten im transatlantischen Bündnis und überlagerten jede Auseinandersetzung mit »globalen Problemen«. Mitte setzte damit ein Prozess der »Konversion« der außenpolitischen Haltung Carters und Brzezinskis ein, in dessen Verlauf eine Reihe von Punkten ihres ursprünglichen Programms nach und nach aufgegeben wurde. Der von Richard Melanson als »world order politics« ursprüngliche Ansatz, der die amerikanische Außenpolitik an die Bedingungen einer interdependenten Welt hatte anpassen sollen, wich jetzt einer wieder stärker auf den Konflikt mit der Sowjetunion ausgerichteten Strategie des »neocontainment«. Ende blickte Brzezinski noch einmal auf die strategische Vision der Regierung Carter zurück. Die Abgrenzung von der »grundlegend pessimistischen Sicht« seines Vorgängers Kissinger, der vom »Niedergang des Westens« ausgegangen sei und deshalb alles unternommen habe, um den Status quo so lange wie möglich zu erhalten, sei richtig gewesen. Die US-Regierung müsse bei der Gestaltung des globalen Wandels aktiv vorangehen und der »predominant coordinator« bei der Errichtung eines »neuen globalen Systems« werden. Mittlerweile waren die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen jedoch für Brzezinski wieder zur »Schlüsselfrage« geworden, der sich alle anderen außenpolitischen Themen unterzuordnen hatten. Durch eine Strategie, die jeder direkten oder indirekten Expansion Widerstand leiste und den ideologischen Wettbewerb forciere, sollte die sowjetische Führung zur Entscheidung zwischen Kooperation oder »globaler Isolation« gezwungen werden. Damit wollte Brzezinski auch den Eindruck widerlegen, dass die USA nicht länger in der Lage seien, dem »Fluss der Geschichte« ihren Willen aufzuzwingen ‒ auch rhetorisch hatte er sich mittlerweile den »Neokonservativen« angenähert. CPSU CC Politburo Transcript, April , CWIHP Bulletin, Issues - (Winter /), S. f. Dazu Savranskaya, Human Rights Movements, S. -. Siehe Carter, Keeping Faith (), S. -. Zu den (immer schlechteren) Beziehungen zwischen der Bundesregierung unter Helmut Schmidt und der Carter-Regierung vgl. Wiegrefe, Das Zerwürfnis. Melanson, American Foreign Policy, S. xi. Smith, Morality, S. hat diese Wende als »return to militarism« bezeichnet. Dazu auch Auten, Carter’s Conversion, Sargent, A Superpower Transformed, Kap. . Zbigniew Brzezinski to the President: NSC Weekly Report , . Dez. , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder : Weekly Reports, -, /-/.
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Das endgültige Scheitern des Versuchs der Regierung Carter, weniger Aufmerksamkeit auf den Konflikt mit der Sowjetunion zu legen und stärker auf »Interdependenz« und »globale Probleme« einzugehen, markierte die Doppelkrise im Iran und in Afghanistan. Nach längeren Unruhen hatte der Schah Anfang den Iran verlassen müssen; ein »islamischer Revolutionsrat« unter Ajatollah Chomeini hatte die Macht übernommen. Chomeinis Rhetorik richtete sich dabei gegen beide Supermächte, er verurteilte sowohl den »großen Satan« USA als auch den »kleinen Satan« Sowjetunion. Der »politische Islam« lag damit quer zum ideologischen Koordinatensystem der Ost-West-Konkurrenz und war zugleich die erste genuin in der »Dritten Welt« entstandene Großideologie ‒ für Odd Arne Westad markiert die Revolution im Iran deshalb einen möglichen Endpunkt des »Kalten Krieges«. Die Regierungen der beiden Supermächte interpretierten die Ereignisse im Iran dagegen im Rahmen des bipolaren Nullsummendenkens. Nachdem der »regionale Ansatz« der Regierung Carter mittlerweile hinfällig geworden war, konzentrierte sich die amerikanische Seite zunächst darauf zu verhindern, dass die iranische kommunistische Partei (Tudeh) und damit die Sowjetunion vom Sturz des Schahs profitieren könne. Diese Haltung änderte sich erst, als am . November aufgebrachte Studenten amerikanische Botschaftsangehörige als Geiseln nahmen, um die Auslieferung des Schahs zu erzwingen ‒ Carter hatte sich von David Rockefeller und Henry Kissinger überreden lassen, den langjährigen Verbündeten zur Behandlung seiner Krebserkrankung in die USA einreisen zu lassen. Die Geiselnahme löste auch deshalb so große Bestürzung aus, weil sie wie der Kulminationspunkt des schon länger beklagten Einflussverlustes in der »Dritten Welt« wirkte. Dieses Gefühl der Schwäche wurde noch dadurch verstärkt, dass im Juli die linken Sandinisten die Macht in Nicaragua errungen hatten. Vonseiten »neokonservativer« Kritiker wie Jeane Kirkpatrick wurde Carter jetzt beschuldigt, mit seiner Menschenrechtspolitik mit den USA verbündete Regime geschwächt zu haben, während er nichts gegen »totalitäre« kommunistische Regime wie Kuba unternehme. Carters Ziele, autoritäre Regime nicht mehr zu unterstützen und gleichzeitig regionale Verbündete der USA nicht zu verlieren, waren in der Praxis Für einen Überblick über die Ereignisse im Iran vgl. Westad, The Global Cold War, S. 288-299. Message to the Pilgrims, . Sept. , in: Algar, Islam and Revolution (), S. . Westad, Beginnings of the End; Jalal, An Uncertain Trajectory. Gates, From the Shadows (), S. -. Eine zurückhaltendere Einschätzung in National Foreign Assessment Center: Soviet Involvement in the Iranian Crisis (U). An Intelligence Assessment, Feb. , Digital National Security Archive (DNSA). Zum Entscheidungsprozess im Weißen Haus siehe Carter, Keeping Faith (), S. -; Vance, Hard Choices (), S. -, -; Brzezinski, Power and Principle (), S. -, -. Rockefeller, Erinnerungen eines Weltbankiers (), S. -. Vgl. Farber, Taken Hostage.
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kaum zu vereinbaren. Angesichts der wachsenden Zahl von Krisenherden in der »Dritten Welt« stieß der ursprüngliche Ansatz der Regierung Carter endgültig an seine Grenzen. Die nächste Konferenz der Bündnisfreien fand im September ausgerechnet in Havanna und zu einem Zeitpunkt statt, als die angebliche Präsenz sowjetischer Kampftruppen auf Kuba große Aufregung ausgelöst hatte. Die Regierung Carter war nun bemüht, mithilfe amerikanischer Verbündeter Kuba innerhalb der Bewegung zu isolieren und mit westeuropäischen Staaten eine gemeinsame Linie gegen die Forderungen des »Südens« zu finden. Vor diesem Hintergrund hielt Carter am . Juli seine heute wohl bekannteste Rede: Eigentlich hatte der Präsident über die von der Revolution im Iran ausgelöste »zweite Ölkrise« sprechen wollen, die die wirtschaftlichen Probleme der USA erneut verschärft hatte. Sie war für ihn nur eines von mehreren Symptomen einer Krise, die tiefer reichte als Versorgungsengpässe, Inflation oder Rezession: Denn die USA befanden sich nach Carters Einschätzung inmitten einer »crisis of confidence«, einer Krise des Zukunftsoptimismus und des Selbstvertrauens. Diese bald als »Malaise Speech« bekannt gewordene Rede erzielte jedoch kaum die beabsichtigte aufrüttelnde Wirkung. Vielmehr wurden die Probleme des Landes immer mehr der Schwäche und Unentschlossenheit der Regierung angelastet, ihre Zustimmungswerte brachen ein. Im Oktober setzte Carter deshalb eine Kommission ein, um die langfristigen Perspektiven der Vereinigten Staaten auszuloten. Unter Leitung von William J. McGill, dem Präsidenten der Columbia University, sollte diese Commission on a National Agenda for the Eighties eine positive Vision für die Rolle der USA in der Welt entwickeln. Nach Monaten Arbeit empfahl die Kommis Kirkpatrick, Dictatorships and Double Standards (). Zu Nicaragua Pastor, Not Condemned to Repetition; Westad, The Global Cold War, S. -. Zu diesem Zielkonflikt Eckel, Schwierige Erneuerung, S. f., f. Vgl. dazu Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. , . Im Januar glaubten Prozent der Amerikaner, das nächste Jahr werde schlechter werden als das vorherige, nur Prozent erwarteten eine Verbesserung. Ihre Hauptsorge waren dabei die steigenden Lebenshaltungskosten und die Inflation ( Prozent), in wesentlich größerem Umfang als die internationale Politik (- Prozent). Gallup (Hg.), The Gallup Poll (), S. , , , , . Carter, Jimmy: Address to the Nation on Energy and National Goals: »The Malaise Speech«, . Juli , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the-nationenergy-and-national-goals-the-malaise-speech (..). Vgl. dazu auch Horowitz, Jimmy Carter and the Energy Crisis; Mattson, What the Heck Are You Up to, Mr. President?. Die Anzahl der Amerikaner, die mit Carters Amtsführung zufrieden waren, sank von Prozent im März auf ein Tief von Prozent im Juni/August . Sie stieg im Februar wieder auf Prozent, allerdings sprachen jetzt nur Prozent der Befragten Carter starke Führungsqualitäten zu, im August sogar nur Prozent. Im Juni sank Carters Beliebtheit sogar auf nur Prozent. Gallup (Hg.), The Gallup Poll (), S. -, , , , , . Aus ihrer Arbeit ging eine Reihe von Studien zu Themen wie Wirtschaft, Rohstoffe und Energieversorgung, Sozialpolitik und Wahlrechtsreform hervor. Eine Liste un-
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sion der Regierung, die Wirtschaft zu deregulieren. Denn das Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit der Regierung sei geschwunden, nur in Zusammenarbeit mit dem Privatsektor lasse sich eine gerechtere Gesellschaft erreichen. Als Carter im Januar den Bericht der Kommission entgegennahm, stand seine Präsidentschaft jedoch unmittelbar vor ihrem Ende. Die sowjetische Sicht auf die Ereignisse im Iran war zunächst positiver als die der USA, allerdings ebenfalls nicht frei von Zweifeln: Während Brežnev skeptisch blieb, schloss Boris Ponomarev aus Chomeinis anti-imperialistischer Rhetorik, die Revolution werde über kurz oder lang einen sozialistischen Pfad einschlagen. Diese Einschätzung wurde jedoch schnell von den Ereignissen überholt, schon Ende fürchtete die sowjetische Führung ein Bündnis der iranischen Führung mit den USA. Vom sowjetischen Optimismus der frühen er Jahre war Ende des Jahrzehnts nicht viel geblieben. Im Gegenteil, jetzt wurde deutlich, was kapitalistische Krise und sowjetische Erfolge lange überdeckt hatten: Das kapitalistische Wirtschaftssystem hatte unter Wirtschaftskrisen und dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods nur kurzfristig gelitten, während die Volkswirtschaften der RGW-Staaten mit immer gravierenderen Problemen konfrontiert waren. Die Ölkrise von hatte zwar Devisen in die sowjetischen Kassen gespült und das »Recycling« arabischer Petrodollars die Waffengeschäfte angekurbelt. Doch sollte sich dieser Segen langfristig als Fluch erweisen: Die Sowjetunion rechnete in den er Jahren angesichts ihrer eigenen Probleme Rohstofflieferungen an ihre europäischen Verbündeten zu Weltmarktpreisen ab, was wiederum deren Verschuldung im »Westen« nach oben trieb und die Stabilität der staatssozialistischen Regime erheblich schwächte. Genau aus diesem Gefühl der Schwäche, nicht aus Expansionsdrang, entschied sich die sowjetische Führung im Dezember , in Afghanistan militärisch zu intervenieren. Die Sowjetunion hatte das Land lange als neutralen Pufferstaat gegen den Iran und Pakistan geschätzt. Vom Putsch der Demokratischen Volkspartei
ter http://onlinebooks.library.upenn.edu/webbin/book/lookupname?key=United StatesEPresidentsCommissionf oraNational AgendafortheEighties (..). The President’s Commission for a National Agenda for the Eighties, Report () sowie Carter, Jimmy: President’s Commission for a National Agenda for the Eighties. Statement on Receiving the Commission’s Final Report, . Jan. , www.presidency. ucsb.edu/documents/presidents-commission-for-national-agenda-for-the-eighties-statement-receiving-the (..). Vgl. auch Berkowitz, Jimmy Carter and the Sunbelt Report. Siehe u. a. Protokoll über das Treffen Erich Honeckers mit Leonid I. Breshnew in Berlin (. Okt. ), Barch-SAPMO DY/, S. -, hier: -; Šebaršin, Ruka Moskvy (), S. -; Andrew/Mitrokhin, The World was Going Our Way, S. -; Westad, The Global Cold War, S. -. Zu dieser Problematik Kotkin, Armageddon Averted, Kap. ; Sanchez-Sibony, Red Globalization, S. . Zu den verschiedenen Deutungen Deuerlein, Die Sowjetunion in Afghanistan.
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(DVPA) war sie im April überrascht worden, hatte ihr jedoch Rüstungsgüter und die Entsendung sowjetischer Militärberater zugesagt. Die oft unter Zwang durchgesetzten Reformmaßnahmen der afghanischen Kommunisten stießen jedoch auf Widerstand durch lokale »Traditionalisten« und religiöse Gruppen, die sich nach dem iranischen Vorbild unter dem Dach des Islam zusammenschlossen. Erste Bitten der afghanischen Regierung um direkte militärische Unterstützung lehnte das sowjetische Politbüro im März noch ab, da es ernste Zweifel an den Erfolgsaussichten seiner afghanischen Verbündeten hegte und international nicht als Aggressor gebrandmarkt werden wollte. Obwohl die sowjetische Führung in den folgenden Monaten mindestens weitere afghanische Hilfsgesuche ablehnte, schenkte sie zunehmend der Behauptung der DVPA Glauben, es handele sich hier um einen überregionalen Konflikt. Der Kreml sah im politischen Islam eine immer größere Gefahr für die Stabilität der zentralasiatischen Sowjetrepubliken und fürchtete, dass er in Afghanistan eine »antisowjetische Allianz« mit dem Iran, Pakistan, den USA und der Volksrepublik China eingehen könnte. Ende erschien der sowjetischen Führung eine Invasion zunehmend als das kleinere Übel, hielt sie die Entspannung mit den Vereinigten Staaten doch mittlerweile ohnehin für »so gut wie tot«. Am . Dezember marschierten sowjetische Truppen in das Nachbarland ein. In den USA löste die Invasion alarmistische Reaktionen aus. Die Grundsatzdebatten der er Jahre wurden nun verschärft reaktiviert. Die Kritiker Carters sahen dessen außenpolitische Naivität endgültig bestätigt. Er habe schon in der Vergangenheit auf sowjetische Expansionsversuche zu zögerlich reagiert und damit das Politbüro zu der Annahme verleitet, auch in Afghanistan »ungestraft« davonkommen zu können. Brzezinski interpretierte die Invasion in Afghanistan im Kontext seiner These vom »Krisenbogen« nicht als lokalen Botschafter Puzanov an Internationale Abteilung ZK: Politpismo: O vnutripolitičekom položenii v DRA, . Mai , RGANI f. , op. , d. , zit. nach Westad, The Global Cold War, S. ; Entscheidung des Politbüros zu Afghanistan, . Jan. , RGANI, fond , p. , d. ; Treffen Kosygin, Gromyko, Ustinov und Ponomarev mit Taraki . März , RGANI, fond , p. , d. ; sowie die Berichte in CWIHP Bulletin, Issues - (Winter /), S. -. Zur Vorgeschichte der sowjetischen Invasion in Afghanistan vgl. Westad, The Global Cold War, S. -; Gibbs, Die Hintergründe der sowjetischen Invasion. Sitzung des Politbüros, .–. März , RGANI fond , p. , d. . Siehe u. a. Information über die Ereignisse in Afghanistan für die Führung Ungarns, übermittelt durch den sowjetischen Botschafter Vladimir Pavlov, . März , http://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/ (..); Bericht Gromyko, Andropov, Ustinov und Ponomarev an das Politbüro, . April , RGANI, fond , p. , d. ; Bericht Gromyko, Andropov, Ustinov, Ponomarev an das ZK der KPdSU über die Situation in Afghanistan, . Juni , in: Ljachovskij, Tragedija (), S. . Vgl. Coll, Ghost Wars, S. -. Anatoly Dobrynin, zit. nach Westad, The Global Cold War, S. . Das vermutete bereits Vance, Hard Choices (), S. f. Das Zitat aus: Interview mit Jimmy Carter, Time Magazine, . Jan. . Für diese Kritik siehe etwa Bradsher, Afghanistan (), S. .
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Konflikt, sondern als globalstrategische Herausforderung: Sie sei nur der erste Schritt in einem größer angelegten Plan der Sowjetunion, in Richtung des Indischen Ozeans oder des Persischen Golfes vorzustoßen. Die USA müssten deshalb entschlossen reagieren, um eine weitere sowjetische Invasion in Pakistan oder dem Iran zu verhindern und der Öffentlichkeit zu zeigen, dass sie noch handlungsfähig seien. Diese globalstrategische Deutung eines regionalen Ereignisses und ihre prekäre innenpolitische Stellung trugen entscheidend dazu bei, dass die Reaktion der US-Regierung schärfer ausfiel, als von vielen erwartet. Carter zog den ein halbes Jahr zuvor unterzeichneten SALT-II Vertrag aus dem Ratifikationsprozess zurück und verurteilte in seiner Rede zur Lage der Nation am . Januar die Invasion als »die größte Bedrohung des Friedens seit dem Zweiten Weltkrieg«. Die »Carter-Doktrin« erklärte jede Einmischung am Persischen Golf durch eine externe Macht zu einer ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA. Als ihm mehrere Möglichkeiten vorgelegt wurden, um auf die Invasion zu reagieren, entschloss sich Carter, von einem Embargo bei Getreide- und Technologielieferungen bis zum Boykott der Olympischen Spiele in Moskau so gut wie alle gleichzeitig umzusetzen. Über einen längeren Zeitraum betrachtet handelte es sich bei der Reaktion der Regierung Carter jedoch eher um eine graduelle Verschärfung als um eine völlige Neuausrichtung ihrer Politik. Die in der »Carter-Doktrin« angekündigte Aufstellung einer »schnellen Eingreiftruppe« war schon im August
Brzezinski, Zbigniew: Reflections on the Soviet Intervention in Afghanistan, . Dez. , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder : Southwest Asia/Persion Gulf-Afghanistan [//-//], . Brzezinski, Power and Principle (), S. , , f. Stimmen in den USA, die wie George F. Kennan oder Marshall Shulman die sowjetische Invasion als einen defensiven Akt interpretierten und zur Mäßigung aufriefen, wurden jetzt marginalisiert. Kennan, George F.: On Washington’s Reaction to the Afghan Crisis: »Was this Really Mature Statesmanship?«, NYT, . Feb. , S. A.; Marshall Shulman’s Letter to Cyrus Vance on US-Soviet Relations after Afghanistan, . Feb. , abgedruckt in: Westad (Hg.), The Fall of Détente, Doc. C, S. -. Carter, Jimmy: The State of the Union Address Delivered Before a Joint Session of the Congress, . Jan. , www.presidency.ucsb.edu/documents/the-state-the-unionaddress-delivered-before-joint-session-the-congress (..). Die europäischen Verbündeten der USA schlossen sich zwar der Verurteilung der Invasion und teilweise dem Olympiaboykott an, waren ansonsten aber bemüht, zumindest ein Minimum an Kooperation mit dem »Ostblock« zu erhalten. Spiegelbildliches galt für sozialistische Staaten, die wie Ungarn und Polen ihre Solidarität mit der Sowjetunion sehr zurückhaltend bekräftigt oder wie Rumänien gar öffentlich protestiert hatten. Sie wollten schon aus wirtschaftlichen Gründen die blockübergreifende Zusammenarbeit nicht gefährden. Während die Afghanistan-Invasion die Entspannung zwischen den USA und der Sowjetunion effektiv beendete, führte sie in Europa eher zu einer Phase bewusster Annäherung. Vgl. Békés, Why was there no »Second Cold War« in Europe?.
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beschlossen worden, allerdings bis nicht richtig in Fahrt gekommen. Die sowjetische Entscheidung zur Invasion war ebenso wie die scharfe amerikanische Antwort eher eine Folge denn eine Ursache des Niedergangs der Entspannungspolitik zwischen den beiden Ländern. Vielleicht war die Carter-Regierung von der sowjetischen Invasion auch gar nicht überrascht worden ‒ in den er Jahren häuften sich die Indizien dafür, dass sie schon vorher den afghanischen Widerstand unterstützt hatte, um die Sowjetunion dort in eine »Falle« zu locken.
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Als Jimmy Carter im Januar seine Präsidentschaft antrat, war er fest entschlossen, nicht nur mit dem aus seiner Sicht verkommenen Politikbetrieb in Washington, sondern auch mit den Grundprämissen der Außenpolitik seiner Vorgänger zu brechen. Er war von Beginn an bereit gewesen, hier neue Wege zu gehen. Die Diskussionen in der Trilateralen Kommission hatten seine Aufmerksamkeit für Fragen wachsender Interdependenz und ihrer Folgen geschärft. Der Kommission kam damit eine zentrale Funktion bei der Übersetzung allgemeiner Gegenwartsdiagnosen in ein konkretes politisches Programm zu. Die neue Strategie der Regierung Carter wurde maßgeblich von Zbigniew Brzezinski entworfen, der schon einige Jahre zuvor vom Übergang in ein »Technetronic Age« und dem davon ausgelösten »globalen politischen Erwachen« gesprochen hatte. Die Ereignisse im Umfeld der Ölkrise und die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung schienen diese Auffassung zu bestätigen. Anders als sein Vorgänger Henry Kissinger, dem Brzezinski unterstellte, den globalen Wandel zwar erkannt, sich dann aber bemüht zu haben, ihn so weit wie möglich einzudämmen, sollten sich die Vereinigten Staaten jetzt aktiv an die Spitze dieses Wandels setzen. Durch ihre Position im Zentrum verschiedener politischer und wirtschaftlicher Netzwerke waren die USA in den Augen Brzezinskis und der Trilateralen Kommission ideal aufgestellt, um den Prozess wachsender Interdependenz zu gestalten. Die Regierung Carter wollte ihre Außenpolitik deshalb nicht Presidential Review Memorandum Report, . Feb. , www.fas.org/irp/offdocs/ prm/prm.pdf (..); Presidential Directive : US National Strategy, Aug. , www.fas.org/irp/offdocs/pd/pd.pdf (..); Carter, Jimmy: Winston-Salem, North Carolina Address at Wake Forest University, . März , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-wake-forest-university-winston-salem-north-carolina (..). Die Kontinuitäten von Nixon über Carter zu Reagan betont Zanchetta, The Transformation, S. -. Der spätere CIA-Direktor Robert Gates berichtete , die USA hätten bereits seit Juli die Mudschahedin in Afghanistan unterstützt. Gates, From the Shadows (), S. -, -. Brzezinski erklärte in einem Interview ganz offen, er habe die Chance gesehen, der UdSSR in Afghanistan eine Falle zu stellen und ihr »ihren Vietnamkrieg« zu verschaffen. Le Nouvelle Observateur, .‒. Jan. . Eine englische Übersetzung unter https://dgibbs.faculty.arizona.edu/brzezinski_interview (..). Skeptisch gegenüber dieser These Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. ff.
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mehr in den Rahmen des »Kalten Krieges« einpassen, sondern beabsichtigte, unter anderem den Beziehungen zur »Dritten Welt« und »globalen Probleme[n]« mindestens den gleichen Stellenwert beizumessen. Gleichzeitig sollten diese Themen nicht alle »global«, sondern in ihren jeweiligen regionalen und thematischen Zusammenhängen gedeutet und bearbeitet werden. Das Scheitern dieser Bemühungen trug dazu bei, dass Carter lange als einer der »schlechtesten« Präsidenten der jüngeren Vergangenheit galt, dem zwar wohlmeinende Absichten zugestanden wurden, der gleichzeitig aber zu unerfahren und zu naiv gewesen sei, um seine eigene Regierungsmannschaft unter Kontrolle zu halten und der Sowjetunion Paroli zu bieten. Erst nachdem die Folgen der »Globalisierung« in den er Jahren in aller Munde waren, änderte sich auch die Bewertung Carters. Heute wird oft betont, dass er die Menschenrechte und andere »globale Probleme« ernst genommen und alternative Energieformen gefördert habe. Als erster Präsident der Vereinigten Staaten habe er sich damit ernsthaft mit den Folgen der »Globalisierung« auseinandergesetzt und versucht, eine Außenpolitik für eine neue Ära nach dem Ende des Kalten Krieges zu entwickeln. Dass Carter mit seinem neuen Ansatz scheiterte, lag an innenpolitischen Widerständen vonseiten der »Neokonservativen«, an den Eigendynamiken des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses, den Logiken des Rüstungswettlaufs und an einer Reihe von Konflikten in der »Dritten Welt«. Carter selbst war nur sehr zögerlich bereit, Prioritäten zwischen teilweise widersprüchlichen Zielen zu setzen. Die Ursachen für dessen letztendliches Scheitern lagen aber auch im neuen Ansatz der Regierung selbst begründet: Das Verhältnis zur Sowjetunion zu verbessern, Abrüstung voranzutreiben, Menschenrechte zu fördern, die Weltwirtschaftsordnung zu stabilisieren und dabei auch lokale Akteure ernst zu nehmen und den Forderungen der »Dritten Welt« entgegenzukommen, die transatlantischen Beziehungen zu erneuern und »globale Probleme« kooperativ zu bearbeiten, mochten für sich genommen alles angemessene Reaktionen auf die vielfältigen Problemlagen einer interdependenten Welt sein. Sie alle gleichzeitig umzusetzen konnte dagegen nicht gelingen. Letztlich scheiterte der neue Ansatz der Regierung Carter an genau dem Aspekt der neuen Situation, den sie ernster hatte nehmen wollen: an ihrer Komplexität und Interdependenz. Aus der Rückschau war Brzezinski zwar stolz darauf, auf »globale Komplexitäten« eingegangen zu sein. Der Fehler sei aber wohl gewesen, die neuen Bedin So etwa Smith, Morality; Kaufman/Kaufman, The Presidency. Vgl. dazu Renouard, Get Carter. So (sinngemäß) Rosati, The Rise and Fall, S. ; Brinkley, The Rising Stock, S. ; Strong, Working in the World; Schmitz/Walker, Jimmy Carter; Sargent, A Superpower Transformed, S. , ; Vaïsse, Zbigniew Brzezinski, S. -. Dieser ›Titel‹ wird von Gavin/Lawrence (Hg.), Beyond the Cold War aber auch für Lyndon B. Johnson in Anspruch genommen. Daran störte sich auch Brzezinski, Power and Principle (), S. . Eine ähnliche Interpretation bei Sargent, A Superpower Transformed, S. , , .
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gungen und die neue Politik zu wenig erklärt zu haben. Paul Kreisberg, ehemaliger stellvertretender Leiter des Policy Planning Staff des State Department, verteidigte den Ansatz Carters als differenziert und »feinsinnig«. Gerade das seien jedoch Charakteristika, die politisch nur sehr schwer zu verkaufen seien. Denn wie sollte man eine einprägsame Rede über Wandel halten, in der zentrale Probleme der Welt aufgezählt und für jedes einzelne Lösungen angeboten würden? Kommentatoren hätten zu Recht gefragt, wo die Prioritäten der Regierung lägen ‒ und ab Ende habe sich selbst intern das Argument zunehmend durchgesetzt, dass der Fokus auf dem Konflikt mit der Sowjetunion liegen müsse. Eine Strategie der Interdependenz, wie sie Brzezinski und Carter angestrebt hatten, schien zwar die richtige Schlussfolgerung aus der Beobachtung einer immer verflochteneren und komplexeren Welt zu sein ‒ auf ein handhabbares Maß konnte sie diese aber nicht reduzieren. Der Versuch, alle wichtigen Aspekte wachsender Interdependenz gleichermaßen zu berücksichtigen und damit globale Verflechtung zu steuern, war im Grunde bereits Ende der er Jahre gescheitert. Er wurde zunehmend von neuen Herangehensweisen verdrängt, die die Bearbeitung von Komplexität entweder dem »freien Markt« überlassen oder dadurch umgehen wollten, dass sie die zentralen Probleme der Welt auf den Konflikt mit der Sowjetunion herunterbrachen.
Urban, Gespräch mit Zbigniew Brzezinski (). Interview mit Paul Kreisberg (. Juni ), zit. in Melanson, American Foreign Policy, S. .
. Krise der Entspannung ‒ Ende der Interdependenz? Die er Jahre »Let us not delude ourselves. The Soviet Union underlies all the unrest that is going on. If they weren’t engaged in this game of dominoes, there wouldn’t be any hot spots in the world.« Ronald Reagan, »In der heutigen gegenseitig abhängigen Welt erweist sich, dass in einer anderen Epoche entstandene geopolitische Vorstellungen in der realen Politik ebenso hilflos wie Gesetze der klassischen Mechanik in der Quantentheorie sind.« Michail Gorbačev,
Die vor allem auf Ideen Zbigniew Brzezinskis und der Trilateralen Kommission zurückgehende Strategie der Regierung Carter hatte die Bedeutung des globalen Wettbewerbs mit der Sowjetunion für die amerikanische Außenpolitik reduzieren und »neue« Akteure, »globale Probleme« und die Forderungen der »Dritten Welt« stärker berücksichtigen wollen. Auf diese Weise wollte Carter Interdependenz kooperativ steuern und die Vereinigten Staaten an die Spitze globalen Wandels setzen, um so deren globale Führungsrolle auf neue Weise zu sichern. Diese Strategie scheiterte jedoch nicht nur an Konflikten in der »Dritten Welt« und an den Eigendynamiken der einzelnen Problemfelder, sondern auch daran, dass sie es eher noch erschwerte, zwischen teilweise konkurrierenden Zielen abzuwägen und Prioritäten bei deren Bearbeitung zu setzen. Genau das ermöglichte hingegen die Deutung der Welt in den binären Kategorien des »Kalten Krieges«: Wer ›erkannt‹ hatte, dass die Sowjetunion hinter allen Problemen der Welt steckte, ›wusste‹ auch, was dagegen zu unternehmen war. Analoges galt im Bereich der Weltwirtschaft: Nachdem verschiedene Versuche, ihre Verflechtungen mit immer ausgefeilteren Computermodellen zu erfassen und von staatlicher Seite steuernd einzugreifen als gescheitert galten, erschien es immer vielversprechender, solche Versuche aufzugeben und stattdessen auf »individuelle Rationalität« und das »freie Spiel des Marktes« zu vertrauten. In den er Jahren hatten die »Neokonservativen« bereits für eine entschlossen antikommunistische Politik plädiert, die »Neoliberalen« hatten gefordert, die Bearbeitung von Komplexität dem Markt zu überlassen. Beide Ansätze flossen in die Politik Ronald Reagans ein, der im November Jimmy Carter in den US-Präsidentschaftswahlen schlagen konnte. Nach seiner Amtseinführung Ronald Reagan, zit. in WSJ, . Juni , S. . Ansprache des Generalsekretärs des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Michail Gorbatschow, vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg am . Juli , Europa-Archiv (), Folge , S. D-.
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im Januar verfolgte er zunächst eine Politik, die sich diametral von Carters ursprünglichem Ansatz einer Außenpolitik für eine verflochtene Welt nach dem »Ende des Kalten Krieges« unterschied. Auch Reagan sprach weiterhin von einer »world of interdependence«, die Diagnose diente ihm jedoch nicht mehr als zentrale Grundlage einer an diese neuen Umstände angepassten Strategie. Seine Politik setzte vielmehr darauf, durch Konfrontation mit der Sowjetunion deren vermeintlichen »Expansionismus« einzudämmen und damit das Vertrauen in die amerikanische Stärke wiederherzustellen. Im ökonomischen Bereich sollte den Kräften des »freien Markt« vertraut werden. Die »Suchbewegungen« der er Jahre wurden damit von einer »kurzen Phase neuer ‒ beziehungsweise alter ‒ Sicherheiten, vermeintlicher Eindeutigkeit und Komplexitätsreduktion im ›Zweiten Kalten Krieg‹ abgelöst«. Für Vertreter von Interdependenz-Diagnosen bedeutete diese »Rückkehr« des »Kalten Krieges« eine enorme Herausforderung, schienen viele ihrer Grundannahmen doch an eine Phase der Entspannung zwischen »Ost« und »West« gebunden. Gleichzeitig zog sich die politikwissenschaftliche Interdependenz-Theorie immer stärker in fachinterne Debatten zurück. Als Gegenwartsdeutung wurde die »Interdependenz« ab Mitte der er Jahre vom Begriff der »Globalisierung« verdrängt, der primär aus den Wirtschaftswissenschaften hervorging und ökonomische Aspekte globaler Verflechtung damit noch stärker gewichtete. Nur in der Sowjetunion unter Generalsekretär Michail Gorbačev erlebte der Interdependenz-Begriff in der zweiten Hälfte der er Jahre noch einmal eine späte Blüte. Hier sollte er als Grundlage für eine neue weltpolitische Rolle und für die Wiedereingliederung des Landes in die »Weltgemeinschaft« dienen. Mit den Umbrüchen der Jahre / änderten sich die politischen Rahmenbedingungen jedoch so grundlegend, dass viele Zeitgenossen eine neue Ära anbrechen sahen, in der die alten Theorien und Begriffe nicht mehr zu gelten schienen. Dieses Kapitel wird die Entwicklung unterschiedlicher Interdependenz-Deutungen während der er Jahre, vom Ende des »Zeitalters der Interdependenz« bis zu diesen Umbrüchen Anfang der er Jahre verfolgen. Hier wird besonders deutlich, wie stark die Entwicklung von Weltdeutungen von politischen und disziplinären Rahmenbedingungen geprägt war. Denn obwohl die meisten Indikatoren für wachsende globale Verflechtung schon länger relativ konstant nach oben wiesen, verlor der Begriff der »Interdependenz« jetzt an Evidenz und wurde von der »Globalisierung« abgelöst. Damit waren neue Interpretationen globaler Verflechtung verbunden. Teilweise wurden aber auch Sichtweisen fortgeschrieben, die sich seit dem Ende des hochmodernen Verständnisses Siehe beispielhaft Declaration Issued at the Conclusion of the Ottawa Economic Summit Conference, . Juli , www.presidency.ucsb.edu/documents/declaration-issuedthe-conclusion-the-ottawa-economic-summit-conference (..). Leendertz, Interdependenz, S. und ähnlich Leendertz, Das Komplexitätssyndrom, S. . Siehe etwa die Daten zu Exporten und Importen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt in Maddison, The World Economy (), S. , .
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bereits unter dem Interdependenz-Begriff herausgebildet hatten. Der grundlegende Wandel in der Deutung globaler Verflechtung hatte damit schon Ende der er Jahre eingesetzt, während die Ablösung des dafür verwendeten Begriffs in den er Jahren weniger durch Veränderungen des untersuchten Gegenstandes, als vielmehr durch die Transformation der politischen und disziplinären Rahmenbedingungen ausgelöst wurde.
. »Neo-Globalismus« als Komplexitätsreduktion ‒ Ronald Reagan Der Wahlsieg Ronald Reagans im November gilt bis heute als ein Wendepunkt in der Geschichte der Vereinigten Staaten; als »konservative Gegen-Revolution«, mit der eine Phase der Dominanz konservativer Sozialvorstellungen und »neoliberaler« Wirtschaftspolitik begonnen habe. Die historische Forschung hat den Übergang von Carter zu Reagan weniger als plötzlichen Bruch, sondern vielmehr als Kulmination von Entwicklungen gesehen, die bis in die er und er Jahre zurückreichen. War sie anfangs noch von der Herausbildung eines neuen »Konsenses« ausgegangen, der eine offensive Außenpolitik, eine monetaristische und deregulierende Finanz- und Wirtschaftspolitik und die Ablehnung einer »permissiven Gesellschaft« umfasst habe, betonen neuere Arbeiten, dass Reagan eine heterogene »Koalition« aus verschiedenen Strömungen, Interessen und Gruppen zusammengebracht habe. Neben dem »traditionellen Konservatismus« kamen in der »Reagan Coalition« demnach drei intellektuelle Strömungen zusammen, die sich im Laufe der er Jahre politisch etabliert hatten: Außenpolitisch waren hier besonders die »Neokonservativen« von Bedeutung, deren Kritik an der Entspannungspolitik Kissingers und an der neuen außenpolitischen Strategie Carters für manche Akteure eine »Brücke« von der Demokratischen Partei in die Reagan-Regierung schlug. Hier nahm besonders das Committee on the Present Danger jene Rolle bei der Rekrutierung neuer Regierungsmitarbeiter ein, die die Trilaterale Kommission für die Regierung Carter gespielt hatte: Nicht weniger als seiner Mitglieder erhielten nun Posten in der neuen Regierung. Unter ihnen waren Eugene Rostow als Leiter der Arms Control and Disarmament Agency, Paul Wolfowitz als Leiter des Policy Planning Staff des State Department und Richard Pipes als Direktor für osteuropäische und sowjetische Angelegenheiten des Nationalen Sicherheitsrats. Manche ehemalige Demokraten wie Jeane Kirkpatrick (UN-Botschafterin) wurden schließlich Republikaner, andere wie Richard Perle (Assis Für die zeitgenössische Grundlegung dieser Deutung siehe u. a. Tobin, The Conservative Counter-Revolution (). Siehe Hodgson, The World Turned Right Side Up, S. . Zelizer, Governing America, S. , . Bereits ähnlich Nisbet, Conservatism (), S. . Analog zu Liberalismen sollte damit besonders für den amerikanischen Fall besser von Konservatismen gesprochen werden. Vgl. u. a. Zelizer, Rethinking; Hohendahl/ Schütz, Einleitung, S. .
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tant Secretary for International Security Policy) oder Eugene Rostow blieben Mitglieder der Demokraten, obwohl sie Ämter in der Reagan-Regierung bekleideten. Die zweite intellektuelle Strömung waren die sogenannten »Neoliberalen«. Zusammen mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher ( bis ) gilt Reagan als zentraler Akteur, der »marktliberale« Ideen, die schon mit der Krise des Keynesianismus der er Jahre an Evidenz gewonnen hatten, nun in die Politik getragen, ja direkt politisch »umgesetzt« habe. Während Thatcher vor dem Hintergrund einer ganz anderen Ausgangslage zumindest rhetorisch auf den Rückzug des Staates aus der Sozialpolitik und die Privatisierung von Staatsbetrieben setzte, bildeten bei Reagan Steuersenkungen und die Deregulierung der Finanzwirtschaft die Schwerpunkte. Während es sich bei »Neokonservativen« und »Neoliberalen« um kleine Gruppen von Intellektuellen handelte, die Einfluss auf das Denken und die Politik der neuen Regierung nahmen, basierte Reagans Wahlsieg eher auf einer dritten Strömung: einer neuen »religiösen Rechten«, die auch als »Theocons« oder rechter Flügel der »Evangelikalen« bezeichnet wird. Hier handelte es sich meist um »konservative protestantische Kirchengemeinden, deren Gemeindemitglieder an der wörtlichen Interpretation der Bibel festhalten und eine persönliche Glaubenserfahrung, oft im Sinne einer persönlichen Konversion, beanspruchen«. Diese verschiedenen Strömungen hatten im Grunde nicht sehr viel gemeinsam; schon ob sie alle als »konservativ« zu bezeichnen sind, ist umstritten. Die »Neokonservativen« waren zwar aus der Kritik an den Sozialprogrammen der Great Society entstanden, deshalb aber nicht unbedingt Gegner jeglicher Sozialmaßnahmen und durchaus skeptisch gegenüber dem ungezügeltem Kapitalismus. Dass in älteren deutschsprachigen Darstellungen »neoliberale« Akteure zunächst als »Neokonservative« firmieren, trägt hier nicht gerade zur Übersichtlichkeit Zu Großbritannien Geppert, Thatchers konservative Revolution; zu den USA Prasad, The Popular Origins of Neoliberalism. Siehe auch Prasad, The Politics of Free Markets. Für Kritik an einer übermäßigen und undifferenzierten Verwendung des Begriffs »Neoliberalismus« Rodgers, Daniel T.: The Uses and Abuses of »Neoliberalism«, Dissent, Winter , www.dissentmagazine.org/article/uses-and-abuses-neoliberalismdebate (..). Lütjen, Aufstieg und Anatomie, S. . Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff »Evangelikale« Dayton, Some Doubts. Gerade Carter war es ironischerweise gewesen, der durch seine Verknüpfung von Moral und Politik den evangelikalen Protestantismus erst zu einer einflussreichen politischen Kraft gemacht hatte: hatten solche Gruppen noch mehrheitlich den als »born-again Christian« antretenden Demokraten gewählt. Vier Jahre später hatte sich besonders die »moral majority« des Baptistenpredigers Jerry Falwell von Carter abgewandt und unterstützte fortan die Republikanische Partei. Dazu Flippen, Jimmy Carter. »Traditionelle« Konservative sprachen etwa »Libertarians« und »Neoliberalen« ab, überhaupt »konservativ« zu sein: Kirk, Libertarians (), S. ; Kirk, Russell: A Dispassionate Assessment of Libertarians. Lecture on Political Thought, Heritage Foundation, . Mai , www.heritage.org/research/lecture/a-dispassionate-assessment-of-libertarians (..).
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bei. Auch mit den »Evangelikalen« hatten die intellektuellen und nicht selten jüdischen neocons nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Die religiöse Rechte wiederum konnte mit atheistischen libertarians in der Tradition von Ayn Rand wenig anfangen. Eine gegen die Sowjetunion gerichtete Außenpolitik unterstützten viele »Evangelikale« aus antikommunistischen Motiven dagegen ebenso wie eine Politik des »freien Marktes«. Zusammengehalten wurde die »Reagan Coalition« somit von der gemeinsamen Ablehnung jeglicher Form des »Kollektivismus« und der Politik Jimmy Carters. Dahinter konnte die Forderung nach einer selbstbewussteren und offensiveren Rolle der USA in der Welt, die Ablehnung jeglicher Form »globaler Planung« oder der religiös begründete Kampf gegen den »atheistischen Sozialismus« stehen. Reagans Person und seine Mischung aus individueller Freiheitsrhetorik, dem Rückbau der Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Innenpolitik bei gleichzeitiger Ausweitung der Ausgaben für die Verteidigung und der Betonung »traditioneller konservativer Werte« erlaubten es jeder dieser Strömungen, ihre teilweise gegenläufigen Erwartungen auf die neue Regierung zu projizieren. Gleichzeitig bildete sich eine Art Arbeitsteilung heraus: »Neokonservative« waren für die Leitlinien der Außen- und Sicherheitspolitik, »Neoliberale« für die Wirtschaftspolitik und »traditionelle Konservative« wie »Evangelikale« für kultur- und gesellschaftspolitische Fragen zuständig.
Die Rückkehr zu einer bipolaren Weltdeutung Eine weitere Gemeinsamkeit dieser verschiedenen Strömungen im Reagan-Lager war eine Weltsicht, die vor allem Komplexität reduzieren sollte: Im ökonomischen Bereich bedeutete das vor allem, dass überzogene Regulierung und Staatsintervention für die wirtschaftlichen Probleme der Vereinigten Staaten verantwortlich gemacht und der »freie Markt« als Lösung für die Krise des Kapitalismus, aber auch für das weltweite Problem der »Entwicklung« propagiert wurde. Im außenpolitischen Bereich wurde die Welt wieder in den bipolaren Kategorien des »Kalten Krieges« gedeutet und alle internationalen Probleme noch stärker als in den er Jahren auf den schädlichen Einfluss der Sowjet Für »neokonservative« Kritik am »Neoliberalismus« siehe Kristol, When Virtue Loses all Her Loveliness (); Kristol, Irving: On Conservatism and Capitalism, WSJ, . Sept. ; Kristol, American Conservatism (), S. . Die deutsche Begriffsverwendung etwa in Lehmbruch/Singer et al., Institutionelle Bedingungen ordnungspolitischen Strategiewechsels (). Siehe Heilbrunn, Neocon v. Theocon (). Vgl. McGirr, Suburban Warriors; Connolly, Capitalism and Christianity; Moreton, To Serve God and Wal-Mart; Kruse, One Nation under God. Im Laufe der er Jahre ›teilten‹ sich beide Gruppen Think Tanks wie das American Enterprise Institute oder die Heritage Foundation, die zunächst vor allem marktliberales Denken vertreten hatten, nun aber immer mehr zur intellektuellen Heimat auch vieler »Neokonservativer« wurden.
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union zurückgeführt. Schon im Wahlkampf hatte Reagan behauptet, diese stehe hinter all der Unruhe, die sich in der Welt beobachten lasse: »If they weren’t engaged in this game of dominoes, there wouldn’t be any hot spots in the world.« Nach seiner Wahl bekräftigte Reagan diese Sicht in einer Reihe von Reden, am prominentesten in einer Ansprache vor der National Association of Evangelicals am . März , in der er die Sowjetunion mit religiöser Semantik als »Reich des Bösen« (evil empire) bezeichnete. Die steuernde Hand der Sowjetunion wurde nun hinter einer ganzen Reihe von negativen Entwicklungen und Krisen auf der Welt vermutet, nicht zuletzt im Zentrum eines »internationalen terroristischen Netzwerks«. Diese Rhetorik war letztlich eine Umsetzung dessen, was »neokonservative« Kritiker Kissingers, Brzezinskis und Carters schon seit den er Jahren gefordert hatten. Was den »Neoliberalen« der freie Markt, war ihnen die »anarchische Staatenwelt«: Das freie Spiel der Kräfte in der internationalen Politik war für sie nicht nur Vorannahme, sondern auch Zielvorstellung. Denn die »Neokonservativen« wähnten sich in der Gewissheit, die Vereinigten Staaten könnten auf absehbare Zeit der stärkste Akteur in der Weltpolitik bleiben, wenn sich nur der gesellschaftliche Wille zu einer entschlossenen Außenpolitik wiederherstellen ließe. Nicht die »externe« Bedrohung durch die Sowjetunion, sondern nur die »interne« Bedrohung durch das »Vietnam-Syndrom« und das schwindende Selbstvertrauen der Amerikaner könnten sie in die Knie zwingen. Ein gewisses Bedrohungsgefühl schien deshalb unabdingbar, um in Demokratien die nötigen Mittel und Opferbereitschaft zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit zu garantieren. Deshalb müsse das volle Ausmaß der sowjetischen Bedrohung deutlich gemacht und durch Aufrüstung und globale Machtprojektion entschlossen dagegen vorgegangen werden. Rüstungskontrolle und die Rede von einer interdependenten Welt hielten viele »Neokonservative« dagegen für gefährlich, da sie die Verteidigungsbereitschaft des Westens schwäche und die Aufmerksamkeit von dem wahren Problem der Weltpolitik ablenke: der aggressiven und expansiven Politik der So Zit. in WSJ, . Juni , S. . Reagan, Ronald: Remarks at the Annual Convention of the National Association of Evangelicals in Orlando, Florida, . März , www.presidency.ucsb.edu/documents/ remarks-the-annual-convention-the-national-association-evangelicals-orlando-florida (..). Reagan, The New Network (). Die Idee war Ende der er Jahre bereits von Richard Pipes und anderen im Umfeld des CDM und CPD propagiert worden. Siehe Vaïsse, Neoconservatism, S. . Anfang der er Jahre machte sie besonders die Journalistin Claire Sterling bekannt. Sterling, The Terror Network (). Vgl. dazu auch Hänni, Terrorismus als Konstrukt. »Democracies will not sacrifice to protect their security in the absence of a sense of danger, and every time we create the impression that we and the Soviets are cooperating and moderating the competition, we diminish the sense of apprehension.« Richard Perle, zit. in Gutman, Roy: The Nay-Sayers of Arms Control, in: Newsday, . Feb. , S. .
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wjetunion. Wer wie die Trilaterale Kommission internationale Politik steuern wollte und sich bemühte, die Sowjetunion in globale Interdependenz-Zusammenhänge einzubinden, oder wer glaubte, Kooperation in internationalen Organisationen könne die Konflikthaftigkeit der Weltpolitik eindämmen, galt deshalb nicht nur als naiv, sondern gar als eine Bedrohung für die nationale Sicherheit. Eine entschlossen antikommunistische Politik versprach dagegen nicht nur, das amerikanische Selbstbewusstsein wiederherzustellen, sondern bot darüber hinaus eine erneuerte Vision für die Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt. George Shultz, ab Außenminister in der Regierung Reagan, betonte zum Beispiel, um zu überleben müsse jede Zivilisation daran glauben, dass ihre Werte es wert seien, verteidigt zu werden. Im amerikanischen Fall gehöre dazu die Überzeugung, dass die Geschichte auf der Seite der Freiheit stehe. Die Deutungsmuster der »sowjetischen Bedrohung« und des »freien Marktes« erlaubten es damit, ein eindeutiges Bild der Welt zu zeichnen. Die Welt sei dadurch wieder »wunderbar einfach« geworden ‒ »wir gegen sie, die guten Jungs gegen die bösen Jungs« kommentierte der russische Emigrant Dimitri Simes im Jahr ironisch. Ganz anders als beim Ansatz der Regierung Carter, der nach Paul Kreisbergs selbstkritischer Bewertung die » zentralen Probleme der Welt« aufgezählt habe, ohne Prioritäten zu setzen, erschien die Welt nun wieder erklärbar und beherrschbar, gerade weil eben nicht versucht werden sollte, Verflechtungszusammenhänge zu steuern. Die Vereinigten Staaten sollten ihren globalen Führungsanspruch jetzt durch ein von militärischer wie ökonomischer Stärke unterfüttertes, selbstbewusstes Auftreten sichern ‒ und nicht durch die Übernahme der Führungsrolle bei internationaler Kooperation und bei der Koordination globaler Netzwerke. Diese neue Weltsicht hatte ganz konkrete politische Folgen: Im ökonomischen Bereich wurden die rhetorische Betonung des »freien Marktes« und eine Politik der Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte schon zeitgenössisch als Beginn einer »neoliberalen Wende« gesehen. Retrospektiv haben manche Beobachter deshalb den Beginn einer vor allem wirtschaftlich verstandenen »Globalisierung« um die Mitte der er Jahre angesetzt. Denn unter anderem die Neufestlegung der Wechselkurse im New Yorker Plaza-Abkommen vom . September habe enorme Finanzströme in die Vereinigten Staaten zur Folge gehabt und sei damit der Ursprung dessen gewesen, was manche Autoren heute als »digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus« bezeichnen. Im histo »[Arms control] puts our society to sleep. It does violence to our ability to maintain adequate defense.« Richard Perle, zit. in: Talbott, Deadly Gambits (), S. . Vgl. dazu Garthoff, The Great Transition, S. f. Shultz, New Realities and New Ways of Thinking (), S. . Simes, The Death of Detente? (), S. . Etwa bei Lehmbruch/Singer et al., Institutionelle Bedingungen ordnungspolitischen Strategiewechsels (). Dazu Menzel, Was ist Globalisierung, S. ff. »Digitaler Finanzmarkt-Kapitalismus« bei Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. .
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rischen Längsschnitt handelte es sich jedoch eher um einen Deutungswandel; um den Beginn einer neuen Phase der Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung, nachdem Versuche gescheitert schienen, Interdependenz analytisch zu durchdringen und ihre Entwicklung zu steuern. Im militärischen Bereich führte der neue Kurs Reagans gegenüber der Sowjetunion zunächst zu einer starken Erhöhung des Verteidigungsbudgets um Milliarden Dollar und zur Entwicklung neuer Rüstungsprogramme wie der großangelegten »Strategischen Verteidigungsinitiative« im Weltraum. Schon wenige Tage nach Reagans Wahlsieg hatte Eugene Rostow euphorisch erklärt, eine Mehrheit der Amerikaner unterstütze jetzt eine konfrontativere Politik gegenüber der Sowjetunion, selbst wenn diese Politik das Risiko eines Krieges erhöhe. Gleichzeitig wurden die ökonomischen Sanktionen gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten wie Kuba verschärft. brach Reagan die im NATODoppelbeschluss vereinbarten Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion über nuklear bestückte Mittelstreckenraketen in Europa vorläufig ab. Wegen der Erhöhung der Rüstungsausgaben und der konfrontativen Rhetorik Reagans ist nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Vermutung geäußert worden, er habe deren schwierige ökonomische Lage früh erkannt und sie deshalb »totrüsten« wollen. Dabei handelt es sich aber wohl eher um eine nachträgliche Interpretation. Vergleicht man die Politik Reagans nicht mit dem außenpolitischen Programm, mit dem sein Vorgänger angetreten war, sondern mit der Politik der Carter-Regierung ab , wirkt sie eher wie eine graduelle Steigerung bereits angelaufener Maßnahmen denn wie ein radikaler Bruch. Ein zentrales Motiv für Reagans Aufrüstungskampagne war neben der aus der »neokonservativen« Kritik der er Jahre übernommenen Diagnose, das amerikanische Rüstungsbudget sei gefährlich niedrig, vor allem die erwartete öffentliche Wirkung: Sie sollte Zweifel an der amerikanischen Entschlossenheit und Führungsstärke bei den eigenen Bürgern wie in anderen Ländern zerstreuen, Verbündete beruhigen, Gegner abschrecken und damit die internationale Position der USA nicht nur gegenüber der Sowjetunion stärken.
»Neo-Globalismus« ‒ Die Rückkehr des Kalten Krieges? Die sowjetische Führung hatte die Wende in der amerikanischen Außenpolitik aufmerksam beobachtet. Schon die Politik der Regierung Carter ab und in noch höherem Maße die konfrontative Haltung seines Nachfolgers Reagan empfand sie als Bedrohung. Noch gaben sich Beobachter wie Vladimir Gantman gleichwohl fast trotzig zuversichtlich und betonten, zur Entspannung Eugene Rostow remarks at the Annual Dinner of the Board of Directors of the Committee on the Present Danger, Washington D. C., . Nov. , Rostow Papers, Accession -M-, box , folder Committee on the Present Danger, -. Vgl. dazu Rhodes, Arsenals of Folly, S. -.
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gebe es keine Alternative. Sie werde wegen ihrer »objektiven, historischen Basis« auch in Zukunft weiter voranschreiten. Die sowjetische Invasion in Afghanistan hatte reformorientierte Experten im »Ostblock« jedoch in tiefe Verzweiflung gestürzt; die Unruhen in Polen führten ihnen die Probleme des Sozialismus zudem nur allzu deutlich vor Augen. Gleichzeitig waren die Hoffnungen, die sowjetische Analysten auf eine Umgestaltung des eigenen Systems sowie auf die Zusammenarbeit mit den USA gesetzt hatten, enttäuscht worden. Mit den neuen Spannungen Anfang der er Jahre machte sich unter ihnen das Gefühl breit, dass die Sowjetunion von der Neugestaltung der Weltordnung zunehmend ausgeschlossen und international isoliert war. Ob aus persönlicher Enttäuschung, veränderter Weltdeutung oder wegen neuer ideologisch-politischer Vorgaben: Auch viele sowjetische Analysten verschärften nun ihren Ton. Eine Publikation des IMEMO argumentierte wesentlich negativer als Vladimir Gantman noch ein Jahr zuvor, die Entspannung habe den ideologischen Wettbewerb sogar noch verschärft, etwa wegen der Menschenrechtskampagne Präsident Carters. Diese wurde als Teil einer neuen Phase in der amerikanischen Politik interpretiert, die nach dem Zerfall des »außenpolitischen Konsenses« wieder stärker auf Konfrontation gesetzt habe. Die Empfehlungen der Trilateralen Kommission seien der Versuch Carters gewesen, populistische Argumente in die amerikanische Innenpolitik einzuführen und eine Allianz zwischen der »Finanzoligarchie« und dem »Kleinbürgertum« zu schmieden. An der Auseinandersetzung mit »globalen Problemen« zwischen und zeigt sich die widersprüchliche Haltung sowjetischer Beobachter, die einerseits auf die neue konfrontative amerikanische Haltung reagieren wollten oder mussten, andererseits die Hoffnung auf eine neue Annäherung noch nicht ganz aufgegeben hatten: Ihre Studien aus den frühen er Jahren hielten daran fest, dass Fragen wie Überbevölkerung oder Umweltverschmutzung nur durch intensivierte Ost-West-Kooperation zu lösen seien. Schon wegen der gestiegenen Gefahr eines Nuklearkriegs bestanden Autorinnen und Autoren wie Georgij Šachnazarov, Ivan Frolov, Margarita Maksimova und andere aus dem Umfeld des IMEMO darauf, dass es ungeachtet aller kurzfristigen politischen oder ideologischen Konflikte langfristig keine Alternative zur internationalen Kooperation gebe. Gantman, Détente (), S. , . Der Artikel richtete sich wohl explizit an eine amerikanische Leserschaft, in der deutschsprachigen Ausgabe von Gesellschaftswissenschaften wurde er jedenfalls nicht abgedruckt. Ähnlich Arbatov, Vnešnjaja politika SŠA (), S. f. Jakovlev, Muki pročtenija bytija (), S. ff. Siehe etwa Zagladin, Predislovie (). Institut Mirovoj Ekonomiki i Meždunarodnych Otnošenij (Hg.), Razrjadka meždunarodnoj naprjažennosti (). Dazu Polsky, Soviet Research Institutes (), S. f. Siehe u. a. Zagladin/Frolov, Global’nye problemy sovremennosti (); Frolov (Hg), Suščnosť i značenie global’nych problem (); Inozemcev (Hg.), Global’nye prob-
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Noch vor dem Tod Leonid Brežnevs übten sowjetische Wissenschaftler erstmals öffentlich Kritik an der Außenpolitik ihrer Führung. Für das Scheitern der Entspannung machten Oleg Bogomolev, Aleksandr Bovin oder Fedor Burlackij jetzt auch das sowjetische Vorgehen in der »Dritten Welt« und insbesondere die Invasion in Afghanistan verantwortlich. Umso mehr waren sie bemüht, der Staats- und Parteiführung die Probleme des sozialistischen Systems vor Augen zu führen und auf Reformen sowie eine stärkere Integration der Sowjetunion in die »internationale Arbeitsteilung« zu drängen. Für IMEMO-Direktor Nikolaj Inozemcev war dieser Schritt angesichts des technologischen Wandels und der »Tendenzen zur Vereinheitlichung der Weltwirtschaft« unausweichlich geworden. Solche Forderungen nach stärkerer Integration der Sowjetunion in die nichtsozialistische Weltwirtschaft blieben zunächst jedoch ohne großen Erfolg. Im Gegenteil, die konfrontativere Haltung der USA unter Reagan trug zusammen mit dem immer schlechteren Gesundheitszustand Generalsekretär Brežnevs, der zu den wichtigsten Protagonisten des Entspannungskurses gezählt hatte, dazu bei, dass die »Hardliner« um Verteidigungsminister Dmitrij Ustinov im Politbüro an Einfluss gewannen. setzten sie einen Kurs durch, der sich in der Sowjetunion vor allem gegen diejenigen Forschungsinstitute richtete, die den Entspannungskurs unterstützt und die sowjetische Politik in Afghanistan kritisiert hatten. Am ISKAN mussten zwei Analysten auf Veranlassung des Zentralkomitees entlassen werden, am IMEMO wurden gar zwei junge Forscher vom KGB verhaftet ‒ laut Anatolij Černjaev und Georgij Arbatov sei dessen Direktor Inozemcev möglicherweise aus diesem Grund im August einem Herzinfarkt erlegen. Noch konnten Georgij Arbatov und Aleksandr Bovin durch eine Interlemy sovremennosti (); Maksimova, Global’nye problemy i mir (); Ivanov, Perestrojka mezdunarodnych otnosenij (); Šachnazarov, Grjaduščij miroporjadok (); Schachnasarow, Die Zukunft der Menschheit (); Burlackij, Filosofija mira (); Fedorov, Meždunarodnaja bezopasnosť (). Jurij Fedorov vom IMEMO fand sogar lobende Worte für den Global Report der Carter-Regierung. Fedorov, SŠA pered licom global’nych problem (). Für einen zeitgenössischen Überblick über die sowjetische Forschung vgl. Berger (Hg.), Global’nye problemy sovremennosti (); Los’, Issledovanija v oblasti global’nych problem (); Zagladin/Frolov, MarksistskoLeninskaja koncepcija global’nych problem () und Miševa et al., Globale Probleme der Gegenwart. Bogomolev, Oleg: Some Considerations of the Foreign Policy Results of the s (Main Points), . Jan. , zit. in Afghanistan: As Seen in , Moscow News (), S. ; Bovin, Neprechodiaščee značenie (); Kišilov/Arbatov/Fedotov, Vlijanie vnešneevropejskich faktorov (); Burlackij, Fedor in Literaturnaja Gazeta, . Jan. ; Meyer, Fritjof: »Prüfen Sie uns, ob wir guten Willens sind«. BreschnewBerater Georgij Arbatow über die Verhandlungsbereitschaft der Sowjet-Union, Der Spiegel, . März . Dazu auch Sapper, Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges, Kap. .; Mendelson, Changing Course, Kap. . Inozemcev, XXVI s”ezd KPSS (); Černjaev, Moja žizn’ i moe vremja (), S. ff. Dazu English, Russia and the Idea of the West, S. -. Černjaev, Moja žizn’ i moe vremja (), S. , ; Arbatow, Das System (), S. .
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vention bei Brežnev dafür sorgen, dass diese Kampagne eingestellt wurde. Nach dem Tod des Generalsekretärs im November wollte sein Nachfolger Jurij Andropov, der selbst unter Druck der »Hardliner« im Politbüro stand, von den Ratschlägen seiner ehemaligen Berater jedoch nichts mehr wissen ‒ im Mai wurden beide auf einem Plenum des Zentralkomitees von Andropov gewarnt, in Gesprächen mit Ausländern zukünftig vorsichtiger zu sein. Denn die ideologische Kontrolle über die Sozialwissenschaften war mittlerweile wieder verschärft worden. Jede Kritik an der sowjetischen Politik wurde nun als Schwächung der eigenen Position im Konflikt mit den USA erachtet. Auf der weltpolitischen Bühne verschärfte die Sowjetunion nun ebenfalls ihre Rhetorik. Ab / betonten Autoren wie Vadim Zagladin noch deutlicher als zuvor, dass das Privateigentum für die meisten »Weltprobleme« verantwortlich sei. Sie könnten deshalb nur durch die Beseitigung des Kapitalismus gelöst werden. In der »battle of the booklets« warfen sich die USA und die Sowjetunion bis in einer Reihe von Veröffentlichungen gegenseitig vor, den Weltfrieden zu bedrohen. Eine Broschüre des sowjetischen Verteidigungsministeriums vertrat eine analoge Variante der Theorie vom »Netzwerk des Bösen« und beschrieb eine Welt, in der die »Basen des amerikanischen Imperialismus« wie die »Tentakel eines gigantischen Oktopus« jeden Winkel des Globus erreichten, um die Sowjetunion und ihre Verbündeten von allen Seiten zu bedrohen. Doch blieb es auch auf der sowjetischen Seite nicht bei reiner Rhetorik: Die Führung verfolgte nach einer Phase, in der bewusst Verflechtungen mit der kapitalistischen Welt hergestellt worden waren, schon ab wieder eine Strategie des Rückzugs aus der Weltwirtschaft. Dazu drängte sie auch andere RGW-Staaten, deren Außenhandelsdefizite und Verschuldung im »Westen« mittlerweile Ausmaße angenommen hatte, die angesichts der neuen politischen Spannungen aus sowjetischer Perspektive nicht mehr tragbar waren. Welche Gefahren hier drohten, hatten die Unruhen in Polen gezeigt. Ein neuer Kurs der »Binnenorientierung« und der wirtschaftlichen Autarkie betonte jetzt die negativen Folgen einer zu starken Integration in die Weltwirtschaft. In der Sicht vieler Zeitgenossen brachten die neuen amerikanisch-sowjetischen Spannungen Anfang der er Jahre den »Kalten Krieg« zurück, der ein Jahrzehnt zuvor bereits für beendet erklärt worden war und von einem neuen »Zeitalter der Interdependenz« abgelöst schien. Noch hatte Wilfried Loth Ebd., S. -, -; Pečenev, Gorbačev: k veršinam vlasti (), S. . Vgl. English, Russia and the Idea of the West, S. -. Zagladin, Global’nye problemy (). Ähnlich bereits Chozin, Global’nye problemy sovremennosti (). Ministerstvo Oborony SSSR, Whence the Threat to Peace (), S. . »Battle of the Booklets« nach Soviet Union: Battle of the Booklets, in: Time, . Feb. . Sowjetische Wissenschaftler äußerten jedoch auch gegenüber der Führung ganz andere Einschätzungen. Siehe English, Russia and the Idea of the West, S. . Vgl. Taeg-Won, Economic Debates; Dangerfield, Sozialistische Ökonomische Integration, S. .
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in seinem Buch Die Teilung der Welt gefragt, »Was war der Kalte Krieg?«. Bereits im März dieses Jahres sprach Georgij Arbatov jedoch davon, dass die USA eine »zweite Auflage des Kalten Krieges« erzwingen wollten. Er hatte damit eine einflussreiche Deutung geprägt, die im »Westen« besonders über Fred Hallidays Studie The Making of the Second Cold War von bekannt wurde. Bei Halliday erschienen »Kalte Kriege« im Plural als von höherer Konflikthaftigkeit geprägte Teilabschnitte der Epoche des »Ost-West Konfliktes« seit . Der »erste Kalte Krieg« habe sich von bis erstreckt, sei dann jedoch von einer »Periode des oszillierenden Antagonismus« abgelöst worden, auf die zwischen und die »Ära der Entspannung« gefolgt sei. »Cold War II« sei ab Mitte der er angebahnt worden und habe seit seinen Höhepunkt erreicht. Halliday und andere Kritiker der Politik Reagans führten diese Entwicklung vor allem auf den bewussten Versuch der Akteure um das Committee on the Present Danger zurück, rhetorisch eine sowjetische Bedrohung zu erzeugen, der alle anderen Bereiche der Außenpolitik untergeordnet werden sollten. Das Bild der sowjetischen Bedrohung sei auch dazu genutzt worden, um alternative Weltdeutungen zu unterdrücken. Statt der »relativen Verschiedenheit« der unterschiedlichen Probleme der Weltpolitik, die Carter betont hatte, habe sein Nachfolger den Konflikt mit der Sowjetunion ins Zentrum seiner Politik gestellt und dadurch kooperative Herangehensweisen marginalisiert. Akteuren in den Vereinigten Staaten, die Konfrontation statt Kooperation und Interdependenz betonten, ging es dabei weniger um eine bewusste »Disziplinierung« der Bevölkerung, wie es Mary Kaldor später in Anlehnung an Foucault formuliert hat. Vielmehr lassen sich hier die Folgen grundsätzlich verschiedener Weltdeutungen beobachten. Die Interpretation der internationalen Beziehungen in Kategorien der »Interdependenz«, die für die einen die einzig richtige Deutung einer veränderten Welt war und die eine völlig neue Politik erzwinge, war für die anderen gefährliches Wunschdenken »liberaler Idealisten«, die die existenzielle Bedrohung durch die Sowjetunion nicht wahrhaben wollten. Der »zweite Kalte Krieg« markiert damit keine Abkehr von globalistischem Denken, als vielmehr die politische Umsetzung einer Variante davon, die sich von Interdependenz-Diagnosen grundlegend unterschied. In diesem »Revival des geopolitischen Denkens« wurde die Welt nicht als komplex und verflochten, sondern stärker als Arena eines als »Nullsummenspiel« gedachten Wettbewerbs um Einfluss zwischen den beiden »Polen« der Weltpolitik verstanden. Loth, Die Teilung der Welt, S. ; Arbatov, Georgij A.: Na poroge novogo desjatiletija. Vnešnjaja politika SŠA, in: Pravda, . März , S. . Halliday, The Making of the Second Cold War (), S. . Zur »Rückkehr« des »Kalten Krieges« siehe auch »Cholodnaja vojna«, in: Gromyko, A. A. (Hrsg.): Diplomatičeskij slovar’, Tom , Moskva , S. -. Halliday, The Making of the Second Cold War (), S. f. Dazu auch Dalby, Creating the Second Cold War (). Kaldor, The Imaginary War (). Dalby, Creating the Second Cold War (), S. .
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Ironischerweise war es damit gerade die Reagan-Regierung, die die mehrheitlich »nicht-globalistische Haltung« ihrer Anhänger in eine weltweit aktive Politik übersetzte, die sich deutlich von den Bemühungen um das Management globaler Interdependenz der er Jahre unterschied. In Anlehnung an den amerikanischen »Globalismus« der er und er Jahre bezeichnete die sowjetische Seite diese Politik als »neo-globalizm«.
Reagan, die »Dritte Welt« und das Ende der Neuen Weltwirtschaftsordnung Ein zentrales Element der globalen Strategie der Regierung Reagan war ihre Politik gegenüber der »Dritten Welt«. Ähnlich wie in den Interdependenz-Debatten der er Jahre treten auch in den er Jahren unterschiedliche Weltdeutungen im Umgang mit dem »globalen Süden« besonders deutlich hervor. Die Abkehr vom Ansatz Carters, die von den »Neokonservativen« geforderte Betonung amerikanischer Stärke und konfrontative Haltung gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten sowie die wirtschaftspolitische Grundlinie der »Neoliberalen« verbanden sich hier zu einer neuen Herangehensweise. Nachdem der »regionale Ansatz« schon unter Carter weitgehend gescheitert war, betrachtete die Reagan-Regierung die »Dritte Welt« wieder primär als »Arena« des OstWest-Wettbewerbs und interpretierte dortige Konflikte als »Stellvertreterkriege«, hinter denen sich der schädliche Einfluss der Sowjetunion verberge. Mit der sogenannten »Reagan Offensive« strebte die neue US-Regierung deshalb danach, den vermeintlichen Expansionismus der Sowjetunion zu stoppen und selbst die Initiative zu ergreifen. Dafür wurden in verschiedenen Ländern als »Freiheitskämpfer« bezeichnete Gruppen wie die »Contras« in Nicaragua oder die »Mudschahedin« in Afghanistan unterstützt, deren wichtigste Eigenschaft es war, dass sie gegen (vermeintlich) von der Sowjetunion oder ihren Verbündeten kontrollierte Regime kämpften. Die Vergabe von Entwicklungshilfe So Palan, After the Cold War, S. , der diese Politik als »chauvinistisch« verurteilt. Siehe u. a. Rede bei einem Essen im Großen Kremlpalast zu Ehren des Präsidenten der Demokratischen Volksrepublik Algerien und Generalsekretärs der FLN-Partei, Chadli Bendjedid, . März , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Oktober – Juli , Berlin (Ost) , S. - oder CK KPSS: O merach po usileniju našego protovodejstvija amerikanskoj politiki »neoglobalizma«, ijulja g., Library of Congress, Dmitri A. Volkogonov Collection, reel . Wolski, Neoglobalismus (); Mil’štein, Genezis neoglobalizm (). Etwa Verteidigungsminister Caspar Weinberger in: US Congress, Senate Armed Services Committee, Hearing on the DoD Authorization for Appropriations for FY , th Congress, nd session, . Feb. , S. . National Security Decision Directive , On Cuba and Central America, Jan. , https://fas.org/irp/offdocs/nsdd/nsdd-.pdf sowie National Security Decision Directive , U. S. National Security Strategy, . Mai , https://fas.org/irp/offdocs/nsdd/ nsdd-.pdf (beide ..). Die Bedingungen für einen Einsatz amerikanischer Truppen wurden von Verteidigungsminister Caspar Weinberger am . Nov. in
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wurde nun wieder stärker an politische Vorgaben gekoppelt und die Thematik der Menschenrechte primär als Instrument in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion eingesetzt: Während die Menschenrechtsbilanz sozialistischer Staaten in Osteuropa und der »Dritten Welt« heftig kritisiert wurde, spielte sie im Umgang mit autoritären antikommunistischen Regimen in der »Dritten Welt« nun eine viel geringere Rolle ‒ die »übermäßige[ ] Furcht vor dem Kommunismus«, die Carter im Mai bereits für überwunden erklärt hatte, bestimmte nun wieder die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Reagans UN-Botschafterin Jeane Kirkpatrick legitimierte diese neue Herangehensweise damit, dass rechte autoritäre Regime ein viel höheres Potenzial hätten als linke, sich in Richtung Demokratie zu entwickeln. Selbst bei der Linken hatte die »Dritte Welt« ihr »revolutionäres Potenzial« mittlerweile wieder eingebüßt und wurde nun weniger als dynamische Kraft zur Veränderung der Welt, sondern vielmehr als Raum auswegloser Armut und autoritärer Diktaturen wahrgenommen. Diese neue Haltung gegenüber der »Dritten Welt« war nicht nur Ausdruck des Wiedererstarkens von Weltdeutungen im Rahmen des »Kalten Krieges«, sondern auch die Folge einer grundlegenden Transformation des Entwicklungsdenkens in den Vereinigten Staaten. Im Laufe der er Jahre war im Rahmen der Kritik an der Modernisierungstheorie die Gleichsetzung von »Entwicklung« und ökonomischem Wachstum hinterfragt worden. Das hatte einerseits zu einer »Explosion« von Arbeiten zur Dependenztheorie geführt, die jetzt auch von Autorinnen und Autoren in den USA verfasst wurden. Andererseits wurde der entwicklungspolitische Fokus auf Industrialisierung und infrastrukturelle Großprojekte jedoch von einer neuen Betonung der »Grundbedürfnisse« (basic needs) von Individuen abgelöst. Die Ursachen für »Unterentwicklung« wurden in dieser Sicht zunehmend in den »Entwicklungsländern« selbst und immer weniger in den strukturellen Bedingungen der Weltwirtschaft gesucht: Ineffiziente Bürokratien und ein aufgeblasener öffentlicher Sektor hätten zu Verschwendung geführt und individuelle Initiative gehemmt. Von den »rationalen« Entscheidungen von Individuen und von den für die Gesamtheit positiven Effekte individueller Nutzenmaximierung versprachen sich nun immer mehr Sozialwissenschaftler in den USA Wachstum und »Entwicklung« in der »Dritten Welt«. Diese postulierte Dynamik konnte sich jedoch nur unter den richtigen Bedingungen entfalten: Es galt, individuelle Verantwortung und Leistungsfähigkeit
der »Weinberger-Doktrin« dagegen sehr eng definiert. Vgl. Westad, The Global Cold War, S. -. Kirkpatrick, Dictatorships and Double Standarts (). In Buchform als Kirkpatrick, Dictatorships and Double Standards (). Vgl. Eckel, Die Ambivalenz des Guten, S. -. Vgl. dazu ebd., S. -. Packenham, The Dependency Movement, S. , dort auch Literaturangaben. Vorreiter war hier die Weltbank unter ihrem Präsidenten Robert McNamarra, der diesen Ansatz auf einer Rede in Nairobi vorstellte. Nuscheler, Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik, S. f.
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zu fördern, wodurch Ressourcen und Investitionen wesentlich effizienter auf die produktivsten Bereiche einer Gesellschaft verteilt würden als durch staatliche Planung. Auf der fünften UNCTAD in Manila stellte Weltbank-Präsident Robert McNamara die Idee der »Strukturanpassung« vor, die durch eine Veränderung der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen »Entwicklungsländer« in wettbewerbsfähigere Exportwirtschaften verwandeln sollte. Damit waren jetzt keine Reformen der Strukturen der Weltwirtschaftsordnung, sondern die Beseitigung von Hindernissen für die freie Entfaltung von »Marktkräften« gemeint. Anstelle von keynesianischer Intervention, staatlicher Planung und social engineering versprachen nun individuelle Initiative und Rationalität auf »freien Märkten« »Entwicklung« ohne Zwang und Gewalt. Staaten sollten sich deshalb aus dem Wirtschaftsleben zurückziehen, Subventionen und Sozialleistungen drastisch kürzen, Staatsbetriebe privatisieren und gegen Inflation und Korruption vorgehen. Statt durch »Importsubstitution« auf ökonomische Autarkie zu setzen, wurde nun eine exportorientierte Wirtschaftspolitik und eine stärkere Einbindung in den Weltmarkt propagiert. Märkte, Handel und Finanztransaktionen sollten durch Deregulierung und den Abbau von Zollschranken und Importkontrollen für den internationalen Wettbewerb geöffnet werden. Der erste Fall, in dem dieser Ansatz zur Anwendung kam, lag in Lateinamerika: Das »Petrodollar-Recycling« hatte dazu geführt, dass Banken recht freizügig Kredite an »Entwicklungsländer« vergeben hatten, die diese vor allem dafür eingesetzt hatten, um die gestiegenen Energiekosten zu decken. Bald konnten jedoch viele dieser Staaten ihre Verpflichtungen nicht mehr bedienen. Als Mexiko im August zahlungsunfähig wurde, griff diese »Schuldenkrise« auch auf andere Länder über. Finanzielle Unterstützung durch die Weltbank wurde jetzt erstmals von »Strukturanpassungsmaßnahmen« abhängig gemacht, die auf Privatisierungen, fiskalische »Disziplin« und eine Senkung der »Staatsquote« abzielten. Der Weltbank und dem Währungsfonds als Institutionen des BrettonWoods-Systems wurde damit eine ganz neue Rolle zugewiesen. Sie wurden zu den zentralen Trägern einer Variante des Entwicklungsdenkens und der Entwicklungspolitik, die seit Anfang der er Jahre als »Washington Consensus« bezeichnet wird. Dieser Begriff ist allerdings durchaus stark kritisiert worden; insgesamt wäre es zu vereinfachend, diese Veränderung als »Neoliberalisierung«
Siehe u. a. Bauer, Dissent on Development (); Goodell, Conservatism and Foreign Aid (). Dazu Gilman, The New International Economic Order, S. ; Amadae, Rationalizing Capitalist Democracy, Kap. . Vgl. Kapur/Lewis/Webb, The World Bank, S. f.; Finnemore, Redefining Development; Staples, The Birth of Development, S. . Der Begriff wurde vom Ökonomen John Williamson geprägt. Williamson, What Washington Means by Policy Reform ().
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des Entwicklungsdenkens zu deuten. Sie verlief jedoch parallel zur Verschiebung von staats- zu marktorientierten Perspektiven in der Wirtschaftspolitik westlicher Staaten. Zudem wies dieser Umschwung durchaus Aspekte einer »Gegenrevolution« auf, die sich gegen die Bemühungen der er Jahre richtete, globale Verflechtung durch die Kooperation von Staaten beim »Management« von Interdependenz stärker zu steuern. Vor allem wandten sich Vertreter dieser neuen Perspektive aber gegen Versuche, im Rahmen einer Neuen Weltwirtschaftsordnung in globalem Maßstab planend und steuernd in ökonomische Zusammenhänge einzugreifen. Diese Verschiebung des Entwicklungsdenkens und ihre Sicht auf die »Dritte Welt« als Arena des Ost-West-Konflikts führten dazu, dass die Regierung Reagan Anfang der er Jahre solche Forderungen nach einer Umgestaltung der Weltwirtschaftsordnung endgültig zurückwies. Dabei hatte es Anfang der er Jahre aus Sicht des »globalen Südens« durchaus noch Anlass zur Hoffnung gegeben: Im Februar schien der Bericht der von den Vereinten Nationen eingesetzten Unabhängigen Kommission zu internationalen Entwicklungsfragen neue Dynamik in eine Debatte zu bringen, die bereits an Schwung verloren hatte. Die auch als Brandt-Report bekannt gewordene Studie empfahl, ein Aktionsprogramm zu Entwicklungsfragen aufzulegen, die Rohstoffpreise zu stabilisieren, die Tätigkeit »transnationaler Unternehmen« zu regulieren, Protektionismus der Industrieländer gegenüber Exporten aus »Entwicklungsländern« abzubauen und die Weltwährungsordnung zu reformieren ‒ alles Forderungen, die im Programm einer Neuen Weltwirtschaftsordnung enthalten waren. Ende des Jahres erklärte die UN-Generalversammlung in ihrer »Strategie für die dritte Entwicklungsdekade« strukturelle Veränderungen zur Voraussetzung von »Entwicklung« und damit die Umsetzung der Neuen Weltwirtschaftsordnung zu einem zentralen Ziel des anbrechenden neuen Jahrzehnts.
John Williamson distanzierte sich später selbst von der »neoliberalen« Auslegung des Begriffs: Did the Washington Consensus Fail? Outline of speech at the Center for Strategic & International Studies Washington DC, . Nov. , Peterson Institute for International Economics, https://piie.com/commentary/speeches-papers/did-washington-consensus-fail?ResearchID = (..). Vgl. Grindle, Challenging the State; Gore, The Rise and Fall of the Washington Consensus. Aus der zeitgenössischen Diskussion Seers, What Are We Trying to Measure? (); Singh, The »Basic Needs« Approach (); Galtung, The New International Economic Order () und Toye, Dilemmas of Development (). »Neoliberale Gegenrevolution« bei Dehm, Highlighting Inequalities, S. . Diese Entwicklung macht Moyn, Not Enough als Hauptursache heutiger Ungleichheit aus. Der »Neoliberalismus« war aber keine koordinierte Reaktion auf die NIEO, wie Bockman, Socialist Globalization nahelegt. Die Zusammenhänge sind hier indirekter, siehe Eckel, Vielschichtiger Konflikt, S. f. Brandt, North–South (), bes. S. -. GA/RES//, . Dez. , International Development Strategy for the rd United Nations Development Decade.
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Der aus einer Empfehlung des Brandt-Berichts hervorgegangene »Nord-SüdGipfel« in Cancún markierte im Oktober dann jedoch die Wende in eine ganz andere Richtung als von der G erhofft. Die Reagan-Regierung hatte bereits einige Monate zuvor ihren europäischen Verbündeten in der International Energy Agency mitgeteilt, keine Verständigung mit der OPEC und dem »Süden« insgesamt mehr anzustreben ‒ und war weitgehend auf Zustimmung gestoßen. In Cancún kündigte Reagan an, die Vereinigten Staaten würden ab sofort über keine grundsätzliche Veränderung der Weltwirtschaftsordnung mehr verhandeln und für »Entwicklung« nicht auf neue Institutionen oder Regularien, sondern auf die Stärkung individueller Initiative und die »Öffnung von Märkten« setzen. Für Gegner dieser Politik wie Noam Chomsky war der »neue Kalte Krieg« damit weniger gegen die Sowjetunion, als vielmehr gegen die »Dritte Welt« gerichtet. Deren vorübergehende Einheit war wegen ökonomischer Probleme und neuer ideologischer Spannungen schon in der zweiten Hälfte der er Jahre wieder zerfallen. Der »zweite Kalte Krieg« lenkte die Aufmerksamkeit der Bündnisfreien und der G zudem wieder stärker in Richtung des Kampfes gegen »Imperialismus« und »Rassismus«. Gleichzeitig hatte sich auch die UNCTAD auf die Suche nach einem »neuen Entwicklungsparadigma« gemacht. Denn die weitere Zunahme weltweiter Interdependenz hatte die Annahmen der Dependenztheorie mittlerweile fragwürdig werden lassen. Diese Verschiebung hatte sich schon in den er Jahren bei Autoren wie Fernando Cardoso angedeutet. Anfang der er Jahre hielt selbst das Sekretariat der UNCTAD die Aufteilung der Weltwirtschaft in »Zentren« und »Peripherien« für überholt. Denn seit manche »Entwicklungsländer« nicht mehr nur Rohstoffe oder Nahrungsmittel, sondern auch verarbeitete Produkte in die »Industriestaaten« exportierten, habe sich eine »neue internationale Arbeitsteilung« herausgebildet. Seit Staaten wie Indien oder Brasilien damit auf dem Weg schienen, selbst zu einflussreichen Akteuren in der Weltwirtschaft zu werden, verlor das Konzept einer »Dritten Welt« mit gemeinsamen
Reagan, Ronald: Statement at the First Plenary Session of the International Meeting on Cooperation and Development in Cancun, Mexico, . Okt. , www.presidency. ucsb.edu/documents/statement-the-first-plenary-session-the-international-meetingcooperation-and-development (..). Vgl. dazu Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. -; Garavini, Western Europe, S. f.; Mazower, Governing the World, S. -. Chomsky, Superpowers in Collision (). Siehe die Reden in Hemstedt, Klaus (Hrsg.): Die Gipfelkonferenz der Blockfreien. (New Delhi, .‒. . ), Hamburg , S. , f. Für interne Kritik, dass dadurch Fragen wie die Schuldenkrise vernachlässigt würden, siehe o. A.: Eine Süd-Kommission der Dritten Welt, FAZ . Sept. . Vgl. Smith/Taylor, UNCTAD, S. -. United Nations Conference on Trade and Development: Trade and Development Report , New York , https://unctad.org/en/PublicationsLibrary/tdb_rev._ en.pdf (..). Zur »neuen internationalen Arbeitsteilung« auch Kapitel .
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Problemen und Zielen immer mehr an Überzeugungskraft. Schon deshalb gelang es jetzt nicht mehr, ein mit der Schlagkraft der Dependenztheorie vergleichbares neues Paradigma zu entwickeln. Entwicklungsökonomen und Politiker aus dem »Süden« sollten sich in den folgenden Jahren vor allem an den Rezepten von »Strukturanpassung«, »Privatisierung« und »Liberalisierung« abarbeiten. Gegenüber Problemen wie der »Schuldenkrise« der er Jahre konnten sie sich auf keine einheitliche Position verständigen, das Projekt einer Neuen Weltwirtschaftsordnung wurde nicht mehr mit der gleichen Vehemenz verfolgt. tauchte es nicht einmal mehr in den Schlussdokumenten der siebten UNCTAD auf. Für Jürgen Dinkel steht das Scheitern dieses Projekts für eine generelle Verschiebung »weg von Ansätzen globaler multilateraler Weltpolitik hin zu kleinteiligen regionalen oder bilateralen Kooperationen«. Aus Sicht der Regierung Reagan liefen in der neuen Politik gegenüber der »Dritten Welt« dagegen mehrere zentrale Leitlinien ihres neuen außen- und wirtschaftspolitischen Ansatzes zusammen: Die Bekämpfung der Bedrohung durch linken Radikalismus sollte es privaten Investitionen und Initiativen ermöglichen, ökonomisches Wachstum zu erzeugen. Dieses sollte zur Entstehung einer Mittelschicht, wachsender sozialer Gerechtigkeit und damit letzlich auch zur Verbreitung demokratischer Werte und Institutionen führen. Denn der wirtschaftliche Erfolg der Vereinigten Staaten sei identisch mit der Ausbreitung der Freiheit, postulierte Reagan. Diese Entwicklung könne hundertmal in hundert verschiedenen Nationen wiederholt werden. Damit schien »Entwicklung« nun nicht länger eine politische Frage, als vielmehr ein rein »ökonomisch-technisches« Problem, das sich mehr oder weniger von selbst lösen werde, wenn nur die richtigen Bedingungen dafür geschaffen würden. Nicht nur ihre Politik im militär- und sicherheitspolitischen Bereich, sondern auch die neue Haltung der Reagan-Regierung in der Entwicklungspolitik stellen damit eine neue Variante globalistischen Denkens und daraus abgeleite Siehe Lall, The New Multinationals (); Wells, Third World Multinationals () und zu den Folgen für das Konzept der »Dritten Welt« Harris, The End of the Third World (). Auch in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung wurde die »Dritte Welt« nun immer heterogener. Dazu Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt, S. . Vgl. Gore, Global Interdependence. Dazu gehören das Konzept der »collective self-reliance« oder die unter anderem Brasilien und Indien gegründete G. Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten, S. . Gilman, The New International Economic Order, S. f. argumentiert dagegen, manche Forderungen der NIEO und das Denken im Rahmen einer Nord-Süd-Geografie lebten etwa in den Verhandlungen über den Klimawandel bis heute fort. Das Projekt sei deshalb ein »unfailure« gewesen. Reagan, Ronald: Address Before a Joint Session of the Congress on the State of the Union, . Feb. , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-before-joint-session-the-congress-the-state-the-union- (..). So etwa Williamson, In Search of a Manual for Technopolis (). Dieser Überzeugung schlossen sich in der zweiten Hälfte der er Jahre auch Vertreter der Bündnisfreien an, siehe Prashad, The Darker Nations, S. .
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ter politischer Strategien dar. Globale Verflechtungen sollten hier nicht mehr durch staatliche Interventionen gesteuert, sondern die optimale Verteilung von Ressourcen individueller Rationalität auf »freien Märkten« überlassen werden. Diese Weltdeutung bot damit eine erneuerte Vision einer »globalen Mission« der Vereinigten Staaten und einer grundlegenden Umgestaltung der Welt nach amerikanischem Vorbild an, die wesentlich leichter umzusetzen war als die Rezepte der Modernisierungstheorie der er oder die Versuche globaler Planung und Steuerung der er Jahre. Für Robert Latham war es ein zentraler Bestandteil der Attraktivität des »Neoliberalismus«, dass er den USA den Erhalt ihrer globalen Führungsrolle in Aussicht stellte, ohne dass das Land dafür große Anstrengungen in der Entwicklungspolitik oder in der Koordination internationaler Zusammenarbeit unternehmen musste.
Das »Information Age« ‒ Verflechtungsdiagnosen in der Regierung Reagan Die sogenannte »Neoliberalisierung« der Wirtschaftspolitik und ein offensiver, antikommunistischer »Neo-Globalismus«, die sich beide besonders deutlich in der Politik gegenüber der »Dritten Welt« äußerten, waren zentrale Elemente der Politik der Regierung Reagan. Mit solchen Schlagwörtern ist jedoch nur ein Teil des Gesamtbildes erfasst. Denn die Forschung hat mittlerweile infrage gestellt, wie umfassend die Umgestaltung der »Reagan Revolution« überhaupt gewesen sei: Die »Liberalisierung« der Gesellschaft in Bereichen wie Abtreibung oder gleichgeschlechtlicher Ehe ging trotz neuer konservativer Leitbilder auch in den er Jahren weiter. Gleichzeitig müsse zwischen radikaler Rhetorik und manchmal sogar gegenläufiger Regierungspraxis unterschieden werden. Steuersenkungen, Kürzungen von Sozialausgaben und Deregulierung von der Luftfahrt bis zur Finanzindustrie scheinen die Sicht auf Reagans Politik als »Umsetzung« »neoliberaler« Ideen zu bestätigen. Viele der jetzt abgeschafften Bestimmungen waren allerdings erst im Laufe der er Jahre eingeführt worden, bei der Deregulierung handelte es sich damit eher um eine Rückkehr zur amerikanischen »Normalität« als um einen radikalen Bruch. Zudem war die Staatsquote am Bruttosozialprodukt Ende der er Jahre sogar höher als im Jahrzehnt zuvor, die Anzahl der Staatsbediensteten ebenfalls gewachsen. Denn die Wirtschaft wurde vor allem durch stark gestiegene Ausgaben im Rüstungs Latham, The Right Kind of Revolution, S. . Traditionelle Familienstrukturen waren gerade in konservativen Bundesstaaten im Rückzug begriffen. Courtwright, No Right Turn. Der »Liberalismus« transformierte sich in dieser Zeit eher, als dass er verschwand. Dazu Berry, The New Liberalism. Diese Skepsis gegenüber dem »revolutionären« Charakter der er Jahre u. a. bei Critchlow, The Conservative Ascendancy, S. ; Schulman/Zelizer, Introduction, S. ; Zelizer, Rethinking. Siehe Patterson, Restless Giant, S. ; Pierson, The Rise and Reconfiguration of Activist Government; Davies, Towards Big-Government Conservatism, S. .
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bereich stimuliert, Reagans Politik ist deshalb auch als »militärischer Keynesianismus« bezeichnet worden. Sozialleistungen wurden nicht im angekündigten Maße abgebaut, weil solche Schritte selbst in der konservativen Wählerschaft unpopulär waren, während die Steuersenkungen gleichzeitig die Staatseinnahmen schrumpfen ließen. Die Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten nahm damit Ausmaße an, die bis heute den Haushalt belasten. Der langfristige Erfolg der »konservativen Revolution« ist aus dieser Perspektive eher in der Umprägung zentraler Diskurse und Begriffe zu sehen. Fortan war es für Politiker in den USA kaum noch möglich, Steuererhöhungen zu fordern. verkündete mit Bill Clinton ein demokratischer Präsident in seiner State of the Union Address: »The era of Big Government is over.« Auch die Neuausrichtung der Außenpolitik hatte schon unter Carter begonnen und ließ sich zudem nicht so konsequent umsetzen wie angekündigt. Die europäischen Verbündeten der beiden Supermächte waren in »West« wie »Ost« nur noch sehr bedingt bereit, den neuen konfrontativen Kurs mitzutragen. Westeuropäische Regierungen hatten sich nur sehr zurückhaltend den neuen Sanktionen gegen die sozialistischen Staaten angeschlossen. Das sogenannte »Erdgasröhren-Geschäft« mit der Sowjetunion führte zur offenen Auseinandersetzung zwischen der deutschen Bundesregierung und der Reagan-Regierung. Die Verbündeten der Sowjetunion wollten sich schon aus ökonomischen Gründen nicht in den Konflikt der beiden Supermächte hineinziehen lassen. Besonders Ungarn hatte schon in den er Jahren auf die gescheiterten Bemühungen um eine »sozialistische Integration« im Rahmen des RGW mit einer stärkeren Hinwendung zum »Weltmarkt« reagiert. Der sowjetischen Strategie der »Binnenorientierung« setzte das Land jetzt eine Strategie der »Außenorientierung« entgegen ‒ trat Ungarn als erstes sozialistisches Land dem Weltwährungsfonds bei. Darüber hinaus war auch die Reagan-Regierung selbst nicht so homogen und ihre Politik nicht so konstant, wie es das Bild der »Reagan Revolution« suggeriert. Nicht alle ihrer Mitglieder vertraten »neo-globalistische« oder »neoliberale« Positionen. Auch innerhalb der Regierung lassen sich vielmehr unterschiedli Kaldor, The Imaginary War (), S. . Zusammenfassend Troy, The Reagan Revolution; Kritisch Hacker/Pierson, Off Center. Clinton, William J.: Address Before a Joint Session of the Congress on the State of the Union, . Jan. , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-before-joint-session-the-congress-the-state-the-union- (..). Siehe auch Farber, The Rise and Fall, S. ; Zelizer, Governing America, S. . Vgl. Lundestad, The United States and Western Europe, Kap. . Zum französischen Fall ausführlich Schotters, Frankreich und das Ende des Kalten Krieges. Der Begriff der »Außenorientierung« wurde vom Ökonomen András Köves geprägt. Köves, The CMEA Countries (). Dazu Germuska, Failed Eastern Integration. Pula, Globalization under and after Socialism verortet die Anfänge der Einbindung sozialistischer Volkswirtschaften in die »kapitalistische Globalisierung« bereits im »Reformsozialismus« der er Jahre ‒ die Sowjetunion verfolgte hier jedoch einen anderen wirtschaftspolitischen Kurs.
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che Weltdeutungen und politische Ansätze beobachten, die zu verschiedenen Zeitpunkten einflussreich werden konnten. Besonders Nixons ehemaliger Finanzminister George P. Shultz, der im Juli Alexander Haig als Außenminister abgelöst hatte, zog die manichäische Darstellung der Weltpolitik in Zweifel, die bisher die Rhetorik der Regierung Reagan dominiert hatte. Er bediente sich nun wieder stärker des Bildes einer verflochtenen Welt und betonte »globale Probleme«. Weniger als ein Jahr nach der Absage an alle Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung durch Reagan betonte Shultz im September in einer Rede vor den Vereinten Nationen, nur sehr selten ließen sich die Probleme der Welt mit Kategorien wie »richtig und falsch« oder »gut und böse« angemessen beschreiben. Die Aufgabe der Politik sei es vielmehr, zwischen zwei oder mehr Erklärungen und Lösungsmöglichkeiten zu vermitteln, die alle einen Anspruch auf Legitimität hätten. Auf dieser Grundlage seien die Vereinigten Staaten bereit, sich an dem Versuch zu beteiligen, die Probleme der Gegenwart zu lösen und gegen Chaos, Armut und die Gefahren ideologischer Konfrontation vorzugehen, die alle Bereiche des Globus und alle Aspekte des Lebens beträfen. Mitte sprach Shultz explizit von einer »interdependenten Welt«, von deren Ausgestaltung das Schicksal aller Länder abhänge und die internationale Kooperation unabdingbar mache. Gerade die »industriellen Demokratien« hätten eine besondere Verantwortung für die »Gesundheit der globalen Wirtschaft«. Doch bedeutete diese Diagnose für Shultz keine Rückkehr zu Vorstellungen der er Jahre vom »Management« globaler Zusammenhänge. Statt des Begriffs der Interdependenz, der die Wechselseitigkeit von Abhängigkeitsverhältnissen betonte, nutzte Reagans Außenminister nun primär einen anderen Begriff zur Beschreibung weltweiter Verflechtung, der mit anderen Konnotationen einherging ‒ das »Informationszeitalter«. Diesen Begriff hatte Shultz nicht erfunden, denn er war seit den er Jahren in Umlauf ‒ die Parallelen zur gleichzeitig nicht nur in der Sowjetunion stattfindenden Debatte über die »wissenschaftliche-technische Revolution« sind kaum zu übersehen. Daniel Bell hatte sich schon für seine These vom Anbruch des »post-industriellen Zeitalters« auf die Beobachtung gestützt, dass Informationsverarbeitung und Dienstleistungen wichtiger würden als materielle Produktion. Wenige Jahre später publizierte George McGovern, Präsidentschaftskandidat der Demokraten von , einen Beitrag in der New York Times, in dem er sich explizit mit dem »information age« auseinandersetzte und feststellte, der Konzern IBM werbe bereits mit diesem Slogan für seine Produkte. »Informationen« seien die wichtigste Ressource der US-Wirtschaft geworden, die Kon Shultz, George P.: US Foreign Policy: Realism and Progress, Address before the th UN General Assembly, New York, NY, September , , in: Shultz, George P. (Hrsg.): Issues on My Mind. Strategies for the Future, Stanford , S. -, hier: f. Shultz, George P.: On Learning from Experience: The Responsibility of the Democracies, Commencement Address at Stanford University, . Juni , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , Juli , Washington D. C. , -, hier: .
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trolle über ihre Erzeugung und Verbreitung sei jetzt eine zentrale Komponente staatlicher Macht, was sich im neuen Begriff der »information sovereignty« ausdrücke. Bereits hier wird deutlich, dass sich auch um den Begriff des »Informationszeitalters« politische und ideologische Debatten anlagerten. Denn die westliche Dominanz im Bereich der Informationen war ebenso herausgefordert worden wie die in der Weltwirtschaft. Auch hier schien in den er Jahren der Moment gekommen, eine neue internationale Ordnung zu errichten: hatten die Bündnisfreien Staaten eine »Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung« gefordert, um das Informationsmonopol des »Westens« und die Dominanz der dort angesiedelten Nachrichtenagenturen und Medienunternehmen über die »Weltmeinung« zu brechen. In den folgenden Jahren betrieben sie dieses Projekt im Rahmen der Vereinten Nationen und besonders der UNESCO. Letztlich ereilte die Neue Weltinformationsordnung jedoch das gleiche Schicksal wie das Projekt einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Die damit verbundenen Ziele ließen sich nicht durchsetzen, die Initiative führte vor allem zu einer weiteren Zuspitzung der Nord-Süd-Konfrontation: Im Dezember kündigten die Vereinigten Staaten, zwei Jahre später Großbritannien wegen des Konflikts um die Informationsordnung, wegen angeblicher finanzieller Verschwendung und einseitiger politischer Ausrichtung ihren Austritt aus der UNESCO an.
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An die Stelle der in diesen beiden Projekten angelegten Bemühungen um globale Planung und bewusste Gestaltung einer neuen Weltordnung war bei George Shultz das »Informationszeitalter« als Sinnbild einer »weltweiten Revolution« getreten. Er fasste technologische Entwicklungen im Bereich der »Mikrochip-Computer« und der Telekommunikation, ihre gesellschaftlichen Folgen, wachsende globale Vernetzung und die außenpolitischen Konsequenzen dieser Entwicklungen unter dem Schlagwort des »Informationszeitalters« zu einer umfassenden Gegenwartsdiagnose zusammen. Diese erinnerte durchaus an Zbigniew Brzezinskis These vom »technetronischen Zeitalter«. Beide Begriffe standen nicht nur für Veränderungen in der »technologischen Basis der globalen Wirtschaft«, sondern für eine grundlegende Transformation von nahezu jedem Aspekt des Lebens der Menschen überall auf der Welt. An die Stelle globaler kol-
Bell, The Coming of Post-Industrial Society (); McGovern, George: The Information Age, NYT, . Juni . Siehe Richter, Viele Stimmen – eine Welt (). Dazu Dinkel, Dekolonisierung und Weltnachrichtenordnung; Homberg, Die Mass Media Declaration. Die beiden Staaten traten der UNESCO beziehungsweise wieder bei, die USA wieder aus.
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lektiver Steuerung war aber auch bei Shultz die Förderung individueller Kreativität und Initiative getreten. Die »Reagan-Ära« lässt sich damit in mindestens zwei unterschiedliche Phasen unterteilen. Die Jahre bis waren von einer konfrontativen Rhetorik gegenüber der Sowjetunion und einer außenpolitischen Perspektive geprägt, die auf verschiedene internationale Problemlagen nicht mehr differenziert reagieren wollte, sondern deren Komplexität dadurch reduzierte, dass sie hinter nahezu allen Krisen der Welt den schädlichen Einfluss der Sowjetunion vermutete. Deren Expansionismus sollte durch neue Rüstungsprojekte und eine offensive, antikommunistische Politik in der »Dritten Welt« begegnet werden. Die zweite Phase zwischen und war dagegen von einer versöhnlicheren Rhetorik und einer neuen Annäherung an die Sowjetunion gekennzeichnet. Neben einem erneuten Wandel in der US-Außenpolitik im Zuge des »Reagan Reversal« spielte hier besonders die neue sowjetische Führung unter Generalsekretär Michail Gorbačev eine zentrale Rolle. Wie das folgende Kapitel zeigen wird, kam dem Begriff der »Interdependenz« entscheidende Bedeutung für die neue Weltdeutung der sowjetischen Führung zu. Denn die Diagnose einer verflochtenen und wechselseitig abhängigen Welt wurde jetzt zur Grundlage der Vision einer Umgestaltung der internationalen Politik. In den Vereinigten Staaten konnte »Interdependenz« ihren Status als zentralen Begriff der Gegenwartsdiagnostik jedoch auch in dieser neuen Entspannungsphase nicht mehr wiedererlangen. Denn die Zeit globaler Planungs- und Steuerungsversuche, mit denen dieser Begriff nach den politischen Turbulenzen der er Jahre assoziiert wurde, war nun vorüber. Obwohl die quantitative Zunahme und qualitative Veränderung von Prozessen globaler Interaktion und Verflechtung schon länger im Gange war und obwohl die hochmoderne Deutung solcher Entwicklungen schon seit Ende der er Jahre hinterfragt worden war, setzte sich erst Mitte der er Jahre mit der »Globalisierung« ein neuer Begriff durch, der diese Veränderungen auch sprachlich zum Ausdruck brachte.
. Neues Denken in der Sowjetunion ‒ Gorbačev und Interdependenz Für George Shultz ergab sich aus den »großen Veränderungen in der Weltwirtschaft« und der grundlegenden Transformation der Welt im »Informationszeitalter« die Notwendigkeit für alle Länder, sich an diese Entwicklungen anzupassen. Im April reiste der US-Außenminister nach Moskau und legte dort dem Generalsekretär der KPdSU Michail Sergeevič Gorbačev seine Sicht der Shultz, George P.: The Future of American Foreign Policy: New Realities and New Ways of Thinking. Secretary Shultz’s Statement before the Senate Foreign Relations Committee on January , , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , März , Washington D. C. , S. -, hier: . Diese Entwicklung beschreibt für Westeuropa auch Warlouzet, Governing Europe.
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Dinge dar. Wäre ein solcher Austausch drei bis vier Jahre vorher noch undenkbar gewesen, hatten sich die Rahmenbedingungen seither grundlegend verändert: Die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion hatten sich schon in Ansätzen, nach der Wahl Gorbačevs zum Generalsekretär im März noch weiter verbessert. Vor allem waren unter Gorbačev aber jene Experten in einflussreiche Positionen im Staats- und Parteiapparat aufgerückt, die sich schon in den er Jahren mit Fragen globaler Verflechtung auseinandergesetzt und daraus die Notwendigkeit internationaler Kooperation auch über Blockgrenzen hinweg abgeleitet hatten. Ab nutzte der neue Parteichef intensiv den Begriff der Interdependenz, um eine neue Rolle einer reformierten Sowjetunion in einer veränderten Welt zu begründen. Der Titel einer Rede Shultz’ von , New Realities and New Ways of Thinking, hätte mittlerweile auch als Überschrift für Gorbačevs weltpolitischen Ansatz stehen können. Die Notwendigkeit einer neuen Außenpolitik und der Reformbedarf der sowjetischen Ordnung waren jedoch nicht erst im März schlagartig ins Bewusstsein der sowjetischen Führung getreten. Schon Brežnevs Nachfolger Jurij Andropov hatte trotz der Verhärtung der sowjetischen Haltung gegenüber den USA erste Reformbemühungen unternommen und dabei die Bedeutung sozialwissenschaftlicher Expertise betont. Spezialisten für internationale Politik wie Fedor Burlackij legten jetzt (erneut) Vorschläge für einen Ausbau internationaler Kooperation vor. Während solche Reformanstrengungen unter Andropov meist nicht konsequent durchgehalten wurden und damit kaum greifbare Ergebnisse brachten, sollte eine einzige Personalentscheidung enorme Folgen zeitigen: rückte Michail Gorbačev, der mit Andropovs Unterstützung ZK-Sekretär für Landwirtschaft geworden war, als Vollmitglied ins Politbüro auf. Bereits während seiner Zeit als Parteisekretär in Stavropol hatte er sich für reformkommunistische Ansätze interessiert, eine Neuausrichtung der Agrarpolitik vorgeschlagen und Kontakte ins sozialistische wie nichtsozialistische Ausland geknüpft. Anfang der er Jahre hatte sich Gorbačev dann in Moskau regelmäßig mit einer Reihe von reformorientierten Experten für Wirtschaftsfragen und Außenpolitik wie Tatjana Zaslavskaja, Anatolij Černjaev, Georgij Šachnazarov oder Nikolaj Inozemcev getroffen und einen »Umbau« (perestrojka) des sowjetischen Wirtschaftssystems diskutiert. Diese Gedanken sollten Shultz, Turmoil and Triumph (), S. . Reč’ General’nogo sekretarja Central’nogo Komiteta KPSS Ju. V. Andropova Plenume CK KPSS ijunja goda, Pravda (), . Juni , S. f. Der von Andropov im Januar im ZK zurechtgewiesene Arbatov hatte schon im Mai seine Tätigkeit als dessen Berater wieder aufnehmen können. Arbatow, Das System (), S. . Burlackij, Nekotorye voprosy (). Zu Gorbačevs Biografie und Denken u. a. Brown, The Gorbachev Factor und Taubman, Gorbatschow. Zaslavskaya, Socialism with a Human Face (), S. ; Chernyaev, My Six Years with Gorbachev (), S. , ; Primakov, Učenyj, rukovoditel’, čelovek (); Arbatow, Das System (), S. -. Vgl. English, Russia and the Idea of the West, S. ff.
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im Frühjahr auf einem Sonderplenum des Zentralkomitees vorgestellt werden. Zu dieser Parteiversammlung kam es jedoch nicht mehr, da sich Andropovs Gesundheitszustand stark verschlechtert und die Gegner jeglicher Reformbemühungen damit wieder die Oberhand in der sowjetischen Führung gewonnen hatten. Um den Jahreswechsel / hatte in der Sowjetunion zudem die Angst vor einem Angriff der Vereinigten Staaten ihren Höhepunkt erreicht. Die NATO-Kommandoübung Able Archer interpretierte die sowjetische Führung im November als verdeckte Vorbereitung eines nuklearen Erstschlags und ließ sie im Rahmen der »Operation RJAN« sehr genau beobachten ‒ fast wäre genau dadurch versehentlich ein Nuklearkrieg ausgelöst worden. Als Andropov im Februar starb, folgte ihm Konstantin Černenko nach, der die innenpolitischen Reformansätze Andropovs nicht fortführte. Die sowjetischen Rüstungsausgaben wurden jetzt stark erhöht und die Propaganda gegen den »US-Imperialismus« intensiviert. Gleichzeitig war damit jedoch auch ein Wendepunkt in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen erreicht: Aufseiten der Vereinigten Staaten wird in der Zeit der höchsten Spannungen um die Jahreswende / das sogenannte »Reagan Reversal« verortet. Ab sofort betonte der Präsident eine mögliche Annäherung an die Sowjetunion rhetorisch stärker als den militärischen Wettbewerb. Diese Wende wird einerseits damit erklärt, dass Reagan selbst gar kein »Falke«, sondern ein Befürworter nuklearer Abrüstung gewesen sei und schon deshalb zum Missfallen mancher Berater auf die Forderungen der Abrüstungsbewegung reagiert habe. Ein zweiter Erklärungsstrang betont, dass der US-Präsident im Umfeld von Able Archer erkannt habe, wie sehr sich die sowjetische Seite durch die USA bedroht fühlte und wie gefährlich die Lage dadurch geworden war. Die sowjetische Führung beschloss ihrerseits im Herbst , sich den USA wieder stärker anzunähern und die Rüstungskontrollverhandlungen wieder aufzunehmen. Da Rüstungsfragen jedoch strittig und entsprechende Verhandlungen langwierig waren, empfahl sich zunächst der Themenbereich der »globalen Probleme« für erste vorsichtige Schritte der Wiederannäherung. In der Spannungsphase der frühen er Jahre war der Begriff von sowjetischer Seite vor Vgl. Schild, ; Jones, Able Archer . Zu Černenkos Position u. a. Aktual’nye voprosy ideologičeskoj, massovo-političeskoj raboty partii člena Politbjuro CK KPSS tovarišča K. U. Černenko na Plenume CK KPSS, Pravda (), . Juni , S. -. Siehe auch Arbatow, Das System (), S. . Dazu Fischer, The Reagan Reversal. So nicht ohne hagiografische Tendenzen Anderson/Anderson, Reagan’s Secret War; Mann, The Rebellion of Ronald Reagan. Siehe den Eintrag vom . Nov. in Brinkley (Hg.), The Reagan Diaries (), S. und Reagan, Erinnerungen (), S. . Vgl. Garthoff, The Great Transition, S. - und English, Russia and the Idea of the West, S. -, der allerdings den Umschwung in der sowjetischen Führung nicht im Herbst , sondern erst mit der Wahl Gorbačevs ansetzt.
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allem genutzt worden, um die eigene Politik in Kontrast zur aggressiven antisowjetischen Politik der USA zu stellen: Die amerikanische Aufrüstung hatte in dieser Darstellung die Gefahr eines nuklearen Weltkrieges ansteigen lassen; sie zu bannen, stelle die Grundlage der Lösung aller anderen Probleme der Menschheit dar. Im November betonte Generalsekretär Černenko dagegen wieder das große Potenzial der gemeinsamen Bearbeitung »globaler Probleme« wie Hunger und Umweltverschmutzung. Solche Kooperation könne als erster Schritt in Richtung »konstruktiver Entwicklungen in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen« dienen.
»Neue Denker« ‒ Gorbačevs Berater Auch wenn die Wiederannäherung der beiden Supermächte damit schon im Herbst begonnen hatte, stellte vor allem die Wahl Michail Gorbačevs zum Nachfolger des nach nur einem Jahr im Amt verstorbenen Černenko im März einen grundlegenden Umbruch dar. Denn um seine Macht im Staatsund Parteiapparat zu festigen und um seine Reformbemühungen institutionell zu verankern, begann Gorbačev bald, eine Reihe von Regierungs- und Parteiämtern neu zu besetzen. Im Juli wurde der seit amtierende Außenminister Andrej Gromyko von Eduard Ševardnace abgelöst, den Gorbačev schon seit den er Jahren kannte und der sich in den nächsten Jahren als entschlossener Unterstützter des neuen Kurses präsentierte. Gromyko, der Gorbačevs Wahl zum Generalsekretär vorangetrieben hatte, wurde nun Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets und erhielt damit eine zeremonielle Rolle als Staatsoberhaupt. Auch im Parteiapparat besetzte Gorbačev wichtige außenpolitische Positionen neu: Im März wurde Anatoly Dobrynin, seit Jahren Botschafter in Washington, Sekretär des ZK und als Nachfolger Boris Ponomarevs Leiter der Internationalen Abteilung. Auf der zweiten Ebene rückte eine Reihe von Wissenschaftlern und Parteikadern, die sich seit den er Jahren mit Fragen der Weltpolitik, Weltwirtschaft und insbesondere der wachsenden Interdependenz auseinandergesetzt hatten, in wichtige Beraterpositionen auf. Auffällig viele von ihnen hatten den Gruppen um Andropov und Ponomarev angehört und waren zu verschiedenen Zeitpunkten in der Internationalen Abteilung des ZK tätig. So etwa der sowjetische Vertreter G. N. Sukalin auf der UNESCO Generalkonferenz im Oktober . Dazu könne die kulturelle Arbeit der UNESCO entscheidend beitragen. Scharfer Widerspruch kam von der Delegation der Volksrepublik China. UNESCO Records of the General Conference, Twenty-Second Session, Proceedings Vol. , Paris , Fifth Plenary Meeting, . Okt. , S. , http://unesdoc.unesco.org/images///mo.pdf (..). Gwertzman, Bernard: Chernenko Urges Reagan to Return to an Era of Detente, NYT, . Nov. , S. A. Für unterschiedliche Versuche, die eigentlich unwahrscheinliche Wahl Gorbačevs zu erklären siehe English, Russia and the Idea of the West, S. 196 f.
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Anatoly Černjaev, dort bislang als stellvertretender Direktor für Nordamerika und Großbritannien zuständig, wurde beispielsweise im Februar als Nachfolger von Brežnevs altem Vertrauten Andreij Aleksandrov-Agentov außenpolitischer Berater des Generalsekretärs. Erster stellvertretender Direktor der Internationalen Abteilung war seit Vadim Zagladin, der sich ab den er Jahren intensiv mit »globalen Problemen« auseinandergesetzt hatte. wurde er ein enger Berater Gorbačevs und einer der wichtigsten Vordenker seiner Reformpolitik. Ivan Frolov, der mit Zagladin zu »globalen Problemen« gearbeitet hatte, wurde Redakteur der Zeitschrift Kommunist und Gorbačevs Berater in ideologischen Fragen, Chefredakteur der Pravda und ein Jahr später Vollmitglied des Politbüros. wurde auch Georgij Šachnazarov, zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Mitarbeiter der Internationalen Abteilung, von Gorbačev in seinen Beraterstab berufen, wo er ebenfalls eng an der Formulierung eines neuen außenpolitischen Ansatzes beteiligt war. wurde er in den ersten freien Wahlen als Abgeordneter in den Kongress der Volksdeputierten gewählt und war an der Erarbeitung der neuen sowjetischen Verfassung beteiligt. Neben ihm zogen auch Georgij Arbatov, Oleg Bogomolov und Fedor Burlackij in das neue Parlament ein. Letzterer war von Šachnazarov in die politische Arena zurückgeholt worden und beteiligte sich als Chefredakteur der Literaturnaja Gazeta intensiv an den politischen Debatten der Perestrojka-Zeit. Aleksandr Jakovlev hingegen war bis dahin nicht als Experte für internationale Fragen in Erscheinung getreten, allerdings ein guter Kenner der Vereinigten Staaten: Als einer der ersten Teilnehmer am neuen Austauschprogramm hatte er Ende der er Jahre an der Columbia University Geschichte studiert. Von bis leitete er die Propagandaabteilung des ZK. Wegen eines Artikels, in dem er den russischen Nationalismus kritisiert hatte, war er jedoch in Ungnade gefallen und als Botschafter nach Kanada abgeschoben worden. begleitete er Gorbačev auf dessen Kanada-Reise, der von dem Botschafter so beeindruckt war, dass er dafür sorgte, dass Jakovlev die Nachfolge des im Jahr zuvor verstorbenen IMEMO-Direktors Nikolaj Inozemcev antreten konnte. Unter seinem neuen Direktor blühte die Arbeit des Instituts auf, seine Analysten beschäftigten sich intensiv mit »westlichen« sozialwissenschaftlichen Studien und erarbeiteten Memoranda, die Reformen und Ost-West-Kooperation anmahnten. wurde Jakovlev Leiter der Propagandaabteilung des ZK und einer der Diese außenpolitischen Berater waren natürlich nicht die einzigen Vordenker der Perestrojka. Im wirtschaftlichen Bereich spielten etwa das Zentrale ökonomisch-mathematische Institut in Novosibirsk und sein Direktor Abel G. Aganbegjan eine wichtige Rolle. Als wichtigstes Buch aus diesem Zeitraum: Sagladin, Und jetzt Weltinnenpolitik (). Burlatsky, Khrushchev and the First Russian Spring (), S. . Jakovlev, Aleksandr N.: Protiv Antiistorizma, in: Literaturnaja Gazeta, . Nov. . Jakovlev, Muki pročtenija bytija (), S. , ; English, Russia and the Idea of the West, S. .
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wichtigsten Berater und Redenschreiber Gorbačevs im Bereich der internationalen Beziehungen, dann Vollmitglied des Politbüros. Sein Einfluss auf die Politik des Glasnost und der Perestrojka zeigt sich schon daran, dass er von russisch-nationalistischen Kreisen für die sowjetische »Kapitulation vor den Imperialisten« verantwortlich gemacht wurde. Am IMEMO folgte ihm der Arabist Evgenij Primakov als Direktor nach. Dieser hatte zunächst für die Pravda und den KGB gearbeitet, war ab am Institut tätig gewesen, hatte von bis die stellvertretende Leitung innegehabt und von bis dem Orient-Institut vorgestanden. Zu Gorbačevs Beraterkreis gehörte schließlich noch Georgij Arbatov, langjähriger Direktor des Instituts für USA- und Kanada-Studien. Schon weil so viele Wissenschaftler und Parteikader, die in den er Jahren zu internationalen Zusammenhängen gearbeitet hatten, unter Gorbačev in einflussreiche Positionen aufsteigen konnten, sieht die Forschung deren Milieu und Debatten in der Brežnev-Zeit als »Kinderstube« für die späteren Reformideen der Perestrojka. Ihre neue Perspektive auf die sowjetische Ordnung und auf internationale Fragen fassten sie in den er Jahren programmatisch unter dem Begriff des »neuen Denkens« (novoe myšlenie) zusammen. Entsprechend sind diese Akteure selbst in der Forschung als »neue Denker« bezeichnet worden. Die meisten der zwischen den er und er Jahren einflussreichen Experten und Berater waren in den er und er Jahren geboren und damit im »Tauwetter« politisch sozialisiert worden. Für Marie-Pierre Rey waren sie schon deshalb ideologisch weniger dogmatisch und einer Annäherung an den Westen gegenüber aufgeschlossener als ihre Vorgänger, die nach den stalinistischen Säuberungen der er Jahre Karriere gemacht hatten. Neben den Beratergruppen von Jurij Andropov und Boris Ponomarev, der Internationalen Abteilung des ZK und Forschungsinstituten wie dem IMEMO und dem ISKAN war auch die Reaktion der Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus in Prag ein zentraler Ort für die späteren »neuen Denker«. Ihre dortige Tätigkeit be Laut Ligačev, Inside Gorbachev’s Kremlin (), S. habe er fast jede wichtige außenpolitische Rede Gorbačevs vorbereitet. »Ostanovite Jakovleva«. Listovka-obraščenie Koordinacionnogo Soveta Patriotičeskogo Dvišenija »Pamjať« k plenumu Central’nogo Komiteta Kommunističeskoj Partii Sovetskogo Sojuža, Frühjahr , http://old.nasledie.ru/oborg/_//.htm (..). Kritik auch bei Achromeev/Kornienko, Glazami maršala i diplomata (), S. , . »New Thinkers« bei English, Russia and the Idea of the West, der diesen Personenkreis auch als »liberal policy-academic elite«, »Western-oriented liberals« oder schlicht »reformers« bezeichnet. Das Konzept des »neuen Denkens« u. a. bei Šachnazarov, Logika političeskogo myšlenija (). Vgl. dazu Lynch, Gorbachev’s International Outlook; Stephan/Sternin, Perestrojka, Glasnosť, Novoe myšlenie. Rey, The Mejdunarodniki, S. . Seit ihrer Gründung im März wurde diese Zeitschrift von einem sowjetischen Chefredakteur geleitet und in der Verantwortung der Internationalen Abteilung und der Abteilung für die Beziehungen zu den kommunistischen und Arbeiterparteien
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schreiben mehrere dieser Akteure als wichtige Phase ihrer intellektuellen Entwicklung: Denn die Zeitschrift erschien in mehreren Sprachen (auf Englisch als World Marxist Review), der Redaktion gehörten auch Journalistinnen und Journalisten aus verschiedenen Ländern an (entsandt unter anderem von den mittel- und osteuropäischen Kommunistischen Parteien, der KPF, der KPI und der Kommunistischen Partei Kubas). Durch sie kamen die sowjetischen Redaktionsmitglieder in Kontakt mit Reformideen des »Eurokommunismus« und des »Reformkommunismus«. Für Georgij Arbatov diente die Reaktion als »Barrikade« gegen die Attacken des (neuen) »Stalinismus«. Anatolij Černjaev beschrieb das multinationale Redaktionsteam später als eine dynamische und aktive Gruppe, die im Bereich der Ideologie diskussionsfreudig und offen für neue Ideen gewesen sei ‒ eine völlig »unsowjetische Umgebung«. Von der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings erhielten viele der späteren Gorbačev-Berater durch ihre persönlichen Kontakte nach Prag authentische, ungefilterte Berichte. Aleksandr Jakovlev war als offizieller Beobachter des ZK der KPdSU sogar selbst vor Ort gewesen und hatte wie Aleksandr Bovin erfolglos bei Brežnev protestiert. Elf sowjetische Redaktionsmitglieder, die sich ebenfalls gegen die Intervention ausgesprochen hatten, wurden zurück nach Moskau beordert. In den Autobiografien mehrerer dieser Akteure nehmen die Ereignisse von deshalb einen zentralen Ort als ›Erweckungserlebnis‹ ein. Sie hätten die Sinnlosigkeit aller Bemühungen um eine Reform des Sozialismus deutlich gemacht und zu einem inneren Bruch mit dem System geführt. Anatolij Černjaev und Georgij Arbatov etwa gaben rückblickend an, in den Jahren danach zu einer Art systeminternen »Dissidenten« geworden zu sein, die die kommunistische Ordnung der Sowjetunion zwar nicht offen bekämpft, jedoch von innen an ihrer grundlegenden Umgestaltung nach dem Vorbild der westeuropäischen Sozialdemokratie gearbeitet hätten. Besonders die zweite Hälfte der Brežnev-Zeit wird in diesem Narrativ zu einer dunklen Zwischenperiode der intellektuellen Konformität, von »geistiger Erstarrung«, »Stillstand« und »Unbeweglichkeit der sowjetischen Auslandsanalyse«. Den kritischen Intellektuellen sei es dagegen gelungen, in Forschungsinstituten, Beraterstäben und Redaktionen, kurz in »Oasen kreativen Denkens« zu »überwintern«, um dann in den
der sozialistischen Staaten des ZK der KPdSU herausgegeben. Unter den sowjetischen Mitgliedern sind besonders Anatolij Černjaev (-), Georgij Arbatov (), Vadim Zagladin (-), Ivan Frolov (-, -) und Georgij Šachnazarov (- und -) hervorzuheben. Arbatow, Das System (), S. . Černjaev, Moja žizn’ i moe vremja (1995), S. 225-236 und Interview in English, Russia and the Idea of the West, S. 72. Avgust -go, Izvestija, . Aug. ; Kto priglasili v Pragu Sovetskie tanki?, Izvestija . Juli , S. und Interview mit Bovin in Bez illjuzii, Sobesednik (). Siehe das Interview mit Vladimir Lukin in Tatu, Les Élites Russes, S. f. Černjaev, Moja žizn’ i moe vremja (1995), 238 f. sowie Arbatow, Das System (1993), S. 266 f. Weitere Belege bei English, Russia and the Idea of the West, S. 102. Duda, Jenö Varga, S. .
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er Jahren über den Abgrund dieser »Zeit der Stagnation« hinweg eine »intellektuelle Brücke« vom XX. Parteitag zur Perestrojka zu schlagen. Diese Deutung ist sicher nicht ganz von der Hand zu weisen. Es wäre jedoch zu vereinfachend, den wachsenden Einfluss dieser Experten als »Aufstieg der pro-westlichen Intellektuellen« im sowjetischen Establishment zu bezeichnen. Denn dafür waren ihre ideologischen Einstellungen und Weltdeutungen zu heterogen, eine einheitliche Gruppe der »neuen Denker« existiert nur als Ex-postKonstruktion. Bei aller kritischen Auseinandersetzung mit der »orthodoxen« Ideologie der er Jahre ist gegen die spätere Darstellung als »systeminterne Dissidenten« doch einzuwenden, dass ihre Tätigkeit in Forschungsinstituten und ZK-Abteilungen diesen Akteuren gerade in der Zeit ihrer »intellektuellen Überwinterung« Privilegien einbrachte, die sie von der großen Masse der Sowjetbürger, aber auch von anderen Mitgliedern des Staats- und Parteiapparates abhoben: Sie konnten teils extensive Auslandsreisen unternehmen, hatten Zugang zu Konsumgütern und westlichen Medien. Wer sich weniger explizit und öffentlichkeitswirksam kritisch äußerte als etwa der Physiker Andrej Sacharov, der nach Gorki verbannt wurde, konnte auch in der Brežnev-Zeit gewisse Spielräume des Sagbaren nutzen. Entgegen ihrem geläufigen Bild als Ära der ideologischen »Stagnation« weiteten sich solche Spielräume in den er Jahren mitunter sogar aus. Intensive Debatten in den sowjetischen Sozialwissenschaften lassen sich in dieser Zeit besonders im Rahmen der Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung und deren wirtschaftlichen wie politischen Folgen beobachten. Bis Mitte der er Jahre musste in entsprechenden Arbeiten auf den vom Marxismus-Leninismus gesteckten Rahmen Rücksicht genommen werden. Autoren, die sich konformer Konzepte wie der »wissenschaftlich-technischen Revolution« und »globaler Probleme« bedienten, konnten so jedoch auch Diagnosen einer gewandelten Welt äußern und eine Anpassung des theoretisch-begrifflichen Instrumentariums der sowjetischen Wissenschaften einfordern. Aus solchen »objektiven Prozessen« abgeleitete Handlungsempfehlungen ‒ eine weitere Annäherung an den »Westen« und eine stärkere Integration der Sowjetunion in weltwirtschaftliche und weltpolitische Strukturen ‒ konnten jedoch erst unter Gorbačev politisch wirkmächtig werden.
Gemeinsames Haus Europa und globale Interdependenz Ab Mitte der er Jahre wurden Experten, die sich in Forschungsinstituten und ZK-Abteilungen in den er und er Jahren mit Fragen weltweiter Interdependenz auseinandergesetzt hatten, in politische Ämter und Beratergre Arbatow, Das System (), S. , -. Dockrill, The End of the Cold War, S. . Dazu Brown, Political Science in the USSR, S. und allgemein Belge/Deuerlein (Hg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation?.
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mien berufen. Damit wurden die in den zwei Jahrzehnten zuvor entwickelten Weltdeutungen und politischen Handlungsempfehlungen nun zur Grundlage eines neuen Ansatzes in Innen- wie Außenpolitik. Gemeinsam war den »neuen Denkern«, dass sie eine Reform des Marxismus-Leninismus sowie der Strukturen und Politik der Sowjetunion anstrebten. Gorbačev und seine späteren Berater hatten schon in den er Jahren eine Reihe von Problemen diagnostiziert. Anfang der er Jahre vertiefte sich ihre Überzeugung noch weiter, dass die sowjetische Planwirtschaft reformiert und das Verhältnis des Landes zur Welt neu ausgerichtet werden müsse. Denn neben den durch die wieder sinkenden Rohstoffpreise befeuerten wirtschaftlichen Schwierigkeiten zeigten aus ihrer Sicht die politischen Unruhen in Polen und die wachsende Verschuldung der sowjetischen Verbündeten die Notwendigkeit von neuen Ansätzen auf. Die Spannungen mit den USA führten vor Augen, dass ein erneuter Rüstungswettlauf nicht nur gefährlich, sondern aus technologischen Gründen kaum zu gewinnen und vor allem nicht zu bezahlen war. Die dafür notwendigen Mittel ließen sich aus Sicht der Reformer besser für eine Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft einsetzen. Umstritten ist in diesem Zusammenhang jedoch bis heute, ob die Sowjetunion schon seit den er Jahren unter existenzbedrohenden ökonomischen und sozialen Problemen litt, oder ob es erst diese Problemdiagnostik der »neuen Denker« und ihre darauf auf bauenden Reformbemühungen waren, die die sowjetische Ordnung entscheidend destabilisierten. Denn wie eine Umgestaltung der sowjetischen Ordnung genau zu erreichen war, blieb auch unter den Reformern umstritten. Ihre Sichtweisen veränderten sich im Laufe der er Jahre immer wieder, nach Gorbačevs Wahl wurden verschiedene Ansätze ausprobiert. Am Anfang stand eine Phase des vorsichtigen Herantastens: Das unter Jurij Andropov geprägte Konzept der »Beschleunigung« (uskorenie) sowie die damit verbundenen Reformbemühungen wurden jetzt wieder aufgegriffen. In dieser Zeit ging es vor allem darum, die Probleme des Landes offen anzusprechen, die Errungenschaften der wissenschaftlich-tech Die sozialwissenschaftliche Forschung hat diese Veränderung zunächst der Weltsicht und dann der Politik der sowjetischen Führung vor allem mit den Konzepten des »Lernens« und einer sich verändernden »Identität« zu fassen versucht, was in den er Jahren die Bedeutung von »Ideen« und konstruktivistischer Ansätze in der Theorie der internationalen Beziehungen aufgewertet hat. Siehe etwa Risse-Kappen, Ideas do not Float Freely; Checkel, Ideas and International Political Change; Evangelista, Unarmed Forces; English, Russia and the Idea of the West, S. -. Die Motive dafür waren vielfältig und können hier nicht im Detail behandelt werden. Für einen bis heute nützlichen Überblick vgl. Segbers, Der sowjetische Systemwandel. Siehe etwa die Materialien zur gegenwärtigen und zukünftigen ökonomischen Entwicklung der Sowjetunion aus den Jahren / in Gorbačev-Fond, Fond : Materialy A. S. Černjaeva. Baberowski, Criticism as Crisis hat argumentiert, erst die Reformversuche Gorbačevs hätten eine solche existenzbedrohende Krise ausgelöst. Widerspruch bei Hildermeier, »Well Said is Half a Lie«, eine Replik darauf bei Baberowski, »Badly Said is Badly Lied«.
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nischen Revolution für die sowjetische Wirtschaft nutzbar zu machen und so deren Effizienz zu steigern, ohne dabei das sowjetische System wirklich grundlegend umzugestalten. In diesen Kontext gehörten Kampagnen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität oder gegen Alkoholmissbrauch. Dabei setzte sich jedoch in der neuen Führung zunehmend der Eindruck durch, dass Andropov gescheitert war, weil er sich nicht von »alten Ideen und Werten« befreit hatte und dass insgesamt die Probleme des Landes nicht systemimmanent zu lösen waren. Ab Mitte stand dann unter dem Schlagwort der »Perestrojka« ein tiefgreifenderes Reformprogramm auf der Tagesordnung. Auch radikalere Reformer wie Aleksandr Jakovlev wollten zwar die Grundlage des Marxismus-Leninismus nicht verlassen, strebten aber einen tiefgreifenden Bruch mit seiner bisherigen dogmatischen Interpretation an, die »vom Teufel geprägt« sei und »alle kreativen und auch klassischen Gedanken« verderbe. In einem einflussreichen Memorandum legte Jakovlev im Dezember dar, zum »echten Sozialismus« gelange man nur »über die Marktwirtschaft, über freie, unzensierte Informationsströme und ein normales Rückkoppelungssystem«. Deshalb sollte die sowjetische Planwirtschaft durch die Integration von Wettbewerbs-Elementen belebt werden. Als Voraussetzungen für ökonomische Reformen wurden jetzt eine Öffnung in der Gesellschaftspolitik, ein freierer Fluss von Informationen und eine Lockerung der Zensur gesehen, die insgesamt in eine Politik der »Transparenz« (glasnosť) münden sollten. Denn auch für Jakovlev war »Information das Hauptgut der Weltwirtschaft« geworden. Die »Herstellung von Mitteln der Informatik« werde sich zur »Lokomotive der Wirtschaft« entwickeln. Aus solchen Überzeugungen ergab sich neben einer ganzen Reihe wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformansätze auch eine grundlegende Neuausrichtung der »Philosophie« der sowjetischen Außenpolitik. Dieser Umdenkprozess speiste sich zum Teil aus der Interaktion mit US-amerikanischen Weltdeutungen: In ihrem sechs Jahre nach dem Ende der Sowjetunion gemeinsam verfassten Buch Das neue Denken. Politik im Zeitalter der Globalisierung zitieren Gorbačev, Zagladin und Černjaev unter anderem Henry Kissinger als zentrale Inspirationsquelle. Er habe die »Ganzheit der Welt« und die wechselseitige Abhängigkeit aller Staaten »bei all ihren Unterschieden und ihrer individuellen Ausprägung« Siehe etwa Gorbatschow, Mikhail S.: Zur Einberufung des XXVII. Parteitags der KPdSU und zu den mit seiner Vorbereitung und Durchführung verbundenen Aufgaben. Rede auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU, . April , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Februar – Oktober , Berlin (Ost) , S. -. Noch das Parteiprogramm vom März machte die Nutzung der »Früchte der WTR« zur entscheidenden Frage des »gegenwärtigen sozi-ökonomischen Kampfes«. Gorbačev, Žizn’ i reformy, tom (), S. . GARF, fond , op. , d. , zit. in: Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts (), S. -. Ševardnadse, Moj vybor (), S. , .
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als einer der ersten »anerkannt« und als einen »zentralen Faktor der Diplomatie« ernst genommen. Georgij Šachnazarov verfolgte entsprechende Arbeiten und Projekte im »Westen« genau und stand mit Richard Falk in Korrespondenz über dessen World Order Models Project. Georgij Arbatov tauschte sich im Rahmen der Palme-Kommission zwischen und über Fragen der Abrüstung und andere »globale Probleme« aus. Gleichzeitig musste die sowjetische Führung jedoch nicht erst von »westlichen« Experten oder gar vom amerikanischen Außenminister über die Veränderung der Welt und deren Folgen aufgeklärt werden. George Shultz’ These vom »Informationszeitalter« mag aus ihrer Sicht nicht viel anders geklungen haben als die »wissenschaftlich-technische Revolution«. Denn mit Personen wie Vadim Zagladin hatte Gorbačev in seinem unmittelbaren Umfeld Experten, die bereits seit zwei Jahrzehnten an außenpolitischen Forschungsinstituten wie dem IMEMO und im Apparat des Zentralkomitees über Fragen weltweiter Verflechtung nachgedacht hatten. Ein Bewusstsein für deren Bedeutung wurde jedoch nicht erst durch seine Berater an den Generalsekretär herangetragen. Gorbačev berichtete Mitte der er Jahre, er habe die sowjetischen Arbeiten zu »globalen Problemen« bereits seit Jahren verfolgt. In den ersten beiden Jahren von Gorbačevs Amtszeit lässt sich und vor allem eine Veränderung der Weltdeutung und der entsprechenden Semantik beobachten. Bis Mitte der er Jahre hatten sowjetische Kommentatoren die wörtliche Übersetzung des englischen Begriffs der »interdependence« nur in Anführungszeichen genutzt und die damit implizierte Schlussfolgerung, auch sozialistische Staaten könnten von kapitalistischen »abhängig« sein, entschieden zurückgewiesen. Im Mai sprach Gorbačev dann jedoch erstmals von »vzaimozavisimosť«, der weltweiten »wechselseitigen Abhängigkeit« von Staaten, ohne räumliche oder ideologische Einschränkungen. Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit einer »neuen Denkweise« und einer neuen Politik. Diese Entwicklung könne aber auch zu einem »mächtigen Stimulus für die Herstel-
Gorbatschow/Sagladin/Tschernjajew, Das neue Denken (), S. f. Die Rede auf die hier Bezug genommen wird, ist vermutlich The Global Challenge and International Cooperation, Address by Secretary Kissinger, . Juli , in: Department of State Bulletin, Vol. , No. , . Aug. , Washington D. C. , S. -. Gorbačev-Fond, Moskau (GF), fond : Materialy G. Ch. Šachnazarova, -, , Materialy k proektu The Coming Global Civilization. S soprovoditel’nym pis’mom Ričarda Falka, ; Arbatow, Das System (), S. -. Frolov, Ivan: Vokrug sensacij i bez nee, Moskovskii Komsomol’ec, . Jan. . Zu den Arbeiten der er Jahre siehe Kapitel .. Erklärung auf der Pressekonferenz im Sowjetischen Pressezentrum in Genf, . Nov. , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Oktober – Juli , Berlin (Ost) , S. -, hier: . Im Original Gorbačev, Michail S.: Vystuplenie na press-konferencii v Sovetskom press-centre v Ženeve, nojabrja g., in: Gorbačev, Michail S. (Hrsg.): Izbrannye reči i staťi, tom , Moskva , S. -, hier: .
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lung stabiler, normaler, ja, ich fürchte mich nicht zu sagen, freundschaftlicher Beziehungen« zwischen den USA und der Sowjetunion werden. Ende lässt sich besonders bei den Vorbereitungen für Gorbačevs programmatische Rede auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU ein gradueller Wandel der Weltdeutung der sowjetischen Führung beobachten. Der Generalsekretär und seine Berater verabschiedeten sich jetzt von der alten, »ideologischen, klassen-basierten Mythologie« und ließen Vorstellungen einer in zwei »Lager«, zwei »Weltmärkte« oder in sozialistische, kapitalistische und sich entwickelnde Länder aufgeteilten Erde hinter sich. Für Aleksandr Jakovlev, den wichtigsten Autor dieser Rede, dienten die alten »Klischees über den Imperialismus und […] den gesetzmäßigen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus« jetzt nur noch dazu, neue Aussagen und Begriffe zu »maskieren«. Der Schlüsselsatz war für ihn dagegen ein anderer: »Schwer, gewissermaßen wie durch ein Abtasten, fügt sich die widerspruchsvolle, aber voneinander abhängige, in vielem ganzheitliche Welt zusammen.« Damit hatte nun Gorbačev an denkbar prominenter Stelle die Diagnose einer in »wechselseitigen Abhängigkeiten zusammengehörigen« Welt vertreten. Im Jahr standen Elemente des »alten« und des »neuen« Denkens dabei noch nebeneinander: Die »erstarkende Tendenz zur wechselseitigen Abhängigkeit der Staaten der Weltgemeinschaft« und der »Wettstreit der zwei Systeme« spielten sich für Gorbačev noch gleichzeitig ab. Auch die in seiner Rede vor dem XXVII. Parteitag im Februar beschworene Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit zur Lösung »globaler, die gesamte Menschheit betreffender Probleme« war gleichzeitig eine Aufforderung zu neuer Ost-West-Kooperation und ein Argument im Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten. Denn noch dienten solche »globalen Probleme« vor allem dazu, die eigene, »fortschrittliche« Haltung in Kontrast zur Politik der Vereinigten Staaten zu setzen, die noch in den alten Denkweisen des »Kalten Krieges« verhaftet sei. Denn die Einstellung des Wettrüstens ‒ nach sowjetischer Darstellung nur vom Einlenken des »rechte[n] Flügel[s] der Monopolbourgeoisie der USA« abhängig ‒ sei die unabdingbare Voraussetzung für die Lösung von Problemen wie der »Zerstörung der Umwelt« oder
Rede bei einem Essen im Kreml während der Jahresversammlung des amerikanischsowjetischen Handels- und Wirtschaftsrates, . Dez. , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Oktober – Juli , Berlin (Ost) , S. -, hier: . Chernyaev, My Six Years with Gorbachev (), S. f. Vgl. dazu Garthoff, The Great Transition, S. f., . Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts (), S. . Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, . Feb. , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Oktober – Juli , Berlin (Ost) , S. -, hier: f., . Die Übersetzung dort etwas anders als bei Jakovlev.
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dem »Kampf gegen ökonomische Rückständigkeit, Hunger und Krankheiten«. Mit der Diagnose einer einheitlichen, verflochtenen Welt, deren Teile wechselseitig voneinander abhängig waren, hatte Gorbačev jedoch eine neue Dynamik bei der Umgestaltung der außenpolitischen Strategie der Sowjetunion in Gang gesetzt. Aus der Rückschau gab der Generalsekretär an, er und seine Berater hätten noch nicht verstanden, dass die Betonung von Verflechtung und Interdependenz letztlich bedeutete, dass die gesamte marxistisch-leninistische Vorstellung von Klassenkämpfen als Motor historischer Entwicklung überholt war. Weil sie internationale Spannungen und insbesondere die militärische Rivalität zwischen »Ost« und »West« jedoch nicht nur als eine enorme Belastung der sowjetischen Finanzen, sondern auch als das zentrale Hindernis auf dem Weg zu einer Neuordnung der internationalen Beziehungen betrachteten, begannen die Reformer um Gorbačev mit einer grundlegenden Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik. Deren Ziel war dabei nicht nur eine Neubelebung der Entspannung und die Freisetzung von Ressourcen für innenpolitische Reformbemühungen. Es ging Gorbačev und seinen Beratern jetzt auch darum, eine neue und tragfähigere Rolle für die Sowjetunion in der Weltpolitik zu definieren, ja sie in den »gemeinsamen Strom der Weltzivilisation« wiedereinzugliedern. Zentrale Schlagwörter dieser neuen außenpolitischen Strategie waren im regionalen Maßstab das »gemeinsame Haus Europa«, im globalen Maßstab die »Interdependenz«. Der Begriff des »gemeinsamen Hauses« war bereits von Gro Erklärung des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, . Jan. , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Oktober – Juli , Berlin (Ost) , -, hier: f. und Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, . Feb. , in: ebd., S. -, hier: und f. sowie Rede im Haus der sowjetischen Wissenschaft, Kultur und Kunst während eines Treffens mit Funktionären der Indisch-Sowjetischen Kulturgesellschaft und der Gesellschaft der Freunde der Sowjetunion, . Nov. , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Juli – April , Berlin (Ost) , S. -. Gorbatschows Sicht auf »globale Probleme« auch in Realität und Garantien einer sicheren Welt. Artikel in der Prawda, . Sept. , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : April – Dezember , Berlin (Ost) , S. -. Gorbačev, Doverie–vektor sovremennoj žizni (), S. . Siehe u. a. Gorbatschow, Mikhail S.: Für eine Welt ohne Kernwaffen, für Humanität in den internationalen Beziehungen: Rede im Kreml vor den Teilnehmern des internationalen Forums »Für eine Welt ohne Kernwaffen, für das Überleben der Menschheit«, . Februar , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Juli – April , Berlin (Ost) , S. -. Zentral für eine neue außenpolitische Herangehensweise war Georgij Arbatovs Memorandum K konceptsii vnešnej politiki na sovremennom etape, April , zit. in English, Russia and the Idea of the West, S. f. Gorbachev, The Crimea Article (), S .
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myko und Brežnev gelegentlich genutzt worden, Gorbačev griff ihn erstmals auf. In den folgenden Jahren wurde er von ihm und seinen Beratern ‒ insbesondere Vitalij Šurkin, dem Direktor des gegründeten Europainstituts der Akademie der Wissenschaften ‒ zu einem zentralen Begriff aufgebaut. Dahinter stand die Idee, dass ein vom Atlantik bis zum Ural reichendes Europa als ein in vielen Aspekten zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden sollte, auch wenn es weiterhin von verschiedenen politischen »Blöcken« und »sozio-ökonomischen Systemen« geprägt war. Zu den Schritten, die notwendig seien, um diesem Ziel näher zu kommen, gehöre der Abbau konventioneller und nuklearer Waffensysteme in Europa, innerhalb des ›eigenen‹ »Blocks« der Verzicht auf »Einmischung in innere Angelegenheiten«, mithin die Abkehr von der »Brežnev-Doktrin«. Gleichzeitig bemühte sich die sowjetische Führung jetzt noch einmal, den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe zu einer wirklichen Institution der »sozialistischen Integration« auszubauen, die der EWG als gleichwertiger Kooperationspartner gegenübertreten konnte ‒ nahmen die beiden Organisationen diplomatische Beziehungen auf. Im globalen Maßstab wurde die Vorstellung einer interdependenten Welt ab zur konkreten Grundlage einer neuen sowjetischen Außenpolitik. Gorbačev erklärte, die »Ganzheit« der Welt sei durch »ökonomische wie auch politische,
Siehe etwa Gorbatschow, Mikhail S.: Rede vor den Mitgliedern des Parlaments von Großbritannien, . Dez. , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Februar – Oktober , Berlin (Ost) , S. -; Gorbatschow, Mikhail S.: Rede auf der Kundgebung der tschechoslowakisch-sowjetischen Freundschaft, . April , in: ebd., Band : Juli – April , Berlin (Ost) , -; Gorbatschow, Das gemeinsame Haus Europa (); Shurkin, Großbaustelle Europa (). Vgl. dazu Rey, »Europe is our Common Home«. Siehe etwa Von Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets und Generalsekretär der KPdSU Michail S. Gorbatschow am . Juni in Bonn unterzeichnete Gemeinsame Erklärung, in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Gorbatschow in Bonn. Die Zukunft der deutsch-sowjetischen Beziehungen: Reden und Dokumente vom Staatsbesuch, Köln , S. -. Ansprache des Generalsekretärs des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Michail Gorbatschow, vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg am . Juli , Europa-Archiv (), Folge , S. D-. Auf seiner . Außerordentlichen Sitzung im Oktober beschloss der Rat des RGW, »einen neuen Integrationsmechanismus zu entwerfen«, der auf die Gründung eines RGW-Binnenmarkts zielte. Brabant, Renewal of Cooperation, S. . An solchen Reformen hatten jedoch nicht alle Mitgliedsstaaten Interesse, Rumänien lehnte sie rundheraus ab, Ungarn gingen sie schon nicht mehr weit genug. Vor allem gab es aber kein eigenes Preissystem oder eine konvertierbare Währung, die eine wirkliche Zusammenarbeit zwischen Unternehmen aus verschiedenen Staaten ermöglicht hätten. Am . Juni löste sich der Rat in Budapest offiziell auf. Vgl. auch Korbonski, CMEA; Dangerfield, Sozialistische Ökonomische Integration, S. f.; Kansikas, Socialist Countries.
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militärische, ökologische« und andere Umstände »objektiv bedingt«. Was bis dahin aus ideologischen Gründen nur mit dem Konzept der wissenschaftlichtechnischen Revolution begründet werden konnte, leitete der Generalsekretär nun aus globaler Verflechtung und Interdependenz her: Die »objektive« Veränderung der materiellen »Basis« erzwinge eine Anpassung des »Überbaus«, mithin eine neue internationale Politik. Auch »globale Probleme« wurde nun umgedeutet: Der Begriff diente ab dazu, die Notwendigkeit der »Steuerung« weltweiter Interdependenz zu betonen, die sich aus sowjetischer Sicht eben nicht nur aus der »Internationalisierung im Wirtschaftsleben« und den »mächtigen Mittel[n] der Information und Kommunikation« ergab, sondern auch aus der gemeinsamen »Gefahr eines nuklearen Todes, einer ökologischen Katastrophe sowie eines globalen Ausbruchs der Widersprüche zwischen Armut und Reichtum«. Den Dialog zwischen »Ost« und »West« stellte Gorbačev im Februar damit als unausweichliches »Gebot der Zeit, Ausdruck der Interdependenz der Welt« dar. Im Dezember zeichnete er vor den Vereinten Nationen das Bild eines »neuen internationalen Systems« und beschwor die »Einheit« der Welt in »Vielfalt« sowie die Notwendigkeit, gemeinsam »Globalprobleme« wie die Unterentwicklung anzugehen. Auch Sicherheit sei nur noch »gemeinsam, noch präziser ausgedrückt, allgemein denkbar«. Denn in einer »Epoche wachsender wirtschaftlicher und politischer Interdependenz« seien »alle Völker wie eine Seilschaft am Berghang«, die nur gemeinsam zum Gipfel emporklimmen oder gemeinsam abstürzen könne. Die Reaktionen im »Westen« auf die Beteuerungen Gorbačevs, innen- wie außenpolitisch einen völlig neuen Kurs verfolgen zu wollen, waren anfangs jedoch Rede anläßlich eines Frühstücks zu Ehren des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der PV AP und Vorsitzenden des Staatsrates der VR Polen, Wojciech Jaruzelski, im Großen Kremlpalast, . April , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : April – Dezember , Berlin (Ost) , S. -, hier: . Gorbatschow, Mikhail S.: Für eine Welt ohne Kernwaffen, für Humanität in den internationalen Beziehungen: Rede im Kreml vor den Teilnehmern des internationalen Forums »Für eine Welt ohne Kernwaffen, für das Überleben der Menschheit«, . Feb. , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Juli – April , Berlin (Ost) , S. -, hier: , ; Antworten auf Fragen der Redaktion der Zeitung »l’Unità«, . Mai , in: ebd., Band : April – Dezember , Berlin (Ost) , S. -, hier: . Gorbatschow, Mikhail S.: »Für eine neue Qualität der internationalen Beziehungen«. Rede vor der UNO in New York am . Dezember , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Glasnost. Das neue Denken, Berlin , S. -. Dazu auch Garthoff, The Great Transition, S. ; Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. . Antworten auf die Fragen des USA-Journalisten J. Kingsbury-Smith, . Januar , in: Gorbatschow, Mikhail S. (Hrsg.): Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band : Juli – April , Berlin (Ost) , S. -, hier: und Rede auf der Kundgebung der tschechoslowakisch-sowjetischen Freundschaft, . April , in: ebd., S. -, hier: . Der Gedanke der »gemeinsamen Sicherheit« erstmals in Šachnazarov, Logika političeskogo myšlenija ().
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noch sehr zurückhaltend ausgefallen. Besonders in den USA gingen Beobachter davon aus, Gorbačev wolle das eigene System nicht wirklich umgestalten oder eine neue Rolle für die Sowjetunion in der Weltpolitik finden, sondern vor allem die Last des Wettbewerbs mit dem »Westen« reduzieren. Francis Fukuyama interpretierte die neue sowjetische Politik in der »Dritten Welt« als Versuch, den eigenen politischen Einfluss zu wahren, die Kosten der »Entwicklung« aber den kapitalistischen Staaten aufzubürden. Die Rhetorik von einem »gemeinsamen Haus Europa« sahen Skeptiker als Versuch, weitere Unruhen in Osteuropa zu vermeiden und die USA aus der europäischen Politik zu verdrängen. Eine neue Annäherung zwischen der Sowjetunion und den USA kam damit nur langsam in Gang: Im November waren Gorbačev und Reagan in Genf erstmals persönlich aufeinandergetroffen. Bei ihrem zweiten Zusammentreffen machte Gorbačev im Oktober weitreichende Abrüstungsvorschläge, auf die sich der US-Präsident fast eingelassen hätte. Letztlich waren die Positionen zu strittigen Fragen allerdings doch noch zu unterschiedlich. Gleichwohl brachte der Gipfel in Reykjavik eine neue Dynamik in die Rüstungskontrollverhandlungen: Im Dezember konnte mit dem INF-Vertrag ein Verbot nuklear bestückter Kurz- und Mittelstreckenraketen erreicht werden. Erleichtert wurde diese Annäherung zwischen »Ost« und »West« jetzt durch den starken Rückbau des sowjetischen Engagements in der »Dritten Welt«. Dadurch sollten nicht nur für innenpolitische Reformen und eine Verbesserung der Lebenssituation der sowjetischen Bürger dringend benötigte Mittel freigesetzt, sondern auch der eigene Reformwille demonstriert werden. Alle Probleme der sowjetischen Außenpolitik schienen dabei in Afghanistan zusammenzukommen: Der Kampf gegen die Mudschahedin kostete nicht nur Geld und Menschenleben, sondern trieb unter anderem auch den Drogenkonsum in der Sowjetunion selbst nach oben. Im Mai begann der Abzug der sowjetischen Truppen. Dazu Chernyaev, My Six Years with Gorbachev (), S. f. Fukuyama, Gorbachev and the Third World (), S. . Siehe Svec, The Prague Spring (); Malcolm, The »Common European Home« (). Zur Rüstungskontrolle in dieser Zeit FitzGerald, Way out There in the Blue. Flankiert wurden diese Schritte von einem Wandel der sowjetischen Militärstrategie von einer Offensivdoktrin zu einer Strategie der Abschreckung. Vgl. Garthoff, The Great Transition, S. ; Heuser, Victory in a Nuclear War?. Zu Widerständen aus dem sowjetischen Militär Achromeev/Kornienko, Glazami maršala i diplomata (), S. . Dazu Urban (Hg.), Moscow and the Global Left; Westad, The Global Cold War, S. -; Savranskaya, Gorbachev and the Third World. Er war im Februar abgeschlossen. Die neue sowjetische Führung konnte langjährige Verbündete jedoch auch nicht einfach fallen lassen, schon um ihren globalen Einfluss nicht völlig aufzugeben. Sie drängte deshalb in Fällen wie Afghanistan und Nicaragua auf eine Politik der »nationalen Versöhnung«. Siehe Černjaev, Šesť let s Gorbačevym (), S. , . Zu den innenpolitischen Folgen Sapper, Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges. Der sowjetische Rückzug aus Afghanistan ist gut erforscht, vgl. u. a. Cordovez, Out of Afghanistan; Mendelson, Changing Course.
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Dabei bezog sich die ab von Gorbačev vorangetrieben Integration der Sowjetunion als »normales Mitglied« in die internationale Gemeinschaft nicht nur auf politische, sondern auch auf ökonomische Fragen. Zentraler Aspekt des Reformprogramms war die Übernahme marktwirtschaftlicher Elemente, auch wenn dadurch der Sozialismus keinesfalls aufgegeben werden sollte. Im internationalen Bereich lief die Reformpolitik auf eine stärkere Einbindung der Sowjetunion in den kapitalistischen Weltmarkt hinaus. Die sowjetische Führung bemühte sich, den Handel mit dem »Westen« zu intensivieren und hoffte (erneut), in den USA den Meistbegünstigten-Status zu erhalten. Auch die ideologischen Hürden für eine Annäherung an die Institutionen des Systems von Bretton Woods waren nun gefallen. Schon länger hatte Georgij Šachnazarov betont, dass eine Integration der Sowjetunion in die bestehende internationale Ordnung und die Bewahrung ihrer »Souveränität« kein Widerspruch sein mussten. Die weltpolitische Vision der sowjetischen Führung zielte jedoch nicht auf die Integration der Sowjetunion in eine von den USA dominierte Weltordnung, sondern auf eine gemeinsame Umgestaltung der Weltpolitik. Ab betonte Georgij Šachnazarov die Notwendigkeit, die »Weltgemeinschaft« zu »verwalten« ‒ die Idee des kooperativen »Management« von Interdependenz, von der sich die Regierung Reagan wieder abgewandt hatte, war nun in der Sowjetunion zur offiziellen Linie geworden. Da die übrigen Länder aus der Sicht Georgij Šachnazarovs hier auf die Mitarbeit der Sowjetunion angewiesen waren, ergab sich in dieser »neuen Weltordnung« die Möglichkeit, die zentrale Rolle des Landes in der Weltpolitik auf neue Weise und zu viel geringeren Kosten zu sichern. Denn die Sowjetunion sollte nun nicht mehr durch ideologischen Einfluss oder militärische Hilfe, sondern durch ihren Beitrag zu der kooperativen Bearbeitung »globaler Probleme« weltweit Einfluss ausüben. Perestrojka und »neues Denken« waren damit nicht nur für die Sowjetunion gedacht, sondern »für die ganze Welt«, wie Gorbačev im Titel eines seiner wichtigsten programmatischen Bücher von deutlich gemacht hatte (Perestrojka i novoe myšlenie dlja našej strany i dlja vsego mira). Vielleicht passe der Begriff »Perestrojka« nicht ganz, räumte Gorbačev vor der UNO ein. Aber er spreche sich für »neue internationale Gorbachev, The Crimea Article (), S. . Siehe Chernyaev, My Six Years with Gorbachev (), S. -, -; Gates, From the Shadows (), S. . Šachnazarov, Georgij: Suverenitet i integracija, vyživanie i razvitie, bez daty [vermutlich ], GF, fond , . Šachnazarov, Georgij C.: Mirovoe soobščestvo upravljaemo, Pravda (), . Januar , S. ; Shakhnazarov, Governability of the World (). Zuvor bereits Ansätze in Šachnazarov, Georgij C.: O rukovodstve mirom, fevralja g., GF, fond , . Šachnazarov, Georgij C.: Ešče odna razrjadka ili načalo perechoda k novomu miroporjadky?, in: Novoe Vremja, , S. -. Gorbačev, Perestrojka i novoe myšlenie (). Dazu auch Šachnazarov, Georgij: Perestrojka kak global’naja problema, bez daty, GF, fond , .
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Beziehungen« aus. Denn in einer interdependenten Welt, so betonte er ein Jahr später vor dem Europarat in Straßburg, seien die geopolitischen Vorstellungen der Vergangenheit für die Gegenwart so nutzlos geworden wie die »Gesetze der klassischen Mechanik gegenüber der Quantentheorie«. Diese Vision Gorbačevs und seiner Berater wurde im »Westen« allerdings wenig aufgegriffen. Anfang der er Jahre war angesichts der Erfolge der Entspannungspolitik schon einmal das Ende des »Kalten Krieges« ausgerufen worden. Ein Jahrzehnt später hatte sich herausgestellt, dass diese Erwartungen voreilig gewesen waren; die meisten Beobachter blieben nun wesentlich zurückhaltender. Selbst nachdem Präsident Reagan bereits eingeräumt hatte, die Rede vom »Reich des Bösen« gehöre mittlerweile »zu einer anderen Zeit, einer anderen Ära«, agierte die ab Anfang amtierende Regierung unter George Bush zunächst wieder verhaltener. Schon im Laufe dieses Jahres war es jedoch vor allem das gute Verhältnis zwischen den beiden Außenministern George Baker und Eduard Ševardnace, das zu einer stärkeren Unterstützung der Reformbemühungen Gorbačevs durch die US-Regierung führte. Nun setzte sich die These vom Ende des Kalten Krieges zum zweiten Mal durch: Gorbačev sprach im Juli davon, der Ost-West-Konflikt sei nun Geschichte; auf ihrem Gipfeltreffen in Malta erklärten Gorbačev und Präsident Bush den »Kalten Krieg« im Dezember für beendet. beteiligte sich die Sowjetunion als Beobachter an den Handelsgesprächen im Rahmen des GATT, im Juli des Jahres wurde sie erstmals zu einem G Gipfel eingeladen. Letztlich wurden Gorbačevs innen- wie außenpolitische Visionen jedoch vom Gang der Ereignisse überholt: Im August versuchte das sogenannte »Staatskomitee für den Ausnahmezustand« ‒ »orthodoxe« Parteifunktionäre und Teile des Militärs ‒ den Generalsekretär abzusetzen. Sie warfen ihm vor, den Kommunismus verraten und Osteuropa an den »Westen« »verkauft« zu haben. Gorbačevs Deutung einer interdependenten Welt wiesen sie zurück. Egor Ligačev, ursprünglich ein Unterstützer Gorbačevs, ab jedoch sein schärfster Kritiker, bestand etwa darauf, die internationalen Beziehungen seien klassenbasiert; etwas anderes zu behaupten, verwirre nur das sowjetische Volk und die sowjetischen Verbündeten. Der Putschversuch scheiterte zwar, schwächte je-
Gorbatschow, Für eine neue Qualität der internationalen Beziehungen (), S. . Ansprache des Generalsekretärs des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Michail Gorbatschow, vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg am . Juli , Europa-Archiv (), Folge , S. D-. Meisler, Stanley: Reagan Recants »Evil Empire« Description, Los Angeles Times, . Juni . Siehe etwa Von Jalta nach Malta. Bush und Gorbatschow treffen sich auf schwankenden Planken, Die Zeit, . Dez. . Vgl. dazu Blanton, When Did the Cold War End?. Za delo ‒ bez raskački, Pravda (), . Aug. , S. .
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doch die Autorität Gorbačevs und beschleunigte damit den weiteren Zerfall der Sowjetunion, die zum . Dezember aufgelöst wurde. Die Gründe und Erklärungsversuche für das Scheitern der Reformbemühungen, für den Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges sind vielfältig. In den USA hält sich bis heute die Deutung der »Reagan Victory School«, der amerikanische Präsident habe mit seiner harten Haltung und seiner Aufrüstungskampagne die Sowjetunion zu ähnlichen Anstrengungen gezwungen, die sie jedoch nicht durchhalten konnte ‒ Reagan habe sie sozusagen »totgerüstet«. Ein damit verwandter Argumentationsstrang sieht den amerikanischen »Sieg« im »Kalten Krieg« als Triumph der Produktivität und Attraktivität des Kapitalismus und der amerikanischen Kultur. Nicht nur die Sowjetunion, sondern das gesamte sozialistische System hätten dem »transnationalen Druck des Konsum-Kapitalismus« schließlich nicht länger standhalten können. In diesem Zusammenhang wird auch die »Globalisierung« ins Spiel gebracht: Kommentatoren wie Thomas Friedman, Kolumnist der New York Times, interpretieren den Kalten Krieg als Kampf der »Kräfte der Abschottung« gegen die »Kräfte der Globalisierung«. Versteht man »Globalisierung« zudem wie Friedman als Ausbreitung des Kapitalismus nach amerikanischem Modell, konnte sie mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und mit dem Ende der wirtschaftlichen Abschottung der »zweiten Welt« wirklich »global« werden und sich in fast allen Winkeln der Welt durchsetzen. Andere Autoren sehen »Globalisierung« dagegen nicht als Folge, sondern als zentrale Ursache für den Zusammenbruch des Staatssozialismus. Vertreter dieser analog zur »Reagan Victory School« als »Globalization Victory School« zu bezeichnenden Lesart gehen mit einem gewissen Technikdeterminismus davon aus, politische Akteure seien gegenüber diesem besonders von der »Computerrevolution« ausgelösten Wandel letztlich hilflos gewesen. Solche technologischen Entwicklungen und die Ausbreitung »westlicher Kultur und Werte« ‒ beides Prozesse, die der »Globalisierung« zugerechnet werden ‒ hätten die Abschottung der sozialistischen Staaten zunehmend unterlaufen. »Transnationale Netzwerke« von Dissidenten hätten die dortigen Regime weiter geschwächt und schließlich zu ihrem Zusammenbruch geführt. Das internationale System habe sich damit weniger infolge bewusster politi Für zusammenfassende Überblicke über die umfangreiche Literatur vgl. u. a. Suri, Explaining the End of the Cold War; Njølstad (Hg.), The Last Decade of the Cold War; Pons/Romero (Hg.), Reinterpreting the End of the Cold War; Blumenau/ Hanhimäki/Zanchetta (Hg.), New Perspectives on the End of the Cold War; Schattenberg, Das Ende der Sowjetunion. Dazu mit entsprechenden Belegen Schrecker (Hg.), Cold War Triumphalism. Major/Mitter, Culture, S. . Der Sieg des Kapitalismus auch bei Rödder, ., S. . Zhuk, Rock and Roll in the Rocket City bewertet die politischen Folgen der Attraktivität der »westlichen Kultur« dagegen ganz anders. Etwa Friedman, Thomas L.: There’s a New Era. Then there’s the Middle East, NYT, . Juni .
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scher Strategien als vielmehr wegen dieser »Innovationen in Wissenschaft und Technologie« grundlegend verändert. Am deutlichsten hat diese These David Lockwood formuliert, der die Destruction of the Soviet Union als Study in Globalization ansieht. Im Gegensatz zu solchen Erklärungsversuchen erscheint es überzeugender, den Versuch der sowjetischen Führung um Gorbačev, die Diagnose einer verflochtenen Welt zur Grundlage ihrer Außenpolitik zu machen, als zentralen Faktor zu verstehen, der die Sowjetunion ungewollt schwächte. Denn Gorbačev und seine Berater waren nicht nur zu optimistisch, wenn es darum ging, ob sich das sowjetische System und die marxistisch-leninistische Ideologie reformieren ließen. Bei ihrem Versuch, ein neues internationales System und eine eigene Vision der »Globalisierung« zu entwickeln, die nicht auf einer von den USA dominierten Weltordnung basieren sollte, unterschätzten sie nicht nur die Stabilität der Sowjetunion, sondern auch die Bereitschaft in den Vereinigten Staaten, sich auf eine solche Reform internationaler Strukturen einzulassen. Immer stärker wurde die neue Führung jedoch mit Problemen konfrontiert, die sich im Rahmen des Marxismus-Leninismus und der Planwirtschaft nicht lösen ließen. Zum Teil waren es auch die Reformversuche selbst, die destabilisierend wirkten und damit die Krise erst noch verstärkten. Die neuen Freiheiten der glasnosť etwa begünstigten den Aufstieg verschiedener Nationalismen, die letztlich zum Zerfall des sowjetischen Vielvölkerreiches führten. Für den Soziologen Manfred Steger hatten mit dem Zerfall der Sowjetunion nicht die »Globalisierung« über die »Abschottung«, sondern nationalistische Ordnungsvorstellungen über die von Gorbačev propagierte Vision globaler Verflechtung und Integration triumphiert.
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Aus dieser Perspektive hat die Diagnose einer verflochtenen Welt, auf die die sowjetische Führung unter Gorbačev mit einer stärkeren Einbindung des Landes in die existierende Weltwirtschaftsordnung und mit einer neuen Rolle in der Weltpolitik reagieren wollte, zum Zusammenbruch der Sowjetunion entscheidend beigetragen. Denn die Rede von der »Interdependenz« und »globalen Problemen« war selbst ein Aspekt jenes dynamischen Prozesses von Deutungsverschiebungen und Reformen, der die sowjetische Ordnung destabilisierte. In der Rückschau sah Aleksandr Jakovlev im neuen Ansatz der Gorbačev-Führung, Krieger, The International System, S. , . Lockwood, The Destruction. Auch Šachnazarov, S voždjami i bez nich (), S. denkt darüber nach, ob die von ihm mit angestoßenen Entwicklungen nicht schon Ende der er Jahre weit über die von ihm selbst gesetzten Ziele hinausgegangen seien. Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. f. Siehe auch Yeremina/Bangura, Globalization and the Collapse of the Soviet Union.
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der von einer »voneinander abhängigen, in vielem ganzheitlichen Welt« ausging, nicht nur ein »erstes Signal der Globalisierung der grundlegenden Weltprozesse, abgegeben auf der höchsten politischen Ebene«, sondern auch ein »radikales Abrücken vom Marxismus«, das schließlich zum Zusammenbruch des Staatssozialismus führen sollte. Konzepte globaler Verflechtung in der Gorbačev-Zeit hatten ihre Wurzeln dabei durchaus im Transfer »westlicher« Ideen. Durch die Übernahmen des Begriffs der »globalen Probleme«, später auch der »Interdependenz« ›verwestlichte‹ sich die Rhetorik der sowjetischen Führung. Denn noch ein Jahrzehnt zuvor hatten sowjetische Beobachter nur unter dem ideologiekonformeren Konzept der »wissenschaftlich-technischen Revolution« über globale Verflechtung sprechen können. Schon an diesen Debatten der er Jahre wird jedoch deutlich, dass der neue Ansatz unter Gorbačev seine Wurzeln ebenfalls in genuin sowjetischen Gegenwartsdiagnosen und Konzepten hatte. Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen mochten in eine Annäherung an den »Westen« münden, sahen aber auch eine grundlegende Umgestaltung der internationalen Beziehungen mit neuen Rollen für »Ost« und »West« vor. Die Anerkennung einer interdependenten Welt war ein zentrales Element des »neuen Denkens« der sowjetischen Führung unter Gorbačev. Ihr Versuch, auf dieser Basis eine neue Rolle ihres Landes in der Weltpolitik und Weltwirtschaft zu definieren, verweist damit auf einen alternativen Entwicklungspfad der »Globalisierung«, der jedoch über erste Ansätze nie hinausgelangte. Die rasche Abfolge der Ereignisse und der Zusammenbruch der Sowjetunion Ende verhinderten, dass aus diesem Entwurf auch wirklich eine »neue Weltordnung« unter sowjetischer Beteiligung werden konnte. Hatte die sowjetische Führung anfangs noch volle ökonomische Kooperation auf Augenhöhe angestrebt, war sie gezwungen, im »Westen« um finanzielle Hilfen zu ersuchen. In den er Jahren bestimmten daher die Vereinigten Staaten maßgeblich die Ausgestaltung der »neuen Weltordnung« nach dem Ende des Kalten Krieges.
. Die Disziplinierung der Interdependenztheorie In der zweiten Hälfte der er Jahre bildeten Diagnosen globaler Verflechtung und der Begriff der Interdependenz in der Sowjetunion die Grundlagen für eine Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts (), S. f. Auch Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. erklärt Gorbačev zu einem der ersten hochrangigen Politiker, der die Notwendigkeit »neuen Denkens« mit »Globalisierung« in Verbindung gebracht habe. Dazu auch Lynch, The Soviet Study of International Relations, S. xi. English, Russia and the Idea of the West, S. , eines der zentralen Bücher zu diesem Thema, erzählt diese Geschichte dagegen als »rise of a global, ›Westernizing‹ identity among a liberal policy-acedemic elite«. In diesem Sinne auch Mark/Rupprecht, The Socialist World.
tiefgreifende Reform der Außenpolitik und für die Vision einer Umgestaltung der internationalen Politik. In den Vereinigten Staaten hatte »Interdependenz« dagegen ihren Status als zentrales Schlagwort der Gegenwartsdiagnostik, ja als Epochensignum zu dieser Zeit bereits wieder verloren. Denn als gegen Ende der er Jahre die Spannungen zwischen den beiden Supermächten wieder zugenommen hatten, war deutlich geworden, wie eng Befunde wechselseitiger Abhängigkeit an die politischen Rahmenbedingungen der Entspannung gebunden waren. Das »Zeitalter der Interdependenz« schloss offensichtlich an das »Ende des Kalten Krieges« an; als dieser in den er Jahren zurückkehrte, verlor die Idee der Interdependenz wieder an Evidenz. Gleichzeitig führten Bemühungen um eine Schärfung der theoretischen Präzision der Analyse globaler Zusammenhänge zu einer zunehmenden Verengung auf fachwissenschaftliche Theoriediskussionen. Interdependenz büßte ihren Status als interdisziplinäres und breitenwirksames Schlagwort der Gegenwartsdiagnostik zunehmend ein und wurde zum Aspekt einer politikwissenschaftlichen »Denkschule« diszipliniert.
»Komplexe Interdependenz« – Die Weiterentwicklung der Interdependenztheorie In der zweiten Hälfte der er Jahre hatten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler in den Vereinigten Staaten, die sich mit den Problemen einer verflochtenen Welt beschäftigten, zunächst auf Diagnosen einer »Krise der Interdependenz« reagiert. In Auseinandersetzung mit den politischen Debatten der Zeit ging es ihnen einerseits darum, ein zu harmonisches Bild wechselseitiger Abhängigkeiten zu vermeiden und Machtunterschiede stärker zu berücksichtigen. Andererseits sprachen sich Interdependenz-Theoretiker wie Robert Keohane und Joseph Nye aber auch dagegen aus, die Weltpolitik ausschließlich als konfliktträchtige Konfrontation zwischen Staaten zu beschreiben. Mitte der er Jahre hatte die schon seit mindestens einem Jahrzehnt zu beobachtende Unzufriedenheit vieler Politikwissenschaftler in den USA mit den methodischtheoretischen Zugriffen ihrer Disziplin noch zugenommen. Sie schienen Beobachtungen einer veränderten Welt nun endgültig nicht mehr angemessen zu erfassen und sollten durch neue Ansätze ergänzt oder ersetzt werden. Im Jahr legten Robert Keohane und Joseph Nye mit Power and Interdependence: World Politics in Transition ihr einflussreichstes gemeinsames Buch vor, das ihre bisherigen Überlegungen synthetisieren, theoretische Anregungen aufgreifen und zugleich auf politische Entwicklungen der Zeit eingehen sollte. Die beiden Politikwissenschaftler stellten gleich zu Beginn pointiert fest: »Wir leben in einer Ära der Interdependenz.« Die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen habe sich jedoch in einem »rhetorischen Dschungel« verstrickt. Viele Autoren hätten Fragen von Macht und Ungleich Keohane/Nye, Power and Interdependence (), S. .
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heit schlicht ignoriert und ein zu harmonisches Bild internationaler Verflechtung gezeichnet. Insbesondere Henry Kissinger habe das Interdependenz-Argument genutzt, um eine konfrontative Interpretation der Nord-Süd-Beziehungen zu entkräften. Als zentrale Negativfolie diente den beiden Autoren vor allem der »Realismus«, der eine »komplexe Welt aus einer Vielzahl von Akteuren und Themen« immer weniger erfassen könne. Wie andere Kritiker überzeichneten hier auch Keohane und Nye die Dominanz des Realismus in den Internationalen Beziehungen; es hatte stets auch alternative Zugriffe gegeben. Durch diese Frontstellung konnten sie ihren eigenen Ansatz jedoch schärfer konturieren, schon allein weil sich mit Kenneth Waltz einer der einflussreichsten Vertreter des Realismus schon zu Beginn der er Jahre gegen den »Mythos der Interdependenz« positioniert hatte. Aus seiner Sicht handelte es sich beim Wachstum des Welthandels seit den er Jahren und bei der neuen Bedeutung internationaler Direktinvestitionen nicht um Anzeichen für einen allgemeinen Trend wachsender Interdependenz. Denn seit nicht mehr Rohstoffe gegen verarbeitete Güter, sondern nur noch Produkte ausgetauscht wurden, die jedes Land auch selbst herstellen könne, war Welthandel für Waltz von einer Notwendigkeit zu einem Luxus geworden. Entflechtung sei jederzeit möglich, die Frage war nur zu welchen »Kosten«. Aus ökonomischer Interdependenz entstünden deshalb keine politischen Verflechtungen, die den Frieden sicherten, sondern potenziell eher neue Konflikte. Eine Welt, »in der ökonomische Aktivität transnational geworden ist, mit hochgradig durchlässigen nationalen Grenzen« konnte Waltz damit nicht erkennen. Die »Rhetorik der Interdependenz« habe dagegen schon »Züge einer Ideologie« angenommen. Analog zu Dependenz-Theoretikern dieser Zeit, wenn auch aus anderer Stoßrichtung, kritisierte er, der Begriff verschleiere Ungleichheiten und »asymmetrische Beziehungen«. Was manchen als ein dichter werdendes »Netzwerk der ökonomischen Interdependenz« erscheine, verdecke Beziehungen die man bestenfalls als »Mischung aus Interdependenz und Dependenz« bezeichnen könne. Für Keohane und Nye gerieten bei einem solchen Blick durch die »realistische Brille« dagegen Faktoren wie ökonomische Integration und die Rolle internationaler Institutionen aus dem Blick. Eine Reihe von Fehlschlägen der amerikanischen Außenpolitik im Bereich der »transnationalen Beziehungen« sei ge-
Ebd., S. -. Ähnlich bereits Nye, Independence and Interdependence (). Nye, Studying World Politics (), S. bezeichnete diese Perspektive später als »modernist writings«. Zu Kissinger später auch Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (), S. . Diesen Eindruck hatte Joseph Nye nach auf einer Reihe von Tagungen gewonnen. Siehe Cohen, International Political Economy, S. . Waltz, The Myth of National Interdependence (). Ebd., S. . Zu Waltz’ Haltung zu multinationalen Unternehmen siehe Kapitel .. Ebd., S. .
rade auf diese Beschränkungen der »realistischen Theorie« zurückzuführen. Ihre Schrift Power and Interdependence sollte jedoch mehr erreichen, als nur die Defizite anderer Ansätze offenzulegen. Ähnlich wie die Gruppe um Lincoln Bloomfield drei Jahre zuvor wollten auch Keohane und Nye den Begriff der »Interdependenz« von einem diffusen Schlagwort der Gegenwartsdiagnostik zur Grundlage einer operationalisierbaren Theorie nach sozialwissenschaftlichen Standards machen, mit der Abhängigkeitsverhältnisse präzise untersucht werden könnten. Die beiden Politikwissenschaftler entwarfen dafür das Konzept der »komplexen Interdependenz«, mit dem sie nicht nur auf Anregungen von Lincoln Bloomfield und anderen Kollegen, sondern auch auf die Kritik von Kenneth Waltz reagierten. Denn Bloomfield wie Waltz hatten betont, dass »Asymmetrien« und die mit einem ‒ durchaus möglichen ‒ Abbruch von Interdependenzbeziehungen verbundenen »Kosten« bislang nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Keohane und Nye griffen jetzt nicht nur diese beiden Faktoren auf, sondern führten zusätzlich die Kategorien der »Anfälligkeit« (sensitivity) und der »Verwundbarkeit« (vulnerability) ein, um so eine Analyse der positiven wie negativen Konsequenzen wachsender Verflechtung zu ermöglichen. Nach seiner Veröffentlichung im Jahr wurde Power and Interdependence schnell zu einem vielbeachteten Buch. In der Rückschau avancierte es erst recht zum bekanntesten Beitrag der Interdependenz-Debatten der er Jahre. Diese Entwicklung ist erklärungsbedürftig, gab es doch eine ganze Reihe zeitgenössisch einflussreicher Autoren wie Richard Cooper oder Lincoln Bloomfield, die heute nur noch Spezialisten geläufig sind. Als Mitherausgeber der Zeitschrift International Organization hatten Keohane und Nye bereits vor wichtige Positionen erreicht, von denen sie die weitere Entwicklung der Forschung institutionell beeinflussen konnten. Die Prominenz ihres Buches war aber auch eine Folge des Einflusses, den die beiden Politikwissenschaftler nach dessen Publikation erreichen konnten. Im nächsten Unterkapitel wird deutlich, dass besonders Robert Keohanes Arbeiten der er Jahre »schulbildend« wirkten und die »Interdependenztheorie« als Teil der »Denkschule« des »liberalen Institutionalismus« zur Ehre eines Lehrbuchkapitels erhoben. Die Bedeutung von Power and Interdependence ist aber vor allem darauf zurückzuführen, dass das Buch sechs Jahre nach Transnational Relations and World Keohane/Nye, Power and Interdependence (), S. vi. Ebd. Siehe auch Nye, Studying World Politics (), S. . Keohane/Nye, Power and Interdependence (), S. , , . Zur »asymmetrischen Interdependenz« auch Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (), S. . Zur Debatte um das Buch rückblickend Keohane/Nye, Power and Interdependence Revisited (). In einer Umfrage wurde die Zeitschrift zum einflussreichsten Publikationsorgan in den Internationalen Beziehungen gewählt. Garand/Giles, Journals in the Discipline. Ihr Nachwuchspreis ist heute nach Robert Keohane benannt: http://journals. cambridge.org/action/displayJournal?jid=INO (..).
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Politics von / die zweite Syntheseleistung war, in der Keohane und Nye auf die politischen Entwicklungen der Zeit reagierten, den erreichten Stand der Interdependenzdebatte zusammenfassten und Kritik ebenso aufgriffen wie methodische Anregungen. Damit hoben sie die Analyse auf ein theoretisches Niveau das ausreichte, um in der Disziplin der Internationalen Beziehungen als Innovation akzeptiert zu werden, gleichzeitig aber auch noch so zugänglich war, dass das Buch als Gegenwartsdiagnose einen breiteren Leserkreis erreichen konnte. Das Konzept der »komplexen Interdependenz« mochte noch keine »Theorie« nach den Standards des Fachs sein, bündelte aber die neue Sicht auf der Welt in einem eingängigen Begriff und erzielte damit eine Wirkung, die über die Grenzen der Politikwissenschaft hinausreichte und auch Autoren in benachbarten Disziplinen dazu brachte, globale Interaktion und Verflechtung stärker zu berücksichtigen.
Die International Political Economy und die Verflechtung von Politik und Wirtschaft In Power and Interdependence von sind damit zwei Tendenzen zu beobachten, die sich anfangs noch scheinbar ergänzten, in den folgenden Jahren jedoch in unterschiedliche Richtungen drängten: einerseits der Versuch, die vielfältigen Gegenwartsdiagnosen im Zeichen der Interdependenz der er Jahre auf einen eingängigen Begriff zu bringen und damit Öffentlichkeit und Politik zu helfen, diese Entwicklungen zu deuten; anderseits aber auch Bemühungen der amerikanischen Sozialwissenschaften, die Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung zu schärfen und vielfältige und teils widersprüchliche Interdependenz-Diagnosen zu einer kohärenten Theorie nach sozialwissenschaftlichen Standards weiterzuentwickeln. Noch um sah es so aus, als werde aus den Debatten der vergangenen Jahre ein neues Forschungsfeld, ja eine neue Disziplin hervorgehen, die nicht nur disziplinäre Grenzen, sondern auch die Trennung von Wissenschaft und Politik überwinden könne. Die Entstehung der »International Political Economy« (IPE) gilt heute als eine der wichtigsten Leistungen der »intellektuellen Unternehmer« Keohane und Nye. Schon wenige Jahre später hatte sich die IPE jedoch in dogmatisch geführte Theoriedebatten verstrickt und andere Ansätze ausgegrenzt, die ebenfalls zur Analyse einer interdependenten Welt entwickelt worden waren. Die IPE stieg damit nicht zu einem fächer- und themenübergreifenden Meta-Ansatz zur Analyse einer gewandelten Welt auf, sondern wurde zu einer Sub-Disziplin am Rande der Politikwissenschaft. So etwa Cohen, International Political Economy, S. : »Keohane and Nye made us look at the world anew.« Ähnlich Knutsen, A History, S. . Cohen, International Political Economy, S. . Zur Bedeutung Keohanes auch Moravcsik, Robert Keohane (), S. , -.
Die Etablierung einer eigenen Disziplin, die die seit den er Jahren weitgehend getrennt untersuchten Bereiche »Wirtschaft« und »Politik« zusammenbringen sollte, war eine direkte Folge der Debatten um multinationale Unternehmen und wachsende Interdependenz, in denen viele Beobachter zu der Einschätzung gelangt waren, dass diese Trennung nicht länger haltbar war. Obwohl natürlich immer wieder Autorinnen und Autoren über die Verbindung von Politik und Wirtschaft nachgedacht hatten, wurden die Gräben zwischen den Themengebieten und entsprechenden Fächern in den USA durch die »Professionalisierung« der Sozialwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg weiter vertieft. In den Internationalen Beziehungen waren in der Zwischenkriegszeit noch intensiv diskutierte ökonomische Fragen mit dem Realismus in den Hintergrund getreten. Ökonomen hatten sich durchaus noch länger für politische Zusammenhänge interessiert, was etwa an Richard Coopers The Economics of Interdependence von deutlich wird. Die methodisch-theoretischen Debatten im Zuge der Krise des Behavioralismus der er Jahre waren in den amerikanischen Wirtschaftswissenschaften jedoch in den er Jahren weitgehend zugunsten der Betonung quantitativ-mathematischer Methoden entschieden worden. Damit sollten nun Vorgänge auf dem »Markt« untersucht werden, der jetzt als klar abgesteckter Gegenstand mit entsprechenden Eigenlogiken verstanden wurde. Nach einer kurzen Phase des Zweifelns hatte die Disziplin ihre Grenzen wieder stabilisiert und Faktoren, die der »internationalen Politik« zugeschrieben wurden, weitgehend ausgeklammert. So zogen sich die Ökonomen im Laufe der er Jahre just zu dem Zeitpunkt aus der Interdependenz-Debatte zurück, als mit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods, der Ölkrise und der Debatte um die Neue Weltwirtschaftsordnung das Interesse an wirtschaftlichen Fragen in den Internationalen Beziehungen wieder zugenommen hatte. Robert Keohane sei Zu dieser Trennung Scholl, Begrenzte Abhängigkeit. Zu denken wäre hier u. a. an John Maynard Keynes, Karl Polanyi oder marxistische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Cohen, International Political Economy, S. . Zu Cooper Kapitel .. Zur Debatte über die Mathematisierung und Formalisierung der Sozialwissenschaften in den er und er Jahren u. a. Charlesworth (Hg.), Mathematics and the Social Sciences (); Thiel, Grundlagenkrise und Grundlagenstreit (). Vgl. Cohen, International Political Economy, S. - und Kapitel .. Benjamin Cohen, einer der frühen Protagonisten der IPE und Autor des wichtigsten Buches zu ihrer intellektuellen Geschichte, setzt den Ursprung der Disziplin mit der Gründung der Reihe The Political Economy of International Relations im Jahr an. Hier erschien Robert Gilpins U. S. Power and the Multinational Cooperation, in dem es um die »wechselseitige und dynamische Interaktion des Strebens nach Wohlstand und des Strebens nach Macht in den internationalen Beziehungen« ging. Gilpin, U. S. Power and the Multinational Corporation (), S. . Zu den zentralen Figuren der Gründungsgeschichte zählt Cohen zudem Charles Kindleberger, der ebenfalls zu multinationalen Unternehmen, sowie Peter Katzenstein, der zu Fragen der Interdependenz gearbeitet hatte. Cohen, International Political Economy, S. -, .
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nach eigener Aussage spätestens / klar geworden, dass »politisch über die Weltwirtschaft nachgedacht werden musste«. Joseph Nye hatte einen ersten Artikel zu multinationalen Unternehmen veröffentlicht; ein Jahr später gaben die beiden Autoren zusammen mit C. Fred Bergsten ein Themenheft zu World Politics and International Economics heraus. Die anschließenden Debatten der International Political Economy wurden so überproportional häufig in der von Keohane und Nye betreuten Zeitschrift International Organization ausgetragen, dass ihre amerikanische Variante auch als »IO School« bezeichnet worden ist. Schon diese Bezeichnung verweist auf Ab- und Ausgrenzungsprozesse bei der Konsolidierung dieser Disziplin, die eigentlich bislang getrennte Themen und Ansätze zusammenführen sollte. Denn den meisten Autoren in den USA ging es in den er Jahren und danach um die systematische Prüfung von Hypothesen mit aus den Wirtschaftswissenschaften entlehnten quantitativen Methoden. Internationale Beziehungen wurden von ihnen überwiegend als Interaktion von Staaten angesehen, auch wenn die Verbindung dieser »Sphäre« mit nichtstaatlichen Akteuren nun stärker betont wurde. Damit grenzten sich Vertreter der amerikanischen »IO School« von einem in der Literatur als »British School« bezeichneten Ansatz der IPE ab, dessen Vertreterinnen und Vertreter stärker historisch arbeiteten, ethische Fragen und nichtstaatliche Akteure berücksichtigten und dabei anders als die meisten ihrer amerikanischen Kollegen durchaus auch Kritik am freien Markt und der internationalen Rolle der USA übten. Auch dieser Ansatz war eine direkte Reaktion auf Diagnosen wachsender Verflechtung: In einem grundlegenden Aufsatz hatte die britische Ökonomin Susan Strange festgestellt, Interdependenz sei dem »statischen und rigiden« internationalen System zunehmend entwachsen. Sie forderte deshalb die Überwindung der künstlichen Trennung von internationaler Politik und internationaler Wirtschaft. Strange verstand sich jedoch selbst nicht als Theoretikerin, sondern als kritische analytische Beobachterin. Obwohl sie von Keohane und Nye in Power and Interdependence zitiert und auch in der Danksagung erwähnt wurde, spielte die Perspektive der »British School« in den Vereinigten Staaten jedoch so gut wie keine Rolle. Zu stark unterschied sich mittlerweile das Ver Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (); Nye, Multinational Corporations (); sowie die Beiträge in International Organization : () und identisch in Bergsten/Krause (Hg.), World Politics (). In seinem Beitrag und in U. S. Power and the Multinational Corporation warf Robert Gilpin einen kritischen Blick auf die neue, an Interdependenz und transnationalen Akteuren orientierte Perspektive der Politikwissenschaft. Gilpin, Three Models of the Future (). Murphy/Nelson, International Political Economy. Dazu Cohen, International Political Economy, Kap. . Vgl. dazu Murphy/Nelson, International Political Economy; Cohen, International Political Economy, S. -. Diese kritische Perspektive zeigt sich etwa in den Arbeiten der Kanadier Stephen Gills und Robert Cox, die der »British School« zugerechnet werden. Strange, International Economics and International Relations (), S. f. Ihre Erinnerungen: Strange, I Never Meant to be an Academic ().
ständnis von »Wissenschaftlichkeit«. Auch wegen solcher strengeren Grenzziehungen wurde die International Political Economy letztlich nicht zum zentralen analytischen Paradigma der Internationalen Beziehungen, sondern zu einer Teildisziplin am Rande des Feldes. Vertreter der »British School« stellten sich gegen das »enclosure movement« und den »imperialism of economics«, den sie in den amerikanischen Sozialwissenschaften am Werk sahen. Sie wollten ihre Arbeiten angesichts einer komplexen und interdependenten Welt multidisziplinär und bewusst auch für eine breitere Öffentlichkeit verständlich halten, konnten jedoch schon deshalb in den Sozialwissenschaften nur in begrenztem Maße einflussreich werden.
Der Neorealismus Solche Bemühungen wurden in der amerikanischen Politikwissenschaft der er Jahre jedoch immer weniger geschätzt. Stattdessen wurde der selbstgewählte »Mangel an formeller Präzision« zunehmend als Defizit verstanden. Wissenschaftliche Standards schien hingegen Kenneth Waltz zu setzen, der sich um eine Weiterentwicklung des Realismus nach einem »szientistischen« Verständnis von Wissenschaftlichkeit bemühte. Mit seinem erschienenen Buch Theory of International Politics hob er den Ansatz des »strukturellen« oder »Neo-Realismus« aus der Taufe, mit dem sich nun auch Vertreter der politikwissenschaftlichen Interdependenz-Theorie auseinandersetzen mussten. Kenneth Waltz wollte sich vor allem vom mittlerweile als »klassisch« bezeichneten Realismus absetzen, dessen philosophierenden Stil er ablehnte. Schon seit den er Jahren hatten Vertreter »behavioralistischer« Ansätze Hans Morgenthau und anderen Autoren vorgeworfen, zu stark auf subjektive Intuition und anekdotenhafte Beweisführung gesetzt und Theoriebildung und quantitative Methoden vernachlässigt zu haben ‒ der Realismus sei damit keine wirkliche Sozialwissenschaft. Während Robert Keohane in den er Jahren aus der »post-behavioralistischen Revolution« und den Beobachtungen einer veränderten Welt den Schluss gezogen hatten, normative Fragen stärker berücksichtigen zu müssen, wollten andere Autoren mit einer weiteren »Verwissenschaftlichung« Strange, Cave! Hic Dragones (); Strange, Preface (); Tooze, Perspectives and Theory (); Cohen, International Political Economy, S. . Ebd., S. . Für die spätere Sicht Keohanes auf die British School siehe Keohane, Foreword (). Waltz, Theory of International Politics (). Zuvor bereits Waltz, Theory of International Relations (). Exemplarisch Singer, The Incomplete Theorist (). Solche Autoren setzten stattdessen auf rationalistische Methoden wie die »Spieltheorie« und wandten sich Fragen des »decision-making« zu. Siehe etwa Snyder (Hg.), Foreign Policy Decision-Making (); Holsti, The Belief-System (). Dazu Bessner/Guilhot (Hg.), The Decisionist Imagination.
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der Analyse reagieren und das diagnostizierte Komplexitätswachstum in einer interdependenten Welt durch präzisere Theoriebildung einhegen. Besonders Kenneth Waltz hatte schon länger gefordert, die internationale Politik müsse künstlich als »System« mit eigenen Logiken isoliert werden, um aus dem »realistischen Denken« eine wirkliche »realistische Theorie« zu formen. Ganz anders als Autoren wie James Rosenau, die die Verbindung von Innen- und Außenpolitik betonten oder als Keohane und Nye, die sich mit »komplexer Interdependenz« befassen wollten, war Waltz überzeugt, nur durch bewusste Simplifizierung könne man Regelmäßigkeiten identifizieren und zu wirklich wissenschaftlicher Theoriebildung gelangen, ohne sich dabei in der Komplexität vielfältiger Beobachtungen zu verlieren. Diese Fähigkeit, einen Gegenstand künstlich zu isolieren, sah Waltz in den Wirtschaftswissenschaften am besten umgesetzt. Mit Anleihen aus der Mikroökonomie und ihrer System- und Oligopoltheorie konzeptionierte er das »internationale System« analog zum »Markt« als Struktur aus »souveränen Staaten«, die er als autonome, einheitliche, funktional gleiche und rationale Nutzenmaximierer verstand. Ihr Verhalten werde nicht von ihren Eigenschaften wie Regierungsformen, sondern von »strukturellen«, systemischen Faktoren bestimmt. Dazu gehörte erstens das »anarchische Ordnungsprinzip« des internationalen Systems: Dort gebe es keine Autorität, die Übergriffe verhindern oder sanktionieren könne. Staaten könnten sich damit nie sicher sein, was die Intention anderer Staaten sei (»Intransparenz«). Um trotz dieser von John Herz schon als »Sicherheitsdilemma« bezeichneten Situation ihr Überleben zu sichern, müssten sie danach streben, ihre Macht zu vergrößern und permanent zur Gewaltanwendung bereit sein. Verstetigte internationale Kooperation erschien so nahezu unmöglich. Ein stabiler Zustand konnte für Waltz nur entstehen, wenn sich Staaten zu vorübergehenden Bündnissen zusammenschlössen, um »revisionistische« Staaten »auszubalancieren«. Zu friedlichen internationalen Beziehungen trugen für ihn auch Nuklearwaffen bei, die Offensivkrieg zwischen Großmächten nahezu unmöglich gemacht hätten. Interdependenz betrachtete Waltz dagegen auch Ende der er Jahre vor allem als eine potenzielle Ge In Grundzügen bereits in Waltz, Man, the State, and War (). Seine Orientierung an den Wirtschaftswissenschaften begründet er in Waltz, Realist Thought and Neorealist Theory (). Waltz, Theory of International Politics (), S. -. Waltz war durchaus bewusst, dass es sich hier um ein abstraktes Modell handelte und politische Entscheidungsträger nicht immer rational agierten. Sozialisation und natürliche Auswahl sorgten aber dafür, dass sich die Wirklichkeit der Theorie immer mehr annähere. Siehe ebd., S. , -, f. Philip Mirowski hat Waltz’ Ansatz deshalb als »neoclassical rational-choice theory« bezeichnet. Mirowski, Realism and Neoliberalism, S. . Vgl. auch Wæver, Waltz’ Theory of Theory. Waltz, Theory of International Politics (), S. . Zum »Sicherheitsdilemma« Herz, Idealist Internationalism (). Waltz, Theory of International Politics (), S. .
fahrenquelle, ergaben sich aus mehr Interaktion doch auch mehr Gelegenheiten für Konflikte. Obwohl Waltz den epochenübergreifend gleichförmigen Charakter des »internationalen Systems« betonte, war der »Neorealismus« doch ein Produkt seiner unmittelbaren Gegenwart. Während der Fokus dieser Theorie auf Wettbewerb und Konflikt gut zum ein bis zwei Jahre später einsetzenden »zweiten Kalten Krieg« zu passen schien, war sie doch eher eine Aufarbeitung der internationalen Politik der Entspannungszeit. Waltz’ Sicht auf Staaten als rational handelnde Akteure in einem »internationalen System«, in dem nur Machtverteilung, Interessen und das Sicherheitsdilemma, jedoch keine Ideologien oder nichtstaatlichen Akteure eine Rolle spielten, war die Theoretisierung des »realpolitischen« Ansatzes Henry Kissingers, Leonid Brežnevs und Andrej Gromykos. Erst die Entspannung hatte es möglich gemacht davon auszugehen, dass man es auch bei den sowjetischen Führern mit rationalen Nutzenmaximierern zu tun habe, die nach Sicherheit und nicht nach Weltrevolution strebten. Letztlich lag dem »Neorealismus« die implizite Annahme zugrunde, Staaten würden im internationalen System unweigerlich zu »Realisten« sozialisiert. Gleichzeitig ließ sich die Theorie aber auch als Kritik an einer zu offensiven amerikanischen Außenpolitik und als Anleitung lesen, wie in einer konfliktträchtigen Welt Stabilität hergestellt werden könne. Mit dieser Konzentration auf Stabilität passte Waltz gut in das intellektuelle Klima der er Jahre, in dem Diagnosen einer veränderten Welt an Überzeugungskraft und die These vom »Wandel« ihr fortschrittliches Versprechen verloren hatten. Nicht kooperative Steuerung von Interdependenz und eine »multipolare« internationale Ordnung, sondern die »Bipolarität« des »ersten Kalten Krieges« wirkten jetzt aus der Rückschau stabil und friedenssichernd. Schon fast beschwörend betonte der Historiker John Lewis Gaddis im Jahr , trotz ihrer Konkurrenz sei es bislang nie zu einem direkten Krieg zwischen den beiden Supermächten gekommen. Eine Veränderung der angenommenen bipolaren Weltordnung schien nur durch Krieg möglich und damit gar nicht wünschenswert.
Regimetheorie und Neoliberaler Institutionalismus Anfang der er Jahre war es damit der von Kenneth Waltz entworfene »Neorealismus«, der die Theoriedebatten der Disziplin der Internationalen Beziehungen prägte. Vertreter interdependenztheoretischer Ansätze waren in den Au Ebd., S. -. Waltz hatte sich bereits deutlich gegen den Vietnamkrieg positioniert: Waltz, The Politics of Peace (). Waltz, Theory of International Politics (), S. f., . Gaddis, The Long Peace (). Gaddis stützte sich hier explizit auf Waltz, siehe ebd., S. - und Gaddis, In Defense of Particular Generalization (), S. f.
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gen Keohanes damit in die Position von »Rebellen« gedrängt worden, die sich gezwungen sahen, auf diese »kraftvolle intellektuelle Konstruktion« zu reagieren. Damit verstärkte sich jedoch der schon zu beobachtende Trend, Gegenwartsdiagnosen im Zeichen der Interdependenz in eine operationalisierbare politikwissenschaftliche Theorie überführen zu wollen. Gerade weil sie sich nun noch intensiver bemühten, die Annahmen und Thesen Waltz’ zu widerlegen, übernahmen auch Kritiker des »Neorealismus« zunehmend dessen systemische Perspektive und quantitativ-rationalistische Methodik. Im Zuge dieser Komplexitätsreduktion im Namen der theoretischen Präzision verloren auch diese Kritiker »neue« Faktoren der Weltpolitik und deren Zusammenhang mit der Weltwirtschaft wieder aus dem Blick. Die Interdependenztheorie wurde von dem Versuch, eine gewandelte Welt auf einen Begriff zu bringen, immer mehr zu einem Beitrag zur innerfachlichen Theoriedebatte, sie wurde zunehmend diszipliniert. Neben solchen disziplinären Faktoren beeinflussten auch die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen entscheidend die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Interdependenz. Denn erstens fühlten sich Vertreter von Verflechtungs-Diagnosen und entsprechenden Theorien nun gezwungen zu belegen, warum trotz des »anarchischen Charakters« des internationalen Systems internationale Kooperation nicht nur möglich, sondern angesichts der neuen Spannungen der frühen er Jahre auch dringend nötig war, um eine in ihren Augen weiterhin multipolare und interdependente Welt zu steuern. Denn nur so, nicht durch Bipolarität oder Balance of Power, ließen sich ihrer Meinung nach größere Konflikte vermeiden. Internationale Kooperation schien für diese Beobachter noch aus einem zweiten Grund dringend geboten: Schon in den er Jahren war unter anderem der Zerfall des Systems von Bretton Woods als Zeichen eines allgemeinen »Niedergangs« der Vereinigten Staaten interpretiert worden. In den er Jahren war diese These trotz der selbstbewussten Rhetorik der Regierung Reagan weitgehend zum Allgemeinplatz geworden. Denn auch wenn sich die ökonomische Lage der Vereinigten Staaten wieder stabilisiert hatte, schienen sie im Vergleich ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit mit der Bundesrepublik Deutschland und besonders mit Japan immer weiter zurückzufallen. Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (), S. . In die klassische Erzählung der Geschichte der Disziplin der Internationalen Beziehungen ist diese Auseinandersetzung zwischen »realistischen« und »globalistischen« Ansätzen als »Third Great Debate« eingeordnet worden. Siehe u. a. Maghroori/Ramberg (Hg.), Globalism versus Realism (). Zu den Letzteren zählen manche Autoren neben Interdependenz- und Regimetheorie auch Beiträge aus der Perspektive des Neo-Gramscianismus und der Kritischen Theorie. Dazu Hoffman, Critical Theory (). Der Historiker Paul Kennedy ordnete im Jahr in seiner vielbeachteten Studie The Rise and Fall of the Great Powers den zeitgenössischen Niedergangs-Diskurs in eine langfristige historische Perspektive ein. Kennedy, Rise and Fall (). Siehe dazu auch Huntington, Decline or Renewal? (); Schlossstein, The End of the American Century ().
Jetzt wurde auch in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen, was sich in der wissenschaftlichen Debatte bereits angedeutet hatte: »Multinationale Unternehmen« waren schon seit den er Jahren keine amerikanische Domäne mehr ‒ der Finanzjournalist Sanford Rose sah in den USA ansässige Unternehmen schon wieder im Niedergang. Damit bekamen amerikanische Firmen nun international wie auf ihrem »Heimatmarkt« selbst immer mehr Konkurrenz. Der französische Journalist Jean-Jacques Servan-Schreiber befasste sich in einem neuen Buch mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Japans und dessen technologischer Basis. Aus der amerikanischen war jetzt eine »weltweite«, in der deutschen Übersetzung gar eine »totale« Herausforderung geworden. Nur wenige Kommentatorinnen und Kommentatoren widersprachen der These vom ökonomischen und politischen Niedergang der Vereinigten Staaten. Susan Strange wollte »Macht« nicht nur als Verfügungsgewalt über Ressourcen oder als anteiliges Bruttosozialprodukt, sondern als »command over outcomes« verstanden wissen. Aus dieser Perspektive schien die ökonomische Dominanz der USA durch ihre führende Rolle im Bereich neuer Technologien auch weiterhin gesichert. In der Disziplin der Internationalen Beziehungen verbanden sich in den er Jahren Debatten über den »Niedergang« der USA mit Diagnosen wachsender Interdependenz im Begriff der »Hegemonie«. Schon Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski hatten in den er Jahren darüber nachgedacht, wie eine neu definierte globale Führungsrolle der Vereinigten Staaten aussehen könnte, nachdem sie ihre dominante Stellung der Nachkriegszeit mittlerweile eingebüßt hatten. Dass amerikanische Führung nach wie vor dringend gebraucht werde, leiteten »neokonservative« Autoren aus den Ereignissen um die Ölkrise, andere Kommentatoren aus den ökonomischen Problemen der er Jahre her. Der Wirtschaftshistoriker Charles Kindleberger beispielsweise hatte unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Finanzsystems von Bretton Woods eine Geschichte der Weltwirtschaftskrise von verfasst und daraus die These abgeleitet, die Stabilität der Weltwirtschaft hänge davon ab, dass ein Land Verhaltensregeln aufstelle und dazu bereit sei, zur Erhaltung des von ihm geschaffenen Systems auch einen »übermäßigen Anteil der Lasten« zu tragen. Als Lektion aus Rose, Sanford: Why the Multinational Tide Is Ebbing, in: Fortune, Aug. , S. . Servan-Schreiber, Le défi mondial (). Deutsch als: Die totale Herausforderung. Die Entscheidung der achtziger Jahre, Wien . Zur neuen Konkurrenzsituation siehe u. a. Graham, Transatlantic Investment (); Rugman, Inside the Multinationals (). Strange, The Persistent Myth (). Ähnlich bereits Russett, The Mysterious Case of Vanishing Hegemony (); Nau, The Myth of America’s Decline () und Bartley, Is America on the Way Down? (). Dazu Cox, Whatever Happened to American Decline?. Erst Anfang der er Jahre sollte sich die Einschätzung der globalen Position der Vereinigten Staaten auch in der breiteren Debatte wieder verändern. Der »Sieg« im Kalten Krieg und der einsetzende Boom der »New Economy« ließen viele Beobachter nun wesentlich optimistischer in die Zukunft blicken. Zu der Sicht der »Neokonservativen« Kapitel ..
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der Weltwirtschaftskrise hätten die Vereinigten Staaten nach das System von Bretton Woods errichtet, das sie mittlerweile jedoch nicht mehr am Leben erhalten könnten. Damit sah Kindleberger die Stabilität der Weltwirtschaft in Gefahr, internationale Kooperation könne die Funktion der USA nicht ersetzen: »For the world economy to be stabilized, there has to be a stabilizer, one stabilizer.« Dieser These, die er als »hegemonic stability theory« bezeichnete, widersprach Robert Keohane. Der Niedergang »hegemonialer Machtstrukturen« müsse nicht unweigerlich zum Niedergang jener internationalen ökonomischen Arrangements führen, die darauf aufgebaut hatten. In Auseinandersetzung mit Kindleberger und Waltz betonte Keohane, auch kollektives Handeln von zwei oder mehr Staaten könne systemische Stabilität garantieren, wenn nur neue Formen der Führung gefunden würden. Keohane baute diese Gedanken in seinem Buch After Hegemony () weiter aus, das schon im Titel die zentrale These deutlich machte: Die positiven Effekte der »liberalen Weltordnung« ließen sich auch nach dem Ende der amerikanischen Vorherrschaft erhalten, wenn die internationale Ordnung multilateral und kooperativ umgestaltet würde. Keohane arbeitete damit den Gedanken des »Managements« einer verflochtenen und komplexen Welt weiter aus. Auch ohne einen Hegemon ließen sich die internationalen Beziehungen für ihn durch »Regime« steuern. Schon hatten Ernst Haas und John Ruggie solche »kollektiven Arrangements zwischen Staaten« vorgestellt, die von Regierungen etabliert würden, um aus wachsender Interdependenz entstandene Steuerungsprobleme zu bewältigen. Bei der Erforschung dieser Zusammenhänge tat sich in den frühen er Jahren besonders Stephen Krasner hervor, der stets betont hatte, staatliche Macht und nati Kindleberger, The World in Depression (), S. , . Ähnlich auch Krasner, State Power (), S. . Auch kritischere Autoren, die wie Robert Gilpin betonten, dass die USA ihre weltpolitische Hegemonie primär aus Eigeninteresse ausgeübt hatten, fürchteten nun den Zusammenbruch der »liberalen Weltwirtschaft«. Gilpin/Gilpin, The Political Economy of International Relations (), S. , . Zuvor bereits Gilpin, U. S. Power and the Multinational Corporation (), S. und Gilpin, War and Change (). Vgl. zu dieser Debatte Cohen, International Political Economy, S. -. Keohane, Theory of Hegemonic Stability (), S. . Denn schließlich arbeiteten die Institutionen des Systems von Bretton Woods trotz des Endes der Weltwährungsordnung und des »Niedergangs« der USA weiter. Weder die Bundesrepublik noch Japan hatten Versuche unternommen, die Weltwirtschaftsordnung zu ihrem Vorteil umzugestalten. Dazu Kindleberger, The World in Depression (), S. ; Gilpin, War and Change (), S. . Keohane, After Hegemony (), S. und passim. Ähnlich Snidal, The Limits of Hegemonic Stability Theory (). Keohane, After Hegemony (), S. . Haas, On Systems and International Regimes (), S. . Keohane/Nye, Power and Interdependence Revisited (), S. verorten die Ursprünge des Konzepts »Regime« bei Ruggie, International Responses to Technology () und Cooper, Prolegomena ().
onale Interessen spielten auch in einer interdependenten Welt weiterhin eine wichtige Rolle. fasste Krasner die Ergebnisse eines Ende der er Jahre mit Unterstützung Keohanes ins Leben gerufenen Forschungsprojekts zusammen und definierte »internationale Regime« als besondere Form »internationaler Institutionen«, die auch implizite Übereinkünfte über Regeln und Verhaltensnormen internationaler Zusammenarbeit umfassen konnten. Anders als internationale Organisationen konnten Regime damit leichter an veränderte Bedingungen angepasst werden und würden es damit Staaten (und insbesondere den Vereinigten Staaten) auch in Zukunft ermöglichen, Interdependenz zu steuern. Mit After Hegemony hatte Keohane diese Ideen gebündelt und erneut eine »paradigmatische Arbeit« verfasst. Während Joseph Nye mit seinem Eintritt in die Carter-Regierung einen Weg gewählt hatte, der ihn in Richtung Politik und zu einer Rolle als public intellectual führte, wurde Robert Keohane in den er und er Jahren nicht nur durch seine Arbeiten, sondern auch als Präsident der International Studies Association und der American Political Science Association in den Internationalen Beziehungen so prominent, dass er und in zwei Umfragen zum einflussreichsten Vertreter der Disziplin gewählt wurde (Joseph Nye landete jeweils auf dem sechsten Platz). Keohane und Krasner grenzten sich dabei von einer zu harmonischen Sicht auf die Folgen wachsender Interdependenz ebenso ab wie von der Vorstellung, es handle sich hier um einen nahezu »natürlichen« Prozess, der durch die Politik nicht steuerbar sei. Der Betonung von Anarchie und Konflikt bei Waltz stellten sie die Möglichkeit der kooperativen Lenkung einer multilateralen und inter Krasner, State Power (); Krasner, Defending the National Interest (). Dabei baute er unter anderem auf Robert Gilpins Essay in Transnational Relations and World Politics auf. Dazu Krasner, Fortune, Virtue (), S. . Zu Krasners Biografie ebd. und Cohen, International Political Economy, S. f. Krasner, Structural Causes (), S. . Siehe auch Special Issue: International Regimes, International Organization : (), S. -; Krasner (Hg.), International Regimes (). »International institutions« wurden definiert als »persistent and connected sets of rules (formal and informal) that prescribe behavioral roles, constrain activity, and shape expectations«. Keohane, Neoliberal Institutionalism (), S. . Zeitgenössische Kritik unter anderem bei Strange, Cave! Hic Dragones (); Rochester, The Rise and Fall (). Keohane, Demand for International Regimes (). »Truly paradigmatic work« in Murphy, Global Governance (), S. . Nach seinem Ausscheiden aus der Regierung Carter war Nye nach Harvard zurückgekehrt. Unter Präsident Clinton leitete er das National Intelligence Council und wurde anschließend Assistant Secretary of Defense for International Security Affairs. Zwischen diesen politischen Aufgaben widmete sich Nye immer wieder der wissenschaftlichen Forschung: In den er Jahren arbeitete er unter anderem zu Energiefragen und Sicherheit, in den er Jahren prägte er das Konzept der »soft power«. Deese/Nye (Hg.), Energy and Security (); Nye, Soft Power (). Tierney/Malinak, Inside the Ivory Tower; Jordan, Richard et al.: One Discipline or Many? TRIP Survey of International Relations Faculty in Ten Countries, www. wm.edu/offices/itpir/_documents/trip/final_trip_report_.pdf (..).
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dependenten Welt gegenüber. Die Auseinandersetzung mit dem theoretisch besonders kohärenten »Neorealismus« veränderte jedoch auch andere Ansätze in den Internationalen Beziehungen: Während wirtschaftliche Fragen bei Waltz kaum eine Rolle spielten, trieb er paradoxerweise eine zunehmende methodische »Ökonomisierung« der Disziplin voran. Denn um sich für die Diskussion mit dem »Neorealismus« zu wappnen, betonten Vertreter der Regimetheorie, internationale Kooperation ergebe sich nicht aus Empathie oder Harmoniestreben, sondern aus dem Aufeinandertreffen rationaler Eigeninteressen. Besonders Robert Keohane machte in seiner »nachfrageorientierten« Version der Regimetheorie Staaten zu »Verbrauchern« des »Gutes« der Sicherheit. Sie rechneten die »Kosten« und den »Nutzen« möglicher Verhaltensweisen gegeneinander auf und entschieden sich wegen der durch Regime erhöhten Erwartungssicherheit für Kooperation, wenn diese zumindest »relative Gewinne« verspreche. Internationale Organisationen wirkten damit wie Gebrauchtwagenhändler, die Transaktionskosten auf einem ansonsten intransparenten Markt reduzierten, »Marktversagen« verhinderten und Erwartungssicherheit schufen. Schon die hier verwendeten Begriffe machen deutlich, dass bei dem Versuch, den »Neorealismus« mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, zunehmend rationalistische Perspektiven und Methoden der Wirtschaftswissenschaften Einzug gehalten hatten. Der in Handbüchern bis heute postulierte »positivistische Konsens«, der die Internationalen Beziehungen als ›strenge‹ Sozialwissenschaft betrachtet habe,
Die Bezeichnung bei Cohen, International Political Economy, S. . Die zentrale Inspirationsquelle sei hier George Akerlofs The Market for Lemons gewesen. Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (), S. f. Dort bezeichnet Keohane aber auch Waltz selbst als »intellektuelle Inspiration«. / waren er und Waltz Kollegen am Swarthmore College gewesen, in den er Jahren hatten sie in Berkeley ein gemeinsames Kolloquium zu »international movements and national control« veranstaltet. Weitere für Keohanes Arbeit in den er Jahren wichtige Ökonomen waren Charles Kindleberger, Tim McKeown, James Rosse, Laura Tyson und die »New Institutional Economics« um Douglas North. Siehe u. a. Keohane, Demand for International Regimes (). Keohane, After Hegemony (), S. - und Keohane, Neoliberal Institutionalism (), S. . Die Unterscheidung zwischen »Harmonie« und »Kooperation« führte Keohane auf eine Anregung des Ökonomen C. Fred Bergsten zurück: Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (), S. . Keohane, After Hegemony (), S. , , - und passim. Andere Arbeiten zur »Regimetheorie« nutzten »Spieltheorie«, um das Problem der »compliance« zu bearbeiten und die Vorteile institutionalisierter Kooperation zu beleuchten. Etwa Axelrod/Keohane, Achieving Cooperation under Anarchy (). Auch in diesem Kontext spielte die Diagnose einer interdependenten Welt eine zentrale Rolle. Siehe Sterling-Folker, Neoliberalism, S. . Für die weitere Entwicklung der Regimetheorie und ihre Rezeption u. a. in Deutschland siehe Rittberger (Hg.), Regime Theory and International Relations () sowie die Debatte in Baldwin (Hg.), Neorealism and Neoliberalism.
wurde schon Ende der er Jahre kritisiert; er war jedoch erst in diesem Jahrzehnt wirklich hegemonial geworden. Das zeigt sich auch an der Benennung des Ansatzes, der als »komplexe Interdependenz« begonnen hatte und in den jetzt die Regimetheorie eingeflossen war: bezeichnete ihn Keohane als »Institutionalismus«, der durchaus Schnittmengen mit dem Realismus habe. Später gaben er und Nye an, sie hätten den Realismus nicht »ersetzen«, sondern »ergänzen« wollen. Ende der er Jahre betonte Keohane den »Liberalismus« stärker und nannte seine Perspektive »neoliberaler Institutionalismus«. Als in den er Jahren das Label des »Liberalismus« von einer »Denkschule« um Andrew Moravcsik in Anspruch genommen wurde, die sich vor allem mit den innergesellschaftlichen Bedingungen der Außenpolitik befasste, wollte Keohane als Vertreter eines »rationalen Institutionalismus« gesehen werden. bezeichnete er seine Theorie und den Realismus als »Halbgeschwister« ‒ Kritiker wie David Long warfen der »Harvard School« um Keohane dagegen vor, durch diese Annäherung an den Realismus »Interaktionen von Individuen und Gruppen unterhalb, jenseits und um den Nationalstaat herum« aus dem Blick verloren und damit die »Denkschule« des »Liberalismus« verlassen zu haben. An der Entwicklung von Keohanes Theorie lässt sich zudem jene übergreifende Verschiebung in den Sozialwissenschaften ablesen, in deren Verlauf die Wirtschaftswissenschaften Anfang der er Jahre die Soziologie als zentrale Leitwissenschaft ablösten. Denn die Sicht auf Akteure der internationalen Politik als nutzenmaximierende homines oeconomici schien es zu ermöglichen, Etwa in Robert O. Keohane, International Institutions: Two Approaches, in: International Studies Quarterly . . Von dem Konsens gehen aus Neufeld: The Restructuring of International Relations Theory, ; Kurki/Wight, International Relations and Social Science, S. . Keohane, After Hegemony (); Keohane/Nye, Power and Interdependence Revisited (), S. -. Keohane, Neoliberal Institutionalism (); Keohane, International Liberalism Reconsidered (). Keohane, Institutionalist Theory (), S. , Anm. ; Keohane, Power and Governance (), S. . In der Forschung sind die Bezeichnungen »Neoliberalism« bei Baldwin (Hg.), Neorealism and Neoliberalism; Jervis, Realism, Neoliberalism, and Cooperation; Sterling-Folker, Neoliberalism oder Institutionalismus/Regimetheorie bei Krell, Weltbilder und Weltordnung, S. - (zusammen mit der »Englischen Schule«) gebräuchlich. Die Bezeichnung als »Institutionalismus« mag besonders im deutschen Kontext auch etwas mit politischen Vorbehalten gegen die Bezeichnung »liberal« zu tun haben. So zumindest Hartmann, Geschichte der Politikwissenschaft, S. . »Neoliberal« ist zudem nicht mit dem in ökonomischen Kontexten gebräuchlichen Begriff zu verwechseln. Keohane/Martin, Institutional Theory (), S. ; Long, The Harvard School. Moravcsik, Liberalism and International Relations Theory (), S. bezeichnet Keohanes Ansatz als »modifizierten strukturellen Realismus«, wird von Long jedoch selbst zur kritisierten »Harvard School« gerechnet. Siehe auch Risse-Kappen, Cooperation Among Democracies, S. .
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wichtige von unwichtigen Erklärungsfaktoren zu scheiden, damit die Komplexität sozialer Zusammenhänge analytisch handhabbar zu machen und möglichst große Erklärungs- und Prognosekompetenz unter Beweis zu stellen. Im Gegensatz dazu erschienen vorherige Bemühungen, Interdependenz-Diagnosen in sozialwissenschaftliche Theorien zu überführen, nun vergleichsweise unpräzise und unbefriedigend. In den er Jahren beschrieben Keohane und Nye ihren Ansatz der »komplexen Interdependenz« nicht mehr als Theorie, sondern als »Gedankenexperiment«. Sie hätten lediglich ausloten wollen, was passieren könne, wenn man die Grundannahmen des Realismus verändere. Den Mangel an theoretischer Präzision empfanden sie nun selbst als unbefriedigend. Zugleich verschob sich in den er Jahren die Aufmerksamkeit der Politikwissenschaft von ökonomischen Fragen und »transnationalen« Akteuren wieder stärker zu Staaten und sicherheitspolitischen Themen. Auch Robert Keohane hatte sich in After Hegemony um die Erarbeitung eines möglichst stringenten Ansatzes bemüht und deshalb eine systemische Perspektive eingenommen, in der allein Staaten eine Rolle in der internationalen Politik spielten. Die Motive, die zur Entstehung der Regimetheorie geführt hatten, verwiesen dabei auf die Debatten der er Jahre um das Auseinanderklaffen von wachsenden staatlichen Ansprüchen auf Steuerung einerseits und von gleichzeitig schwindenden Fähigkeiten zu deren Umsetzung andererseits: »Regime« stärkten Regierungen und stellten eine neue Möglichkeit bereit, um mit dieser »Kontrolllücke« umzugehen. Auch nach dem erwarteten Ende der amerikanischen »Hegemonie« sollte damit die »liberale Weltordnung« stabilisiert werden, in der die Vereinigten Staaten weiterhin eine zentrale, wenn auch nun stärker vermittelnde Rolle spielten. Auch die »Regimetheorie« war letztlich ein Vorschlag, wie der globale Einfluss der USA unter den neuen weltpolitischen Bedingungen aufrechterhalten werden konnte.
Internationale Beziehungen als »American Science«? Die britische Ökonomin Susan Strange übte dagegen Kritik am »staatszentrierten Paradigma« der Regimetheorie. Für sie handelte es sich dabei um eine spe Vgl. dazu Monroe/Downs (Hg.), The Economic Approach. Keohane/Nye, Power and Interdependence Revisited (), S. . Dazu für die Politikwissenschaft insgesamt kritisch Lowi, The State in Political Science () und affirmativ Calvert, Lowi’s Critique (). Keohane, After Hegemony (), S. , Hervorhebung im Original. Keohane selbst begründet diesen Schritt in ebd., S. f., , sowie in Keohane, Theory of World Politics (). Dazu kritisch Wæver, The Speech Act of Realism, S. und positiver Moravcsik, Robert Keohane (), S. -, der in dieser neuen Sicht auf systemische Variablen, auf staatliche Präferenzen, staatliches Verhalten, zwischenstaatliches bargaining und dessen Institutionalisierung die eigentliche Bedeutung von Keohanes Arbeiten sieht.
zifisch amerikanische Perspektive, die den Blick auf eine viel breitere Wirklichkeit verstelle. Dass die Überlegungen sowjetischer Expertinnen und Experten in den USA nur von einigen Sowjetologen beachtet wurden, überrascht kaum. Doch während hier ideologische und sprachliche Differenzen entscheidend waren, wurden selbst englischsprachige Beiträge aus Großbritannien in der amerikanischen Politikwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch rezipiert. Die »Professionalisierung« der Sozialwissenschaften und der große Einfluss des Behavioralismus in den USA hatten zu einer fast völligen Abschließung gegenüber anderen Traditionen und Einflüssen geführt und amerikanische Sozialwissenschaftler in Stranges Augen »taub und blind« gegenüber allem gemacht, was nicht in den USA veröffentlicht worden war. Diese Nichtbeachtung traf neben der »British School« der International Political Economy auch die sogenannte »English School« der Internationalen Beziehungen. Ihre Vertreter arbeiteten qualitativer und historischer als ihre amerikanischen Kollegen und hatten deren disziplinäre Abschließung nicht in gleichem Maße nachvollzogen. Besonders die Arbeiten Hedley Bulls setzten sich damit auseinander, wie wachsende Interdependenz und die fortgesetzte Bedeutung von Staaten in ein produktives Verhältnis gesetzt werden konnten. Der aus Australien stammende und nun in Oxford und an der LSE tätige Politikwissenschaftler hatte bereits in den er Jahren argumentiert, internationale Politik sei nicht »anarchisch«. Auch Staaten beachteten in ihrer Interaktion bestimmte Umgangsformen und Werte, wie die »Regeln der Diplomatie« oder die Geltung territorialer Grenzen. Anstatt von einem »internationalen System« sprach Bull deshalb von einer »internationalen Gesellschaft«. Zudem konnte er keinen Widerspruch zwischen der »Vernetzung der globalen Wirtschaft, der globalen Gesellschaft, dem globalen Gemeinwesen« und »dem System, nach dem jeder Staat exklusive Jurisdiktion über einen bestimmten Bereich der Erdoberfläche« beansprucht, erkennen. Denn »Souveränität« und »Interdependenz« schlössen Strange, Cave ! Hic Dragones (), S. . Ihr Gegenvorschlag der »bargaining maps« sah zwar eine wichtigere Rolle für nichtstaatliche Akteure vor, blieb letztlich aber zu unspezifisch, um den Kern einer eigenen Theorie zu bilden. Ausgearbeitet in Strange, States and Markets (). Dazu Cohen, International Political Economy, S. f. Zum anglo-amerikanischen Austausch in der Entstehungsphase der Disziplin dagegen Bevir/Adcock (Hg.), Modern Political Science. Im britischen Fall war die Nichtbeachtung lange wechselseitig, während etwa die bundesdeutsche Politikwissenschaft stark vom amerikanischen Vorbild geprägt worden ist. Dazu Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft. Strange, ISA as a Microcosm (), S. . Zu dieser Frage auch Norris, More Cosmopolitan Political Science?; Paul, Teaching Political Economy. Vgl. dazu Smith, International Relations; Dunne, Inventing International Society; Little, The English School’s Contribution; Bevir/Adcock (Hg.), Modern Political Science. Zu seiner Biografie Thatcher/Bell (Hg.), Remembering Hedley. Bull, Society and Anarchy (). Ähnlich bereits Manning, The Nature of International Society (). Als bekanntestes Werk Bull, The Anarchical Society ().
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sich gegenseitig nicht aus, der »souveräne Staat« sei vielmehr ein Instrument, um Prozesse der Verflechtung zu steuern und die zentrale Voraussetzung dafür, dass es überhaupt so etwas wie »transnationale Beziehungen« geben könne. Statt der Antithese der »internationalen Ordnung« sei die »Souveränität des Staates« deshalb »das Fundament des gesamten Gebäudes«. Obwohl Bull damit eine Deutung vorgelegt hatte, die durchaus anschlussfähig an amerikanische Debatten um die Steuerung von Interdependenz gewesen wäre, wurde seine Perspektive dort kaum beachtet. Denn trotz aller Rede von »transnationalen Beziehungen« war das wissenschaftliche Nachdenken über solche Entwicklungen in den Vereinigten Staaten der er und er Jahre selbst kaum transnational verflochten. Die Grenzen der Disziplinen und ihres Wissenschaftsverständnisses waren zunehmend nationalisiert worden. Auch wenn die Verurteilung der gesamten Disziplin der Internationalen Beziehungen als »amerikanische Ideologie« überzogen ist, waren ihre fachlichen Grenzen letztlich undurchlässiger als die ideologischen Grenzen der Sowjetunion. Im Jahr erregte Stanley Hoffmann mit einem Aufsatz großes Aufsehen, in dem er feststellte, dass die Internationalen Beziehungen schon wegen der politischen und ökonomischen Hegemonie der Vereinigten Staaten von amerikanischen oder in den USA ausgebildeten Wissenschaftlern dominiert würden. Diese gingen davon aus, dass es außerhalb der Vereinigten Staaten kein systematisches Nachdenken über internationale Beziehungen gebe. Die Disziplin sei damit keine wirklich internationale, sondern eine American Social Science.
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Bull, The State’s Positive Role (), S. . In seinem zusammen mit Adam Watson veröffentlichten Buch The Expansion of International Society entwickelte Bull seine Thesen weiter fort und berücksichtigte jetzt stärker die Rolle der nichtwestlichen Welt in der »globalized society of sovereign states«. Bull/Watson, The Expansion of International Society (). Für Yalem, Conflicting Approaches () hatte Bull dagegen eine Verteidigung des Staatensystems vorgelegt, die im Gegensatz zu Versuchen etwa des WOMP stehe, die Weltordnung zu verändern. Hedley Bull taucht etwa in Power and Interdependence überhaupt nicht auf. IB als »Ideologie« bei Oren, Our Enemies and US und in den Arbeiten von Robert Vitalis. Hoffmann, An American Science (). Hoffmann rezipierte selbst allerdings außer E. H. Carr, Raymond Aron und Ralf Dahrendorf kaum nichtamerikanische Autoren. Kritik an dieser Engführung bei Holsti, The Dividing Discipline und Holsti, Scholarship in an Era of Anxiety, S. . Diese Thematik wird bis heute diskutiert: Anfang der er Jahre waren neun von zehn publizierten Beiträgen in der Zeitschrift International Organization von Autorinnen und Autoren mit amerikanischer Staatsbürgerschaft oder institutioneller Verortung geschrieben. Breuning/Bredehoft/ Walton, Promise and Performance. Dazu auch Wæver, The Sociology of a Not So International Discipline; Smith, The Discipline; Aydilin/Mathews, Core and Periphery; Crawford/Jarvis (Hg.), International Relations; Smith, The United States.
In den er Jahren war es zu einer mehrfachen Ab- und Eingrenzung der Interdependenztheorie gekommen. Der Prozess der zunehmenden Nationalisierung sozialwissenschaftlicher Forschung in den USA war mit ihrer »Professionalisierung« und »Verwissenschaftlichung« nach dem Verständnis der Naturwissenschaften schon seit dem Zweiten Weltkrieg im Gange. Die Disziplin der Internationalen Beziehungen, die von diesen Entwicklungen vielleicht als letzte erfasst worden war, besaß auch in den er und er Jahren große internationale Ausstrahlungskraft ‒ ihre amerikanischen Vertreter rezipierten allerdings kaum noch Arbeiten, die in anderen Ländern oder gar Sprachen verfasst worden waren. Schon damit engte sich das Spektrum an möglichen Perspektiven auf Weltpolitik und Weltwirtschaft zunehmend ein. Die Herausforderung durch die theoretische Kohärenz und Präzision des »Neoliberalismus«, erkauft durch die Ausblendung einer ganzen Reihe von wichtigen Aspekten wie nichtstaatlichen Akteuren oder ökonomischen Fragen in den internationalen Beziehungen, tat ihr Übriges. In der Auseinandersetzung mit diesem Ansatz übernahmen auch Vertreter der Interdependenz-Theorie wie Robert Keohane zunehmend dessen Perspektive. Die Herausforderung des kooperativen und multilateralen »Managements« einer komplexen und interdependenten Welt stand zwar weiter im Raum, im Bereich der Theoriebildung wurde die Antwort jetzt jedoch mittels Komplexitätsreduktion durch eine staatenzentrierte Perspektive und rationalistische Methodik gesucht. Der zentrale Bewertungsmaßstab politikwissenschaftlicher Ansätze war jetzt nicht mehr deren gegenwartsdiagnostische Erklärungskraft, sondern theoretische Kohärenz und Präzision. Die Folge war der Verlust gesellschaftlicher und politischer Relevanz sowie der Rückzug der Interdependenztheorie ins Fach. Die »Regimetheorie« wurde beispielsweise viel rezipiert, jetzt aber primär als Beitrag zur Theorie der internationalen Beziehungen und nicht mehr als Gegenwartsdiagnose oder politisch einflussreiches Konzept zur Steuerung einer interdependenten Welt. Die erneute Konzentration auf Staaten in dieser und anderen Theorien der er Jahre bedeutete jedoch nicht, dass jetzt nicht mehr zu »transnationalen Akteuren« geforscht worden wäre. Im Gegenteil, die Arbeiten zu diesem Thema nahmen weiter zu, der Begriff wurde nun auch von Historikerinnen und Historikern aufgegriffen und nicht nur im Englischen, Deutschen, Spanischen oder Französischen, sondern auch im Japanischen in Wörterbücher aufgenommen. Ebenso wurden in den er Jahren weiterhin Arbeiten zu Fragen globaler Verflechtung unter dem Begriff der Interdependenz verfasst. Doch diese Forschungsfelder gehörten nun nicht mehr zu den innovativen Bereichen der Sozialwissenschaften, in denen Begriffs- und Theoriebildung entscheidend vorangetrieben wurden. Auch quantitativ war der Höhepunkt der entsprechenden Siehe etwa Altermatt, Entwicklungslinien der internationalen Politik (). Weitere Belege bei Patel, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, S. , Anm. . Siehe exemplarisch Ruggie (Hg.), The Antinomies of Interdependence (); Jones/ Willetts (Hg.), Interdependence on Trial () oder Bertrand, The Process of Change ().
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Publikationstätigkeit bereits überschritten. Die Daten von google n-gram zeigen, dass der Begriff der »Interdependenz« ab deutlich seltener in englischsprachigen Arbeiten genutzt wurde (siehe Abbildung , S. ). Eine Ursache dieser Entwicklung war, dass sich Arbeiten zu Interdependenz mittlerweile in fachinternen Theoriedebatten verstrickt hatten. Eine weiterere bestand darin, dass Diagnosen globaler Verflechtung wegen der neuen Spannungen im Ost-West-Verhältnis und wegen der neuen Bedeutung sicherheitspolitischer Fragen an Evidenz verloren hatten. Der »zweite Kalte Krieg« schien jetzt eine treffendere Beschreibung der Gegenwart zu bieten. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich hier allerdings um vergleichsweise kurzlebige Entwicklungen, die mit der viel grundlegender ansetzenden Argumentation der Interdependenz-Theoretiker nur wenig zu tun hatten. Jetzt zeigte sich jedoch, wie eng Interdependenz-Diagnosen an die Zeit der Entspannung nach dem angenommenen »Ende des Kalten Krieges« gebunden gewesen waren. Mit dessen »Rückkehr« wirkte das gerade erst angebrochene »Zeitalter der Interdependenz« Anfang der er Jahre bereits wieder wie eine vergangene Epoche. Joseph Nye beklagte später, eine Reihe von »unaufmerksamen Wissenschaftlern« habe jetzt angenommen, seine und Keohanes Arbeiten bezögen sich nur auf ökonomische Fragen der er Jahre und seien für die unter Reagan zum »Realismus« zurückgekehrte Welt der er Jahre nicht mehr relevant. Das Selbstbewusstsein des vorherigen Jahrzehnts, mit der »Interdependenz« einem Begriff gefunden zu haben, der die Transformation der gegenwärtigen Welt am besten beschreibe und den es nun theoretisch und methodisch noch weiter auszuarbeiten gelte, war Anfang der er Jahre wieder verloren gegangen. Im Zusammenspiel führten diese Faktoren dazu, dass die »Interdependenz« Anfang der er Jahre ihre Bedeutung als Schlagwort der Gegenwartsdiagnostik oder gar als Epochenbegriff zunehmend einbüßte. Sie konnte sie auch nicht wiedererlangen, als sich ab Mitte der er Jahre die politischen Rahmenbedingungen wieder veränderten. Das lag nun wiederum daran, dass mit der »Globalisierung« mittlerweile ein alternativer Begriff zur Deutung der Gegenwart verfügbar war, der die »Interdependenz« schließlich weitgehend verdrängen sollte. Auch diesmal lagen die zentralen Ursachen für diesen Wandel der Begriffe nicht in dem von ihnen bezeichneten Gegenstand, das heißt in einer plötzlichen Zunahme oder Veränderung von globalen Interaktionen und Verflechtungen, sondern in der Transformation der weltpolitischen Rahmenbedingungen.
Nye, Studying World Politics (), S. .
. Ausblick: Das »Zeitalter der Globalisierung«? »Die Welt ist zehn Jahre alt. Ihre Geburtsstunde war der Fall der Mauer im Jahr .« Merril Lynch,
Im Mai veröffentlichte Theodore Levitt einen Artikel in der Harvard Business Review, mit dem er einen zentralen Begriff der Gegenwartsdiagnostik entscheidend prägen sollte. Unter dem Titel The Globalization of Markets argumentierte der deutschstämmige Ökonom, die Zeit »multinationaler Unternehmen« sei schon wieder vorüber. Um im weltweiten Wettbewerb zu bestehen, müssten Firmen zu »global corporations« werden. Denn ein einheitlicher technologischökonomischer Prozess der »Globalisierung« habe weite Teile der Welt bereits zu »einem großen Markt« vereint. Unternehmen müssten deshalb ebenfalls einen »globalen Ansatz« verfolgen, ihre Produkte und Herangehensweisen weltweit standardisieren und »oberflächliche regionale und nationale Unterschiede« ignorieren. Levitt hatte damit den Begriff der »Globalisierung« zwar nicht erfunden. Er machte ihn jedoch einer größeren Leserschaft bekannt und gab mit dem postulierten Ziel dieses Prozesses, der Entstehung eines einheitlichen »globalen Marktes« eine Interpretation globaler Interaktion und Verflechtung vor, die das Denken über »Globalisierung« entscheidend beeinflussen sollte. Bis heute gilt Levitts Artikel häufig als Gründungstext der Globalisierungstheorie. Diese Interpretation reproduziert dabei jedoch zeitgenössische Sichtweisen: Mitte der er Jahre hatten der »zweite Kalte Krieg« sowie die »Disziplinierung« der Interdependenztheorie die Debatten der er Jahre um globale Verflechtungen und ihre Steuerung weitgehend abreißen lassen. Während der Interdependenz-Begriff in den er Jahren seinen Höhepunkt als Meta-Begriff der Gegenwartsdeutung erlebt hatte, in dem sich verschiedenste Beobachtungen zur Diagnose eines »Zeitalters der Interdependenz« bündelten, ging diese Funktion ab Mitte der er Jahre graduell auf die »Globalisierung« über. Damit setzte sich schrittweise ein neuer Begriff zur Beschreibung entsprechender Phänomene durch, der zunächst vor allem von Wirtschaftswissenschaftlern geprägt und verwendet wurde. Erst in den frühen er Jahren wurde er auch von anderen Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Soziologie oder der Geografie vermehrt aufgegriffen. Der Aufstieg der »Globalisierung« zum zentralen Schlagwort der Gegenwartsdiagnostik, ja gar zum Epochensignum eines »Zeitalters der Globalisierung« wurde dabei mindestens ebenso sehr von weltpolitischen wie von weltwirtschaftlichen oder technologischen Entwicklungen befördert. Mit dem Ende des »Kal Zit. in Friedman, Globalisierung verstehen (), S. . Levitt, The Globalization of Markets ().
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ten Krieges« entstand um die Wende von den er zu den er Jahren besonders in den Vereinigten Staaten der Eindruck, nun in einer völlig neuen Zeit zu leben, zu deren Beschreibung ein neuer Begriff gefunden werden musste. Hier bot sich die »Globalisierung« als Synthesebegriff an.
Globalisierungstheorie in den er Jahren Der Begriff der »Globalisierung« war durchaus schon vor verwendet worden, meist jedoch noch nicht zur Beschreibung einer ökonomisch, sozial und kulturell verflochtenen Welt. Die »Globalisierung der internationalen Politik« bezeichnete in den er Jahren das weltweite Engagement der beiden Supermächte im Kalten Krieg. Zwei Jahrzehnte später lässt sich dann eine erste Bedeutungsverschiebung des Adjektivs »global« beobachten. War es etwa in Murray’s New English Dictionary on Historical Principles von lediglich in seiner Bedeutung als »spherical, globular« angeführt worden, definierte dessen Nachfolgewerk, das Oxford English Dictionary, »global« in seinem ersten Ergänzungsband als »pertaining to or involving the whole world; world-wide, universal«. Für diese Verwendung konnte das Wörterbuch Belege ab anführen, die sich ab den er Jahren häuften. Auch »globalization« als »der Akt des Globalisierens« tauchte nun auf, allerdings als eine an Personen gebundene Handlung und noch nicht als »struktureller Prozess«, dem in den er Jahren mitunter eine eigene Handlungsmacht zugeschrieben wurde. Anfang der er Jahre hatte bereits George Modelski, Professor für Politikwissenschaft an der University of Washington, den Begriff der »Globalisierung« in seinen Arbeiten verwendet. An diesem Beispiel zeigt sich jedoch deutlich, dass nicht die Wörter selbst, sondern die Zeitumstände und Diskussionszusammenhänge für die Interpretation globaler Verflechtung und der zu ihrer Beschreibung verwendeten Begriffe entscheidend sind. Noch hatte Modelksi »Globalisierung« im Sinne einer weltweiten Ausweitung des Kalten Krieges verwendet, sich in den Jahren danach jedoch intensiv mit der Bedeutung multinationaler Unternehmen für die Veränderung der Weltordnung auseinandergesetzt. beschrieb er in seinem Buch Principles of World Politics einen »Prozess der Globalisierung«, der für ihn »globale Interaktion«, »globales Bewusstsein« und ein gewisses Maß an »weltweiter Wertegemeinschaft« umfasste. Die Anfänge dieses Prozesses setzte er um das Jahr n. Chr. an. Beschleunigungs Etwa Mathiesen, Methodology (), bes. S. . Dazu auch Kapitel .. James A. H. Murray (Hrsg.): A New English Dictionary on Historical Principles, Vol. : F-G, Oxford , S. ; R. W. Burchfield (Hrsg.): A Supplement to the Oxford English Dictionary, Volume I: A-G, Oxford , S. . Modelski, Communism and the Globalization of Politics (). Modelski, Multinational Corporations and World Order (); Modelski (Hg.), Transnational Corporations and World Order (). Vgl. dazu Bach, Die Erfindung der Globalisierung, S. - und Knöbl, After Modernization, S. -.
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phasen seien dann die Zeit der europäischen Expansion des . und . Jahrhunderts sowie die Ära des Kolonialismus im . Jahrhundert gewesen. Modelski nutzte den Begriff der »Globalisierung« damit bereits zur Beschreibung und Analyse »globaler Interaktionen« aller Art, bei denen ökonomische Transaktionen eine wichtige Rolle spielten. Gleichzeitig war er inhaltlich trotz der anderen Begrifflichkeit fest in den Interdependenz-Debatten seiner Zeit verankert. Er hatte sich mit Ansätzen des »Weltsystems« auseinandergesetzt und ähnlich wie Richard Falk und Saul Mendlovitz intensiv über die Möglichkeiten der Schaffung eines »gerechteren« Systems nachgedacht. Gleichzeitig beschäftigte ihn die Frage, wie der »Globalisierungsprozess«, der seit den er Jahren der Kontrolle durch Staaten entglitten sei, in Richtung einer »Regierungsstruktur« gelenkt werden könne, die der »Sorge um alle Aspekte des Wohlergehens« der Menschheit höchste Priorität einräume. Damit ordnete sich Modelski in die Debatten um die Steuerung globaler Zusammenhänge ein, die in den er Jahren primär unter dem Begriff der Interdependenz geführt wurden. Denn von der »Globalisierungs-Hypothese« und einer »komplexen, pluralistischen Welt« auszugehen bedeutete für ihn, dass sich das »System der Nationalstaaten« unter günstigen Bedingungen stärker in Übereinstimmung mit den »Bedürfnissen der modernen Weltgesellschaft« entwickeln müsse. Von solchen Überlegungen Modelskis unterschied sich der Blick Theodore Levitts zehn Jahre später grundlegend. Beide verwendeten den Begriff der »Globalisierung«; Modelskis Arbeit von steht jedoch vor, Levitts von nach jener grundlegenden Verschiebung von Deutungen und Prioritäten in den er Jahren, in deren Verlauf die Notwendigkeit einer Steuerung globaler Verflechtung durch zwischenstaatliche Kooperation an Evidenz verloren und der Vorschlag, die effiziente Verteilung von Ressourcen dem »freien Markt« zu überlassen, an Attraktivität gewonnen hatte. Für Levitt ging es damit nicht um die »gerechtere« Ausgestaltung des »Weltsystems«, sondern primär um die Beobachtung, dass die Welt aufgrund technologischer Entwicklungen besonders im Bereich der Konsumgüter zu einem einzigen, zusammenhängenden »globalen Markt« geworden sei, der in Ansätzen sogar schon die Sowjetunion umfasse. Auch diese Weltdeutung war nicht neu. Bereits seit den späten er Jahren war im Rahmen der Debatte um multinationale Unternehmen die Sicht auf den »Weltmarkt« als Summe nationaler »Volkswirtschaften« graduell durch die Auffassung von der Welt als einem zusammenhängenden »globalen Markt« abgelöst worden, der den Aktionsraum für diese Unternehmen bilde. Gleichzeitig ging diese Sicht nicht automatisch mit einer Abwertung von Vorstellungen des »Managements« globaler Verflechtung durch Staaten einher, wie sich am Beispiel Raymond Vernons gezeigt hat. Theodore Levitt verband im Jahr die Perspektive des »globalen Marktes« dagegen mit einer Behauptung, die im vorange Modelski, Principles of World Politics (), S. . Ebd., S. , f. Dazu Kapitel ..
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gangenen Jahrzehnt enorm an Evidenz gewonnen hatte: Nur das »freie Spiel der Marktkräfte« und Unternehmen, die unbehindert von »oberflächlichen regionalen und nationalen Unterschieden« und von staatlichen Regulierungsversuchen global agieren konnten, seien in der Lage, Effizienz zu maximieren. Neu war bei Levitt auch, dass er »Globalisierung« jetzt zu einem nahezu akteursunabhängigen Prozess erklärte, dem selbst Handlungsmacht zukomme. Auch im Rahmen der Interdependenz-Debatte der er Jahre lässt sich bereits die Tendenz beobachten, globale Verflechtung zu einem extra-sozialen Phänomen zu erklären. Schon semantisch hatten sich die »interdependenten« Einheiten und die politisch brisante Frage nach der Symmetrie und Asymmetrie von Abhängigkeitsverhältnissen bislang jedoch nicht so leicht ausblenden lassen. Mit der »Globalisierung« wurde das einfacher; jetzt schien auch die Frage der »Komplexität« der Weltpolitik kaum noch eine Rolle zu spielen, war der »Markt« ganz im »neoliberalen« Denken doch ohnehin der einzige »Informationsprozessor«, der in der Lage war, effizient damit umzugehen. Dass die Deutung Levitts letztlich erfolgreicher werden konnte als Modelskis Variante des Globalisierungs-Begriffs, die aus der Debatte um das »Management« von Interdependenz hervorgegangen war, hatte jedoch nichts mit dem verwendeten Wort und wenig mit der Qualität der jeweiligen Theorie zu tun. Levitts Betonung eines »globalen Marktes« schien nun wesentlich besser zu den veränderten weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der zweiten Hälfte der er Jahre zu passen. Dadurch gewannen Gegenwartsdiagnosen unter dem Begriff der »Globalisierung« insgesamt an Evidenz. Denn mit der Wiederannäherung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion hatten die Spannungen des »zweiten Kalten Krieges« ab / wieder nachgelassen. Gorbačevs Rede von einer verflochtenen Welt und sein außenpolitischer Kurswechsel stellten sogar eine Integration der Sowjetunion in die von den USA dominierte liberale Weltwirtschaftsordnung in Aussicht. Gleichzeitig hatte in der Volksrepublik China Deng Xiaoping nicht nur den Kurs der »Normalisierung« der Beziehungen zu den USA fortgesetzt, sondern ab / mit ersten marktwirtschaftlichen Reformen begonnen und das Land gegenüber internationalen Investitionen geöffnet. Ende der er Jahre schien damit die ideologische Herausforderung der liberalen Weltwirtschaftsordnung durch den Kommunismus endgültig der Vergangenheit anzugehören. rief Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte« aus, da es nun keine Konkurrenz zu den liberalen Prinzipien der Marktwirtschaft und der Demokratie mehr gebe. Auch der zentrale Alternativentwurf der er Jahre, das Projekt einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, war mittler In der Literatur zur Volksrepublik China dominiert eine durch deren spätere weltwirtschaftliche Bedeutung stark verzerrte Perspektive auf diese »Vorgeschichte«. Vgl. aber Spence, Chinas Weg, Teil V; Bösch, Zeitenwende , S. -. Fukuyama, The End of History? (). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion baute Fukuyama sein Argument in Fukuyama, The End of History and the Last Man () noch weiter aus.
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weile im Sande verlaufen. Die »Dritte Welt« wurde jetzt zunehmend als Teil des einen, »globalen Marktes« gesehen, für die keine besonderen Bedingungen bei Rohstoffpreisen oder Handelspräferenzen mehr gelten konnten. Seit hatte die UNCTAD auf die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung verzichtet. beschloss sie sogar, zukünftig kein Forum für die Aushandlung weltwirtschaftlicher Fragen mehr sein zu wollen. Diese wurden nun primär im Rahmen des IWF, der Weltbank und der »Uruguay-Runde« des GATT verhandelt, in denen die Staaten des »Südens« weit weniger Einfluss ausüben konnten als im UN-System. Der Erfolg der ab Mitte der er Jahre als »Tigerstaaten« bezeichneten Länder Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong, die durch ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum seit den er Jahren den Aufstieg von »Entwicklungsländern« zu »Schwellenländern« geschafft hatten, diente als Beleg für die Annahmen des »Washington Consensus« und einer positiven Wirkung der Integration in den globalen Markt. Denn ein Bericht der Weltbank führte diese Erfolgsgeschichte auf eine exportorientierte Politik zurück, die durch Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkungen und die Kürzung von Sozialleistungen Handelshemmnisse abgebaut und die eigene Wettbewerbsfähigkeit gesteigert habe. »Entwicklung« hing in dieser Sicht von der Entschlossenheit einzelner Länder ab, private Initiative zu fördern, nicht von einer Veränderung internationaler Strukturen.
Das Ende des Kalten Krieges und der Beginn des »Zeitalters der Globalisierung«? Dass die »Globalisierung« Anfang der er Jahre zum zentralen Begriff der Gegenwartsanalyse, ja zum Epochensignum eines neuen »Zeitalters« aufsteigen konnte, liegt weniger an einer sprunghaften Zunahme oder einem grundlegenden Formwandel globaler Interaktion und Verflechtung, deren Indikatoren von den er bis in die er Jahre relativ konstant nach oben wiesen, als viel Siehe etwa die geänderte Haltung in Bhagwati, Political Economy (), der in den er Jahren noch zu den Unterstützern der NIEO gezählt hatte. Bhagwati, Introduction (), S. . Für eine Reaktion aus dem Kontext der Dependenztheorie siehe Frank, ReOrient (). Vgl. Smith/Taylor, UNCTAD, S. -. The East Asian Miracle: Economic Growth and Public Policy: Main Report, . Sept. , http://documents.worldbank.org/curated/en//Main-report (..); Page, The East Asian Miracle () und zuvor bereits ähnlich World Bank, World Development Report (). Spätere Studien, die aus der erfolgreichen »Entwicklung« asiatischer Staaten Lehren für die übrige »Dritte Welt« ableiten wollten, haben allerdings gezeigt, dass deren Integration in die Weltwirtschaft auf einer Mischung von »Liberalisierung« und einer starken Rolle des Staates basierte. Vgl. Gore, Global Interdependence, S. -.
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mehr an den weltpolitischen Umbrüchen der Jahre /. Die historische Forschung hat mittlerweile betont, dass diese »Zäsur« besonders außerhalb von Europa eher als ein Aspekt eines viel langfristigeren Übergangs zu betrachten sei. Auch bei ökonomischen Indikatoren ist hier zunächst kein besonderer Bruch zu beobachten. Doch hatte sich unter Zeitgenossen mit dem Ende des Kalten Krieges Anfang der er Jahre der Eindruck verfestigt, relativ plötzlich in eine völlig neue Ära der Weltpolitik, ja der Geschichte übergegangen zu sein. Zeiträume wie die er Jahre, in denen die Zeitgenossen ihre Gegenwart ebenfalls als neuartig empfunden hatten, erschienen damit Anfang der er Jahre nur noch als Teil einer statischen Vergangenheit, die in Kontrast zur dynamischen Gegenwart gesetzt wurde. In einem »euphorischen Mythos« wurde damit zum »Jahr Null« für das Verständnis und die Ordnung der Welt erklärt. Eine von der Investmentbank Merrill Lynch in mehreren großen Zeitungen geschaltete Anzeige behauptete : »Die Welt ist zehn Jahre alt. Ihre Geburtsstunde war der Fall der Mauer im Jahr .« Diese »neue Welt« wurde dabei nicht ausschließlich mit Begeisterung begrüßt. Beobachter in den Vereinigten Staaten blickten durchaus auch mit einer gewissen Nostalgie auf die relativ stabile, berechenbare und vor allem leicht verständliche Vergangenheit des Kalten Krieges zurück und fürchteten für die Zukunft Instabilität, Konflikte und einen »Kampf der Kulturen«. Insgesamt waren die Erwartungen jedoch gerade in den Vereinigten Staaten überwiegend positiv. Jetzt schien nicht nur eine neue Epoche angebrochen, sondern der Wettbewerb zwischen »Ost« und »West« sogar mit einem »Sieg« der USA beendet. Die ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion machten jetzt teils radikale Umgestaltungen nach den Vorgaben des »Washington Consensus« durch. Diese Länder stürzten dadurch zwar wirtschaftlich und innenpolitisch in tiefe Krisen; die Reformmaßnahmen versprachen aber
Siehe etwa die Daten in Maddison, The World Economy (), S. , . Vgl. u. a. Lawson/Armbruster/Cox (Hg.), The Global . Besonders deutlich etwa bei Kenichi, The Borderless World (). Der Historiker Adam McKeown hat angemerkt, »the only consistent fate of each transformative new age« sei es, vom nächsten »neuen Zeitalter« als eine »period of stasis and isolation« betrachtet zu werden. McKeown, Periodizing Globalization, S. . Siehe Latham, The Liberal Moment, S. . Zit. in Friedman, Globalisierung verstehen (), S. . Bereits im September hatte der stellvertretende Außenminister Lawrence Eagleburger festgestellt, bei allen Risiken und Unsicherheiten sei der Kalte Krieg doch von bemerkenswert stabilen und vorhersehbaren Beziehungen zwischen den Großmächten geprägt gewesen. Zit. in Beschloss/Talbott, At the Highest Levels (), S. . Siehe zudem Mearsheimer, Why We Will Soon Miss the Cold War (); Huntington, The Clash of Civilizations (). Vgl. dazu Ikenberry, The Myth of Post-Cold War Chaos (). Vgl. Schrecker (Hg.), Cold War Triumphalism.
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auch eine Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft und damit die nun wirklich lückenlose und weltweite Ausbreitung des einen »globalen Marktes«. Damit stand Ende die Etablierung einer »neuen Weltordnung« in Aussicht, womit jetzt jedoch meist keine grundlegende Neugestaltung, sondern die weltweite Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Ordnungsvorstellungen der Vereinigten Staaten gemeint war. Der »neokonservative« Kommentator Charles Krauthammer rief gar einen »unipolar moment« aus, in dem die Vereinigten Staaten weitgehend allein über das weitere Schicksal der Welt bestimmen könnten. Die Niedergangs-Debatten der er Jahre schienen jetzt der Vergangenheit anzugehören. Joseph Nye ging davon aus, die Vereinigten Staaten seien auch in der Zukunft Bound to Lead; Robert Keohane empfand seinen Titel After Hegemenony von sechzehn Jahre später als durchaus voreilig. Anfang der er Jahre war damit in den Augen zeitgenössischer Beobachter eine neue Epoche angebrochen, die aus amerikanischer Sicht ökonomisches Wachstum und weltpolitische Vormachtstellung versprach. Doch fehlte noch ein Begriff für die neue Zeit, die mit »post-Cold War era« nur unzulänglich beschrieben schien. Hier bot sich die »Globalisierung« an. Denn der Begriff versprach nicht nur eine über ihren Charakter als »Nachkrieg« hinausgehende positive Definition der neuen Zeit, sondern stellte auch eine optimistische Meistererzählung und damit die Überwindung einer Reihe von skeptischen Zeitdiagnosen wie »Post-Kapitalismus« oder »Post-Moderne« in Aussicht. Vertreter der Globalisierungs-These waren dabei mitunter wie besessen von der angenommenen Neuartigkeit dieses Prozesses und hatten nur ein sehr geringes Bewusstsein für dessen Historizität. Denn für sie waren sämtliche Deutungen, Begriffe und Theorien, die zum Verständnis der »alten Welt« entwickelt worden waren, auf einen Schlag entwertet. Zu anders schien das neue »Zeitalter der Globalisierung« nach dem Ende des »Kalten Krieges«. Schon beklagte der britische Soziologe Stuart Hall, Sozialwissenschaftler und andere Beobachter der Gegenwart litten immer stärker unter »historischer Amnesie«. Weil sie erst Vgl. Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent und die Beiträge in Blum (Hg.), Russia and Globalization. Bush, George: Address Before a Joint Session of the Congress on the Persian Gulf Crisis and the Federal Budget Deficit, . Sept. , www.presidency.ucsb.edu/documents/address-before-joint-session-the-congress-the-persian-gulf-crisis-and-the-federal-budget (..). Krauthammer, The Unipolar Moment (). Nye, Bound to Lead (); Keohane, Foreword (), S. xii. Für ein Umdenken bei Stephen Krasner siehe Webb/Krasner, Hegemonic Stability Theory (), S. ; kritisch Strange, Wake Up Krasner! (). Präsident Clinton beauftragte sogar das State Department damit, eine alternative Formel für die amerikanische Außenpolitik zu finden. Siehe Eckel, Politik der Globalisierung , S. f.. Darauf weist Eckel, Alles hängt mit allem zusammen, S. f. hin.
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jetzt über einen neuen Begriff verfügten, gingen sie davon aus, die dahinterstehenden Entwicklungen hätten ebenfalls gerade erst begonnen. Schon wegen der angenommenen Neuartigkeit der damit beschriebenen Prozesse konnte »Globablisierung« in den er Jahren zum »Fahnenwort der Zeitdiagnose« in einem neuen »globalen Zeitalter« aufsteigen. Der Begriff der »Interdependenz« war zwar auch in den Medien diskutiert worden, dabei aber immer eher der Gegenstand der Debatten von Experten und Eliten geblieben. Die Folgen der »Globalisierung« dagegen schienen sich jetzt in der alltäglichen Lebenswelt aller Bewohner Nordamerikas oder Westeuropas bemerkbar zu machen. Der Begriff beschrieb jetzt auch für eine breite Öffentlichkeit die zentrale Herausforderung der Gegenwart. Zudem wurde er wesentlich häufiger als »Interdependenz« in anderen Sprachen direkt aus dem Englischen übernommen. »Globalisierung« wurde damit noch stärker als »Interdependenz« zum Metabegriff, in dem eine ganze Reihe von Entwicklungen gebündelt und damit ein kausaler Zusammenhang zwischen ihnen impliziert wurde, der einer näheren Betrachtung nicht immer standhält. Das lag neben den politischen Zeitumständen auch an den Begriffen selbst: Anders als der sperrige und stets umstrittene Vorgänger-Begriff war »Globalisierung« nun einerseits präzise genug, um zu suggerieren, es sei allen Beteiligten klar, worum es gehe. Andererseits war der Begriff jedoch auch allgemein genug, um eine ganze Reihe von verschiedenen Deutungen und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen mit ihm beschreiben und legitimieren zu können. Anfang der er Jahre differenzierte sich die Globalisierungs-Debatte rasch aus. Neben den Wirtschaftswissenschaften befassten sich nun auch Soziologen, bald auch Politikwissenschaftler und eine ganze Reihe anderer sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen mit von diesem Begriff beschriebenen Phänomenen und setzte neue Akzente, etwa indem sie unter dem Schlagwort der »Hybridisierung« auch kulturelle Aspekte in den Blick nahmen. Dabei entstanden Hall, The Local and the Global (), S. . Vgl. auch McKeown, All that is Molten Freezes Again. Raphael, Wie weiter nach Ulrich Herberts Deutsche Geschichte im . Jahrhundert?, S. . Das »globale Zeitalter« u. a. bei Albrow, The Global Age (). Dazu Eckel, Alles hängt mit allem zusammen, S. . Die große Ausnahme stellt wohl das Französische dar, in dem primär von »mondialisation« die Rede ist. Im Deutschen dagegen wurde »interdependence« meist als »wechselseitige Abhängigkeit« umschrieben, »Globalisierung« dagegen übernommen. Vergleichbares gilt für »vzaimozavisimosť« und »globalizacija« im Russischen. Zur »Globalisierung« der Globalisierungsdebatte vgl. Tetzlaff (Hg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck. Für einen Überblick vgl. Eriksen, Globalization; Robinson, Theories of Globalization; Bemerburg/Nederbacher (Hg.), Die Globalisierung und ihre Kritik(er); Becker et al., Globalisierung und Global Governance; Osterhammel, Globalifizierung. Bereits Featherstone (Hg.), Global Culture () und dann besonders Young, Colonial Desire (); Appadurai, Modernity at Large (). Dazu James, Paul u. a. (Hg.): Globalization and Culture. Bände, Los Angeles .
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schon früh abwägend argumentierende Arbeiten: James Rosenau beispielsweise nutzte in Turbulence in World Politics den Begriff der »Globalisierung« noch gar nicht, diskutierte aber eine Reihe von entsprechenden Entwicklungen. Roland Robertson ordnete die »Globalisierung« im selben Jahr entgegen der vorherrschenden These von ihrer Neuartigkeit in längerfristige Zusammenhänge ein. Besonders in den Medien und in populärwissenschaftlichen Publikationen dominierten dagegen zunächst weniger ausgewogene Einschätzungen. Grob lassen sich für die er Jahre vier Hauptstränge der Globalisierungsdebatte beobachten. »Hyperglobalisten«, »Skeptiker« und »Kritiker« sowie schließlich eine differenziertere Herangehensweise der »transformationalistischen Perspektive«. An diesen Strängen der Globalisierungs-Debatte lassen sich eine Reihe von neuen Perspektiven und Brüchen, aber auch Kontinuitäten zur Interdependenz-Debatte der er Jahre verdeutlichen.
Hyperglobalisten ‒ Globalisierung als Modernisierung Als »Hyperglobalisten« oder »market globalists« werden Kommentatorinnen und Kommentatoren bezeichnet, die ab Beginn der er Jahre von einer nahezu ungehemmten Ausbreitung der »Globalisierung« ausgingen und diese positiv bewerten. Für Thomas L. Friedman, Kolumnist der New York Times, war der liberale Kapitalismus nicht nur die treibende Kraft »hinter« der »Globalisierung«; er definierte diesen Prozess selbst als Ausbreitung des »freien Marktes« in nahezu jedes Land auf der Welt. Gleichzeitig deutete er diesen Prozess überaus positiv: Je stärker sich ein Land für Freihandel und Wettbewerb öffne, desto günstiger verlaufe seine wirtschaftliche Entwicklung. Bei Friedman und anderen »Hyperglobalisten« erlebte die Sprache der »Ströme« und »Netzwerke« in den er Jahren eine Hochphase. Dabei wurde die »Globalisierung« entpolitisiert und die Ausbreitung kapitalistischer Ideen und Verbindungen zu einem vermeintlich »extra-sozialen« Prozess naturalisiert, der kaum steuer- und schon gar nicht aufhaltbar schien. »Globalisierung« wurde in dieser Sicht nicht von Akteuren und ihren Entscheidungen vorangetrieben, sondern erhielt selbst Akteursqualität und Handlungsmacht. Staaten konnten sich nur möglichst effizient anpassen, etwa durch Deregulierung und den Abbau von Handelsschranken: »No one is in charge« ‒ das war für Friedman die wichtigste Erkenntnis über die Globalisierung. Und doch waren bei ihm die ökono Rosenau, Turbulence in World Politics (); Robertson, Mapping the Global Condition (). Die Bezeichnungen frei nach Held/McGrew/Goldblatt, Global Transformations, die zwischen der »hyperglobalist«, der »sceptical« und der »transformationalist thesis« unterscheiden. Friedman, The Lexus and the Olive Tree (), S. . Ebd., Kap. . Kritik an dieser Sicht bei Cooper, How Global Do We Want Our Intellectual History to Be?, S. , Anm. . Die Wirtschaftswissenschaften unterliegen von
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mische Dominanz und militärische Macht der Vereinigten Staaten die wichtigsten Garanten von Freihandel und der weltweiten Integration von Märkten ‒ das Land schien eine besondere Beziehung zu diesem vermeintlichen »Naturprozess« zu haben. Mit solchen Thesen kehrten nun seit den er Jahren für überholt erklärte Interpretamente in neuem Gewand zurück: Das Denken in Kategorien des »Fortschritts« und der »sozialen Evolution« des . Jahrhunderts und die Annahmen der Modernisierungstheorie der er und er Jahre. Die eingangs zitierte Werbung von Merill Lynch schloss sich nicht nur der Erzählung der Überwindung von Grenzen durch Technologie an, sondern stellte »Globalisierung« als biologischen Reifeprozess dar: »Für ihr zartes Alter von zehn Jahren« gebe die Welt »nach wie vor Anlaß zu großen Hoffnungen«. Niemand könne jedoch behaupten, »Erwachsenwerden sei einfach«. Vergleichbar mit der »Modernisierung« nutzten viele Autoren »Globalisierung« jetzt als Sammelbegriff für eine ganze Reihe weiterer Prozessbegriffe. Diese wurden mitunter selbst als unaufhaltbare historische »Gesetzmäßigkeiten« gedeutet und in ein teleologisches und komplexitätsreduzierendes Narrativ verpackt. Besonders in den Vereinigten Staaten deuteten manche ‒ sicher nicht alle ‒ Beobachter »Globalisierung« jetzt nicht nur als globale Ausbreitung des liberalen Kapitalismus, sondern auch amerikanischer Kultur und Werte. Während Kritiker hier von einer kulturellen »McDonaldisierung« sprachen, wurde die These von der »Amerikanisierung« der Welt von ihren Befürwortern wiederholt mit deren »Demokratisierung« in Verbindung gebracht. Die Verfolgung
allen Sozialwissenschaften vielleicht am stärksten der Tendenz, den von ihr selbst hervorgebrachten Gegenstand zu naturalisieren, das heißt ihn in Perspektive und Methode zu behandeln, als wäre er ein »objektiv« beobachtbares »Naturphänomen«, das sich mit positivistischen, den Naturwissenschaften entlehnten Methoden beschreiben und analysieren lässt. Dies gilt für »die Wirtschaft«, für »den Markt« und eben auch für »die Globalisierung«. Vgl. Mirowski (Hg.), Natural Images; Speich Chassé, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts, S. , f., ff. Friedman, The Lexus and the Olive Tree (), S. , , , , f. Für Lucian Pye hatte die Transformation der Sowjetunion unter Gorbačev doch noch die Annahmen der Modernisierungstheorie bestätigt. Pye, Political Science and the Crisis of Authoritarianism (1990). Die Politikwissenschaftlerin Monica Tennberg führte die »Globalisierung« auf die »tendency of the human species to grow, develop and expand« zurück. Tennberg, Risky Business (), S. -. Thomas Friedman sprach gar von »globalution«. Friedman, The Lexus and the Olive Tree (), S. f., -. Zit. in Friedman, Globalisierung verstehen (), S. . Dazu Taylor, Izations of the World. Kritisch Ritzer/Vogel, Die McDonaldisierung der Gesellschaft (); Barber, Jihad vs. McWorld (); Marling, How »American« is Globalization? (). Siehe etwa Economic Globalization and Culture: A Discussion with Dr. Francis Fukuyama, Merrill Lynch Forum, www.oocities.org/rpallais/Fukuyama.htm (..). Dazu auch Iriye, Globalization as Americanization? (). Auf dieses Verständnis von »Globalisierung« treffen damit die theoretischen Unterschiede zur Modernisierungstheorie nicht zu, die Knöbl, After Modernization zu Recht für die meisten anderen Varianten der Globalisierungstheorie feststellt.
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ökonomischer Eigeninteressen und der Schutz der »nationalen Sicherheit« der Vereinigten Staaten schien sich in der »Globalisierung« nicht nur harmonisch mit der weltweiten Förderung liberaler Werte zu verbinden, sondern geradezu im Interesse der gesamten Menschheit zu liegen. Das imaginierte »Ziel« des Globalisierungs-Prozesses lag bei manchen Hyperglobalisten damit in der vollständigen Erfassung der Welt durch den liberalen Kapitalismus und ihrer kulturellen Homogenisierung nach amerikanischem Vorbild. Semantisch blieb hier jedoch offen, ob dieses Ziel noch in der Zukunft lag oder bereits erreicht war, wurde doch simultan von einer »sich globalisierenden« und einer bereits »globalisierten« Welt gesprochen. Besonders die Vorstellung von der Welt als einem »globalen Markt« war bereits seit den er Jahren auch politisch handlungsleitend geworden. Die weitere Entwicklung der Transport- und Kommunikationstechnologie, besonders die »Containerisierung«, hatte eine Verlagerung von Produktionsstandorten aus »Industriestaaten« in Länder mit niedrigeren Lohnkosten möglich gemacht. Bereits seit den späten er Jahren unter dem Schlagwort einer »neuen internationalen Arbeitsteilung« diskutiert, wurde diese Entwicklung ab Ende der er Jahre als »outsourcing« bezeichnet und zunehmend als Bedrohung für die Ökonomien des nordatlantischen Raums empfunden. Denn in einem als global verstandenen Wettbewerb konkurrierten sie jetzt darum, sich durch Maßnahmen wie Steuersenkungen als »Standort« für Investitionen oder die Ansiedlung von räumlich scheinbar überhaupt nicht mehr zu verortenden Unternehmen zu empfehlen. Schon in der zweiten Hälfte der er Jahre diente die Globalisierungs-Diagnose damit als Grundlage für weitere Deregulierungsschritte gerade im Bereich der Finanzwirtschaft. In den er Jahren wurde das Argument eines »globalen Standortwettbewerbs« dazu genutzt, um etwa Reformen des Sozialstaats als »alternativlos« zu legitimieren. Solche Maßnahmen begünstigten wiederum eine weitere Verdichtung internationaler Handels- und Finanzbezie-
Latham, The Right Kind of Revolution, S. . Siehe auch Karatnycky, A Century of Progress (); Micklethwait/Woodridge, The Hidden Promise (); Mandelbaum, The Ideas that Conquered the World (). Fröbel/Heinrichs/Kreie, Die neue internationale Arbeitsteilung (); Balassa, The Newly Industrializing Countries (). Zum »outsourcing« Mair, Outsourcing. Diese Entwicklung wurde zunächst in der Textilindustrie beobachtet. Für den bundesdeutschen Fall vgl. Lindner, Den Faden verloren; Gertschen, Klassenfeinde – Branchenpartner?. Zur »Containerisierung« Levinson, The Box. Dazu zeitgenössisch u. a. Kenichi, Macht der Triade (); Porter, Competition in Global Industries (). Zur Historisierung dieser Debatte vgl. das Projekt von Wencke Meteling »Debatten um Wirtschaftsleistung und Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik und Großbritanniens (er Jahre bis zur Gegenwart)«. Daraus bereits Meteling, Internationale Konkurrenz; Meteling, Nationale Standortsemantiken und Meteling, Standortsicherung = Zukunftssicherung. Zum deutschen Fall Eckel, Alles hängt mit allem zusammen.
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hungen und machten den Globalisierungs-Befund somit zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. In ihrer extremsten Auslegung hatte die Rede von der Globalisierung jedoch auch Auswirkungen im Bereich der Sicherheitspolitik, ging sie bei manchen Hyperglobalisten doch mit Vorstellungen eines »Zivilisationsgefälles« zwischen globalisierten Ländern der »Zone des Friedens« und nichtglobalisierten Ländern in einer »Zone der Unruhe« einher. »Unterentwicklung« und Ungleichheit wurden hier durch die »Weigerung (oder Unfähigkeit) mancher Länder« erklärt, sich an der »Globalisierung« zu beteiligen. Besonders nach den Anschlägen vom . September schien es sich dabei nicht mehr nur um Probleme der »Peripherie« zu handeln. Die mangelhafte globale Integration anderer Weltregionen wurde zu einer Bedrohung der »nationalen Sicherheit« der Vereinigten Staaten erklärt. Thomas P. M. Barnett, Militärstratege am U. S. Naval War College, beschrieb im März eine »Zone der Diskonnektivität« als Raum, in dem Armut, Krankheit, Mord und chronische Konflikte endemisch seien und in dem die »nächste Generation globaler Terroristen« herangezogen werde. Der Kampf gegen diese Kräfte der »disconnectedness« war für Barnett damit eine Frage der »nationalen Sicherheit«. Die Länder der »non-integrating gap« müssten in globale Verflechtungszusammenhänge integriert werden, notfalls auch unter Zwang. Die Legitimation dazu ergebe sich aus der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten die »Patin der Globalisierung, ihr Quellcode, ihr ursprüngliches Vorbild« seien. Barnetts Argumentation lief damit auf eine Neubelebung des amerikanischen »Globalismus« der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinaus, der Bedrohung als total definierte und deshalb mit einer globalen Strategie reagieren wollte. Seine steile These brachte ihm eine Stelle als Berater im Verteidigungsministerium unter Donald Rumsfeld ein. Die Powerpoint-Präsentation seines Arguments wurde verpflichtender Teil der Ausbildung aller zukünftigen Generäle der Air Force.
Darauf weist etwa Wirsching, Toward a New Europe? hin. Zur Politik der Regierungen Clinton, Blair und Schröder vgl. Rossow, Globalismus und New Labour sowie Eckel, Politik der Globalisierung. Zu dieser Zweiteilung der Welt Goldgeier/McFaul, The Tale of Two Worlds (); Singer/Wildavsky, The Real World Order (). Wolf, Why Globalization Works (), S. und -. Vgl. dazu McKeown, Periodizing Globalization, S. . Barnett, The Pentagon’s New Map (). Barnett, The Pentagon’s New Map (), S. . Sein Globlogization-Projekt trug ebenfalls dazu bei, seine geopolitische Vision zu verbreiten. http://thomaspmbarnett. com (..). Eine vergleichbare Dreiteilung der Welt in »pre-modern, modern and post-modern states« und ein daraus abgeleitetes Lob des globalen Marktes findet sich bei Cooper, Robert: The New Liberal Imperialism, The Guardian, . April , www. theguardian.com/world//apr// (..). Siehe dazu Steger, Globalisms, S. ; Dalby, The Pentagon’s New Imperial Cartography (); Dalby, Imperialism, Domination, Culture ().
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Skeptiker, Kritiker, Alter-Globalisten Auch in den er Jahren gab es jedoch noch »Skeptiker«, die im Gegensatz zu den »Hyperglobalisten« entweder davon ausgingen, es finde gar kein Prozess einer »Globalisierung« statt oder meinten, die Reichweite und die Bedeutung dieser Entwicklung sei nicht so groß wie behauptet. Andere Kommentatoren nahmen durchaus an, dass globale Interaktion und Verflechtung stetig zunähmen, wollten dafür jedoch nicht den unpräzisen Begriff der »Globalisierung« verwenden; Robert Keohane wollte noch lieber von »Internationalisierung« sprechen. Solche Skeptiker entstammten häufig der Disziplin der Internationalen Beziehungen und vertraten Ansätze, die in den er Jahren in der Auseinandersetzung mit wachsender Interdependenz entstanden waren: So zweifelten Vertreter des »Neorealismus« an der Annahme vom Primat des Ökonomischen über das Politische und insistierten, bei allem Wandel habe man es weiterhin mit einer »staatsdominierten Welt« zu tun. Gleichzeitig habe sich das internationale System gar nicht so grundlegend verändert, Regierungen und Herrscher hätten schon immer in einem »transnationalen Umfeld« operiert. Neben den »Neorealisten« meldeten auch Vertreterinnen und Vertreter der International Political Economy und interdependenztheoretischer Ansätze Vorbehalte an. Sie hatten schon seit den er Jahren die These einer global verflochtenen Welt vertreten und störten sich deshalb an der Behauptung, bei der »Globalisierung« handele es sich um eine neuartige und welthistorisch einmalige Transformation. Die Entwicklungen der er Jahre erschienen aus ihrer Perspektive eher als Intensivierung der von ihnen schon länger beobachteten Entwicklungen denn als etwas radikal Neues; Fragen staatlicher Macht und asymmetrischer Verflechtung dürften deshalb nicht vernachlässigt werden. Ab Mitte der er Jahre formierte sich drittens eine sehr heterogene Strömung verschiedenster »Globalisierungskritiker«, die zunächst eher am Rand oder außerhalb der sozialwisssenschaftlichen Debatten standen. Solche Akteure und Gruppen hatten die Diagnose eines stetig voranschreitenden »Prozesses der Globalisierung« durchaus übernommen, kritisierten jedoch dessen politische Ausgestaltung und dessen soziale und kulturelle Folgen. Zur Verstärkung Keohane/Milner, Introduction (). Krasner, Globalization and Sovereignty (), S. ; Gindin/Panitch, Global Capitalism (), S. . Bei der IPE gehe es laut einem zentralen Lehrbuch um »the relationship of the world economy to the power politics among nations«. Lairson/Skidmore, International Political Economy (), S. . Für Benjamin Cohen steht hinter dieser Skepsis jedoch auch der Rückzug der amerikanischen Variante der Disziplin in kleinteilige Debatten. Anders die »British School«, für die Staaten nur eine Gruppe von Akteuren unter vielen sind. Dazu Cohen, International Political Economy, S. -, -. Solche Gruppen sind bislang kaum historisiert worden. Vgl. jedoch Steger, The Rise of the Global Imaginary, S. - und das Projekt von Lukas Hezel »Die Internationale der Hoffnung«. Das Staatsdenken der globalisierungskritischen Bewegungen an der Universität Mannheim.
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solcher Kritik trug die sogenannte »Asienkrise« entscheidend bei, die / besonders in Indonesien, Südkorea und Thailand zu großen wirtschaftlichen Problemen führte. Auch wenn etwa Taiwan davon kaum betroffen war, ließ sie Deregulierung und Einbindung in den Weltmarkt als vermeintliche Erfolgsrezept für den Aufstieg der »Tigerstaaten« nun fraglich werden und dämpfte die anfangs mit der »Globalisierung« verbundene Euphorie. Auch in den Sozialwissenschaften fanden jetzt kritische Stimmen mehr Gehör, die wie der britische Philosoph John Gray vor einer »falschen Morgenröte« und den »Täuschungen des globalen Kapitalismus« warnten und eine ausgewogenere Betrachtung von »Globalisierungsprozessen« einforderten. Selbst bekannte Ökonomen wie Joseph Stiglitz oder Paul Krugman und Investoren wie George Soros schrieben jetzt über die Nachteile des globalen Kapitalismus und sprachen sich für eine stärkere staatliche Kontrolle von Kapitalbewegungen aus. Noch weiter gingen Akteure und Initiativen, die meist dem linken Spektrum entstammten und die als »globalisierungskritische Bewegung« zusammengefasst werden. Deregulierung, Privatisierung, Abbau von Sozialleistungen und eine exportorientierte Wirtschaftspolitik erschienen ihnen immer weniger als zwangsläufige Folgen der »Globalisierung«, sondern als Bestandteile einer »neoliberalen Ideologie«. Zentrale Wegmarken bei der Formierung dieser Bewegung waren die Proteste gegen die WTO-Ministerkonferenz in Seattle , der Widerstand gegen den G-Gipfel in Genua und das im selben Jahr gestartete Weltsozialforum in Porto Alegre. Die meisten der dort vertretenen Akteure betonten dabei, dass sie keine Gegner globaler Verflechtung, keine »Anti-Globalisten«, sondern »Alter-Globalisten« seien. Damit wollten sie deutlich machen, dass sie zwar deren »neoliberale« Auslegung ablehnten, jedoch nicht für »Abschottung«, sondern für eine andere Ausgestaltung der »Globalisierung« eintraten. Denn soziale und ökologische Probleme seien nicht auf nationaler oder regionaler, sondern nur auf inter- oder besser transnationaler Ebene lösbar. Die zentralen Feindbilder waren hier neben einem meist eher diffus definierten »Neoliberalismus« die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Weltwirtschaftsgipfel in Davos sowie Institutionen wie die Weltbank und der Weltwährungsfonds. Deren Deutung der »Globalisierung« als Ausbreitung des Kapitalismus und die Rezepte des »Washington Consensus« wurden für Probleme wie Armut und Umweltverschmutzung verant Gray, False Dawn (). Aus diesem Kontext auch Hay/Marsh (Hg.), Demystifying Globalization (). Später etwa Goldinger, Die Mär von der Globalisierung (). Soros, The Crisis of Global Capitalism (), bes. S. , ; Krugman, The Return of Depression Economics (), S. ; Stiglitz, Globalization and its Discontents (). Dazu Leggewie, Die Globalisierung, der jedoch selbst eher teilnehmender Beobachter dieses Gipfels war. Die World Social Forum Charter of Principles wollte etwa ein »globales Wir« schaffen und eine »planetary society« aufbauen. Abgedruckt in Leite, The World Social Forum (), S. -. Siehe auch George, Another World ().
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wortlich gemacht. Dahinter stand in Umkehrung der positiven Deutung von »Globalisierung« als »Amerikanisierung« für manche Autoren ein bewusst angestrebtes »amerikanisches Projekt« des »Neo-Imperialismus«. Um alternative Formen globaler Interaktion möglich zu machen, verfolgten »globalisierungskritische« Akteure jetzt eine Reihe von Lösungsansätzen, die von »kosmopolitischen« Ideen und der Förderung eines Bewusstseins für »global citizenship«, über sozialistische Alternativen und die vom globalisierungskritischen Netzwerk ATTAC vertretenen Vorschläge zur Umstrukturierung der Weltwirtschaftsordnung über eine Finanztransaktionssteuer auf internationale Devisengeschäfte (Tobin-Steuer) bis hin zu gewaltsamem Vorgehen reichten. Aus der Sicht vieler Kritiker zeigen sich die negativen Folgen der »neoliberalen« Ausgestaltung der »Globalisierung« besonders deutlich im »globalen Süden«. In dieser Argumentation lassen sich nicht nur Ähnlichkeiten und Kontinuitäten zu Akteuren und Ideen aus der »Dritten Welt-Bewegung« der er und er Jahre beobachten. Auch der Begriff der »Interdependenz« erlebte im Kontext der Nord-Süd-Beziehungen ein Comeback. Er diente nun weniger als Gegenwartsdiagnose, sondern vielmehr als normatives Bekenntnis zu einer gerechteren Weltordnung. Seit begehen philantropische Organisationen aus den USA und anderen Staaten beispielsweise einen Interdependence Day am . September. Im Jahr ließ UN-Generalsekretär Kofi Annan zu diesem Anlass erklären, in einem »Zeitalter der Interdependenz« müssten globale Ver Tarrow, The New Transnational Activism (), S. -. Schon hatte der Ökononom Joseph Stiglitz einen »post-Washington consensus« gefordert. Stiglitz, Joseph E.: Towards a New Paradigm for Development: Strategies, Policies, and Processes. Given as the Prebisch Lecture at UNCTAD, Geneva, . Okt. , http://siteresources.worldbank.org/NEWS/Resources/prebisch.pdf (..). Nach der Finanzkrise wurde wiederholt dessen Ende ausgerufen, ohne dass die damit verbundenen Probleme jedoch verschwunden wären. Dazu Stiglitz, Im freien Fall (), S. . Hippler, Pax Americana? (); Chomsky, World Orders (); Gindin/Panitch, Global Capitalism (). Vgl. die Beiträge in Mazlish/Chanda/Weisbrode (Hg.), The Paradox of a Global USA. Zur »global citizenship«: Held, Democracy and the Global Order (); Nussbaum, For Love of Country (). Zu ATTAC: Grefe/Greffrath/Schumann, Attac. Vgl. zum französischen Fall Agrikoliansky, Du tiers-mondisme à l’altermondialisme. Der Rockefeller Brothers Fund betrieb etwa in den er Jahren eine Global Interdependence Initiative. Siehe Mazur, Laurie Ann/Sechler, Susan E.: Global Interdependence and the Need for Social Stewardship, . Das Collegium International, eine mit hochrangigen Wissenschaftlern und (ehemaligen) Politikern besetzte Gruppe erarbeitete eine neue »Declaration of Interdependence«: www.collegium-international.org/en/presentation/textes-fondateurs/universal-declaration-of-interdependence. html (..). Siehe Barber/Myers (Hg.), The Interdependence Handbook (); www.paragk hanna.com/home/americas-interdependence-day (..); Hon. Dennis J. Kucinich: In Recognition of Interdependence Day, . Sept. , Conressional Record th Congress, First Session, Vol. , Pt. , S. .
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flechtung und die daraus erwachsenden Probleme »kollektiv gemanagt« werden. Das Wiedererstarken solcher Vorstellungen ist auch darauf zurückzuführen, dass sich in der zweiten Hälfte der er Jahre die »Dritte Welt«, die zu Beginn des Jahrzehnts bereits für tot erklärt worden war, unter dem Begriff des »globalen Südens« neu formierte. begann die UNCTAD zu betonen, dass die »Globalisierung« keineswegs ein neuer und unpolitischer Prozess sei, sondern vielmehr von politischen Entscheidungen, besonders zur »Liberalisierung« vorangetrieben werde. Diese Politik habe bislang überwiegend negative Folgen für die »Entwicklungsländer« gehabt, »Globalisierung« müsse anders ausgestaltet werden, um deren Interessen besser zu dienen. Dieses neue Selbstbewusstsein war auch auf den Aufstieg der sogenanten »BRIC-Staaten« Brasilien, Russland, Indien und China zurückzuführen. Ab der Jahrtausendwende sprachen manche Beobachter vom Anbruch eines »postamerikanischen Zeitalters«, mit dem erneut die Möglichkeit gekommen schien, die Weltordnung zum Vorteil des »Südens« zu verändern. Die auf dem ersten »South Summit« der G im Jahr verabschiedete Havana Declaration sprach in einer Synthese bekannter und neuer Argumente und Semantiken von einem »Prozess der Globalisierung und Interdependenz«, der nicht auf Kosten der Entwicklungsländer gehen dürfe und betonte, dass »Nord« und »Süd« wechselseitig aufeinander angewiesen seien. Nach einer über zehnjährigen Schockstarre nach dem Scheitern der Neuen Weltwirtschaftsordnung und der Schuldenkrise der er Jahre war damit die www.un.org/press/en//sgsm.doc.htm. Siehe auch Speakers Consider Value of Interdependence, Multilateralism, Joint Action in Tackling Global Challenges, on Fourth Day of Annual General Debate, . Sept. , www.un.org/press/en// ga.doc.htm (beide ..). Zum »Ende der Dritten Welt« bereits Harris, The End of the Third World (); Menzel, Das Ende der »Dritten Welt« (); Matthies, »Feindbild« Dritte Welt? (); Nohlen/Nuscheler, »Ende der Dritten Welt«? (); Vitalis, The End of Third Worldism. Vgl. auch Tomlinson, What was the Third World?. United Nations Conference on Trade and Development: Trade and Development Report , New York , https://unctad.org/en/pages/PublicationArchive. aspx?publicationid= (..). Siehe auch Kozul-Wright/Rayment, Globalization Reloaded (). Etwa Zakaria, Der Aufstieg der Anderen (). Für Frank, ReOrient () handelte es sich dabei um eine Rückkehr zur welthistorischen »Normalität« nach einer vergleichsweise kurzen Ausnahmephase der europäischen und nordamerikanischen Dominanz. In den er Jahren schwächte sich mit Ausnahme Chinas das Wachstum der BRIC-Staaten jedoch wieder ab, »Globalisierung« schien wieder stärker vom »Westen« dominiert. Group of First South Summit, Havana, Cuba, - April : The Havana Declaration, in: Ahmia, Mourad (Hrsg.): The Group of at the United Nations, Third Series: The Collected Documents of the Group of , Vol. VI: Fiftieth Anniversary Edition, Oxford , S. -. Vgl. Alden/Morphet/Vieira, The South in World Politics, S. -.
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Idee der Steuerung globaler Verflechtung und einer gerechteren Umgestaltung der Weltordnung wieder auf die politische Tagesordnung zurückgekehrt. In diese Richtung wies auch das seit Anfang der er Jahre in den amerikanischen und westeuropäischen Sozialwissenschaften entwickelte Konzept der global governance. Anders als das »Management« der Interdependenz der er Jahre oder die neuen Entwürfe der G setzte es beim Weltregieren ohne Weltregierung jedoch weniger auf die Zusammenarbeit von Staaten in internationalen Organisationen oder internationalen Regimen, sondern stärker auf lose Netzwerke verschiedener Akteursgruppen, zu denen insbesondere auch nichtstaatliche Akteure gehörten. Kritiker beklagten dagegen die fehlende demokratische Legitimierung solcher »privaten« Akteure und setzten dagegen auf neue Formen »transnationaler Demokratie«. Unter dem Sammelbegriff der »Globalisierungskritiker« sind schließlich neben den meist aus dem linken politischen Spektrum stammenden »Alter-Globalisten« auch »Anti-Globalisten« zu fassen, die meist im rechten Lager zu verorten sind. Darunter sind Akteure zu verstehen, die »Globalisierungsprozesse« oft nicht nur für wirtschaftliche und soziale Probleme, sondern auch für einen Verlust von »Identität« und für »Überfremdung« verantwortlich machen. Darauf reagieren sie mit Strategien der zumindest partiellen Entkoppelung von globalen Verflechtungszusammenhängen, die von Forderungen nach einer Bewahrung nationalstaatlicher »Souveränität« und eines nationalstaatlichen Rahmens der Politik und Wirtschaft über ökonomischen Protektionismus bis hin zu »nativistischen« und »rassistischen« Strategien der Ausgrenzung und Abschottung reichen können. Solche Gruppen sind bislang kaum erforscht. Seit dem sogenannten »Brexit-Referendum« im Juni und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November des Jahres ist der Aufstieg eines globalisierungskritischen »Populismus« jedoch stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
Siehe u. a. Rosenau/Czempiel (Hg.), Governance without Government (); Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates (). Siehe etwa Archibugi/Koenig-Archibugi (Hg.), Debating Cosmopolitics. In den USA reicht das Spektrum hier von kommunistischen Gruppen über den rechtskonservativen Patrick Buchanan und New-World-Order-Verschwörungstheorien bis zu rechtsextremen White Supremacists. Vgl. Berlet/Lyons, Right-Wing Populism in America, S. f.; Rydgren, Movements of Exclusion. Etwa Koppetsch, Die Gesellschaft des Zorns. Zur Debatte um das Buch siehe Rukaj, Sara: Die Moral der Diskurswächter, FAZ, . April . In einer längeren historischen Perspektive Malešević, Grounded Nationalisms.
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Denationalisierung? Die Debatte um das Schicksal des »souveränen Nationalstaates« Solche Akteure beklagen häufig den Verlust nationaler »Souveränität«, für den vor allem die »Globalisierung« verantwortlich gemacht wird. Die Frage nach den Auswirkungen wachsender globaler Interaktion und Verflechtung für das Schicksal des »National-« beziehungsweise »Territorialstaates« war im Kontext globaler Imperien bereits in den er und er Jahren und im Zusammenhang mit »multinationalen Unternehmen« in den er und er Jahren intensiv diskutiert worden. In den er Jahren wurde diese Frage erneut verhandelt. Wie die »Globalisierung« selbst erschienen auch ihre Auswirkungen auf staatliche Handlungsmacht den meisten Beobachtern völlig neuartig; die in den Jahrzehnten zuvor geführten Debatten kannten sie für gewöhnlich nicht. Manche Kommentatoren schreckten zudem nicht vor steilen Thesen zurück. Der den »Hyperglobalisten« zuzurechnende japanische Unternehmensberater Ohmae Kenichi schrieb von einer Borderless World, in der Grenzen und Territorien von den ortlosen Kräften des globalen Marktes transzendiert würden. Andere Autoren riefen in den er Jahren das »Ende der Souveränität« oder den Beginn des »postnationalen Zeitalters« aus. Besonders das Internet schien jetzt Territorialität und Geografie bedeutungslos werden zu lassen. Richard O’Brien, ehemaliger Chefvolkswirt der American Express Bank, sah die Welt bereits Ende in einer Phase der ökonomischen Entwicklung, in der »geographische Lage« für die Finanzwelt keine Rolle mehr spiele und rief deshalb das »Ende der Geographie« aus. Diese These wurde von vielen geteilt ‒ nicht nur von »neoliberalen« Marktapologeten, sondern unter anderem auch vom linken französischen Philosophen Paul Virilio. Die sozialwissenschaftliche Forschung sprach nun von einem Prozess der »Deterritorialisierung«; eine These, die auch historische Arbeiten beeinflusste: Charles Maier blickte im Jahr auf die Geschichte von »Territorialität« zurück, die ab den er Jahren zum zentralen Ordnungsmuster aufgestiegen sei. Seit den er und er Jahren habe jedoch ein nahezu unaufhaltsamer Nie Bereits Wriston, Technology and Sovereignty (); Reich, The Work of Nations (). Für einen Überblick über die Debatte vgl. Scholte, Globalization: A Critical Introduction (), S. -; Leibfried/Zürn (Hg.), Transformationen des Staates?. Kenichi, The Borderless World (). Camilleri/Falk, The End of Sovereignty? (); Scholte, The Globalization of World Politics, S. f. Kobrin, Sovereignty@Bay (), S. , . Dazu auch Post, Governing Cyberspace () und kritisch zu dieser schon fast mythischen Verklärung des »elektronischen Raums« Pemberton, Global Metaphors, S. . O’Brian, Global Financial Integration (1992), S. 1. Virilio, Open Sky (), S. . Die British Telecom inserierte im selben Jahr »Geography is history«. Vgl. Smith, The End of Geography, S. . Zur Debatte um die »Deterritorialisierung« vgl. Ó Tuathail, Borderless Worlds?.
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dergang dieses Konzepts eingesetzt. Für Maier wie für viele Sozialwissenschaftler war »Territorialität« eng mit der Geschichte des Nationalstaats verbunden. Als zweiter zentraler Begriff diente in der Politikwissenschaft deshalb die »Denationalisierung«. Für den deutschen Politikwissenschaftler Michael Zürn war dieser Prozess nicht nur ein zentrales Definitionsmerkmal von »Globalisierung«, sondern sogar der »präzisere Begriff« für diesen Vorgang. Globale Verflechtung verstanden er und viele seiner Zeitgenossen nicht mehr als Interaktion und »Interdependenz« von räumlich abgrenzbaren Nationalstaaten, nationalen »Gesellschaften« oder »Volkswirtschaften«, sondern als »Auflösung von Territorialität und Staatlichkeit durch transnationale Kontakte«. Bei der Bewertung dieser Entwicklungen lassen sich überraschende Parallelen zwischen Akteuren verschiedener politischer Ausrichtungen beobachten: Von linker Seite verband sich für den Philosophen Gilles Deleuze und den Psychoanalytiker Félix Guattari schon mit der »Deterritorialisierung« das Versprechen einer Befreiung von staatlicher Unterdrückung. Versuche oder Prozesse der »Reterritorialisierung« erscheinen dagegen etwa bei dem US-Literaturtheoretiker Michael Hardt und dem italienischen Politikwissenschaftler Antonio Negri als repressiv. Für »Hyperglobalisten« wie Ohmae Kenichi war der Nationalstaat ohnehin nur ein Hindernis für eine grenzenlose Tätigkeit von Unternehmen. Thomas Friedman verband mit dem »Tod« des Raums und der Geografie gar das Versprechen einer »Befreiung« von strukturellen Zwängen und Abhängigkeiten. In einer Welt, in der sich jedes Land über das Internet Zugang zu Wissen verschaffen und Investitionen in seine Infrastruktur anwerben könne, seien Staaten nicht länger »Gefangene ihrer Bodenschätze, Geographie oder Geschichte« und könnten ihre weitere Entwicklung selbst in die Hand nehmen. Das historische Bewusstsein der meisten Kommentatoren war auch in diesem Zusammenhang nicht sehr ausgeprägt. Nicht selten überzeichneten sie eine nicht weiter differenzierte »Vergangenheit« als »Zeitalter nationalstaatlicher Souveränität«, um die Neuartigkeit ihrer »globalisierten« Gegenwart im Kontrast dazu stärker zu betonen. Die vor geführten Debatten ignorierten sie weitgehend oder werteten sie ab. Im Kontext der Diskussion um Raymond Vernons Sovereignty at Bay beispielsweise hatten verschiedene Autoren bereits in den er Jahren zwischen dem juristischen Konzept der »Souveränität« und tatsächlicher »Autonomie« unterschieden und darauf hingewiesen, dass die ge Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates (). Dazu Petersson, Das Kaiserreich, S. ; Osterhammel/Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. . Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus (/). Diese Sicht dominiert vor allem die Rezeption, weniger die differenzierteren Thesen von Deleuze und Guattari selbst. Hardt/Negri, Empire (). Kenichi, The Borderless World (); Kenichi, The End of the Nation State (). Vgl. Hammarlund, Liberal Internationalism. Friedman, The Lexus and the Olive Tree (), S. . Beispiele und Kritik an dieser Tendenz bei Lacher, Beyond Globalization, S. f.
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fühlte Krise staatlicher Steuerungskompetenz vor allem auf gestiegene Ansprüche, weniger auf Interdependenz oder die Konkurrenz durch transnationale Akteure zurückzuführen sei. Im Jahr verwarf der Ökonom Stephen Kobrin solche Überlegungen allerdings als theoretisch unscharf und behauptete, die Debatte um »multinationale Unternehmen« der er Jahre halte kaum noch Anregungen für die elektronisch vernetzte Weltwirtschaft der Gegenwart bereit, in der die Idee »territorialer Jurisdiktionen« als solche zweifelhaft geworden sei. Dass die Unvergleichlichkeit der eigenen Gegenwart so stark betont wurde, ist jedoch nicht ausschließlich auf das kurze Gedächtnis der Sozialwissenschaften und eine gewisse Kurzatmigkeit aller Gegenwartsdiagnostik zurückzuführen. Wer wie Friedman davon ausging, die globale Verflechtung der er Jahre habe nichts mit Räumen oder Strukturen zu tun, konnte damit Hierarchien, einseitige Abhängigkeitsverhältnisse und das belastete Erbe von »Imperialismus« und »Neo-Imperialismus« völlig ausblenden. Die Annahmen der Dependenztheorie oder die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung mussten völlig abwegig erscheinen, wenn man wie Friedman davon ausging, dass die Funktionsweise der »globalisierten« Weltwirtschaft der er Jahren überhaupt nichts mit den Problemen der er Jahre und noch weiter zurückliegender Zeiträume zu tun hatte.
Transformationalisten Solche Annahmen wurden jedoch nicht nur von Alter-Globalisten herausgefordert, sondern blieben auch von Sozialwissenschaftlern nicht unwidersprochen. Kritiker wie der Afrikahistoriker Frederick Cooper stellten ab den späten er Jahren die vom Begriff der »Globalisierung« suggerierte Annahme eines »strukturellen«, »linearen« und »natürlichen« Prozesses der zunehmenden globalen Verflechtung und Angleichung infrage, der nahezu unabhängig von menschlichen Einflüssen verlaufe und den es nur »aufzudecken« gelte. Er betonte zudem, was Zeitgenossen auch in den er Jahren schon einmal bemerkt hatten: Das Adjektiv »global« suggerierte zwar einen weltweiten Zusammenhang, konkrete Phänomene blieben dagegen häufig auf bestimmte Regionen beschränkt. Dazu Kapitel .. Kobrin, Sovereignty@Bay (), S. . Darauf hat Rossow, Discourse of Globalism, S. f. hingewiesen. In der Geschichtswissenschaft dagegen hat dieser Aspekt der »Globalisierung« zu einem verstärkten Interesse an der Geschichte des Kolonialismus beigetragen. Siehe etwa Decker, Dekolonisation der Wirtschaft?. Ähnlich McFarland, The New International Economic Order, S. f. Cooper, What Is the Concept of Globalization Good For?; Cooper, Globalization. Ähnlich Hopkins, From Postmodernism to Globalization. Der japanische Unternehmensberater Ohmae Kenichi hatte den Begriff der »Triade« geprägt, um hervorzuheben, dass ökonomische Verflechtungen besonders zwischen Nordamerika, Westeuropa und Ostasien zu beobachten waren. Kenichi, Macht
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Deshalb plädierte Cooper dafür, tatsächliche Netzwerke in den Blick zu nehmen und sich auch mit Akteuren und Weltgegenden zu beschäftigen, die offenbar nicht oder kaum von Globalisierungsprozessen betroffen waren. Solche Bedenken standen auch hinter dem Begriff der »Glokalisierung«, den Roland Robertson geprägt hatte. Ihm war es darum gegangen, die Gleichzeitigkeit von Homogenisierung und Heterogenisierung, von »Universalisierung des Partikularen und Partikularisierung des Universalen« zu beschreiben. Anders als die von »Hyperglobalisten« wiederaufgelegte These vom gesetzmäßigen Wachstum sozialer Einheiten suggerierte, waren Abgrenzung und die Verkleinerung von Bezugsräumen für Robertson damit nicht Gegensätze zu, sondern fast zwangsläufige Folgen von »Globalisierung«. Gerade am Konzept der »global cities« zeigte sich für ihn, dass sich kleinräumigere Einheiten selbst wiederum global vernetzen konnten. Damit war nun auch eine differenzierte Perspektive auf die Frage nach den Folgen der »Globalisierung« für den »souveränen Nationalstaat« möglich geworden: In den Sozialwissenschaften betonten die sogenannten »Transformationalisten« ab der zweiten Hälfte der er Jahre, dass Staaten angesichts der Herausforderungen globaler Verflechtung keineswegs machtlos seien. Auch die Politik der Regierung Clinton in den er Jahren hatte beispielsweise nicht nur auf von »Globalisierung« erzeugte »Handlungszwänge« reagieren, sondern diesen Prozess auch aktiv gestalten wollen. In der Auseinandersetzung damit veränderten sich aber durchaus die Aufgaben und der Charakter von Staaten. Zudem hat Saskia Sassen betont, dass im »Nationalen« erst der »globale Rahmen« entwickelt werde, wobei sich zugleich der Charakter des Nationalstaates verändere. Der These von der »Deterritorialisierung« wird mittlerweile eine neue »Reterritorialisierung« gegenübergestellt, die sich trotz oder gerade wegen wachsender globaler Verflechtung beobachten lasse. Entsprechend wird mittlerweile statt vom Ende »des Nationalstaates« und der »Souveränität« eher von einer »Transformation der Staatlichkeit« sowie »Abstufungen von Souveränität« gesprochen. Auch transnationale Akteure werden damit mittlerweile differenzierter betrachtet. In den er Jahren waren sie auch in der Geschichtswissenschaft häufig in Abgrenzung vom »Nationalen« definiert und die von ihnen gebil-
der Triade (). Robert Keohane hatte von einer »zone of complex interdependence«, im Jahr von einer »partially globalized world« gesprochen. Keohane, Neoliberal Institutionalism (), S. ; Keohane, Power and Governance (). Robertson, Globalization (), S. f.; Robertson, Glocalization (). Siehe u. a. auch Appadurai, Modernity at Large (), S. -; Borja/Castels, Local and Global (). Das betont Eckel, Politik der Globalisierung. Sassen, Territory, Authority, Rights. Dazu O’Dowd, From a »Borderless World« to a »World of Borders«. Strange, The Retreat of the State (), S. ; Clark, Globalization and Fragmentation (); Held/McGrew/Goldblatt, Global Transformations; Keohane, Political Authority (). Vgl. dazu Fröhlich, Lesarten der Souveränität.
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dete »globale Zivilgesellschaft« als friedliches Gegenüber der konfliktträchtigen zwischenstaatlichen Beziehungen betrachtet worden. Seit den er Jahren betonen Historiker dagegen zunehmend, dass stattdessen »wechselseitige und dynamische Konstruktionsprozesse zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen« in den Blick genommen werden müssten. Auch die Konsolidierung der Nationalstaaten im späten . Jahrhundert und die sogenannte »erste Welle der Globalisierung« dieser Zeit werden in historischer Perspektive nicht mehr als Gegensätze oder »zwei Etappen einer konsekutiven Entwicklung« verstanden, sondern hätten sich gegenseitig bedingt: »Der Globalisierungsprozeß war […] nicht nur durch grenzüberschreitende Interaktionen gekennzeichnet, sondern trug zugleich zur Entstehung und Konsolidierung [nationaler] Grenzen bei.«
Interdependenz und Globalisierung Schon lange bevor in den er und er Jahren der Begriff der »Globalisierung« aufkam, reflektierten Sozialwissenschaftler und andere Beobachter über globale Interaktionen und Verflechtungen. Wiederholt wurden solche Debatten jedoch wieder vergessen. Wenn sich eine übergreifende Gemeinsamkeit beobachten lässt, dann war es die Überzeugung jeder neuen Welle globalistischer Gegenwartsdiagnosen, mit völlig neuen Phänomenen konfrontiert zu sein, über die nun erstmals systematisch nachgedacht werde. Doch lassen sich damit die in den er Jahren unter dem Begriff der »Globalisierung« und die in den er Jahren und früher unter dem Begriff der »Interdependenz« geführten Debatten aus der Rückschau als eine zusammenhängende Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung darstellen, deren Kontinuitäten Zeitgenossen bloß nicht erkannten? Oder war mit dem Wechsel vom Begriff der »Interdependenz« zur »Globalisierung« ein grundlegender Deutungsbruch verbunden? Blickt man zunächst auf die beiden Wörter selbst, sticht erstens ins Auge, dass die Globalisierung eine klare zeitliche Dimension beinhaltete, der dadurch beschriebene Prozess also bereits im Wort selbst angelegt ist. Interdependenz bezeichnet dagegen einen Zustand und wurde daher meist mit Adjektiven wie »wachsend« kombiniert. Das Wort bezeichnet das Ergebnis eines angenommenen Prozesses verdichteter Interaktion und wachsender Verflechtung, die Glo Thelan, The Nation and Beyond (), S. ; Boulding, The Old and New Transnationalism (); Iriye, Global Community () sowie exemplarisch aus der Fülle der entsprechenden Arbeiten: Della Porta, Globalization from Below (). Vor diesem normativen Bias warnen dagegen Saunier, Learning by Doing, S. f. und Patel, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, S. f., der sich hier an die Zukunftshoffnungen erinnert fühlt, die sich im neunzehnten Jahrhundert an den Begriff der »Internationalität« angelagert hatten. Ebd., S. f. Conrad, Globalisierung und Nation, S. , .
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balisierung dagegen diesen Prozess selbst. Zweitens ist in der Globalisierung mit dem »Globus« bereits eine räumliche Zieldimension enthalten, (zumindest potenziell) also die ganze Welt. Die Ebenen und Reichweite von »Interdependenz« sind dagegen wesentlich freier skalierbar. Die Annahme wechselseitiger Abhängigkeit können sich je nach Akteur und Zeit auf die ganze Welt, Europa, den nordatlantischen Raum, die Länder des »Westens«, den »Norden« und den »Süden« oder andere Räume beziehen. Auch wenn solche Raumbezüge in jedem einzelnen Fall variieren können, lässt sich übergreifend beobachten, dass Interdependenz im Zuge der Ölkrise und der Debatte um die Neue Weltwirtschaftsordnung erstmals wirklich »global« gedacht wurde, während sie sich im . Jahrhundert vor allem auf die »zivilisierte Welt«, in den er Jahren primär auf den nordatlantischen Raum bezogen hatte. Die »Globalisierung« ist hier jedoch nur scheinbar eindeutiger, betreffen die beschriebenen Zusammenhänge bei genauerem Hinsehen doch meist auch nur bestimmte Weltregionen. Schließlich erscheint »Globalisierung« als der spezifischere Begriff für den Themenbereich der wachsenden grenzüberschreitenden Verflechtung in weltweitem Maßstab, der zuvor ja nur eine von vielen möglichen Bedeutungen des InterdependenzBegriffes dargestellt hatte, der sich auch auf lediglich zwei Einheiten oder Themenbereiche beziehen konnte. Aus dieser Perspektive kann man argumentieren, dass es sich hier um zwei völlig unterschiedliche Begriffe handelt, die verschiedene Aspekte in den Blick nehmen und verschiedene Deutungen präfigurieren. Damit einher geht die Annahme, dass sich nun auch der damit beschriebene Prozess qualitativ gewandelt habe. Saskia Sassen hat etwa argumentiert, »Globalisierung« bedeute mehr als »wachsende Interdependenz und die Herausbildung offensichtlich globaler Institutionen«. Sie nehme auch Prozesse in den Blick, die jetzt »tief im Nationalen« stattfänden. Der Begriff weise damit über das Verständnis von »Interdependenz« als wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen »Einheiten« ‒ meist national abgesteckte »Volkswirtschaften« oder »Gesellschaften« ‒ einer als Gesamtzusammenhang gedachten Welt hinaus. Nach einer entgegengesetzten Interpretation handelt es sich beim Prozess der »Globalisierung« weitgehend um die Fortsetzung derjenigen Entwicklungen, die bereits in den er Jahren unter dem Schlagwort der »Interdependenz« diskutiert worden waren. Auch wenn sie gewisse Neuerungen durchaus einräumten, war »Globalisierung« etwa für Joseph Nye und Robert Keohane letztlich eine Intensivierung der »komplexen Interdependenz«, die Ausweitung solcher Entwicklungen von einzelnen Regionen auf die gesamte Welt. Damit konnten die beiden Politikwissenschaftler auch keine signifikanten Unterschiede zwischen der Deutung dieses Prozesses unter Auf die Ausklammerung Afrikas hat etwa Cooper, What Is the Concept of Globalization Good For? hingewiesen. Sassen, Foreword, S. ix. Kreisler, Conversation with Robert O. Keohane (), S. . Ähnlich auch Keohane/ Nye, Information Age (); Keohane/Nye, Globalization: What’s New? (); Keohane/Nye, Power and Interdependence (), S. xv.
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dem einen oder dem anderen Schlagwort erkennen. Die Debatten der er Jahren waren für sie weitgehend eine Fortentwicklung ihrer eigenen Theorie. Sie beklagten jedoch, dass Arbeiten zur »Globalisierung« die frühere Literatur zur »Interdependenz« weitgehend ignorierten und damit das Rad immer wieder neu erfinden wollten. Betrachtet man jedoch weniger die beiden Wörter, sondern vielmehr die Nutzung der Begriffe durch die Zeitgenossen, um damit Beobachtungen globalen Wandels zu deuten und sinnhaft einzuordnen, ist weder eine völlige Gleichsetzung noch eine klare Unterscheidung von »Interdependenz« und »Globalisierung« haltbar. Denn wenn man weniger auf den semantischen Gehalt der beiden Wörter, sondern auf die Debatten blickt, die sich in den langen er Jahren an den Begriff der »Interdependenz« angelagert hatten, wird deutlich, dass hier bereits eine ganze Reihe von Aspekten behandelt wurde, die später die Globalisierungs-Debatte beschäftigen sollten. Dazu zählt besonders die Frage nach der Bedeutung multinationaler Unternehmen und transnationaler Beziehungen und nach ihren Auswirkungen auf die Steuerungskompetenz, gar »Souveränität« von Nationalstaaten. Der entscheidende Deutungsbruch fand nicht mit der Ablösung des Interdependenz- durch den Globalisierungsbegriff in den er Jahren statt, sondern hatte bereits Ende der er Jahre eingesetzt, als das hochmoderne Verständnis von Interdependenz infrage gestellt wurde und damit unter anderem die Vorstellung vom »Weltmarkt« als Summe nationaler Teilmärkte von dem Bild eines zusammenhängenden »globalen Marktes« abgelöst wurde. Gleichzeitig wurde der Begriff der »Globalisierung« noch stärker als die »Interdependenz« zum Synthesebegriff für eine ganze Reihe von zunächst unverbundenen Entwicklungen. Damit wurde zwischen Themen wie Migration, Klimawandel oder Essgewohnheiten ein Zusammenhang impliziert und behauptet, dass sie sich alle in Richtung zunehmender »Globalität« entwickelten. Kulturelle Themen, die im Laufe der er Jahre in der Globalisierungs-Debatte zunehmend neben die Erörterung ökonomischer Zusammenhänge traten, waren in der Interdependenz-Debatte randständig geblieben. Auffallend abwesend waren in den er Jahre auch mit Migration verbundene Fragen. Während das »Zeitalter der Globalisierung« auch als »Zeitalter der Migration« bezeichnet wird, war das Thema weltweiter Wanderungsbewegungen schon vorher von Zeitgenossen immer wieder diskutiert worden. Gerade für das späte . Jahrhundert ist ein »beinahe neurotisches Bewusstsein dieses Prozesses« festgestellt worden. Es wurde im gesamten Untersuchungszeitraum jedoch kaum unter dem Begriff der »Interdependenz« behandelt. Über die Ursachen dieser Leerstelle lässt sich Nye, Power in a Global Information Age (), S. . Zur Unterscheidung zwischen »Wort« und »Begriff« vgl. Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte (), S. , ; Busse, Historische Semantik, S. -, -. Barraclough, An Introduction to Contemporary History (), S. . Vgl. Torp, Die Herausforderung der Globalisierung und besonders Conrad, Globalisierung und Nation. »Zeitalter der Migration« nach Castles/Miller, The Age of Migration (). Von einer neuen Dimension geht auch Wilkinson, Globalizations, S. aus.
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nur spekulieren. Sie mag schlicht dadurch begründet sein, dass das Thema in den er Jahren nicht in weltweiten Zusammenhängen gesehen wurde oder dass der Begriff der »Interdependenz« stets mindestens zwei Einheiten voraussetzt, die voneinander wechselseitig abhängig gedacht waren. Waren diese lange nationalstaatlich abgesteckt, ließ sich das Auf brechen dieser vermeintlichen Gewissheit noch im Rahmen des Interdependenzbegriffes denken. Auch »Ströme« von Gütern und Kapital passten noch in das Bild der Interdependenz, hatten sie doch immer einen wie auch immer zu kategorisierenden Ausgangs- und Endpunkt bei bestimmbaren Akteuren. Die Wanderung von Menschen selbst überspannte dagegen soziale Einheiten gleich welchen Zuschnitts; eine Leerstelle, die der viel weiter gefasste Begriff der »Globalisierung« überbrücken konnte. Gleichzeitig ist es jedoch eine zentrale Hypothek des Globalisierungs-Begriffes, dass er schon im Wort selbst Ganzheitlichkeit und einen weltumspannenden Charakter suggeriert. Die »Globalisierung« wird in der Semantik von »Strömen« beschrieben und mitunter als zeit- und ortloser Prozess gedeutet. Dadurch droht nicht nur eine Rückkehr der »sozialen Evolution« und der »Modernisierung«, es verschwinden auch sämtliche Akteure, die Globalisierung wird scheinbar selbst zum handelnden historischen Subjekt. »Interdependenz« dagegen setzte die Benennung mindestens zweier »Einheiten« voraus, die als wechselseitig abhängig gesehen werden. Für den Großteil des hier untersuchten Zeitraums waren diese Einheiten national abgesteckte »Gesellschaften« oder Staaten, in den er Jahren wurden diese klaren Zuschnitte zunehmend aufgebrochen. Mit der »Globalisierung« wurde es einerseits leichter, den »nationalstaatlichen Container« der Sozialwissenschaften zu verlassen. Andererseits geriet damit aber auch die Frage nach der Reichweite von Verflechtungszusammenhängen und der Richtung von Abhängigkeitsverhältnissen aus dem Blick. Hierarchien, die in der Interdependenzdebatte noch eine prominente Rolle gespielt hatten, wurde für eine Weile kaum noch Beachtung geschenkt. Bestimmte Deutungen globaler Interaktion und Verflechtung scheinen sich damit mit unterschiedlichen Begriffen jeweils besser ausdrücken zu lassen. Sie geben solche Deutungen aber nicht vor. Denn letztlich handelt es sich bei der »Interdependenz« und der »Globalisierung« um zwei Begriffe der globalistischen Gegenwartsdiagnostik auf höchster Abstraktionsebene, die jeweils so unterschiedlich inhaltlich gefüllt werden können, dass sie sich nicht auf eine Bedeutung reduzieren lassen, die man dann pauschal vergleichen könnte. Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen Verwendungen der beiden Begriffe in unterschiedlichen Kontexten, durch unterschiedliche Akteure und mit unterschiedlichen Absichten genau in den Blick zu nehmen. Ein grundlegender Deutungsbruch ist mit dem Wechsel vom Begriff der »Interdependenz« zur »Globalisierung« damit nicht zu erkennen. Er hatte vielmehr bereits in den er Jahren stattgefunden, als das ein Jahrhundert lang dominierende hochmoderne Verständnis wachsender Interdependenz destabilisiert und aufgebrochen wurde. Die anschließenden Debatten der er Jahre verweisen mit den behandelten Themen und Deutungen stärker auf die Zukunft
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der Globalisierungs- als die Vergangenheit der Interdependenz-Debatte. Als zentraler Unterschied lässt sich jedoch beobachten, dass in den er Jahren Bemühungen wesentlich prominenter waren, globale Verflechtung zunächst analytisch möglichst vollständig zu durchdringen und auf dieser Grundlage politisch umfassend zu steuern als in den er und er Jahren. Solche Ansätze waren jedoch schon um weitgehend an der Vielfältigkeit und Komplexität der entsprechenden Problemlagen gescheitert. Der Wandel zu einer stärker am »freien Spiel des Marktes« und an heterogenen Netzwerken orientierten Deutung globaler Verflechtung ist damit ebenfalls auf die veränderten Zeitumstände und grundlegende Deutungsverschiebungen, weniger auf den Wechsel der verwendeten Begrifflichkeiten zurückzuführen. Hier liegt eine zentrale Herausforderung für die Geschichtswissenschaft. Ab Mitte der er Jahre wurde der für die Gegenwart postulierte Zustand der Globalität für sie zum zentralen Faktor, der den Blick auf die Vergangenheit veränderte. Gerade die »Globalgeschichte« nutzte die aus dieser Gegenwartsdiagnose entstandene neue Aufmerksamkeit für grenzüberschreitende Verflechtungen, Kontakte und Prozesse, um bislang übersehene Aspekte der Vergangenheit offenzulegen und die Konstitution ihres Untersuchungsraums vom Gegenstand, nicht von vorgegebenen »Containern« wie Nationalstaaten leiten zu lassen. Gleichzeitig besteht hier jedoch die Gefahr, der »schamanischen Aura« der Globalisierung zu verfallen, gegenwärtige Deutungen in die Vergangenheit zu projizieren und einen »methodischen Nationalismus« durch einen nicht weniger bedenklichen »methodischen Globalismus« zu ersetzen. Denn mitunter wird jetzt das Explanandum, der eigentlich zu erklärende Zustand der Globalität und Deutungen der Welt in Kategorien des Globalismus, zum Explanans gemacht. Schon im Jahr hat Justin Rosenberg beklagt, der sich wandelnde Charakter der modernen Welt, mithin ihre »Globalisierung«, werde nun genau mit dieser »Globalisierung« erklärt, und diese Annahme sogar noch auf vorherige Epochen zurückprojiziert. Im Kern des Problems sieht der niederländische Politikwissenschaftler Rens van Munster ein mangelndes Bewusstsein der Globalgeschichte für Weltdeutungen und die soziale Konstruktion »des Globalen«, das sie vielmehr unkritisch voraussetze. Deshalb muss sich die Geschichtswissenschaft verstärkt auch der Historisierung vergangener Sichtweisen auf solche Zusammenhänge widmen und globalistische Gegenwartsdiagnosen verschiedenster Art konsequent historisieren. Für einen konzisen Überblick über diese mittlerweile stark ausdifferenzierte Perspektive vgl. Conrad, Globalgeschichte. Osterhammel, Globalifizierung bezeichnet diesen Prozess der Ausbreitung globaler Deutungen als »Globalifizierung«. Bell, Making and Taking Worlds, S. . Zum »methodischen Globalismus« siehe Mittelman, Globalization. Rosenberg, The Follies of Globalisation Theory (), S. , Hervorhebung im Original. Munster/Sylvest, Introduction, S. . Dazu auch Bell, Making and Taking Worlds, S. .
Fazit »Wir möchten gern die Welle kennen, auf welcher wir im Ocean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.« Jacob Burckhardt,
Ziel dieses Bandes war es, durch die Untersuchung der Interdependenz-Debatte einen Beitrag zur Historisierung globalen Denkens zu leisten. Diagnosen wachsender globaler Interaktion und Verflechtung und Diskussionen über deren Folgen waren seit Mitte des . Jahrhunderts in verschiedener Intensität und mit verschiedenen Schwerpunkten immer wieder zu beobachten. Der Inhalt solcher Gegenwartsanalysen und die ihnen zugeschriebene Evidenz folgten dabei nicht allein der Entwicklung des jeweils untersuchten Gegenstandes. Die Beobachtung und Deutung wachsender Interdependenz wurde vielmehr entscheidend von disziplinären Entwicklungen in den Sozialwissenschaften und den Zeitumständen der internationalen Politik im jeweiligen Zeitraum geprägt. Erst seit den er Jahren wurde die wachsende globale Verflechtung als »Globalisierung« beschrieben. Zuvor war seit der Mitte des . Jahrhunderts die »Interdependenz« der zentrale Begriff für solche Entwicklungen gewesen. In den langen er Jahren intensivierte sich diese Debatte und erlangte eine neue Qualität. Zeitgenossen beschrieben ihre Gegenwart nun als »Zeitalter der Interdependenz«. Dieser Zeitraum, der von der historischen Forschung in vielfacher Hinsicht als Umbruchsphase angesehen wird, bildete deshalb den analytischen Fluchtpunkt dieser Arbeit. Die Debatten der er Jahre und ihre Folgen müssen jedoch in längeren Zusammenhängen gesehen werden. Schon allein, um nicht die Überzeugung der Zeitgenossen zu reproduzieren, erstmals mit globaler Verflechtung konfrontiert worden zu sein. Denn bereits im letzten Drittel des . Jahrhunderts hatte sich vor dem Hintergrund der »ersten Globalisierung« ein spezifisches Verständnis wachsender Interdependenz herausgebildet, das zum zentralen Bestandteil der hochmodernen Sicht auf soziale Entwicklung avancierte. Diese wurde nun als nahezu zwangsläufige »Evolution« vom Kleinen zum Großen verstanden, als Spezialisierung, Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung. Aus diesem Denken entstand in den Sozialwissenschaften und darüber hinaus eine Sicht auf wachsende Interdependenz als nahezu gesetzmäßiger Prozess, der die Stämme der Vergangenheit zu den Nationen der Gegenwart zusammengeführt habe und in der Zukunft in die Weltgesellschaft münden werde. Als interdependente Einheiten wurden hier ganz im Denken der Zeit national abgegrenzte Volkswirtschaften und Gesellschaften verstanden, die von Nationalstaaten politisch vertreten wurden. Der Erste Weltkrieg ließ die Interpretation solcher sozialen »Evolution« als »Fortschritt« zwar unglaubwürdig werden. Die politischen Folgen wachsender Burckhardt, Geschichte des Revolutionszeitalters (), S. .
Interdependenz erschienen nach dem Krieg jedoch umso virulenter und wurden in den er Jahren besonders von Vertretern der jungen Disziplin der Internationalen Beziehungen intensiv diskutiert. Diese fragten sich nun, welche Konsequenzen wachsende globale Verflechtung für die Zukunft des »Nationalstaats« als politische Organisationsform haben werde und wie die »Tatsache« einer interdependenten Welt mit dem dahinter »zurückbleibenden« nationalistischen Denken breiter Bevölkerungskreise zu versöhnen sei. Dass dies nicht gelungen war, wurde später von Vertretern der Internationalen Beziehungen als eine zentrale Ursache für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs identifiziert, der seinerseits einen Schub globalistischer Gegenwartsdiagnosen auslöste. Denn nicht nur der Krieg selbst schien jetzt global geführt zu werden. Nach seinem Ende wurde unter dem Schlagwort der »Einen Welt« gefordert, endlich auch die politische Organisation der Welt ihrer wirtschaftlichen und sozialen Verflechtung anzupassen, um die Wiederholung eines solchen Krieges zu verhindern. Sozialwissenschaftler und andere Beobachter des internationalen Geschehens der er Jahre nahmen jedoch kaum Bezug auf ihre Vorläufer. Die Geschichte der Interdependenz-Debatte zeigt sich hier als Geschichte der Brüche, der abgerissenen Linien und des Vergessens. Dabei spielten neben den politisch-ökonomischen Zeitumständen auch innerwissenschaftliche Entwicklungen eine große Rolle. Die lebhafte Auseinandersetzung mit Fragen der Interdependenz in der Zwischenkriegszeit war nur ein Jahrzehnt später fast völlig in Vergessenheit geraten, da ihre Vertreter von Protagonisten des politikwissenschaftlichen Realismus jetzt als »Idealisten« abgetan wurden. Das lag auch daran, dass die Rede von der »Einen Welt« schon Ende der er Jahre von Weltdeutungen in den konfrontativen und bipolaren Kategorien des »Kalten Krieges« überlagert wurde. Gleichzeitig etablierte sich der »souveräne Nationalstaat« in der Sozial-, Wirtschafts- und Weltpolitik in bis dahin nicht gekanntem Maße als einflussreichster Akteur. Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit internationalen Beziehungen dominierte nun eine Perspektive, die nichtstaatliche Akteure und ökonomische wie soziale Verflechtungen aus der Analyse der Weltpolitik verbannte. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde damit zu einer Deutungsschwelle, vor die die Protagonisten der späteren Debatten der er und er Jahre kaum einmal zurückblickten; damit ›entdeckten‹ nun sozialwissenschaftliche Beobachter Interdependenz zum wiederholten Mal als vermeintlich neues Phänomen ihrer eigenen Gegenwart. Die hochmoderne Sicht auf soziale Entwicklung und globale Zusammenhänge wurde dagegen zwar immer wieder kritisiert, blieb dabei aber bis in die späten er Jahre bemerkenswert stabil. Erst in dieser Zeit lässt sich ein grundlegender Deutungsbruch beobachten. Denn jetzt wurde die Sicht auf soziale Entwicklung als »Evolution« und »Ausdifferenzierung« erstmals explizit thematisiert, in Ansätzen historisiert und damit angreif bar gemacht. Interdependenz galt immer weniger als nahezu zwangsläufige Folge von »Spezialisierung« und »Arbeitsteilung«. Ihre Konsequenzen wurden nun weniger als »Fortschritt« gesehen und negative Aspekte stärker betont. Auch die Frage, welche Einheiten denn nun eigentlich interdependent
seien, wurde neu gestellt. Die national abgesteckten »Volkswirtschaften« und »Gesellschaften« wichen einer wesentlich heterogeneren und vielfältigeren Sicht auf »transnationale Akteure« und »multinationale Unternehmen«. Ökonomen wie Richard Cooper betrachteten den Welthandel jetzt nicht mehr als Summe nationaler »Handelsbilanzen«, sondern als ein Netzwerk aus »Strömen« von Waren und Kapital. An die Stelle der Vorstellung eines »Weltmarktes« als Summe einer Vielzahl meist nationaler Teilmärkte trat nun zunehmend die Idee eines zusammenhängenden, grenzüberschreitenden »globalen Marktes« als Tätigkeitsfeld ebenso global organisierter Unternehmen. Damit stand nun auch die Rolle des Staates in der Weltpolitik und Weltwirtschaft zur Disposition. Jetzt wurde nicht nur darüber diskutiert, welche Folgen diese »neuen Akteure« für seine Autonomie, ja gar für seine »Souveränität« hätten. Im analytischen Bereich wurde die etablierte Grenze zwischen Innenpolitik und Außenpolitik in den Sozialwissenschaften in Zweifel gezogen. Wirtschaft schien nicht mehr so klar von Politik, die »nationale Gesellschaft« nicht mehr so klar von der »Weltgesellschaft« zu trennen. Die alten Deutungen und Theorien passten damit offenbar nicht mehr auf die beobachteten neuen Realitäten. »Interdependenz« war vom Resultat sozialer »Evolution« zu einer vielfältig verflochtenen Gemengelage verschiedenster Ebenen und Akteure geworden, die immer schwerer analytisch zu durchdringen war. Noch grundlegender wurde jetzt die Möglichkeit der Sozialwissenschaften in Zweifel gezogen, überhaupt »objektive« Erkenntnisse über die »Wirklichkeit« gewinnen zu können. Poststrukturalistische Philosophen und Sozialkonstruktivisten betonten die Bedeutung von Sprache sowie die Zeit- und Standortgebundenheit allen Wissens. Die Folge dieser Entwicklungen war eine grundlegende Infragestellung des bisherigen Wissens über ökonomische und soziale Zusammenhänge, mithin eine »Orientierungskrise« der Sozialwissenschaften. Das hochmoderne Verständnis sozialer »Evolution« und wachsender Interdependenz war zwar nicht völlig verschwunden, hatte aber erheblich an Evidenz verloren. Wenn man Selbstdeutungen und Denkweisen als zentrale Merkmale heranzieht, lässt sich hier das Ende der Hochmoderne ansetzen. Nur im Zusammenspiel dieses Deutungsbruchs ab der zweiten Hälfte der er Jahre, der anschließenden Orientierungskrise der Sozialwissenschaften und der ökonomischen und politischen Entwicklungen in der ersten Hälfte der er Jahre wird die Interdependenz-Debatte dieser Zeit wirklich verständlich. Denn der Begriff war trotz der Infragestellung seiner hochmodernen Interpretation nicht durch einen neuen ersetzt worden, sondern hatte sich im Gegenteil als erstaunlich wandelbar erwiesen. Zeitgenössische Beobachter deuteten »Interdependenz« jetzt auf vielfältige Art neu und füllten den Begriff mit neuen Inhalten. Während der Begriff »internationale« Beziehungen nicht zum ersten Mal Nach Karlheinz Stierle und Hans-Ulrich Gumbrecht handelte es sich hier zunächst um eine »Bedeutungsinnovation«, erst in den er Jahren um eine »Bezeichnungsrevolution«. Siehe Leendertz/Meteling, Bezeichnungsrevolutionen, S. .
dafür kritisiert wurde, zu stark auf Staaten fixiert zu sein und mit »transnational« ein alternatives Adjektiv eingeführt wurde, konnten neue Phänomene und neue Deutungen weiterhin unter dem etablierten Metabegriff der »Interdependenz« ihren Platz finden. Damit konnte er ab zum Epochensignum eines neuen »Zeitalters der Interdependenz« und zur Grundlage politischer Strategien aufsteigen. Das lag keineswegs nur daran, dass Entwicklungen, die später als »Globalisierung« zusammengefasst wurden, jetzt plötzlich eingesetzt oder sich entscheidend verstärkt hätten. Bei manchen Indikatoren wie dem Volumen des Welthandels lässt sich zwar in den er Jahren durchaus eine signifikante Steigerung feststellen; andere setzten tatsächlich neu ein oder erreichten eine neue Qualität, etwa bei der Integration des Finanzsektors. Die meisten dieser Entwicklungen waren jedoch keineswegs neu ‒ Welthandel, neue Kommunikationsformen und anderes mehr hatten schon die Zeitgenossen des . Jahrhunderts beschäftigt ‒ und hatten wie die Erholung des Handels bereits in den er Jahren eingesetzt. Während es sich hier also eher um eine graduelle Intensivierung denn um einen plötzlichen Sprung handelte, verändert sich die Deutung globaler Zusammenhänge und die ihnen geschenkte Aufmerksamkeit innerhalb relativ kurzer Zeit. Diese Beobachtung verweist darauf, dass sich globalistische Gegenwartsdiagnosen nicht nur in enger Interaktion mit ihrem Gegenstand »struktureller« Prozesse globaler Verflechtung, sondern auch mit den jeweiligen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Zeitumständen entwickelten. Dazu gehörte ganz zentral die Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen: Die Entspannungspolitik führte nicht nur zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit von geostrategischen auf weltwirtschaftliche Zusammenhänge. Sie machte es Anfang der er Jahre sogar plausibel zu argumentieren, dass der Kalte Krieg jetzt beendet und von einem neuen »Zeitalter der Interdependenz« abgelöst worden sei. Gleichzeitig hatten der amerikanische Krieg in Vietnam sowie soziale Unruhen, wirtschaftliche Probleme und der Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods in den Vereinigten Staaten Anfang der er Jahre den Eindruck einer Krise der eigenen Gesellschaftsordnung, des eigenen Selbstbewusstseins und der eigenen Stellung in der Welt hervorgebracht. Die amerikanisch dominierte Weltordnung wurde zudem von neuen Akteuren herausgefordert. Seit den er Jahren hatte die Dependenztheorie die Deutung globaler Verflechtung als Interdependenz in Zweifel gezogen und argumentiert, dass die »Dritte Welt« von den Strukturen der Weltwirtschaft benachteiligt werde. Diese Theorie wurde zur Grundlage von Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Besonders nachdem mit der Ölkrise im Herbst das Selbstbewusstsein der »Dritten Welt« gestiegen war und die Vereinigten Staaten und der »Westen« verwundbar wirkten, schien der Moment gekommen, um die Weltordnung der Nachkriegszeit grundlegend zu verändern. Die neuen Bedingungen einer »interdependenten Welt« wurden in dieser Debatte zum zentralen Argument, konnten sie doch zur Legitimierung ganz unterschiedlicher politischer Ziele eingesetzt werden. Damit wurde Interdependenz
Mitte der er Jahre erstmals wirklich global gedacht und bezog sich nicht mehr nur auf die »zivilisierte« Welt oder den nordatlantischen Raum. Zudem war »Interdependenz« im Herbst beinahe über Nacht von einem eher akademischen Thema zu einem akuten Problem für die amerikanische Politik geworden. Die theoretische Herausforderung der Interdependenz-Deutung und die politische Herausforderung der »liberalen Weltordnung« ließen in den Vereinigten Staaten Mitte der er Jahre das Gefühl einer bedrohlichen »Weltkrise« aufkommen, in der sich eine Reihe von Problemlagen verbanden. Dahinter vermuteten Beobachter die neuen Bedingungen einer interdependenten Welt, auf die jetzt reagiert werden müsse. In der Wissenschaft wie in der Politik bildeten dabei die er und frühen er Jahre die zentrale Folie, mit der die eigene Gegenwart verglichen wurde. In den Sozialwissenschaften war der Anspruch, die Welt immer besser durchdringen zu können und damit die Grundlagen gesellschaftlichen »Fortschritts« zu legen, nie so selbstbewusst vertreten worden wie in dieser Zeit. Die seit ihrer Konsolidierung stets vorhandenen Zweifel an Methoden, Theorien und Erkenntnismöglichkeiten waren für einen kurzen Moment weitgehend stillgestellt worden. Die negative Sicht auf die Situation vieler Disziplinen in den er Jahren ist damit in erster Linie als »Krise der gestiegenen Erwartungen« zu verstehen, nachdem diese mittlerweile als Normalität betrachtete Ausnahmesituation wieder von Unsicherheit und Selbstzweifeln abgelöst worden war. Vergleichbares galt in der Politik: Hier stellten die er Jahre eine absolute Ausnahmezeit dar, in der Nationalstaaten so homogen, in der Sozial- und Wirtschaftspolitik so einflussreich und in den internationalen Beziehungen so dominant geworden waren wie nie zuvor. Aus dem Rückblick der als krisenhaft empfundenen er Jahre wurde die amerikanische Gesellschaft der er Jahre als konsensual und geordnet verklärt. Diese Zeit wurde damit zu einer Deutungsschwelle, vor die kaum noch einer der an den Gegenwartsdiagnosen der er Jahre beteiligten Akteure zurückblickte. Außenpolitiker wie Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten hatten sich außerdem an die globale Führungsrolle gewöhnt, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg innehatte. In der politischen Auseinandersetzung mit der Interdependenz-These ging es deshalb in den er Jahren primär um die Frage, wie der globale Einfluss der USA auch unter veränderten Bedingungen erhalten werden könne. Henry Kissinger sprach zwar selbst viel von »Interdependenz«, versuchte aber primär, »neue« Themen und Akteure aus der Politik der Großmächte nach Möglichkeit fernzuhalten. Mitte der er Jahre wurde jedoch in Organisationen wie der Trilateralen Kommission die Idee immer prominenter, dass Interdependenz kein Schicksal, sondern die Folge bewusster Entscheidungen sei und damit »gemanagt« werden könnte. Ihr Direktor Zbigniew Brzezinski wollte die Vereinigten Staaten als unverzichtbaren Koordinator im Zentrum globaler Netzwerke positionieren, um so ihre Führungsrolle zu sichern. Die auf solchen Empfehlungen auf bauende Strategie der Regierung Jimmy Carter scheiterte als Gesamtansatz letztlich jedoch daran, dass sie die Bedeutung des »Kalten Krieges« für die amerikanische Außenpolitik reduzieren wollte.
Eine Vielzahl von Themen sollte jeweils getrennt bearbeitet werden, um so angemessen auf die Komplexität einer interdependenten Welt zu reagieren. Die damit verbundenen Zielsetzungen waren jedoch nicht immer kompatibel. Statt der erhofften positiven Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bereichen setzte eine negative Dynamik ein. Schon unter Carter lässt sich deshalb ab eine erneute Transformation der amerikanischen Außenpolitik beobachten, die sich unter seinem Nachfolger Ronald Reagan noch verstärkte. Im geopolitischen Bereich reduzierte die neue republikanische Regierung Komplexität, indem sie die Sowjetunion für die Probleme der Welt verantwortlich machte. Im weltwirtschaftlichen Bereich konnten jetzt als »neoliberal« bezeichnete Ansätze wirkmächtig werden, die globale Verflechtung nicht mehr analytisch durchdringen und auf dieser Grundlage politisch steuern, sondern dem »freie[n] Spiel des Marktes« überlassen wollten. Obwohl globale Interaktionen und Verflechtungen von den er bis in die er Jahre auf verschiedenen Feldern nahezu konstant zunahmen, kamen in den er Jahren erhebliche Zweifel an der Evidenz der Interdependenz-Diagnose auf. Der Begriff wurde von der »Globalisierung« verdrängt. Die Ursachen für diese »Bezeichnungsrevolution« sind somit weniger im Gegenstand globaler Interaktion und Verflechtung, sondern in der Veränderung der politischen und intellektuellen Rahmenbedingungen zu suchen. Denn die Rede vom neuen »Zeitalter der Interdependenz« war eng an die Entspannung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion und die These vom »Ende des Kalten Krieges« gebunden gewesen. Mit dem Anbruch einer Phase neuer Spannungen im »zweiten Kalten Krieg« verlor die Deutung der Welt in Kategorien der Interdependenz an Evidenz. Gleichzeitig verstrickten sich zentrale Vertreter entsprechender Ansätze in den Internationalen Beziehungen wie Robert Keohane nun in fachinterne Theoriedebatten mit Kenneth Waltz und anderen Vertretern des »Neorealismus«. Dabei übernahmen sie immer mehr dessen rationalistischen Ansatz, verloren ökonomische Fragen aus dem Blick und verstanden Staaten wieder als die zentralen Akteure der internationalen Politik. Damit büßte die »Interdependenz« in der ersten Hälfte der er Jahre ihren Status als zentralen Begriff der Gegenwartsdiagnostik ein. Unter ganz anderen Voraussetzungen fand die Auseinandersetzung mit globaler Verflechtung in der Sowjetunion statt. Dortige Beobachter hatten in den er Jahren zwar eine ganze Reihe von Annahmen der Interdependenz-Theorie geteilt, diese aus ideologischen Gründen offiziell aber zurückgewiesen. Globale Verflechtungsprozesse verhandelten sie unter den ideologiekonformeren Begriffen der »wissenschaftlich-technischen Revolution« und der »globalen Probleme«. Dabei gelangten viele von ihnen jedoch zu der Schlussfolgerung, dass eine intensivere Kooperation mit dem »Westen« unabdingbar sei. Nachdem mehrere Experten für internationale Fragen zu Beratern Gorbačevs aufgestiegen waren, wurden ihre Ideen in den späten er Jahren zur Grundlage einer Strategie der Integration der Sowjetunion in die »Weltgemeinschaft«. Diese konnte allerdings kaum noch umgesetzt werden, bevor das Land Ende aufhörte zu existieren.
Das schon ab ausgerufene Ende des Kalten Krieges trug in den USA und anderen Ländern entscheidend dazu bei, dass mit der »Globalisierung« nun ein neuer Begriff zur Beschreibung globaler Zusammenhänge wirkmächtig werden konnte. Denn nun glaubten viele Zeitgenossen, dass eine völlig neue Epoche angebrochen sei, die mit »Globalisierung« am besten zu beschreiben sei und für die die alten Theorien und Begriffe keine Erklärungskraft mehr besäßen. Darüber hinaus wurde das Ende des Kalten Krieges gerade in den Vereinigten Staaten als Sieg der Demokratie, des Kapitalismus und des »freien Marktes« interpretiert und trug damit entscheidend zur Verbreitung entsprechender politischer Handlungsrezepte und Weltdeutungen bei. Die entscheidende Veränderung lag dabei nicht im Austausch des einen Wortes durch ein anderes. Ein neuer Begriff brachte nicht unbedingt neue Deutungen mit sich, sowohl »Interdependenz« als auch »Globalisierung« konnten inhaltlich ganz unterschiedlich gefüllt werden. Gleichzeitig hatte sich das Verständnis globaler Verflechtung seit den er Jahren grundlegend verändert, der etablierte Begriff war aber noch für weitere eineinhalb Jahrzehnte verwendet worden. Im Wechsel vom Interdependenz- zum Globalisierungs-Begriff liefen in den er und er Jahren somit mehrere Veränderungen zusammen, die auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen stattgefunden hatten. Der zentrale Umbruch im Verständnis globaler Verflechtung hatte schon Ende der er Jahre eingesetzt, als das hochmoderne Verständnis wachsender Interdependenz als soziale »Evolution« zunehmend hinterfragt wurde. Die Destabilisierung hochmoderner Deutungen und Begriffe im Bereich globaler Verflechtung, aber auch auf anderen Themengebieten der Sozialwissenschaften trug zu deren Verunsicherung und einer tiefen Orientierungskrise bei. Manche Beobachter bemühten sich deshalb, die nun wesentlich komplexer erscheinende Welt analytisch möglichst vollständig zu durchdringen, im Extremfall mit computergestützten Weltmodellen, und auf dieser Basis globale Verflechtung politisch zu steuern. Nachdem Bemühungen, Interdependenz kooperativ zu steuern, Ende der er Jahre weitgehend gescheitert waren, wurden sie von marktorientierten Ansätzen verdrängt. Besonders »angebotsorientierte« Ökonomen schienen jetzt die neuen Verhältnisse besser erklären und politische Handlungsempfehlungen geben zu können. Die wirtschaftlichen Probleme dieser Zeit und die Krise des Selbstbewusstseins der anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen trugen jetzt dazu bei, dass sich die Vorstellung zunehmend durchsetzte, der »freie Markt« sei der effizienteste Weg, um mit der Komplexität einer verflochtenen Welt umzugehen. Die Versuche der er Jahre, Interdependenz durch zwischenstaatliche Kooperation zu steuern, erschienen nun kontraproduktiv ‒ individuelle Nutzenmaximierung werde für eine optimale Verteilung von Ressourcen auf dem »globalen Markt« sorgen. Diese These konnte damit zumindest für eine Weile die Verunsicherung wieder einfangen, die die vielfältigen Veränderungsprozesse der er Jahre in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit ausgelöst hatten. Die ab den späten er Jahren zu beobachtende Verschiebung der Beschreibung der Weltwirtschaft von »Handelsbilanzen« zu »Strömen«, vom »Weltmarkt« zum »globalen Markt« sowie
der Bedeutungszuwachs multinationaler Unternehmen und transnationaler Akteure verweisen alle darauf, dass Deutungen und Ordnungsvorstellungen schon im Wandel begriffen waren, bevor Theodore Levitt seine einflussreiche Interpretation der »Globalisierung« vorlegte. Es waren also keineswegs ›nur‹ die ökonomischen Schwierigkeiten der er Jahre, die Krise des Keynesianismus und ein aktiv betriebenes »neoliberales« Projekt, das zur Abwertung des Staates und zur Aufwertung des Marktes in der Weltdeutung und der Politik führte, sondern viel grundlegender das Ende hochmoderner Deutungen und Ordnungsvorstellungen. Die er Jahre wurden jetzt ihrerseits zu einer neuen Deutungsschwelle, vor die kaum noch ein Beobachter der er und er Jahre zurückblickte und deren Begriffe und Weltdeutungen nicht mehr ohne Weiteres anschlussfähig schienen. Dieser Deutungsbruch wurde nicht durch den semantischen Wechsel von der »Interdependenz« zur »Globalisierung« verursacht. Spätestens in den er Jahren liefen jedoch bereits zuvor angelegte Entwicklungen zusammen: Globale Interaktionen und Verflechtungen nahmen weiter zu, der Kalte Krieg war Geschichte, die Wirtschaftswissenschaften waren zur neuen Leitdisziplin aufgestiegen. In den Sozialwissenschaften wie in der Politik hatten sich marktorientierte Ansätze gegen Versuche durchgesetzt, Interdependenz durch die Kooperation von Staaten zu steuern. Entsprechend wurde der neue Begriff der »Globalisierung« jetzt mit anderen Schwerpunkten verwendet, als sie in der Interdependenz-Debatte wichtig gewesen waren. Gerade frühe Vertreter von Globalisierungs-Diagnosen der er Jahre betonten fast ausschließlich ökonomische Aspekte und neigten dazu, ihren Gegenstand zu einem extra-sozialen Prozess zu »naturalisieren«, der kaum zu beeinflussen und schon gar nicht aufzuhalten schien. Damit verloren sie die beteiligten Akteure, einseitige Abhängigkeitsverhältnisse und die Möglichkeit von Entflechtung aus dem Blick. »Globalisierung« schien nun nicht mehr steuerbar, ja nahezu überhaupt nicht mehr durch Menschen zu beeinflussen. Einige der Erkenntnisse, aber auch der offenen Fragen der er Jahre können dagegen bis heute wichtige Anregungen für die Auseinandersetzung mit globaler Interaktion und Verflechtung geben: Wachsende Interdependenz wurde hier nicht als »Schicksal«, sondern als Ergebnis politischer Entscheidungen betrachtet. Sozialwissenschaftler begriffen sie damit als durchaus steuerbar: Interdependenzbeziehungen konnten auch abgebrochen werden, solange man nur bereit war, die daraus entstehenden Kosten zu tragen. Auf diese Weise kamen Fragen der Abhängigkeit, Asymmetrie, Verwundbarkeit und konkretere Akteure in den Blick, die die »Globalisierung« zunächst eher verdeckt hat. Seit dem Ende der er Jahre lässt sich erneut eine grundlegende Verschiebung der Perspektive beobachten. Die Weltfinanzkrise von / verstärkte die Kritik am »Finanzmarkt-Kapitalismus« und rückte durch großangelegte Rettungsmaßnahmen die Bedeutung von Staaten für die Stabilität der globalen Wirtschaft wieder stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die »Flüchtlings Verschiedene Kritikpunkte an der bis dahin vorherrschenden Auffassung von »Globalisierung« werden etwa bei Dunkley, One World Mania () oder Flassbeck/Steinhardt,
krise« im Jahr , das »Brexit-Referendum« im Juni und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November führten die Bedeutung eines gegen »Globalisierung« gerichteten Nationalismus vor Augen. In den er Jahren hatten viele amerikanische Beobachter »Globalisierung« als Ausbreitung von Demokratie, Kapitalismus und amerikanischer Kultur in der Welt verstanden und damit angenommen, dieser Prozess werde die Interessen und den globalen Einfluss der USA fördern. Zwei Jahrzehnte später ließen Arbeitsplatzverluste durch »outsourcing« und globale Konkurrenz durch die Volksrepublik China »Globalisierung« für manche gesellschaftliche Gruppen vor allem als Bedrohung erscheinen. Das zentrale Feindbild für Trump und Rechtspopulisten in anderen Ländern sind internationale Organisationen und bindungslose »Globalisten«. In einer Rede vor der UN-Generalversammlung erklärte Trump im September , die Amerikaner wiesen die »Ideologie des Globalismus« zurück und verträten eine »Doktrin des Patriotismus«. Manche Kommentatoren sahen mit Trumps Rhetorik ‒ seine tatsächliche Politik sah oft anders aus ‒ das Ende der »liberalen Weltordnung« gekommen. Auch die Überzeugung, dass die »Globalisierung« nicht aufzuhalten sei, wurde nun wieder fraglich. Bereits seit den er Jahren hatten manche Beobachter die »Rache der Geographie« beschworen. Im November meldeten Zeitungen, dass der Welthandel erstmals seit den er Jahren nicht mehr gewachsen, sondern im zweiten Quartal um , Prozent zurückgegangen sei. Die »Globalisierung« schien damit in eine Phase der »Stagnation« eingetreten, für manche Kommentatoren sogar an ihr Ende gelangt.
Gescheiterte Globalisierung () zusammengetragen. Manche Autoren setzen den Beginn einer neuen Phase der Geschichte der »Globalisierung« an: Slowbalisation: The Steam has Gone out of Globalisation, The Economist, . Jan. . www.whitehouse.gov/briefings-statements/remarks-president-trump-rd-sessionunited-nations-general-assembly-new-york-ny/. Siehe auch https://foreignpolicy. com////trumps-globalism-is-a-caricature-of-multilateralism; www.cfr.org/ blog/patriot-games-president-trump-again-puts-nation-united-nations (alle ..). Slobodian, Quinn: Trump, Populists and the Rise of Right-Wing Globalization, NYT, . Okt. sieht hier keinen Anti-, sondern einen rechten Alter-Globalismus am Werk. Aus Deutschland: Gauland, Alexander: Warum muss es Populismus sein?, FAZ, . Okt. . Goodhart, The Road to Somewhere hat für den britischen Fall von der Unterscheidung zwischen »Somewheres« und »Anywheres« gesprochen. Siehe unter anderem Jervis (Hg.), Chaos in the Liberal Order und kritisch Moyn, Samuel: Beyond Liberal Internationalism, Dissent, Winter . Kaplan, The Revenge of Geography (); Marshall, Prisoners of Geography (). Appelbaum, Binyamin: Trade Slows as Nations Lose Their Global Drive, NYT, . Nov. , S. , ; www.welt.de/wirtschaft/article/Das-Zeitalter-der-Globalisierung-ist-vorbei.html; https://news.vice.com/story/heres-what-the-end-of-globalization-looks-like. Eine Diskussion dieser These unter: http://knowledge.insead.edu/economics-finance/the-end-of-globalisation- (alle ..). Anfang verstärkte sich dieser Eindruck im Rahmen der globalen Corona-Pandemie noch weiter: Menzel, Der Corona-Schock; Farrell/Newman, Will the Coronavirus End Globalization.
Damit ist nun auch eine Reihe von vermeintlichen Gewissheiten, die mit dem Begriff der »Globalisierung« verbunden worden waren, wieder fraglich geworden. In der Geschichtswissenschaft wurde jetzt die Frage aufgeworfen, ob die große Zeit der Globalgeschichte, die eng an den Befund einer »globalisierten« Gegenwart gebunden war, nicht schon wieder vorbei sei. Der Historiker Jeremy Adelman forderte zumindest einen differenzierten Blick auf die Dynamiken von Interaktion und Abgrenzung ein. Dabei ist es vielleicht kein Zufall, dass er den Begriff der »Interdependenz« wieder verstärkt nutzte, um Kosten und Nutzen globaler Verflechtung präziser zu fassen. In den Wirtschaftswissenschaften wird mittlerweile die Jahre alte Annahme, dass Freihandel insgesamt wohlstandsfördernd, Abgrenzung und Protektionismus dagegen ökonomisch schädlich seien, wieder verstärkt diskutiert. Solche Glaubenssätze, das hat diese Arbeit gezeigt, sind stets Ausdruck von räumlich und zeitlich gebundenen Deutungen und Ordnungsvorstellungen. Die unter Begriffen wie »Interdependenz« oder »Globalisierung« zusammengefassten Phänomene sind die Folge von Entscheidungen und Handeln konkreter Akteure. Ihre Synthese zu einem vermeintlich übergreifenden Prozess ist die Folge von Weltdeutungen, die sich wiederum auf Akteurshandeln auswirken. Anstatt »Globalisierung« zu naturalisieren und als Prozess darzustellen, der entweder nicht aufgehalten werden kann oder dessen Stagnation man nun ebenso hilflos gegenübersteht, sollten vielmehr solche Behauptungen und die damit verbundenen Erwartungen und Befürchtungen selbst in den Blick genommen werden. Dazu kann die Geschichtswissenschaft durch eine konsequente Historisierung globalistischer Gegenwartsdiagnosen einen wichtigen Beitrag leisten. »Wir möchten gern die Welle kennen, auf welcher wir im Ocean treiben«, hat Jacob Burckhardt in seiner Geschichte des Revolutionszeitalters festgestellt. Damit ist auch ein zentrales Motiv der heutigen Globalisierungs-Debatte benannt. Nimmt man jedoch die Historisierung von Weltdeutungen ernst, wird auch hier wieder deutlich, was der Baseler Historiker für das Revolutionszeitalter erkannt hatte: »wir sind diese Welle selbst.« https://aeon.co/essays/is-global-history-still-possible-or-has-it-had-its-moment. […] Als Antworten darauf: https://jhiblog.org////globaluniversal-history-a-warning/ (.. ). Möglicherweise erlebt der Begriff zurzeit eine kleine Renaissance, etwa wenn die Vereinten Nationen seit vom »Zeitalter der digitalen Interdependenz« sprechen: https ://unfoundation.org/blog/post/welcome-to-the-age-of-digital-interdependence (..). Das Konzept der »weaponized interdependence« stellt dagegen (wieder) stärker die Asymmetrie und Konflikthaftigkeit von Verflechtungsbeziehungen in den Mittelpunkt: Farrell/Newman, Weaponized Interdependence. Dazu Schieritz, Mark: Comeback der Grenzen, Die Zeit, . März , www.zeit. de///globalisierung-grenzen-maerkte-oekonome-vorteile-nachteile (..); Mishra, Panjak: The Rise of China and the Fall of the »Free Trade« Myth, The NYT Magazine, . Feb. ; Südekum, Globalisierung unter Beschuss. Das fordert ähnlich auch Eckel, Alles hängt mit allem zusammen, S. -. Burckhardt, Geschichte des Revolutionszeitalters (), S. .
Abkürzungen ACDP APRV ARAN BArch BArch-SAPMO CDM CFR CIA CIS/CENIS CMEA
CoCom
CPD DNSA DVPA EWG FRUS
G/G G GARF GATT GF GFPL ICBM IIASA IMChMP IMEMO INION
IPE IR ISKAN ISS IWF JCPL KGB KPD/ML KPdSU
LoC
Archiv für Christlich-Demokratische Politik, KAS, St. Augustin Archiv Prezidenta Rossijskoj Federacii Archivy Rossijskoj Akademii Nauk, Moskau Bundesarchiv, Koblenz Bundesarchiv, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin Lichterfelde Coalition for a Democratic Majority Council on Foreign Relations Central Intelligence Agency Center for International Studies, Massachusetts Institute of Technology Council for Mutual Economic Assistance Coordinating Committee on Multilateral Export Controls Committee on the Present Danger Digital National Security Archive Demokratische Volkspartei Afghanistans Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Foreign Relations of the United States Gruppe der Sechs/Gruppe der Sieben Gruppe der Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, Moskau General Agreement on Tariffs and Trade Meždunarodnyj Fond Social’no-Ekonomičeskich i Politologičeskich Issledovanij (Gorbačev-Fond), Moskau Gerald Ford Presidential Library, Ann Arbor, Michigan Intercontinental ballistic missile International Institute for Applied Systems Analysis, Laxenburg Institut mirovogo chozjajstva i mirovoj politiki (Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik) Institut Mirovoj Ekonomiki i Meždunarodnych Otnošenij (Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen) Institut naučnoj informacii po obščestvennym naukam (Institut für wissenschaftliche Information auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften) International Political Economy International Relations Institut SŠA i Kanady (Institut für die USA und Kanada) Institute for Strategic Studies Internationaler Währungsfonds Jimmy Carter Presidential Library, Atlanta, Georgia Komitet Gosudarstvennoj Bezopasnosti Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten Kommunistische Partei der Sowjetunion Library of Congress, Washington D. C.
LSE MChiMP MEiMO MGIMO MID MIT MPLA NARA NATO NIEO NSC NTR NYT OAPEC OECD OPEC RGAE RGANI RGW SAIS SED SLBM STR TC UN(O) UNCTAD UNESCO US-AID VNIISI WOMP WP WSJ WTR
London School of Economics Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika (Zeitschrift) Mirovaja ėkonomika i meždunarodnye otnošenija (Zeitschrift hrsg. vom IMEMO) Moskovksij Gosudarstvennyj Institut Meždunarodnych Otnošenij (Moskauer staatliches Institut für internationale Beziehungen) Ministerstvo Inostrannych Del (sowjetisches Außenministerium) Massachusetts Institute of Technology Movimento Popular de Libertação de Angola National Archives and Records Administration, College Park, Maryland North Atlantic Treaty Organization New International Economic Order/Neue Weltwirtschaftsordnung National Security Council naučno-techničeskaja revoljucija/wissenschaftlich-technische Revolution The New York Times Organization of Arab Petroleum Exporting Countries Organisation for Economic Co-Operation and Development Organization of the Petroleum Exporting Countries Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ekonomiki, Moskau Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii, Moskau Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Johns Hopkins School of Advanced International Studies Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Submarine-launched ballistic missile Scientific-technological revolution, siehe WTR Trilateral Commission United Nations (Organization) United Nations Conference on Trade and Development United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization US Agency for International Development Wissenschaftliches Allunions-Institut für Systemforschung The World Order Models Project The Washington Post The Wall Street Journal wissenschaftlich-technische Revolution
Quellen und Literatur Quellen Archivalische Quellen Archiv für Christlich-Demokratische Politik, KAS, St. Augustin (ACDP) Nachlass Kurt Birrenbach (-) Archivy Rossijskoj Akademii Nauk, Moskau (ARAN) Fond : Upravlenie kadrov RAN Fond : Institut mirovoj ekonomiki i meždunarodnych otnošenij RAN, IMEMO Opis : Upravlenčeskaja dokumentacija za - gg. Fond : Institut Soedinennych Štatov Ameriki i Kanady RAN, ISKAN Bundesarchiv, Koblenz (BArch) Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (B ) Bundesarchiv ‒ Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin Lichterfelde (BArch-SAPMO) Abteilung Handel, Versorgung und Außenhandel des ZK der SED (u. a. DY /-) Abteilung Internationale Verbindungen im ZK der SED (u. a. DY /IV B /; DY /) Büro Hermann Axen im ZK der SED (DY/IV /.) Digital National Security Archive (DNSA) Gerald Ford Presidential Library, Ann Arbor (GFPL) John Marsh Files National Security Adviser Files, () - NSC International Economic Affairs Staff Files, () - Memoranda of Conversations, - Ron Nessen Papers U. S. National Security Council Institutional Files, () - () Gorbačev-Fond, Moskau (GF) Fond : Materialy A. S. Černjaeva Fond : Materialy G. Ch. Šachnazarova Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, Moskau (GARF) Fond : Sovet Minstrov SSSR Fond : Vsesojuznyj central’nyj sovet professional’nych sojuzov
Hoover Institution Archives, Stanford University, Palo Alto Atlantic Council of the United States Records Committee on the Present Danger Records Paul Robert Hanna Papers Radical Right Collection Stepan Osusky Papers Jimmy Carter Presidential Library, Atlanta (JCPL) Anthony M. Solomon Papers Donated Historical Material ‒ Zbigniew Brzezinski (Brzezinski Donated) Trilateral Commission File, - (Box -) Correspondence File, (Box ) Gerard Smith File, - (Box -) Zbigniew Brzezinski Chron File, - (Box -) Zbigniew Brzezinski Correspondence File, - (Box -) Hendrik Hertzberg Papers Office of the Chief of Staff Files Records of the Campaign Committee to Elect Jimmy Carter Stuart Eizenstat’s Subject Files (Box -) Dave Rubenstein’s Subject Files (Box -) Records of the Office of the Staff Secretary Handwriting File Records of the Office of Congressional Liaison Records of the Office of the National Security Advisor (Brzezinski Material) Country Files Vertical FileTrilateral Commission Library of Congress, Manuscripts Division, Washington D. C. (LoC) Dmitri A. Volkogonov Collection Paul H. Nitze Papers (Nitze Papers) William Odom Papers (Odom Papers) Lyndon B. Johnson Presidential Library, Austin, Texas (LBJL) Peter R. Rosenblatt Papers National Archives and Records Administration, College Park, Maryland (NARA) Record Group : Department of State Records Office of the Secretary of State Transcript of Staff Meetings Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA-AA) Planungsstab (B) Princeton University Library, Seeley G. Mudd Manuscript Library, Princeton Council on Foreign Relations Records, - Series : Studies Department, - (Box -) Series : Meetings, - (Box -)
Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ekonomiki, Moskau (RGAE) Fond : Gosudarstvennyj planovyj komitet SSSR Soveta Ministrov SSSR Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii, Moskau (RGANI) Fond : Plenumy Central’nogo Komitet VKP(b) ‒ KPSS (, , -, - gg.) Fond : Apparat CK KPSS (- gg.) Fond : Dokumenty, rassekrečennye special’noj komissiej Po archivam pri Prezidente RF v - gg. Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow (RAC) The Trilateral Commission (North America) Records (TCR) Series : Meetings (Box -) Series : Task Force Reports/Projects, - (Box -) Series : Publications, - (Box -) Series : Membership, -s (Box -) Series : Officer’s Files, - (Box -) Series : Office Files, - (Bulk -) (Boxes -) Series : Financial Records, - (Boxes -) Sterling Memorial Library, Manuscripts Division, Yale University, New Haven Eugene Victor Rostow Papers (EVRP) Cyrus R. and Grace Sloan Vance Papers (CVP)
Zeitungen und Zeitschriften Der Spiegel Die Zeit Frankfurter Allgemeine Zeitung Izvestija Literaturnaja Gazeta Pravda The Economist The Guardian The New York Times The Times The Wall Street Journal The Washington Post TIME Magazine
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Abbildungsverzeichnis Abbildung : Häufigkeit des Begriffes »interdependence« im englischsprachigen Korpus von google n-gram. Quelle: https://books.google.com/ngrams (..). — S. . Abbildung : Die Schrumpfung der Distanzen. Quelle: Staley, World Economy in Transition (), S. . — S. . Abbildung : Die Häufigkeit des Begriffs »interdependence« (in Prozent des Gesamtbestandes) in politikwissenschaftlichen Artikeln in der englischsprachigen Datenbank von JSTOR. Quelle: McFarland, The New International Economic Order, S. mit Daten von dfr.jstor.org. — S. . Abbildung : Rosenaus Visualisierung der bisherigen Sicht auf die internationale Politik (figure .) und Vorschläge für eine neue Perspektive der »linkage« (figure . und .). Quelle: Rosenau, Political Science in a Shrinking World (), S. . — S. . Abbildung : Karl Kaisers Schema der »transnationalen Politik«. Quelle: Kaiser, Transnationale Politik (), S. . — S. . Abbildung : »Staatenzentrierte« (Figure ) und »transnationale« (Figure ) Interaktion. Quelle: Nye/Keohane, Transnational Relations and World Politics: Introduction (), S. f. — S. . Abbildung : Begriffshäufigkeit von »global’nye problemy« im russischsprachigen Korpus von Google n-gram. Quelle: https://books.google.com/ngrams (..). — S. . Abbildung : The »Global Triangle«, März . Quelle: Brzezinski, Zbigniew: The »Global Triangle«. The Changing Power Balance in Asia, and its Consequences for the Foreign Policy of the Atlantic Nations, Prepared for the Europe-Amerian Conference, Amsterdam, .-. März , JCPL, Brzezinski Donated, box , folder , Gerard Smith (File – Chron File, /), S. . — S. .
Dank Das Beste kommt zum Schluss. Die Danksagung war nicht nur der letzte Textabschnitt, den ich für dieses Buch verfasst habe, sondern auch der schönste. Denn dabei ist mir noch einmal deutlich geworden, auf wie viel Zuspruch und Unterstützung ich im Laufe der Jahre zählen durfte. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im März am Fachbereich Geschichtswissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen verteidigt habe. Mein Doktorvater Prof. Dr. Klaus Gestwa hat mich mit großem Enthusiasmus an die sowjetische Geschichte herangeführt und meine Arbeit stets gefördert. Von Beginn an hat er ein kollegiales Klima der Zusammenarbeit geschaffen, auf das ich stets vertrauen konnte. Prof. Dr. Georg Schild hat die Arbeit als Zweitgutachter betreut und seine Begeisterung für die Geschichte der USA an mich weitergegeben. Prof. Dr. Jan Eckel hat nicht nur das Drittgutachten verfasst, sondern mir an seinem Lehrstuhl in Köln und dann wieder in Tübingen auch die Möglichkeit eröffnet, die Arbeit in größtmöglicher Freiheit fertigzustellen und neue Felder zu erschließen. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Den Herausgebern Ulrich Herbert, Lutz Raphael, Sven Reichardt und Jan Eckel danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Moderne Zeit sowie für hilfreiche Anmerkungen. Jörg Später hat die Arbeit lektoriert und zusammen mit Hajo Gevers vom Wallstein Verlag entscheidend dazu beigetragen, das Manuskript in ein Buch zu verwandeln. Bei der Arbeitsgruppe Internationale Geschichte im VHD bedanke ich mich sehr herzlich für die Auszeichnung meiner Studie mit ihrem Dissertationspreis. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mich in der Anfangsphase der Dissertation mit einem Stipendium unterstützt. Besonders danken möchte ich dem Sonderforschungsbereich »Bedrohte Ordnungen«. Er bot mir nicht nur vier Jahre lang einen Ort für meine Forschung, sondern auch ein reges intellektuelles Umfeld, das meine Arbeit bereichert hat. Große Teile des Manuskripts habe ich während meines Aufenthalts am Institut für Europäische Geschichte in Mainz geschrieben. Gregor Feindt und Bernhard Gißibl haben dort Teile des Textes gelesen und mir wertvolle Hinweise gegeben. Der Boehringer-Ingelheim-Stiftung und dem SFB danke ich für die großzügige Unterstützung der Drucklegung. Mein Dank gilt ferner den Archivarinnen und Archivaren des Rockefeller Archive Center in Sleepy Hollow, der Gerald Ford und Jimmy Carter Presidential Libraries in Ann Arbor und Atlanta, der Hoover Institution in Palo Alto, der Library of Congress in Washington DC, der Seeley G. Mudd Manuscript Library in Princeton, der Sterling Memorial Library in New Haven, der National Archives in College Park, des ARAN, des GARF, des RGANI und des GorbačevFonds in Moskau sowie des Archivs für Christlich-Demokratische Politik in St. Augustin und des Bundesarchivs in Lichterfelde.
Über die Jahre konnte ich vom Austausch mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen enorm profitieren. Im Oberseminar des Tübinger Seminars für Zeitgeschichte habe ich gelernt zu argumentieren. Im Kolloquium des Instituts für Osteuropäische Geschichte konnte ich mir neue Räume und Themen erschließen und mehrere Kompakttage des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte in Mannheim gaben mir wertvolle Anregungen für den Entwurf meiner Arbeit. Besonders danken möchte ich Julia Angster, die mir mehrfach dabei geholfen hat, mich aus konzeptionellen Zwangslagen zu befreien. Verschiedene Versionen der Arbeit konnte ich in Kolloquien in Bielefeld, Berlin, Bremen, Erlangen und Mainz, auf Workshops in Philadelphia und Trient, auf verschiedenen Konferenzen sowie auf dem Süddeutschen Kolloquium für Zeitgeschichte vorstellen. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Veranstaltungen gilt mein Dank für ihre Fragen und Anregungen. Roman Krawielicki war mein Tübinger Bürokollege und Moskauer Zimmergenosse. Mit ihm konnte ich über alle wichtigen Fragen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft diskutieren. Silke Zoller, Julian Windmöller und Anna Weininger haben mich mit Recherchearbeiten unterstützt, Ilja Gottwald hat mir geholfen, mich in Moskauer Archiven und sowjetischen Quellen zurechtzufinden. Julia Göth, Claudio Stumpf und Marie Raßmann haben das Manuskript gelesen und auch noch die kleinsten Fehler aufgespürt. Über mein Projekt und interessantere Dinge konnte ich immer wieder mit Sebastian Demel, Maria Dörnemann, Christoph Haack, Dan Larsen, Frederike Schotters und Sina Steglich sprechen. Elisabeth Trepesch und allen Mitgliedern unseres informellen Lesekreises »Theorien und Methoden« danke ich für Diskussionen von der Mikrogeschichte bis zur Big History. Die Bewohner des »fünften Stocks« in Mainz, insbesondere Donata Cremonese und Katharina Ebner, haben das geteilte Leid in eine schöne Zeit verwandelt. Unsere Freunde auf dem Tübinger Stückle und darüber hinaus haben immer das richtige Verhältnis von Ermutigung und Ablenkung gefunden. Ihnen allen danke ich dafür sehr herzlich! Meiner Familie und dem ganzen »Ebkeclan« möchte ich für ihre Unterstützung danken und dafür, dass alle immer fest daran geglaubt haben, dass die Tätigkeit als Historiker am Ende schon irgendeinen Sinn haben würde – auch wenn nicht immer allen klar war, welchen. Unsere Nichten Lara, Anna und Lina haben alles in Perspektive gesetzt. Ohne Almuth wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Sie hat das Projekt von Anfang an begleitet und mir beim Denken, Schreiben und Leben auf alle nur erdenklichen Weisen geholfen. Für ihre unerschöpfliche Geduld mit mir und meinem Text kann ich ihr nicht genug danken. Ohne meine Eltern, die mein Interesse an der Vergangenheit schon früh geweckt haben, hätte ich nie Geschichte studiert. Sie haben mich immer bedingungslos unterstützt und vor allem stets daran geglaubt, dass das Buch nicht nur gut, sondern auch fertig werden würde. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Tübingen, im Juli
Personenregister Aleksandrov-Agentov, Andrej M. , Almond, Gabriel , , , Amin, Samir Andropov, Jurij V. -, , -, , f. Angell, Norman (Anm. ), f., , (Anm. ), , , Arbatov, Georgij A. , , , f., , , , ff., Arndt, Paul Aron, Raymond , , , Ball, George , Barnet, Richard Barnett, Thomas P. Bell, Daniel , , Bergsten, C. Fred (Anm. ), (Anm. ), , , , , (Anm. ) Birrenbach, Kurt Bloomfield, Lincoln P. , , f., , , , , , , , Bluntschli, Johann Caspar Bogomolev, Oleg T. , , , Boumedienne, Houari Bovin, Aleksandr E. , , f., (Anm. ), , Brandt, Willy Brežnev, Leonid I. f., , , , , f., , , , , , Brown, Harold , Brown, Lester Brzezinski, Zbigniew , , , , , , -, , , f., , , -, , ff., , Buchan, Alastair , (Anm. ) Buell, Raymond L. Bull, Hedley f. Burckhardt, Jacob , Burlackij, Fedor M. f., , , ff., , , Burns, Arthur Burton, John Byé, Maurice Camps, Miriam Cardoso, Fernando Henrique , Carr, Edward H. , f., ,
Carter, James Earl (Jimmy) , -, , , f. Černenko, Konstantin U. f. Černjaev, Anatolij S. -, , , , Chomeini, Ruhollah, Ajatollah , Chomsky, Noam Chruščev, Nikita S. -, , , f. Clinton, William (Bill) , Comte, Auguste Cooper, Frederick f. Cooper, Richard -, , , f., , , , , Delaisi, Francis , f. Demonts, Roger f. Deutsch, Karl , f., , Dobrynin, Anatolij F. Dulles, John Foster Dunning, John H. f. Durkheim, Émile f., , , , , , Easton, David Engels, Friedrich , , Falk, Richard f., f., , Faminskij, Igor’ P. -, Fedoseev, Petr N. , Ford, Gerald , , , f., , , Forrester, Jay Wright f., f Frank, André Gunder f. Franklin, George S. (Anm. ), , Friedman, Milton Friedman, Thomas , , f. Frolov, Ivan T. ff., , , Fukuyama, Francis , Fuller, Richard Buckminster Gantman, Vladimir I. , , f. Gardner, Richard N. , , , (Anm. ), Gilpin, Robert , Gorbačev, Michail S. , , f., f., - Greenspan, Alan Gromyko, Andrej A. , , f., , , Gvišiani, Džermen M.
Haas, Ernst , , (Anm. ), Halliday, Fred , (Anm. ), Harrison, Richard Edes , (Anm. ) Hayek, Friedrich A. von -, Herz, John H. f., , , Hobhouse, Leonard T. , Hobson, John A. f., Hoffmann, Stanley , , (Anm. ), f., Humphrey, Hubert , Huntington, Samuel (Anm. ), , , (Anm. ), , Hymer, Stephen , , , Inozemcev, Nikolaj N. f., f., , , , , , , , Jackson, Henry (Scoop) , Jakovlev, Aleksandr N. , , , , Jessup, Philip , Johnson, Lyndon B. , , , , , , , Kaiser, Karl -, f., , Kaldor, Mary , Kant, Immanuel f. Kaplan, Robert Kelman, Herbert C. Kenichi, Ohmae - Kennan, George F. -, Kennedy, John F. , Keohane, Robert -, , , , , , -, , -, f., , , , , Kindleberger, Charles -, , f., , f. Kirkpatrick, Jeane , , Kissinger, Henry , , -, , -, , -, -, , , -, , -, , f., , , Kohnstamm, Max , Kokošin, Andrej A. , f. Krasner, Stephen (Anm. ), f. Kreisberg, Paul , Lenin, Vladimir I. , , f. Levitt, Theodore , f., Lieber, Francis , Ligačev, Egor K. Lilienthal, David Lippmann, Walter ,
Lord, Winston Lovelock, James Luce, Clare Boothe Luce, Henry Luhmann, Niklas , , , -, Luxemburg, Rosa (Anm. ), (Anm. ) Mackinder, Halford Maier, Charles f. Maksimova, Margarita M. f., (Anm. ), Mandel, Ernest Mander, Linden A. , , Marsh, Donald B. , Marx, Karl f., , Mathisen, Trygve Mazrui, Ali , (Anm. ) McDougall, William f. McGovern, George McLuhan, Marshall Meadows, Dennis L. und Donella f. Mendlovitz, Saul f., Meyer, Cord Mikojan, Anastas I. f., Mises, Ludwig von (Anm. ), Modelski, George - Morgenthau, Hans Joachim -, , , , , Morse, Edward L. (Anm. ), f., , (Anm. ) Moynihan, Daniel Patrick , Müller, Ronald Nisbet, Robert , , (Anm. ) Nitze, Paul , (Anm. ), Nixon, Richard -, -, -, f., , (Anm. ), , Nkrumah, Kwame Nye, Joseph , (Anm. ), , f., , , -, -, , , Nyerere, Julius f., Ogburn, William F. Ophuls, William Owen, Henry D. , Park, Robert E. , Parsons, Talcott , -, , , (Anm. ), f., , f. Perlmutter, Howard f. Perroux, François f. Perry, Ralph Barton , ,
Petrovskij, Vladimir F. , Pillsbury, Walter Podhoretz, Norman , Ponomarev, Boris N. f., (Anm. ), , , , , Prebisch, Raúl , f., Primakov, Evgenij M. Pye, Lucian , , , (Anm. ) Ratzel, Friedrich Ravenal, Earl Reagan, Ronald , -, -, , Reinsch, Paul , Ricardo, David f., Richta, Radovan f. Robertson, Roland (Anm. ), , Rockefeller, David f., (Anm. ), , , Rockefeller, Nelson Rolfe, Sidney Roosevelt, Franklin Delano (Anm. ), - Rosenau, James -, , Rostow, Eugene V. -, f., f., Rostow, Walt W. , , (Anm. ) Rothorn, Robert , Sacharov, Andrej D. , , , Šachnazarov, Georgij C. f., , , , f., , , (Anm. ), , , (Anm. ) Schäffle, Albert - Schlesinger, Arthur M. Jr. , , , (Anm. ) Seidman, William , Servan-Schreiber, Jean-Jacques f., Ševardnace, Eduard A. , Shultz, George , -, Simon, William , f. Singer, David (Anm. ) Singer, Hans Wolfgang , , (Anm. ) Smith, Adam f., (Anm. ) Smith, Gerard C. , , (Anm. )
Sombart, Werner Spaak, Paul-Henri Spencer, Herbert , , Sprout, Margaret und Harold f. Spykman, Nicholas J. Staley, Eugene , , , Stalin, Iosif V. -, f. Stead, William T. Steger, Manfred , , f. Strange, Susan , (Anm. ), , , f. Streit, Clarence , (Anm. ) Suslov, Michail A. f., Tannenbaum, Frank f. Tenbruck, Friedrich Thatcher, Margaret Timofeev, Timur T. Trockij, Leo Trump, Donald , , Tucker, Robert W. , - Vance, Cyrus , , Varga, Jenö , , Vernon, Raymond , , -, , , f., , Virilio, Paul Wallace, Henry , (Anm. ) Wallerstein, Immanuel (Anm. ) Waltz, Kenneth (Anm. ), , , (Anm. ), , f., -, Weizsäcker, Carl Friedrich von Wells, Herbert G. , Willkie, Wendell Wilson, Woodrow , Woolf, Leonard f. Zagladin, Vadim V. -, , f., , , f. Ždanov, Andrej A. , Ziebura, Gilbert Zimmern, Alfred , -, -,
Sachregister er Jahre – als historischer Referenzzeitraum , f., f., , – als Hochphase Nationalstaat -, , , ’s Project (Council on Foreign Relations) -, Afghanistan, sowjetische Invasion und deren Folgen , -, f., , Angola, Bürgerkrieg in Arbeitsteilung , -, , , , , , f. – internationale , , , f., , – internationale, und Sowjetunion , , f., f., , – neue internationale , , f., Arc of Crisis f., f. Ausdifferenzierung, soziale f., , , , f., Autarkie , (Anm. ), - – und Dritte Welt , f., , – und Sowjetunion , , , – und USA , f., , Autonomie Souveränität, Unterscheidung von Bandung, Konferenz von f., (Anm. ) Behavioralismus -, , , , , f., – Kritik am , f., f., Beratergruppen, sowjetische -, f., -, f. Bretton Woods, Institutionen/ System von – Dritte Welt und , – Gründung -, – und Interdependenz/ Globalisierung , – Krise , f., , , (Anm. ), , , , , , f., – und Sowjetunion , , , Bündnisfreie/ Blockfreie f., -, (Anm. ), f., , , Carter-Regierung – außenpolitischer Ansatz -, f. – außenpolitischer Ansatz, Scheitern - – Bewertung
China, Volksrepublik f., (Anm. ), , , f., , f., , , , Club of Rome -, (Anm. ), – Sowjetunion und f. Coalition for a Democratic Majority f., Commission on a National Agenda for the Eighties f. Committee on the Present Danger f., f., cultural lag / kulturelle Phasenverschiebung , , Deglobalisierung, er? , f. Dekolonisation , , -, , , – Nationalstaat und f., Denkschulen, Internationale Beziehungen f., (Anm. ), f., Denationalisierung/ Deterritorialisierung Dependenztheorie -, , , f., , Direktinvestitionen, internationale/ Foreign Direct Investment , -, , Dissidenten, systeminterne, Sowjetunion f. Dritte Welt – Begriffsverwendung (Anm. ), (Anm. ) – Carter und , f., , , -, f. – Ende/ Zerfall der? f., f. – und Kissinger f., -, -, f., f., – Reagan und - – Sowjetunion und , , , , , Eine Welt – in den er Jahren , -, f. – Kritik an Ideologie des »One Worldism« f. Entspannungspolitik, USA – Sowjetunion – Aufstieg/ Ausbau f., f., f., f. – Dritte Welt und – Gegner und Kritik f., f., , f., , – Interdependenz und , , , , , , , ,
– Krise und Niedergang f., -, , Entwicklungsdenken, Entwicklungspolitik f., , -, -, Erster Weltkrieg, Interdependenz und - Erziehung, internationale f., , Evangelikale - Evolution, soziale – Globalisierung als , – hochmodernes Verständnis f., f., , -, -, , , – Infragestellung er Jahre - – Infragestellung er Jahre , f., f., , – multinationale Unternehmen und f., f. Fortschritt f., f., , , , , , , , f., , , , , , f. Freihandel, und Frieden f., f., , Friedliche Koexistenz f., (Anm. ), , Führungsrolle, globale, USA , f., , , f., , , , , , , , -, , f., , , , , Funktionalismus/ Neo-Funktionalismus , , , (Anm. ) G , f., , , , , f. Gemeinsames Haus Europa (Gorbačev) Geografie, Irrelevanz der f., -, f., Gesellschaft, Konzept und dessen Konstruktion f., f., , , -, Geopolitik global, Adjektiv – Verwendung USA , , (Anm. ), , – Verwendung Sowjetunion Global Report (Carter-Regierung) global governance globale Probleme/ Weltprobleme , -, , , – Carter-Regierung und , f. – Kissinger und – Reagan-Regierung und – Sowjetische Beobachter und f., , , -, f., -, , Globalisierung – als Amerikanisierung , f., , ,
– Begriffsgeschichte f., , - – und Ende Kalter Krieg f., - – Geschichte/ Periodisierung der , , , f., , (Anm. ), f., f., , , , (Anm. ) – und Interdependenz -, , f., , , , , -, , – des Kalten Krieges f., – als Konstruktion f., , – als Modernisierung f., – Naturalisierung der , f. – als Neoliberalismus f. – und Sowjetunion f., - – sozialistische – und Staaten , , , - – Steuerung der f., – Zeitalter der -, , (Anm. ) Globalisierungsdebatte in den er Jahren – Hyperglobalisten -, f. – Kritiker/ Gegner/ Alterglobalisten - – Skeptiker – Transformationalisten - Globalismus – Air-Age Globalism (Quellenbegriff ) - – als Analysebegriff , , f. – Kritik an (Quellenbegriff ) , f., – methodischer (Anm. ), – sowjetische Verwendung des Begriffs f., – US-Außenpolitik er (Quellenbegriff ) f., Globalistik, Disziplin in Sowjetunion f., Great Debates, Internationale Beziehungen f., , (Anm. ), (Anm. ) Hegemonie-Theorie f. Hochmoderne f., , , , , Horn von Afrika, Konflikt am (Äthiopien-Somalia) - Institut für die USA und Kanada (ISKAN) , f., , , , Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO) f., -, , , f., , f., , , f., f., Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik (IMChMP) , International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) Informationszeitalter (Shultz) -
Innenpolitik – Außenpolitik, Aufhebung Unterscheidung -, Integration – der Blöcke/ »Blockismus« f., – sozialistische -, , , – westeuropäische f., Interdependenz – und Brzezinski -, , , – und Carter-Regierung -, f., , – und Dritte Welt/ Nord-Süd-Beziehungen , f., -, , , f. – Erklärungen der -, f., (Anm. ) – hochmoderne Sicht -, , , , , – hochmoderne Sicht, Infragestellung f., , f., f., , f., f., f., f., f., f., f. – holistische f., – Kissinger und -, -, – Kolonialismus und f., f. – Kritik an These/ Theorie , f., , – Komplexe (Buell ) f. – Komplexe (Keohane/Nye ) f., , – negative Folgen , , , , , , f. – und Reagan-Regierung , f., – und sowjetische Beobachter -, , -, f., f., – Steuerung/ Management von , , , -, f., f., -, , , , , , f., , , , , , , , -, , , -, , – Strategie der -, f., , – Trilaterale Kommission und - – und Ungleichheit , f., – als Waffe – Zeitalter der , , f., , , , , , f., f., International, Begriff , , , , International Organization, Zeitschrift f., , , , (Anm. ) International Political Economy, Disziplin -, Internationale Beziehungen, Disziplin – Entstehung - – Nationalisierung/ Amerikanisierung f. – und Sowjetunion f., f.
Internationale Abteilung des ZK der KPdSU , , -, , - Internationalisierung , (Anm. ), (Anm. ), , f., , , Internationalismus – Dritte Welt und – liberaler f., f., , , – und Nationalismus -, -, – sozialistischer , f., , Iran, islamische Revolution im , - Isolationismus/ Anti-Interventionismus – USA, er f. – USA, Neo-, er f., , Kalter Krieg – Ende in er Jahren? f., , , , , , , f., – Ende / -, - – und Globalisierung , f., , - – Ursprünge f. – Zweiter , f., f., Komplexität, Umgang mit , , , , , f., -, , f., , f., , f., , -, , f., , , , , f. Konsens, liberaler in den USA f., f., , , Konvergenz – These , f. – Kritik an These f. Kosmopolitismus – und Internationalismus , f., f. – und Sowjetunion -, Krise der Interdependenz/ Weltkrise , Krise des Kapitalismus, allgemeine , , , f., , , Krise des Liberalismus, er Jahre Krise der Wirklichkeit/ der Begriffe – erste, er bis er Jahre , - – zweite, er Jahre , -, - Kybernetik/Systemanalyse f. – Sowjetunion und Linkage – Politik der (Kissinger) , – Theorie der f. Menschenrechte , , , , , , – Carter und , -, f., – Reagan und Meždunarodniki Migration , , , f.
Modernisierungstheorie - – und Interdependenz f. – Kritik an f., mondial, Begriff , f., multinationale Unternehmen -, , , , , – und Dritte Welt , , , f., – und Europa f. – und Nationalstaaten , - – sowjetische Sicht Multipolarisierung f., f., , , , National Commission on Coping with Interdependence (Aspen Institute) Nationalisierung/ Verstaatlichung, von Unternehmen , - Nationalismus – Dritte Welt (Anm. ) – und Marxismus-Leninismus – methodischer f., f., , , – siehe auch: Internationalismus, und Nationalismus Nationalstaat – Debatten um, er/er Jahre f., - – Debatten um, er/er Jahre - – Debatten um, er Jahre , - – siehe auch: er Jahre, als Hochphase Nationalstaat
– und Trilaterale Kommission f. – und Westeuropa f. Neues Denken, Sowjetunion Niedergang der USA, These vom (decline) f., Nixon-Doktrin f., , Nuklearwaffen, Interdependenz und f., f., f. Ölkrise, erste () -, , f., , , , , , – und Neokonservative - – Reaktionen US-Regierung - – und transatlantische Beziehungen - Ölkrise, zweite () , OPEC, OAPEC f., , -, , , outsourcing f., , Perestrojka f., -, Politikwissenschaft, sowjetische - Positivismus Behavioralismus Postmoderne , Probleme des Friedens und des Sozialismus, Zeitschrift , , , f. Project Independence – Project Interdependence f. Projekt Stern (proekt svezda) f. Protektionismus Autarkie
NATO
– globale Strategie , – und Interdependenz - Neokonservatismus -, , – und Interdependenz f., -, , f., – und Reagan - Neoliberalismus - – Kritik an f. – und Reagan f., , f. Netzwerke, Denken in , , , , Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung Neue Weltwirtschaftsordnung -, , , – und Carter – und Dependenztheorie , f. – und Kissinger -, -, – und Neokonservative , – und Neoliberale f., f. – und Reagan f. – Scheitern -, -, f. – und Sowjetunion f.,
Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) , , , , f., , Reagan-Coalition/ -Revolution -, f. Reagan-Reversal , Realismus – »Idealismus«, Kritik an -, f., – Kritik an f., f., – Neo- -, – Ursprünge -, - Regime-Theorie f., f., Selbstbestimmung, nationale , f., , f., Selbstvertrauen, USA, Krise des f., -, , , , f. Souveränität , f., , , , , , - – Autonomie, Unterscheidung von , , f. – als Bedrohung Frieden , , , , , – und Interdependenz f., , f.
– Krise der , , – und multinationale Unternehmen f., , , – ökonomische f., , , Ströme/ flows, globale -, , , , System, internationales , – und Sowjetunion f. Systeme, soziale – Denken in Kategorie , -, – Kritik am Konzept – Kybernetik und f. Tauwetter/ Entstalinisierung, in Sowjetunion -, , , , , f., Technetronische Gesellschaft/ Zeitalter (Brzezinski) , f., , , Tigerstaaaten , transatlantische Beziehungen -, -, f., , f., f., ff., Transnationale Akteure/ Beziehungen/ Politik , f., -, -, f., , f., , f. – und Nationalstaaten -, f. – und Sowjetunion , f. transnationale Gesellschaft , f. Trilaterale Kommission -, , – sowjetische Sicht Umweltbewegung/ Umweltschutz -, f., , f., , , , , , UNCTAD , , , , -, , UNESCO f., , , (Anm. ) Vereinte Nationen – Gründung f. – und Nationalstaaten Vietnam, Krieg und seine Folgen , , f., f., , , , , f., , Völkerbund , -, , , f., Wachstum – gesetzmäßiges, von sozialen Einheiten f., f., , , , , f.,
– Grenzen/ Ende des , -, , , Washington Consensus f., f., f. Weltgesellschaft/Weltgemeinschaft f., , f., , -, f., Weltinnenpolitik Weltmarkt – als globaler Mark , , f., , , , , -, , – und Sowjetunion -, , f., f., , , f., , , f. Weltmodelle -, f., Weltordnung, liberale – und Dritte Welt , – Krise er Jahre , , f., , , f., , – neue, er Jahre f., – neue, er Jahre – Krise er Jahre Weltprobleme globale Probleme Weltregierung/ Weltstaat/ Weltverfassung , , -, , , – und Realisten f. – und Sowjetunion Weltsystem – und holistische Interdependenz f., – Sowjetunion und , , f., , Weltsystemtheorie (Wallerstein) (Anm. ) wirtschaftliche Schwierigkeiten USA er/er Jahre f., , , f. Weltwirtschaftsgipfel (G/G) f., Wirtschaftswissenschaften , -, , , -, (Anm. ) wissenschaftlich-technische Revolution , , , , , , World Order Models Project f., Ždanovščina f. Zivilisation/ Zivilisierung f., , , , Zukunftsforschung Zweiter Weltkrieg, und Interdependenz , ,