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German Pages 305 Year 2017
Schriften zum Völkerrecht Band 225
Das Verschwindenlassen von Personen in der Rechtsprechung internationaler Menschenrechtsgerichtshöfe
Von
Nina Schniederjahn
Duncker & Humblot · Berlin
NINA SCHNIEDERJAHN
Das Verschwindenlassen von Personen in der Rechtsprechung internationaler Menschenrechtsgerichtshöfe
Schriften zum Völkerrecht Band 225
Das Verschwindenlassen von Personen in der Rechtsprechung internationaler Menschenrechtsgerichtshöfe
Von
Nina Schniederjahn
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D30 Alle Rechte vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-14798-4 (Print) ISBN 978-3-428-54798-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84798-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Lo más grave de todo es que hemos aprendido a vivir con la violencia. Gabriel García Márquez
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2014/2015 von der Juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Das zugrundeliegende Manuskript fand im August 2014 seinen Abschluss, sodass Rechtsprechung und Literatur sich weitgehend auf dem Stand von Juli 2014 befinden. Das Verschwindenlassen von Personen ist für mich nicht nur das Thema meiner Promotion, sondern auch eine Herzensangelegenheit. Im Zuge dieser Arbeit habe ich die Geschichten vieler Menschen nachempfunden, deren Leben ein dramatisches Ende genommen und für deren Familien damit ein oft lebenslanges Leid begonnen hat. Diese Lebensgeschichten, sowohl der Opfer als auch der Angehörigen, haben mich tief berührt, meine Sicht auf die Welt verändert und sind mir eine anhaltende persönliche Motivation, für Veränderungen in dieser Welt einzustehen. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann für die Betreuung meiner Dissertation und die zahlreichen Gutachten, die er in diesem Zeitraum für meine Förderung angefertigt hat. Herrn Prof. Dr. Stefan Kadelbach danke ich für die Übernahme und zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Markus Krajewski danke ich für die interessante und gewinnbringende Zeit, die ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl verbringen durfte. Sein Enthusiasmus und seine Unterstützung haben mich auch in schwierigen Phasen der Erstellung dieser Arbeit ermutigt und er war stets ein hilfsbereiter und humorvoller Ansprechpartner für alle Belange der Promotion. Herrn Prof. Dr. Andreas Zimmermann danke ich dafür, dass er mir während der Zeit, in der ich für ihn tätig war, viele Freiräume gelassen hat und spannende Einblicke gewährte. Darüber hinaus gilt mein Dank Rainer Huhle, der mit seiner langjährigen Erfahrung zum Thema und als Mitglied des Ausschusses des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen wichtige Ideen beigetragen hat und mir zudem einige Türen für meinen Forschungsaufenthalt in Peru geöffnet hat. Ganz herzlich möchte ich auch allen danken, die mich während meines Forschungsaufenthalts in Peru unterstützt haben. Die Gespräche und wertvollen Hinweise von Augusto Medina Otazu, Giovanna F. Vélez Fernández, Miguel Huerta, Jose Pablo Baraybar und Diego García Sayán haben diese Arbeit sehr bereichert.
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Vorwort
Des Weiteren danke ich der Friedrich-Ebert-Stiftung, die mir durch ihre finanzielle Unterstützung diese Promotion ermöglicht und darüber hinaus auch meine persönliche und fachliche Entwicklung stets gefördert hat. Ein herzliches Dankeschön gilt auch meiner Familie und meinen Freunden. Ich danke meinen Eltern für den unablässigen Glauben an meine akademische Zukunft und meinen Großeltern, die meine ganze Studien- und Promotionszeit stets mit großem Interesse verfolgt haben. Insbesondere mein Großvater ist nicht nur mein wohl größter Fan, sondern hat diese Arbeit im Alter von 91 Jahren noch mit viel Aufmerksamkeit und Interesse gelesen. Zudem danke ich Gertrud Achinger für die Durchsicht dieser Arbeit. Ganz besonderer Dank gilt meinem Mann Till Achinger, der nicht nur tapfer dieses Manuskript nach Rechtschreibfehlern durchkämmt hat, sondern mir in allen Phasen der Promotion eine Stütze war. Till danke ich auch dafür, dass er mit mir in jede Höhle klettert und mich immer wieder an die wesentlichen Dinge im Leben erinnert. Berlin, im Oktober 2016
Nina Schniederjahn
Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einführung
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A. Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Teil Das Phänomen Verschwindenlassen
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A. Begriffsbestimmung des Verschwindenlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Beschränkung auf Lateinamerika und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Ablauf des Verschwindenlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Entführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Haftzentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Folterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Exekution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Handelnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F. Ziele und Auswirkungen der Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Auswirkungen für den Verschwundenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
II. Auswirkungen für die Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
III. Auswirkungen für die Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Historische Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Das Verschwindenlassen in Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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H. Das Verschwindenlassen im internationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 3. Teil Regionale Menschenrechtssysteme
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A. Das Inter-Amerikanische System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inter-Amerikanische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inter-Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Organisation des Gerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfahren vor der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Vollstreckung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 49 51 52 53 54 55 55 56
B. Das Europäische System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Organisation des Gerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vollstreckung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 57 58 59 61
C. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
4. Teil Schutz der Opfer A. Prozessuale Hürden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens durch die Kommission . . . . II. Rechtswegerschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Friedliche Streitbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Beteiligungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Opfer- und Zeugenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63 63 63 66 66 70 71 72 73 73 77 77 78 78 81 82
Inhaltsverzeichnis
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B. Beweisschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Zulässige Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
a) Zeugenbeweis und Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
b) Schriftliche Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
c) Mittelbare Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
2. Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
3. Beweislast und Beweiserleichterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
a) Systematische Praxis des Verschwindenlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
b) Mangelnde Kooperation des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
c) Inhaftierung durch den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99 II. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Zulässige Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 b) Schriftliche Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 c) Mittelbare Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Beweislast und Beweiserleichterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 a) Systematische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Mangelnde Kooperation des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 c) Inhaftierung durch den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 C. Das Recht, nicht verschwindengelassen zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 I. Recht auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Verbot der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 III. Recht auf Sicherheit und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 IV. Das Recht, als rechtsfähig anerkannt zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 V. Weitere verletzte Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
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Inhaltsverzeichnis 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 VI. Abschlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
D. Angehörige als Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Opfereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verbot der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsschutzgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ermittlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Recht auf Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ermittlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wirksame Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Effektive Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Recht auf Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146 146 146 149 151 153 153 155 157 157 157 159 160 161 161 161 171 174 174 174 176 181 182
E. Dauercharakter des Verschwindenlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185 186 190 194
F. Entschädigung und Ersatz der Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materielle Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Immaterielle Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kostenersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materielle Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Immaterielle Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195 196 196 199 203 204 204 206
Inhaltsverzeichnis
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3. Kostenersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5. Teil Beitrag zur Aufarbeitung, Strafverfolgung und Verhinderung des Verschwindenlassens
214
A. Pflicht zur Aufarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Recht auf Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatliche Anerkennung der Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Maßnahmen zur Aufarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswirkungen in Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215 216 217 221 222 223 226 229
B. Pflicht zur Verhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schaffen von nationalen Straftatbeständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Präventionsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswirkungen in Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231 232 232 236 240 241 243 248
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Angemessene Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuständigkeit von Militärgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Amnestien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Internationale Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Beispiel Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Fall Castillo Páez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) La Cantuta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aktuelle Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
250 251 253 255 257 258 261 262 262 266 270 271 274
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Inhaltsverzeichnis 6. Teil Abschließende Bewertung und Ausblick
277
Rechtsprechungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Abkürzungsverzeichnis Abs. AMRK APT ARBH Art. bzw. CEH CEJIL CHRGJ COMISEDH CONADEP Conn. J. Int’l L CVR dies. DINA Doc. ECCHR EGMR EHRAC EMRK EPAF ESMA et al. f. gem. HRW IAGMR i.V. m. lit. NGO Nr. N.Y.U.J. Int’l L&Pol OAS S. Ser.
Absatz Amerikanische Menschenrechtskonvention Association for the Prevention of Torture Armija Republike Bosne i Hercegovine (Armee der Republik Bosnien und Herzegowina) Artikel beziehungsweise Comisión para el Esclarecimiento Histórico Center for Justice and International Law Center for Human Rights and Global Justice Comisión de Derechos Humanos Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas Connecticut Journal of International Law Comisión de la Verdad y Reconciliación dieselbe Dirección Inteligencia Nacional Dokument European Center for Constitutional and Human Rights Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Human Rights Advocacy Centre Europäische Menschenrechtskonvention Equipo Peruano de Antropología Forense Escuela de Mecánica de la Armada und andere folgende gemäß Human Rights Watch Inter-Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte in Verbindung mit Litera Nichtregierungsorganisation Nummer New York University Journal of International Law and Politics Organisation Amerikanischer Staaten Seite Serie
16 SIN Stan. J. Int’l L Ter u. a. UN USA v. VerfO vgl. VRS Ziff.
Abkürzungsverzeichnis Servicio de Inteligencia Nacional Stanford Journal of International Law drittens unter anderem United Nations United States of America versus Verfahrensordnung vergleiche Vojska Republike Srpske (Streitkräfte der Republik Srpska) Ziffer
1. Teil
Einführung Mit dem Beginn des „Kampfes gegen den Terror“ durch die USA hat auch in Europa ein Phänomen an Beachtung gewonnen, das zuvor überwiegend den lateinamerikanischen Raum betraf: das Verschwindenlassen von Personen. In den 1960er Jahren wurde das Verschwindenlassen erstmals durch die Geschehnisse in Lateinamerika als eigenständige Unterdrückungsmethode wahrgenommen, wo es auch seinen dramatischen Höhepunkt erreichte.1 Dieses Verbrechen ist jedoch kein rein amerikanisches Problem, sondern mittlerweile aus über 100 Ländern der Welt bekannt. Allein in den bekannt gewordenen Fällen sind weit über eine Million Menschen betroffen.2 Auch in Europa ist das Verschwindenlassen verbreitet, so etwa in Zypern. 500 türkische Zyprer verschwanden während der Unruhen 1963 und 1964 und während der türkischen Invasion in Nordzypern 1974 verschwanden ca. 1.500 griechische Zyprer. In Tschetschenien gelten seit Beginn des Konflikts 1999 mindestens 2.090 Menschen als verschwunden und auch in Weißrussland, der Türkei und der Ukraine wurden Fälle verschwundener Personen verzeichnet.3 Der Meinung vieler Experten zufolge ist das Verschwindenlassen das wohl grauenhafteste Verbrechen gegen eine Person.4 So umfasst das Verschwindenlassen nicht nur die Entführung und Freiheitsberaubung des Opfers, sondern bedeutet oftmals auch dessen anschließende Folter und Ermordung, nach der man die Leiche letztendlich verschwinden lässt. Dadurch wird nicht nur der Verschwundene selbst von der Tat betroffen, sondern auch seine Angehörigen und die ganze Gesellschaft eines Staates. Allerdings macht dieses vielschichtige Erscheinungsbild diverser Menschenrechtsverletzungen an verschiedenen Personen die Erfassung des Verschwindenlassens als Straftatbestand besonders schwierig und die heimliche Begehung führt zu Beweisschwierigkeiten. Deshalb hat sich die Sanktionierung dieses Verbrechens auf nationaler wie internationaler Ebene immer wieder verzögert.5 Erst 2006 wurde mit dem Internationalen Übereinkom1
Amnesty International (1993), S. 27 f. Fiechtner, S. 95, 117. 3 Pourgourides, Abs. 14 ff.; Scovazzi/Citroni, S. 64. 4 Hummer/Mayr-Singer, S. 656 finden, dass es „wohl kein grauenhafteres Verbrechen“ gibt; Nowak, S. 4 sieht das Verschwindenlassen als „one of the most serious human rights violations“. 5 Hummer/Mayr-Singer, VN 2007, S. 183. 2
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1. Teil: Einführung
men zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen ein verbindliches Rechtsinstrument verabschiedet, welches im Dezember 2010 in Kraft trat.6 In Ermangelung einer verbindlichen normativen Regelung zum Verschwindenlassen bot zuvor lediglich die internationale Rechtsprechung den Betroffenen eine Möglichkeit, gegen das Verschwindenlassen vorzugehen. Dementsprechend waren es auch die internationalen Gerichte, die den ersten wesentlichen Beitrag zur rechtlichen Aufarbeitung dieses Phänomens leisteten.7 Bis heute bieten die internationalen Organe zum Schutz der Menschenrechte den effektivsten Schutz gegen das Verschwindenlassen, weshalb die Analyse ihrer Rechtsprechung und ihres Beitrages bei der Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung dieses Verbrechens für Praxis und Forschung von erheblicher Relevanz ist. Dabei sind insbesondere die Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (IAGMR) sowie die Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) von Bedeutung. Im Velásquez Rodríguez-Fall erging durch den Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte 1987 das erste Urteil eines internationalen Gerichtshofes zum Verschwindenlassen, das bedeutende Präzedenzwirkung auch über das InterAmerikanische System hinaus entfaltete.8 Der Gerichtshof ging auf die Frage der Beweislast ein, um den für die Angehörigen der Opfer kaum überwindbaren Beweisschwierigkeiten Rechnung zu tragen.9 In nachfolgenden Fällen beschäftigte sich der Gerichtshof zudem mit der Frage, ob auch die Angehörigen der Verschwundenen zum Kreis der Opfer gehören und, in Ermangelung eines ausdrücklichen Verbotes gegen das Verschwindenlassens in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, auf welche Artikel der Schutz davor zu stützen ist.10 Viele der Entscheidungen wirkten sich auch direkt auf die Opfer aus. So wurden Wiedergutmachungszahlungen an die Angehörigen der Verschwundenen geleistet und einige Fälle führten zudem zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter in ihrem Heimatland. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt sich mit der Problematik des Verschwindenlassens, erstmals 1998 im Zuge des Kurt-Falls. Teilweise war er dabei vor vergleichbare Schwierigkeiten gestellt wie der InterAmerikanische Gerichtshof, beispielsweise das Fehlen eines expliziten Verbots des Verschwindenlassens in der Europäischen Menschenrechtskonvention.11 Al6 Aktueller Status: http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspxsrc=TREATY&mtd sg_no=IV16&chapter=4&lang=en. 7 Grammer, S. 45 f.; Pérez Solla, S. 32. 8 Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 637, 639. 9 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 124 ff. 10 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 96 ff.; Nowak, Abs. 26. 11 Kurt v. Türkei, 25. Mai 1998, Abs. 118 ff.
A. Fragestellungen
19
lerdings setzt der Europäische Gerichtshof höhere Standards bei der Beweispflicht, wobei diese in den jüngsten Entscheidungen gelockert wurden.12 Der Inter-Amerikanische Gerichtshof geht in Fragen der Wiedergutmachung zudem weiter als der Europäische Gerichtshof.13 Insgesamt erging in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren eine Vielzahl an Entscheidungen durch beide Gerichtshöfe zu Fällen des Verschwindenlassens. Die ausführliche Rechtsprechungspraxis hat gezeigt, dass neben vielen Gemeinsamkeiten auch deutliche Unterschiede in der rechtlichen Bewertung dieses Verbrechens bestehen. Nicht nur im Hinblick auf den Schutz, den beide Organe vor dem Verschwindenlassen bieten, sondern besonders bei der Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung dieses Verbrechens ergeben sich erhebliche Differenzen. Bei Fällen des Verschwindenlassens war es nicht der EGMR als deutlich älteres und etablierteres Menschenrechtsinstrument, der die rechtliche Beurteilung dieses Phänomens geprägt hat. Die Vorreiterrolle in diesem Bereich hat dagegen der IAGMR übernommen.
A. Fragestellungen Ziel der Arbeit ist es, die justiziellen Anstrengungen internationaler Menschenrechtsorgane bei der Aufarbeitung des Verschwindenlassens und die Entwicklung der Rechtsprechung zu analysieren und den Umgang mit den Taten kritisch zu betrachten. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben sich in ihrer Rechtsprechungspraxis ausführlich mit dem Verschwindenlassen beschäftigt. Zudem sind beide Menschengerichtshöfe aufgrund ihrer Struktur und Zielrichtung gut vergleichbar. Deshalb werden die Entscheidungen beider Gerichtshöfe vergleichend dargestellt. Nur durch eine genaue Analyse ihrer Urteile lässt sich feststellen, wie weitreichend der Schutz durch diese beiden Organe vor dem Verschwindenlassen ist und inwieweit sie einen effektiven Beitrag zur Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung dieses Verbrechens leisten. Die dabei erzielten Erfolge und aufgetretenen Probleme sollen aufgezeigt werden und im Rahmen konkreter Vorschläge für eine Änderung der jeweiligen Rechtsprechungspraxis verwertet werden. Dabei werden die Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Relation zueinander gesetzt und anhand der folgenden Fragestellungen untersucht:
12 Imakayeva v. Russia, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 111 ff.; Singh Sethi, S. 29 f. 13 Scovazzi/Citroni, S. 223.
20
1. Teil: Einführung
1.
Welchen Schutz bieten der Inter-Amerikanische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof den Opfern des Verschwindenlassens?
2.
Welchen Beitrag leisten sie zur Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung des Verschwindenlassens?
Zunächst soll der durch die Rechtsprechung dieser beiden internationalen Menschenrechtsorgane gewährte Schutzumfang gegen das Verschwindenlassen ermittelt werden. Dabei werden insbesondere die Fragen aufgeworfen, vor welchen Handlungen die Opfer geschützt werden sollen und wer zum geschützten Personenkreis gehört. Zudem werden die Beweisregeln daraufhin untersucht, ob sie der Komplexität des Verbrechens und den damit verbundenen Beweisschwierigkeiten gerecht werden oder durch eine hohe Beweislast an den Beschwerdeführer der Schutz eingeschränkt wird. Des Weiteren soll geprüft werden, welche Beteiligungsrechte den Opfern während des Verfahrens zustehen und welche faktischen und normativen Hürden den Zugang zum Gericht erschweren. Den Opfern des Verschwindenlassens ist durch die Rechtsprechung allein jedoch noch nicht gedient. Geklärt werden muss ferner, wie sich der von den internationalen Organen gewährleistete Schutzumfang auf die Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung des Verschwindenlassens auswirkt. Dabei sollen exemplarisch anhand der verhandelten Fälle die praktischen Auswirkungen dieser Rechtsprechung untersucht und dargestellt werden. Welche Strafen können und werden von den Gerichten ausgesprochen? Inwiefern werden diese Urteile durch die Staaten befolgt und welche Handhabe gibt es bei Nichtbefolgung? Welchen Beitrag haben sie bei der Entwicklung eines Straftatbestandes geleistet? Inwieweit konnten die Verbrechen durch die Gerichtsverhandlungen und die anschließenden Urteile aufgearbeitet werden? Zur Verdeutlichung, welchen Effekt die Entscheidungen in einem Land erzielen können und welche faktischen Grenzen weiterhin bestehen, wird die Umsetzung der Urteile am Beispiel Perus erarbeitet. Peru ist das Land, das durch den Inter-Amerikanischen Gerichtshof am häufigsten in Fällen des Verschwindenlassens verurteilt wurde. Dabei stellte die Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung des Verschwindenlassens einen wesentlichen Kern dieser Entscheidungen dar. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Fälle Castillo-Páez und La Cantuta. In letzterem beschäftigte der Gerichtshof sich mit den nach dem Ende der Militärdiktatur erlassenen Amnestiegesetzen. Die Entscheidung zu Castillo-Páez nahm wesentlichen Einfluss auf die nationale Strafverfolgung in dem Fall und die Kritik des IAGMR wurde sogar vom peruanischen Verfassungsgericht aufgenommen. Der peruanische Umgang mit den Entscheidungen dient somit als Beispiel, um die gesellschaftliche Bedeutung der Entscheidungen und ihre Wirkung aufzuzeigen. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse werden schließlich Vorschläge formuliert, die den Schutz und die Effektivität der Gerichte in der Zukunft verbessern sollen.
B. Methodisches Vorgehen
21
B. Methodisches Vorgehen Da das Thema Verschwindenlassen in der Literatur bisher nur wenig bearbeitet wurde, beginnt die Arbeit im ersten Teil mit einer Bestandsaufnahme über die Erscheinungsformen und Auswirkungen des Verschwindenlassens, die zum Verständnis der nachfolgenden Teile notwendig ist. Neben einer allgemein-begrifflichen Annäherung wird in einer phänomenologischen Annäherung in Anlehnung vor allem an die lateinamerikanischen Geschehnisse ein typischer Ablauf der Fälle beschrieben. Auch wird auf mögliche Ziele der Anwendung dieser Form der Repression gegen die eigene Bevölkerung eingegangen. Zudem soll ein kompakter Überblick über die zur Sanktionierung des Verschwindenlassens geschaffenen völkerrechtlichen Normen auf regionaler und universeller Ebene gegeben werden. Im zweiten Teil wird das Rechtsschutzsystem der internationalen Organe kursorisch im Hinblick auf die Verfolgung von Verschwindenlassen untersucht. Durch die Darstellung dieser Systeme zum Schutz der Menschenrechte und den ihnen zugrunde liegenden normativen Regelungen schafft dieser Teil neben der tatsächlichen und historischen auch eine rechtliche Grundlage für die anschließende Untersuchung. Diese Ausführungen sind notwendig, um systemimmanente Unterschiede bei der Beurteilung der Fälle zu verstehen, und schaffen die Basis für Reformvorschläge für die beiden Gerichtshöfe. Der dritte und vierte Teil bilden den Schwerpunkt der Arbeit. Diese Kapitel beschreiben, analysieren, bewerten und vergleichen die Rechtsprechung zum Verschwindenlassen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Anhand der ergangenen Urteile zum Verschwindenlassen wird die Entwicklung des Schutzes vor dem Verschwindenlassen nachgezeichnet sowie die Errungenschaften und Schwächen der Gerichtshöfe dargestellt. Anschließend werden die Urteile anhand der beiden entwickelten Fragestellungen dahingehend untersucht, ob und in welchem Rahmen eine Durchsetzung der Urteile erfolgte. Dabei wird zunächst der Schutz der Opfer analysiert (dritter Teil) und aufgezeigt, wer von den Gerichten als Opfer anerkannt wird und welche Rechte betroffen sind. Außerdem werden prozessuale Probleme aufgezeigt sowie Fragen der Beweislast erörtert. Aufbauend auf diesen Ergebnissen wird der Beitrag der Gerichtshöfe zur Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung des Verschwindenlassens untersucht (vierter Teil). Hier werden insbesondere die Auswirkungen der Rechtsprechung auf nationale Strafverfolgung und Gesetzesinitiativen dargestellt. Der dritte und vierte Teil sind geprägt durch den ständigen Vergleich zwischen den beiden Gerichtshöfen. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst und eine abschließende Gesamtbetrachtung der Rechtsprechung beider Gerichtshöfe im Hinblick auf das Verschwindenlassen vorgenommen. Dabei werden Vorschläge entwickelt, um den Schutz der Opfer zu erweitern sowie eine Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung der Taten zu erleichtern.
2. Teil
Das Phänomen Verschwindenlassen Tagtäglich werden überall auf der Welt Menschen verhaftet, weil die Machthaber in ihrem Land deren politische oder religiöse Überzeugung, ihre Hautfarbe oder Herkunft ablehnen. Manchen wird der Prozess gemacht, andere werden beliebig lange im Gefängnis gehalten und wieder andere sind nach der Verhaftung spurlos verschwunden. Da das Thema in der bisherigen rechtswissenschaftlichen Literatur nur wenig bearbeitet wurde und darüber hinaus auch in der Gesellschaft nicht sehr bekannt ist, erfolgt zunächst eine Bestandsaufnahme über die Erscheinungsformen und Auswirkungen des Verschwindenlassens. Zunächst soll der Begriff „Verschwindenlassen“ genauer bestimmt werden (A.) sowie die Untersuchung geografisch eingeschränkt werden (B.). Danach wird der Ablauf des Verschwindenlassens skizziert (C.) und seine verschiedenen Varianten werden aufgezeigt (D.), bevor die Verantwortlichen benannt (E.) und die Ziele dieser Tat beschrieben werden (F.). Ferner werden die historischen Gründe des Verschwindenlassens in Lateinamerika und Europa, mit einem wesentlichen Schwerpunkt auf Peru, dargestellt (G). Abschließend wird die Entwicklung des Verschwindenlassens im internationalen Recht nachgezeichnet (H).
A. Begriffsbestimmung des Verschwindenlassens Der Begriff „Verschwindenlassen“ als Bezeichnung einer Form der politischen Verfolgung stammt aus dem Spanischen. In den Medien Guatemalas wurde der Begriff „desaparecidos“ also „Verschwundene“, erstmals 1966 verwendet und gilt seitdem als Synonym für die Opfer lateinamerikanischer Militärdiktaturen.1 Grundsätzlich ist die Terminologie zur Beschreibung dieses Phänomens nicht einheitlich: So sprechen die Vereinten Nationen von „enforced disappearance“ 2 oder „involuntary disappearance“ 3, zum Teil wird auch die Bezeichnung „missing persons“ 4 verwendet. Unter „extraordinary rendition“ versteht man die von 1 Das Verschwinden von 33 Oppositionellen im guatemaltekischen Wahlkampf des Jahres 1966 stellt den ersten groß angelegten Fall des Verschwindenlassens in Lateinamerika dar, vgl. Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 1, S. 135 f. 2 So die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen sowie die vorausgegangene Deklaration gegen das Verschwindenlassen in ihren Originaltexten; ebenso das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes. 3 Vgl. UN-Resolution A/RES/33/173 vom 20. Dezember 1978.
A. Begriffsbestimmung des Verschwindenlassens
23
den US-Behörden vorgenommene Überstellung Terrorverdächtiger von einem Staat in einen anderen ohne rechtliche Grundlage,5 welche auch typische Merkmale des Verschwindenlassens aufweist, wie beispielsweise das spurlose Verschwinden verhafteter Personen und das Leugnen von Verhaftungen durch die Behörden. In diesem Zusammenhang wird des Weiteren von „ghost detainees“, „secret prisoners“ und „detainees in black sites“ gesprochen.6 Das deutsche Wort „Verschwindenlassen“ beschreibt die Problematik nur zum Teil, denn in der deutschen Sprache wird das Wort auch benutzt, wenn Personen aus anderen Gründen nicht mehr da sind, beispielsweise wenn die Leiche nach einem tödlichen Unfall nie auftaucht oder in Fällen der Kindesentführung ohne Lösegelderpressung. Zudem sind die Betroffenen nicht wirklich verschwunden, weil die Behörden oder Machthaber Kenntnis über ihr Schicksal haben, auch wenn sie dies leugnen. Aufgrund dessen wird häufig vom erzwungenen oder unfreiwilligen Verschwinden gesprochen oder das Wort „Verschwindenlassen“ wird in Anführungszeichen gesetzt.7 Diese Vielzahl an Begriffen spiegelt die Verwirrung wider, die durch die Verdunkelung von Geheimdiensteinsätzen und mangelnde Information der Öffentlichkeit entstehen kann und einen klaren Umriss des Phänomens erschwert. Unabhängig von der konkreten Bezeichnung sind mittlerweile vielfältige Versuche unternommen worden, das Verschwindenlassen genauer zu definieren. So versteht beispielsweise die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen in ihrem Art. 2 darunter „die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Gruppen von Personen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Personen, wodurch sie dem Rechtsschutz entzogen wird“.8 4 Insbesondere die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte benutzen diesen Ausdruck, vgl. Zypern v. Türkei, Urteil vom 10.05.2001, Abs. 3, 16, 21; Meshayyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 12.02.2009, Abs. 36. 5 Association of the Bar of the City of New York/NYU Center for Human Rights and Global Justice, S. 4. 6 Amnesty International – 2006, S. 1; Fisher, American University Law Review Vol. 57, S. 1406 f.; NYU Center for Human Rights and Global Justice, S. 1; Weissbrodt/ Bergquist, Harvard Human Rights Journal 2006, S. 127 f. 7 Amnesty International – 982, S. 10; zugunsten der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit auf die Anführungszeichen verzichtet. 8 „Enforced disappearance is considered to be the arrest, detention, abduction or any other form of deprivation of liberty by agents of the State or by persons or groups of persons acting with the authorization, support or acquiescence of the State, followed by a refusal to acknowledge the deprivation of liberty or by concealment of the fate or whereabouts of the disappeared person, which place such a person outside the protection of the law.“, vgl. Art. 2 UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen von Personen.
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
Das Verschwindenlassen setzt sich danach aus den drei Elementen Freiheitsberaubung, staatliches Handeln und anschließender Verleugnung oder Verheimlichung der Freiheitsentziehung zusammen. Der durch den Internationalen Strafgerichtshof geschaffene Straftatbestand des Verschwindenlassens wird in Art. 7 Abs. 2 lit. (i) des IStGH-Statuts definiert als „die Festnahme, den Entzug der Freiheit oder die Entführung von Personen durch einen Staat oder eine politische Organisation oder mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates oder der Organisation, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib dieser Personen zu erteilen, in der Absicht, sie für eine längere Zeit dem Schutz des Gesetzes zu entziehen.“ 9
Diese Definition ist im Wesentlichen mit der Definition aus der UN-Konvention über den Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen identisch. So werden auch beim IStGH die beiden Handlungsalternativen der Freiheitsentziehung und die sich daran anschließende Auskunftsverweigerung unterschieden und um zwei weitere Elemente erweitert. Zum einen wird der Täterkreis über staatliche Akteure hinaus auf private ausgedehnt und zum anderen ein subjektives Element, die Absicht des Täters, die Person für längere Zeit dem Schutz des Gesetzes zu entziehen, hinzugefügt.
B. Beschränkung auf Lateinamerika und Europa Das Verschwindenlassen ist ein weltweites Phänomen und nicht auf bestimmte Regionen der Welt beschränkt. Der aktuelle Report der UN-Arbeitsgruppe zum Verschwindenlassen listet Fälle aus über 100 Ländern der Welt auf. Die mit Abstand meisten Fälle des Verschwindenlassens ereignen sich im Irak mit 16.548 verschwundenen Personen, gefolgt von Sri Lanka mit 12.473 Verschwundenen. Erst auf dem dritten Platz findet sich mit Argentinien und 3.449 Fällen ein lateinamerikanischer Staat.10 Neben Lateinamerika sind demnach insbesondere der Nahe Osten11 und Asien12 betroffen. Auch aus afrikanischen Ländern gibt es vermehrt Berichte über verschwundene Personen.13 9 „Enforced disappearance of persons means the arrest, detention or abduction of persons by, or with the authorization, support or acquiescence of, a State or a political organization, followed by a refusal to acknowledge that deprivation of freedom or to give information on the fate or whereabouts of those persons, with the intention of removing them from the protection of the law for a prolonged period of time.“, vgl. Art. 7 Abs. lit (i) Statut des Internationalen Strafgerichtshofes. 10 Aktueller Bericht der UN-Arbeitsgruppe über erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwindenlassen, S. 127 ff., A/HRC/22/45; auch Peru ist mit 3.009 Fällen vertreten. 11 Bericht zum Verschwindenlassen im Irak in Amnesty International (1994), S.15 ff., Verschwindenlassen in Afghanistan, siehe Amnesty International (1982), S. 59 ff. 12 Bericht zum Verschwindenlassen in Sri Lanka siehe Anmesty International (1994), S. 25 ff.; auf den Philippinen siehe Amnesty International (1982), S. 73 ff.
B. Beschränkung auf Lateinamerika und Europa
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Dies verdeutlicht, dass es sich beim Verschwindenlassen um kein rein lateinamerikanisches Problem handelt, auch wenn ein Großteil der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen im Bezug zu diesen Ländern stattfindet, da das Verschwindenlassen in Ländern wie Guatemala, Argentinien und Chile durch seine erstmalige systematische Ausübung maßgeblich geprägt wurde. Insbesondere die Arbeit von Wahrheitskommissionen in mehreren lateinamerikanischen Ländern und die Untersuchungen von Nichtregierungsorganisationen in diesen Ländern haben zu einer genaueren Erfassung und Rekonstruktion der Handlungsabläufe beim Verschwindenlassen geführt und sie stellen bis heute die Grundlage der Beurteilung dieser Unterdrückungsmethode dar.14 Auch die Rechtsprechung internationaler Menschenrechtsgerichte ist geprägt durch die Fälle in Lateinamerika und Europa. Seit 198815 hat der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte über 30 Fälle zum Verschwindenlassen behandelt. Zehn Jahre später16 entschied auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erstmalig über einen Fall von Verschwindenlassen und seither ist die Zahl der Beschwerden erheblich angestiegen.17 Die Fälle betreffen überwiegend die Türkei und Russland, aber auch Länder wie die Ukraine und Bosnien und Herzegowina. Der dritte regionale Gerichtshof für Menschenrechte, der Afrikanische, hat sich bisher nicht mit Fällen des Verschwindenlassens beschäftigt, obwohl das Phänomen auch dort vielerorts auftritt.18 Neben diesen Gerichtshöfen haben sich weitere Menschenrechtsorgane wie die Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina mit Fällen des Verschwinden-
13 Bericht zum Verschwindenlassen in verschiedenen afrikanischen Ländern siehe Amnesty International (1982), S. 40 ff.; Fälle in Zimbabwe und Marokko siehe Amnesty International (1994), S. 46 ff., 68 ff.; Bericht über verschwundene Gefangene in Guinea siehe Amnesty International – Guinea; Fälle verschwundener Personen in Namiba im Report der National Society for Human Rights. 14 Der Bericht „Nunca Más“ der Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas beschreibt detailliert den Ablauf des Verschwindenlassens in Argentinien und auch der drei Bände umfassende Bericht der chilenischen Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación rekonstruiert, was mit den Verschwundenen passierte. 15 Das erste Urteil vom IAGMR erging in der Sache Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988. 16 Das erste Urteil des EGMR erging in der Sache Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998. 17 Allein im Jahr 2012 hat der Gerichtshof über 10 Fälle zum Verschwindenlassen entschieden, darunter die beiden bedeutenden Entscheidungen El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012 und Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012. 18 Das erste und einzige Urteil des afrikanischen Menschengerichtshofes das in einer Hauptsache erging war im Fall The Tanganyika Law Society, The Legal and Human Rights Centre & Reverend Christopher Mtikila v. The United Republic of Tanzania, Urteil vom 14. Juni 2013.
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
lassens beschäftigt.19 Zwar war der UN-Menschenrechtsausschuss, welcher mehrmals im Rahmen des Individualbeschwerdeverfahrens Stellungnahmen zu Fällen des Verschwindenlassens abgab, auch mit Fällen aus Libyen20, Zaire21, Sri Lanka22 und Algerien23 konfrontiert, der Großteil der Fälle bezog sich jedoch auf lateinamerikanische Länder.24 Demzufolge beschränkt sich diese Untersuchung sowohl in der Darstellung und Aufarbeitung des Verschwindenlassens als auch in der Analyse der Gerichtsurteile ausschließlich auf Fälle, die sich in europäischen und lateinamerikanischen Ländern ereigneten.
C. Ablauf des Verschwindenlassens Ein wesentliches Merkmal des Verschwindenlassens ist die Geheimhaltung aller mit dieser Tat zusammenhängenden Umstände. Die Staaten geben sich größte Mühe, ihr Handeln, beispielsweise durch die Vernichtung, Verfälschung oder Verheimlichung von Unterlagen, weitestmöglich geheim zu halten.25 Oftmals werden Familienangehörige, Zeugen oder die zurückgekehrten Verschwundenen dermaßen unter Druck gesetzt, dass sie über die Taten schweigen. Die Geheimhaltung umfasst alle Abschnitte des Verschwindenlassens und reicht in vielen Fällen über den Tod der Opfer hinaus.26 Dennoch lässt sich anhand von Berichten der wieder aufgetauchten Verschwundenen sowie den Untersuchungen von 19 Matanovic ´ v. Serbien, Case No. CH/96/1, 11. Juli 1997; Grgic´ v. Serbien, Case No. CH/96/15, 5. August 1997; Palic´ v. Serbien, Case No. CH/99/3196, 9. Dezember 2000; Unkovic´ v. Serbien, Case No. CH/99/2150, 10. Oktober 2001; Pervan v. Serbien, Case No. CH/02/11196, 3. November 2004. 20 El-Megreisi v. Libyen, Communication No. 440/1990, 23. März 1994. 21 Tshishimbi v. Zaire, Communication No. 542/1993, 16. März 1995. 22 Jegatheeswara Sarma v. Sri Lanka, Communication No. 950/2000, 31. Juli 2003. 23 Bousroual v. Algerien, Communication No. 992/2001, 24. April 2006; Boucherf v. Algerien, Communication No. 1196/2003, 27. April 2006. 24 Bleier v. Uruguay, Communication No. R.7/30, 29. März 1982; Quinteros v. Uruguay, Communication No. 107/1981, 21. Juli 1983; Arévalo v. Kolumbien, Communication No. 181/1984, 3. November 1989; Mojica v. Dominikanische Republik, Communication No. 449/1991, 15. Juli 1994; Mónaco v. Argentinien, Communication No. 400/ 1990, 3. April 1995; Bautista de Arellana v. Kolumbien, Communication No. 563/1993, 27. Oktober 1995; Celis Laureano v. Peru, Communication No. 540/1993, 25. März 1996; Vicente u. a. v. Kolumbien, Communication No. 612/1995, 19. August 1997; Menanteau Aceituno und Carrasco Vásquez v. Chile, Communication 746/1997, 4. August 1999; Vargas Vargas v. Chile, Communication No. 718/1996, 24. September 1999; Coronel u. a. v. Kolumbien, Communication No. 778/1997, 24. Oktober 2002; Yurich v. Chile, Communication No. 1078/2002, 12. Dezember 2005. 25 Dies zeigt sich z. B. dadurch, dass Russland in den Verfahren vor dem EGMR regelmäßig nicht dazu bereit ist, die vom Gerichtshof eingeforderten Unterlagen beizubringen. 26 Fiechtner, S. 95 ff.
C. Ablauf des Verschwindenlassens
27
Wahrheitskommissionen und den Nachweisen in den geheimen Lagern der Regelfall des Schicksals eines „Verschwundenen“ rekonstruieren. Obwohl die näheren Umstände des Verschwindenlassens in den einzelnen Ländern oder sogar in den einzelnen Regionen eines Landes variieren, lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen. Danach wurden die Opfer nach ihrer Entführung (1.) in oftmals geheime Haftzentren gebracht (2.), dort gefoltert (3.) und schlussendlich exekutiert (4.).
I. Entführung Fast allen Fällen ist gemein, dass Oppositionelle, Regierungskritiker oder andere missliebige Bürger, welche aufgrund von politischen Aktivitäten, Denunziationen, Vertrauensbruch oder Informationen aus Verhören unter Folter ins Visier der Unterdrücker gerieten, entführt oder verhaftet wurden.27 Meist geschah dies im Zeitpunkt größter Wehrlosigkeit, z. B. nachts durch bewaffnete Personen in ihren Privatwohnungen.28 Im Vorfeld wurden die Opfer oftmals bereits zur Informationsgewinnung, zur Erleichterung der Ergreifung oder zur Vorbereitung auf die Verhöre von Geheimdiensten abgehört und beschattet.29 Schwerbewaffnete Gruppen, bestehend aus fünf oder sechs Personen, brachen gewaltsam in die Wohnungen der Opfer ein und bedrohten sie und anwesende Familienangehörige. Vielfach kam es zu Gewaltanwendungen gegen die anwesenden Personen und Sachbeschädigungen. Manchmal plünderten die Angreifer ganze Haushalte.30 Vielen Opfern wurde bei der Festnahme durch Augenbinden oder Tücher die Sicht genommen, wodurch ihre Hilflosigkeit noch verstärkt werden sollte.31 Manchmal trugen die Täter Uniformen, doch überwiegend traten sie in Zivilkleidung auf. Die Opfer wurden im Kofferraum oder auf Ladeflächen von Privatautos abtransportiert, an denen keine oder gefälschte Nummernschilder befestigt waren.32 Durch dieses Vorgehen wurde die Feststellung der Täter erschwert und eine unmittelbare staatliche Verwicklung verschleiert. Um habeas corpus-Anträge oder andere behördliche Anfragen durch die Angehörigen zusätzlich zu verzögern und sich dadurch einen Zeitvorsprung zu sichern, wurden viele der Verhaftungen kurz vor den Wochenenden durchgeführt.33 27
Einzelfälle in Amnesty International (1981), S. 33 ff. In Peru wurden beispielsweise 36 % der Opfer in ihren Wohnungen und 28 % auf offener Straße verhaftet, dazu Defensoría del Pueblo, S. 129, 220, 223. 29 Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 415, 424; Molina Theissen, S. 74. 30 Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 18; Human Rights Watch – 2002, S. 10 ff. 31 Amnesty International – 2007 S. 2 f.; Defensoría del Pueblo, S. 221. 32 Inter-Amerikanische Menschenrechtskommission, Chile 1976, Kap. III, 21 a; InterAmerikanische Menschenrechtskommission, Guatemala 1985, Kap. II Abs. 16. 33 Defensoría del Pueblo, S. 221 f.; Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 17 f. 28
28
2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen In einem Fall betreffend Tschetschenien fasst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verhaftung des Verschwundenen folgendermaßen zusammen: „On 27 May 2000 at around 6 a.m., when the applicant and his family were asleep at home, a group of men in camouflage uniforms arrived in a Ural military vehicle at 148 Klyuchevaya Street. (. . .) The men were armed with automatic firearms and some of them were masked. According to the applicant, they were federal servicemen, whilst the Government claimed that they were ,unidentified persons‘. The men entered the applicant’s house, having broken down the door. According to the applicant, the first man who entered the house was tall and had a bright complexion and blue eyes. (. . .) They threatened the applicant’s wife and daughters with firearms, swore at them and beat the applicant. They also searched the house. The men then dragged the applicant out to the courtyard, kicked him and beat him with rifle butts. There were about 30 masked men in the courtyard. (. . .) Magomed Umarov slept in an extension to the house located in the same courtyard. He rushed out into the courtyard, screaming ,Why are you beating him?‘ According to the applicant, the men seized him, beat him and threw him into the Ural truck in which they had arrived. The vehicle had no registration plates. The men then left. Magomed Umarov was not allowed to dress or to put shoes on. Later that day the men returned and collected his son’s passport and student identity card issued by the Grozny Oil Institute. The applicant has had no news of his son since then.“ 34
Wenn sich die Ordnungskräfte unumschränkter Ordnungsbefugnisse sicher waren, kam es zudem gehäuft zu Verhaftungen auf offener Straße oder am Arbeitsplatz der Betroffenen.35 Vielerorts wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um die Ergreifung gesuchter Personen zu vereinfachen oder ihnen nahestehender Personen habhaft zu werden.36 Manchmal wurden auch Familienangehörige einer gesuchten Person entführt, um über diese Informationen zu erhalten, das Erscheinen der eigentlich gesuchten Person zu erzwingen oder sie für ihr Verhalten zu bestrafen.37 Gegenüber den Angehörigen wurde seitens der Behörden anschließend sämtliche Verantwortung und Zuständigkeit geleugnet, obwohl nicht selten gegenteilige Indizien vorlagen oder Personen die Inhaftierung durch staatliche Akteure bezeugen konnten. Damit begann für viele Familien die jahrelange und oftmals erfolglose Suche nach ihren Verwandten. Auf Anfragen der Angehörigen des Verschwundenen nach dessen Aufenthaltsort oder auf einen habeas corpus-Antrag reagierten die Behörden mit Schweigen, gezielten Irreführungen oder sogar
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Ruslan Umarov v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 9 ff. Amnesty International – 1983, S. 24. 36 Human Rights Watch – 2001, S. 16 ff.; Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 416 f. 37 Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 428 f.; Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 173 f. 35
C. Ablauf des Verschwindenlassens
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Einschüchterungsversuchen und Erpressung.38 Dadurch wurde den Familien jegliche Möglichkeit genommen, Informationen über den Verbleib der Verhafteten zu erhalten. Wer zu sehr nachforschte, riskierte zudem, selber zu verschwinden.39
II. Die Haftzentren Nach der Verhaftung wurden die Personen in teilweise geheime Haftzentren gebracht, in denen sie sich in einer Sphäre völliger Rechtslosigkeit befanden. In Unkenntnis über den Grund ihrer Verhaftung und ihr künftiges Schicksal wurden sie dort manchmal monatelang festgehalten. Jeglicher Kontakt zu Angehörigen oder rechtlichem Beistand wurde versagt und sie wurden „incomunicado“, also isoliert von anderen Häftlingen und der Außenwelt, festgehalten.40 Nur eine geringe Zahl Gefangener erhielt ein ordentliches Gerichtsverfahren oder hatte die Möglichkeit, Haftprüfungsanträge zu stellen. Oftmals wurden sie ununterbrochen durch Augenbinden der Sicht beraubt, um ihre Verwirrung und Desorientierung noch zu steigern und so im Falle einer Freilassung ein Wiedererkennen der Orte ihrer Gefangenschaft sowie die Identifizierung der Täter zu erschweren.41 Zur weiteren Persönlichkeitsvernichtung der Gefangenen und um ein Bekanntwerden ihrer Namen zu verhindern, wurden ihnen Nummern zugeteilt, mit denen sie angesprochen wurden.42 Diese Methode diente auch zur Verschleierung der Spur der Verschwunden, ebenso wie häufige Verlegungen in unterschiedliche Haftanstalten.43 Die Lebensbedingungen in den Lagern waren menschenunwürdig. Unzureichende und schlechte Nahrung, unreines Wasser, mangelnde medizinische Versorgung sowie fehlende Hygiene verschlimmerten die Situation der Verschwundenen zusätzlich.44
38 Amnesty International – 2007 S. 4; Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 106 f.; Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 454 f.; Defensoría del Pueblo, S. 225 ff.; Inter-American Commission on Human Rights – Chile 1976, Kap. III, 21 a.; Istanbullu, S. 15 f.; Comisionado Nacional de los Derechos Humanos, S. 20 f. 39 So wurden beispielsweise drei Gründerinnen der „Madres de Plaza de Mayo“, Azucena Villaflor, Ester Careaga und María Eugenia Bianco, selber Opfer des Verschwindenlassens; https://webspace.utexas.edu/cmr485/www/mothers/history.html. 40 Comisión interamericana de derechos humanos – Guatemala 1985, Kap. II Rn. 19; Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 435 f.; Human Rights Watch – 2002, S. 15 f. 41 Defensoría del Pueblo, S. 142. 42 Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 421; Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 38. 43 Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 421. 44 Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 41.
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
Zum Teil wurden auch Schwangere und Kinder in den Haftzentren festgehalten, die unter den schlechten Haftbedingungen besonders litten. Schwangere mussten unter schlechten medizinischen Bedingungen ihre Kinder zur Welt bringen und wurden direkt nach der Geburt von ihnen getrennt. Während die Neugeborenen an Mitglieder des Militärs übergeben wurden, die keine Kinder bekommen konnten, wurden die Mütter oftmals ermordet.45 Bis heute kennen viele Kinder von Verschwundenen nicht die wahren Umstände ihrer Geburt oder Herkunft und wissen nicht, dass die Menschen, die sie als ihre Eltern kennen, nicht ihre leiblichen Eltern sind.46 „María Claudia García remained captive in the headquarters of SID – Division III. She was kept on the main floor of the building, separated from the other prisoners. In late October or early November, she was transferred to the Military Hospital, where she gave birth to a baby girl. After the birth, mother and daughter were returned to the SID98 and held in a room on the ground floor. They were separated from the rest of the prisoners, except for two other children, the Julien-Grisonas brothers, with whom they shared the abovementioned space. On December 22, 1976, the SID prisoners were evacuated; María Claudia García and her daughter were transported to another clandestine detention center known as the Valparaíso Base. María Claudia García’s newborn daughter was abducted from her and removed from the SID towards, approximately, the end of December 1976. . . . on January 14, 1977, María Claudia García’s daughter was placed in a basket and left on the doorstep of the family of Uruguayan police officer Ángel Tauriño, located in the Punta Carretas neighborhood in Montevideo, Uruguay, with a note indicating that the baby girl had been born on November 1, 1976, and that her mother could not care for her. Angel Tauriño and his wife, who had no children, picked up the basket and kept the baby girl. They registered her as their own daughter two years later and baptized her as María Macarena Tauriño Vivian.“ 47
III. Folterungen Fast immer wurden die Verschwundenen in den geheimen Haftzentren im Rahmen von Verhören gefoltert und misshandelt. Ziel war die Beschaffung von Auskünften über geplante Aktionen subversiver Gruppen oder ihrer Mitglieder, wobei die Aussagen unter Folter die wichtigste Informationsquelle des Militärs darstellten.48 Zum Teil wurden Folterungen und Misshandlungen zur Einschüchterung
45 Inter-Amerikanische Menschenrechtskommission, Argentinien 1980, Kapitel III, C 2 ff. Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 159. 46 Nach Schätzungen der Abuelas de la Plaza de Mayo sind über 400 Kinder in Unkenntnis über ihre wahre Identität, vgl. Abuelas de Plaza de Mayo, S. 6. 47 Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar, 2011, para. 85 ff., 106 f. 48 Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 748; Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 424.
C. Ablauf des Verschwindenlassens
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von Personen eingesetzt, welche wieder freigelassen werden sollten.49 Zahlreiche Zeugenaussagen dokumentieren die physischen und psychischen Qualen, die während der gesamten Zeit der Gefangenschaft anhielten. Die Folter gliederte sich dabei oft in zwei Abschnitte: Neue Häftling wurden in den ersten Tagen zunächst von den Wächtern der Lager gequält, um sie „weich zu machen“.50 Stellte sich dabei heraus, dass sie interessante Informationen liefern konnten, wurden sie von spezialisiertem Personal unter Anwendung weiterer Foltermethoden vernommen.51 Aber auch bei kleinsten Übertretungen der Verhaltensregeln in den Haftzentren oder aus reiner Willkür der Militärs folgten Folterungen und Misshandlungen.52 Die Gefangenen wurden durch Schläge, Verbrennungen, Verstümmelungen, Stromstöße und viele weitere Methoden bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert und mussten schwere Erniedrigungen und Drohungen gegen sich oder ihre Angehörigen erleiden.53 Die Folter ging oft einher mit einer völligen sensorischen Deprivation, also Entziehung von Licht, Schlaf, Essen oder zwischenmenschlichen Kontakten, wodurch die Persönlichkeit des Opfers zerstört werden sollte.54 Auch Vergewaltigungen und Scheinhinrichtungen gehörten zum Alltag in den Folterzentren.55 Viele Häftlinge befanden sich aufgrund dieser Folter in einem permanenten Zustand zwischen Leben und Tod. Folgen der Folter waren neben schweren teilweise irreversiblen körperlichen Verletzungen unter anderem auch Angst- und Wahnzustände sowie geistige Verwirrung.56 Nicht selten endete die Folter mit dem Tod der Opfer. Im Fall des Verschwindenlassens von Mehmet Ertak durch die Türkei wird die Zeugenaussage eines ehemaligen Häftlings über die Folterungen während seiner Haft folgendermaßen zusammengefasst: „The witness explained that during their time in custody at the police headquarters, the detainees had been systematically subjected to torture. For several days they were taken away to be tortured two or three times a day. They had been treated like ,animals‘ and had often had to relieve themselves where they lay. He said that Mehmet 49
Inter-Amerikanische Menschenrechtskommission, Argentinien 1980, Kapitel III, B
1 b. 50
Die Comisión para el Esclarecimiento spricht von „ablandamiento“ Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 472 f. 51 Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 472; Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 38. 52 Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 39. 53 Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 98; Defensoría del Pueblo, S. 144 ff.; siehe auch Zeugenberichte in Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 21 ff.; Human Rights Watch – 2002, S. 24, 28 und 31; Istanbullu, S. 20 ff., 45 f. 54 Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 486. 55 Siehe Zeugenberichte in Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 30 ff. 56 Defensoría del Pueblo, S. 147; Inter-Amerikanische Menschenrechtskommission, Argentinien 1980, Kapitel III, B 3.
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen Ertak had also been subjected to such treatment. He had been taken away once a day for about fifteen minutes. On one occasion the witness and Mehmet Ertak had been taken away together, with two or three others, to the ,torture room‘. The witness explained that he had been able to see through his blindfold how they were being tortured. They had been stripped and hung up; some of them had received electric shocks. They had been severely beaten and sprayed with cold water. On that particular day the witness had been hung up for about an hour; when he had left the room, Mehmet Ertak was still hanging there. He had been brought back to the cell about ten hours later. The witness stated: When Mehmet Ertak was brought back to the cell he was unable to speak; he was dead – that is to say, he had become stiff. I am 99 % certain that he was dead. Two or three minutes later they dragged him out by the legs. One of his shoes was left behind in the cell. We never saw him again.“ 57
IV. Exekution Für die meisten Opfer endete das Verschwindenlassen mit dem Tod. Nur eine geringe Anzahl an Gefangenen wurde nach kurzer oder auch monatelanger Haft ohne weitere Begründung wieder freigelassen. Manchmal wurden sie vor ihrer Freilassung gezwungen, schriftlich zu versichern, dass sie nicht gefoltert wurden oder dass sie das Land verlassen würden.58 Weitaus häufiger wurden sie jedoch ermordet, was sich anhand zahlreicher Exhumierungen und Zeugenaussagen nachweisen lässt. Bereits in Folge von Folter und den Zuständen in den Haftzentren starben viele Gefangene; andere wurden durch Einzel- und Massenmorde hingerichtet.59 In Gruppen wurden die Gefangenen erschossen und in Massengräbern auf dem Land verscharrt. Andere wurden betäubt und über dem Meer aus Flugzeugen geworfen oder in Flüssen versenkt.60 Einige der Opfer wurden nach ihrer Ermordung verbrannt sodass eine Identifizierung unmöglich ist und ihr Verbleib niemals endgültig geklärt werden kann.61 Teilweise wurden die Exekutionen bewusst verschleiert, indem man vortäuschte, die Personen wären in einer bewaffneten Auseinandersetzung oder bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Dafür erhielten sie vor ihrer Hinrichtung sogar eine Sonderbehandlung mit besserem Essen und ohne Misshandlungen, um die Anzeichen ihrer Gefangenschaft zu verdecken.62 Zudem wurden die Taten nicht nur durch die einge57
Ertak v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 50. Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 471. 59 Human Rights Watch (2001), S. 31 ff.; Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 100; Hamburger Institut für Sozialforschung, S.123. 60 Amnesty International (2007), S. 3; Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 423; Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 123 ff., 128 f., 130 f.; Comisionado Nacional de los Derechos Humanos, S. 21. 61 In einigen Gefangenenlagern wurden Verbrennungsöfen installiert, um die Überreste der Ermordeten zu beseitigen, Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 83; Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 129. 62 Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 104 f.; Istanbullu, S. 41 f., 99. 58
D. Varianten
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schränkte Pressefreiheit, sondern auch durch gezielte Falschinformationen gegenüber der Öffentlichkeit verschleiert.63 Aufgrund dieser Verschleierungstaktiken sind viele Ermordete bis heute nicht gefunden worden, sodass ihre Familien immer noch im Unklaren darüber sind, was mit ihnen geschehen ist.
V. Zwischenergebnis Trotz der zum Teil großen Unterschiede in der Ausführung ist allen Fällen des Verschwindenlassens gemein, dass es zu einer Vielzahl von Rechtsverletzungen kommt. Diese richten sich zunächst gegen den Verschwundenen selbst, um Informationen über weitere Vorgänge oder Personen zu erhalten oder ihn für seine subversiven Bestrebungen zu bestrafen. Aufgrund der Verschleierung der Taten lassen sich, abgesehen von der Verhaftung, viele Handlungen im konkreten Einzelfall nicht nachweisen, sondern können lediglich vermutet werden. Die dennoch zahlreichen Berichte und Untersuchungen von im Detail rekonstruierbaren, einander ähnelnden Fällen deuten jedoch mit einer hohen Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass auch in anderen Fällen das Verschwindenlassen einen vergleichbaren Verlauf genommen hat. Durch die Verheimlichung des Verbleibs der verschwundenen Personen und den erschwerten Zugang zu juristischen Schutzrechten richtet sich das Handeln auch mittelbar gegen die Angehörigen des Verschwundenen. Zusätzlich sind sie durch die Gewalttaten und Eigentumsdelikte im Rahmen der Ergreifung der gesuchten Person sowie durch unmittelbar gegen sie ausgesprochene Bedrohungen vom Verschwindenlassen betroffen.
D. Varianten Das Verschwindenlassen tritt in zwei Varianten auf: als ausgedehnte und systematische Unterdrückungsmethode, aber auch vereinzelt ohne systematischen Zusammenhang. Diese Unterscheidung zwischen einer generellen Praxis des Verschwindenlassens und Einzelfällen findet sich auch in der Rechtsprechung der internationalen Menschenrechtsgerichtshöfe, wobei das systematische Verschwindenlassen mit Beweiserleichterungen für den Antragssteller verbunden ist.64 Das massenhafte systematische Verschwindenlassen war in den 1980er Jahren in Lateinamerika sehr weit verbreitet und durch eine staatliche Politik der Unterdrückung politischer Ideen und hohe Fallzahlen gekennzeichnet. Diese Regie63
Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 753. Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 169; Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 124 ff. 64
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
rungspraxis, die in vielen Ländern dem Kampf gegen die Subversion sowie dem Schutz nationaler Sicherheit dienen sollte, führte zur flächendeckenden und präzise geplanten Anwendung des Verschwindenlassens.65 Zur Durchführung dieser Regierungspolitik wurden neue Repressionsapparate begründet oder bestehende ausgebaut, welche eine zentralisierte Organisation, schnelle Reaktionsmöglichkeiten und flächendeckende Einsätze ermöglichten. Diese eingerichteten Systeme erleichterten die Koordinierung aller für das Verschwindenlassen notwendigen Handlungen.66 Die Politik des Verschwindenlassens richtete sich nicht nur gegen einzelne Personen, sondern gegen ganze Bevölkerungsgruppen, die nach der Doktrin der nationalen Sicherheit als Terroristen oder innere Feinde angesehen wurden.67 Die Systematik dieser Praxis zeigt sich auch am massenhaften Auftreten des Verschwindenlassens in einer homogenen Bevölkerungsgruppe dieser Länder. Daneben kommt es auch zum isolierten Auftreten von Verschwindenlassen ohne ideologischen Gesamtzusammenhang. Diese Form des Verschwindenlassens zeichnet sich dadurch aus, dass sie weniger koordiniert ist und mit deutlich geringeren Fallzahlen verbunden ist. In einigen Ländern bedient man sich der Methode des Verschwindenlassens, um sich sozial unerwünschter Personen, zum Beispiel Straßenkinder, Prostituierte oder Homosexuelle, zu entledigen. Sie wird auch als Racheakt eingesetzt.68 In Mexiko kam es auch im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Drogenhandel zu vereinzelten Fällen von Verschwindenlassen durch von Militär und Polizei geführte Banden.69 Teilweise verschwanden auch Zeugen in den Prozessen gegen Angehörige einer Militärjunta oder der Polizei.70 Zudem verschwinden in einigen Ländern vereinzelt regierungskritische Journalisten.71 Internationales Aufsehen erregte dabei insbesondere das Verschwinden des ukrainischen Journalisten Georgi Gongadze, der im Jahr 2000 von Polizisten entführt wurde und dessen enthauptete Leiche einige Monate später
65 Amnesty International (1981), S. 17; Comisión de la Verdad y Reconciliación, Band VI Kapitel 1, S. 79; Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 412; Defensoría del Pueblo, S. 62; Molina Theissen, S. 75 ff. 66 Amnesty International (1982), S. 104; Amnesty International (1994), S. 88. 67 Der argentinische General Videla erklärte, dass ein Terrorist „nicht einfach jemand mit einem Gewehr oder einer Bombe ist, sondern auch jemand, der Gedankengut verbreitet, das sich gegen die westliche und christliche Zivilisation richtet“, weshalb viele Opfer Regierungskritiker, Studenten, Gewerkschaftler und Oppositionelle waren. 68 Amnesty International (1993), S. 102 f., 118 ff. 69 Human Rights Watch (1999), Kapitel VII. 70 In 2006 verschwand Julio López nach seiner Aussage gegen hochrangige Sicherheitskräfte während der Militärdiktatur in Argentinien, vgl. Schweimler, BBC News vom 19.10.2006. 71 Das Committee to Protect Journalist führt in einem Special Report für das Jahr 2010 4 verschwundene Journalisten allein in Mexico und darüber hinaus seit 1994 weitere 28 Fälle aus aller Welt auf.
E. Handelnde
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auftauchte.72 Mit der Tat wurden ein ehemaliger Innenminister und der damalige Präsident der Ukraine in Verbindung gebracht.73 Sowohl der Variante des systematischen Verschwindenlassens als auch den Einzelfällen ist gemein, dass der Staat in der Regel mittel- oder unmittelbar in die Begehung dieser Verbrechen verwickelt ist. Nur in den seltensten Fällen sind die Täter nicht im staatlichen Umfeld zu finden. Beide Varianten werden somit auch von den Definitionen des Verschwindenlassens erfasst.
E. Handelnde Die Geheimhaltung und Verschleierung des Verschwindenlassens erschwert die Feststellung der Täter, allerdings sind in nahezu allen Fällen staatliche Stellen an der Begehung beteiligt. 80 % der in Guatemala zwischen 1962 und 1996 begangenen Fälle erfolgten durch das Militär und weitere 8 % durch andere Sicherheitskräfte wie beispielsweise die nationale Polizei.74 Ein vergleichbares Bild ergibt sich in Peru, wo Militär und nationale Polizei für 85 % der Fälle von Verschwindenlassen verantwortlich gemacht werden.75 In einigen Ländern wurde eigens ein neuer Geheimdienst zur systematischen Durchführung des Verschwindenlassens begründet. In Brasilien entstand der Servicio de Inteligencia Nacional (SIN), der für die Sammlung von Informationen gegen politische Gegner zuständig war und sich aus Polizei- und Militärpersonal zusammensetzte.76 In Chile unterlag die Durchführung und Planung des Verschwindenlassens im Wesentlichen der Dirección Inteligencia Nacional (DINA), welche unmittelbar nach der Machtübernahme des Militärs gegründet wurde und der Militärjunta direkt unterstand.77 Die Praxis des Verschwindenlassens war zentralisiert und von den höchsten Militärs gesteuert, wodurch Befehlsketten von hohen Funktionären, die die Taten anordneten, bis hin zu den Ausführenden der Befehle entstanden.78 Zwecks Geheimhaltung einer unmittelbaren staatlichen Beteiligung am Verschwindenlassen kam es vielerorts zur Gründung von „Todesschwadronen“. Diese setzten sich zumeist aus Mitgliedern der Polizei, des Militärs oder des Geheimdienstes zusammen, die in Zivilkleidung auftraten und auf Befehl ihrer Vorgesetzten Menschen verschwinden ließen. Dadurch sollte der Eindruck entstehen, dass autonome Gruppierungen, die sich der staatlichen Kontrolle entzögen, für die Taten verantwortlich seien.79 Manchmal handelte es sich bei den „Todes72 73 74 75 76 77 78 79
Gongadze v. Ukraine, Urteil vom 8. November 2005. Frankfurter Rundschau vom 15. September 2010; BBC News vom 21. Juni 2004. Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 411. Defensoría del Pueblo, S. 140. Amnesty International (1982), S. 107 f.; Molina Theissen, S. 69. Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 720 f. Amnesty International (1994), S. 88; Molina Theissen, S. 73. Amnesty International (2003), S. 58 ff.
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
schwadronen“ auch um kriminelle Banden oder Privatarmeen, die staatlich geduldet waren.80 In einigen Ländern wurden auch zahlreiche Taten durch paramilitärische Gruppen begangen.81 Diese operierten meist unter Duldung oder Tolerierung des Staates oder wurden anfangs sogar staatlich gefördert. Vereinzelt gehörten Polizisten oder Soldaten den paramilitärischen Gruppen an, aber offiziell stritten die meisten Regierungen sämtliche Verbindungen zu ihnen ab.82 Phasen, die durch Übergriffe paramilitärischer Gruppen gekennzeichnet waren, zeigten auch, dass in ihnen von den klassischen Opfergruppen, z. B. Oppositionelle, Gewerkschafter oder Regierungskritiker, abgewichen wurde; zunehmend wurden Bauern verschwinden gelassen mit dem Ziel, sich an ihren Ländereien zu bereichern.83
F. Ziele und Auswirkungen der Taten Durch die Umgehung eines rechtlichen Verfahrens ermöglicht das Verschwindenlassen den Verantwortlichen, ihre Ziele auf einfachere Weise zu erreichen. Die Leichen werden beseitigt und staatliche Stellen streiten die Festnahme der besagten Personen ab, sodass die Regierungen weder von den Angehörigen noch von anderen Staaten für das Schicksal der Verschwundenen verantwortlich gemacht werden können.84 Ohne Leiche lässt sich das Vorliegen einer Straftat nur schwer nachweisen und auch die Ermittlung der verletzten Rechte ist wesentlich erschwert. Zudem beeinträchtigt die Geheimhaltung dieses Verbrechens eine internationale Ächtung des praktizierenden Staates und schützt ihn vor Handelsboykotten oder anderen Zwangsmitteln. Das Verschwindenlassen hat im nationalen Bereich Auswirkungen auf drei Gruppen: unmittelbar auf die Verschwundenen (1.), mittelbar auf ihre Angehörigen (2.) und die gesamte Bevölkerung (3.). Im Fall La Cantuta gegen Peru, in dem Studenten und ein Universitätsprofessor in der Universität verhaftet wurden und anschließend verschwanden, ging Richter Cançado Trindade in einer Separate Opinion so weit, dass er die Universität an sich verletzt sah.85
80
Amnesty International (1994), S. 115. In Guatemala werden der Patrullas de Autodefensa Civil, einem paramiltärischem Verband, 12 % der Fälle von Verschwindenlassen angelastet, vgl. Comisión para el Esclarecimiento Histórico, Band 2, S. 411. 82 Amnesty International (1982), S. 32 f.; United Nations Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances – Kolumbien 2005, Abs. 56. 83 United Nations Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances – Kolumbien 2005, Abs. 55 f. 84 Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 746; Amnesty International (1993), S. 41; Lüthke, ZRP 1983, S. 89. 85 Separate Opinion of Judge A. A. Cançado Trindade in La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 36 ff. 81
F. Ziele und Auswirkungen der Taten
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I. Auswirkungen für den Verschwundenen Der Verschwundene gerät aufgrund fehlender Benachrichtigung seiner Angehöriger über seinen Verbleib in eine Situation völliger Rechtslosigkeit, da er dem Schutz durch Gerichte oder öffentliche Kontrollen gänzlich entzogen wird. Diese Schutzlosigkeit zeigt sich auch in der Behandlung der Gefangenen, die oftmals physisch und psychisch misshandelt werden.86 Die Folter, soweit sie nicht sogar den Tod des Opfers zur Folge hat, verursacht oftmals schwerwiegende irreparable körperliche Schäden und führt zudem zur psychischen Zerstörung der Personen. Ein normales Leben ist den Opfern nach der Gefangenschaft kaum noch möglich. Durch diese Behandlung soll das Opfer bestraft oder vernichtet werden. Ganze Bevölkerungsgruppen, die als „Andersdenkende“ identifiziert werden, sollen so ausgelöscht werden. Posthum werden die Opfer als „Terroristen“ oder „Staatsfeinde“ denunziert, obwohl nur ein Bruchteil der Gefangenen mit terroristischen Akten in Verbindung gebracht werden kann.87
II. Auswirkungen für die Angehörigen Das Verschwindenlassen richtet sich jedoch nicht nur gegen den Verschwundenen, sondern gleichermaßen gegen seine Familie. Die große Ungewissheit, die durch das spurlose Verschwinden erzeugt wird, betrifft auch sie unmittelbar. Viele Angehörige empfinden das Verschwindenlassen als niederträchtigste Form staatlicher Repression, da ihnen der Trauerprozess und die Anerkennung eines endgültigen Verlustes eines geliebten Menschen genommen wird. Obwohl viele der Verschwundenen unmittelbar nach ihrer Verhaftung getötet werden, leben ihre Familien über mehrere Jahre in extremen Angst- und Stresssituationen zwischen Hoffnung und Verzweiflung.88 Viele quälen sich mit Gedanken an mögliche Misshandlungen, die dem Verschwundenen zugefügt werden könnten oder glauben ihn in einer Menschenmenge wiederzuerkennen.89 Dies führt auch bei den Familienangehörigen zu einer latenten Form seelischer Folter, die über Jahre und Jahrzehnte andauern kann. Depressionen, Schlaflosigkeit, Angstzustände und Schuldgefühle sind die Folge.90 Durch die Unklarheit über die Geschehnisse wird bei den Angehörigen eine Unsicherheit und ein Gefühl der Schuld erzeugt, das über viele Jahre anhalten kann. Eine Verarbeitung des Verlustes und ein damit
86
Rudolf, S. 56. Fiechtner, S. 119. 88 Aussagen von Angehörigen über diesen Zustand in Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, S. 1141 ff.; Defensoría del Pueblo, S. 239 f. 89 Molina Theissen, S. 110 f. 90 Zu den psychischen Folgen des Verschwindenlassens für die Angehörigen siehe Amnesty International (1982), S. 117 ff. 87
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
verbundener Abschluss ist, anders als bei einer sofortigen Tötung, nicht möglich.91 Das Verschwinden von Juan Humberto Sánchez v. Honduras hatte schwere Auswirkungen auf seine gesamte Familie. Seine Mutter erlitt aufgrund seines Verschwindens einen Schock und war einer derart hohen psychischen Belastung ausgesetzt, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Der Stiefvater von Juan Humberto Sánchez entwickelte eine Psychose, Paranoia und Gedächtnisverlust und war zwei Jahre nicht arbeitsfähig, weshalb die Kinder die Schule verlassen mussten, um den Eltern auszuhelfen. Die Familie musste kurz nach dem Verschwinden umziehen, da sie bedroht wurden und ihnen von den Nachbarn die Wasserversorgung abgeschnitten wurde.92 Selbst wenn die Leiche eines Verschwundenen gefunden wurde, war es den Familien nicht immer möglich diese zu beerdigen. Juan Humberto Sánchez wurde von den Behörden unverzüglich nach einer Autopsie vor Ort begraben. Die Unmöglichkeit, ihren Sohn christlich bestatten zu können, führte bei seiner Mutter auch lange nach seinem Verschwinden noch zu posttraumatischem Stress.93 Im Fall La Cantuta v. Peru, welcher das Verschwindenlassen von neun Studenten und einem Professor der La Cantuta-Universität in Lima behandelt, wird die Zeugenaussage der Schwester eines Opfers über die Auswirkungen der Tat auf sie und ihre Familie folgendermaßen zusammengefasst: „The damage was caused not only by the disappearance and death of her brother, but also by all the after-effects caused to her family and her personal life. She [had] to abandon [her] studies at the university. Really [. . .] it was very hard to go to the university without feeling emotionally bad because [her] brother was not there, [his] university mates were not there either. It took [h]er over ten years to make up her mind to resume her studies. [S]he felt that [. . .] any personal progress entailed a betrayal of [her] brother, since he was not there any more and he could not finished any of the things he had been in search of.“ „Besides, [her] younger sisters [. . .] are still suffering from the same after-effects [than her]: anxiety, depression, the same emotional instability, they are distrustful persons[. She] pity [her] parents, who are so sad for her brother’s death [. . .] they [will] always talk about a time before and after said death. Then, [. . .] [they] clearly recognize how [their] life was before July 18, 1992 and what it has become [. . .] after such event [. . .].“ „She had to abandon her studies at the University as she devoted herself to seek justice. It is hard for her to continue with an ordinary life and has no personal project; she cannot take the risk of having a child under the present circumstances.“ 94
91
Molina Theissen, S. 112 f. Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Urteil vom 7. Juni 2003, Zeugenaussage von María Dominga Sánchez, Abs. 44a. 93 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Urteil vom 7. Juni 2003, Expertenaussage von Deborah S. Munczek, Abs. 44i. 94 La Cantuta v. Peru, Urteil vom 29. November 2006, Zeugenaussage von Gisela Ortiz-Pérez, Abs. 61a. 92
F. Ziele und Auswirkungen der Taten
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Es fällt den Angehörigen schwerer, einen Trauerprozess zu durchlaufen und zu einem Abschluss zu bringen. Ohne Leichnam ist es auch nicht möglich, durch religiöse Rituale Abschied von der verlorenen Person zu nehmen. Führen sie dennoch ein Zeremoniell durch, fühlen sich viele schuldig, weil sie den Tod des Verschwundenen einfach akzeptiert haben. Zudem fehlt ein Ort der Trauer, wie beispielsweise eine Begräbnisstätte, der für den Verarbeitungsprozess von Bedeutung ist.95 Nicht selten müssen die Angehörigen der Verschwundenen auch um ihre eigene Sicherheit fürchten, insbesondere wenn sie Nachforschungen oder juristische Anstrengungen betreiben. Ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber staatlichen Stellen breitet sich aus und das Vertrauen in das Justizwesen wird nachhaltig beschädigt.96 In der Mehrzahl der Fälle verschwinden Männer, die in der Regel die alleinigen oder Hauptverdiener der Familie darstellen, wodurch die Familien nicht selten in finanzielle Bedrängnis geraten.97 Die Unklarheit über den Verbleib der Verschwundenen führt auch zu juristischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten innerhalb einer Familie. Solange eine verschwundene Person nicht offiziell für tot erklärt wurde, können Eigentums- und Erbschaftsfragen nicht endgültig geklärt werden. Zudem werden Hinterbliebenenrenten oft nicht ausgezahlt, wodurch viele Familien über Jahre hinweg in finanzielle Not geraten.98
III. Auswirkungen für die Bevölkerung Darüber hinaus wirkt sich die aufgrund des massenhaften Verschwindenlassens von Personen erzeugte Ungewissheit auch auf die Gesellschaft insgesamt aus. In der Bevölkerung wird ein Klima allgemeiner Unsicherheit und Einschüchterung erzeugt. Weite Teile der Bevölkerung werden eingeschüchtert und oppositionelle Bewegungen eingedämmt oder sogar gänzlich zerschlagen. Sympathisanten des Regimes oder auch die internationale Gemeinschaft können sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass nicht die Regierung für das Verschwinden verantwortlich ist.99 Zudem wird eine juristische Aufarbeitung der Taten verhindert und auch eine Kontrolle durch die Zivilgesellschaft, beispielsweise durch freie Medien, erschwert.100 95 Case of the 19 Merchants v. Colombia, Preliminary Objections, Urteil vom 12. Juni 2002, S. 33 f. 96 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, S. 26. 97 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.22. 98 Amnesty International (1994), S. 85; Defensoría del Pueblo, S. 241 f. 99 Scovazzi/Citroni, S. 8. 100 Kleinman, International Law and Politics 1987, S. 1039.
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
Da weite Teile der Bevölkerung aus Angst schweigen und andere in die geheimen Strukturen des Repressionsapparates eingebunden sind, kommt es zu einer zunehmenden Entfremdung innerhalb der Bevölkerung, die nach Beendigung des Unrechtsregimes nur langsam wieder abgebaut werden kann.101 Die dargestellten Auswirkungen auf die Opfergruppen werden bereits durch einen einzelnen Fall des Verschwindenlassens erzeugt, aber sie intensivieren sich durch die massive und systematische Anwendung dieser Repressionsmethode.102
G. Historische Hintergründe Dem Verschwindenlassen liegen in den verschiedenen Ländern und Regionen der Welt unterschiedliche komplexe Ursachen zugrunde.
I. Lateinamerika Von der Weltöffentlichkeit wurde das Verschwindenlassen erstmals durch die Geschehnisse der 1960er Jahre in Lateinamerika als eigenständige Unterdrückungsmethode wahrgenommen. In den 1960er Jahren verschärften sich in Lateinamerika die sozialen und politischen Konflikte. Besonders heftig wurde dabei über Landreformen gestritten, da in fast allen lateinamerikanischen Ländern die Mehrheit des Landes im Besitz weniger Großgrundbesitzer war, wohingegen die Masse der Bevölkerung kein oder nur wenig Land besaß. Diese ungleiche Verteilung des Wohlstandes führte in vielen Ländern Lateinamerikas zur Entstehung von Guerillagruppen, die sich, oftmals von der Kubanischen Revolution inspiriert, als revolutionäre Bewegung von unten verstanden. Der „Kampf gegen die Subversiven“ diente zwischen 1964 und 1976 als Rechtfertigungsgrund zur Ablösung einer Vielzahl von Regierungen durch autoritäre Systeme, die sich in ihren Repressionsmaßnahmen ähnelten: Auf Grundlage der „Doctrina de la Seguridad Nacional“ (Doktrin der nationalen Sicherheit) und häufig unter direkter oder indirekter Unterstützung der USA richtete die Armee sich statt gegen äußere Feinde gegen angebliche landesinnere Gefahren für die legale Ordnung, was zur Verfolgung nicht nur der Guerilla, sondern auch ziviler Oppositioneller, Andersdenkender oder sogar gänzlich Unbeteiligter führte.103 Dabei bedienten sie sich massiv der Methode des Verschwindenlassens von Personen. Von 1966 bis 1986 wurden etwa 90.000 Menschen Opfer des Verschwindenlassens in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Neben den bekanntesten Beispielen Argentinien und Chile war das Verschwindenlassen insbesondere auch in Guatemala, Uru101
Molina Theissen, S. 113 f. Grammer, S. 43. 103 Lázara, S. 42 ff.; Straßner, S. 21 f.; Hummer/Mayr-Singer, S. 661; Vermeulen, S. 5 f. 102
G. Historische Hintergründe
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guay, Brasilien, Peru, Bolivien, Haiti, Mexiko, Honduras, El Salvador und Kolumbien gängige Praxis.104
II. Europa Auch in einigen Ländern Europas ist das Verschwindenlassen eine verbreitete Methode zur Unterdrückung. In Zypern verschwanden rund 500 türkische Zyprer während der Unruhen 1963/64 und bei der türkischen Invasion in Nordzypern in 1974 verschwanden ca. 1.500 griechische Zyprer. In der Türkei sind im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen mit kurdischen Separatisten vermehrt Personen verschwunden, die im Verdacht standen, die PKK zu unterstützen. Die Mehrzahl der Fälle vor dem EGMR richtet sich jedoch gegen Russland im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkonflikt.105 Der Ombudsmann für Tschetschenien schätzt, dass bis 2007 fast 3.000 Personen durch Russland verschwinden gelassen wurden.106 Obwohl die russische Regierung tschetschenische Rebellengruppen dafür verantwortlich macht, gibt es Beweise dafür, dass die überwiegende Zahl der Fälle von Bundes- oder Pro-Russischen Militärtruppen oder Geheimagenten verübt wird. Oft sind Personen betroffen, die im Verdacht stehen, separatistisch aktiv zu sein.107 Auch in Weißrussland und in der Ukraine wurden in den vergangenen Jahren Fälle verschwundener Personen verzeichnet.108
III. Das Verschwindenlassen in Peru Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war in Peru durch verschiedene soziale und ökonomische Krisen gekennzeichnet. Nach einer linksgerichteten Militärregierung unter Führung des Generals Juan Velasco Alvarado trat 1979 eine neue Verfassung in Kraft und 1980 wurden allgemeine Wahlen durchgeführt.109 In den darauffolgenden 20 Jahren regierten drei demokratisch legitimierte Präsidenten das Land: Fernando Belaúnde Terry (1980–1985), Alan García Pérez (1985– 1990) und Alberto Fujimori (1990–2000).110 Die Regierungszeit aller drei Präsidenten war vom Kampf gegen die terroristische maoistische Gruppierung Sen104 Scovazzi/Citroni, S. 2; vergleiche auch die hier besprochenen Urteile, die Fälle der Länder Kolumbien, Chile, Peru, Guatemala, Equador, Venezuela, El Salvador, Argentinien, Honduras, Paraguay, Brasilien, Mexiko, Panama und Bolivien umfassen. 105 Über die Ursachen des Tschetschenienkonfliktes und begangene Menschenrechtsverletzungen siehe Abdel-Monem, Vermont Law Review (2003–2004) 28, S. 239. 106 Andere Organisationen gehen von Zahlen zwischen 3.000 und 5.000 Verschwundenen aus, Amnesty International (2009), S. 13. 107 Jötten, S. 25 f.; Barrett, Harvard Human Rights Journal, Vol. 22, 2009, S. 133. 108 Pourgourides, Abs. 14 ff.; Scovazzi/Citroni, S. 64. 109 Reisner, S. 48 f. 110 Sandoval, Essex Human Rights Review 5 (1), 2008, S. 1 f.
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
dero Luminoso geprägt. Geleitet durch ihren ideologischen Anführer Abimael Guzmán war ihr Ziel, durch den bewaffneten Kampf die Errichtung des Kommunismus in Peru durchzusetzen.111 Bereits unter Belaúnde und García war das Verschwindenlassen von Personen eine regelmäßige Praxis der Streitkräfte.112 Seinen Höhepunkt erreichte das Verschwindenlassen jedoch 1992 unter Fujimori. Mit einem Selbstputsch (sog. autogolpe) löste er den Kongress auf, brachte die Justiz unter seine Kontrolle und stärkte den Geheimdienst.113 Die 1993 verabschiedete neue Verfassung enthielt keinen so umfassenden Menschenrechtsschutz mehr wie die vorherige, dennoch sollten alle Rechte im Sinne der UN-Deklaration zum Schutze der Menschenrechte ausgelegt werden.114 Ein enger Vertrauter Fujimoris, Vladimiro Montesino, übernahm die Leitung des Geheimdienstes SIN. Diese Behörde gründete 1991 unter Beteiligung des Präsidenten die paramilitärische Gruppe Colina, die vorwiegend mit der Eliminierung sog. „subversiver Elemente“ betraut war. Sie zeichnen sich für einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, darunter auch die Fälle La Cantuta und Barrios Altos.115 Diese politischen und legislativen Änderungen gingen einher mit schwerwiegenden systematischen Menschenrechtsverletzungen. Die Jahre 1989 bis 1992 waren stark geprägt von widerrechtlichen Tötungen, Verschwindenlassen, Folter und Massakern. Einige von diesen, wie beispielsweise La Cantuta, Barrios Altos und Castro Castro Prison, wurden in der Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes aufgearbeitet.116 Noch bis ins Jahr 1996 finden sich regelmäßig Fälle des Verschwindenlassens in Peru.117 Sowohl die Sendero Luminoso als auch die staatlichen Akteure bedienten sich des Verschwindenlassens.118 Die 2001 eingesetzte Wahrheitskommission (CVR) untersuchte 4.417 Fälle des staatlichen Verschwindenlassens, wobei das Verschwinden von Personen jeweils in den Jahren 1982–1985 und 1988–1993 besonders häufig vorkam.119 Die mit Abstand meisten Fälle ereigneten sich in Ayacucho, einer der ärmsten Regionen Perus und einer Hochburg der Sendero Luminoso.120 Aus allen sozialen Schichten verschwanden Personen, insbesondere
111
Reisner, S. 51 f.; Sandoval, Essex Human Rights Review 5 (1), 2008, S. 3. Vélez Fernández, S. 77 ff. 113 Reisner, S. 53; Ambos, 1997, S. 42. 114 Sandoval, Essex Human Rights Review 5 (1), 2008, S. 3. 115 Ambos, ZIS 11/2009, S. 553; Burt, The International Journal of Transitional Justice, Vol. 3, 2009, S. 387. 116 Sandoval, Essex Human Rights Review 5 (1), 2008, S. 3 f. 117 Vélez Fernández, S. 80. 118 Die CVR stellt fest, dass die Sendero Luminoso für 54 % der berichteten Fälle des Verschwindenlassens und der außergerichtlichen Tötung verantwortlich waren, CVR Informe Final, 2003, Bd. I, S. 54. 119 CVR Informe Final, 2003, Bd. VI, S. 75. 120 CVR Informe Final, 2003, Bd. VI, S. 78. 112
G. Historische Hintergründe
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wenn sie mit dem Sendero Luminoso in Verbindung gebracht wurden.121 Am stärksten waren jedoch die ärmsten Gesellschaftsschichten wie indigene und Quechua sprechende Personen betroffen.122 Zehn Jahre nach dem Ende des Fujimori-Regimes geht die Regierung Perus von 15.731 verschwundenen Personen aus.123 Aufgrund internationalem Drucks und der Festnahme von Abimael Guzmán änderte Peru nach 1993 seine Menschenrechtspolitik und die Zahlen des Verschwindenlassens gingen stark zurück.124 Der Machtapparat nutzte dann jedoch andere Unterdrückungsmethoden wie beispielsweise willkürliche Verhaftungen, das Fehlen ordnungsgemäßer Verfahren sowie unmenschliche und erniedrigende Behandlung.125 Während der Zeit Fujimoris herrschte weitgehende Straflosigkeit für die begangenen Menschenrechtsverletzungen. Im Fall La Cantuta, bei dem neun Studenten und ihr Professor verschwanden, wurden neun Militäroffiziere nach langer Diskussion vor ein Militärgericht gestellt. Dafür wurde auf Initiative Fujimoris eigens ein Gesetz („Ley Cantuta“) zugunsten der Militärgerichtsbarkeit verabschiedet.126 Bereits nach neun Tagen sprach das Militärgericht ein Urteil und ordnete für die Armeeangehörigen Haftstrafen zwischen einem und 20 Jahren an.127 Die Entscheidung wurde dennoch als zu milde kritisiert. Den ranghohen Offizieren wurde fahrlässiges Verhalten zugutegehalten und die Strafen der rangniedrigeren Angeklagten aufgrund des „Handelns auf Befehl“ abgemildert. Die politischen Hintermänner der Tat blieben völlig unbehelligt.128 Am 14. Juni 1995 verabschiedete der Kongress das Gesetz 26.479 wonach allen militärischen, polizeilichen und zivilen Personen, die in Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus zwischen 1980 und dem Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes verwickelt waren, eine Generalamnestie erteilt wurde. Personen, die sich deshalb in Haft befanden, mussten unverzüglich entlassen werden.129 Kurze Zeit später wurde mit Gesetz 26.492 ein Auslegungsgesetz zum Amnestiegesetz verabschiedet, wonach die Generalamnestie von den Gerichten obligatorisch anzuwenden sei, selbst wenn bezüglich der Taten bisher
121
CVR Informe Final, 2003, Bd. VI, S. 101. CVR Informe Final, 2003, Bd. VI, S. 103; EPAF, La desaparición Forzada de Personas en el Perú, 2013, para.1. 123 OAS, AG/RES XLI-O/11, S. 30. 124 CVR Informe Final, 2003, Bd. VI, S. 80. 125 Sandoval, Essex Human Rights Review 5 (1), 2008, S. 4. 126 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (51) f.; Ambos (1997), S. 47. 127 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (54) f.; Ambos (1997), S. 47 f. 128 Ambos (1997), S. 48. 129 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (58) f.; Ambos (1997), S. 95. 122
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
keine Ermittlungen eingeleitet wurden.130 Als Folge wurden die verurteilten Armeeangehörigen im Fall La Cantuta freigelassen und weitere Verfahren, wie beispielsweise in Barrios Altos, eingestellt.131 Die Amnestien wurden auch nach dem Ende der Fujimori-Herrschaft nicht zurückgenommen.
H. Das Verschwindenlassen im internationalem Recht Das massenhafte Verschwindenlassens von Personen durch Militärdiktaturen in Lateinamerika ab den 1960er Jahren löste eine Diskussion über die Normierung dieses Phänomens im internationalen Recht aus. Auch wenn die einzelnen durch das Verschwindenlassen verletzten Rechte bereits geschützt waren,132 wurde die Gesamtheit des Verbrechens als deutlich schlimmer empfunden als dessen Einzelakte, weshalb eine eigenständige Norm als notwendig erachtet wurde.133 Die Erfassung des Verschwindenlassens als Straftatbestand und dessen Sanktionierung im internationalen Recht gestaltete sich aufgrund seiner Komplexität jedoch nicht einfach. Das führte nicht zuletzt dazu, dass die Vereinten Nationen erst dreißig Jahre nach ihrer erstmaligen Beschäftigung mit diesem Thema ein verbindliches Rechtsinstrument schufen: die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen. Erste normative Reaktionen auf das gehäufte Auftreten des Verschwindenlassens ergingen mit der Resolution 33/173 aus dem Jahr 1978 durch die UNGeneralversammlung. Darin drückte sie ihre tiefe Besorgnis über den Akt des Verschwindenlassens von Personen aus und forderte die verantwortlichen Machthaber dazu auf, schnelle und objektive Untersuchungen der Fälle vorzunehmen. Zusätzlich wurde die Menschenrechtskommission beauftragt, sich mit der Problematik des Verschwindenlassens von Menschen zu befassen und eine Empfehlung zum weiteren Umgang mit diesem Problem zu erarbeiten.134 1980 gründete die Menschenrechtskommission die UN-Arbeitsgruppe über erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden.135 Die Arbeitsgruppe wurde mit einem weiten Mandat ausgestattet, dessen Hauptaufgabe in der Herstellung eines Kommunikationsweges zwischen den Angehörigen der Opfer und den betreffenden Regierun130 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (61); Ambos (1997), S. 96. 131 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (60); Sandoval, Essex Human Rights Review 5 (1), 2008, S. 4. 132 Durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der 1976 in Kraft trat, wurden beispielsweise das Recht auf Leben (Art. 6), das Verbot der Folter (Art. 7) und das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren (Art. 14) geschützt. 133 Frey, S. 68. 134 UN-Resolution A/RES/33/173 vom 20. Dezember 1978. 135 United Nations, Commission on Human Rights, Resolution 20 (XXXVI) vom 29. Februar 1980.
H. Das Verschwindenlassen im internationalem Recht
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gen besteht.136 Neben der Bearbeitung konkreter Einzelfälle legt die Arbeitsgruppe einen jährlichen Bericht über ihre Arbeit zusammen mit Schlussfolgerungen und Empfehlungen vor.137 Trotz dieser ersten konkreten Schritte der Vereinten Nationen mehrten sich die Stimmen, die ein rechtsverbindliches Instrument gegen das Verschwindenlassen forderten. Zunächst kam es jedoch lediglich zu einer Erklärung für den Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen am 18. Dezember 1992 durch die UN-Generalversammlung.138 Unter anderem die Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen hat dafür gesorgt, dass die Erklärung effektive Regelungen zur Verhinderung, Untersuchung und Sanktionierung der Praxis des Verschwindenlassens enthält. Zentral ist dabei insbesondere die Verpflichtung in Art. 4 der Erklärung, wonach das Verschwindenlassen als strafbare Handlung ins inländische Recht übernommen werden soll und mit angemessenen Sanktionen zu belegen ist. Obgleich die Erklärung eine Errungenschaft für den Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen darstellt, handelt es sich bei ihr lediglich um eine rein moralische Verpflichtung ohne rechtliche Bindung für die Mitgliedsstaaten, weshalb nur wenige Staaten Schritte zur Umsetzung der vorgesehenen Standards einleiteten. Gleichwohl liegt ihre Bedeutung in der Demonstration internationaler Einigkeit, dass das Verschwindenlassen von Personen eine eigenständige strafrechtliche Handlung darstellt.139 Der nächste bedeutende normative Fortschritt stellt die von der Organisation Amerikanischer Staaten verabschiedete Inter-Amerikanische Konvention gegen das Verschwindenlassen dar,140 in welcher das Verschwindenlassen erstmalig völkerrechtlich verbindlich normiert wurde und die in ihrem sechsten Präambelparagraphen die systematische Begehung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit deklariert. Zudem hat es einen hohen symbolischen Wert, dass es gerade lateinamerikanische Länder waren, die diese Entwicklung vorantrieben.141 Auch die Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten in Artikel IV dazu, das Verbot des Verschwindenlassens in ihr nationales Recht zu übernehmen. Zudem beinhaltet es eine Reihe weiterer Verpflichtungen, die drauf gerichtet sind, zukünftige Taten zu verhindern sowie die strafrechtliche Verfolgung und die Aufklärung der Schicksale verschwundener Personen zu intensivieren.142 Deshalb stellt die Inter136 Rudolf, S. 64; überarbeitete Arbeitsmethode der Arbeitsgruppe über erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden vom 04. Dezember 2008. 137 Überarbeitete Arbeitsmethode der Arbeitsgruppe über erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden vom 04. Dezember 2008. 138 Brod/González, HRQ 1997, S. 372 ff. 139 Hummer/Mayr-Singer, S. 672. 140 Die Konvention ist abrufbar unter http://www.oas.org/juridico/english/treaties/a60.html. 141 Scovazzi/Citroni, S. 253. 142 Nowak – 2002, Rn. 47 f.
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2. Teil: Das Phänomen Verschwindenlassen
Amerikanische Konvention einen wichtigen Schritt zur Sanktionierung des Verschwindenlassens auf internationaler Ebene dar. Anders als die unverbindliche UN-Erklärung von 1992, die sehr effektive Methoden zum Schutz vor dem Verschwindenlassen festlegt, ist sie jedoch deutlich schwächer gestaltet.143 Durch die Verabschiedung des Statuts von Rom am 17. Juli 1998 und die damit verbundene Errichtung eines ständigen internationalen Strafgerichts zur Verfolgung und Bestrafung natürlicher Personen für besonders schwere Kernverbrechen wurde auch eine wichtige Norm gegen das Verschwindenlassen geschaffen.144 Das Römische Statut ist der erste völkerrechtliche Text auf universeller Ebene, der das Verschwindenlassen sanktioniert. Zudem wird es in Art. 7 Abs. 1 lit. (i) IStGH-Statut zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezählt, wenn die Tat im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen wird.145 Durch die erstmalige formelle Subsumption des Verschwindenlassens unter die Handlungsalternative des Verbrechens gegen die Menschlichkeit gelang ein wesentlicher Schritt zu seiner Sanktionierung auf internationaler Ebene. Täter des Verschwindenlassens können vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung gezogen werden. Zudem können Fälle, die das Ausmaß eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit haben, nach dem sog. Weltrechtsprinzip von jedem Staat der Welt verfolgt werden.146 Der jüngste Schritt zur Verhinderung der Straflosigkeit dieses Verbrechens auf internationaler Ebene stellt die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen von Personen dar.147 In der Konvention wird in Artikel 1 das Recht, dem Verschwindenlassen nicht ausgesetzt zu werden, auf universeller Ebene verbindlich normiert. Art. 24 Abs. 1 der Konvention erweitert den Opferkreis von den verschwundenen Personen selbst auf alle Personen, die unmittelbar durch diese Praxis einen Schaden erlitten haben. Zudem räumt die Konvention ihnen eine Reihe von Rechten ein, wie beispielsweise das Recht, die Wahrheit über die Umstände des Verschwindenlassens und dem Verbleib der verschwundenen Person zu erfahren, vgl. Art. 24 Abs. 2 der Konvention. Des Weiteren legt die Konvention fest, dass jeder Vertragsstaat geeignete Maßnahmen zur Auffindung verschwundener Personen ergreifen und in seiner nationalen Rechtsordnung sicherstellen soll, dass den Opfern eine angemessene Entschädigung eingeräumt wird, vgl. Art. 24 Absätze 3 bis 6.
143 144 145 146 147
htm.
Brody/González, HRQ 1997, S. 403. Frey, S. 67. Nowak – 2002, S. 28. Vgl. Ambos – 2008, § 3 Abs. 93–96. Verfügbar unter http://www2.ohchr.org/english/law/disappearance-convention.
H. Das Verschwindenlassen im internationalem Recht
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Die UN-Konvention legt den Vertragsstaaten eine Reihe von Verpflichtungen auf, um die Täter strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. So trifft die Staaten nach Artikel 4 die Pflicht, das Verschwindenlassen als eigenen Straftatbestand in ihren nationalen Rechtsordnungen zu verankern und gemäß Artikel 7 mit angemessenen Strafen zu belegen, die die außergewöhnliche Schwere der Tat berücksichtigen. Ebenso sollen lange Verjährungsfristen normiert werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass es sich um ein Dauerdelikt handelt, welches erst mit der Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen endet, vgl. Art. 8. Zusätzlich zu strafrechtlichen Konsequenzen setzt die Konvention eine Reihe präventiver Maßnahmen fest, die immer dann eingreifen sollen, wenn einer Person die Freiheit entzogen wird. Art. 17 Absatz 2 bestimmt beispielsweise, dass in den nationalen Gesetzen festgelegt werden soll, unter welchen Voraussetzungen der Freiheitsentzug angemessen ist, und dass die verhafteten Personen allein in offiziell anerkannten und überwachten Einrichtungen festgehalten werden dürfen. Zudem verlangt Absatz 3, dass alle Vertragsparteien aktuelle, präzise und vollständige Haftregister führen, in denen nicht nur die Namen der Häftlinge, sondern auch deren Gesundheitszustand und die Gründe für ihre Verhaftung aufgelistet werden. Teil II der Konvention regelt die Errichtung, Funktionsweise und das Mandat einer Beschwerdeinstanz, des Ausschusses über das Verschwindenlassen, dessen Hauptaufgabe die Überwachung der Einhaltung der Konvention ist. Dieser prüft gemäß Art. 29 der Konvention die von den Staaten abzugebenden Berichte über die Umsetzung der Verpflichtungen aus der Konvention und dient darüber hinaus nach Art. 30 der Konvention als Beschwerdeinstanz. Durch die Konvention gelang es der internationalen Gemeinschaft zum größten Teil, die bisher bestehenden Lücken im internationalen Menschenrechtsschutz zu schließen. Dennoch haben bisher lediglich 40 Staaten die am 23. Dezember 2010 in Kraft getretene Konvention ratifiziert und 92 Staaten unterzeichnet, sodass zur Erreichung eines universellen Schutzes gegen das Verschwindenlassen weitere Anstrengungen nötig sind.148
148 Stand: 13.09.2013, aktueller Stand unter http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails. aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-16&chapter=4&lang=en.
3. Teil
Regionale Menschenrechtssysteme Der Inter-Amerikanische und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit dem Phänomen des Verschwindenlassens auseinandergesetzt. Den Europäischen Gerichtshof haben dabei deutlich mehr Beschwerden erreicht, wohingegen sich sein inter-amerikanisches Pendant in der Regel intensiver mit den Fällen beschäftigt hat. Die in weiten Teilen unterschiedliche Herangehensweise an die Beschwerden sowie die oftmals voneinander abweichenden Ergebnisse der beiden Menschenrechtsgerichte lassen sich unter anderem auch mit ihrer unterschiedlichen Struktur erklären. Um ihre Entscheidungen vollends nachzuvollziehen ist es daher notwendig, die Funktionsweise der ihnen zugrunde liegenden Menschenrechtssysteme zu verstehen. Daher werden das Inter-Amerikanische (A.) und das europäische Menschenrechtssystem (B.) kurz dargestellt.
A. Das Inter-Amerikanische System Die Idee des Menschenrechtsschutzes in Lateinamerika geht zurück bis in das frühe 19. Jahrhundert. Erste Menschenrechte fanden sich beispielsweise im sog. Unions-, Allianz- und ewigen Föderationsvertrag zwischen den Republiken Kolumbien, Zentralamerika und den Vereinigten Mexikanischen Staaten von 1826.1 Grundstein für das gegenwärtige Inter-Amerikanische Menschenrechtsschutzsystem war die Gründung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) auf der Konferenz von Bogotá 1948, in dessen Charta sich auch einige wenige Bestimmungen zum Menschenrechtsschutz finden.2 Zur weiteren Konkretisierung wurde auf der Gründungskonferenz der OAS auch die Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen, in der verschiedene Menschenrechte benannt wurden, verabschiedet.3 Auch wenn es sich dabei um einen unverbindlichen Menschenrechtskatalog handelt, kommt der Deklaration auch eine rechtliche Bedeu1
Kokott, S. 3 f. Die wichtigste Bestimmung findet sich in Art. 3 lit. 1, nach dem die Grundrechte des Individuums ohne Unterschied der Rasse, Staatsangehörigkeit, des Glaubens und des Geschlechts geschützt werden, allerdings werden diese Rechte nicht näher definiert und auch keine speziellen Verpflichtungen für die Staaten festgehalten. 3 Ausführlicher zur Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen siehe Seifert, S. 43 ff. 2
A. Das Inter-Amerikanische System
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tung bei.4 Im Wesentlichen fußt das Inter-Amerikanische Menschenrechtssystem auf der 1978 in Kraft getretenen Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK),5 in der bürgerliche und politische Rechte verbindlich normiert wurden und die von 24 OAS-Mitgliedstaaten angenommen wurde.6 Die AMRK wurde der Europäischen Menschenrechtskonvention nachempfunden, sodass beide Abkommen vergleichbare Rechte und Durchsetzungsorgane normieren.7 Auf Grundlage der bis dahin gesammelten Erfahrungen im internationalen und regionalen Menschenrechtsbereich wurde mit der AMRK ein sehr durchdachtes und anspruchsvolles Menschenrechtsinstrument geschaffen.8 Zur Durchsetzung und Überwachung der garantierten Rechte wurden zwei Institutionen geschaffen: die Inter-Amerikanische Kommission (1) und der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (2).9
I. Inter-Amerikanische Kommission Die Inter-Amerikanische Menschenrechtskommission wurde 1959 durch Resolution VIII eingesetzt. Ein Statut für die Kommission folgte ein Jahr später, welches 1965 durch das Individualbeschwerdeverfahren erweitert wurde.10 Anders als beispielsweise der Europäischen Menschenrechtskommission fehlte ihr bis zum Inkrafttreten des Protokolls von Buenos Aires, eines Zusatzprotokolles zur OAS-Charta, im Jahre 1970 jegliche vertragliche Grundlage, womit die Gefahr der Abschaffung durch einen bloßen Konferenzbeschluss bestand.11 Auch in die Amerikanischen Menschenrechtskonvention wurde die Menschenrechtskommission aufgenommen sowie ihre Aufgaben und ihr Verfahren festgehalten.12 Die Inter-Amerikanische Kommission hat verschiedene Funktionen: Zum einen soll sie den Schutz und die Beachtung der Menschenrechte fördern. Zum anderen dient sie als Beratungsorgan der OAS.13 Im Rahmen dieser Tätigkeiten beobachtet die Kommission die Menschenrechtssituation in den Mitgliedsstaaten, 4 Vgl. Gutachten des IAGMR zur Auslegung der Deklaration, OC-10/89, vom 14. Juli 1989, Abs. 45 ff. 5 Der Vertragstext der Amerikanischen Menschenrechtskonvention ist verfügbar unter: http://www.cidh.oas.org/Basicos/English/Basic3.American%20Convention.htm. 6 Zum Stand der Ratifikation der Amerikanischen Menschenrechtskonvention siehe: http://www.cidh.org/Basicos/English/Basic4.Amer.Conv.Ratif.htm. 7 Frowein, Human Rights Law Journal (1980), S. 45; Buergenthal/Thürer, S. 308 f. 8 Siehe auch Shelton, Implementation Procedures, S. 238. 9 Zur Entstehungsgeschichte des Inter-Amerikanischen Systems siehe Rescia/Seitles, New York Law School Journal of Human Rights, 26/2000, S. 593–633. 10 Dazu ausführlich Kokott, S. 21 ff. 11 Kokott, S. 25; Seifert, S. 53. 12 Kapitel VII der Amerikanischen Menschenrechtskonvention. 13 Art. 1 Abs. 1 Statut der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte, Art. 106 OAS Charter.
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3. Teil: Regionale Menschenrechtssysteme
erstellt – oftmals auf Grundlage von Vor-Ort-Untersuchungen – Länderberichte, betreibt Öffentlichkeitsarbeit zur Sensibilisierung über die Menschenrechtssituation in den amerikanischen Ländern, organisiert Konferenzen und Begegnungen für Wissenschaftler und Politiker und unterhält Ausbildungsprogramme im Bereich Menschenrechte. Seit Einführung der Individualbeschwerde in 1965 haben die Kommission Tausende von Beschwerden erreicht, sodass sich ein wesentlicher Teil der Arbeit der Kommission auf diesen Bereich verlagert hat.14 Individuen, auch vertreten durch NGOs, können bei einer Verletzung ihrer Rechte aus der Amerikanischen Menschenrechtskonvention oder aus der Deklaration über die Rechte und Pflichten des Menschen durch einen Mitgliedsstaat eine Beschwerde an die Kommission richten. Individualbeschwerden sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich und der Beschwerdeführer hat auch die Möglichkeit, seine Identität vor dem betroffenen Staat geheim zu halten. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Beschwerde ist, neben der Einhaltung bestimmter Formalien15 nach Art. 46 Amerikanische Menschenrechtskonvention, die Erschöpfung des nationalen Rechtsweges. Davon kann nur in Ausnahmefällen abgesehen werden: Beim Fehlen eines effektiven innerstaatlichen Verfahrens, wenn dem Beschwerdeführer der Zugang zum innerstaatlichen Verfahren verwehrt wurde oder die Entscheidung über die Beschwerde ungerechtfertigt verzögert wird.16 Die Beschwerde muss gemäß Art. 32 der Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission innerhalb von 6 Monaten nach Bekanntgabe der letzten Entscheidung in der Sache erhoben werden. Nachfolgend wird ein quasi-kontradiktorisches Verfahren eingeleitet, in der die beschuldigte Regierung und der Beschwerdeführer zu den Vorwürfen Stellung beziehen können sowie Beweise vorlegen sollen.17 Die Kommission kann auch auf eigene Initiative Untersuchungen, beispielsweise durch Vor-Ort-Besuche, durchführen. Die Parteien haben während des gesamten Verfahrens die Möglichkeit, einen freundschaftlichen Ausgleich zu schließen.18 Wird dieser nicht erreicht, entscheidet die Kommission auf Grundlage der vorgelegten Beweise und verfasst einen vorläufigen Bericht mit Vorschlägen und Empfehlungen zur Lösung des Konfliktes, der dem betroffenen Staat übermittelt wird.19 Kommt die Regierung den Empfehlungen der Kommission nicht nach, soll die Sache gemäß Art. 45 Abs. 1 Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte übertra14 Im Jahr 2012 wurden 1936 Beschwerden eingereicht, Annual Report 2012, Chapter III, B. 15 Art. 28 der Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission benennt die Informationen die in einer Petition an die Kommission enthalten sein sollten. 16 Vgl. Art. 31 Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission. 17 Art. 37 Abs. 1 Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission. 18 Art. 40 Abs. 1 Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission. 19 Art. 43, 44 Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission.
A. Das Inter-Amerikanische System
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gen werden, es sei denn, die absolute Mehrheit der Kommissionsmitglieder spricht sich gegen die Weiterleitung aus oder der betreffende Staat hat die Zuständigkeit des Gerichtshofes nicht akzeptiert.20 Der Beschwerdeführer hat nicht die Möglichkeit, seinen Fall direkt dem IAGMR zu unterbreiten. Neuerungen in der Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission ermöglichen es ihm jedoch, die Vorlage vor dem Gerichtshof zu beantragen.21 Wurde den im vorläufigen Bericht geforderten Maßnahmen nicht nachgekommen und die Angelegenheit nicht dem IAGMR übertragen, ergeht eine abschließende Stellungnahme mit finalen Entscheidungen und Empfehlungen.22 Diese sind nicht rechtsverbindlich, aber die Kommission kann, bei Nichtumsetzung durch den Staat, über die Veröffentlichung des Berichts entscheiden. Gemäß Art. 51 und 52 der Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission kann auch gegen Mitgliedstaaten der OAS, die nicht der Amerikanischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind, Individualbeschwerde auf Grundlage der Amerikanischen Menschenrechtsdeklaration erhoben werden. Eine Weiterleitung an den Inter-Amerikanischen Gerichtshof bei Nichtbefolgung der Empfehlungen ist hingegen ausgeschlossen. Seit März 2011 kann die Kommission auf Antrag eines Beschwerdeführers nach den Regeln der Inter-Amerikanischen Kommission über den Fonds für Rechtsbeistand Mittel zur Deckung der Verfahrenskosten gewähren. Dadurch soll Personen, die nicht über entsprechende finanzielle Mittel verfügen, der Zugang zum Inter-Amerikanischen Menschenrechtssystem erleichtert werden.23 Auch wenn die Entscheidungen der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte ausschließlich Empfehlungscharakter haben, kann durch die Sachverhaltsermittlung und die durch die Publizität des abschließenden Berichtes erzeugte Aufmerksamkeit Druck zur Durchsetzung ausgeübt werden.
II. Inter-Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte In Zentralamerika bestand bereits in den Jahren 1907 bis 1918 ein „Zentralamerikanischer Gerichtshof“ in San José, Costa Rica. Das Gericht mit den fünf Mitgliedsstaaten Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica war der erste internationalen Gerichtshof.24 Der Gerichtshof hatte eine weite Zuständigkeit, war in den 10 Jahren seines Bestehens jedoch nur mit 10 Fällen 20 Bis zur Überarbeitung der Verfahrensordnung in 2001 war diese automatische Weiterleitung von Fällen an den Gerichtshof nicht vorgesehen und die Entscheidung, ob ein Fall weitergeleitet wurde, lag bei der Kommission. 21 Art. 44 Abs. 3 Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission. 22 Art. 47 Abs. 1 Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission. 23 Resolution AG/RES 2426 (XXXVIII-O/08). 24 Maldonado Jordison, Conn. J. Int’l L. 2009–2010, S. 185, 195 f.
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3. Teil: Regionale Menschenrechtssysteme
betraut. Dabei hat sich der Gerichtshof auch mit Fällen unrechtmäßiger Verhaftung25, der Versagung von habeas corpus-Anfragen26 sowie Isolationshaft27 auseinandergesetzt. Ganz besonders fällt auf, dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt Individuen eine Beschwerdemöglichkeit am Zentralamerikanischen Gerichtshof eingeräumt wurde.28 Die Beschwerde bedurfte dafür auch keiner Unterstützung durch die jeweilige nationale Regierung, es musste jedoch nachgewiesen werden, dass der nationale Rechtsweg ausgeschöpft wurde.29 Mit Gründung der OAS wurden auch die Forderungen nach Errichtung eines Inter-Amerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte laut. Bereits auf der Konferenz von Bogotá wurden erste Schritte zur Errichtung eines Menschenrechtsgerichtshofs eingeleitet.30 Mit der Annahme der Amerikanischen Menschenrechtskonvention wurde dann die Grundlage für die Eröffnung des Gerichtshofes im Jahre 1979 in San Jose, Costa Rica geschaffen.31 Der Gerichtshof ist gemäß Art. 1 seines Statuts eine unabhängige gerichtliche Institution, dessen Aufgabe in der Anwendung und Auslegung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention besteht. Für die Anerkennung der Gerichtsbarkeit bedarf es einer Erklärung durch die Vertragsstaaten.32 1. Organisation des Gerichtshofes Der Gerichtshof besteht aus sieben Richtern, die auf sechs Jahre mit der einmaligen Möglichkeit auf Wiederwahl durch die OAS-Generalversammlung gewählt werden.33 Durch die Zulassung von ad hoc-Richtern wird gewährleistet, dass jeder an dem Verfahren beteiligte Staat einen Richter seiner Wahl benennen kann,34 um Chancengleichheit herzustellen.35 Um die Unabhängigkeit der Rich25 Der Fall Diaz v. Guatemala; siehe Maldonado Jordison, Conn. J. Int’l L. 2009– 2010, S. 200. 26 Der Fall Alejandro Bermudez Nuñez v. Costa Rica; siehe Maldonado Jordison, Conn. J. Int’l L. 2009–2010, S. 201. 27 Im Fall Felipe Molina Larios v. Honduras wurde der Beschwerdeführer 5 Tage incommunicado gehalten; siehe Maldonado Jordison, Conn. J. Int’l L. 2009–2010, S. 200 f. 28 Allerdings wurden alle fünf Individualbeschwerden abgewiesen oder für unzulässig erklärt. 29 Hudson, 26 American Journal of International Law 1932, S. 765. 30 In Resolution XXXI „Inter-American Court to Protect the Rights of Man“ wurde der Interamerikanische Juristenausschuss mit der Ausarbeitung eines Statuts für einen Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte beauftragt. 31 Seifert, S. 68; Pasqualucci, S. 6. 32 Art. 62 AMRK. 33 Vgl. Art. 52 Abs. 1, 53 Abs. 1 und 54 Abs. 1 AMRK. 34 Vgl. Art. 55 Abs. 2 AMRK. 35 Kokott, S. 119; Davidson, S. 128.
A. Das Inter-Amerikanische System
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ter zu gewährleisten, bestimmt Art. 18 Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes, dass das Richteramt mit hochrangigen Regierungspositionen, außer sie sind der unmittelbaren Kontrolle durch die Exekutive entzogen, sowie der Stellung als Chef einer OAS-Mission und Mitarbeiter einer internationalen Organisation nicht in Einklang zu bringen ist. Zudem sind alle Tätigkeiten, die den Richter daran hindern könnten, sein Amt auszuführen, oder die seine Unabhängigkeit oder die Würde und das Prestige des Amtes beeinträchtigen könnten, mit ihrer Stellung unvereinbar.36 Die Richter wählen aus ihren Reihen einen Präsidenten, der die Arbeit des Gerichts führt, die Sitzungen leitet und den Gerichtshof repräsentiert.37 Administrative Tätigkeiten werden vom Sekretariat, dessen Sekretär durch das Gericht benannt wird, übernommen.38 Der Inter-Amerikanische Gerichtshof ist kein ständiger Gerichtshof, sondern er tagt in ordentlichen und außerordentlichen Sitzungsperioden.39 Dementsprechend üben die Richter nur eine Teilzeittätigkeit aus und erhalten kein Gehalt, sondern eine Aufwandsentschädigung. Anders als vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte werden Entscheidungen immer im Plenum und nicht in Kammern getroffen. Auch die finanzielle Ausstattung des Gerichtshofes ist begrenzt. Im Jahr 2013 wurden dem Gerichtshof von der OAS lediglich 2.661.000 US Dollar zugesprochen.40 2. Zuständigkeit Der Inter-Amerikanische Gerichtshof kennt zwei Arten von Zuständigkeiten: Die streitige Gerichtsbarkeit und die Gutachten.41 Da sich der Inter-Amerikanische Gerichtshof lediglich im Rahmen seiner streitigen Gerichtsbarkeit mit dem Verschwindenlassen beschäftigt hat, beschränkt sich die Darstellung der Zuständigkeit auf diesen Bereich. Die streitige Gerichtsbarkeit des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes ist fakultativ, d.h. die Staaten können sich durch Erklärung dem Gerichtshof unterwerfen. Diese Erklärung kann ohne Vorbehalte, aber auch für eine bestimmte Zeitspanne abgegeben werden.42 Außerdem kann die Zuständigkeit des Gerichtshofes auch 36
Art. 18 Abs. 1 (c) Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. Vgl. Art. 12 Abs. 1 und 2 Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 38 Vgl. Art. 14 Abs. 1 und 2 Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes; Art. 10 Verfahrensregeln des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 39 Oellers-Frahm, S. 389 f. 40 Program-Budget, Approved by the General Assembly, 2013, S. 68, verfügbar unter: http://www.oas.org/budget/2013/APPROVED_Program_Budget_2013.pdf. 41 Art. 2 Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 42 Art. 62 Abs. 1 und 2 AMRK. 37
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3. Teil: Regionale Menschenrechtssysteme
für eine konkrete Streitigkeit erklärt werden.43 Bisher haben 20 Staaten die streitige Gerichtsbarkeit anerkannt.44 Obgleich der Gerichtshof 1979 errichtet wurde, dauerte es zehn Jahre bis zur Entscheidung seines ersten streitigen Falls. Seither sind die Fallzahlen gering. Bis heute hat der Inter-Amerikanische Gerichtshof etwa 150 streitige Fälle entschieden.45 Diese Zahl steht im starken Kontrast zu den über 1000 Fällen, die jährlich die Inter-Amerikanische Kommission erreichen und zeigt deutlich, dass sich der Gerichtshof nur mit einem Bruchteil der Beschwerden beschäftigt. Nach Art. 63 Abs. 2 AMRK kann der Gerichtshof bei schwerwiegenden und dringenden Fällen, um irreparablen Schaden von Personen abzuwenden, vorläufige Maßnahmen erlassen. Dies ist auf Antrag der Kommission selbst dann möglich, wenn die Beschwerde noch nicht beim Gerichtshof anhängig ist.46 Ist der Fall bereits beim Inter-Amerikanischen Gerichtshof anhängig, kann eine vorläufige Maßnahme zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens erlassen werden.47 Der Erlass vorläufiger Maßnahmen hat insbesondere beim Schutz von Zeugen große praktische Bedeutung.48 3. Antragsbefugnis Gemäß Art. 61 Amerikanische Menschenrechtskonvention sind allein Vertragsstaaten und die Inter-Amerikanische Kommission berechtigt, dem Gericht einen Fall vorzulegen. Individuen sind nicht antragsbefugt, werden von der Kommission vor Weiterleitung des Falls an den Gerichtshof jedoch nach ihrer Position befragt.49 Die Beteiligungsrechte der Opfer wurden durch die Aktualisierung der Verfahrensordnung 2003 gestärkt. Ihnen ist es jetzt möglich, eigene Anträge und Beweise in das Verfahren einzubringen.50 Bisher wurden lediglich von der InterAmerikanischen Kommission Fälle vor den Gerichtshof gebracht. Von einem Vertragsstaat wurde noch kein Verfahren angestrebt.
43 Genie Lacayo v. Nicaragua, Preliminary Objections, Urteil vom 27. Januar 1995, Abs. 21, 23 f. 44 Aktuelle Liste der Anerkennungen siehe: http://www.cidh.org/Basicos/English/ Basic4.Amer.Conv.Ratif.htm; Venezuela hat mit Wirkung zum 10. September 2013 die Amerikanische Menschenrechtskonvention aufgekündigt. 45 Entscheidungen des IAGMR, http://www.corteidh.or.cr/casos.cfm. 46 Art. 63 Abs. 2 Satz 2 AMRK. 47 Kokott, S. 129. 48 Seifert, S. 80. 49 Art. 44 Abs. 3 Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission. 50 Art. 25 Abs. 1 Verfahrensordnung des IAGMR; ausführlich siehe Pasqualucci, S. 18, 20 f.
A. Das Inter-Amerikanische System
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4. Verfahren vor der Kommission Damit sich der Gerichtshof mit dem Fall beschäftigen kann, muss zuvor das Verfahren vor der Kommission durchgeführt werden.51 Eine sofortige Anrufung des Gerichtshofes ist nicht statthaft. Dies gilt selbst bei einer Erklärung durch den Staat, auf das Vorverfahren zu verzichten. Das wird damit begründet, dass das Kommissionsverfahren zur Wahrung wesentlicher Individualinteressen dient.52 Bei der Beurteilung der Beschwerde ist der Gerichtshof nicht an den von der Kommission zugrunde gelegten Sachverhalt oder dessen Entscheidung gebunden. Der Gerichtshof hat entschieden, dass er alle Fragen, die mit der Entscheidung der Kommission zusammenhängen, überprüfen darf und die Kompetenz besitzt, die Einhaltung der Konvention durch die Kommission festzustellen, bevor er mit einem Verfahren fortfährt.53 Der Gerichtshof prüft zudem, ob vor Einreichen der Beschwerde der Rechtsweg erschöpft wurde und die Sechs-Monats-Frist eingehalten wurde.54 Die Beweislast bezüglich dieser Zulässigkeitsvoraussetzungen liegt beim Staat.55 5. Verfahrensfragen Das Beschwerdeverfahren vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof gliedert sich in eine schriftliche und eine mündliche Phase. Die Verhandlungen sind öffentlich, wovon nur unter außergewöhnlichen Umständen abgewichen werden kann.56 Der Gerichtshof kann Zeugen und unabhängige Experten vorladen, sowie relevante Informationen von den beteiligten Staaten und der Kommission einfordern.57 Die Kommission nimmt an jedem Verfahren teil und tritt dabei im Namen des ursprünglichen Beschwerdeführers auf. Sie ist an dessen Ansichten nicht gebunden und handelt aus eigenem Recht.58 Auch die Verkündung der Urteile des Gerichtshofes findet öffentlich statt.59 Die Parteien erhalten eine schriftliche Benachrichtigung und die Urteile, Entscheidungen und Stellungnahmen werden veröffentlicht. Lediglich die Beratungen finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.60 Entscheidungen ergehen durch Majoritätsbeschluss, bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des 51
Art. 61 Abs. 2 AMRK. Viviana Gallardo u. a., Entscheidung vom 13. November 1981, Abs. 15 f. 53 Velásquez Rodriíguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 29. 54 Art. 46 AMRK. 55 Davidson, S. 165. 56 Art. 24 Abs. 1 Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 57 Art. 46 Verfahrensordnung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 58 Buergenthal/Thürer, S. 314 f. 59 Art. 24 Abs. 3 Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 60 Vgl. Art. 24 Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 52
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3. Teil: Regionale Menschenrechtssysteme
Präsidenten.61 Die Entscheidungen sind endgültig und die Möglichkeit zur Berufung besteht nicht. Auf Antrag einer der Parteien kann der Gerichtshof das Urteil jedoch hinsichtlich seiner Bedeutung und Reichweite interpretieren.62 Zwar wirken die Urteile nur inter partes und stellen auch keine Präzedenzfälle dar, dennoch ist eine Abweichung von der vorherigen Rechtsprechung ohne wichtigen Grund nicht zu erwarten.63 Wenn der Gerichtshof eine Verletzung der Konventionsrechte feststellt, kann er den Opfern Reparationsleistungen zusprechen.64 Bei der Anerkennung von Wiedergutmachungen hat der Gerichtshof ungewöhnlich weite Befugnisse. Der Staat kann zur Zahlung einer Entschädigung oder zur Rückgängigmachung der Beeinträchtigung angehalten werden. Zusätzlich können immaterielle Wiedergutmachungsmaßnahmen wie beispielsweise symbolische Akte, staatliche Untersuchungen, Gedenkstätten für die Opfer oder Bestrafung der Verantwortlichen angeordnet werden.65 6. Vollstreckung der Urteile Nach Art. 68 Abs. 1 der AMRK sind die Staaten verpflichtet, die Urteile des Gerichtshofes zu befolgen. Sieht das Urteil Schadensersatz vor, kann dieser im betreffenden Staat mit den nationalen Vollstreckungsregelungen durchgesetzt werden.66 Die Wirksamkeit dieser Maßnahme hängt jedoch maßgeblich von den Vollstreckungsmechanismen im jeweiligen Land ab. Unmittelbare Zwangsmechanismen für den Gerichtshof sieht die Amerikanische Menschenrechtskonvention nicht vor. Die Erfüllung der Urteile wird in erster Linie vom Gerichtshof selbst überwacht. Anhand der von den am Verfahren beteiligten Parteien beigebrachten Informationen erlässt er Resolutionen, die den Stand der Umsetzung der Entscheidungen darlegen.67 Die Überwachung ist von zunehmender Bedeutung für den Gerichtshof, was sich unter anderem darin manifestiert, dass seit einigen Jahren zur Überprüfung der Umsetzung häufiger mündliche Anhörungen abgehalten wurden.68 In seinem Jahresbericht an die Generalversammlung der OAS soll der Gerichtshof die Fälle, in denen die Umsetzung der Urteile nicht vorangetrieben wurde, benennen.69 Dadurch können die Fälle in der Generalversammlung öf61 62 63 64 65 66 67 68 69
Art. 23 Statut des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. Art. 67 Amerikanische Menschenrechtskonvention. Oellers-Frahm, S. 408. Art. 63 Abs. 1 Amerikanische Menschenrechtskonvention. Seifert, S. 114 f. Art. 68 Abs. 2 Amerikanische Menschenrechtskonvention. Camilleri/Krsticevic, S. 239 f. Camilleri/Krsticevic, S. 239 f. Art. 65 Satz 2 Amerikanische Menschenrechtskonvention.
B. Das Europäische System
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fentlich diskutiert werden, um politischen Druck auf die Staaten auszuüben, sowie Beschlüsse gefasst werden, in denen die Menschenrechtsverletzungen verurteilt werden.70 In der bisherigen Praxis hat sich die OAS-Staatengemeinschaft jedoch zurückhaltend gezeigt, Staaten, die eine Vollstreckung der Urteile verweigerten, zur Durchsetzung anzuhalten.71
B. Das Europäische System Nach den Gräueltaten des Nationalsozialismus war in Europa das Verlangen nach einer Stärkung des regionalen Menschenrechtsschutzes groß. Mit der Gründung des Europarats im Jahr 1949 wurde der Grundstein für ein verbindliches Menschenrechtsinstrument gelegt. Am 4. November 1950 wurde die Europäische Menschenrechtskonvention in Rom als erste rechtsverbindliche internationale Menschenrechtskodifikation unterzeichnet und trat 1953 in Kraft.72 Der Schwerpunkt der Konvention liegt auf der Bewahrung bürgerlicher und politischer Rechte. Menschenrechte der zweiten Generation werden in einer separaten Konvention, der Europäischen Sozialcharta von 1961, geschützt. Zur Durchsetzung der in der Konvention geschaffenen Rechte wurden eine Europäische Menschenrechtskommission und ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte etabliert. Ein Individualbeschwerderecht anzuerkennen wurde den Mitgliedstaaten zunächst freigestellt.73 Die Kommission prüfte in einem ersten Schritt die Zulässigkeit von Beschwerden und fertigte einen Bericht über die Frage an, ob eine Konventionsverletzung stattgefunden hat. Erst danach konnte der Gerichtshof angerufen werden. Mit dem 11. Zusatzprotokoll, welches 1998 in Kraft trat, wurde der Gerichtshof in einen ständigen Gerichtshof umgewandelt, die Kommission abgeschafft sowie die Einräumung der Individualbeschwerde für alle Mitgliedsstaaten obligatorisch.74 Der EMRK sind alle 47 Mitgliedstaaten des Europarats beigetreten.
I. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1. Organisation des Gerichtshofes Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat vier verschiedene Spruchkörper: Einzelrichter, Ausschuss, Kammer und Große Kammer.75 Seit In70 71 72 73 74 75
Buergenthal/Thürer, S. 315 f.; Oellers-Frahm, S. 412. Seifert, S. 138 ff.; Pasqualucci, S. 28 f.; Camilleri/Krsticevic, S. 240. Grabenwarter, Rn. 3. Clements/Mole/Sommons, Abs. 2-01; Schlüter, S. 40. Näheres zum 11. Zusatzprotokoll siehe Gilch, S. 33 ff.; Haß, S. 41 ff. Vgl. Art. 26 EMRK.
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3. Teil: Regionale Menschenrechtssysteme
krafttreten des 14. Zusatzprotokolls76 können Beschwerden auch von einem Einzelrichter für unzulässig erklärt werden, soweit die Entscheidung ohne weitere Prüfung erfolgen kann.77 Zudem bestehen Ausschüsse mit drei Richtern, die ebenfalls über die Zuständigkeit einer Beschwerde entscheiden können. Offensichtlich unzulässige Beschwerden können sie ablehnen.78 Zudem führte das 14. Zusatzprotokoll ein summarisches Verfahren für offensichtlich begründete Fälle ein, die bereits Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofes sind.79 Die Entscheidungen der Ausschüsse und Einzelrichter sind endgültig.80 Die Kammern, bestehend aus fünf oder sieben Richtern, können sowohl über die Zulässigkeit als auch über die Begründetheit einer Beschwerde entscheiden.81 Wenn ein Fall vor der Kammer schwerwiegende Fragen bezüglich der Interpretation der Konvention aufwirft oder die Entscheidung der Kammer im Widerspruch zu einer vorherigen Entscheidung des Gerichtshofs stehen könnte, kann die Rechtssache an die Große Kammer abgegeben werden.82 Nach einem Kammerurteil kann die Rechtssache auch auf Antrag einer Partei an die Große Kammer verwiesen werden.83 Die Große Kammer ist somit Überprüfungsinstanz und dient der Sicherung von Einheitlichkeit und Qualität der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Die Richter des Europäischen Gerichtshofes werden durch die Parlamentarische Versammlung des Europarats auf neun Jahre gewählt ohne Möglichkeit zur Wiederwahl.84 Nach Art. 20 der Konvention entspricht die Zahl der Richter derjenigen der Vertragsparteien. Zur Erfüllung seiner Aufgaben standen dem EGMR im Jahr 2013 66.815.100 Euro zur Verfügung.85 2. Zulässigkeitsvoraussetzungen Die Zulässigkeitsvoraussetzungen im Rahmen der Individualbeschwerde sind in Art. 34 und 35 Abs. 1 EMRK normiert. Gemäß Art. 34 EMRK kann jede natürliche Person, nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe, die behauptet, in einem ihrer Konventionsrechte ver76
Näheres zu den Änderungen des 14. Zusatzprotokolls siehe Gilch, S. 139 ff. Art. 27 EMRK. 78 Art. 28 I lit. a EMRK. 79 Art. 28 I lit. b EMRK. 80 Art. 27 Abs. 2, Art. 28 Abs. 2 EMRK. 81 Art. 29 Abs. 1 EMRK. 82 Art. 30 EMRK. 83 Art. 43 EMRK. 84 Art. 22, 23 Abs. 1 EMRK. 85 Webseite des Gerichtshofes, http://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p=court/ho witworks&c=#newComponent_1346157778000_pointer. 77
B. Das Europäische System
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letzt zu sein, Individualbeschwerde erheben. Es muss somit die Verletzung eines eigenen Rechts geltend gemacht werden oder der Beschwerdeführer muss durch die Konventionsverletzung eines Dritten mittelbar betroffen sein. Mittelbare Betroffenheit liegt vor, wenn eine enge Beziehung zum unmittelbar Betroffenen und zum gerügten Handeln bestand.86 Nach Art. 100 ff. der Verfahrensordnung kann dem Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe gewährt werden, wenn seine eigenen finanziellen Mittel zur Bestreitung der Kosten nicht ausreichen. Vor dem Beschwerdeverfahren ist der innerstaatliche Rechtsweg auszuschöpfen.87 Auch wenn die Europäische Menschenrechtskonvention, anders als ihr amerikanisches Pendant, keine ausdrücklichen Ausnahmen von der Rechtswegerschöpfung kennt, müssen die nationalen Rechtsmittel dennoch zugänglich und wirksam sein.88 Bei Untätigkeit des Staates oder völliger Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels kann von dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden.89 Muss zunächst der Beschwerdeführer nachweisen, dass er die notwendigen Schritte zur Erschöpfung des Rechtsweges eingeleitet hat, so ist der Staat in der Beweispflicht, dass effektive Rechtsmittel zur Verfügung standen.90 Die Beschwerde ist innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung einzureichen.91 Zudem muss der Gerichtshof sachlich und örtlich zuständig sein.92 Eine Beschwerde ist unzulässig, wenn sie anonym eingereicht wurde, im Wesentlichen mit einer bereits durch den Gerichtshof oder eine andere internationale Untersuchungsinstanz geprüften Beschwerde übereinstimmt, einen Missbrauch des Beschwerderechts darstellt oder der Beschwerdeführer keinen erheblichen Nachteil erlitten hat.93 3. Verfahrensfragen Wird eine Beschwerde für zulässig erklärt, bemüht sich die Kammer um eine friedliche Beilegung der Streitigkeit.94 Diese Verhandlungen sind vertraulich und nicht öffentlich.95 Findet keine friedliche Einigung statt, können die Parteien Schriftsätze und Beweise einreichen und eine mündliche Verhandlung beantragen.96 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96
Grabenwarter, § 13 Rn. 17. Art. 35 Abs. 1 EMRK. Aquilina v. Malta, Urteil vom 29. April 1999, Abs. 39. Clements/Mole/Simmons, Abs. 2–18. Clements/Mole/Simmons, Abs. 2–17. Art. 35 Abs. 1 EMRK. Grabenwarter, § 13 Rn. 40. Art. 35 Abs. 2 und 3 EMRK. Art. 39 Abs. 1 EMRK, Art. 62 Abs. 1 VerfO des EGMR. Art. 39 Abs. 2 EMRK, Art. 62 Abs. 2 VerfO des EGMR. Art. 59 VerfO des EGMR.
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3. Teil: Regionale Menschenrechtssysteme
Die mündlichen Verhandlungen variieren sehr stark von Kammer zu Kammer. Nach Art. 40 Abs. 1 EMRK sind mündliche Verhandlungen öffentlich, außer der Gerichtshof entscheidet aufgrund außergewöhnlicher Umstände anders.97 Seit 2007 werden die Verhandlungen zudem zeitversetzt als Video auf der Webseite des Gerichtshofes übertragen und stehen dort auch später noch zum Abruf bereit.98 Die Kammern können, auf Antrag der Parteien oder eigenständig, Untersuchungen anstellen, um die Tatsachen des Falls aufzuklären. Dabei können sie Zeugen oder Sachverständige vernehmen oder schriftliche Beweise entgegennehmen. Es ist jedoch selten, dass Zeugen oder Experten in der mündlichen Verhandlung gehört werden, weshalb die detaillierteren Regelungen über deren Vernehmung in der neuen Verfahrensordnung nicht mehr vorhanden sind.99 Wenn der Beschwerdeführer geltend macht, dass er Gefahr läuft, einen irreparablen Schaden zu erleiden, kann die zuständige Kammer vorläufigen Rechtsschutz erlassen.100 Der Staat kann aufgefordert werden, die Sicherheit des Beschwerdeführers zu gewährleisten, solange seine Beschwerde vor dem Gerichtshof anhängig ist.101 Die vorläufigen Maßnahmen sind für die Mitgliedsstaaten verbindlich und eine Nichtbeachtung verletzt das Recht auf Individualbeschwerde.102 Die Urteile des Gerichtshofes werden mit Stimmenmehrheit verabschiedet und und sind endgültige und bindend.103 Die Entscheidungen des Gerichtshofs wirken zwar nur inter partes, allerdings haben sie auch eine Orientierungswirkung gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten.104 Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Wird eine Rechtsverletzung festgestellt, muss der Staat diese beenden und gleichartige Verletzungen in der Zukunft unterbinden sowie Entschädigung leisten. Die Entschädigung nach Art. 41 EMRK umfasst zum einen materiellen und immateriellen Schadensersatz und zum anderen Ersatz der Kosten und Auslagen des Verfahrens.105 Nicht beantragter oder über den beantragten Schaden hinausgehender Schadensersatz wird nicht zugesprochen.106 Nichtfinanzielle Wiedergutmachung, 97 Ausschlussmöglichkeiten für Presse und Öffentlichkeit finden sich in Art. 63 Abs. 2 VerfO. 98 Siehe http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/Press/Multimedia/Webcasts+of +public+hearings. 99 Grabenwarter, § 13 Rn. 66, Clements/Mole/Simmons, Abs. 3–27. 100 Art. 39 VerfO des EGMR. 101 Clements/Mole/Simmons, 3–30. 102 Mamatkulov u. a. v. Türkei, Urteil vom 4. Februar 2005, Abs. 128. 103 Art. 44 Abs. 1, 3 und 46 Abs. 1 EMRK. 104 Grabenwarter, § 16 Rn. 9. 105 Grabenwarter, § 15 Rn. 1; Clements/Mole/Simmons, Abs. 6-01. 106 Grabenwarter, § 15 Rn. 2.
C. Vergleich
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wie beispielsweise die Aufhebung eines nationalen Gesetzes oder die Gewährung einer Begnadigung, kann das Gericht nicht anordnen.107 4. Vollstreckung der Urteile Die Überwachung der Umsetzung der endgültigen Urteile obliegt nach Art. 46 Abs. 2 EMRK dem Ministerkomitee.108 Die Staaten sind angehalten, sämtliche Maßnahmen, die zur Umsetzung der Entscheidung vorgenommen wurden, an das Komitee zu berichten.109 Durch das 14. Zusatzprotokoll hat das Ministerkomitee weitere Mittel zur Durchsetzung der Urteile an die Hand bekommen. Stehen der Überwachung oder Durchsetzung der Urteile Interpretationsschwierigkeiten des Urteils im Weg, kann das Komitee den Fall erneut an den Gerichtshof zur Interpretation verweisen.110 Bei einer Weigerung des Staates, eine Entscheidung umzusetzen, kann das Komitee mit einer Zweidrittelmehrheit den Gerichtshof mit der Prüfung der Nichtbefolgung des Urteils betrauen.111 Stellt der Gerichtshof fest, dass der Staat seiner Verpflichtung zur Befolgung der Entscheidung nicht nachgekommen ist, verweist er den Fall an das Ministerkomitee, damit dieses entsprechende Maßnahmen ergreifen kann.112 Sanktionsmöglichkeiten seitens des Gerichtshofes sind allerdings nicht vorgesehen. Die Änderungen des 14. Zusatzprotokolles ermöglichen es, den Druck auf säumige Staaten zu erhöhen. Bisher standen dem Ministerkomitee bei Nichtbefolgung neben bilateralen Verhandlungen vor allem politische Maßnahmen, wie beispielsweise die Suspendierung des Stimmrechts im Ministerkomitee oder der Ausschluss aus dem Europarat, zur Verfügung.113 Diese neuen Möglichkeiten werden jedoch wohl nur in seltenen, schwerwiegenden Fällen zur Anwendung kommen, da die Befolgung der Urteile in der Mehrzahl unproblematisch verläuft.114
C. Vergleich Das europäische und das Inter-Amerikanische Menschenrechtssystem weisen viele Gemeinsamkeiten auf, was unter anderem darin begründet ist, dass sich die 107
Clements/Mole/Simmons, Abs. 3–10. Das Ministerkomitee setzt sich aus den Außenministern der Mitgliedsstaaten bzw. deren Ständige Vertreter im Range eines Botschafters zusammen; zur Rolle der Parlamentarischen Versammlung bei der Überwachung der Durchführung der Urteile siehe Haß, S. 215 ff. 109 Leach, Rn. 3.55. 110 Leach, Rn. 3.76; Open Society Justice Initiative, S. 48. 111 Art. 46 Abs. 4 EMRK. 112 Art. 46 Abs. 5 EMRK. 113 Grabenwarter, § 16 Rn. 11; siehe näher Haß, S. 206 ff. 114 Leach, Rn. 375. 108
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3. Teil: Regionale Menschenrechtssysteme
OAS bei der Gründung des IAGMR stark am europäischen Modell orientiert hat. Dennoch ist das Inter-Amerikanische System deutlich komplexer, zum Beispiel da ihm mit der Amerikanischen Menschenrechtskonvention und der Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen zwei Instrumente zugrunde liegen. Zudem ist der IAGMR zusätzlich zu der Entscheidung von konkreten Fällen auch noch mit der Überwachung der Umsetzung seiner Entscheidungen betraut. Einer der größten Unterschiede zwischen beiden Systemen entstand mit der Abschaffung der Europäischen Menschenrechtskommission. Seither steht den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in Europa der direkte Weg zum Gerichtshof offen. Zudem unterscheiden sich beide Gerichte deutlich in Größe und finanzieller Ausstattung. Der EGMR wird als ständiger Gerichtshof mit direktem Zugang für die Opfer zudem deutlich häufiger in Anspruch genommen als der IAGMR. Diese strukturellen Differenzen in beiden Systemen haben auch die jeweilige Bewertung der Fälle des Verschwindenlassens beeinflusst.
4. Teil
Schutz der Opfer A. Prozessuale Hürden Opfer von Verschwindenlassen, die vor internationalen Menschenrechtsgerichtshöfen Gerechtigkeit suchen, sind mit verschiedenen prozessualen Hürden konfrontiert. Sowohl der Inter-Amerikanische Gerichtshof als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kennen eine Reihe von Zulässigkeitskriterien, die vor Erhebung einer Beschwerde erfüllt sein müssen. Ein beliebtes Mittel der Staaten, um ein Verfahren zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen, ist das Einreichen von Einreden, um die Nichterfüllung oder nicht ordnungsgemäße Erfüllung dieser Zulässigkeitskriterien zu beanstanden. Russland beispielsweise wendet seit dem ersten Verschwindenlassen-Fall, wegen dem es vor dem Europäischen Gerichtshof beschwert wurde immer wieder ein, dass der Beschwerdeführer den nationalen Rechtsweg nicht erschöpft habe. Auch wenn der Gerichtshof von Beginn an diese Einwendung, teilweise mit wortgleichen Begründungen, abgelehnt hat, erhebt Russland diesen Einwand unnachgiebig aufs Neue. Die Möglichkeiten der Opfer, sich an dem Verfahren durch das Beibringen von Beweisen oder die Einreichung von Anträgen zu beteiligen, ist an beiden Gerichtshöfen unterschiedlich weitreichend ausgestaltet. Insbesondere im Zugang unterscheiden sie sich maßgeblich, was sich unmittelbar auf die Rechtsschutzmöglichkeiten der Opfer auswirkt. Ein weiteres Problem während der Verfahren ist der Schutz von Opfern und Zeugen, da es gerade in Fällen des Verschwindenlassens immer wieder zu Bedrohungen oder sogar Ermordungen kam. Beide Gerichtshöfe haben versucht, diesen Schwierigkeiten in der Prozessführung beizukommen, um den Opfern einen größtmöglichen Schutz zu gewährleisten.
I. Ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens durch die Kommission Im Inter-Amerikanischen System ist der Beschwerde beim Gerichtshof ein Verfahren durch die Inter-Amerikanische Kommission vorgeschaltet. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention sieht hierfür eine Reihe von Voraussetzungen und Verfahrensabläufen vor, die vom Beschwerdeführer und der Kommission eingehalten werden müssen. Vor allem die nicht ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens durch die Kommission wie in den Artikeln 48 bis 51 AMRK vorgesehen kann dazu führen, dass die Beschwerde vor dem Gerichtshof nicht zuläs-
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4. Teil: Schutz der Opfer
sig ist. In den ersten Jahren ihrer Arbeit pflegte die Kommission einen informellen Verfahrensablauf, in dem Fristen und die Präsentation von Beweisen großzügig gehandhabt wurden.1 In der Konsequenz musste sich der Gerichtshof insbesondere in seinen ersten Fällen mit Einreden der beschwerdegegnerischen Staaten befassen, die eine nicht ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens vor der Kommission bemängelten. In den Honduras-Verschwindenlassen-Fällen wurde unter anderem beanstandet, dass eine formale Erklärung über die Zulässigkeit der Beschwerde durch die Kommission fehle, keine Vor-Ort Besichtigung und auch keine vorherige Anhörung zur Überprüfung der Anschuldigung von der Kommission durchgeführt wurde.2 Diesbezüglich hat sich der Gerichtshof gegen eine formalistische Sichtweise entschieden und stellte fest: „[F]ailure to observe certain formalities is not necessarily relevant when dealing on the international plane. What is essential is that the conditions necessary for the preservation of the procedural rights of the parties not be diminished or unbalanced, and that the objectives of the different procedures be met“.3
Damit räumt der Gerichtshof dem Schutz der Menschenrechte einen höheren Stellenwert ein als der Einhaltung von Formalien. Allerdings können schwerwiegende prozessuale Mängel, die zu einer Verringerung der prozessualen Rechte des Staates führen, auch eine Abweisung der Beschwerde nach sich ziehen.4 Bisher wurde jedoch lediglich im Fall Cayara v. Peru eine Beschwerde wegen Fehlern im Verfahrensablauf der Kommission zurückgewiesen. Andernfalls würde es zu einem Verlust an Autorität und Glaubwürdigkeit der Kommission kommen, die für ein mit der Verteidigung von Menschenrechtsverletzungen betrautes Organ unabdingbar sind.5 Mit seiner Ansicht steht der Inter-Amerikanische Gerichtshof in der Tradition anderer internationaler und regionaler Gerichte.6 Dazu beigetragen hat jedoch sicherlich auch, dass sich beim IAGMR Frustration breit machte, weil der Gerichtshof in den ersten Jahren seines Bestehens keinen streitigen Fall von der Kommission übertragen bekam.7 Zudem war er sich der Bedeutung der Verschwindenlassen-Fälle bewusst.8 1
Farer, Human Rights Quarterly 1997, S. 543 f. Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 32; Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 37; Godínez-Cruz v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 35. 3 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 33. 4 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 74. 5 Cayara v. Peru, Preliminary Objections, Urteil vom 3. Februar 1993, Abs. 63. 6 Pizzolo, S. 273 f. 7 Von der Gründung des Gerichtshofes 1979 bis 1986 überwies die Kommission keinen streitigen Fall an den Gerichtshof und abgesehen vom Fall Viviana Gallardo wurde auch von keinem Staat ein Fall überwiesen. 8 Buergenthal, CHRGJ Working Paper, S. 11. 2
A. Prozessuale Hürden
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Zudem beschäftigte sich der Inter-Amerikanische Gerichtshof mit der Frage, inwieweit das Vorverfahren der Kommission durch ihn kontrollierbar ist. Die Kommission stellte sich im Fall Velásquez Rodríguez auf den Standpunkt, dass der Gerichtshof kein Berufungsgericht für die Kommission darstelle und somit nicht die Einhaltung aller prozessualen Voraussetzungen im Zusammenhang mit der Einreichung einer Beschwerde bei der Kommission und dessen Vorverfahren überprüfen dürfe.9 Der Gerichtshof entschied hingegen, dass er eine weite Zuständigkeit besitze, die alle Fragen eines Falles umfasse.10 Somit können sämtliche von der Kommission getroffenen Entscheidungen bezüglich der Einhaltung prozessualer Regeln im Vorverfahren durch den Gerichtshof überprüft werden. Diese weite Zuständigkeit ist vergleichbar mit der des Europäischen Gerichtshofes, als die Europäische Kommission für Menschenrechte noch bestand.11 Vor allem eine rechtliche Überprüfung der Entscheidungen der Kommission durch den Gerichtshof erscheint sinnvoll, da es sich bei Ersterem nicht um ein Rechtsprechungsorgan handelt. Es obliegt nach Art. 62 Abs. 3 dem Gerichtshof, die Konvention auszulegen und anzuwenden. Zudem setzt sich der Gerichtshof aus Juristen zusammen, wohingegen die Mitglieder der Kommission keinen juristischen, sondern einen menschenrechtlichen Hintergrund mitbringen müssen.12 Dennoch hat dies erhebliche Folgen für die Beschwerdeführer und weitere an einem Fall beteiligte Zeugen. Die Neuverhandlung aller faktischen und rechtlichen Fragen führt zu einer Verlangsamung des Verfahrens und dadurch zu einem Ungleichgewicht zugunsten des beklagten Staates, insbesondere da Individuen noch immer keinen locus standi vor dem Gerichtshof haben.13 Die vor dem InterAmerikanischen Gerichtshof verhandelten Fälle des Verschwindenlassens zeigen, dass sich Opfer und Zeugen oftmals einem großen Risiko aussetzen. Beispielsweise in den Honduras-Fällen wurden während des Verfahrens drei Zeugen ermordet.14 Dieses Risiko wiegt umso schwerer, wenn das Verfahren durch eine erneute Überprüfung der Zulässigkeit der Beschwerde in die Länge gezogen wird 9 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 28. 10 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 29; Case of the 19 Merchants v. Kolumbien, Preliminary Objections, Urteil vom 12. Juni. 2002, Abs. 27. 11 Pasqualucci, 1. Auflage, S. 139. 12 Shelton, 12. Fordham Int’l LJ. 1988–1989, S. 371 f. 13 „. . . Commission’s decisions on the inadmissibility of petitions or communications are considered definitive and non-appealable, its decisions of admissibility should be treated likewise . . . Why is it that the respondent Government is allowed to attempt to reopen a decision on admissibility by the Commission before the Court and an individual complainant does not have the same faculty to question a decision on inadmissibility of the Commission before the Court?“ Separate Concurring Opinion of Judge Cançado Trindade, Castillo-Páez v. Peru, Preliminary Objections, Urteil vom 30. Januar 1996, Abs.7. 14 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 40–41.
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4. Teil: Schutz der Opfer
und Zeugen damit anhaltend einer Gefahr ausgesetzt werden. Die in vielen Ländern, die das Verschwindenlassen als Unterdrückungsmethode einsetzten, auch nach dem Ende der repressiven Systeme bestehende Bedrohung könnte dazu führen, dass sich Opfer von einer zweifachen Überprüfung prozessualer Normen und der damit verbundenen größeren Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens entmutigen lassen und von einer Beschwerdeeinreichung absehen. Im europäischen Menschenrechtssystem stellt sich diese Problematik seit Abschaffung der Europäischen Kommission nicht mehr.
II. Rechtswegerschöpfung Die Nichterschöpfung des nationalen Rechtsweges ist die am meisten angeführte Einrede der betroffenen Staaten, nicht nur in Fällen des Verschwindenlassens. Russland bemängelt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte routinemäßig die Nichtausschöpfung des Rechtsweges in Fällen des Verschwindenlassens. Das Fehlen effektiver Rechtsmittel und die Missachtung des rechtlichen Gehörs wohnt dem Verschwindenlassen jedoch inne und ist Teil einer systematischen staatlichen Praxis. Aus diesem Grund behandeln beide Gerichtshöfe die Frage der Rechtswegerschöpfung nicht in der Phase der Einreden, sondern in der Hauptsache.15 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Wendet der Staat vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof ein, dass der nationale Rechtsweg vom Beschwerdeführer nicht ausgeschöpft wurde, muss er darlegen, dass adäquate und effektive Rechtsmittel bestanden, die der Beschwerdeführer hätte nutzen können. Erst wenn das gelungen ist, obliegt dem Beschwerdeführer der Nachweis, dass er diese ausgeschöpft hat oder eine Ausnahme für die Rechtswegerschöpfung nach Art. 46 Abs. 2 AMRK vorliegt.16 Adäquat ist ein Rechtsmittel, wenn es geeignet ist, eine bestimmte Rechtsverletzung zu behandeln. Dabei sind nicht alle in einem Rechtssystem vorhandenen Rechtsmittel in einem speziellen Fall adäquat.17 Um den Aufenthaltsort eines Verschwundenen zu ermitteln, haben die Familien zumeist einen oder sogar mehrere habeas corpus-Anträge gestellt. Im Fall Velásquez Rodríguez argumentierte 15 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 95 f.; Godínez-Cruz v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 97 f.; Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 94 f.; Aziyevy v. Russland, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 56; Malsagova u. a. v. Russland, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 95; Tupchiyeva v. Russland, Urteil vom 22. April 2010, Abs. 49. 16 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 60; Castillo-Páez v. Peru, Preliminary Objections, Urteil vom 30. Januar 1996, Abs. 40. 17 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 64.
A. Prozessuale Hürden
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Honduras, dass habeas corpus-Anträge alleine zur Erschöpfung des Rechtsweges nicht ausreichend seien, da das honduranische Rechtssystem weitere Rechtsmittel wie beispielsweise Berufung, Revision, das Amparo-Verfahren (judicio de amparo)18 und zivilrechtlichen Rechtsschutz zur Verfügung stelle.19 Der Gerichtshof hielt jedoch fest, dass habeas corpus in Fällen des Verschwindenlassens die geeignete Maßnahme ist: „Of the remedies cited by the Government, habeas corpus would be the normal means of finding a person presumably detained by the authorities, of ascertaining whether he is legally detained and, given the case, of obtaining his liberty. The other remedies cited by the Government are either for reviewing a decision within an inchoate proceeding (such as those of appeal or cassation) or are addressed to other objectives.“ 20
Habeas corpus ist das effektivste Mittel, um das Recht auf Leben und eine menschenwürdige Behandlung Gefangener zu gewährleisten sowie deren Verschwinden zu verhindern, weil es darauf abzielt, den Aufenthaltsort des Verschwundenen zu ermitteln und ggf. seine Freilassung zu erreichen.21 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam der Gerichtshof in seinem Gutachten über habeas corpus-Anträge in Notsituationen. Darin stellte er fest, dass habeas corpus nicht nur eine wichtige Rolle in der Sicherung des Rechts auf Lebens und der körperlichen Unversehrtheit spielt, sondern auch um dem Verschwindenlassen vorzubeugen.22 Habeas corpus-Anträge stellen somit das adäquate Mittel in Fällen des Verschwindenlassens dar. Sind diese erfolglos, ist der Rechtsweg ausgeschöpft und der Weg zum Inter-Amerikanischen System eröffnet. Die Einreichung einer zivilrechtlichen Klage oder die Beteiligung an einem strafrechtlichen Verfahren, welches ex officio geführt werden muss, wird nicht vorausgesetzt.23 Die Angehörigen müssen auch nicht die Exhumierung von menschlichen Überresten beantragen. Selbst wenn ein Leichenfund mit dem Verschwindenlassen der Person in Verbindung stehen könnte, stellt eine Exhumierung kein Rechtsmittel zur Gewährung der Rechte eines Verschwundenen dar.24 Im Fall von Velásquez Rodríguez wurden über eine Zeitspanne von drei Jahren drei habeas corpus-Anfragen gestellt, die zu keinem Ergebnis führten, und zwei 18
Wörtlich übersetzt bedeutet es „Schutzverfahren“ und ist ein komplexes Instrument zur Durchsetzung und Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Verwaltungsakten, Gerichtsentscheidungen und Gesetzen, Hofmann, ZaöRV 53 (1993), S. 271 f., 276. 19 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 69. 20 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 65. 21 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 102; Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 103. 22 Gutachten OC-8/87 vom 30. Januar 1987, Abs. 35. 23 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 16. 24 Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Abs. 89.
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4. Teil: Schutz der Opfer
Strafanträge eingereicht, die von den Behörden eingestellt wurden.25 Dennoch beanstandete Honduras, dass der Rechtsweg nicht erschöpft worden sei. Das honduranische Recht sah vor, dass habeas corpus-Anträge den Ort der Inhaftierung sowie die inhaftierende Behörde angeben müssen.26 Diese Voraussetzung führt nach der Entscheidung des Gerichtshofs jedoch zu einem absurden und unangemessenen Ergebnis, da dem Verschwindenlassen die Unkenntnis über den Aufenthaltsort innewohnt.27 Werden dem Antragssteller solche unangemessenen Bürden auferlegt, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der habeas corpus-Antrag adäquat ist. Des Weiteren muss das Rechtsmittel auch effektiv sein. Das bedeutet, dass es imstande ist, zu dem Ergebnis zu führen, für das es geschaffen wurde.28 Dies ist nicht der Fall, wenn „it is shown that remedies are denied for trivial reasons or without an examination of the merits, or if there is proof of the existence of a practice or policy ordered or tolerated by the government, the effect of which is to impede certain persons from invoking internal remedies that would normally be available to others. In such cases, resort to those remedies becomes a senseless formality. The exceptions of Article 46 (2) would be fully applicable in those situations and would discharge the obligation to exhaust internal remedies since they cannot fulfill their objective in that case.“ 29
Die systematische Anwendung von Menschenrechtsverletzungen, wie beispielsweise das Verschwindenlassen von Personen, wird vom Gerichtshof als Anzeichen für die Ineffektivität staatlicher Rechtsmittel gewertet.30 Die Verweigerung von habeas corpus-Anträgen ist gerade Teil der methodischen Praxis des Verschwindenlassens. Ebenfalls im Velásquez Rodríguez-Fall stellte der Gerichtshof fest, dass die Möglichkeit zu habeas corpus-Anträgen in Honduras nur auf dem Papier bestand und diese in Fällen des Verschwindenlassens ineffektiv waren. Oftmals wurden die Anträge von den Behörden ignoriert oder ihre Durchführung, z. B. der Besuch von Gefängnisanlagen, verhindert. Anwälte und Richter, die sich mit Anträgen beschäftigten, wurden eingeschüchtert und bedroht. In den wenigen Fällen, in denen verschwundene Personen wieder auftauchten, war dies oft eine Folge diplomatischer Intervention oder der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen und nicht ein Erfolg der nationalen Rechtsmittel.31 25 Allein das Strafverfahren gegen General Gustavo Alvarez Martínez wurde aufgrund seiner Abwesenheit nicht eingestellt, Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 9. 26 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 52, 74 f. 27 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 64 f. 28 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 66; Durand und Ugarte v. Peru, Preliminary Objections, Urteil vom 28. Mai 1999, Abs. 34. 29 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 68. 30 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 76 f. 31 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 78 ff.
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Auch im Fall Durand und Ugarte v. Peru betrachtete der Gerichtshof habeas corpus-Anträge als aussichtslos. Durch ein Notstandsgesetz wurde das Gefängnis, in dem sich die Verschwundenen befanden, zum Sperrgebiet erklärt. Habeas corpus-Anträge wurden dadurch nicht ausgesetzt, aber praktisch unmöglich gemacht, da ordentlichen Richtern der Zugang zu dem Gefängnis verwehrt wurde, sodass keine effektive Suche nach den Verschwundenen durchführbar war.32 Im Fall Trujillo Oroza v. Bolivien stellte sich die Frage, ob Familienangehörige zur Ausschöpfung des Rechtswegs verpflichtet sind, wenn politisch instabile Zeiten, die einen habeas corpus-Antrag verhinderten, beendet sind. José Carlos Trujillo Oroza verschwand im Februar 1972. Aufgrund der fragilen politischen Lage konnte seine Mutter keinen habeas corpus-Antrag stellen.33 Mit der Rückkehr Boliviens zur Demokratie 1982 entstanden Rechtsmittel, die von der Beschwerdeführerin hätten ergriffen werden können. Erst zehn Jahre später reichte sie Beschwerde bei der Inter-Amerikanischen Kommission ein, was zu einem Verfahren vor dem Gerichtshof führte.34 Bolivien wandte anfänglich die Nichterschöpfung des nationalen Rechtsweges ein, zog diese Einwendung später jedoch zurück und übernahm die internationale Verantwortung für das Verschwinden, wodurch diese Frage vom Gerichtshof nicht beantwortet wurde.35 Es kann von einem Opfer eines politischen Regimes sicherlich nicht verlangt werden, unmittelbar nach dessen Sturz die neuen demokratischen Rechtsmittel auszuschöpfen. Insoweit sollte dem Gerichtshof ein Ermessen zustehen. Auch wenn ein habeas corpus-Antrag nach über zehn Jahren wenig Erfolgsaussichten hat, handelt es sich nicht nur um eine reine Formsache, da dennoch die Möglichkeit besteht, etwas über den Verbleib des Verschwundenen herauszufinden. Außerdem ermöglicht dies einem jungen demokratischen Staat, seine Vergangenheit aufzuarbeiten und den Betroffenen für die erlittenen Rechtsverletzungen Wiedergutmachung zukommen zu lassen, bevor er sich vor internationalen Gerichten verantworten muss. Deshalb erscheint die zuvorige nationale Rechtswegerschöpfung empfehlenswert. Nicht nur viele Angehörige von Verschwundenen selbst werden von den Behörden bedroht, sondern auch ihre Anwälte setzen sich Gefahren aus. In einer Gutachterfrage kam der Gerichtshof daher zu der Überzeugung, dass nach Art. 46 Abs. 2 lit. b Amerikanische Menschenrechtskonvention eine Ausnahme zur Ausschöpfung des Rechtsweges auch dann besteht, wenn es dem Opfer aufgrund staatlicher Repressalien nicht gelingt, anwaltliche Vertretung zu finden.36
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Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 98 ff. Trujillo Oroza v. Bolivia, Merits, Urteil vom 26. Januar 2000, Abs. 2. Trujillo Oroza v. Bolivia, Merits, Urteil vom 26. Januar 2000, Abs. 4, 8 f. Trujillo Oroza v. Bolivia, Merits, Urteil vom 26. Januar 2000, Abs. 37. Gutachten OC-11/90 vom 10. August 1990, Abs. 35.
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2. Europäischer Gerichtshof Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis wie sein inter-amerikanisches Pendant. Nach Art. 35 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention kann sich der Gerichtshof erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe mit einer Angelegenheit befassen. Beschwerdeführer sind jedoch nicht verpflichtet, Rechtsmittel auszuschöpfen, die inadäquat und ineffektiv sind: „The existence of the remedies must be sufficiently certain both in theory and in practice, failing which they will lack the requisite accessibility and effectiveness. Article 35 § 1 also requires that complaints intended to be brought subsequently before the Court should have been made to the appropriate domestic body, at least in substance and in compliance with the formal requirements and time-limits laid down in domestic law and, further, that any procedural means that might prevent a breach of the Convention should have been used. However, there is no obligation to have recourse to remedies which are inadequate or ineffective.“ 37
Ein adäquates Rechtsmittel in Fällen des Verschwindenlassens ist nach dem EGMR die Durchführung von Ermittlungen. Damit diese effektiv sind, müssen sie von einer unabhängigen Person durchgeführt werden und geeignet sein, die Verantwortlichen zu ermitteln und zu bestrafen sowie alle verfügbaren Beweise zu sichern. Dies setzt zudem das unmittelbare Tätigwerden der Behörden voraus.38 In den Russlandfällen wurden die Ermittlungen oftmals wiederholt ausgesetzt oder von einem Staatsanwalt zum nächsten weitergeleitet. Bereits im Frühstadium wurden die Ermittlungen von den Behörden so weit verzögert, dass die Rechtsmittel mittlerweile nur noch wenig Aussicht auf Erfolg boten.39 Strafrechtliche Verfahren, die seit vielen Jahren anhängig sind und in dieser Zeit keine nennenswerten Ergebnisse hervorgebracht haben, sind nach Auffassung des Gerichtshofes deshalb nicht effektiv.40 Insbesondere wenn eine staatliche Beteiligung durch die Behörden abgestritten wird, stellt der Gerichtshof die Aussicht auf Erfolg durch eine Klage in Zweifel.41 In seiner jüngsten Rechtsprechung bezeichnet der Gerichtshof das Verschwindenlassen in Tschetschenien zwischen
37 Ilhan v. Türkei, Urteil vom 27. Juni 2000, Abs. 58; Magamadova und Iskhanova v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 62; Abdurzakova und Abdurzakov v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 72. 38 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 118 f.; Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 191. 39 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 124; Akhmadova und Sadulayeva v. Russland, Urteil vom 10. Mai 2007, Abs. 104, 106; Akhiyadova v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 79. 40 Abayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. April 2010, Abs. 107. 41 Khamila Isayeva v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 98; Isigova u. a. v. Russland, Urteil vom 26. Juni 2008, Abs. 80; Askharova v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 55.
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2000 und 2006 als systematisches Problem, weshalb strafrechtliche Ermittlungen kein effektives Rechtsmittel darstellen.42 Von den Angehörigen eines Verschwundenen wird daher lediglich verlangt, alles zu tun, was man vernünftigerweise von ihnen erwarten kann, um den Rechtsweg auszuschöpfen.43 Staaten sind grundsätzlich verpflichtet, Ermittlungen einzuleiten, wenn sie von einem ungeklärten Fall des Verschwindenlassens Kenntnis erlangen. Einer formalen Beschwerde durch einen Angehörigen bedarf es dafür nicht.44 Zivilverfahren zum Erhalt von Schadensersatz sind als effektives Rechtsmittel nicht ausreichend, da ein Zivilgericht ohne die Ergebnisse eines strafrechtlichen Verfahrens nicht in der Lage ist, eine substantiierte Entscheidung zu treffen.45 Der Gerichtshof stellte zudem fest, dass dem Staat der Nachweis ausreichender effektiver Rechtsmittel obliegt, wenn er sich auf die Nichterschöpfung des Rechtsweges beruft.46 Die Behauptung Russlands, eine Beschwerde hätte auch in anderen Regionen Russlands oder beim Obersten Gerichtshof eingereicht werden können, sah der EGMR für die Erfüllung dieser Beweispflicht als nicht ausreichend an.47 3. Vergleich Die Einrede der Nichterschöpfung des Rechtsweges ist eine beliebte Strategie der Staaten gegen eine Beschwerde vor den Gerichtshöfen. Es ist jedoch gerade Teil des Verschwindenlassens, dass keine effektiven Rechtsmittel bestehen, durch die Verschwundene aufgefunden werden könnten. Der Staat hat daher nachzuweisen, dass dem Beschwerdeführer ein effektiver Rechtsweg zur Verfügung stand, der von diesem nicht ausgenutzt wurde. Die Konkretisierung auf habeas corpus als effektives Rechtsmittel ohne die Notwendigkeit, zivilrechtliche oder strafrechtliche Beschwerden einzureichen, ist in Fällen des Verschwindenlassens überzeugend. In allen vor den beiden Gerichtshöfen verhandelten Verfahren zum Verschwindenlassen wurde die Einrede der Nichtausschöpfung des Rechtsweges daher richtigerweise abgelehnt. Andernfalls wäre den Beschwerdeführern eine 42
Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 217 ff. Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 83; Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 80. 44 Seker v. Türkei, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 67; Kaya u. a. v. Türkei, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 35. 45 Sarli v. Türkei, Urteil vom 22. Mai 2001, Abs. 63; Abdurzakova und Abdurzakov v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 75. 46 Abdurzakova und Abdurzakov v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 73; Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 91; Turluyeva und Khamidova v. Russland, Urteil vom 14. Mai 2009, Abs. 51. 47 Khamila Isayeva v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 93 ff.; Isigova u. a. v. Russland, Urteil vom 26. Juni 2008, Abs. 75 ff. 43
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Überprüfung ihrer Rechte weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene möglich.
III. Friedliche Streitbeilegung Art. 48 Abs. 1 lit. f der AMRK sieht eine friedliche Streitbeilegung durch die Inter-Amerikanische Kommission vor. Die Kommission soll auf eigene Initiative oder auf Anrufung durch eine Partei während jeder Stufe des Verfahrens als friedliche Streitschlichtungsinstanz zur Verfügung stehen.48 Unterbleibt der Versuch einer friedlichen Streitbeilegung durch die Kommission, können Staaten dies im Wege der Einwendung vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof rügen.49 Im Fall des Verschwindenlassens von Velásquez Rodríguez argumentierte Honduras, dass es sich bei der friedlichen Streitbeilegung um ein verpflichtendes Verfahren handelt, dessen Nichteinhaltung zur Unzulässigkeit der Klage beim Gerichtshof führe. Honduras hatte das Verschwinden von Velásquez Rodríguez immer geleugnet und die Kooperation mit der Kommission verweigert, weshalb der Kommission eine friedliche Einigung unmöglich erschien.50 Der Gerichtshof stellte daraufhin fest, dass der Versuch der friedlichen Streitbeilegung zwar obligatorisch ist, der Kommission aber in jedem Einzelfall ein Ermessen eingeräumt wird, solange dieses nicht willkürlich ausgeübt wird. In Fällen des Verschwindenlassens wurde er noch konkreter: „When the forced disappearance of a person at the hands of a State’s authorities is reported and that State denies that such acts have taken place, it is very difficult to reach a friendly settlement that will reflect respect for the rights to life, to humane treatment and to personal liberty“.51
Der Versuch einer friedlichen Beilegung des Streites war in diesem Fall somit nicht notwendig. Anders stellte sich die Sachlage in Caballero-Delgado und Santana gegen Kolumbien dar. Im Gegensatz zu Honduras verleugnete Kolumbien zu keinem Zeitpunkt, dass ein Verschwindenlassen vorlag und gestand sogar ein, dass auch Militärbehörden daran beteiligt gewesen sein könnten.52 Nur in außergewöhnlichen Fällen und mit guter Begründung soll die Kommission einen
48
Art. 40 Abs. 1 Rules of Procedure of the Inter-American Commission. Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 42 ff.; Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Preliminary Objection, Urteil vom 21. Januar 1994, Abs. 20 ff. 50 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 42 f. 51 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 46. 52 Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Preliminary Objection, Urteil vom 21. Januar 1994, Abs. 22. 49
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Schlichtungsversuch unterlassen können. Allein die Natur des Falls, das Vorliegen eines Verschwindenlassens, rechtfertigt einen Verzicht nicht.53 Dennoch nahm der Gerichtshof keine Unzulässigkeit der Beschwerde an, da Kolumbien ebenso wie die Kommission einen Prozess der friedlichen Konfliktlösung hätte einleiten können.54 Um diese Schwierigkeiten in der Zukunft zu verhindern befragt die Kommission seit Caballero Delgado beide Parteien in jedem Fall, ob sie von den friedlichen Streitbeilegungsmechanismen Gebrauch machen wollen.55 Vor der Einführung des 11. Protokolls war auch in Europa die Europäische Kommission damit beauftragt, eine friedliche Streitbeilegung der Parteien zu fördern. Art. 39 der Konvention sieht auch weiterhin vor, dass die Parteien sich an den Gerichtshof wenden können, wenn sie eine Einigung erreichen wollen. Eine Verpflichtung, eine friedliche Streitbeilegung zwischen den Parteien voranzutreiben, die in der Zulässigkeit gerügt werden könnte, besteht jedoch nicht.
IV. Beteiligungsrechte Opfer, die ein Verfahren vor einen internationalen Menschenrechtsgerichtshof bringen, haben in der Regel ein Interesse daran, an diesem auch beteiligt zu werden. Die Mitwirkung an den Verfahren kann für die Opfer einen positiven psychologischen Effekt haben, weil es ihnen ermöglicht wird, ihre Geschichte in einem offiziellen Rahmen zu erzählen. Insbesondere da viele Angehörige auch nach Jahren nicht wissen, was mit den Verschwundenen passiert ist, und ihre Anfragen von den Behörden unbeantwortet blieben, können sie die Verantwortlichen direkt ansprechen und Antworten verlangen. Die Beteiligungsmöglichkeiten der Opfer an den Verfahren vor dem Europäischen und dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof unterscheiden sich indes deutlich. 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Die Beteiligungsrechte der Opfer am Verfahren vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof sind in den vergangenen Jahren einigen Reformen unterzogen worden. Im Hinblick auf die Erfahrungen aus den ersten Prozessen sollte den Bedürfnissen der Opfer stärker Rechnung getragen werden. Dennoch sind die Beteiligungsmöglichkeiten noch immer stark eingeschränkt.56 Lediglich der Zugang 53 Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Preliminary Objection, Urteil vom 21. Januar 1994, Abs. 27. 54 Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Preliminary Objection, Urteil vom 21. Januar 1994, Abs. 29 f. 55 Standaert, 9 Duke Journal of Comparative and International Law, S. 527. 56 Burgorgue-Larsen/Úbeda de Torres, Rn. 2.20 f.
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4. Teil: Schutz der Opfer
zur Inter-Amerikanischen Kommission ist weit gestaltet. Nach Art. 44 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention können Einzelpersonen, Personengruppen und rechtlich anerkannte Nichtregierungsorganisationen eine Beschwerde vor dem IAKMR wegen Verletzung eines durch die Konvention garantierten Rechtes durch einen Unterzeichnerstaat erheben. Dabei ist die Geltendmachung eigener Rechte keine Voraussetzung.57 Nicht nur Opfer und deren Angehörige, sondern jede Person kann eine Beschwerde einreichen, sogar ohne die Erlaubnis des tatsächlichen Opfers.58 Dies ermöglicht Organisationen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen bei der Geltendmachung ihrer Rechte zu unterstützen. Insbesondere in Regionen Lateinamerikas, die geprägt sind von Armut und geringem Bildungsstand, kann der Zugang zur Konvention durch die Beschwerdefähigkeit von internationalen Organisationen erhöht werden.59 In den Honduras-Fällen war es beispielsweise eine honduranische NGO, die sich mit der Beschwerde an die Kommission wandte. Erst im Laufe des Verfahrens schlossen sich die Angehörigen des Opfers sowie die Opferorganisationen, denen sie angehörten, dem Verfahren an.60 Nicht selten werden Beschwerdeführer bedroht oder angegriffen, wenn sie sich an die Kommission wenden.61 Ebenso ergeht es oftmals ihren Anwälten, wodurch es den Opfern erschwert wird, eine juristische Vertretung zu finden.62 NGOs sind weniger empfänglich für Drohungen und daher deutlich eher bereit, auch riskante Fälle vor den Gerichtshof zu bringen.63 Aufgrund ihrer finanziellen Mittel und dem aus ihrer Öffentlichkeitsarbeit resultierenden größeren Schutz für Angehörige und Zeugen sind NGOs in der Regel für die Vertretung gefährlicher Fälle besser aufgestellt.64 Zudem können dadurch auch Fälle, in denen ein Verschwundener keine Angehörigen mehr hat, ihren Weg vor die Kommission finden. Anders verhält es sich jedoch vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bis heute haben Einzelpersonen keinen direkten Zugang (locus standi) zum Inter-Amerikanischen Gerichtshof. Lediglich Vertragsstaaten und die Inter-Amerikanische Kommission können sich direkt an den Gerichtshof wenden. Seit die Verfahrensordnung der Kommission 2001 reformiert wurde, soll indes jeder Fall, in dem die Kommissionsempfehlungen durch die Staaten nicht befolgt 57
Seifert, S. 50. Art. 33 Abs. 2 b VerfO der Inter-Amerikanischen Kommission; Pasqualucci, S. 133. 59 Weston/Lukes/Hnatt, 20 Vanderbilt Journal of Transnational Law 1987, S. 617 f.; Pasqualucci, S. 133. 60 Méndez/Vivanco, 13 Hamline Law Review, S. 530. 61 Siehe 4. Teil, A. V. 62 Gutachten OC-11/90 of 10 August 1990, Ser. A, No. 11, Abs. 3 Nr. 2; Pasqualucci, S. 133. 63 Ebenso Pasqualucci, S. 5, 133. 64 Pasqualucci, S. 5, 133. 58
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werden, an den Gerichtshof weitergeleitet werden. Dabei ist unter anderem auch die Position des Beschwerdeführers in Betracht zu ziehen.65 Dies normiert eine gängige Praxis der Kommission, die sich beispielsweise im Fall Dianna Ortiz gezeigt hat. Diana Ortiz wurde in Guatemala verhaftet und in einer geheimen Gefängnisanlage gefoltert. Sie lehnte eine Weiterleitung ihres Falls an den Gerichtshof ab, um das Trauma ihrer Misshandlungen im Prozess nicht erneut durchleben zu müssen. Daraufhin verfolgte auch die Kommission den Fall nicht weiter.66 Neben dem fehlendem locus standi waren für die Opfer in den ersten Jahren keinerlei Partizipationsmöglichkeiten am Verfahren vorgesehen. Durch verschiedene Reformen der Verfahrensordnung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes wurden ihnen sukzessive mehr direkte Beteiligungsmöglichkeiten eingeräumt. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes hat dabei maßgeblich zur Entwicklung der Rolle der Opfer, welche sich in den nachfolgenden Reformen vollzog, beigetragen. Bereits in den allerersten streitigen Fällen, den Honduras-Fällen, gelang es den Opfervertretern, großen Einfluss auf das Verfahren zu nehmen. Nachdem eine unabhängige Beteiligung der Opfer aussichtslos erschien, begannen dessen Anwälte mit der Kommission zusammen zu arbeiten. Sie leisteten technische Unterstützung und verfassten ein gemeinsames Dokument mit der Kommission.67 Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war es bis zur Einführung der direkten Opferbeteiligung 1982 gängige Praxis, die anwaltlichen Vertreter der Opfer zu ad-hoc-Beratern zu ernennen. Diesem Beispiel folgend wurden auch die Anwälte in den Honduras-Fällen zu Beratern der Kommission bestimmt.68 Trotz dieser produktiven Zusammenarbeit kam es zwischen Anwälten und Kommission auch zu Differenzen. Es bestand Uneinigkeit über die beste prozessuale Strategie und die Opfervertreter hätten sich von der Kommission weitergehende Forderungen gewünscht.69 Im Fall Cayara gingen die Unterschiede so weit, dass die Anwälte vor Gericht gezwungen waren, die Legalität von Handlungen der Kommission zu vertreten, die sie im vorherigen Verfahren selbst angegriffen hatten.70 Der Gerichtshof bemühte sich aber auch bereits zu einem frühen Zeitpunkt, den Opfern direkte Beteiligungsrechte einzuräumen. Vom zweiten Honduras-Fall an erlaubte er den Opfern, zur Höhe und Form der Wiedergutmachung unabhängig von der Kommission Tatsachen vorzubringen.71
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Art. 45 VerfO der Inter-Amerikanischen Kommission. Inter-Amerikanische Menschenrechtskommission, Dianna Ortiz v. Guatemala, 16. Oktober 1996, Case Nr. 10.526, Report Nr. 31/96. 67 Méndez/Vivanco, 13 Hamline Law Review, S. 534. 68 Grossmann, 15 Hastings International and Comparative Law Review, S. 378 f. 69 Grossmann, 15 Hastings International and Comparative Law Review, S. 381. 70 Méndez, S. 328. 71 Méndez, S. 325 f. 66
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4. Teil: Schutz der Opfer
Nach diesen Anfängen folgten 2001 und 2009 weitere wesentliche Reformen, in denen dem Opfer und seinem Vertreter in allen Phasen des Verfahrens Autonomie von der Kommission gewährt wurde.72 Seither dürfen jene eigenständige Schriftsätze, Argumente oder Beweise beim Gerichtshof einreichen.73 Außerdem dürfen sie sich zu eingebrachten Einwendungen äußern,74 können einen Antrag auf vorläufige Maßnahmen stellen75 sowie sich während der mündlichen Verhandlung äußern und die aufgerufenen Zeugen befragen.76 Art. 69 Abs. 3 der Verfahrensordnung räumt den Betroffenen zudem Beteiligungsmöglichkeiten in den Verfahren zur Überwachung der Umsetzung der Urteile ein. Auch die Einführung des Legal Assistance Fund of the Inter-American Human Rights System im Juni 2010 hat die Rechte der Ofer weiter gestärkt. Personen, denen die finanziellen Mittel zur Durchführung einer Beschwerde im Inter-Amerikanischen System fehlen, können durch den Fonds unterstützt werden.77 Dadurch erhalten auch finanzschwache Betroffene die Möglichkeit, ihren Fall vor den Inter-Amerikanischen Gerichtshof zu bringen. Insbesondere in Fällen des Verschwindenlassens, die geprägt sind von Beweisschwierigkeiten, ist die direkte Beteiligung von Opfern und ihren Anwälten von großer Bedeutung. Der Kommission ist es aufgrund knapper finanzieller und personeller Ressourcen sowie des unkooperativen Verhaltens der Staaten oftmals nicht möglich, eine gründliche Sachverhaltsaufklärung zu gewährleisten.78 Die Parteienvertreter haben in der Regel mehr Möglichkeiten und stärkere Anreize, Beweise aufzufinden. In den Honduras-Fällen reiste ein Verteidiger für längere Zeit ins Land und prüfte mehr als 100 vergleichbare Fälle des Verschwindenlassens, um die Systematik der Methode sowie die Unwirksamkeit der habeas corups-Anfragen nachzuweisen. Diese Beweise, zusammen mit den Zeugen, die in dieser Zeit ermittelt wurden, waren entscheidend für den positiven Ausgang des Verfahrens.79 Zudem halfen die Opfervertreter der Kommission bei der Akquisition weiterer Mittel zur Finanzierung der Reisekosten von Zeugen.80 72 Art. 25 Abs. 1 VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs bestimmt: „Once notice of the brief submitting a case before the Court has been served, in accordance with Article 39 of the Rules of Procedure, the alleged victims or their representatives may submit their brief containing pleadings, motions, and evidence autonomously and shall continue to act autonomously throughout the proceedings.“ 73 Art. 25 Abs. 1 VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs. 74 Art. 40 Abs. 1 VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs. 75 Art. 27 Abs. 3 VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs. 76 Art. 50 Abs. 5 und Art. 52 Abs. 2 VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs. 77 Art. 2 Rules for the Operation of the Victims’ Legal Assistance Fund of the InterAmerican Court of Human Rights. 78 Zu den verschiedenen Gründen, die die Kommission an der Ermittlung des Sachverhalts hindern können, siehe Cassel, Fact-Finding, S. 106. 79 Méndez/Vivanco, 13 Hamline Law Review, Cassel, Reparations, S. 534. 80 Grossmann, 15 Hastings International and Comparative Law Review, S. 381.
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2. Europäischer Gerichtshof Seit der Abschaffung der Europäischen Kommission 1998 können sich Opfer von Menschenrechtsverletzungen direkt an den EGMR wenden. Diese unmittelbare Beschwerdemöglichkeit hatte zur Folge, dass vor dem Europäische Gerichtshof deutlich mehr Fälle des Verschwindenlassens verhandelt wurden als vor seinem inter-amerikanischen Pendant. Bislang wurden durch den Europäischen Gerichtshof weit über 100 Fälle entschieden, wohingegen der Inter-Amerikanische Gerichtshof etwas mehr als 50 Fälle behandelt hat. Diese weitreichenden Beteiligungsmöglichkeiten finden jedoch im Rahmen der Durchsetzung der Entscheidungen erhebliche Einschränkungen. Die Opfer haben kaum eine Möglichkeit sich Gehör zu verschaffen, wenn der Staat seiner Durchsetzungspflicht nicht nachkommt.81 NGOs können sich hingegen nur an das Europäische System zum Schutz der Menschenrechte wenden, wenn sie selber in ihren Rechten betroffen sind.82 Allerdings haben sie auch als Dritte, zum Beispiel im Rahmen von amicus curiae briefs, die Möglichkeit, in das Verfahren einzugreifen. Grundsätzlich haben NGOs durch ihre Aktivitäten die Entwicklung des EGMR deutlich mitgestaltet,83 im Hinblick auf amicus curiae briefs in Fällen des Verschwindenlassens wurden NGOs allerdings nur selten aktiv. Trotz der Fülle an Entscheidungen des EGMR wurde nur in dem Verfahren Timurtas¸ v. Türkei84 und dem viel beachteten Fall El-Masri85 amicus curiae-Stellungnahmen eingereicht. NGOs wie beispielsweise das EHRAC, das Memorial Human Rights Centre und die Stichting Russian Justice Initiative haben Angehörige von Verschwundenen jedoch in vielen Fällen vor dem EGMR vertreten.86 In der Mehrzahl der vor dem EGMR verhandelten Fälle zum Verschwindenlassen waren NGOs als Rechtsvertreter beteiligt.87 3. Vergleich Trotz vieler prozessualer Entwicklungen am Inter-Amerikanischen Gerichtshof sind die Beteiligungsmöglichkeiten der Opfer immer noch deutlich eingeschränk81
Open Society Justice Initiative, S. 59. Cichowski, S. 85. 83 Siehe ausführlich Cichowski, S. 77. 84 Amicus curiae briefs durch die lateinamerikanische NGO CEJIL, Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 7, 79 f. 85 Am El-Masri-Verfahren beteiligten sich beispielsweise NGOs wie Human Rights Watch, Amnesty International, Redress oder das ECCHR; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 10, 76, 114. 86 Karimov u. a. v. Russland, Urteil vom 16. Juli 2009, Abs. 2; Khatuyeva v. Russland, Urteil vom 22. April 2010, Abs. 2; Malika Alikhadzhiyeva v. Russland, Urteil vom 24. Mai 2011, Abs. 2; Aslanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 2. 87 In insgesamt 118 Fällen betreffend das Verschwindenlassen waren NGOs als Rechtsvertreter beteiligt. 82
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4. Teil: Schutz der Opfer
ter als bei seinem europäischen Pendant. Insbesondere das Fehlen von locus standi für Individuen wird seit langer Zeit zu Recht stark kritisiert.88 Im Europäischen System hat sich der direkte Zugang der Opfer zum Gerichtshof in den letzten 15 Jahren bewährt und einen deutlichen Anstieg der Fallzahlen zur Folge gehabt. Dies spiegelt sich auch am Beispiel des Verschwindenlassens wieder. Der EGMR hat mehr als viermal so viele Fälle zum Verschwindenlassen entschieden wie der IAGMR, obwohl in Europa weniger Länder vom Verschwindenlassen betroffen sind und insgesamt deutlich geringere Fallzahlen vorliegen. Dies verdeutlicht, dass durch die unmittelbare Beschwerdemöglichkeit Barrieren abgebaut werden, was es mehr Menschen ermöglicht, auf internationaler Ebene ihre Rechte zu verfolgen. Die Einführung eines Individualbeschwerdeverfahrens vor dem IAGMR ist der nächste zwingende Schritt, der im Inter-Amerikanischen Menschenrechtssystem erfolgen muss.89 Beide Gerichtshöfe haben im Laufe ihres Bestehens die Bedeutung der Verfahrensbeteiligung durch die Opfer erkannt und schrittweise ausgeweitet. Insbesondere in Fällen des Verschwindenlassens, die durch Beweisschwierigkeiten gekennzeichnet sind, ist es von großer Bedeutung, dass alle Betroffenen die Möglichkeit haben, sich an dem Verfahren zu beteiligen.
V. Opfer- und Zeugenschutz Der Schutz von Opfern und Zeugen während des Verfahrens vor internationalen Gerichten ist von großer Bedeutung. Prozessbeteiligte in Fällen des Verschwindenlassens werden nicht selten als Staatsfeinde hingestellt und sind mit Drohungen oder Gewalt gegen sich und ihre Familienangehörigen konfrontiert. Auch lokale Anwälte oder NGOs sind oftmals ebenso gefährdet wie die Personen, die sie vertreten. Insbesondere vorläufige Maßnahmen stellen ein effektives Mittel zum Schutz der Verfahrensbeteiligen dar. 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Gem. Art. 63 Abs. 2 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention kann der Gerichtshof in Fällen äußerster Dringlichkeit und Schwere und um irreparable Schäden an einer Person vorzubeugen vorläufige Schutzmaßnahmen anordnen. Diese werden aufgrund einer Anscheinsvermutung (prima facie) anstelle einer substantiellen Überprüfung der Behauptung erlassen.90 Der IAGMR hat in der Vergangenheit regelmäßig vorläufige Maßnahmen angeordnet, um die Sicherheit 88 Cançado Trindade, Access of Individuals, S. 45; Buergenthal, Beneficial interaction, S. 171 ff.; Oellers-Frahm, S. 393. 89 Ebenso Cançado Trindade, ZaörV 70 (2010), S. 691. 90 Blake v. Guatemala, Provisional Measures vom 16. August 1995, S. 2; BámacaVelásquez v. Guatemala, Provisional Measures vom 21. Februar 2003, S. 4; 19 Merchants v. Kolumbien, Provisional Measures vom 3. September 2004, S. 8, Abs. 10.
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und den Schutz von Opfern und Zeugen zu gewährleisten. In den Honduras-Fällen erhielten zwei Zeugen während des laufenden Verfahrens Morddrohungen, was den Präsidenten des Gerichtshofes dazu veranlasste, Honduras dazu aufzurufen, für die Sicherheit und den Schutz der Zeugen Sorge zu tragen.91 Wenige Monate später wurden hingegen drei andere Zeugen in dem Verfahren ermordet. Der Gerichtshof erließ daraufhin vorläufige Maßnahmen und hielt Honduras dazu an, unverzüglich alle notwendigen Schritte einzuleiten, um die Zeugen vor weiteren Rechtsverletzungen zu schützen sowie die Täter aufzufinden und vor Gericht zu stellen.92 Diese Maßnahmen wurden wenig später ausgeweitet und Honduras dazu aufgefordert, dem Gerichtshof innerhalb von zwei Wochen über die ergriffenen Schutzmaßnahmen für die Zeugen sowie den Fortschritt der strafrechtlichen Untersuchen zu berichten.93 In der Folgezeit unternahm die Regierung nur wenig, um die Morde aufzuklären, aber auch der Gerichtshof überprüfte die Einhaltung der Maßnahmen kaum. Eine amicus curiae-Eingabe einer NGO, die dem Gerichtshof empfahl, Honduras erneut zur Klärung der Morde aufzufordern, wurde schlichtweg ignoriert.94 In den folgenden Jahren wurden die vorläufigen Maßnahmen als wesentliches Instrument zum Schutz von Zeugen und Opfern stetig ausgeweitet. Im Fall Blake v. Guatemala wurde neben dem Schutz des Hauptzeugen zudem auch seine Familie erfasst. Guatemala sollte alle verfügbaren Maßnahmen ergreifen, um es der Familie zu ermöglichen, in ihrem Haus wohnen zu bleiben und von keiner staatlichen Stelle bedroht oder verfolgt zu werden.95 Dieser Schutz musste ihnen innerhalb und außerhalb ihres Hauses gewährt werden.96 Auch nach Abschluss des Verfahrens wurden die Maßnahmen aufrechterhalten. Einem Antrag der guatemaltekischen Regierung, die vorläufigen Maßnahmen zu beenden, wurde durch den Gerichtshof nicht entsprochen. Gegen mehrere Personen, die mit dem Verschwindenlassen von Nicolas Blake in Verbindung standen, wurde nicht ermittelt oder gegen sie wurden keine Haftbefehle erlassen. Deshalb hielt das Gericht an den Schutzmaßnahmen für den Zeugen und seine Angehörigen fest. Lediglich die Berichtspflichten wurden gelockert.97 Erst 2005, sieben Jahre nachdem die Entscheidung in der Hauptsache erging, wurden die vorläufigen Maßnahmen
91
Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 39. Velásquez Rodríguez v. Honduras, Provisional Measures vom 15. Januar 1988, Resuelve Abs. 1 f. 93 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Provisional Measures vom 19. Januar 1988, Resuelve Abs. 1 f. 94 Méndez/Vivanco, 13 Hamline Law Review, S. 558. 95 Blake v. Guatemala, Provisional Measures vom 16. August 1995, Decides Abs. 2. 96 Blake v. Guatemala, Provisional Measures vom 18. April 1997, Decides Abs. 1 f. 97 Blake v. Guatemala, Provisional Measures vom 18. August 2000, Having Seen, Abs. 7, Decides 1, 3. 92
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4. Teil: Schutz der Opfer
zum Schutz des Zeugen und seiner Angehörigen beendet.98 Selbst als der Zeuge verstarb, wurde Guatemala dazu angehalten, den Schutz für seine Familienangehörigen, die im Zusammenhang mit seiner Zeugenaussage Morddrohungen erhalten hatten, fortzusetzen.99 Zudem legt der Gerichtshof immer wieder Wert darauf, dass die Betroffenen an der Planung und Durchführung der Schutzmaßnahmen beteiligt werden, um den für sie bestmöglichen Schutz zu erzielen.100 Nach Art. 27 Abs. 6 der Rules of Procedure kann der Präsident außerhalb der Sitzungsperioden des Gerichtshofes den betroffenen Staat zu vorläufigen Maßnahmen anhalten. Dies ermöglicht dem Gerichtshof, mit kurzer Reaktionszeit auf dringende Situationen zu reagieren.101 Auch in Fällen, die nicht vom Inter-Amerikanischen Gerichtshof behandelt werden, sondern bei der Kommission anhängig sind, kann jeder den Erlass vorläufiger Maßnahmen beantragen. So geschehen im Fall der Association of Relatives of Detainees-Disappeared Persons of Columbia, um die dortigen Mitarbeiter zu schützen und zu gewährleisten, dass alle Büros der Vereinigung ungestört ihrer Arbeit nachgehen können.102 Um die Einhaltung der vorläufigen Maßnahmen zu überwachen, greift der Gerichtshof auf ein Berichtssystem zurück. In der Regel werden die Staaten dazu angehalten, innerhalb von 2 Wochen zu berichten, welche Schritte ergriffen wurden, um den vom Gerichtshof festgesetzten vorläufigen Maßnahmen zu entsprechen. Über die weitere Einhaltung der Maßnahmen ist in regelmäßigen Abständen Auskunft zu erteilen. Diese Berichte können dann von den Begünstigten der Maßnahme und ihren Anwälten sowie der Inter-Amerikanischen Kommission kommentiert werden.103 Zudem bestimmt Art. 53 der Verfahrensordnung des IAGMR, dass die Staaten gegen die Zeugen und Opfer aufgrund ihrer Aussagen weder Verfahren anstreben dürfen, noch darf auf sie Druck ausgeübt werden. Eine mit Costa Rica als Gast98
Blake v. Guatemala, Provisional Measures vom 14. Juni 2005, Resuelve Abs. 1. Blake v. Guatemala, Provisional Measures vom 06. Juni 2003, Having Seen, Abs. 18, Decides Abs. 2. 100 Caballero Delgado und Santana v. Kolumbien, Provisional Measures vom 4. Juli 2006, Decides Abs. 3; 19 Merchants v. Kolumbien, Provisional Measures vom 4. Juli 2006, Decides Abs. 5. 101 Im Fall der 19 Merchants wurde die Zeugin Sandra Belinda Montero am 29. Juli 2004 übers Telefon bedroht. Bereits einen Tag später wandte sich die Inter-Amerikanische Kommission an den Gerichtshof und der Präsident erließ noch am selben Tag vorläufige Maßnahmen für den Schutz der Zeugin, 19 Merchants v. Kolumbien, Provisional Measures vom 3. September 2004, Having Seen Abs. 3 f. 102 Álvarez et al. v. Columbia, Provisional Measures vom 22. Juli 1997, Decides, 1, 4. 103 Vgl. Blake v. Guatemala, Provisional Measures vom 06. Juni 2002, Decides Abs. 4; 19 Merchants v. Kolumbien, Provisional Measures vom 4. Juli 2006, Decides Abs. 4, 6; Caballero Delgado und Santana v. Kolumbien, Provisional Measures vom 4. Juli 2006, Decides Abs. 5. 99
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land des IAGMR getroffene Vereinbarung gewährt ihnen zudem verschiedene Privilegien und Immunität.104 2. Europäischer Gerichtshof Auch im europäischen System wird den Verfahrensbeteiligten Immunität vor nationalen Strafverfahren im Zusammenhang mit ihrer Aussage gewährt, sowie freie Kommunikation mit dem Gerichtshof, Bewegungs- und Reisefreiheit.105 Zudem sieht die Verfahrensordnung des EGMR vor, dass die Öffentlichkeit von der Verhandlung zum Schutze der Verfahrensbeteiligten ausgeschlossen werden kann.106 Unter besonderen Umständen kann dem Beschwerdeführer zudem Anonymität gewährt werden.107 Art. 39 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes regelt die vorläufigen Maßnahmen, die nach ständiger Praxis nur ergehen, wenn die unmittelbare Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens besteht.108 Staatliche Bedrohungen der Beschwerdeführer wurden vom Gerichtshof in erster Linie im Zusammenhang mit einer Verletzung des Art. 34 EMRK behandelt. Dieser gewährt das Recht auf wirksame Ausübung der Individualbeschwerde.109 In seinem ersten Fall zum Verschwindenlassen, Kurt v. Türkei, wurde die Beschwerdeführerin durch die Behörden unter Druck gesetzt, ihre Beschwerde bei der Kommission zurückzuziehen und notariell zu erklären, dass die PKK in ihrem Namen eine unbegründete Beschwerde gegen die Sicherheitskräfte eingereicht hätte.110 Gegen ihren Anwalt wurden aufgrund seiner Beteiligung an der Beschwerde strafrechtliche Schritte eingeleitet. 111 Der Gerichtshof sah darin eine Verletzung des Art. 34 der Europäischen Menschenrechtskonvention, denn bei Befragungen des Beschwerdeführers durch staatliche Stellen wird ein rechtswidriger Druck erzeugt.112 Die Androhung oder Durchführung eines strafrechtlichen Verfahrens gegen den Rechtsbeistand eines Opfers stellt ebenfalls eine unerlaubte
104 Leach/Paraskeva/Uzelac, Netherlands Quarterly of Human Rights, Vol. 28/1 (2010), S. 66 f. 105 Art. 2 des Europäischen Übereinkommens über die an Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmenden Personen gewährt Immunität, Art. 3 gewährt Kommunikationsfreiheit und Art. 4 beschäftigt sich mit der Bewegungsund Reisefreiheit. 106 Art. 63 Abs. 2 VerfO des EGMR. 107 Art. 47 Abs. 3 VerfO des EGMR. 108 Markard, Asylmagazin 1–2/2012, S. 4. 109 Zum Zeitpunkt der Entscheidung war das Recht auf Individualbeschwerde in Art. 25 der Europäischen Konvention geregelt. 110 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 19 ff. 111 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 25; ebenso im Fall Sarli v. Türkei, 22. Mai 2001, Abs. 38. 112 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 160.
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4. Teil: Schutz der Opfer
Beeinflussung des Rechts auf Individualbeschwerde dar.113 Anders als der InterAmerikanische Gerichtshof ist der Europäische Gerichtshof in der Anordnung vorläufiger Maßnahmen zum Schutz von Opfern und Zeugen sehr zurückhaltend. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass vor allem in russischen Fällen die Beschwerdeführer und ihre Anwälte schweren Bedrohungen ausgesetzt sind, ist dies sehr bedauernswert.114 Der Regelungsumfang des Art. 39 der Verfahrensordnung des EGMR ist im Vergleich zum Art. 63 Abs. 2 AMRK deutlich unpräziser.115 Vorläufige Maßnahmen ergehen im Europäischen System überwiegend im Zusammenhang mit Abschiebungsfällen.116 Die Parlamentarische Versammlung des Europarats betonte das Potential der vorläufigen Maßnahmen zum Schutz von Verfahrensbeteiligten und verwies dabei konkret auf den Inter-Amerikanischen Gerichtshof: „This instrument may have still wider potential uses for protecting applicants and their lawyers who are exposed to undue pressure. The Court may find it useful in this respect to examine the practice of the Inter-American Court of Human Rights and the Inter-American Commission on Human Rights, which have used interim measures to enjoin the authorities to place applicants under special police protection in order to shield them from criminal acts by certain non-state actors.“ 117
3. Vergleich Der Inter-Amerikanische Gerichtshof geht in seinem Schutz für Verfahrensbeteiligte von Fällen des Verschwindenlassens bisher weiter als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Vorläufige Maßnahmen werden in der Rechtsprechung des IAGMR sehr umfassend angewandt und haben dadurch zum Schutz der Opfer und Zeugen beigetragen. Neben der Schutzfunktion wird durch den Zeugenschutz zudem die Sachverhaltsaufklärung im Verfahren sichergestellt. Es wäre begrüßenswert, wenn auch der EGMR verstärkt auf vorläufige Maßnahmen zurückgreifen würde. Beide Institutionen sind in ihren Schutzmöglichkeiten jedoch eingeschränkt. Sie können den Opfern keinen direkten Schutz gewähren, sondern die betreffenden Staaten lediglich zu bestimmten Maßnahmen verpflichten. Werden diese, trotz ihrer Verbindlichkeit, von den Staaten nicht umgesetzt, bestehen kaum Möglichkeiten, die Durchsetzung zu erzwingen.
113 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 164 f.; Sarli v. Türkei, 22. Mai 2001, Abs. 84 f. 114 Lapitskaya, 43 N.Y.U. J. Int’l L&Pol., S. 503 ff. 115 Vgl. Shelton, Implementation Procedures, S. 251. 116 Markard, Asylmagazin 1–2/2012, S. 3. 117 Parlamentarische Versammlung des Europarats, Resolution 1571 (2007), Abs. 13.
B. Beweisschwierigkeiten
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B. Beweisschwierigkeiten Eine wesentliche Schwierigkeit in Fällen des Verschwindenlassens liegt in der Aufklärung des Sachverhalts und der Beibringung entsprechender Beweise. In aller Regel beinhaltet das Verschwindenlassen geheime Haftzentren und Gefängnisse militärischer oder paramilitärischer Einheiten, die im Untergrund arbeiten und dafür Sorge tragen, dass jeder Hinweis, der die Regierung mit dieser Praxis in Verbindung bringen könnte, unterdrückt wird. Im für den Beschwerdeführer denkbar schlechtesten Fall sind ihm keinerlei Beweise zugänglich, die ein staatliches Verschwindenlassen des Opfers nachweisen könnten. Dies ist insbesondere in Fällen kritisch, in denen der beschwerdegegnerische Staat eine Beteiligung an der Tat leugnet. Zum Teil wird angeführt, das Opfer habe sich einer im Untergrund operierenden Gruppe angeschlossen,118 Selbstmord begangen119 oder wäre von Terroristen oder Verbrechern entführt worden. Liegen in diesen Fällen keine gegenteiligen Beweise vor, ist eine Verurteilung des Staates praktisch unmöglich. Obwohl in der jüngeren Zeit die beschwerdegegnerischen Staaten in vielen Fällen die internationale Verantwortlichkeit für die Taten anerkannten, ist insbesondere das Verschwindenlassen durch eine mangelnde Kooperation der Staaten gekennzeichnet.120 Ein essentieller Teil des Verschwindenlassens liegt gerade in der Vermeidung und Unterdrückung belastender Beweismittel. Angeforderte Unterlagen werden von den Staaten nicht beigebracht oder ihre Existenz wird verleugnet. Viele Beweise, wie beispielsweise Haftregister oder Unterlagen, die im Zusammenhang mit der Festnahme stehen, unterliegen der alleinigen staatlichen Kontrolle und sind ohne eine Mitwirkung des Staates für den Beschwerdeführer nicht einsehbar. Ohne das Auffinden eines Leichnams entfällt selbst der unmittelbare Nachweis für die Verletzung des Rechts auf Leben. Obwohl Zeugen nicht selten Todesdrohungen erhalten, lassen sich Personen finden die gewillt sind, vor Gericht auszusagen, wenn sie eine Verhaftung beobachtet haben oder sogar bezeugen können, dass das Opfer sich nach dem Verschwinden in staatlichem Gewahrsam befand. Teilweise gibt es Zeugenberichte von Mithäftlingen, die Folter oder Misshandlungen beweisen oder vermuten lassen. Während die Gerichtshöfe bei anderen Rechtsverletzungen regelmäßig auf die im Zuge der Rechtswegausschöpfung durch die nationalen Gerichte erlangten Beweise und Tatsachenfeststellungen zurückgreifen können, zeichnet sich das Verschwinden-
118 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 132. 119 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 165. 120 Entgegen Jöttens Feststellung, dass ein Staat in Fällen des Verschwindenlassens den Sachverhalt grundsätzlich leugnet, findet sich in der Rechtsprechung des InterAmerikanischen Gerichtshofes eine Vielzahl von Fällen in denen die Staaten ihre Verantwortlichkeit anerkannt haben, Jötten, S. 132.
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4. Teil: Schutz der Opfer
lassen gerade dadurch aus, dass keine konventionsgerechte nationale Aufarbeitung stattfand.121 Die beiden Menschenrechtsgerichtshöfe haben versucht dieser erschwerten Beweissituation in ihren Entscheidungen Rechnung zu tragen. Im Folgenden soll zunächst festgestellt werden, anhand welcher Beweise ein Verschwindenlassen nachgewiesen werden kann. Dazu wird untersucht, welche Beweise die Gerichtshöfe in welchem Umfang für zulässig befanden (1.). Danach stellt sich die Frage, welches Beweismaß von den Gerichten herangezogen wird. Das Beweismaß regelt, zu welchem Grad ein Richter vom Vorliegen einer vorgetragenen Tatsache überzeugt sein muss, um sie als bewiesen anzuerkennen.122 Die Rechtsprechung und auch die Stimmen in der Literatur sind uneinheitlich hinsichtlich der Frage, welcher Überzeugungsgrad bei völkerrechtlichen Verfahren notwendig ist (2.).123 Aufgrund der Beweisnot des Beschwerdeführers werfen Fälle des Verschwindenlassens zudem auch Fragen der Beweislastverteilung auf. Zweck der Regelungen über die Beweislastverteilung ist eine Entscheidung in Fällen des non liquet, also in Fällen in denen nicht eindeutig festgestellt werden kann, welcher Sachverhalt der Wahrheit entspricht, zu ermöglichen. Es wird zwischen subjektiver124 und objektiver Beweislast,125 sowie im common law zwischen „burden of persuasion“ 126 und „evidential burden“ 127 unterschieden. Aufgrund der Beweisschwierigkeiten in Fällen des Verschwindenlassens haben sich beide Gerichtshöfe bei der Beweislastverteilung flexibel gezeigt (3.).
I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Im Inter-Amerikanischen System zum Schutze der Menschenrechte ist vorwiegend die Kommission zuständig für die Ermittlung und Feststellung des Sachverhalts bei Individualbeschwerden.128 Auch der Gerichtshof ist mit Untersuchungskompetenzen ausgestattet und kann Beweise von den Parteien einfor121
Jötten, S. 134. Amerasinghe, S. 232; Kazazi, S. 323; Benzinger, S. 506. 123 Kokott, Beweislastverteilung, S. 397. 124 Nach der subjektiven Beweislast, die nur bei Verhandlungen unter der Prozessmaxime angewandt wird, muss eine Partei die Tatsachen vorlegen die zum Nachweis ihres Begehrens notwendig sind um prozessuale Nachteile zu vermeiden, Kokott, Beweislastverteilung, S. 378 f.; Benzinger, S. 589 f. 125 Die objektive Beweislast legt fest zu wessen Lasten die Unnachweisbarkeit einer Tatsache geht, Benziger, S. 589; Jötten, S. 153; Kazazi, S. 29. 126 Vergleichbar mit der objektiven Beweislast regelt sie wer das Risiko trägt, dass eine Tatsache nicht nachgewiesen werden kann, Benzinger, S. 591, Kazazi, S. 29. 127 Der evidential burden betrifft die Zulassung einer Beschwerde und regelt wen die Darlegungspflicht trifft, dass genügend Tatsachen vorhanden sind die eine Entscheidung in dem Fall möglich erscheinen lassen, Kazazi, S. 24 f.; Benziger, S. 592. 128 Art. 48 I. d. Amerikanische Menschenrechtskonvention. 122
B. Beweisschwierigkeiten
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dern.129 Hierbei konnte sich der IAGMR jedoch nicht an seinem europäischen Pendant orientieren, da sich der EGMR bis in die frühen 90iger Jahre fast ausschließlich mit gewaltfreien Menschenrechtsverletzungen beschäftigte und in vielen Fällen der Sachverhalt nicht umstritten war.130 Kapitel V der Verfahrensordnung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes enthält Regelungen über die Beweisaufnahme sowie die Zulässigkeit von Beweisen. Grundsätzlich müssen alle Beweise im Anfangsstadium des Verfahrens vor dem Gerichtshof vorgebracht werden.131 Dadurch werden jedoch nicht alle Beweise ausgeschlossen, die zu einem späteren Zeitpunkt eingereicht werden.132 Bei der Zulassung von Beweisen hat der Gerichtshof bereits früh zum Ausdruck gebracht, dass er im Interesse der Wahrheitsfindung weniger Wert auf die Einhaltung von Formalitäten legt.133 In Bámaca Velásquez wurden auch Dokumente zugelassen, die mit deutlicher zeitlicher Verspätung durch Guatemala eingereicht wurden.134 Bei der Evaluierung der Beweise beruft sich der Gerichtshof auf das Prinzip des „sound criticism“, welches dem spanischem Rechtsraum entspringt.135 Die Beurteilung der Beweismittel unterliegt nach diesem Prinzip keinen strikten Regeln, sondern wird an Hand von Logik und allgemeinen menschlichen Erfahrungen vorgenommen.136 Dieses Prinzip entspricht im Wesentlichen dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung.137 1. Zulässige Beweise Die Zulassung von Beweisen folgt vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof weniger strengen Formalitäten als in nationalen Verfahren. Die Verfahrensord-
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Art. 58 VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. Cavallaro/Brewer, The American Journal of International Law, Vol. 102, No. 4, 2008, 793. 131 Art. 57 Abs. 2 VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 132 Eine Ausnahme von dieser Regel nennt bereits Art. 58 Abs. 2 der VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes. 133 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 33; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 96. 134 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 111 f. 135 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 33; an anderer Stelle spricht das Gericht auch von „rules of reasonable credit“ und „sound judgement“. 136 Bovino, S. 66; Benzing, S. 501. 137 In Velásquez Rodriguez stellt der Gerichtshof ausdrücklich fest, dass internationale Gerichte die Ermächtigung haben „to weight the evidence freely“, Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 127. 130
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nung, die er sich selbst gegeben hat, enthält keine Regelung darüber, welche Erkenntnismittel zu Beweiszwecken zulässig sind. Deshalb wird anhand des spezifischen Falls über die Zulassung bestimmter Beweise unter Berücksichtigung der Feststellung der „historical truth“ entschieden.138 Der Gerichtshof führt in der Regel ein de novo-Verfahren durch, bei dem nicht nur die schriftlichen Dokumente des Verfahrens vor der Kommission berücksichtigt werden, sondern auch eine mündliche Verhandlung stattfindet.139 Dabei werden eine Vielzahl verschiedener Beweismittel zugelassen, die sowohl mündlicher (a), als auch schriftlicher (b) Natur sein können. Der Gerichtshof bezieht dabei auch indirekte Beweise mit ein (c). a) Zeugenbeweis und Sachverständige Zeugenaussagen spielen vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof in Fällen des Verschwindenlassens eine zentrale Rolle. Dies ist insbesondere der Tatsache geschuldet, dass es aufgrund der staatlichen Verschleierung oftmals keine Dokumente gibt, die als Beweismittel herangezogen werden könnten.140 Auch deshalb hat der Gerichtshof ein breites Spektrum an Zeugen zugelassen. Neben den Familienangehörigen eines Verschwundenen die in allen Fällen die Möglichkeit zur Aussage hatten, wurden unter anderem auch Augenzeugen, Militärangehörige oder Anwälte, die an den Fällen gearbeitet hatten, angehört.141 Die Parteien können Vorbehalte gegen die Zeugen vorbringen, allerdings ist eine Zeugenaussage nicht alleine deshalb unglaubwürdig, weil der Zeuge, zum Beispiel ein Familienangehöriger des Verschwundenen, ein eigenes Interesse an dem Verfahren hat. Ihre Aussagen werden nicht alleine, sondern immer in der Gesamtschau mit weiteren Beweismitteln bewertet.142 Eine grundsätzliche Befangenheit aufgrund ideologischer Gründe, Nationalität oder Herkunft wird 138 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 65; SerranoCruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 39; Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 63. 139 Generell findet bei jedem Verfahren eine mündliche Verhandlung statt, allerdings hat der Anstieg an Fällen vor dem Gerichtshof zu einer Beschränkung der angesetzten Verhandlungstage geführt, Pasqualucci, S. 5, 159 f. 140 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 131. 141 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 28; Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 30; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar, 2011, Abs. 34. 142 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 57; 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 79; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 26.
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durch den Gerichtshof nicht angenommen.143 Einige Zeugen sind aufgrund einer bestimmten Bedrohungslage oder der mit dem Verschwindenlassen zusammenhängenden psychologischen Belastung nicht in der Lage, eine Aussage vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof abzulegen. Videoaufzeichnungen solcher Zeugenaussagen hat der Gerichtshof für unzulässig erklärt, da die Überprüfung der Identität des Zeugen verhindert würde. Zudem könne ein Zeuge bei diesem Verfahren nicht vereidet werden und eine direkte Befragung durch die Richter sei nicht möglich.144 Es besteht jedoch die Möglichkeit, notariell beglaubigte Aussagen einzureichen, die verwertbar sind, vom Gerichtshof jedoch nicht als Zeugenbeweis sondern als „documentary evidence“ gewertet werden.145 Eidesstattliche Erklärungen, die nicht vor einem Notar abgegeben wurde, haben Berücksichtigung gefunden, wenn der Gerichtshof dadurch die Rechtssicherheit und die Garantie auf einen ausgewogenen Prozess nicht nachteilig berührt sah.146 Eine Zeugenbefragung kann auch an einem anderen Ort als dem Gerichtshof durchgeführt werden. Im Fall Bámaca Velásquez wurden zwei Zeugen in den Räumlichkeiten des OAS Hauptsitzes in Washington gehört.147 Die Aussage eines Zeugen kann auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen. In den ersten Fällen gegen Honduras genehmigte der Gerichtshof eine Vernehmung von zwei Militäroffizieren aus Sicherheitsgründen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber unter Beteiligung der Parteien.148 Ob auch anonyme Zeugenaussagen durch den Gerichtshof berücksichtigt werden, ist bisher nicht entschieden worden. Allein im Fall Castillo-Páez sah sich der Gerichtshof mit anonymen Zeugenaussagen konfrontiert. Dem staatlichen Einwand folgend, gab die Kommission jedoch die Namen bekannt, weshalb der Einwand zurückgewiesen wurde.149 Aufgrund der Gefährdungslage, in der sich einige Zeugen befinden, sollte der Gerichtshof unter bestimmten Umständen auch anonyme Zeugenaussagen zulassen, ihnen jedoch ein geringeres Beweismaß zumessen. Zudem werden Zeugen vom Hörensagen durch den Gerichtshof vernommen. Viele Familienangehörige verschwundener Personen haben bei Einreichung der Beschwerde jahrelange Anstrengungen hinter sich, um die Geschehnisse im Zu143
Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 142 ff. Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 103. 145 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 108. 146 Mapiripán Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparation, and Costs, Urteil vom 15. September 2005, Abs. 82. 147 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 44. 148 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 31 ff.; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 33 ff.; FairénGarbi und Solís-Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Abs. 32 ff. 149 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 24 ff. 144
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sammenhang mit dem Verschwindenlassen aufzuklären. Oftmals haben sie eigene Ermittlungen angestellt, Zeugen befragt und sich mit anderen Opfern in Verbindung gesetzt.150 Dadurch haben sie zuweilen wertvolle Informationen für die Entscheidung dieser Fälle zusammen getragen und können bedeutende Zeugen sein. Der Gerichtshof lässt Zeugen von Hörensagen zu, allerdings beurteilt er diese Zeugenaussagen „in a broad sense“.151 Der Gerichtshof hat auch eine Vielzahl an Sachverständigen zugelassen. Historiker und Journalisten haben Auskunft über die Struktur der Repressionen und die begangenen Menschenrechtsverletzungen gegeben. Mit zunehmender Fokussierung des Gerichtshofes auf die Auswirkungen des Verschwindenlassens bei den Angehörigen sind Psychologen und Ärzte als Sachverständige befragt worden.152 b) Schriftliche Beweismittel Obwohl Staaten, die sich dem Verschwindenlassen als Unterdrückungsmechanismus bedienen, in der Regel darum bemüht sind, Dokumente, die einen Fall nachweisen könnten zu vernichten, konnte der Gerichtshof auf eine Vielzahl verschiedener indirekter schriftlicher Beweismittel zurückgreifen. Zur Darlegung einer systematischen Praxis des Verschwindenlassens in einem Land sind Berichte von Menschenrechtsorganisationen sowie von landes- oder themenspezifischen Berichterstattern und Arbeitsgruppen der Menschenrechtskommission bzw. des heutigen Menschenrechtsrates herangezogen worden.153 Auch die Ergebnisse nationaler Aufarbeitungsbemühungen, wie beispielsweise durch Wahrheitskommissionen werden einbezogen.154 Alle Dokumente, die dem Gerichtshof vorgelegt 150 Zuweilen sind aus diesen Zusammenschlüssen einflussreiche NGOs entstanden wie beispielsweise die Madres de la Plaza die Mayo oder das Comité de Familares de Detenidos Desaparecidos en Honduras (COFADEH). 151 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 46; detailliert über die Zulassung von Hörensagen siehe Drucker, 25 Stan. J. Int’l L. 289, S. 308. 152 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 72 g; SerranoCruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 35; Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 65; Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 39. 153 Beispielsweise Berichte der UN-Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 91 b; ein Bericht des UN-Sonderberichterstatters über willkürliche Hinrichtungen, 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 131; Bericht über die Situation in Kolumbien des Hochkommissars für Menschenrechte, Mapiripán Massacre v. Columbia, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 15. September 2005, Abs. 90; Bericht des Sonderberichterstatters über Folter, Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 79. 154 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Reparations, Costs, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 88; Abs. 48 (1); La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs,
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werden, müssen jedoch einen gewissen Mindeststandard erfüllen, damit sie von diesem berücksichtigt werden. Dies setzt zunächst voraus, dass die Authentizität der Dokumente überprüfbar und ihre Herkunft klar erkennbar ist. Zudem muss bekannt sein, wie die Dokumente erlangt wurden.155 Konnten die Überreste eines Verschwundenen aufgefunden werden, spielen forensische Untersuchungen und Autopsieberichte eine wesentliche Rolle. Sie helfen bei der Rekonstruktion der letzten Tage und Stunden des Opfers vor seiner Ermordung. Nicht selten werden die Überreste einer Person jedoch erst nach vielen Jahren aufgefunden, welche dann nicht ohne weiteres identifizierbar sind, sodass die Identität des Opfers anhand einer forensische Untersuchung geklärt werden muss.156 Informationen und Beweise, die in nationalen Verfahren gesammelt wurden, bezieht der IAGMR in der Tatsachenfeststellung ebenfalls mit ein.157 Zwischen dem Verschwindenlassen und der Verhandlung vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof vergehen in der Regel mehrere Jahre, in denen nicht selten ein Demokratisierungsprozess in den Ländern stattgefunden hat oder Länder sich erst nach einem solchen der Zuständigkeit des Gerichtshofes unterworfen haben. Die daraufhin erfolgte nationale Aufarbeitung wird vom Gerichtshof aufgegriffen. In Anzualdo Castro betonte er die Widersprüche zwischen den im Verfahren vorgebrachten Argumenten und einem durch Peru vorangetriebenen Antrag auf Auslieferung des ehemaligen Diktators Fujimori. Während sich der Staat vor dem Gerichtshof darauf berief, mit dem Verschwindenlassen von Anzualdo Castro nicht in Verbindung zu stehen, erging aus dem Auslieferungsantrag, dass sich dieser nach seiner Verhaftung in einem Haftzentrum des peruanischen Geheimdienst befunden hatte. Dass es sich dabei um zwei unterschiedliche Verfahren handelte hielt der Gerichtshof für irrelevant.158 Amicus curiae briefs von NGOs spielen im Inter-Amerikanischen System eine wesentliche Rolle. Seit Inkrafttreten der neuen Verfahrensordnung des Gerichtshofes in 2009159 sind amicus curiae-Stellungnahmen explizit geregelt, aber auch Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (2) ff.; Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 83. 155 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 105; Mapiripán Massacre v. Columbia, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 15. September 2005, Abs. 91; dazu im Detail auch Separate Concurring Opinion of Judge García Ramírez, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 26 ff. 156 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 48, 91 c. 157 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 91 e. 158 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 43 f. 159 Art. 44 der VerfO des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes.
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davor wurden sie vom Gerichtshof, insbesondere bei der Tatsachenfeststellung des Verschwindenlassens berücksichtigt160. In den letzten Jahren wurden von NGOs zunehmend amicus curiae briefs eingereicht, um den Gerichtshof bei seiner Urteilsfinden zu unterstützen.161 Grundsätzlich keine verwertbaren Beweise stellen Zeitungsausschnitte dar. Sie können jedoch herangezogen werden, wenn sie öffentlich bekannte Informationen enthalten oder öffentliche Äußerungen, insbesondere von hochrangigen Militärangehörigen oder Regierungsmitgliedern wiedergeben.162 Der Gerichtshof bezieht sich insoweit auf die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes, der Zeitungsartikeln ebenfalls keinen eigenständigen Beweiswert einräumt. Dennoch wurden sie als Indizien herangezogen, um eine Praxis des Verschwindenlassens nachzuweisen.163 c) Mittelbare Beweise Mittelbare Beweise sind in Fällen des Verschwindenlassens von großer Bedeutung, da es in der Regel an direkten Beweisen fehlt. Das Verschwindenlassen ist davon gekennzeichnet, dass keine unmittelbaren Beweise auffindbar sind, die den Tod des Opfers sowie die damit verbundene Verantwortlichkeit des Staates nachweisen. Die sterblichen Überreste eines Opfers sind oft auch viele Jahrzehnte nach seinem Verschwinden noch nicht aufgefunden, Zeugenaussagen, die eine Hinrichtung belegen, fehlen und der beschwerdegegnerische Staat behindert oft durch unkooperatives Verhalten die Ermittlung wichtiger Beweise. Diese Beweisnot des Beschwerdeführers hat den Inter-Amerikanischen Gerichtshof dazu veranlasst, zur Tatsachenermittlung auch indirekte Beweise heranzuziehen, solange diese zu Ergebnissen führen, die im Einklang mit den Fakten stehen. In Velásquez Rodríguez stellte der Gerichtshof fest: „When the existence of such a policy or practice has been shown, the disappearance of a particular individual may be proved through circumstantial or indirect evidence 160 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 38, 64; Mapiripán Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 15. September 2005, Abs. 41 ff. 161 González v. Mexiko, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 14; Usón Ramírez v. Venezuela, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 20. November 2009, Abs. 10; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 8. 162 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 146; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 133; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 25. 163 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 146; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 133.
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or by logical inference. Otherwise, it would be impossible to prove that an individual has been disappeared.“ 164
Die Bedeutung von Anscheinsbeweisen und Indizien beim Verschwindenlassen betonte der Gerichtshof noch ein weiteres Mal im Velásquez Rodríguez-Urteil: „Circumstantial or presumptive evidence is especially important in allegations of disappearances, because this type of repression is characterized by an attempt to suppress all information about the kidnapping or the whereabouts and fate of the victim.“ 165
Als mittelbare Beweise zieht der Gerichtshof zunächst heran, ob in dem jeweiligen Land eine systematische Praxis des Verschwindenlassen existierte und ob der Verschwundene zum gefährdeten Personenkreis gehört, sowie ob sein Verschwinden dem selben Muster entspricht.166 Ein weiteres wichtiges Indiz ist, ob die Verhaftung durch staatliche Behörden erfolgte. Wurde der Verschwundene zuletzt in staatlicher Obhut gesehen, wird dies als mittelbarer Beweis für deren Verantwortlichkeit gewertet.167 Für den Tod des Verschwundenen kann auch der Zeitraum sprechen, der seit seinem Verschwindenlassen vergangen ist.168 Seit dem Ende der 90iger Jahre, aufgrund demokratischer Reformen in vielen lateinamerikanischen Ländern, erkannten die meisten Staaten in den Verfahren vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof ihre Verantwortlichkeit für das Verschwindenlassen an, sodass die Beweisschwierigkeiten, in den Hintergrund traten. In dem 2012 entschiedenen Fall González Medina und Familie v. Dominikanische Republik wurde die Frage erneut virulent, insbesondere weil eine systematische Praxis des Verschwindenlassens nicht vorlag und der Staat eine Mitwirkung leugnete. Der Gerichtshof stützte sich auf verschiedene indirekte Beweise, um ein Verschwindenlassen nachzuweisen.169 Zunächst untersuchte er den politischen und sozialen Kontext zum Zeitpunkt des Verschwindenlassens von González Me164
Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 124. Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 131; das wird durch den Gerichtshof ebenso betont in Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 51. 166 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 132, 173; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 47 ff. 167 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 188; Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 71; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 173. 168 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 188; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 198; Neira-Alegría et al. v. Peru, Merits, Urteil vom 19. Januar 1995, Abs. 76; Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 71; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 173. 169 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 136. 165
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dina, denn obwohl ein weniger repressives Regime an der Macht war, herrschte in der Dominikanischen Republik ein Klima politischer Spannung. Diese beinhaltete die Überwachung politischer Gegner und Regierungskritiker sowie eine Praxis widerrechtlicher Inhaftierung und Folter.170 Ein weiteres Indiz für das Verschwinden González Medina, ein bekannter Kritiker der Regierung, der seine Meinung in den Medien und Vorträgen weit verbreitete, war sein Einfluss auf die dominikanische Gesellschaft. Daraus folgerte der Gerichtshof, dass er einer erhöhten Gefahr ausgesetzt war, staatlichen Repressalien zum Opfer zu fallen.171 Unterstützt wurde dies durch Hinweise, dass er vor seinem Verschwindenlassen unter Beobachtung stand.172 Ganz wesentlich waren die Aussagen von Zeugen, die González Medina in staatlichem Gewahrsam gesehen haben wollen.173 Zuletzt berücksichtigt der Gerichtshof auch die Tatsache, dass der Sachverhalt auch 17 Jahre nach dem Verschwinden nicht aufgeklärt worden war und die Dominikanische Republik keine gegenteiligen Beweise darbringen konnte.174 2. Beweismaß Weder die Amerikanische Menschenrechtskonvention, noch das Statut des Gerichtshofes oder seine Verfahrensregeln legen fest, welches Beweismaß vom Gerichtshof heranzuziehen ist. Das in der internationalen Rechtsprechung angelegte Beweismaß ist jedoch weniger formalistisch und streng im Vergleich zu nationalen Verfahren.175 Nationale Regeln bezüglich der Beweiserhebung und des Beweismaß können nicht automatisch auf die international Ebene übertragen werden.176 In Velásquez Rodríguez betont der Gerichtshof insbesondere den Unterschied zwischen dem internationalen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen und nationalen Strafverfahren:
170 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 137 ff. 171 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 145 ff. 172 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 151 ff. 173 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 155 ff. 174 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 169. 175 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988; GodínezCruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 134; Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 45; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 97. 176 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 132; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 138; Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Abs. 134.
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„The international protection of human rights should not be confused with criminal justice. States do not appear before the Court as defendants in a criminal action. The objective of international human rights law is not to punish those individuals who are guilty of violations, but rather to protect the victims and to provide for the reparation of damages resulting from the acts of the States responsible.“ 177
In internationalen Menschenrechtsverfahren ist somit ein Beweismaß heranzuziehen, das geringer ist als in Strafverfahren. In der Entscheidung González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, stellte der Gerichtshof explizit fest, was zuvor aus seinen Entscheidungen gefolgert werden konnte: Ein Verschwindenlassen muss nicht „beyond reasonable doubt“ (Grundsatz der vollen richterlichen Überzeugung) nachgewiesen werden: „It is not necessary to prove the State’s responsibility beyond all reasonable doubt or to identify, individually, the agents to which the violations are attributed; rather it is sufficient to demonstrate that acts or omissions have been verified that have allowed the perpetration of these violations or that a State obligation exists that the State has failed to meet.“ 178
Der Gerichtshof legt danach ein geringeres Beweismaß als den „beyond reasonable doubt“ Standard an. Hierbei berücksichtigt der Gerichtshof insbesondere, dass es sich beim Verschwindenlassen um eine der grausamsten Menschenrechtsverletzungen handelt. „The Court cannot ignore the special seriousness of finding that a State Party to the Convention has carried out or has tolerated a practice of disappearances in its territory. This requires the Court to apply a standard of proof which considers the seriousness of the charge and which, notwithstanding what has already been said, is capable of establishing the truth of the allegations in a convincing manner.“ 179
Ein angemessenes Beweismaß ist nach Ansicht des IAGMR ein solches, das unter Berücksichtigung der Schwere des Verbrechens für die Aufklärung des Sachverhalts am besten geeignet ist und Anscheinsbeweise sowie Schlussfolgerungen zulässt. Dadurch impliziert der Gerichtshof eine Absenkung des Beweismaßes in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen. Als Überzeugungsgrad der Richter ist es jedoch nicht ausreichend, wenn die Beweise auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit hindeuten, sondern sie müssen auch überzeugend sein. Das Beweismaß in Fällen des Verschwindenlassen ist somit strenger als der Maßstab der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (preponderance of the evidence), jedoch auch niedriger als der Grundsatz der vollen richterlichen Überzeugung (beyond reasoable doubt). Das dazwischenliegende Maß des „clear and convincing evidence“ scheint der IAGMR seinen Entscheidungen zum Verschwinden177
Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 134. González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 133. 179 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 129. 178
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lassen zu Grunde zu legen, auch wenn es in keinem Urteil explizit benannt wird.180 3. Beweislast und Beweiserleichterung Die Frage der Beweislast wird weder durch die Amerikanische Menschenrechtskonvention noch durch die Verfahrensordnungen des Gerichtshofs oder der Kommission explizit geregelt.181 Grundsätzlich trägt jede Partei die Beweislast für die Tatsachen, auf die sie sich stützt.182 Danach obliegt es der Kommission und dem Beschwerdeführer, das Verschwindenlassen einer Person nachzuweisen. Dies ist jedoch nicht nur aufgrund der Komplexität des Delikts, sondern auch wegen den entgegenstehenden Interessen des Staates an einer Sachverhaltsaufklärung schwer zu bewerkstelligen. Deshalb nimmt der Gerichtshof in Fällen des Verschwindenlassens eine Verschiebung der Beweislast und Beweiserleichterungen zu Gunsten der Kommission bzw. des Beschwerdeführers an. Anknüpfungspunkt für Beweiserleichterungen ist das Vorliegen einer systematischen Praxis des Verschwindenlassens in einem Land (a), mangelnde Kooperation der Staaten im Verfahren (b) und eine nachgewiesene Inhaftierung des Verschwundenen durch den Staat (c). a) Systematische Praxis des Verschwindenlassens Bereits im ersten Fall vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof, Velásquez Rodriguez, legte die Kommission einen wesentlichen Schwerpunkt auf die Darlegung einer systematischen Praxis des Verschwindenlassens.183 In Velásquez Rodríguez stellt der IAGMR fest: „If it can be shown that there was an official practice of disappearances in Honduras, carried out by the Government or at least tolerated by it, and if the disappearance of Manfredo Velásquez can be linked to that practice, the Commission’s allegations will have been proven to the Court’s satisfaction, so long as the evidence presented on both points meets the standard of proof required in cases such as this.“ 184
180 Ebenso Buergenthal, Fact-Finding, S. 271 f.; Shelton, 12. Fordham Int’l LJ. 1988–1989, S. 386 f.; Drucker, 25 Stan. J. Int’l L. 289, S. 306 f. 181 Eine Ausnahme stellt die Beweislastregel des Art. 38 der Verfahrensordnung der Inter-Amerikanischen Kommission dar; siehe 4. Teil, B., I., 3., b). 182 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 123; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 129; Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Abs. 126. 183 Die Kommission präsentierte sechs Zeugen die über die systematische Praxis des Verschwindenlassens in Honduras aussagten sowie sieben weitere die das Fehlen effektiver nationaler Rechtsmittel bezeugten. Hingegen wurden nur zwei Zeugen benannt, die spezielle Angaben zum Verschwinden Velásquez Rodríguez machten, Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs.28. 184 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 126.
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Damit etablierte der Gerichtshof ein zweistufiges Verfahren, um in Fällen des Verschwindenlassens zu einer gerechten Verteilung der Beweislast zu gelangen. Zunächst ist die systematische Praxis des Verschwindenlassens nachzuweisen, um im nächsten Schritt den Verschwundenen mit dieser Praxis in Verbindung zu bringen. Dabei ist nicht notwendig, dass der Staat ein Verschwindenlassen vornahm, sondern lediglich, dass es toleriert wurde. Für das Vorliegen einer systematischen Praxis stellt der Gerichtshof in Velásquez Rodríguez vier Voraussetzungen auf: Es bedarf einer signifikanten Fallzahl (1),185 das Verschwindenlassen muss einem ähnlichem Ablauf folgen (2), unter staatlicher Beteiligung ablaufen (3) und eine systematische Methode aufweisen (4).186 Wann genau eine systematische Methode nachgewiesen ist bestimmt der Gerichtshof nicht. Entscheidungserhebliche Faktoren sind jedoch die Konzentration des Verschwindenlassens auf bestimmte durch den Staat als gefährlich eingestufte Personengruppen, die nachweisliche Beteiligung des Staates an der Inhaftierung, die Folterung der Opfer, verbunden mit ihrer anschließenden Ermordung, sowie das systematische Leugnen der Inhaftierung durch staatliche Stellen und mangelnde Ermittlungen.187 An den Nachweis dieser systematischen Praxis stellt der Gerichtshof keine hohen Anforderungen. Es müssen keine unmittelbaren Beweise für eine solche Praxis vorliegen, Indizien sind als Nachweis ausreichend. Zudem wird Zeugenaussagen ein hoher Beweiswert zugeschrieben.188 In seinen jüngeren Urteilen konnte der Gerichtshof vermehrt auf die Ergebnisse nationaler Wahrheitskommissionen zurückgreifen, die in ihren Berichten eine systematische Praxis des Verschwindenlassens nachwiesen.189 Nachdem eine systematische Praxis des Verschwindenlassens nachgewiesen ist, muss in einem zweiten Schritt die verschwundene Person mit dieser Praxis in Verbindung gebracht werden. Der Nachweis des Zusammenhangs zwischen dem Verschwindenlassen einer Person und der systematischen Praxis in einem Land kann durch Anscheinsbeweise, indirekte Beweise und logische Schlussfolgerun-
185 Als notwendige Fallzahlen ließ der Gerichtshof in Velásquez Rodríguez 100 bis 150 verschwundene Personen in einem Zeitraum von drei Jahren genügen, Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147. 186 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147. 187 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147; Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.1. ff.; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 43 f. 188 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 131 f. 189 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 88; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 48.
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gen erfolgen.190 Der Gerichtshof stützt sich dabei nicht auf abstrakte Vorgaben, sondern entscheidet viel mehr fallbasiert. Dabei wurden bestimmte Kriterien entwickelt, die für eine Verbindung zwischen Einzelfall und systematischer Praxis sprechen. Entscheidungserheblich ist dabei, ob die Person zur Gruppe der vom Verschwindenlassen besonders betroffenen Personen gehört.191 Dies sind insbesondere Menschen, die durch den Staat als für die nationale Sicherheit gefährlich eingestuft werden. Dabei wird berücksichtigt, ob der Verschwundene zuvor Drohungen erhalten hat oder unter Beobachtung stand.192 Mit einbezogen wird zudem, ob im konkreten Fall ein für das Verschwindenlassen charakteristisches Abstreiten der Verantwortlichkeit von staatlicher Seite erfolgte.193 Von großer Bedeutung sind vor allem die Umstände, unter der die Person zuletzt gesehen wurde. Erfolgte die Verhaftung in der Art, wie es der systematischen Praxis des Verschwindenlassen entspricht, ist dies ein Hinweis.194 In Velásquez Rodríguez gelang dieser Nachweis. Der Gerichtshof stützte sich wesentlich auf die Tatsache, dass es sich bei dem Verschwundenen um einen Studenten handelte, der in Aktivitäten verstrickt war, die von der Regierung als „gefährlich“ für die nationale Sicherheit bezeichnet wurden und das modus operandi der generellen systematischen Praxis in Honduras glich.195 Anders entschied er hingegen wenige Monate später im Fall Fairén-Garbi und Solís-Corrales ebenfalls betreffend Honduras. Der IAGMR bejahte zwar die systematische Praxis des Verschwindenlassens in Honduras, fand einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der beiden Costa Ricaner jedoch als unzureichend nachgewiesen.196 Im wesentlichen Unterschied zu Velásquez Rodríguez, konnte nicht festgestellt werden, ob eine Verhaftung in Honduras stattgefunden hatte. Mehrere Hinweise deuteten darauf hin, dass die beiden Verschwundenen Honduras in Richtung Guatemala wieder verlassen hatten. Obwohl es diesbezüglich mehrere Widersprüche gab und auch Honduras und Guatemala eine Ausreise zunächst bestritten, gelang es der Kommission nicht im ausreichenden Maße nachzuweisen, dass Francisco Fairén in honduranischer Haft war.197 Zudem gab es keine Beweise, dass es sich bei den
190 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 49; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 130. 191 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147. 192 Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 154. 193 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar, 1989, Abs. 154. 194 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar, 1989, Abs. 154. 195 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147g. 196 Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Abs. 157. 197 Das Gericht bezeichnet die Hinweise für eine Verhaftung als „a mere reference and very circumstantial“, Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Abs. 158.
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beiden um vom Verschwindenlassen gefährdete Personen handelte oder dass sie unter Beobachtung standen.198 Der Gerichtshof schreibt mithin den indirekten Beweisen beim Verschwindenlassen einen hohen Beweiswert zu, verlangt anderseits jedoch zudem, dass ausreichende Beweise vorgelegt werden, um das Verschwinden des Opfers mit der offiziellen Praxis in Verbindung zu bringen. Das Urteil im Fall Taqi geht davon aus, dass durch den Nachweis einer systematischen Praxis eine Beweislastumkehr erfolgt.199 Argumente für diese Sichtweise werden nicht angeführt. Der Wortlaut der Entscheidungen besagt, dass „this specific disappearance may be considered to have been proven“ und die Behauptung der Kommission „will have been proven to the Court’s satisfaction“. Diese Wortwahl deutet jedoch vielmehr darauf hin, dass durch den IAGMR eine widerlegbare tatsächliche Vermutung aufgestellt wird, dass ein staatliches Verschwindenlassen vorliegt. Die Beweisführungslast verlagert sich dann auf den Staat, der durch gegenteilige Beweise diese Vermutung entkräften kann. b) Mangelnde Kooperation des Staates Insbesondere die ersten Fälle des IAGMR zum Verschwindenlassen richteten sich gegen Staaten, die noch aktiv von dieser Unterdrückungsmethode Gebrauch machten. In den ersten drei Fällen des Gerichtshofs war Honduras zu einer Kooperation nur widerwillig bereit und erschwerte darüber hinaus die Ermittlung von Beweisen durch die Beschwerdeführer und ihre Anwälte.200 Obwohl die Kommission investigativ tätig werden kann, ist sie auf die Mitarbeit der betroffenen Staaten angewiesen, denn diese üben in der Regel die Kontrolle über die benötigten Beweismittel aus.201 Die Verfahrensordnung der InterAmerikanischen Kommission legt in Art. 38 fest, dass Tatsachen, auf die der Staat innerhalb einer von der Kommission gesetzten Frist nicht reagiert hat, als wahr zu vermuten sind. Durch diese widerlegbare Vermutung soll der Tatsache 198 Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Abs. 158. 199 Taqi, 24 Fordham Int’l LJ. 2000, S. 961 f. 200 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 137; Méndez und Vivanco beschreiben das Verhalten Honduras wie folgt: „lts delegation attended every hearing and used its opportunities to cross-examine witnesses and to make legal and factual arguments. But it was totally uncooperative with the Commission and later with the Court in providing any useful information or facilitating the gathering of evidence. In addition to a performance by its attorneys that, to be generous, can be regarded as lackluster, Honduras participated in the case without any interest in finding out the truth or in contributing to the development of an important protection mechanism. Repeated press Statements by government officials (including some who participated as attorneys for Honduras) made it clear that the government thought that it deserved great credit for not pulling out of the proceedings altogether.“, Méndez/Vivanco, 13 Hamline Law Review, S. 540 f. 201 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 152.
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Rechnung getragen werden, dass der Staat Gründe für die Missachtung seiner Kooperationspflichten hat. In Velásquez Rodríguez bezieht sich der Gerichtshof auf die eigentlich nur für die Kommission geltende Vermutung, um die mangelnde Mitwirkung Honduras zu beurteilen. Dabei stellt er zunächst fest, dass sich der Staat in völkerrechtlichen Verfahren zum Schutz der Menschenrechte nicht auf das Fehlen von Beweisen berufen kann, wenn diese ohne staatliche Kooperation nicht erlangt werden können.202 Der Gerichtshof geht im Folgenden noch einen Schritt weiter: „The manner in which the Government conducted its defense would have sufficed to prove many of the Commission’s allegations by virtue of the principle that the silence of the accused or elusive or ambiguous answers on its part may be interpreted as an acknowledgment of the truth of the allegations, so long as the contrary is not indicated by the record or is not compelled as a matter of law.“ 203
Dies führt zu einer Vermutung gegen den Staat, die von den Richtern im Wege der Beweiswertung zu berücksichtigen ist. Von einer Beweislastumkehr war in diesen und vielen nachfolgenden Urteilen nicht direkt die Rede; dies wurde durch den Gerichtshof jedoch angedeutet.204 In der Entscheidung Durand und Ugarte v. Peru wird die Verschiebung der Beweislast auf den Staat erstmals explizit benannt, da dieser in einer besseren Position ist Beweismittel beizubringen.205 Allerdings handelt es sich bei dieser Entscheidung um keinen klassischen Fall des Verschwindenlassens, sondern die Betroffenen waren Strafgefangene in einem offiziellen Gefängnis und verschwanden im Zusammenhang mit einer Gefängnisrevolte. Es stand somit fest, dass die Personen sich in staatlicher Obhut befanden. Aber auch in der Entscheidung Bámaca-Velásquez sprach sich der Gerichtshof unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschuss für eine Umkehr der Beweislast aus.206 Dem Staat ist es jedoch möglich, gegenteilige Beweise vorzubringen. Eine weite Zulässigkeit von Beweisen und die richterliche Anordnung zusätzlicher Beweiserhebungen soll diesen beweisrechtlichen Änderungen zum Nachteil des Staates Rechnung tragen.207 Ziel dieser Verschiebung ist außerdem, den Regierungen zu verdeutlichen, dass die Verweigerung der Mitarbeit zu ihren eigenen Lasten berücksichtigt wird.208 202
Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 135. Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 138. 204 Claude, 5 Intercultural Hum. Rts. L. Rev. 407 2010, S. 416 f. 205 Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 65 „. . . the burden of proof falls upon the State“. 206 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 152 ff.; ebenso Separate Concurring Opinion of judge García Ramírez, BámacaVelásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 30 ff. 207 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 138. 208 Drucker, 25 Stan. J. Int’l L. 289, S. 317. 203
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In diesem Zusammenhang betont der Gerichtshof auch die Bedeutung beigebrachter Indizien, bei gleichzeitigem Fehlen gegenteiliger Beweise durch den Staat: „. . . the State has not provided evidence to the proceedings in this case that would contradict the existence of the forced disappearance of Mr. González Medina, the Court considers it reasonable to accord significance to the evidence and the series of indications that emerge from the casefile concerning the perpetration of the forced disappearance of Mr. González Medina by State authorities. To conclude the contrary would mean allowing the State to shield itself behind the negligence and ineffectiveness of the criminal investigation to evade its international responsibility.“ 209
Wenn der Staat sich weigert, die Leiche eines Verschwundenen aufzuspüren, so können aus diesem Unterlassen negative Schlüsse gezogen werden. In Fairén Garbi und Solís Corrales gab es Hinweise darauf, wo sich die Leiche von Fairén Garbi befinden könnte. Durch die Regierung Honduras wurde eine Lokalisierung und Exhumierung trotz wiederholter Anfragen verhindert. Nach Ansicht des Gerichtshofes kann dieses Verhalten zu einer Vermutung der staatlichen Verantwortung führen. Im Lichte weiterer Beweise, die in eine andere Richtung deuteten, reichte diese Vermutung allein als Nachweis einer staatliche Beteiligung jedoch nicht aus.210 Es obliegt somit dem Staat, nachzuweisen, was mit einer verschwundenen Person geschehen ist. Dieser kann nicht lediglich die Kooperation mit dem Gerichtshof verweigern. Zudem wird Indizien ein Beweiswert zugesprochen und aus bestimmten Handlungen des Staates können negative Schlüsse gezogen werden. c) Inhaftierung durch den Staat Des Weiteren stellt sich die Frage, ob der Kommission Beweiserleichterungen zukommen sollten, wenn sich die verschwundene Person zuletzt nachweislich in staatlichem Gewahrsam befand. Der IAGMR zeigte sich dabei zunächst zurückhaltend. Im Fall Neira-Alegría et al. v. Peru, in dem Gefangene im Rahmen einer brutalen Niederschlagung eines Gefängnissaufstandes verschwanden, beschäftigte sich der Gerichtshof erstmalig mit der Beweislastverteilung bei einem Verschwinden einer Person in staatlicher Obhut: „The Court feels that it is not up to the Inter-American Commission to determine the whereabouts of the three persons to whom these proceedings refer, but instead, because of the circumstances at the time, the prisons and then the investigations were under the exclusive control of the Government, the burden of proof therefore corresponds to the defendant State.“ 211 209 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 169. 210 Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Abs. 160. 211 Neira-Alegría et al. v. Peru, Merits, Urteil vom 19. Januar 1995, Abs. 65.
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Diese Formulierung lässt darauf schließen, dass unter bestimmten, nicht weiter konkretisierten Umständen eine Beweislastumkehr zu Gunsten der Kommission bzw. den Vertretern der Opfer stattfindet. Dennoch wandte der Gerichtshof diese beweisrechtlichen Erleichterungen in den nachfolgenden Entscheidungen nicht weiter an. In Castillo-Paez beispielsweise, sah der Gerichtshof die Verhaftung durch staatliche Organe als erwiesen an.212 Bei der Feststellung der staatlichen Verantwortlichkeit für die Ermordung des Opfers bezieht er sich jedoch nicht auf eine Beweislastumkehr bei Haft und Ausübung staatlicher Kontrolle über den Verschwundenen, sondern zieht generellere Überlegungen heran.213 Erst mit der Etablierung einer ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,214 nach der Beweiserleichterungen angenommen werden, wenn das Opfer sich zuletzt unter staatlicher Kontrolle befand, wandte auch der InterAmerikanische Gerichtshof diese Möglichkeit an.215 In Humberto Sánchez konkretisierte der Gerichtshof, unter Bezugnahme auf die Entscheidungspraxis des EGMR, welche Umstände zu einer Umkehr der Beweislast führen: „In this regard, if a person was detained in good health conditions and subsequently died, the State has the obligation to provide a satisfactory and convincing explanation of what happened and to disprove accusations regarding its responsibility, through valid evidence, because in its role as guarantor the State has the responsibility both of ensuring the rights of the individual under its custody and of providing information and evidence pertaining to what happened to the detainee.“ 216
Obwohl der Gerichtshof auf die Rechtsprechung des EGMR verweist, der in solchen Fällen lediglich eine wiederlegbare Vermutung annimmt,217 deutet der Wortlaut jedoch auf eine Beweislastumkehr hin. Zudem bewertet der IAGMR die Beweislast bei nachgewiesener Inhaftierung des Verschwundenen immer in engen Zusammenhang mit der staatlichen Kooperationspflicht. Bei der zuvor zitierten Stelle aus der Entscheidung Humberto Sánchez verweist der Gerichtshof in der Fußnote nicht nur auf die Entscheidungen des EGMR, sondern auch auf eigene Entscheidungen in den Fällen Durand und Ugarte v. Peru, Godínez Cruz v. Honduras und Velásquez Rodríguez v. Honduras. In diesen bezog sich der Gerichtshof jedoch ausdrücklich nicht auf die Verhaftung des Opfers als Anknüp212
Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 71. Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 73 f. 214 Siehe 4. Teil, B., II., 3., c). 215 In späteren Entscheidungen spielte dies Frage aufgrund der staatlichen Anerkennung der Verantwortlichkeit für die Taten praktische keine Rolle mehr. 216 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 111; ebenso in Bulacio v. Argentinien, in dem ein Minderjähriger in Folge von polizeilichen Misshandlungen in Haft verstarb, bei dem sich der Gerichtshof auf die umfassende Rechtsprechung des EGMR bezog, Bulacio v. Argentinien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 18. September 2003, Abs. 138. 217 Siehe 4. Teil, B., II., 3., c). 213
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fungspunkt für beweisrechtliche Erleichterungen, sondern auf die staatliche Kooperationspflicht.218 Daraus lässt sich schließen, dass in Fällen in denen der Betroffene vor seinem Verschwinden zuletzt inhaftiert war, ebenso wie bei mangelnder Erfüllung der staatlichen Kooperationspflicht, eine Beweislastumkehr bezüglich des Verletzungserfolgs eintritt. Wenn sich das Opfer vor seinem Verschwinden in staatlicher Obhut befand, obliegt es dem Staat nachzuweisen, was mit ihm passiert ist und dass er während der Haft nicht verstarb. Dies setzt als ersten Schritt jedoch voraus, dass eine Verhaftung durch staatliche Organe nachgewiesen ist, was in vielen Fällen des Verschwindenlassens mit großen Schwierigkeiten verbunden ist.
II. Europäischer Gerichtshof Die ersten Fälle des Verschwindenlassens erreichten das Europäischen Systems zum Schutz der Menschenrechte vor dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls, sodass die Europäische Kommission für Menschenrechte für die Tatsachenfeststellung zuständig war. Seit 1998 nimmt der Gerichtshof gemäß Art. 38 EMRK die Ermittlung des Sachverhalts vor und die beteiligten Staaten sind zur Kooperation und Unterstützung verpflichtet. Aufgrund der Subsidiarität des Gerichtshofs stützt sich dieser in erste Linie auf die Ermittlungen nationaler Organe, nimmt jedoch auch zunehmend eigene Anstrengungen zur Tatsachenermittlung vor. Insbesondere bei möglichen Verletzungen der Art. 2 und 3 der Konvention nimmt der Gerichtshof eine genau Prüfung vor.219 Der Gerichtshof hat die Möglichkeit, Zeugen zu befragen und Vor-Ort-Untersuchungen durchzuführen, wovon jedoch nur selten Gebrauch gemacht wird. In den meisten Fällen wird der Sachverhalt an Hand schriftlicher Beweise ermittelt.220 In den seit Mitte der 90er Jahre geführten Fällen gegen die Türkei wurden vermehrt Anhörungen durchgeführt, um den Sachverhalt aufzuklären. Das resultierte vor allem aus der Tatsache, dass die türkischen Behörden, insbesondere in Fällen des Verschwindenlassens, nur unzureichende eigene Ermittlungen anstellten und keine Entscheidungen nationaler Gerichte vorlagen auf die der Gerichtshof sich hätte stützen können.221 Grundsätzlich ist die Tatsachenfeststellung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jedoch unterentwickelt.222 Es existieren kaum Re218 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 135; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, para 141; Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 65. 219 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 107; Kaplanova v. Russland, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 93; Idalova und Idalov v. Russland, Urteil vom 5. Februar 2009, Abs. 82; Askhabova v. Russland, Urteil vom 18. April 2013, Abs. 131. 220 Leach, Abs. 2. 138. 221 Leach, Abs. 2. 149; vgl. Schorm-Bernschütz, S. 40. 222 Jötten, S. 134 f.
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4. Teil: Schutz der Opfer
gelungen, die sich mit der Tatsachenfeststellung vor dem EGMR beschäftigen,223 allerdings wurden einige wesentliche beweisrechtliche Fragen durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs entschieden. 1. Zulässige Beweise Genauso wie sein inter-amerikanisches Pendant unterliegt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht dem Strengbeweisverfahren,224 sondern lässt eine Vielzahl verschiedener Beweise zu. In erste Linie werden dabei Zeugenaussagen (a) und Dokumente (b) herangezogen, aber es können auch Fotografien und Videoaufzeichnungen eingebracht werden.225 Dabei beschäftigte sich auch der Europäische Gerichtshof mit der Frage, ob neben direkten Beweisen in Fällen des Verschwindenlassens, die wie oben erläutert so wichtigen indirekten Beweise einbezogen werden können (c). Der Gerichtshof nimmt jedoch selten eigene Ermittlungen oder Zeugenanhörungen vor. Während dies in den TürkeiFällen noch regelmäßig erfolgte, werden die Fälle bezüglich Russland fast ausschließlich anhand der von den Parteien beigebrachten Dokumente entschieden.226 Bei der Evaluation der Beweise gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung.227 a) Zeugenbeweis Vor Abschaffung der Europäischen Kommission hatte diese aufgrund des Mangels an Beweisen und der offensichtlichen Widersprüche zwischen den Parteien in vielen Fällen des Verschwindenlassens eigenständige Untersuchungen durchgeführt und Zeugen vernommen.228 Seither hat die Bedeutung von unmittelbaren Zeugenbefragungen stark abgenommen. Zeugen werden durch den Gerichtshof oder die beteiligten Parteien in der Regel nicht befragt, schon alleine weil mündliche Verhandlungen in Straßburg eine Seltenheit sind.229 Regelungen 223 Im Anhang der VerfO des EGMR finden sich einige Bestimmungen zur Zeugenbefragung. 224 Das Gericht orientiert sich auch nicht an den Verfahren aus dem common law, die ebenfalls strenge Anforderungen an die Zulässigkeit von Beweismittel stellen, Jötten, S. 145. 225 Leach, Abs. 5.50. 226 Leach, European Human Rights Law Review, Issue 6 (2008), S. 748; Koroteev, EHRAC Bulletin, Issue 11 (2009), S. 14; Jötten, S. 273. 227 Jötten, S. 147; Benzing, S. 500 f. 228 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 39; Tas v. Türkei, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 9 f. 229 Schorm-Bernschütz, S. 76 f.; Mündliche Verhandlungen erfolgten lediglich in den Fällen Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 7; Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 7; Ertak v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 7; Ilhan v. Türkei, Urteil vom 27. Juni 2000, Abs. 8; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 7; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 8; Varnava u. a. v. Türkei,
B. Beweisschwierigkeiten
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über die Zeugenbefragung finden sich im Anhang der Verfahrensregeln des Gerichtshofes. Die Befragung von Zeugen wird nur in den seltensten Fällen durch das Plenum der entscheidenden Kammer durchgeführt, sondern von beauftragten Delegierten, die dafür in das Heimatland der jeweiligen Zeugen reisen.230 Ihr Schwerpunkt liegt auf der Aufklärung von Unklarheiten aus dem Schriftverkehr sowie der Beleuchtung von Fragen zum Hintergrund der Beschwerde. Zeugen müssen daher nicht zum Gerichtshof reisen, um ihre Aussage zu machen.231 Darüber hinaus können sie ihre Aussagen auch schriftlich einreichen.232 In Zypern gegen die Türkei ließ der Gerichtshof sogar die Aussagen von anonymen Zeugen zu, solange bei der Erhebung die Ansprüche an ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK gewährleistet wurden.233 Aufgrund der mit anonymen Zeugenaussagen verbundenen Risiken hat der Gerichtshof diesen jedoch einen geringen Beweiswert zugestanden.234 Der Gerichtshof legt der Zulässigkeit von Zeugenaussagen in Fällen des Verschwindenlassens nur wenige Beschränkungen auf. Entgegen seiner Rechtsprechung in anderen Fällen wurden beim Verschwindenlassen ebenfalls Zeugen vom Hörensagen zugelassen. Ihren Aussagen wird in der Regel jedoch wenig Gewicht beigemessen.235 Problematisch ist vor allem das Nichterscheinen von Zeugen. In den ersten Fällen gegen die Türkei erlebte die Kommission in einer Vielzahl von Fällen das Ausbleiben der geladenen Zeugen.236 Ein Erscheinen kann die Kommission jedoch nicht durchsetzen, sodass ihre Ermittlungsarbeit zuweilen stark eingeschränkt wurde.237 Ein weiteres Problem liegt darin, dass zwischen dem Verschwinden einer Person und der Tatsachenfeststellung durch den Gerichtshof zuweilen mehrere Jahre liegen, was sich negativ auf die Zeugenaussagen auswirken kann. In Ipek v. Türkei wurden die Opfer letztmalig im Mai 1994 gesehen, die Zeugenaussagen vor dem Gerichtshof erfolgten jedoch erst acht Jahre später. Bei der Bewertung der Aussagen wurde daher berücksichtigt, dass sich die lange Zeitdauer negativ auf Urteil vom 18. September 2009, Abs. 19; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 12. 230 Der Gerichtshof entsendet Delegierte um Zeugenaussagen einzuholen und ist dabei von den nationalen Behörden zu unterstützen. 231 Zur Tatsachenfeststellung durch Delegierte siehe Schorm-Bernschütz, S. 71 ff. 232 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 25 ff.; Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 62 f. 233 Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 107 f. 234 Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 340. 235 Tepe v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2003, Abs. 143; Mirilashvili v. Russland, Urteil vom 11. Dezember 2008, Abs. 171; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 80. 236 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 43; Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 39; Tas v. Türkei, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 27. 237 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 39.
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4. Teil: Schutz der Opfer
die Fähigkeit der Zeugen auswirkt, sich an alle Details des Geschehens exakt zu erinnern.238 Der Gerichtshof kennt zudem grundsätzlich die Möglichkeit, Sachverständige zu einem Fall zu befragen. Von dieser Möglichkeit wurde in Fällen des Verschwindenlassens bisher jedoch kein Gebrauch gemacht. b) Schriftliche Beweismittel Der Gerichtshof hat eine Vielzahl verschiedener Dokumente in Fällen des Verschwindenlassens zugelassen. Von großer praktischer Relevanz sind offizielle staatliche Ermittlungsberichte zum Verschwindenlassen sowie vorangegangene nationale Entscheidungen in der Sache.239 Die eingereichten Unterlagen werden vom Gerichtshof jedoch kritisch untersucht und nicht grundsätzlich als wahr betrachtet. Dass beispielsweise der Name eines Verschwundenen nicht in den offiziellen Haftregistern aufgeführt ist, wird aufgrund der Charakteristika des Verschwindenlassens und den oftmals unzuverlässigen Beweisen der Staaten nicht als ein Beweis gegen das Verschwindenlassen gewertet.240 Unkooperatives Verhalten der Staaten hat zudem zur Folge, dass trotz Aufforderung des Gerichtshofes keine oder nur unzureichende Unterlagen zur Aufklärung des Sachverhalts bereitgestellt werden.241 Daher ist der Gerichtshof darauf angewiesen, anhand anderer Dokumente den Sachverhalt aufzuklären. Berücksichtigung finden beispielsweise Untersuchungsberichte verschiedener internationaler Institutionen.242 Auch wenn dem europäischen System Amicus curiae briefs fremd sind, erlaubt der Gerichtshof allen interessierten Personen Stellungnahmen abzugeben. Von dieser Möglichkeit haben verschiedene Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise Amnesty International, Human Rights Watch oder das European Centre for Constitutional and Human Rights Gebrauch gemacht.243 In Timurtas¸ v. Türkei reichte die lateinamerikanische Menschenrechtsorganisation CEJIL eine schriftliche Stellungnahme zur Rechtsprechungspraxis des Inter-Amerikanischen
238
Ipek v. Türkei, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 116. Ertak v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 32; I˙rfan Bilgin v. Türkei, Urteil vom 17. Juli 2001, Abs. 21 ff.; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 48 ff.; Tepe v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2003, Abs. 48 ff. 240 Ipek v. Türkei, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 149; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 125. 241 Ausführlicher dazu siehe 4. Teil, B., II., 3., c). 242 I˙rfan Bilgin v. Türkei, Urteil vom 17. Juli 2001, Abs. 117 ff.; Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 71 ff.; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 38 ff., 52 ff. 243 Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 6. Mai 2003, Abs. 72; Shamayev u. a. v. Georgien und Russland, Urteil vom 12. April 2005, Abs. 268; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 76, 178. 239
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Gerichtshofes in Fällen des Verschwindenlassens ein.244 Darüber hinaus bezog der Gerichtshof auch von den Parteien eingebrachte Berichte von Nichtregierungsorganisationen, internationalen Institutionen und UN-Vertragsorganen in seine Beweiswürdigung mit ein.245 In Nesibe Haran v. Türkei wurde durch die Beschwerdeführer ein Fernsehinterview mit einem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter eingereicht, in dem dieser die Ermordung des Verschwundenen durch den Geheimdienst zugab.246 Auch wenn der Gerichtshof das Interview in seine Entscheidungsfindung mit einbezog, wurden diesem keine entscheidende Bedeutung zugemessen und es lediglich als Indiz herangezogen.247 Mehrfach zog der Gerichtshof zudem Zeitungsausschnitte in seine Bewertung mit ein.248 Diesen Beweisen scheint er jedoch ein geringes Beweismaß zuzuschreiben, da sie ausschließlich in Verbindung mit weiteren Beweisen berücksichtigt werden.249 Der Gerichtshof kann zudem proprio motu, also auf eigene Initiative hin, Ermittlungen einleiten.250 Während in den 90iger Jahren bezüglich den Fällen in der Türkei, die Europäische Kommission von dieser Möglichkeit häufiger Gebrauch machte, hat der Gerichtshof seit der Abschaffung der Kommission nur in Ausnahmefällen eigene Ermittlungen angestellt.251 c) Mittelbare Beweise In seiner ersten Entscheidung über einen Fall des Verschwindenlassens, Kurt gegen Türkei, zeigte sich der Gerichtshof kritisch gegenüber indirekten Beweisen um den Tod eines Verschwundenen anzunehmen. Er verlangte „konkrete Beweise“ und ließ Vermutungen, die aus dem Umständen des Verschwindenlassens gezogen wurden und von einer generellen Praxis des Verschwindenlassens gestützt werden nicht ausreichen.
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Timurtas¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 79 f. Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 34; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 42; Musayeva v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 18; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 111 ff. 246 Nesibe Haran v. Türkei, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 29. 247 Nesibe Haran v. Türkei, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 67. 248 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 60; Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 17; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 126 ff. 249 Schorm-Bernschütz, S. 82 f. 250 Rule A1 Annex der Regeln bezüglich des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. 251 Koroteev, EHRAC Bulletin, Issue 11 (2009), S. 14 stellt fest, dass in den Tschetschenienfällen bislang keine einzige Ermittlung vor Ort stattgefunden hat; siehe auch Jötten, S. 273. 245
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4. Teil: Schutz der Opfer
„It is to be observed in this regard that the applicant’s case rests entirely on presumptions deduced from the circumstances of her son’s initial detention bolstered by more general analyses of an alleged officially tolerated practice of disappearances and associated ill-treatment and extra-judicial killing of detainees in the respondent State. The Court for its part considers that these arguments are not in themselves sufficient to compensate for the absence of more persuasive indications that her son did in fact meet his death in custody.“ 252
Der darauffolgende Fall Çakici v. Türkei unterschied sich vom Kurt-Fall dadurch, dass neben der Verhaftung noch weitere Beweise für eine Ermordung des Verschwundenen sprachen. Der Ausweis des Opfers wurde am Körper eines Terroristen gefunden, weshalb der Gerichtshof in diesem Fall indirekte Beweise ausreichen ließ. „The Court finds on this basis that there is sufficient circumstantial evidence, based on concrete elements, on which it may be concluded beyond reasonable doubt that Ahmet Çakıcı died following his apprehension and detention by the security forces.“ 253
An dem beweisrechtlichen Standard, mittelbare Beweise nur in Kombination mit konkreten Elementen genügen zu lassen, hielt der Gerichtshof in den Folgeentscheidungen zunächst fest.254 Was unter konkreten Elementen zu verstehen ist, wird jedoch nicht weiter ausgeführt.255 In der aktuelleren Rechtsprechung des EGMR findet das Erfordernis der „konkreten Elemente“ keine Verwendung mehr und indirekte Beweise werden grundsätzlich zugelassen.256 Anders als beim Inter-Amerikanischen Gerichtshof, der die systematische Praxis des Verschwindenlassens in einem Land als ein wichtiges Indiz ansieht, spielt diese beim Europäischen Gerichtshof praktisch keine Rolle.257 Als indirekte Beweise werden vielmehr die Umstände und Dauer des Verschwindenlassens herangezogen. Wurde das Opfer durch staatliche Behörden inhaftiert und erfolgte über einen längeren Zeitraum kein Lebenszeichen wird dies als Indiz für den Tod des Opfers gewertet.258 Hinzu kommen können weitere Indizien, wie das Fehlen einer Erklärung durch die Behörden oder dass die offiziellen Untersuchungen über mehrere Jahre keine Ergebnisse produziert haben.259 252
Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 108. Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 85. 254 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82; Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 145; Ipek v. Türkei, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 166; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 109; Khadzhialiyev u. a. v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 98. 255 Siehe auch Jötten, S. 147. 256 Jötten, S. 147; Barrett, Harvard Human Rights Journal, Vol. 22, 2009, S. 140. 257 Siehe dazu 4. Teil, B., I., 3., a). 258 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 81 ff.; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 141. 259 Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 141. 253
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2. Beweismaß Eine Norm, die den Überzeugungsgrad des Gerichtshofs bei der Bewertung von Beweisen bestimmt, findet sich im europäischen System nicht. Sowohl die Europäische Kommission als auch der Gerichtshof ziehen grundsätzlich das Beweismaß des „beyond reasonable doubt“ heran.260 „To assess this evidence, the Court adopts the standard of proof ,beyond reasonable doubt‘ but adds that such proof may follow from the coexistence of sufficiently strong, clear and concordant inferences or of similar unrebutted presumptions of fact.“ 261
Diesem Beweisstandard kommt ein autonomer Charakter zu, der nicht an nationale Regelungen angelehnt ist.262 Ziel der Verfahren ist es schließlich nicht, straf- oder zivilrechtliche Verantwortung festzustellen, sondern menschenrechtsverletzendes Verhalten der Staaten.263 Auch in den Fällen bezüglich des Verschwindenlassens, in denen die Beschwerdeführer regelmäßig unter Beweisnot leiden, nahm der Gerichtshof keinen geringeren Beweisstandard an.264 Dieses hohe Beweismaß hatte in einigen Fällen zur Folge, dass es dem Beschwerdeführer nicht gelang zur ausreichenden Überzeugung des Gerichtshofes eine staatliche Beteiligung nachzuweisen.265 Im Fall Kurt gegen Türkei führte dies dazu, dass der Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf Leben und des Verbots der Folter und unmenschlichen Behandlung ablehnte.266 Auch wenn sich in den nachfolgenden Urteilen beginnend mit Timurtas¸ v. Türkei die Bewertung der Beweise veränderte und somit eine Verletzung des Art. 2 EMRK angenommen wurde, hielt der Gerichtshof am strengen Beweismaß des „beyond reasonable doubt“ fest. In der Literatur wird zum Teil von einer Reduzierung des Beweismaßes ausgegangen.267 Auch der Gerichtshof stellt im Fall 260
Ausführlich dazu Jötten S. 158 ff.; Schorm-Bernschütz, S. 120 ff. Ireland v. Vereinigte Königreich, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 161. 262 Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 45. „this particular evidential criterion has an autonomous meaning in the Court’s proceedings; it has never been the Court’s purpose to borrow the approach of the national legal systems that use the standard of proof „beyond reasonable doubt“. 263 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 151. 264 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 87, 125; Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 154; Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 112; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 264; Mikheyev v. Russland, Urteil vom 26. Januar 2006, Abs. 102; Baysayeva v. Russland, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 120; Aliyeva v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 113; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 151. 265 Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 217 f.; Nesibe Haran v. Türkei, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 66 ff. 266 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25.Mai 1998, Abs. 108. 267 Singh Sethi geht durch die Entscheidungen Timurtas ¸ und Çakici von einer Reduzierung des Beweismaßes aus, Singh Sethi, Human Rights Brief, Vol. 8, 2001, S. 30 f.; 261
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Varnava u. a. gegen die Türkei ausdrücklich fest, dass mitunter ein geringeres Beweismaß als „beyond reasonable doubt“ angemessen sein kann. „. . . the Court would concur that the standard of proof generally applicable in individual applications is that of beyond reasonable doubt – though this also applies equally in inter-State cases. The burden of proof may be easier to satisfy in practical terms in the inter-State context where the facts of many incidents and numerous events may be taken into account. But, even in individual cases, the Court’s case-law has identified situations in which the rigour of this rule may be mitigated.“ 268
Diese Fälle werden jedoch nicht weiter konkretisiert und auch in Varnavas gegen die Türkei bezieht sich der Gerichtshof nachfolgend auf eine Beweislastverschiebung zulasten des Staates, wenn der Verschwundene zuletzt in staatlichem Gewahrsam war und nicht auf eine Reduzierung der Beweislast.269 Zudem bezieht sich der EGMR in Fällen des Verschwindenlassens immer wieder ausdrücklich auf den „beyond reasonable doubt“ Beweisstandard.270 3. Beweislast und Beweiserleichterung Vor dem Europäischen Gerichtshof gilt grundsätzlich das Prinzip „actori incumbit probatio“, wonach dem Beschwerdeführer der Beweis obliegt. Der Gerichtshof hat jedoch betont, dass er sich nicht an eine strikte Anwendung dieses Grundsatzes gebunden fühlt.271 Der Beweisnot des Beschwerdeführers in Fällen des Verschwindenlassens begegnet der Gerichtshof mit der Möglichkeit von Beweiserleichterungen. a) Systematische Praxis Die hohen Fallzahlen, die den Europäischen Gerichtshof bezüglich der Türkei und Russland erreicht haben, legen nahe, dass das Verschwindenlassen nicht nur vereinzelt eingesetzt wird, sondern von den Staaten als groß angelegte Unterdrückungsmethode genutzt wird. Bereits 1978 in dem Verfahren Irland gegen das Vereinigte Königreich, das sich mit den Maßnahmen des Vereinigten Königsreichs in der Bekämpfung des Terrorismus im Nordirland-Konflikt beschäftigte, stellte der Gerichtshof fest, wann eine staatliche Praxis vorliegt. „A practice incompatible with the Convention consists of an accumulation of identical or analogous breaches which are sufficiently numerous and inter-connected to Scovazzi/Citroni sieht in Bazorkina v. Russland eine faktische Verringerung des Beweismaßes auch wenn der Gerichtshof explizit am „beyond reasonable doubt“ Beweismaß festhält, Scovazzi/Citroni, S. 213. 268 Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 182. 269 Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 183. 270 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 85; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 151. 271 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 66.
B. Beweisschwierigkeiten
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amount not merely to isolated incidents or exceptions but to a pattern or system; a practice does not of itself constitute a violation separate from such breaches.“ 272
Dieser Definition folgend, kann auch in Bezug auf Russland und die Türkei von einer systematischen Praxis ausgegangen werden. Dennoch lehnt der EGMR es fortwährend ab, eine Praxis des Verschwindenlassens anzunehmen. In Kurt v. Türkei bezog sich die Beschwerdeführerin auf die vom Inter-Amerikanischen Gerichtshof vorgenommenen beweisrechtlichen Erleichterungen bei einer nachgewiesenen systematischen Praxis des Verschwindenlassens.273 Zum Nachweis dieser Praxis legte die Beschwerdeführerin Berichte staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen vor und verwies unter anderem auf ein Statement des Europäischen Komitees zur Verhütung der Folter, in dem es die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei als keine isolierten Vorkommnisse bezeichnete.274 Der Gerichtshof ließ diese Argumente in seiner Abwägung jedoch unberücksichtigt und ging nicht weiter auf die systematische Anwendung von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ein. Unabhängig von den beweisrechtlichen Erleichterungen, die mit einer systematischen Praxis verbunden sein können, stellte der Gerichtshof am Ende der Kurt-Entscheidung in einem separaten Abschnitt ausdrücklich fest, dass er diese nicht als erwiesen ansieht.275 Erst in der Entscheidung Timurtas¸ v. Türkei erwog der Gerichtshof auf der Grundlage eines amicus curiae briefs des CEJIL die zweistufige Herangehensweise des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs.276 Das CEJIL führte für Honduras 179 verschwundene Personen zwischen den Jahren 1980 und 1993 an. Die Beschwerdeführer argumentierten, dass im Südosten der Türkei 1993 mindestens 18 Personen verschwanden, womit diese Nummer höher lag als die durchschnittliche Zahl an Verschwundenen in einem Jahr in Honduras.277 Dennoch ging der Gerichtshof nicht so weit, eine systematische Praxis festzustellen oder daraus beweisrechtliche Folgen zu ziehen. „The Court considers that the scope of the examination of the evidence undertaken in this case and the material on the case file are not sufficient to enable it to determine whether the failings identified in this case are part of a practice adopted by the authorities.“ 278
Erst in späteren Entscheidungen bezüglich Russland sprach der Gerichtshof davon, dass es sich bei den Vorkommnissen zwischen 1992 und 1996 in der Südtürkei um ein „pattern of enforced disappearances“ handelte.279 272 273 274 275 276 277 278 279
Ireland v. Vereinigte Königreich, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 159. Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 102. Vermeulen, S. 245. Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 169. Timurtas¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 79 f. Vermeulen, S. 245. Timurtas¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 115. Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 66.
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Der Gerichtshof verlangt somit ein sehr hohes Beweismaß für die Feststellung einer systematischen Praxis. Allerdings zog er die Situation in der Türkei als ein weiteres Indiz heran, um den Tod des Verschwundenen zu vermuten. „In the general context of the situation in south-east Turkey in 1993, it can by no means be excluded that an unacknowledged detention of such a person would be lifethreatening.“ 280
Ähnlich bewertete der Gerichtshof die Situation im Zusammenhang mit den Fällen in Tschetschenien. Viele Jahre wurde das Verschwindenlassen insbesondere aufgrund der hohen Fallzahlen vor dem EGMR als gut bekanntes Phänomen bezeichnet, eine systematische Praxis jedoch nicht angenommen.281 Vielmehr beschränkt sich der Gerichtshof darauf, wiederholte Fälle des Verschwindenlassens als Vermutung für den Tod des Opfers heranzuziehen. „The Court also notes the applicant’s reference to the available information about the phenomenon of ,disappearances‘ in Chechnya and agrees that, in the context of the conflict in Chechnya, when a person is detained by unidentified servicemen without any subsequent acknowledgement of detention, this can be regarded as life-threatening.“ 282
Erstmalig in der Entscheidung Aslakhanova v. Russland stellte der Gerichtshof fest, dass das Verschwindenlassen in Tschetschenien einem systematischen nationalem Problem zugrunde liegt.283 Damit wurde erstmalig festgestellt, dass es sich um eine systematisches Praxis handelt. Jedoch wurden aus dieser Erkenntnis keinerlei beweisrechtliche Erleichterungen gezogen, sondern der EGMR beschränkte sich darauf einige Hinweise über Maßnahmen zu geben, die zur Verbesserung dieser Probleme ergriffen werden sollten.284 Der Umstand, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kam, ist somit lediglich als widerlegliche Vermutung anzusehen, die die Folgerung der Ermordung des Opfers verstärkt. Jötten spricht in diesem Zusammenhang von der „Randbedingung einer Schlussfolgerung“, durch die der Gerichtshof auf die 280 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 85; ebenso Tas v. Türkei, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 66; Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 146; Akdeniz u. a. v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 81; Ipek v. Türkei, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 167; Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 99; Nesibe Haran v. Türkei, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 74. 281 Baysayeva v. Russland, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 119; Aziyevy v. Russland, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 76; Utsayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 162; Dzhambekova u. a. v. Russland, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 273; Khasuyeva v. Russland, Urteil vom 11. Juni 2009, Abs. 107. 282 Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 141; ebenso Takhayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 18. September 2008, Abs. 79; Akhmadova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 134; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 81. 283 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 217. 284 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 221.
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Lebensbedrohlichkeit der Situation schließt, um anschließend den Tod zu vermuten.285 Allerdings wird die systematische Praxis in einem Land nicht herangezogen um weitere Elemente des Verschwindenlassens neben der Tötung nachzuweisen, wenn beispielsweise Zweifel an der staatlichen Beteiligung bestehen. b) Mangelnde Kooperation des Staates Nach Art. 38 EMRK (bzw. 38 Abs. 1 lit. a, 2. HS alte Fassung) sind die betroffenen Staaten dazu verpflichtet, bei einem Ermittlungsverfahren zu kooperieren. Wenn auch sehr generell gehalten, bestimmt Art. 38 EMRK „Der Gerichtshof prüft die Rechtssache mit den Vertretern der Parteien und nimmt, falls erforderlich, Ermittlungen vor; die betreffenden Hohen Vertragsparteien haben alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen zu gewähren.“
Auch in der Verfahrensordnung des Gerichtshofes werden die Parteien explizit zur vollumfänglichen Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof verpflichtet.286 Aus Art. 34 S. 2 EMRK ergibt sich zudem die Verpflichtung der Vertragsstaaten, die Einreichung einer Beschwerde nicht zu beinträchtigen. Die Fälle des Verschwindenlassens vor dem Europäischen Gerichtshof sind dennoch durch ein unkooperatives Verhalten der beteiligten Regierungen geprägt. In der Vielzahl der Fälle weigerten sich die Staaten relevante Beweise herauszugeben und erschwerten dadurch die Tatsachenfeststellung des Gerichtshofs.287 Im Fall Timurtas¸ gegen die Türkei berief sich die Regierung darauf, dass die angeforderten Unterlagen als geheim einzustufen seien und deshalb für das Verfahren nicht zur Verfügung gestellt werden könnten.288 Ein solches Verhalten des Staates wertete der Gerichtshof nicht nur als Verletzung der Mitwirkungspflichten, sondern betonte zudem, dass daraus negative Schlussfolgerungen gezogen werden können. „. . . in certain instances solely the respondent State has access to information capable of corroborating or refuting these allegations. A failure on a Government’s part to submit such information as is in their hands without a satisfactory explanation may not only reflect negatively on the level of compliance by a respondent State with its 285
Jötten, S. 219. Art. 44A VerfO des EGMR bestimmt „Die Parteien sind verpflichtet, bei der Durchführung des Verfahrens mit dem Gerichtshof in vollem Umfang zusammenzuarbeiten und insbesondere alle Maßnahmen, soweit sie in ihrer Macht stehen, zu treffen, die der Gerichtshof für eine geordnete Rechtspflege für erforderlich hält. Diese Verpflichtung gilt erforderlichenfalls auch für eine Vertragspartei, die in dem Verfahren nicht Partei ist.“ 287 Nach Jötten werden bei einem Drittel der Fälle des Verschwindenlassens Verletzung der Mitwirkungspflichten festgestellte und in den übrigen Fällen regelmäßig Defizite bei der Mitarbeit gerügte, Jötten, S. 229. 288 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 28. 286
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obligations under Article 38 § 1 (a) of the Convention (former Article 28 § 1 (a)), but may also give rise to the drawing of inferences as to the well-foundedness of the allegations. In this respect, the Court reiterates that the conduct of the parties may be taken into account when evidence is being obtained.“ 289
Aufgrund der Bedeutung der staatlichen Beteiligung bei der Aufklärung des Sachverhalts ist es nicht ausreichend, sich auf die angebliche geheime Natur der Dokumente zu berufen.290 Der Wortlaut dieser und vergleichbarer Entscheidungen spricht klar von „Schlussfolgerungen“ (inferences), die aus dem Verhalten des Staates gezogen werden dürfen. In einem Sondervotum zum Fall Tahsin Acar v. Türkei wurde diese Formulierung von Richter Bonello stark kritisiert. Dem Beschwerdeführer war es nicht gelungen, die staatliche Beteiligung an dem Verschwindenlassen, insbesondere aufgrund der mangelnden Kooperation des Staates an dem Verfahren nachzuweisen. Bonello erachtet es als inakzeptabel, dass dem Staat dieses Verhalten dadurch zum Vorteil gereicht wird und spricht sich für eine Beweislastumkehr aus.291 Nachfolgend näherten sich auch die anderen Richter des EGMR dieser Sichtweise an. Bezugnehmend auf die vorherige Entscheidung im Fall Akkum u. a. v. Türkei, bei dem es sich nicht um einen Fall des Verschwindenlassens handelt, äußerte sich der Gerichtshof in Tog˘cu gegen die Türkei zur Frage der Beweislastumkehr bei Kooperationsdefiziten des Staates. „The Court has already noted the difficulties for an applicant to obtain the necessary evidence in support of his or her allegations which is in the hands of the respondent Government in cases where that Government fail to submit relevant documentation. It has previously held that, where it is the Government’s non-disclosure of crucial documents in their exclusive possession which is preventing the Court from establishing the facts, it is for the Government either to argue conclusively why the documents in question cannot serve to corroborate the allegations made by the applicants, or to provide a satisfactory and convincing explanation of how the events in question 289
Timurtas¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 66. Timurtas¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 67. 291 Concurring Opinion of Judge Bonello, Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 9 ff. „This, on a rational plane, flies in the face of equity. I consider it incongruous that, as a consequence of violating two Convention duties, the culprit State should reap rewards. Unacceptable that the applicant is told by a court of justice that he cannot win against the State, as he failed to produce evidence which the State had wrongly failed to produce. (. . .) It appears to me axiomatic that, in a scenario in which the Government is at fault where evidence-building is concerned, then a legal inference of culpability on the merits of the complaint should have been drawn. States, in detestable circumstances such as the disappearance in question, cannot be let off with benign raps on the knuckles. In my view the Court ought to have declared, boldly and defiantly, that, when a State defaults in its duties to investigate and to hand over what evidence it has under its control, the burden of proof shifts. It is then for the Government to disprove the applicant’s allegations. Failure to draw these inferences will only embolden rogue States in their efforts to rig sham investigations, and encourage the suppression of incriminating evidence.“ 290
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occurred. Failing this, an issue under Article 2 and/or Article 3 of the Convention will arise. However, to shift the burden of proof onto the Government in such circumstances requires, by implication, that the applicant has already made out a prima facie case.“ 292
Eine Beweislastumkehr zu Lasten der unkooperativen Regierung kann somit erfolgen, wenn es dem Beschwerdeführer gelungen ist, eine staatliche Beteiligung prima facie zu beweisen. Es findet somit keine generelle Beweislastumkehr statt, wie sie beispielsweise Richter Bonello zu fordern scheint, sondern der Beschwerdeführer muss seinen Fall zunächst ausreichend darlegen. Dafür werden vom Gerichtshof Zeugenaussagen, aber auch Berichte aus der Presse oder von NGOs berücksichtigt.293 In Tog˘cu lehnte der Gerichtshof diese jedoch mit der Begründung ab, dass es der Beschwerdeführer aufgrund widersprüchlicher Versionen der Ereignisse versäumt habe, seinen Fall im erforderlichen Umfang nachzuweisen.294 Die Bedeutung beweisrechtlicher Erleichterungen für den Ausgang des Falls wird in dieser Entscheidung besonders deutlich. Da der Gerichtshof keine Beweislastumkehr annimmt war es ihm nicht möglich festzustellen, wer für das Verschwindenlassen von Tog˘cu verantwortlich ist. Die Türkei wurde demzufolge lediglich für eine Verletzung des Art. 2 EMRK wegen ineffektiver Ermittlungen zu den Umständen des Verschwindenlassens sowie für eine Verletzung des Art. 13 EMRK verantwortlich gemacht.295 In den Entscheidungen gegen Russland setzte der Gerichtshof diese Rechtsprechung fort. Russland weigert sich regelmäßig unter Berufung auf Art. 161 der russischen Strafprozessordnung die Ermittlungsakten zur Verfügung zu stellen, da diese militärische Geheimnisse sowie persönliche Daten enthalten würden.296 In Imakayeva stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 161 der russischen Strafprozessordnung der Offenlegung der Dokumente nicht entgegenstehe, sondern lediglich eine Beschränkung darstelle. Russland ließ es an einer Erklärung für die Beschränkung mangeln, weshalb der Gerichtshof zu der Auffassung kam, dass die Darlegungen der Regierung nicht ausreichen, um das Zurückhalten wesentlicher Informationen zu rechtfertigen.297 Obwohl die Imakayeva Entscheidung nach Tog˘cu erfolgte nahm der Gerichtshof keinen Bezug auf die Möglichkeit der Beweislastumkehr, sondern zog lediglich die Möglichkeit in Betracht, aus dem Ver292
Tog˘cu v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 95. Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 99. 294 Tog ˘ cu v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 96. 295 Tog ˘ cu v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 100 ff., 134 ff. 296 Kukayev v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 62; Khamila Isayeva v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 77; Utsayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 123; Musayeva v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 75; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 59; Khasuyeva v. Russland, Urteil vom 11. Juni 2009, Abs. 86; Batayev u. a. v. Russland, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 87. 297 Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 123. 293
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halten der Regierung Rückschlüsse zu ziehen.298 In nachfolgenden Entscheidungen nimmt der Gerichtshof das unkooperative Verhalten Russlands zum Anlass die Beweislast umzukehren, soweit die Behauptungen zuvor prima facie bewiesen wurden.299 Bringt der beschwerdegegnerische Staat Beweise trotz Aufforderung nicht bei, wodurch der Gerichtshof daran gehindert wird, die Tatsachen des Falls festzustellen und kann der Beschwerdeführer seinen Fall prima facie darlegen, geht die Beweislast auf den Staat über. Das setzt voraus, dass ausreichend belastende Indizien vorliegen, die eine staatliche Beteiligung nachweisen. Gibt es daran Zweifel oder tauchen Widersprüche auf, lehnte der Gerichtshof das Vorliegen eines prima facie-Falls ab.300 Gelingt es dem Beschwerdeführer jedoch, einen prima facie-Fall zu begründen, obliegt es dem Staat darzulegen, warum die angeforderten Beweise für den Fall irrelevant sind oder er muss eine überzeugende Erklärung darüber abgeben, wie sich die Ereignisse zutrugen.301 Dafür muss die Regierung Beweise vorlegen, denn die schlichte Behauptung es lägen keine Hinweise vor die für eine militärische Beteiligung bei der Entführung sprächen, hat der Gerichtshof wiederholt als nicht ausreichend angesehen.302 c) Inhaftierung durch den Staat Befand sich das Opfer zuletzt in staatlichem Gewahrsam oder unter sonstiger staatlicher Kontrolle, prüft der Europäische Gerichtshof beweisrechtliche Erleichterungen in Bezug auf den Eintritt des Verletzungserfolges. Bereits bevor sich der Gerichtshof mit Fällen des Verschwindenlassens beschäftigte, war er im Rahmen 298
Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 124, 133. Aziyevy v. Russland, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 73; Atabayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 12. Juni 2008, Abs. 83; Musayeva v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 100; Alaudinova v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 77; Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 116; Khasuyeva v. Russland, Urteil vom 11. Juni 2009, Abs. 104; Ilyasova v. Russland, Urteil vom 10. Juni 2010, Abs. 111; Batayev u. a. v. Russland, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 180; Aslanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 97. 300 Shakhgiriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 156 ff.; Zakriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 65 ff.; Shaipova u. a. v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 85 ff.; Tagirova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 72 ff.; Khumaydov and Khumaydov v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 98 ff.; Tovsultanova v. Russland, 17. Juni 2010, Abs. 77 ff. 301 Bersunkayeva v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 98; Kadirova u. a. v. Russland, Urteil vom 27. März 2012, Abs. 94; Avkhadova u. a. v. Russland, Urteil vom 14. März 2013, Abs. 95. 302 Musayeva v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 101; Rasayev und Chankayeva v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 64; Bantayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 12. Februar 2009, Abs. 74; Astamirova u. a. v. Russland, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 77; Gaziyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 69; Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 117; Basayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 122; Nenkayev u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 143. 299
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des Art. 3 EMRK der Auffassung, dass es dem Staat obliegt, eine plausible Erklärung für Verletzungen eines Häftlings darzubieten, wenn sich dieser zuletzt bei guter Gesundheit in Polizeigewahrsam befand.303 In den ersten Fällen zum Verschwindenlassen wurden diese Kriterien jedoch nicht angewandt. Obwohl der Gerichtshof eine Verhaftung des Verschwundenen durch Soldaten als erwiesen ansah, nahm der diese weder in der Prüfung einer Verletzung des Art. 2 noch des Art. 3 EMRK zum Anlass, beweisrechtliche Erleichterungen zugunsten des Beschwerdeführers zuzulassen.304 In Timurtas¸ v. Türkei wurde erstmals bei einem Verschwindenlassen Bezug auf die aus einer Verhaftung folgenden Beweiserleichterungen genommen. Im Rahmen der Prüfung des Art. 2 EMRK berief sich der Gerichtshof auf die zuvor im Zusammenhang mit Art. 3 und 5 EMRK entwickelten Grundsätze. „The Court has previously held that where an individual is taken into custody in good health but is found to be injured at the time of release, it is incumbent on the State to provide a plausible explanation of how those injuries were caused, failing which an issue arises under Article 3 of the Convention. In the same vein, Article 5 imposes an obligation on the State to account for the whereabouts of any person taken into detention and who has thus been placed under the control of the authorities.“ 305
Was unter einer plausiblen Erklärung zu verstehen ist, die vom Gerichtshof verlangt wird, wurde nicht weiter konkretisiert. Es stellt sich die Frage, inwieweit der Staat diese Erklärungen verifizieren muss. Um den Tod der verschwundenen Person vermuten zu können, zieht der Gerichtshof noch weitere Kriterien heran. „Whether the failure on the part of the authorities to provide a plausible explanation as to a detainee’s fate, in the absence of a body, might also raise issues under Article 2 of the Convention will depend on all the circumstances of the case, and in particular on the existence of sufficient circumstantial evidence, based on concrete elements, from which it may be concluded to the requisite standard of proof that the detainee must be presumed to have died in custody.“ 306
Für die Annahme des Todes lässt es der Gerichtshof somit nicht ausreichen, dass der Staat keine plausible Erklärung über das Verschwinden des Opfers darbieten kann, sondern es müssen zusätzliche Beweise für den Tod sprechen. Dabei lässt der Gerichtshof jedoch Indizien ausreichen. In der nachfolgenden OrhanEntscheidung, wird zwar auch dieser Teil aus dem Timurtas¸-Entscheidung zitiert, aber es wird dennoch erneut die Verpflichtung der Staaten, für die Behandlung eines Verhafteten Rechnung zu tragen, betont.
303 Aksoy v. Türkei, Urteil vom 18. Dezember 1996, Abs. 61; ebenso Selmouni v. Frankreich, Urteil vom 28. Juli 1999, Abs. 87. 304 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 106 ff., 116. 305 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82. 306 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82.
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„Where the events in issue lie wholly, or in large part, within the exclusive knowledge of the authorities, as in the case of persons within their control in detention, strong presumptions of fact will arise in respect of injuries and death occurring during that detention. Indeed, the burden of proof may be regarded as resting on the authorities to provide a satisfactory and convincing explanation.“ 307
Vermeulen sieht in dieser Feststellung eine Beweislastumkehr zugunsten des Beschwerdeführers soweit es diesem gelingt, den Sachverhalt mit Anscheinsbeweisen darzulegen.308 Die Worte „may be regarded“ implizieren hingegen, dass eine Beweislastumkehr nicht grundsätzlich angenommen werden kann. Vielmehr lässt die Formulierung „presumtion of fact“ darauf schließen, dass der Gerichtshof aus der Inhaftierung des Betroffenen eine Schlussfolgerung zu Lasten der beschwerdegegnerischen Regierung zieht, welche diese jedoch widerlegen kann.309 In nachfolgenden Entscheidungen hat sich der Gerichtshof ausführlicher damit beschäftigt, wie diese Schlussfolgerung entkräftet werden kann. Der Staat muss nationale Ermittlungen anstellen und Beweismittel vorlegen, um Zweifel an der Darstellung des Beschwerdeführers zu wecken.310 Dass der Gerichtshof keine Beweislastumkehr vornimmt, ergibt sich auch daraus, dass der Gerichtshof in Orhan v. Türkei die fehlende staatliche Erklärung über die Geschehnisse nach einer Inhaftierung nicht zum Anlass genommen hat, daraus unmittelbar den Tod der Opfer anzunehmen. Es wurden die konkreten Umstände des Verschwindenlassens und die generelle Situation in der Türkei herangezogen, um auf eine Ermordung des Verschwundenen zu schließen. Dass der Staat keine Erklärung abgibt, wird lediglich ergänzend herangezogen.311 An dieser Rechtsprechung hielt der Gerichtshof auch in den nachfolgenden Entscheidungen fest.312 In späteren Urteilen wird dieses Prinzip auf solche Fälle erweitert, in denen eine Verhaftung zwar nicht bewiesen war, aber der Nachweis gelang, dass eine Person einen Ort betrat, der unter staatlicher Kontrolle stand, und seither nicht mehr gesehen wurde.313 307 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 327; der Gerichtshof verweist in diesem Absatz zudem auf die Entscheidung Timurtas¸ v. Türkei, wo diese Formulierung allerdings nicht verwendet wird. 308 Vermeulen, S. 237 f. 309 Ebenso Jötten, S. 196 ff. 310 Tanis u. a. v. Türkei, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 207; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 124. 311 „For the above reasons, and taking into account that no information has come to light concerning the whereabouts of the Orhans . . .“, Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 331; im Ergebnis ebenso Jötten, S. 197 ff. 312 Ipek v. Türkei, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 165; Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 96; Mikheyev v. Russland, Urteil vom 26. Januar 2006, Abs. 102; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 105; Khalidova u. a. v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 72; Dzhabayeva v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 73; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 152.
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War der Verschwundene somit zum Zeitpunkt seines Verschwindens unter staatlicher Kontrolle, zieht der Gerichtshof eine Schlussfolgerung zu Lasten des betroffenen Staates, die dieser jedoch durch eine plausible Erklärung widerlegen kann.
III. Vergleich Im Rahmen der Tatsachenfeststellung haben sich sowohl der Nachweis einer staatlichen Beteiligung an der Tat, als auch die Ermordung des Opfers als sehr schwierig erwiesen. Staaten können Beweise leicht verschleiern und ihre Mitwirkung am Verfahren kann nicht erzwungen werden. Der Zugriff auf direkte Beweise ist den Gerichtshöfen nur in Ausnahmefällen möglich. Beide Gerichtshöfe berücksichtigen die Beweisnot des Beschwerdeführers und haben daher eine Vielzahl an Beweisen zugelassen sowie beweisrechtliche Erleichterungen vorgenommen. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof verhält sich bei der Beweiserhebung mehr wie ein erstinstanzliches Gericht, wohingegen der Europäische Gerichtshof sich als Berufungsgericht versteht. Bei der Zulassung von Beweisen ist der IAGMR demzufolge deutlich großzügiger. Dies hat jedoch auch dazu geführt, dass die Fälle vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof viele Jahre benötigen und deutlich aufwendiger sind. Das Zusammenspiel zwischen der aufwendigen Beweisaufnahme, dem nichtständigen Charakter des IAGMR und seinen eingeschränkten finanziellen Ressourcen hat dazu geführt, dass der IAGMR im Vergleich zum EGMR nur eine geringe Zahl von Fällen hat behandeln können. Während die Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof überwiegend in schriftlicher Form abgehalten werden, ist es den Opfern und Zeugen vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof möglich, mündliche Aussagen abzugeben und unmittelbar ihre Verletzungen zu schildern. Die Zeugenvernehmung ist in Fällen des Verschwindenlassens von erheblicher Bedeutung, da sie oft die einzigen konkreten Hinweise zur Feststellung der Geschehnisse liefert. Für die Opfer kann sich diese Möglichkeit positiv auf den Heilungsprozess auswirken, weil ihnen ermöglicht wird, dem Gericht unmittelbar über die zugefügten Verletzungen und deren Konsequenzen zu berichten. Zudem können unmittelbare Opferschilderungen einen größeren Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen als eine schriftliche Zeugenaussage.314 Sie hinterlassen in der Regel einen stärkeren Eindruck bei den zur Entscheidung berufenen Richtern. Es wäre daher begrüßenswert, wenn der EGMR die Familienangehörigen in das Verfahren stärker einbin313 Tanis u. a. v. Türkei, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 115; Khalidova u. a. v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 73; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 153. 314 Ebenso Drucker, 25 Stan. J. Int’l L. 289, S. 297.
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den würde und Zeugenaussagen in der Tatsachenfeststellung größeren Raum einnehmen würden. Bei den schriftlichen Beweismitteln haben sich beide Gerichtshöfe als flexibel erwiesen und ein breites Spektrum an Beweisen zugelassen, um die Tatsachenfeststellung trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten so gut wie möglich zu gewährleisten. Damit der IAGMR ein Dokument berücksichtigt, muss es jedoch gewisse Mindeststandards einhalten, wohingegen der EGMR eine solche Beschränkung nicht kennt.315 Um den Beweisschwierigkeiten zu begegnen haben beide Gerichtshöfe indirekte Beweise akzeptiert und deren Bedeutung in Fällen des Verschwindenlassens anerkannt. Der vom Europäischen Gerichtshof herangezogene Maßstab des „beyond reasonable doubt“ hat in der Literatur viel Kritik erhalten, weil es insbesondere in Fällen des Verschwindenlassens zu hohe Anforderungen stelle.316 Auf der anderen Seite wird eine Absenkung des Beweismaßes bei schweren Menschenrechtsverletzungen aufgrund der hohen Bedeutung der Menschenrechte und dem damit verbundenen öffentlichem Interesse abgelehnt.317 Der Inter-Amerikanische Gerichtshof hat in seinen Urteilen mehrfach festgestellt, dass in menschenrechtlichen Verfahren gegen Staaten ein geringeres Beweismaß gelten muss, als in strafrechtlichen Verfahren.318 Das in Strafverfahren üblicherweise geltende Beweismaß des „beyond resonable doubt“ lehnt der Gerichtshof somit ab und lässt auch ein geringeres Beweismaß ausreichen. Es ist für den Beschwerdeführer in Fällen des Verschwindenlassens schwer bis gar unmöglich den zur vollen Überzeugung führenden Nachweis für die Verantwortlichkeit des Staates zu führen.319 Das Festhalten am „beyond reasonable doubt“-Maßstab führt somit zu einer Be-
315
Siehe auch Vermeulen, S. 248. Jötten, S. 166, 169 f.; Taqi, 24 Fordham Int’l LJ. 2000, S. 982 f.; Scovazzi/Citroni, S. 191, 213; Claude, 5 Intercultural Hum. Rts. L. Rev. 407 2010, S. 461. 317 Kokott, Beweislast, S. 397; Schorm-Bernschütz hält den „beyond reasonable doubt“ Standard dann für angemessen, wenn er eine gewisse Flexibilität aufweist, sodass er nicht zu Lasten des Menschenrechtsschutzes geht, Schorm-Bernschütz, S. 123. 318 Das zwischen den nationalen strafrechtlichen Verfahren und der Menschenrechtsgerichtsbarkeit wesentliche Unterschiede liegen hat der Europäische Gerichtshof bereits selbst festgestellt: „Finally, when there have been criminal proceedings in the domestic courts concerning those same allegations, it must be borne in mind that criminal-law liability is distinct from international-law responsibility under the Convention. The Court’s competence is confined to the latter. Responsibility under the Convention is based on its own provisions which are to be interpreted and applied on the basis of the objectives of the Convention and in light of the relevant principles of international law. The responsibility of a State under the Convention, arising for the acts of its organs, agents and servants, is not to be confused with the domestic legal issues of individual criminal responsibility under examination in the national criminal courts. The Court is not concerned with reaching any findings as to guilt or innocence in that sense.“, Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 116. 319 Ebenso Schorm-Bernschütz, S. 123; Kokott, Beweislastverteilung, S. 398. 316
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nachteiligung des Beschwerdeführers. Hingegen ist der Beweisstandard der „preponderance of evidence“ aufgrund der herausragenden Bedeutung von Menschenrechtsverfahren zu gering.320 Der vom Inter-Amerikanischem Gerichtshof gewählte, dazwischen liegende Wahrscheinlichkeitsgrad des „clear and convincing evidence“ wird zum einen der Beweisnot der Beschwerdeführer gerecht und berücksichtigt dennoch das Interesse der Allgemeinheit. Kokott führt für eine Verringerung des Beweismaßes an, dass das deutsche Recht bei Grundrechtsverletzungen eine Herabsetzung des Grundsatzes der vollen richterlichen Überzeugung kennt. Dies müsse dann in völkerrechtlichen Verfahren erst Recht gelten, da die Beweiserbringung für Beschwerdeführer noch schwieriger ist.321 Wägt man zudem das Interesse des Beschwerdeführers an einer Verurteilung und das Interesse des Staates, nicht fälschlich verurteilt zu werden, gegeneinander ab, so führt ein niedriges Beweismaß in menschenrechtlichen Verfahren zu einem angemessenem Verhältnis dieser Ziele.322 Um die Glaubwürdigkeit der Entscheidungen nicht zu beeinträchtigen, darf das Beweismaß hingegen auch nicht zu gering sein. In Fällen des Verschwindenlassens ist daher die Ansicht des IAGMR überzeugend, nach der eine Absenkung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ angemessen ist. Der von ihm angewandte Beweisstandard des „clear and convincing evidence“, wenn in seinen Entscheidungen auch nicht explizit benannt, wird den speziellen beweisrechtlichen Anforderungen des Verschwindenlassens gerecht. Dies gilt auch insoweit, dass die Absenkung des Beweismaßes dem beschwerdegegnerischen Staat in Fällen der Beweislastumkehr zugutekommt. Den besonderen Beweisschwierigkeiten in Fällen des Verschwindenlassens begegnen beide Menschenrechtsgerichtshöfe durch Beweiserleichterungen. Zum einen ziehen beide Gerichtshöfe aus sich wiederholenden Fällen des Verschwindenlassens eine widerlegbare Vermutung zu Lasten des Staates. Dabei bleibt der Europäische Gerichtshof jedoch hinter der opferfreundlichen Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs zurück. Lange Zeit nahm der EGMR in der Türkei und Russland keine systematische Praxis des Verschwindenlassens an, obwohl zahlreiche Berichte verschiedener Organisationen eine hohe Fallzahl und die Zielgerichtetheit der Aktionen durch die jeweiligen Regierungen nachwiesen. Zudem erreichten den Gerichtshof in den vergangenen Jahren, insbesondere bezüglich der Situation in Tschetschenien, eine Vielzahl von Fällen des Verschwindenlassens, die in der Regel nach dem selben modus operandi abliefen. Erst 2012
320 Kazazi spricht sich für das flexiblere Beweismaß des „preponderance of evidence“ in Fällen des Verschwindenlassens aus, Kazazi, S. 347 f.; Singh Sethi, Human Rights Brief, Vol. 8, 2001, S. 31; Jötten, S. 175. 321 Kokott, Beweislastverteilung, S. 396; Kokott, Burden of Proof, S. 201 ff. 322 Ebenso Jötten, S. 178 f.; Kokott, Beweislastverteilung, S. 404; Taqi, 24 Fordham Int’l LJ. 2000, S. 983.
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4. Teil: Schutz der Opfer
im Fall Aslakhanova u. a. v. Russland wurde dies als systematische Praxis anerkannt, jedoch ohne daraus beweisrechtliche Konsequenzen zu ziehen. Während der Inter-Amerikanische Gerichtshof bereits ab seiner ersten Entscheidung das systematische Verschwindenlassen als ein wesentliches Kriterium heranzog um dem Beschwerdeführer in seiner Beweisnot eine Möglichkeit zur Erleichterung seiner Beweislast zu bieten, bewertet der Europäische Gerichtshof wiederholte Fälle des Verschwindenlassens lediglich als eine widerlegliche Vermutung für die Ermordung der verschwundenen Person. Der IAGMR geht damit weiter als sein europäisches Pendant. Jötten hingegen argumentiert, dass sich die Herangehensweise beider Gerichtshöfe im Wesentlichen gleichen würde.323 Sie bezieht sich dabei jedoch ausschließlich auf die Vermutung des Todes durch die beiden Gerichtshöfe. Der IAGMR wertet, ähnlich dem Vorgehen des EGMR, die systematische Praxis des Verschwindenlassens in einem Staat als Indiz für die Ermordung des Opfers.324 Anders als der EGMR beschränkt er sich jedoch nicht ausschließlich auf diesen Punkt, sondern sieht das Verschwindenlassen als Ganzes als bewiesen an, wenn durch den Staat keine gegenteiligen Beweise vorgelegt wurden. Durch den Nachweis einer systematischen Praxis geht der IAGMR nicht nur von der widerlegbaren Vermutung des Todes aus, sondern auch der Verantwortlichkeit des Staates für diesen.325 Dieser Punkt ist für die Beschwerdeführer in den meisten Fällen ähnlich schwer zu beweisen wie die Ermordung des Opfers, weshalb dies eine wesentliche Beweiserleichterung darstellt, die durch den europäischen Gerichtshof nicht gewährt wird. Beide Gerichtshöfe waren mit der Tatsache konfrontiert, dass sich die beschwerdegegnerischen Staaten nur unzureichend oder gar nicht an den Verfahren beteiligten. Dies betraf insbesondere die Herausgabe wesentlicher Dokumente für die Tatsachenfeststellung. Es ist angemessen einer solchen Politik staatlicher Nichtkooperation durch die Umkehr der Beweislast zu begegnen. Die Unterlagen sind unter staatlicher Kontrolle und deren Herausgabe können weder vom Beschwerdeführer noch vom Gerichtshof erzwungen werden. Unterlässt die beschwerdegegnerische Regierung eine Mitwirkung muss sie auch den Nachteil tragen. Daher kehren sowohl der Europäische Gerichtshof als auch der InterAmerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Beweislast in solchen Fällen zu Lasten des Staates um. Der EGMR knüpft eine Beweislastumkehr jedoch daran, dass es dem Beschwerdeführer in einem ersten Schritt gelang, seinen Fall ausreichend nachzuweisen. Ebenso lässt der IAGMR alleine die mangelnde Ko323
Jötten, S. 223. Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 173. 325 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147g, h, 148; in Juan Humberto Sánchez wird die systematische Praxis zudem herangezogen um die Folterungen des Opfers nachzuweisen, Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 99. 324
B. Beweisschwierigkeiten
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operation eines Staates nicht als Nachweis eines Verschwindenlassens ausreichen, sondern zieht weitere Indizien und Hinweise heran. Daraus lässt sich ableiten, dass der IAGMR einen Fall in dem keinerlei Hinweise auf staatliches Verschwindenlassen vorliegen auch dann als nicht begründet ansehen würde, wenn der Staat sich einer Mitarbeit vollkommen verweigern würde. Dennoch sind die Anforderungen des EGMR mit der Darlegung eines prima facie-Falls höher angelegt. In einigen Fällen hat dies dazu geführt, dass der Gerichtshof eine staatliche Beteiligung als nicht erwiesen ansah, obwohl deutliche Hinweise dafür vorlagen. Im Hinblick auf die beweisrechtlichen Erleichterungen bei einer staatlichen Ingewahrsamnahme des Verschwundenen hat der Europäische Gerichtshof eine deutlich ausgeprägtere Rechtsprechungspraxis entwickelt auf die sich auch der IAGMR in seinen Entscheidungen bezog. Dennoch hat der EGMR in solchen Situationen lediglich eine Schlussfolgerung über die Verantwortlichkeit des Staates für den Verletzungserfolg gezogen wohingegen der IAGMR eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Beschwerdeführers annimmt. Befindet sich eine Person in staatlichem Gewahrsam, haben allein die staatlichen Organe eine effektive Kontrolle über die Geschehensabläufe und eine damit verbundene Beweislast. Beweise die während dieses Zeitraums entstanden, sind dem Verschwundenen und seinen Angehörigen regelmäßig nicht zugänglich. Es ist ihnen mithin praktisch nicht möglich den Verletzungseintritt nachzuweisen. Aufgrund dieser hohen beweisrechtlichen Hürde für die Opfer ist eine Beweislastumkehr, um eine gerechte Lastenverteilung zu erreichen, angemessen. Es liegt in der Hand der staatlichen Behörden für eine sorgsame Dokumentation über die Verhaftung und den Haftzeitraum zu sorgen. Jötten bevorzugt in diesen Konstellationen die Beibehaltung der Beweislastverteilung bei Absenkung des Beweismaßes auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit.326 Eine Verlagerung der Beweislast bei einem geringen Beweismaß führt ihrer Ansicht nach zu so geringen Unterschieden, dass ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen behindert wird.327 Das kann nicht überzeugen, da die Verlagerung der Beweislast auch bei Beibehaltung eines geringen Beweismaßes, unabhängig davon ob man den Beweisstandard der „preponderance of evidence“ oder des „clear and convincing evidence“ heranzieht, für den Beschwerdeführer vorteilhafter ist. Es ist nicht nachvollziehbar, dem Beschwerdeführer die Last für Tatsache aufzubürden die er de facto nicht erfüllen kann. Von einer Beweislastumkehr geht auch eine Signalwirkung an die Staaten aus, dass für sie ein wesentlicher Vorteil des Verschwindenlassens, die erschwerte Nachweisbarkeit der Tatsachen nach der Verhaftung, in der menschenrechtlichen Entscheidungspraxis nachteilig ist.
326 327
Jötten, S. 205 f. Jötten, S. 206.
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4. Teil: Schutz der Opfer
C. Das Recht, nicht verschwindengelassen zu werden Weder die Europäische noch die Amerikanische Menschenrechtskonvention kennen ein Recht, nicht verschwindengelassen zu werden. Die UN-Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen ist das erste internationale Übereinkommen, das explizit normiert, dass niemand dem Verschwindenlassen unterworfen werden darf.328 Dieses Recht ist auch in Zeiten des Notstandes oder Krieges nicht einschränkbar.329 Die Gerichtshöfe haben trotz eines fehlenden expliziten Verbots des Verschwindenlassens dessen Bedeutung betont. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof stellte fest, dass das Verbot des Verschwindenlassens von solcher Bedeutung ist, dass es sich dabei um eine jus cogens-Norm handelt.330 Zudem folgen beide Gerichtshöfe dem sog. multiple rights approach, demzufolge das Verschwindenlassen verschiedene Konventionsrechte wie das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, das Recht auf Sicherheit und Freiheit oder das Recht auf wirksame Beschwerde berührt.331 Seit der Goiburú-Entscheidung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes ist dieser dazu übergegangen, das Verschwindenlassen nicht als Verletzung einzelner Rechte zu sehen, sondern als eigenständiges Verbrechen, bestehend aus verschiedenen miteinander verwobenen Elementen.332 Der Gerichtshof sieht die Notwendigkeit „to consider integrally the offense of forced disappearance of an autonomous, continuing or permanent nature, composed of multiple elements with their complex interrelationships, and related criminal acts.“ 333
Seither hat er das Verschwindenlassen nicht mehr segmentiert, sondern es als Einheit begriffen, die dennoch verschiedene Artikel der Konvention berührt, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.
I. Recht auf Leben Das Recht auf Leben ist eine elementare Garantie, da es die Voraussetzung zur Verwirklichung aller anderen Rechte aus der Konvention schafft.334 Art. 2
328 Art. 1 (1) UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen normiert: „No one shall be subjected to enforced disappearance“. 329 Art. 1 (2) UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen. 330 Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 84, 93. 331 Zum Multiple-Rights Approach beim Verschwindenlassen siehe Pérez Solla, S. 33 ff. 332 Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 85; Ticona Estrada et al. v. Bolivien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 2008, Abs. 56. 333 Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 83.
C. Das Recht, nicht verschwindengelassen zu werden
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EMRK und Art. 4 AMRK normieren, dass das Recht auf Leben geschützt werden muss und niemand absichtlich getötet werden darf. In der überwältigenden Mehrheit enden Fälle des Verschwindenlassens für das Opfer tödlich. Ein zentrales Problem bei der Verhandlung von Fällen des Verschwindenlassens ist der Mangel an Beweismitteln, um die Ermordung des Opfers nachzuweisen. Regelmäßig leugnen die Behörden die Ermordung und auch die sterblichen Überreste werden gar nicht oder erst viele Jahre später aufgefunden, sodass die Richter nur vermuten können, dass eine verschwundene Person nicht mehr am Leben ist. 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ging seit Beginn seiner Rechtsprechung zum Verschwindenlassen von einer Verletzung des Rechts auf Leben aus. In Velásquez Rodríguez wurde nie eine Leiche gefunden. Dennoch stellt der Gerichtshof fest: „The context in which the disappearance of Manfredo Velásquez occurred and the lack of knowledge seven years later about his fate create a reasonable presumption that he was killed. Even if there is a minimal margin of doubt in this respect, it must be presumed that his fate was decided by authorities who systematically executed detainees without trial and concealed their bodies in order to avoid punishment.“ 335
Im Wesentlichen zieht der Gerichtshof demnach zwei Faktoren heran, um den Tod des Opfers zu vermuten. Zunächst ist die systematische Praxis des Verschwindenlassens von erheblicher Bedeutung, insbesondere wenn diese wie im Fall Honduras regelmäßig zum Tod des Opfers führt.336 Des Weiteren berücksichtigt der Gerichtshof die Länge des Verschwindens. Wenn über eine beträchtliche Zeitspanne kein Lebenszeichen des Verschwundenen erfolgte, ist dies ein wichtiger Indikator für die Vermutung seiner Ermordung.337 Die genaue Länge dieses Zeitraums wird nicht festgelegt, aber dieses Kriterium wurde immer dann angewandt, wenn sich die Fälle über mehrere Jahre erstreckten.338 Es lässt sich darauf schließen, dass ein Verschwinden von nur wenigen Wochen und Monaten 334 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 86; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 110. 335 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 188. 336 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147. 337 Die Länge des Verschwindens berücksichtigte der Gerichtshof unter anderem in Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 198; Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 71; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 173. 338 In Neira-Alegría et al. v. Peru, Merits, Urteil vom 19. Januar 1995, Abs. 76 acht Jahre; Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 8. Dezember 1995, Abs. 53 (b) sechs Jahre; Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November
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4. Teil: Schutz der Opfer
als Indikator für die Ermordung nicht ausreicht. Daneben wird auch die Untätigkeit der Behörden trotz mehrmaliger Anfragen sowie die Leugnung jeglicher Verantwortung herangezogen. Auch in Fällen, in denen keine systematische Praxis des Verschwindenlassens in einem Land nachweisbar ist, kann der Gerichtshof zu der Überzeugung kommen, dass das Recht auf Leben verletzt wurde. Ausschlaggebend ist, wenn das Opfer sich zuletzt in staatlichem Gewahrsam befand und es dem Staat nicht gelingt, für das Verschwinden des Häftlings eine glaubwürdige Erklärung zu liefern.339 Daneben wird als weiterer Indikator ebenfalls die Länge des Verschwindens berücksichtigt.340 In diesen Fällen ist der Nachweis erheblich erschwert, da zumindest konkrete Beweise für die Verhaftung durch staatliche Organe beigebracht werden müssen. In Castillo-Páez berief sich Peru auf sein damaliges nationales Strafrecht, wonach der Fund einer Leiche als Beweis für eine Verurteilung wegen Verschwindenlassen voraussetzt wurde. Der Gerichtshof erklärte dieses Argument für unzulässig, da es den Tätern als Anreiz diene, den Leichnam zu verstecken oder zu zerstören, sodass sie für ihre Taten völlig straflos blieben.341 Zudem geht es bei den Verfahren vor dem Gerichtshof gerade nicht um die strafrechtliche Verurteilung eines Individuums, sondern um die Feststellung der Verantwortlichkeit eines Staates für die Verletzung von Menschenrechten. Regelungen aus dem Strafrecht lassen sich nicht ohne Weiteres auf diese Verfahren übertragen.342 Anders entschied der Gerichtshof beim Verschwinden von Kindern in El Salvador. Im Fall der Serrano Cruz-Schwestern ging der Gerichtshof nicht von einer Verletzung des Rechts auf Leben aus. Er sah es als erwiesen an, dass verschwundene Kinder in El Salvador nicht zwangsläufig umgebracht wurden, sondern nach einer gängigen Praxis von Militärangehörigen adoptiert wurden. Die NGO „Asociación Pro-Búsqueda“ in El Salvador konnte 153 Kinder wiederfinden, die teilweise über 15 Jahre lang verschwunden waren, woraus der Gerichtshof schloss, dass von der Ermordung der Kinder nicht ausgegangen werden kann.343 Der IAGMR sieht das Recht auf Leben in der absoluten Mehrheit seiner Fälle als verletzt an, obwohl der Tod des Opfers oft nur vermutet werden kann. Den Beweisschwierigkeiten der Kommission und Opfervertreter wird dabei durch beweisrechtliche Erleichterungen begegnet. 1997, Abs. 71 sieben Jahre; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 173 achteinhalb Jahre. 339 Neira-Alegría et al. v. Peru, Merits, Urteil vom 19. Januar 1995, Abs. 65. 340 Neira-Alegría et al. v. Peru, Merits, Urteil vom 19. Januar 1995, Abs. 76. 341 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 73. 342 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 134; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 98. 343 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 130 f.
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2. Europäischer Gerichtshof Bei der Annahme einer Verletzung des Art. 2 EMRK zeigte sich der Europäische Gerichtshof in seinen ersten Entscheidungen zurückhaltend. In Kurt v. Türkei legte die Beschwerdeführerin dar, dass das Verschwindenlassen ihres Sohns im Zusammenhang mit lebensbedrohlichen Umständen stand und das Verschwindenlassen eine systematisch eingesetzte Unterdrückungsmethode in der Südtürkei darstelle.344 Obwohl das Opfer zuletzt vor viereinhalb Jahren umringt von Soldaten gesehen wurde, reichte dies dem Gerichtshof als Beweis für eine Verletzung des Art. 2 EMRK nicht aus.345 Für diese Entscheidung erntete der Gerichtshof viel Kritik.346 Nachfolgend, im Fall Çakici v. Türkei, nahm der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 2 EMRK hingegen an. Der EGMR betonte den Unterschied zur Kurt-Entscheidung und stellte klar, dass neben der Verhaftung durch staatliche Organe noch weitere Hinweise für die Ermordung des Opfers sprachen.347 Diese Unterscheidung ist jedoch nicht völlig überzeugend, da die Beweise, die im Çakici-Fall vorlagen, keinen substantiellen Unterschied zum Kurt-Fall aufweisen.348 In Timurtas¸ v. Türkei maß der Gerichtshof der Tatsache große Bedeutung bei, dass sich das Opfer nachweislich zuletzt in staatlichem Gewahrsam befunden hatte und der Staat keine plausible Erklärung aufbrachte, was mit ihm seither geschehen war. Das alleine ließ der Gerichtshof als Nachweis des Todes nicht ausreichen, sondern zog die gesamten Umstände des Falles heran.349 Wesentliche Bedeutung wurde dem Zeitraum zugemessen, der seit dem Verschwinden vergangen war. „In this respect the period of time which has elapsed since the person was placed in detention, although not decisive in itself, is a relevant factor to be taken into account. It must be accepted that the more time goes by without any news of the detained person, the greater the likelihood that he or she has died. The passage of time may therefore to some extent affect the weight to be attached to other elements of circumstantial evidence before it can be concluded that the person concerned is to be presumed dead.“ 350
Die Länge des Verschwindens stellt somit einen entscheidenden Faktor dar, ist für sich alleine jedoch nicht ausreichend, um den Tod des Opfers anzunehmen. In 344
Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 101 f. Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 106 ff. 346 Scovazzi/Citroni, S. 190 f.; Taqi, 24 Fordham Int’l LJ. 2000, S. 985. 347 Beim Leichnam eines Terroristen wurde der Ausweis des Verschwundenen gefunden, Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 85. 348 Ebenso Scovazzi/Citroni, S. 193; Chevalier-Watts, Human Rights Review (2010), S. 473. 349 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82. 350 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 83; Tas v. Türkei, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 64; Askhabova v. Russland, Urteil vom 18. April 2013, Abs. 132. 345
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den sechseinhalb Jahren, die seit dem Verschwinden Abdulvahap Timurtas¸ vergangen waren, sah der Gerichtshof einen wesentlichen Unterschied zu den lediglich viereinhalb Jahren in der Kurt-Entscheidung. Es ist nicht nachvollziehbar, inwieweit diese zwei zusätzlichen Jahre einen wesentlichen Unterschied ausmachen,351 zumal der Gerichtshof in späteren Entscheidungen bezüglich Russland auch ähnlich kurze Zeiträume als Hinweis auf die Ermordung des Opfers wertete.352 Auf der anderen Seite führt auch ein Verschwinden über mehrere Jahrzehnte nicht zu einer stärkeren Vermutung bezüglich seiner Ermordung. Im Fall Zypern v. Türkei behandelte der Gerichtshof das Verschwindenlassen von 1491 griechischen Zyprioten im Rahmen der türkischen Militäraktion in Nordzypern im Jahre 1974. Obwohl zum Zeitpunkt der Entscheidung, über zwanzig Jahre später, von den Verschwundenen immer noch jede Spur fehlte, ließ der EGMR diese Tatsache allein nicht ausreichen, um den Tod der Opfer zu vermuten.353 Mittlerweile nimmt der Gerichtshof im Bezug auf Russland regelmäßig bei Zeiträumen von vier bis zehn Jahren ohne Nachricht des Verschwundenen seinen Tod an.354 Neben dem Zeitelement wurde zudem berücksichtigt, dass Abdulvahap Timurtas¸ von den Behörden aufgrund seiner PKK-Aktivitäten gesucht wurde. Daraus schloss der Gerichtshof im Hinblick auf die generelle Situation in der Südosttürkei, dass die Verhaftung für eine solche Person lebensbedrohlich war.355 In nachfolgenden Entscheidungen ging der EGMR wiederholt von dieser lebensbedrohlichen Situation in der Südtürkei aus.356 In den Tschetschenien-Fällen war es für die Vermutung des Todes nicht mehr erforderlich, dass die verschwundene Person als durch staatliche Verfolgung gefährdet angesehen wurde. „Having regard to the previous cases concerning disappearances of people in Chechnya which have come before the Court, the Court considers that, in the context of the conflict in the Chechen Republic, when a person is detained by unidentified service-
351 Ebenso Scovazzi/Citroni, S. 197; Chevalier-Watts, Human Rights Review (2010), S. 474 f. 352 Im Fall Umarovy v. Russland, Urteil vom 12. Juni 2012, Abs. 118 fehlte von dem Opfer seit vier Jahren jede Spur. 353 Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 3, 20, 132; im Fall Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 181 ff. der sich ebenfalls mit der türkischen Militärintervention in Zypern beschäftigt, geht der Gerichtshof auf die mittlerweile über 30 vergangenen Jahre seit dem Verschwinden gar nicht ein. 354 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 102; Gakayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 10. Oktober 2013, Abs. 328; Dovletukayev u. a. v. Russland, Urteil vom 24. Oktober 2013, Abs. 196. 355 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 85. 356 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 330; Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 226; Tog˘cu v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 112.
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men without any subsequent acknowledgement of the detention, this can be regarded as life-threatening.“ 357
Damit der Gerichtshof den Tod eines Opfers annimmt, müssen jedoch immer Hinweise vorliegen, aus denen eine staatliche Beteiligung geschlussfolgert werden kann.358 Gelingt es dem Beschwerdeführer, in einem prima facie Fall darzulegen, dass die Person durch staatliche Kräfte verhaftet wurde, zieht der Gerichtshof im Anschluss als weitere Hinweise für die Ermordung die Dauer seiner Abwesenheit sowie die Lebensbedrohlichkeit der Situation heran.359 Seit der Entscheidung im Fall Osmanog˘lu v. Türkei geht der Gerichtshof jedoch davon aus, dass eine staatliche Beteiligung für die Vermutung des Todes keine notwendige Bedingung ist.360 In einer abweichenden Meinung kritisieren drei Richter diese Feststellung des EGMR. Die Lebensbedrohlichkeit könne in Fällen, in denen eine staatliche Beteiligung nicht nachgewiesen sei, nur dann angenommen werden, wenn der Gerichtshof von einer systematischen staatlichen Praxis des Verschwindenlassens ausginge.361 Insoweit lässt sich jedoch festhalten, dass die Anerkennung einer systematischen Praxis durch den EGMR immer wieder abgelehnt wurde, aber dennoch eine uneingestandene Verhaftung in der Südtürkei lebensbedrohlich ist. Das folgert er in diesem Fall auch daraus, dass die Art der Entführung viele Ähnlichkeiten mit Fällen aufweist, in denen die Opfer nachweislich ums Leben kamen.362
357 Elmurzayev u. a. v. Russland, Urteil vom 12. Juni 2008, Abs. 94; Rasayev und Chankayeva v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 66; Tsurova u. a. v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 112; Bantayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 12. Februar 2009, Abs. 76; Astamirova u. a. v. Russland, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 79; Elsiyev u. a. v. Russland, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 153; Gaziyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 9. April 2009, para 71; Nenkayev u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 145; Basayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 124; Kosumova u. a. v. Russland, Urteil vom 7. Juni 2011, Abs. 69. 358 Der Gerichtshof schloss daraus, dass sich große Gruppen bewaffneter Männer mit militärischen Fahrzeugen im Zusammenhang mit militärischen Aktionen oder während einer Ausganssprerre frei bewegen konnten und Personen verhafteten, das diese Personen staatliche Bedienstete sind, Elmurzayev u. a. v. Russland, Urteil vom 12. Juni 2008, Abs. 90; Rasayev und Chankayeva v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 62; Astamirova u. a. v. Russland, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 74; Basayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 119; Kosumova u. a. v. Russland, Urteil vom 7. Juni 2011, Abs. 65. 359 Gelingt hingegen dieser Nachweis nicht, kann auch ein langer Verschwindenszeitraum und die Bedrohlichkeit der Situation, in der sich die Person befand, für die Vermutung des Todes nicht ausreichen; Tagirova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 71 ff.; Zakriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 64 ff.; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 97 ff. 360 Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 57. 361 Joint partly dissenting opinion of judges Türmen, Vajic und Steiner, Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, S. 2 f. 362 Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 58.
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Wurden die Überreste eines Verschwundenen aufgefunden, verlangt der Gerichtshof den Nachweis einer kausalen Verbindung zwischen der Verhaftung der Person und deren Tod. Hinweise für eine solche Verbindung liefern beispielsweise forensische Untersuchungen, die auf einen gewaltsamen Tod hinweisen, oder dass für den Zeitraum zwischen Verhaftung und Auffinden der Leiche keine gegenteiligen Hinweise über den Verbleib der Person existieren.363 Seit der Kurt-Entscheidung hat sich die Rechtsprechung des EGMR im Rahmen des Art. 2 EGMR in Fällen des Verschwindenlassens zunehmend positiv zugunsten der Kläger entwickelt. Die wenig überzeugenden Versuche des EGMR, die Entscheidung im Fall Kurt von seinen nachfolgenden Urteilen zu differenzieren, wirken sich jedoch negativ auf die Überzeugungskraft der Entscheidungen aus.364 3. Vergleich Die größte Schwierigkeit in der Prüfung einer Verletzung des Rechts auf Leben liegt in der Feststellung des Todes der verschwundenen Person. Fehlt der Leichnam und streitet der betreffende Staat alles ab, kann der Tod nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Beide Gerichtshöfe lassen jedoch eine Reihe von Indizienbeweise zu, um die Ermordung des Verschwundenen zu vermuten. Sie werden damit dem Umstand gerecht, dass es den Tätern nicht zum Vorteil gereichen darf, dass die Leiche nicht auffindbar ist. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof legt geringere Beweisstandards für die Vermutung des Todes an. Sobald eine systematische Praxis des Verschwindenlassens in einem Land nachgewiesen ist, genügt diese aus, um den Tod zu vermuten, ohne dass konkrete Beweise eine staatliche Beteiligung an der Tat nachweisen. In Velásquez Rodriguez nahm der IAGMR eine staatliche Verantwortlichkeit an, obwohl die Täter in ziviler Kleidung und unkenntlich gemachten Autos die Verhaftung durchführten.365 Der Europäische Gerichtshof verlangt deutlichere Hinweise auf eine staatliche Beteiligung, beispielsweise dass das Verschwinden im Rahmen militärischer Aktionen erfolgte oder die Täter sich in einem vom Militär kontrollierten Gebiet frei bewegen konnten. Daraus folgt, dass er in mehr Fällen eine Verletzung des Rechts auf Leben abgelehnt hat als sein inter-amerikanisches Pendant. Die Herangehensweise des EGMR ist nicht überzeugend. In den Fällen, in denen eine Verletzung des Rechts auf Leben abgelehnt wurde, gehörten die Opfer in der Regel zu einem gefährdeten Personenkreis und das Verschwinden verlief nach dem selben modus operandi wie in den Fällen, in denen eine Verletzung angenommen wurde. Darüber hinaus ziehen beide Gerichtshöfe für die Vermutung des Todes ähnliche Kriterien heran. Befand sich das Opfer zuletzt in staatlichem Gewahrsam und 363 364 365
Shakhgiriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 149. Chevalier-Watts, Human Rights Review (2010), S. 475. Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 147g ii.
C. Das Recht, nicht verschwindengelassen zu werden
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lässt es der beschwerdegegnerische Staat an einer plausiblen Erklärung über den Verbleib des Inhaftierten fehlen, wird dies in beiden Systemen als Hinweis für dessen Ermordung gewertet. Neben der Berücksichtigung einer systematischen Praxis bzw. wiederholten Fällen in einem Land wird vor allem die Dauer des Verschwindenlassens herangezogen. Hierbei ist der Europäische Gerichtshof weniger konsequent als der IAGMR und lässt offen, welcher Zeitraum erforderlich ist. Scovazzi/Citroni kritisieren die Berücksichtigung der Zeitspanne des Verschwindens, wenn in dem betreffenden Land eine systematische Praxis bestand. Die Richter sollten viel mehr den Kontext des Falls berücksichtigen, als sich auf bloße Zahlen zu beziehen. Besteht eine Praxis des Verschwindenlassens, überleben nur die wenigsten Opfer.366 Dieser Sichtweise ist zuzustimmen. Die Bezugnahme auf die Zeitspanne, die seit dem Verschwinden vergangen ist, hat sich als äußerst unzuverlässig herausgestellt. Die wenigsten Opfer haben länger als ein Jahr in der Gefangenschaft überlebt. Zumeist sind sie bereits nach viel kürzeren Zeiträumen ermordet worden. In den Zypern-Fällen hat der Gerichtshof allerdings auch ein Verschwinden von über zwanzig Jahren als nicht ausreichend erachtet, um den Tod der Opfer zu vermuten. Herrscht in einem Land nachweislich eine systematische Praxis, sollte diese ausreichen, um den Tod des Opfers zu vermuten.
II. Verbot der Folter In vielen Fällen werden die Opfer über Wochen oder Monate ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt in geheimen Haftzentren festgehalten. Um von ihnen weitere Informationen im Kampf gegen die subversiven Kräfte im Land zu gewinnen, wurde wiederholt auf das Mittel der Folter zurückgegriffen. Sowohl die EMRK in Art. 3 als auch die AMRK in Art. 5 beinhalten das Recht auf menschliche Behandlung. Es wird dabei zwischen dem Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe bzw. Behandlung unterschieden. Während die EMRK lediglich das Folterverbot deklariert, behandelt die AMRK zudem die physische und psychische Unversehrtheit von Gefangenen sowie deren Behandlung während des Haftaufenthalts. Beide Konventionen erlauben keinerlei Einschränkungen oder Ausnahmen dieser Verbote, selbst der Kampf gegen den Terrorismus erlaubt keinen Eingriff.367 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Der Inter-Amerikanische Gerichtshof nimmt in den meisten Fällen eine Verletzung des Verbots der Folter und unmenschlichen Behandlung gem. Art. 5 AMRK an. Zur Bestimmung des Folterbegriffs werden die Definition der Konvention ge366 367
Scovazzi/Citroni, S. 197 f.; zustimmend ebenso Ott, S. 80. Burgorgue-Larsen/Úbeda de Torres, Rn. 15.07.
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4. Teil: Schutz der Opfer
gen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung und die Inter-Amerikanische Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Folter368 herangezogen.369 In der Praxis des IAGMR wird die Unterscheidung zwischen Folter und unmenschlicher Behandlung nicht konsequent verfolgt und regelmäßig eine generelle Verletzung des Art. 5 AMRK angenommen oder die Misshandlungen ohne weitere Ausführungen als Folter klassifiziert.370 Beim Nachweis einer Verletzung des Art. 5 AMRK findet ebenfalls die systematische Praxis des Verschwindenlassens Berücksichtigung. Konnte nachgewiesen werden, dass die vom jeweiligen Land angewandte Praxis in der Regel auch Folter oder grausame, herabwürdigende und unmenschliche Behandlung beinhaltete, obliegt dem Staat der Nachweis, dass im konkreten Fall von diesen Methoden kein Gebrauch gemacht wurde.371 Die Beweislast kehrt sich insoweit zu Lasten des Staates um. Dies ist gerechtfertigt, da die Beweismittel über die Behandlung eines Häftlings ausschließlich unter staatlicher Kontrolle stehen.372 Nach Auffassung des Gerichtshofs läuft eine zu Unrecht verhaftete Person ferner ein höheres Risiko, in ihren durch die Konvention geschützten Rechten, insbesondere dem Recht auf menschliche Behandlung, verletzt zu werden. Eine Incommunicado-Haft stellt an sich, aufgrund ihrer psychischen Auswirkungen auf den Häftling, eine unmenschliche Behandlung dar: „First, the mere subjection of an individual to prolonged isolation and deprivation of communication is in itself cruel and inhuman treatment which harms the psychological and moral integrity of the person, and violates the right of every detainee under Article 5 (1) and 5 (2) to treatment respectful of his dignity.“ 373 368 Art. 2 Inter-American Convention to Prevent and Punish Torture: „For the purposes of this Convention, torture shall be understood to be any act intentionally performed whereby physical or mental pain or suffering is inflicted on a person for purposes of criminal investigation, as a means of intimidation, as personal punishment, as a preventive Measures, as a penalty, or for any other purpose. Torture shall also be understood to be the use of methods upon a person intended to obliterate the personality of the victim or to diminish his physical or mental capacities, even if they do not cause physical pain or mental anguish. The concept of torture shall not include physical or mental pain or suffering that is inherent in or solely the consequence of lawful Measures, provided that they do not include the performance of the acts or use of the methods referred to in this article.“ 369 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 156 f. 370 In Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 155 ff. setzt der Gerichtshof sich detailliert mit der Frage auseinander, welche Behandlung eines Gefangenen als Folter zu werten ist. 371 Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 164; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 97; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 113. 372 Siehe 4. Teil, B., I., 3., a).
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Die durch die Isolationshaft verursachte Angst und Hilflosigkeit stellen eine Verletzung der menschlichen Würde dar. Es reicht auch aus, eine bedrohliche Situation für den Häftling zu schaffen oder ihm mit Folter zu drohen.374 Die Formulierung „prolonged isolation“ impliziert, dass eine bestimmte Dauer vorausgesetzt wird. In Caballero-Delgado wurden die Opfer kurze Zeit nach ihrer Verhaftung, ca. 5 Stunden später, ermordet, weshalb von einer anhaltenden Isolierung nicht ausgegangen wurde und eine Verletzung des Art. 5 AMRK durch den Gerichtshof abgelehnt wurde.375 Ein späteres Urteil betonte jedoch, dass bereits eine kurze Zeitspanne ausreiche, bestimmt diese jedoch nicht genauer.376 In Villagran-Morales wurde ein Zeitraum von 10 bis 21 Stunden als ausreichend angesehen, um den Opfern psychische Verletzungen zuzufügen.377 Daraus lässt sich schließen, dass der Gerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung auch kürzere Haftzeiten für eine Verletzung des Art. 5 AMRK als genügend erachtet. Dies kann nur begrüßt werden, da selbst kurze Zeiträume von nur wenigen Stunden einen Häftling in einen schweren Zustand von Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit stürzen können, welche zu langanhaltenden Schäden für seine Psyche führen können. Es ist somit angemessen, auch bei kurzer Isolation eine Verletzung der menschlichen Würde anzunehmen. Auch andere Vorgänge während der Verhaftung oder der Haft können eine Verletzung des Art. 5 AMRK darstellen. Dementsprechend bewertete der Gerichtshof den Abtransport eines Opfers im Kofferraum eines Polizeiwagens sowie das Miterleben von Exekutionen anderer Häftlinge in der Haft als unmenschliche Behandlung.378 Im Fall Caballero Delgado lagen dem Gerichtshof Zeugenaussagen vor, nach denen Carmen Santana nackt oder nur in Unterwäsche bekleidet im Gewahrsam der kolumbianischen Soldaten gesehen wurde.379 Ohne auf diese Zeugenberichte weiter einzugehen lehnte er jedoch eine Verletzung des Art. 5 AMRK als unbewiesen ab.380 Es erschließt sich aus dem Urteil nicht, warum der Gerichtshof die Aussagen als zu vage ablehnt hat. Der IAGMR demonstriert da373 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 187; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Abs. 164. 374 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 149. 375 Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 8. Dezember 1995, Abs. 64 f. 376 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 98. 377 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 162. 378 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 66; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 113. 379 Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 8. Dezember 1995, Abs. 36, 38. 380 Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 8. Dezember 1995, Abs. 53 f.
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durch eine Ignoranz gegenüber der erzwungenen Entkleidung als entwürdigende Behandlung der Gefangenen.381 Auch das Auffinden des Leichnams lässt Rückschlüsse darauf zu, welcher Behandlung das Opfer vor seiner Ermordung ausgesetzt war. Der Gerichtshof analysiert sehr genau, in welchem Zustand das Opfer aufgefunden wurde, und zieht die Ergebnisse pathologischer Untersuchungen heran.382 2. Europäischer Gerichtshof Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht den Art. 3 EMRK in den allermeisten Fällen des Verschwindenlassens nicht als verletzt an. Die Folterungen und Misshandlungen des Opfers müssen zur vollen richterlichen Überzeugung nachgewiesen werden, was aufgrund fehlender Beweise oftmals schwierig ist. Um die Beweisnot der Beschwerdeführer zu verringern, lässt der EGMR jedoch ausreichend starke und klare Schlussfolgerungen zu.383 In Kurt v. Türkei nahm der Gerichtshof Bezug auf seine Entscheidung zu Art. 2 EMRK und befand, dass es der Beschwerdeführerin nicht gelungen sei, die Misshandlungen ihres Sohnes in ausreichendem Maße nachzuweisen.384 Zu diesem Schluss kam der Gerichtshof, obwohl sie bezeugte, dass ihr Sohn während der Verhaftung durch die Sicherheitskräfte geschlagen wurde.385 In Çakici v. Türkei gab es hingegen einen Zeugen, der mit dem Verschwundenen inhaftiert war und die Folgeerscheinungen der Misshandlungen bezeugen konnte. Das Opfer hatte ihm zudem von Folterungen berichtet. Diese Aussage hielt der Gerichtshof für glaubwürdig und ließ sie ausreichen, um eine Verletzung des Art. 3 EMRK anzunehmen.386 Ferner müssen die Misshandlungen des Opfers zumindest einen gewissen Schweregrad erreichen. Dieser richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls und berücksichtigt die Länge der Misshandlungen, die physischen und psychischen Folgen und zum Teil das Alter, das Geschlecht und den Gesundheitszustand der Person.387 In der Orhan-Entscheidung sah der EGMR entgegen der 381
Zuloaga, Texas Journal of Women and the Law 2008, S. 234. 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 150 „The brutality with which the bodies of the tradesmen were treated after their execution permits us to infer that the way in which they were treated while they were alive was also extremely violent . . .“ 383 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 130; Luluyev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 105; Aziyevy v. Russland, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 99. 384 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 116. 385 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 111. 386 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 92. 387 Akdeniz u. a. v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 97; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 352; Basayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 124. 382
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Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes in der Isolationshaft keine unmenschliche Behandlung, sondern lediglich eine verschärfte Form der Verletzung der Rechte aus Art. 5 EMRK. „The Court recalls that, where an apparent forced disappearance is characterised by a total lack of information, the question of the impact of this on the detainee can only be a matter of speculation. (. . .) Moreover, the Court recalls that the acute anxiety which must be attributed to persons apparently held incommunicado without official record and excluded from the requisite judicial guarantees, is an added and aggravated aspect of the issues arising under Article 5, (. . .)“.388
Wird ein Häftling jedoch für zwei Stunden gezwungen, nackt und mit verbundenen Händen auf dem Boden zu knien, sieht der Gerichtshof darin eine unmenschliche Behandlung.389 In einem weiteren Fall wurden die Opfer über eine Woche im Freien festgehalten. Während dieser Zeit waren sie gefesselt und wurden misshandelt. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass die Opfer nicht nur an der Kälte gelitten haben müssen, sondern zudem unter großer Angst, was mit ihnen geschehen wird.390 Ebenso stellen Schläge während der Verhaftung eine unmenschliche Behandlung dar, weil sie bei dem Opfer nicht nur physische Schmerzen auslösen, sondern es zudem erniedrigen und ängstigen.391 Auch können schlechte Haftbedingungen, beispielsweise nicht ausreichendes Essen und Trinken sowie beschränkter Zugang zu Sanitäranlagen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen.392 Wurde der Leichnam des Verschwundenen später aufgefunden, nahm der Gerichtshof einen Verstoß gegen das Folterverbot an, wenn eine Autopsie Hinweise auf Misshandlungen aufzeigte und der beschwerdegegnerische Staat diese nicht erklären konnte.393 Es ist jedoch nicht ausreichend, dass es in einem Land wiederholt zu Fällen gekommen ist, in denen die Opfer nach ihrer Verhaftung misshandelt wurden.394 Während eine Verletzung des Art. 3 EMRK bei den Fällen gegen die Türkei und Russland aufgrund fehlender Beweise nur eine untergeordnete Rolle spielt, nimmt sie im Fall El-Masri v. Republik Mazedonien einen zentralen Platz ein. In diesem Fall beschäftigte sich der Gerichtshof mit den sog. „extraordinary rendi388 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 354; diese Sichtweise wird in ElMasri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 202 aufgeweicht. 389 Musayeva v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 125. 390 Akdeniz u. a. v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 98. 391 Ruslan Umarov v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 120; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 108; Basayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 151. 392 Dzhambekova u. a. v. Russland, Urteil vom 12. März 2009, 337 f. 393 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 118; Aktas v. Türkei, Urteil vom 24. April 2003, Abs. 281 f. 394 Basayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 147.
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tions“ der USA. El-Masri reiste im Dezember 2003 nach Mazedonien und wurde unmittelbar nach der Einreise für mehr als drei Wochen in einem Hotel in Skopje festgehalten.395 Am 23. Januar 2004 wurde er am Flughafen Skopje der CIA übergeben und nach Kabul ausgeflogen, wo weitere Misshandlungen und Befragungen folgten.396 Erst Ende Mai desselben Jahres wurde er von seinen Entführern in Albanien wieder ausgesetzt.397 Bei der Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK unterscheidet der Gerichtshof zwischen drei verschiedenen Situationen: Der Behandlung im Hotel, der Behandlung am Flughafen und der Auslieferung an die CIA. Während seiner Gefangenschaft im Hotel in Skopje wurde El-Masri zwar keine körperliche Gewalt angetan, jedoch war er unter ständiger Bewachung mazedonischer Sicherheitskräfte und wurde von diesen mit einer Waffe bedroht und in einer für ihn fremden Sprache befragt. Während der gesamten Zeit wurde er incomunicado gehalten.398 Psychisches Leid kann als unmenschliche Behandlung ausreichen. Dieses sieht der Gerichtshof vor allem dadurch hervorgerufen, dass der Häftling über einen längeren Zeitraum in Isolierungshaft gehalten wurde.399 Anders als noch in der Orhan-Entscheidung wird der Einzelhaft hier ein stärkeres Gewicht in der Feststellung einer Verletzung nach Art. 3 EMRK zugemessen. Am Flughafen in Skopje wurde der Beschwerdeführer von einem CIA Rendition Team entblößt und anschließend sexuell misshandelt sowie geschlagen.400 Das Verhalten der ausländischen Beamten wurde Mazedonien zugerechnet, weil während der gesamten Zeit mazedonische Sicherheitsbeamte anwesend waren.401 Erstmalig in einem Fall von Verschwindenlassen erachtete der Gerichtshof die Behandlung des Opfers nicht nur als unmenschliche Behandlung, sondern klassifizierte sie als Folter. Art. 3 der EMRK unterscheidet zwischen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung auf der einen und Folter auf der anderen Seite. „This distinction would appear to have been embodied in the Convention to allow the special stigma of ,torture‘ to attach only to deliberate inhuman treatment causing very serious and cruel suffering. In addition to the severity of the treatment, there is a purposive element, as recognised in the United Nations Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, which came into force on 26 June 1987, which defines torture in terms of the intentional infliction of severe pain or suffering with the aim, inter alia, of obtaining information, inflicting punishment or intimidating.“ 402 395 396 397 398 399 400 401
El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 17 ff. El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 20 ff., 46. El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 31 f. El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 200. El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 202. El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 205. El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 206.
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Die Gewaltanwendung durch die Beamten wird durch den EGMR als exzessiv und ungerechtfertigt bewertet. Hinzu kommt, dass die Maßnahmen gegen das Opfer gezielt eingesetzt wurden, um Informationen zu erhalten, ihn zu bestrafen oder einzuschüchtern.403 Es ist begrüßenswert, dass der EGMR in diesem Fall die Misshandlung El-Masris als Folter einstuft. Allerdings waren die Behandlungen in vorherigen Fällen des Verschwindenlassens in der Regel nicht weniger schwerwiegend. Aufgrund der Gesamtsituation in der Türkei und Russland und der Opferstruktur kann auch in diesen Fällen davon ausgegangen werden, dass mit den Misshandlungen eines der in der UN-Konvention vorgesehenen Ziele verfolgt wurde. Insbesondere im Bezug auf die Türkei hat der Gerichtshof in einer Reihe weiterer Fälle die Anwendung von Folter durch staatliches Sicherheitspersonal festgestellt.404 Dennoch ging der Gerichtshof in Fällen des Verschwindenlassens lediglich von einer unmenschlichen Behandlung der Opfer aus. Eine Ausnahme stellt dabei nur der Fall Gelayevy v. Russland dar, in dem der EGMR die Folter des Opfers als bewiesen ansah.405 Auch wenn sich der El-Masri-Fall dadurch unterscheidet, dass die verschwundene Person nicht ermordet wurde und daher in der Lage ist, über ihre Behandlung während der Gefangenschaft selbst Auskunft zu geben, und das große internationale Interesse an dem Fall die Aufklärung sicherlich befördert hat, erfüllen auch andere Misshandlungen, die vom Gerichtshof in den vorherigen Fällen als erwiesen erachtet wurden, die Voraussetzungen für Folter. Zuletzt befasst sich der Gerichtshof noch mit der Frage, ob die Auslieferung El-Masris an die CIA eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR kann ein Staat gegen Art. 3 EMRK verstoßen, wenn er eine Person an ein Land ausliefert, in dem ihr potenziell Folter droht.406 Im vorliegenden Fall sah der Gerichtshof das extraordinary rendition-Programm der USA, das regelmäßig auch die Anwendung von Folter beinhaltet, durch verschiedene Berichte und Zeitungsartikel als erwiesen an. Er schlussfolgert daraus, dass dem mazedonischen Staat bewusst war oder er zumindest hätte wissen müssen, dass El-Masri eine Behandlung entgegen Art. 3 EMRK drohte.407 Zudem wird
402
El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 197. El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 211. 404 Aksoy v. Türkei, 18. Dezember 1996, Abs. 64; Aydin v. Türkei, Urteil vom 25. September 1997, Abs. 86; Ilhan v. Türkei, Urteil vom 27. Juni 2000, Abs. 87; Peters, S. 48, stellt fest, dass zur Folter vor allem türkische Fälle vorliegen. Aber auch bezüglich Russland hat der EGMR wiederholt die Anwendung von Folter festgestellt: Mikheyev v. Russland, Urteil vom 26. Januar 2006, Abs. 135; Maslova und Nalbandov v. Russland, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 106; Beresnev v. Russland, Urteil vom 18. April 2013, Abs. 108. 405 Gelayevy v. Russland, Urteil vom 15. Juli 2010, Abs. 127. 406 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 212 f. 407 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 218. 403
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berücksichtigt, dass kein rechtlicher Antrag auf Auslieferung durch die USA gestellt wurde. Mazedonien hatte sich bei den US-Behörden auch nicht rückversichert, ob El-Masri nach seiner Übergabe rechtmäßig behandelt würde.408 In El-Masri v. Republik Mazedonien nahm der Gerichtshof in allen drei Situationen eine Verletzung des Art. 3 EMRK an. Obwohl dies insgesamt als positiv zu bewerten ist, hat sich dieser Fall nicht auf die nachfolgenden Entscheidungen zum Verschwindenlassen im Hinblick auf Art. 3 EMRK ausgewirkt. 3. Vergleich Aufgrund des höheren Beweisstandards der vollen richterlichen Überzeugung gelingt den Beschwerdeführern vor dem Europäischen Gerichtshof nur in seltenen Fällen der Nachweis, dass die verschwundene Person gefoltert oder erniedrigender Behandlung unterworfen wurde, obwohl es in vielen Fällen deutliche Indizien dafür gibt. Allein in der El-Masri-Entscheidung hat sich der EGMR ausführlich mit dem Art. 3 EMRK beschäftigt und sogar das Vorliegen von Folter bejaht. Dieser Fall stellt jedoch aus faktischen und politischen Gründen eine Besonderheit dar und steht nicht für einen Richtungswechsel des Gerichts. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof schlussfolgert hingegen aus einer generellen Praxis des Verschwindenlassens, die regelmäßig Folter beinhaltet, auch im Einzelnen auf eine Verletzung des Art. 5 AMRK und bejaht somit in fast allen Fällen eine Verletzung. Die liberale Vorgehensweise des IAGMR ist aufgrund der starken Stellung der Staaten in den Verfahren vorzugswürdig. Zum Teil wird die Ansicht vertreten, dass ein Verschwindenlassen ipso facto Folter oder unmenschliche Behandlung darstellt.409 Der IAGMR sieht in einer andauernden incommunicado-Haft grundsätzlich eine Verletzung des Rechts auf menschliche Behandlung, wohingegen dies vom EGMR abgelehnt wird. In der Entscheidung El-Masri zieht der Gerichtshof die Isolationshaft zwar als einen Hinweis für eine unmenschliche Behandlung heran, lässt dies alleine aber für eine Verletzung nicht ausreichen. Die Angst und Unsicherheit, die eine incommunicado-Haft beim Gefangenen auslöst, stellt grundsätzlich eine unmenschliche Behandlung dar. Dem Gefangenen ist es weder möglich, mit seiner Familie in Kontakt zu treten, noch mit einem Anwalt anhand rechtstaatlicher Prinzipien seine Inhaftierung zu überprüfen. Mit dem Wissen, jeglicher rechtsstaatlichen Kontrolle entzogen zu sein, führt dies zu einem sehr ernsthaften und grausamen Leiden, sodass beim Verschwindenlassen ipso facto eine unmenschliche Behand408
El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 216, 219. Im Bericht der UN Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, UN Doc. E/CN.4/1983/14, 21. Januar 1983, Abs. 131, geht diese bei einer länger andauernden Haft ohne Kontaktmöglichkeiten zur Familie grundsätzlich von Folter oder unmenschlicher Behandlung aus. 409
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lung angenommen werden kann. Es ist dabei zudem kritikwürdig, eine gewisse Zeitdauer vorauszusetzen. Zum einen lassen beide Gerichtshöfe offen, welche Zeitspanne erforderlich ist, bis die staatliche Maßnahme ein Ausmaß und eine Intensität erreicht hat, die als unmenschliche Behandlung zu qualifizieren ist. Zum anderen ist die Bestimmung eines exakten Zeitraums praktisch unmöglich. Des Weiteren kann bereits nach kurzen Zeiträumen von wenigen Stunden ein angstvoller Zustand erreicht werden, der als erniedrigende Behandlung betrachtet werden kann. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof nimmt keine saubere Trennung zwischen Folter und unmenschlicher Behandlung vor, geht jedoch in der Mehrheit der Fälle davon aus, dass die Behandlung des Opfers auch den Schweregrad der Folter erreicht. Der EGMR geht hingegen nur in absoluten Ausnahmefällen von der Folter der Inhaftierten aus. Grundsätzlich lässt sich durch die Zielrichtung des Verschwindenlassens, Informationen von den Verhafteten zu erhalten oder sie für ihre Aktivitäten zu bestrafen, darauf schließen, dass die Behandlung, die sie sowohl in den lateinamerikanischen als auch in den europäischen Fällen erfahren haben, in der Regel solch grausames Leid erzeugt, dass nicht nur eine unmenschliche Behandlung vorliegt, sondern auch der Schweregrad der Folter erreicht wird. Nicht zuletzt aufgrund der Beweisnot des Beschwerdeführers sollten beide Gerichtshöfe in Fällen des Verschwindenlassens grundsätzlich davon ausgehen, dass die erfahrene Behandlung Folter im Sinne der Konvention darstellt, außer der Staat kann das Gegenteil nachweisen.
III. Recht auf Sicherheit und Freiheit Das Verschwindenlassen beginnt in der Regel mit der Verhaftung des Opfers. Sie haben keine Möglichkeit, einen Anwalt oder ihre Familie zu kontaktieren, und werden auch keinem Richter zur Haftprüfung vorgeführt. Das Leugnen der Verhaftung und der damit einhergehende Entzug grundlegender Rechte ist ein wesentliches Element, wodurch das Verschwindenlassen qualifiziert wird. Art. 5 der EMRK und Art. 7 der AMRK gewähren den Schutz der persönlichen Freiheit und stellen Bedingungen für den Freiheitsentzug auf. Eine willkürliche Verhaftung durch staatliche Organe stellt einen Eingriff in diese Rechte dar. 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Der Inter-Amerikanische Gerichtshof hat in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Verletzung des Rechts auf Sicherheit und Freiheit angenommen. In Velásquez Rodríguez stellte er fest, dass Manfredo Velásquez „was the victim of an arbitrary detention, which deprived him of his physical liberty without legal cause and without a determination of the lawfulness of his detention by a judge or competent tribunal. Those acts directly violate the right to personal liberty
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recognized by Article 7 of the Convention and are a violation imputable to Honduras of the duties to respect and ensure that right under Article 1 (1).“ 410
Weitere Ausführungen zu Art. 7 AMRK und Konkretisierungen, welche Absätze verletzt wurden, finden sich in diesem Urteil nicht. In den nachfolgenden Entscheidungen gibt das Gericht in der Regel jedoch genau an, welche Absätze des Art. 7 AMRK betroffen sind.411 Zum Teil sieht er aber auch die Norm als Ganzes betroffen.412 Nach Art. 7 Abs. 2 und 3 darf ein Opfer nur entsprechend den konstitutionellen Vorgaben eines Staates und nicht willkürlich verhaftet werden. Selbst wenn eine Verhaftung aufgrund eines Gesetzes materiell rechtmäßig wäre, ist sie trotzdem willkürlich, wenn sie mit den fundamentalen Rechten des Individuums unvereinbar ist.413 Eine rechtmäßige Verhaftung setzt einen Haftbefehl gegen die Person voraus oder dass diese in flagranti erwischt wird, was beim Verschwindenlassen jedoch regelmäßig fehlt.414 Allein die Zielrichtung des Verschwindenlassens, die Befragung, Folter und anschließende Ermordung politischer Gegner, stellt an sich einen Missbrauch von Macht dar, der eine Verhaftung willkürlich nach Art. 7 Abs. 3 macht.415 Zudem ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine unverzügliche richterliche Überprüfung der Inhaftierung von besonderer Bedeutung für die Vermeidung von Willkür darstellt.416 Da diese in Fällen des Verschwindenlassens nicht erfolgt, ist Art. 7 Abs. 3 AMRK regelmäßig verletzt. Eine bestimmte Länge der Freiheitsentziehung ist nicht notwendig. In Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala wurde eine der verschwundenen Personen den Informationen zufolge bereits am Tag seiner Verhaftung ermordet. Dennoch sah der Gerichtshof bereits in der Verhaftung eine Verletzung des Art. 7 AMRK.417 410
Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 186. Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 56 ff.; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 139 ff.; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 78 ff.; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 109. 412 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 145 f. 413 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 131; Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 85 ff.; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 139. 414 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 56; VillagranMorales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 132; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 79. 415 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 80. 416 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 140. 417 Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 199. 411
C. Das Recht, nicht verschwindengelassen zu werden
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Viele Länder Lateinamerikas unterhielten während der Militärdiktaturen geheime Gefangenenlager, in die verhaftete Personen gebracht wurden. Der Staat hat als Garant für die Rechte der Inhaftierten jedoch dafür Sorge zu tragen, dass der Freiheitsentzug ausschließlich in offiziellen Haftzentren mit grundlegenden Sicherheitsvorkehrungen gegen das Verschwindenlassen erfolgt. Geheime Haftzentren verletzen somit per se das Recht auf Freiheit.418 Die Absätze 4 bis 6 des Art. 7 AMRK verpflichten die Staaten zu konkreten Handlungen, um die Menschen vor einer Verletzung ihres Rechts auf Sicherheit und Freiheit zu schützen.419 2. Europäischer Gerichtshof In Fällen, in denen die Verhaftung des Opfers durch den Staat nachgewiesen werden konnte, nimmt der Europäische Gerichtshof eine Verletzung des in Art. 5 EMRK enthaltenen Rechts auf Freiheit und Sicherheit an. Dem Verbrechen des Verschwindenlassens und der darin beinhalteten geheimen Inhaftierung misst er sogar eine erschwerte Verletzung bei. Bereits in Kurt v. Türkei stellt er fest, dass „the unacknowledged detention of an individual is a complete negation of these guarantees and a most grave violation of Article 5. Having assumed control over that individual it is incumbent on the authorities to account for his or her whereabouts.“ 420
Sieht es der Gerichtshof als erwiesen an, dass das Opfer durch staatliche Sicherheitskräfte verhaftet wurde, und fehlt es nachfolgend an Unterlagen über seine Inhaftierung, genügt dies allein, um eine Verletzung des Art. 5 EMRK anzunehmen. „His detention at that time was not logged and there exists no official trace of his subsequent whereabouts or fate. That fact in itself must be considered a most serious failing since it enables those responsible for the act of deprivation of liberty to conceal their involvement in a crime, to cover their tracks and to escape accountability for the fate of the detainee. In the view of the Court, the absence of holding data recording such matters as the date, time and location of detention, the name of the detainee as well as the reasons for the detention and the name of the person effecting
418 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 63; González Medina und Familie v. Domikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 177; Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 200. 419 Siehe 5. Teil, B., I., 1. 420 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 124; ebenso Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 103; Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 164; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 369; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 146; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 171; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 120; Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 156.
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4. Teil: Schutz der Opfer
it must be seen as incompatible with the very purpose of Article 5 of the Convention.“ 421
In den nachfolgenden Fällen sowohl bezüglich der Türkei als auch in Russland knüpft der EGMR immer an diese Kriterien an, um einen Eingriff in das Recht auf Freiheit und Sicherheit festzustellen. Andere Aspekte des Art. 5 EMRK wurden dabei allerdings außer Acht gelassen. So normieren die Absätze 3 und 4 beispielsweise das Recht, unverzüglich nach der Freiheitsentziehung einem Richter vorgeführt zu werden sowie durch ein Gericht die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs überprüfen zu lassen. Dieser Anspruch des Häftlings wird beim Verschwindenlassen nie gewährt, dennoch nimmt der EGMR in seinen Urteilen keinen Bezug auf diese Verletzung.422 In Fällen, in denen nicht zur vollen richterlichen Überzeugung nachgewiesen werden konnte, dass die Verhaftung unter staatlicher Beteiligung stattfand, wurde eine Verletzung des Art. 5 EMRK abgelehnt.423 Eine Ausnahme stellt nur der Fall Medova v. Russland dar, in dem der Gerichtshof eine Verletzung der staatlichen Schutzpflichten annahm, weil dieser die willkürliche Freiheitsentziehung des Opfers nicht beendet hat, obwohl er die Mittel dazu gehabt hätte.424 3. Vergleich Es lässt sich eindeutig feststellen, dass beide Gerichtshöfe die geringsten Schwierigkeiten in der Feststellung einer Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit haben. Wurde erst einmal eine Verhaftung durch staatliche Kräfte nachgewiesen, wird eine Verletzung angenommen. Das Verschwindenlassen von Personen stellt in der ständigen Rechtsprechung beider Menschengerichtshöfe mithin immer eine Verletzung des Art. 5 EMRK bzw. 7 AMRK dar. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da der Freiheitsentzug dem Verschwindenlassen immanent ist und die Definition des Verschwindenlassens eine willkürliche Freiheitsentziehung voraussetzt. Dass das Recht auf Freiheit in Fällen des Ver421 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 125, ebenso Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 105; Timurtas¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 105; Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 165; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 371; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 147; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 176; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 121; Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 157. 422 In Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 101 nahm der Beschwerdeführer explizit Bezug auf eine Verletzung der Rechte in Art. 5 Abs. 3 und 4 und dennoch äußerte sich der Gerichtshof nicht dazu. 423 Tahsin Acar v. Türkei, 8. April 2004, Abs. 242 f.; Seker v. Türkei, 21. Februar 2006, Abs. 88; Osmanog˘lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 102 f.; Tagirova u. a. v. Russland, 4. Dezember 2008, Abs. 108; Zakriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 103. 424 Medova v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 124.
C. Das Recht, nicht verschwindengelassen zu werden
141
schwindenlassens so offensichtlich verletzt ist, hat jedoch zur Folge, dass die Gerichtshöfe eine genaue Prüfung, welche durch die Art. 5 EMRK und 7 AMRK gewährten Rechte betroffen sind, nicht vornehmen.
IV. Das Recht, als rechtsfähig anerkannt zu werden Die Amerikanische Menschenrechtskonvention enthält in Art. 3 das Recht, dass jedermann vor dem Gesetz als rechtsfähig anerkannt wird. Es ist das erste Recht, das die Konvention gewährt, und es steht damit noch vor dem Recht auf Leben. Ein entsprechendes Recht findet sich in der Europäischen Konvention nicht, wird allerdings aus den Artikeln 4, 6 und 14 EMRK abgeleitet. Im Hinblick auf das Verschwindenlassen hat sich der EGMR jedoch noch nie mit einer Verletzung des Rechts auseinandergesetzt. Zunächst lehnte der Inter-Amerikanische Gerichtshof eine Verletzung des Art. 3 AMRK in Fällen des Verschwindenlassens ab. Er wertete den Verlust der Rechtsfähigkeit als kein typisches Element des Verschwindenlassens.425 Zudem stellt das Recht, als rechtsfähig anerkannt zu werden, ein eigenständiges Recht dar, welches vom Gerichtshof folgendermaßen umschrieben wird: „The right to the recognition of juridical personality implies the capacity to be the holder of rights (capacity of exercise) and obligations; the violation of this recognition presumes an absolute disavowal of the possibility of being a holder of such rights and obligations.“ 426
Nach Ansicht des IAGMR ist die Unterdrückung der Person bereits in der Freiheitsentziehung enthalten und stellt keine eigenständige Verletzung des Art. 3 AMRK dar: „Naturally, the arbitrary deprivation of life suppresses the human being and, consequently, in these circumstances, it is not in order to invoke an alleged violation of the right to juridical personality or other rights embodied in the American Convention.“ 427
Durch das Verschwindenlassen würde dem Opfer das Recht, Träger von Rechten und Rechtspflichten zu sein, nicht entzogen, sondern es sei aufgrund seiner Situation lediglich nicht in der Lage, dieses auszuüben. Ansonsten müsste man auch die Verletzung weiterer Rechte, die von dem Opfer aufgrund der Haft und Isolierung nicht ausgeübt werden könnten, wie beispielsweise das Recht auf Ar-
425 Dabei verweist der Gerichtshof auf die Inter-Amerikanische Konvention gegen Verschwindenlassen, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 180. 426 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 179. 427 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 180.
142
4. Teil: Schutz der Opfer
beit, das Recht auf Bildung oder das Recht auf Versammlung, als verletzt ansehen, was zu weit führen würde.428 Zuvor entschied der Gerichtshof lediglich im Fall Trujillo Oroza gegen Bolivien anders und nahm eine Verletzung des Art. 3 AMRK an. Der wesentliche Unterschied zu den vorherigen Fällen bestand darin, dass Bolivien seine Verantwortlichkeit für die Verletzung anerkannte.429 In seiner jüngeren Rechtsprechung wich der Gerichtshof von dieser Auffassung ab und nahm eine Verletzung des Rechts auf Rechtsfähigkeit in Fällen des Verschwindenlassens an.430 In Anzualdo-Castro v. Peru verstand der Gerichtshof den durch Art. 3 AMRK geschützten Inhalt weiter als in den vorherigen Entscheidungen: „This right represents a parameter to determine whether a person is entitled to any given rights and whether such person can enforce such rights, therefore, the failure to recognize or acknowledge such capability places the person in a vulnerable position in relation to the State or third parties.“ 431
Aufgrund der größeren Verletzlichkeit, in der sich verschwundene Personen befinden, erkannte der Gerichtshof den „broader legal content of this right“ an und sieht den Art. 3 AMRK auch dann verletzt, wenn dem Opfer die Ausübung seiner Rechte unmöglich ist.432 Indem ein Staat sämtliche Verantwortung für die Tat leugnet, wird es dem Verschwundenen unmöglich gemacht, irgendeines seiner geschützten Rechte auszuüben und er wird dem Schutz des Gesetzes gänzlich entzogen. Dies deckt sich mit den verschiedenen Konventionen und Erklärungen zum Verschwindenlassen, die den Entzug des Rechtsschutzes als ein wesentliches Element dieses Verbrechens ansehen.433
428
Separate Concurring Opinion of Judge Sergio García Ramírez, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 14 f.; zu einer ähnlichen Entscheidung kam der Gerichtshof in Ticona Estrada et al. v. Bolivien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 2008, Abs. 68 f. 429 Trujillo Oroza v. Bolivia, Merits, Urteil vom 26. Januar 2000, Abs. 41. 430 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 88 ff.; Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 102; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 122; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 92; González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 186 ff. 431 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 88. 432 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 89; Garía und Familie v. Guatemala, Fondo, Reparaciones y Costas, Urteil vom 29. November 2012, Abs. 109 f. 433 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 91 ff.
C. Das Recht, nicht verschwindengelassen zu werden
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V. Weitere verletzte Rechte Neben dem Verbot der Folter und unmenschlichen Behandlung, dem Recht auf Freiheit sowie dem Recht auf Leben, die bei Fällen des Verschwindenlassens immer durch die Gerichtshöfe behandelt wurden, sind teilweise auch die Verletzungen weiterer Konventionsrechte zum Gegenstand der Entscheidungen geworden. Betroffen sind vor allem politische und gemeinschaftsbezogene Rechte, wie beispielsweise die Kommunikationsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf politische Mitwirkung. 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Gewerkschaftler werden sehr oft Opfer des Verschwindenlassens. Dennoch hat sich der Inter-Amerikanische Gerichtshof nur in drei Fällen mit der Verletzung der Vereinigungsfreiheit nach Art. 16 AMRK beschäftigt.434 Das Recht auf Vereinigungsfreiheit setzt voraus, dass es dem Einzelnen möglich ist, sich ohne Angst vor staatlichen Repressionen zu organisieren und seine Interessen zu vertreten. Werden Personen aufgrund ihrer Gewerkschaftstätigkeit angegriffen, sieht der Gerichtshof darin eine Verletzung des Art. 16 AMRK.435 Dies beinhaltet auch eine staatliche Pflicht, mögliche Beeinträchtigungen der Vereinigungsfreiheit zu verhindern.436 Ebenso wie Gewerkschaftler gehören auch Oppositionelle und unliebsame Politiker zu den häufig betroffenen Personengruppen. Art. 23 AMRK gewährt das Recht, sich politisch zu betätigen. In Chitay Nech wurde ein lokaler indigener Politiker aufgrund seiner politischen Aktivitäten verschwinden gelassen. Der Gerichtshof sah darin zunächst eine Verletzung des Opfers, dem die Ausübung seiner politischen Rechte und seines Mandats unmöglich gemacht wurde. Darüber hinaus ist jedoch auch die Gemeinde betroffen, der die Repräsentation durch einen von ihr gewählten Vertreter entzogen wurde.437 Insbesondere ist der Staat 434 Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 141 ff.; Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 218 ff.; Garía und Familie v. Guatemala, Fondo, Reparaciones y Costas, Urteil vom 29. November 2012, Abs. 115 ff. 435 Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 146 ff.; Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 219; Garía und Familie v. Guatemala, Fondo, Reparaciones y Costas, Urteil vom 29. November 2012, Abs. 116. 436 Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 219; Garía und Familie v. Guatemala, Fondo, Reparaciones y Costas, Urteil vom 29. November 2012, Abs. 116. 437 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai, 2010, Abs. 113.
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4. Teil: Schutz der Opfer
dazu angehalten, die Mitgestaltungsmöglichkeiten der verschiedenen indigenen und ethnischen Gemeinschaften im politischem Leben sicherzustellen.438 Wurde eine Person aufgrund ihrer politischen oder ideologischen Einstellung Opfer eines Verschwindenlassens, könnte das in Art. 13 AMRK geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt sein.439 Grundsätzlich sah der Gerichtshof aber in der Verletzung der freien Meinungsäußerung eine indirekte Konsequenz aus dem Verschwindenlassen und keinen eigenständigen Eingriff in Art. 13 AMRK.440 Im Fall Guidiel Álvarez wurde die Familie eines Verschwundenen durch die guatemaltekischen Sicherheitskräfte als „subversiv“ erachtet, weshalb sie ihr Zuhause verlassen musste. Sie verbrachte einige Jahre im Exil und zwei Brüder des Verschwundenen konnten bis heute nicht nach Guatemala zurückkehren. Darin sah der Gerichtshof eine Verletzung des in Art. 22 AMRK gewährten Rechts auf Bewegungsfreiheit.441 2. Europäischer Gerichtshof In einigen Fällen beanstandeten die Beschwerdeführer eine Verletzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK. Sowohl in Fällen gegen die Türkei als auch gegen Russland wurde vorgebracht, dass das Verschwindenlassen im Zusammenhang mit der Rasse oder ethnischen Herkunft der Opfer stand. In der Türkei wurden vor allem Personen mit kurdischem Ursprung Opfer des Verschwindenlassens und in Russland beziehen sich die Fälle vor allem auf Tschetschenen. Zum Nachweis bezog sich die Beschwerdeführerin in Kurt v. Türkei beispielsweise auf die Berichte der Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances.442 Dennoch konnte der Gerichtshof in der Regel einen Verstoß gegen diese Bestimmung auf der Grundlage der ihm vorgelegten Beweismittel nicht feststellen.443 In einigen Fällen bezüglich Russlands sah es der Gerichtshof im Hinblick auf die unter Art. 2 und 13 der Konvention ergangenen Ausführun438 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai, 2010, Abs. 114. 439 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 119 ff. In diesem Fall wurde vom Gerichtshof nicht über eine Verletzung entschieden, weil er sich aufgrund ratione temporis zeitlich nicht zuständig fühlte. 440 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 105. 441 Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 308. 442 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 144. 443 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 147; Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 184; Ipek v. Türkei, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 213; Seker v. Türkei, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 102; Uçar v. Türkei, Urteil vom 11. April 2006, Abs. 158; Sangariyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 114.
C. Das Recht, nicht verschwindengelassen zu werden
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gen als nicht notwendig an, unter Art. 14 EMRK noch einmal separat darauf einzugehen.444 Im Fall Tepe v. Türkei machten die Beschwerdeführer zudem eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung geltend. Ferhat Tepe war Journalist, der aufgrund seiner unbequemen Berichterstattung verschwinden gelassen wurde. Der Gerichtshof sah diesen Aspekt des Falls bereits durch Art. 2 EMRK umfasst und lehnte eine separate Beschäftigung mit Art. 10 EMRK ab.445 3. Vergleich Neben den Kernverletzungen des Verschwindenlassens, das Recht auf Leben, das Verbot der Folter und unmenschlichen Behandlung sowie das Recht auf Freiheit und Sicherheit, sind die Gerichtshöfe in der Annahme weiterer Verletzungen der Konventionsrechte zurückhaltend. Bedauernswert ist vor allem, dass der Europäische Gerichtshof eine Verletzung des Art. 14 EMRK ablehnt. Das diskriminierende Vorgehen von Militär und Polizei, begründet durch ethnischen und religiösen Hass, ist mittlerweile anhand verschiedener Berichte nachgewiesen worden. Zudem hat sich der Gerichtshof selber mit einer Vielzahl an Fällen beschäftigt, sodass die Betroffenheit einer speziellen Gruppe, im Fall Türkei der Kurden und in Russland der Tschetschenen, kein reiner Zufall sein kann.446
VI. Abschlussbetrachtung Beide Gerichtshöfe sehen grundsätzlich die selben Konventionsrechte durch ein Verschwindenlassen verletzt. Lediglich das Recht, als rechtsfähig anerkannt zu werden, wird ausschließlich vom Inter-Amerikanischen Gerichtshof gewährt, spielt aber auch bei diesem nur eine periphere Rolle. Bei der Annahme einer Verletzung zeigt sich der IAGMR insgesamt liberaler als sein europäisches Pendant. Insbesondere bei der Feststellung einer Verletzung des Verbots der unmenschlichen Behandlung zeigen sich große Unterschiede, die vor allem auf die vom IAGMR eingeführten Beweiserleichterungen zurückzuführen sind. Bezüglich einer Verletzung des Rechts auf Leben hat sich die Rechtsprechung beider Gerichtshöfe in den vergangenen Jahren angeglichen, auch
444 Luluyev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 145; in der Mehrheit der Fälle gegen Russland hat der Beschwerdeführer jedoch während des Verfahrens erklärt, dass er an der Beschwerde bezüglich Art. 14 EMRK festhalten wollen; Nasukhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2008, Abs. 149 f.; Khadayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 166 f.; Gaziyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 119 f. 445 Tepe v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2003, Abs. 191. 446 Ebenso Scovazzi/Citroni, S. 221 f.
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4. Teil: Schutz der Opfer
wenn dies zur Folge hat, dass die Entscheidungen des EGMR bisweilen widersprüchlich sind. Auch wenn sich die Anforderungen an eine Konventionsverletzung bei beiden Gerichtshöfen gleichen, haben die vom IAGMR angenommenen beweisrechtlichen Erleichterungen zur Folge, dass im Inter-Amerikanischen System eine Verletzung leichter nachgewiesen werden kann.
D. Angehörige als Opfer Durch das Verschwindenlassen ist nicht nur der Verschwundene selbst betroffen, sondern auch seine Angehörigen und die Gesellschaft als Ganzes. Das unmittelbare Opfer, der Verschwundene, ist in der Regel nicht in der Lage, die Verletzung seiner Rechte selber geltend zu machen, sondern seine Angehörigen wenden sich an den Gerichtshof. Viele von ihnen fühlen sich, nicht zuletzt aufgrund der durch das Verschwindenlassen hervorgerufenen psychischen Belastungen, in ihren eigenen Rechten verletzt.447 Deshalb mussten sich beide Gerichtshöfe mit der Frage beschäftigen, ob Angehörige Opfer eines Verschwindenlassens sein können und in welchen Rechten sie dann verletzt sein könnten.
I. Opfereigenschaft Zunächst musste geklärt werden, ob die Verwandten eines Verschwunden überhaupt Opfer dieser Tat sein können. Dafür musste der Begriff „Angehörige“ bzw. „next of kin“ ausgelegt werden, um festzustellen, welche Familienangehörige bis zu welchem Familiengrad und unter welchen Voraussetzungen davon umfasst werden. 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof In den ersten Urteilen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes spielten die Rechte der Angehörigen eine untergeordnete Rolle. In den Honduras-Fällen lag der Schwerpunkt auf dem Nachweis einer systematischen Praxis, um das Verschwindenlassen überhaupt nachweisbar zu machen und damit Präzedenzfälle zu schaffen. Das Leiden der Angehörigen fand nur bei der Bestimmung der Höhe des Schadensersatzes Beachtung.448 In Castillo-Páez beschäftigte sich der Gerichtshof erstmals explizit mit den Rechten der Angehörigen und dem Schutz der Familie. Ferner wurde über ein Recht auf Wahrheit verhandelt.449 Im darauffolgenden Jahr 447
Siehe 2. Teil, F., II. Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 50 ff. 449 Bezüglich des Schutzes der Familie entschied der Gerichtshof: „refers to a consequence of the forced disappearance of Ernesto Rafael Castillo-Páez, which this Court 448
D. Angehörige als Opfer
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wurde in der wegweisenden Blake-Entscheidung erstmals eine unmenschliche Behandlung bezüglich der Familienangehörigen eines Verschwundenen festgestellt. Seither nehmen die Schicksale der Angehörigen einen immer größeren Raum in den Urteilen ein. Bereits im Rahmen der Zeugenvernehmung werden Psychologen zu Rate gezogen, die das psychische Leid der Angehörigen darstellen.450 Ganz wesentlich ist die Feststellung, welche Familienangehörigen durch das Verschwindenlassen in ihren eigenen Rechten betroffen sind. Gemäß Art. 35 Abs. 1 der Verfahrensregeln des Gerichtshofes obliegt es bei Einreichung einer Beschwerde der Kommission, die potenziellen Opfer zu benennen. Der Gerichtshof kann aber auch andere als die in der Beschwerde genannten Personen als Opfer anerkennen. Um die Opfer bzw. ihre Angehörigen zu bestimmen, zieht der IAGMR folgende Kriterien heran: (1) den Zeitpunkt, zu dem die Opfer im Verfahren identifiziert wurden, (2) die Anerkennung der Verantwortlichkeit durch den Staat, (3) die Beweislage und (4) die Umstände des Einzelfalls.451 Der Gerichtshof kann somit auch Personen als Angehörige anerkennen, die ihm auf indirektem Wege bekannt wurden.452 In den letzten Jahren zeigte sich der Gerichtshof jedoch restriktiver und unternahm keine eigenen Anstrengungen mehr, um auf betroffene Angehhörige aufmerksam zu werden.453 Personen, die beim Einreichen der Beschwerde durch die Kommission oder Opfervertreter nicht benannt waren, wurden aus Gründen der Rechtssicherheit nicht als Opfer anerkannt.454 Es ist widersprüchlich, dass Konventionsverletzungen, die nicht bereits beim Einreichen der Beschwerde benannt wurden, dennoch durch den Gerichtshof geprüft werden,455 wohingegen Angehörige, die dem Gerichtshof erst zu einem späteren deems to have been proven, in violation of the American Convention, with all its legal consequences“; bezüglich des Rechts auf Wahrheit stellt er fest: „has already been disposed of in this Case through the Court’s decision to establish Peru’s obligation to investigate the events that produced the violations of the American Convention“, CastilloPáez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 86. 450 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, S. 13, 15; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 52.32; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 41. 451 Goiburú et al. v. Paraguay, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 30; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 73. 452 In La Cantuta erfuhr der Gerichtshof indirekt über den Staat von der Tochter eines Opfers und setzte sie daher auf die Liste der Angehörigen, La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 78. 453 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 79 f.; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar, 2011, Abs. 32. 454 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 44 f.; Torres Millacura u. a. v. Argentinien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 26. August 2011, Abs. 48 f. 455 Siehe beispielsweise Prüfung des Art. 5 AMRK in Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 112.
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4. Teil: Schutz der Opfer
Zeitpunkt bekannt werden, von der Anerkennung als Opfer ausgeschlossen werden. Des Weiteren stellt sich die Frage, welche Familienangehörigen vom Gerichtshof als vom Verschwindenlassen unmittelbar betroffen anerkannt wurden. Zunächst legte der Gerichtshof fest, dass zwischen dem Opfer und dem Angehörigen ein enges Familienverhältnis bestehen muss. Eltern eines Verschwundenen werden somit in der Regel als Opfer anerkannt, wohingegen Neffen und Nichten nicht erfasst werden.456 In La Cantuta v. Peru orientierte sich der Gerichtshof nicht mehr an der starren Regelung des Familiengrades, um die Opfereigenschaft eines Angehörigen zu bestimmen, sondern entschied anhand der Umstände des Einzelfalls: „The facts of the instant case allow the conclusion that the violation of next of kin’s personal integrity, as a consequence of the forced disappearance and extra-legal execution of the victims, flows from the situations and circumstances some of them had to go through, during and after said disappearance, as well as from the general context in which the events occurred.“ 457
Demnach wurden auch Personen, bei denen der Verschwundene gewohnt hatte oder die ihn groß gezogen haben und sich zudem an der Suche nach ihm beteiligten, als Opfer anerkannt.458 Grundsätzlich werden jedoch nur solche Personen erfasst, die durch das Verschwindenlassen eines Angehörigen auch einen Schaden erlitten haben und diesen auch nachweisen können. Einigen Geschwistern der Verschwundenen wurde aufgrund mangelnder Beweise die Opfereigenschaft nicht zuerkannt.459 In Heliodoro Portugal wurde weiter konkretisiert, welche Kriterien bei der Opferdefinition der Angehörigen zu berücksichtigen sind: „The issues that must be considered include the following: (1) the existence of a close family tie; (2) the particular circumstances of the relationship with the victim; (3) the extent to which the family member was involved in the search for justice; (4) the State’s response to their efforts; (5) the context of a ,system that prevents free access to justice,‘ and (6) the constant uncertainty in which the next of kin live as a result of not knowing the victim’s whereabouts.“ 460
456 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 218; Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 102. 457 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 126. 458 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 127. 459 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 128. 460 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 163.
D. Angehörige als Opfer
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Der Gerichtshof verweist dabei auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der ähnliche Kategorien heranzieht.461 In der Anwendung dieser Kriterien hat sich der IAGMR als sehr flexibel erwiesen. Bei nahen Angehörigen, insbesondere Mutter, Vater, Kindern, Ehe- oder Lebenspartner, besteht eine widerlegliche Vermutung, dass diese vom Verschwindenlassen auch unmittelbar betroffen sind.462 Darüber hinaus hat der Gerichtshof noch eine Reihe weiterer Personen als Betroffen anerkannt.463 2. Europäischer Gerichtshof In Kurt v. Türkei nahm der Europäische Gerichtshof eine unmenschliche Behandlung der Mutter des Opfers an. In dieser ersten Entscheidung zum Verschwindenlassen ging der Gerichtshof nicht weiter darauf ein, welche Kriterien ein Angehöriger erfüllen muss, um durch das Verschwindenlassen unmittelbar betroffen zu sein. Allein die Tatsache, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um die Mutter des Opfers handelte, war ausreichend.464 Erst in der nachfolgenden Entscheidung Çakici v. Türkei, entwickelte der Gerichtshof Kriterien, um zu bestimmen, wann ein Familienangehöriger selbst Opfer des Verschwindenlassens werden kann. „The Kurt case does not however establish any general principle that a family member of a ,disappeared person‘ is thereby a victim of treatment contrary to Article 3. Whether a family member is such a victim will depend on the existence of special factors which gives the suffering of the applicant a dimension and character distinct from the emotional distress which may be regarded as inevitably caused to relatives of a victim of a serious human rights violation. Relevant elements will include the proximity of the family tie – in that context, a certain weight will attach to the parent-child bond –, the particular circumstances of the relationship, the extent to which the family member witnessed the events in question, the involvement of the family member in the attempts to obtain information about the disappeared person and the way in which the authorities responded to those enquiries.“ 465 461 In Bámaca-Velásquez verweist der Gerichtshof auf die Entscheidungen Timurtas ¸ v. Türkei und Çakici v. Türkei, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 163. 462 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 220; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 235. 463 Insbesondere Geschwistern wird regelmäßgig die Opfereigenschaft zugesprochen, Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 243. 464 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 134. 465 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 98; ebenso Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 95; Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 156; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 358; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 139; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 164.
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4. Teil: Schutz der Opfer
Der Gerichtshof trifft somit eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Familienmitgliedern und zieht dabei ähnliche Kriterien heran wie sein inter-amerikanisches Pendant. Nicht jeder Angehörige eines Verschwundenen ist durch die Tat derart betroffen, dass der Schutzbereich des Art. 3 EMRK eröffnet ist.466 Eine Voraussetzung, die lediglich der EGMR bei der Bestimmung heranzieht, ist, inwieweit das Familienmitglied Zeuge der Tat wurde. Es ist nachvollziehbar, dass es einen Angehörigen in Angst und Verzweiflung versetzt, wenn er die Verhaftung einer ihm nahestehenden Person, die zudem oft mit körperlichen Misshandlungen verbunden ist, miterleben muss. Dieses Kriterium würde dann jedoch auch in vielen weiteren Fällen, beispielsweise bei unrechtmäßiger Freiheitsentziehung sowie Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, greifen. Wurde ein enger Verwandter Zeuge dieser Taten, müsste man sich in all diesen Fällen fragen, ob er dadurch nicht in seinen eigenen Rechten verletzt wurde. Die Besonderheit beim Verschwindenlassen liegt hingegen darin, dass der Schmerz und das Leiden der Familien durch das jahrelange Schweigen und Verweigern jeglicher Informationen durch die Behörden erzeugt wird. Dafür ist es irrelevant, ob der Angehörige bei der Verhaftung anwesend war oder nicht, denn die erzeugte Angst bleibt im Wesentlichen gleich.467 In seiner Entscheidung Zypern v. Türkei sieht es auch der Gerichtshof als unerheblich an, ob die Angehörigen bei der Verhaftung anwesend waren, grenzt diese Entscheidung jedoch explizit auf diesen speziellen Fall ein.468 Der EGMR ist in der Anwendung dieser Kriterien sehr rigide und kommt zum Teil zu nicht nachvollziehbaren Ergebnissen. In der Çakici-Entscheidung wird beispielsweise eine Verletzung der Rechte des Bruders abgelehnt: „In the present case, the applicant was the brother of the disappeared person. Unlike the applicant in the Kurt case, he was not present when the security forces took his brother, as he lived with his own family in another town. It appears also that, while the applicant was involved in making various petitions and enquiries to the authorities, he did not bear the brunt of this task, his father Tevfik Çakıcı taking the initiative in presenting the petition of 22 December 1993 to the Diyarbakır National Security Court. Nor have any aggravating features arising from the response of the authorities been brought to the attention of the Court in this case. Consequently, the Court perceives no special features existing in this case which would justify finding an additional violation of Article 3 of the Convention in relation to the applicant himself.“ 469 466 Der EGMR erkennt beispielsweise das Leiden von kleinen Kindern an, die aufgrund des Verschwindenlassens ohne Vater aufwachsen müssen, dennoch stellt dies keine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar, Taymuskhanovy v. Russland, Urteil vom 16. Dezember 2010, Abs. 122. 467 Ebenso Feldman, European Human Rights Law Review 2009, 1, S. 62. 468 Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 156. 469 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 99; eine ähnliche Begründung findet sich in Koku v. Türkei, Urteil vom 21. Mai 2005, Abs. 171.
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Diese Unterscheidung zum Kurt-Fall ist nicht überzeugend. In ihrer abweichenden Entscheidung haben die Richter Thomassen, Jungwiert und Fischbach die Kriterien hingegen so ausgelegt, dass sie eine Verletzung der Rechte des Bruders annahmen. „It is obvious that the pain of a mother who sees her son arrested and then has to live in uncertainty about his fate because of the acts and negligence of the authorities must be unbearable. However, a brother can also suffer deeply in face of the uncertainty of the fate of a sibling. In this context, I also do not find convincing the reference made in the judgment to the fact that the applicant was not present when the security forces took his brother, as he lived with his own family in his own town. Nor do I find it persuasive that reliance is placed on the circumstance that, while the applicant was involved in making various petitions and enquiries to the authorities, he did not bear the brunt of this task, his father taking the initiative in presenting the petition of 22 December 1993 to the Diyarbakır National Security Court. As far as the latter is concerned, I am more impressed by the fact that from the moment of the disappearance of his brother the applicant was actively involved in submitting various petitions and enquiries to the authorities and that he made the application to our Court.“ 470
Auch im Fall Akdeniz u. a. v. Türkei wird nicht deutlich, warum der Gerichtshof die Angehörigen als nicht betroffen erachtet. Unter den Beschwerdeführern befanden sich auch zwei Väter, der Bruder eines Verschwundenen war bei der Verhaftung anwesend und die Beschwerdeführer hatten sich wiederholt erfolglos an die Behörden gewandt.471 In Nesibe Haran bejahte der Gerichtshof jedoch den Opferstatus der Beschwerdeführerin, obwohl sie mit dem Verschwundenen nicht verheiratet war. Dass sie seine Partnerin war, mit der er drei Kinder hatte, war danach ausreichend, um von einer Verletzung ihrer eigenen Rechte auszugehen.472 3. Vergleich Während es beim Inter-Amerikanischen Gerichtshof einiger Jahre bedurfte, bis auch die Angehörigen eines Verschwundenen als Opfer der Tat anerkannt wurden, nahm der EGMR bereits in seiner ersten Entscheidung eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführerin an. In den nachfolgenden Jahren entwickelten beide Gerichtshöfe eine Reihe von Kriterien, nach denen entschieden wird, welchen Verwandten der Opferstatus zuteil wird. Im Wesentlichen gleichen sich die durch die Gerichtshöfe angewandten Kriterien. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass der IAGMR bei der Entwicklung seiner Kriterien die Fortschritte des
470 Partly Dissenting Opinion of judge Thomassen joined by judges Jungwiert and Fischbach zu Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, S. 1. 471 Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 102. 472 Nesibe Haran v. Türkei, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 58 f.
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Europäischen Gerichtshofes mit einbezogen hat.473 Zusätzlich berücksichtigt der EGMR jedoch auch, ob das betreffende Familienmitglied bei der Verhaftung des Verschwundenen anwesend war. Dieses Kriterium zur Feststellung des Leids eines Angehörigen kann jedoch nicht überzeugen, denn dieses wird vor allem durch das Leugnen der Tat und das staatliche Schweigen verursacht und nicht durch die Verhaftung. Daher sollte vom Gerichtshof in zukünftigen Fällen nicht mehr berücksichtigt werden, ob die betroffenen Familienangehörigen bei der Verhaftung anwesend waren. In der Literatur werden die entwickelten Kriterien vielfach als zu restriktiv und als eine Verkürzung der Rechte Angehöriger gesehen.474 Zunächst wird kritisiert, dass dem Eltern-Kind-Verhältnis in der Bestimmung eines nahen Verwandtschaftsverhältnisses ein besonderes Gewicht eingeräumt wird. Feldman stellt die Annahme in Frage, dass Eltern durch das Verschwindenlassen größeres Leid zugefügt werde. Geschwister und Ehepartner könnten mindestens genauso schwer durch den Verlust betroffen sein, weshalb er sich gegen formalistische Kriterien und für eine fallbezogene Analyse der Familienverhältnisse ausspricht.475 Grundsätzlich kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Eltern eines Verschwundenen besonders schwer von der Tat betroffen sind. Diese Vermutung, die beim IAGMR etwas weiter gefasst wird und zusätzlich noch die Kinder sowie Ehe- oder Lebenspartner des Opfers umfasst, erleichtert es diesen Personen, eine unmittelbare Verletzung ihrer Rechte nachzuweisen. Zudem haben beide Gerichtshöfe den Opferkreis nicht auf diese Personen beschränkt. Weitere Angehörige, beispielsweise Geschwister, Onkel und Tanten, wurden anhand der durch die Gerichtshöfe entwickelten Kriterien als Opfer anerkannt. In der Anwendung ist jedoch insbesondere beim EGMR nicht immer nachvollziehbar, warum bestimmte Personen als unmittelbar betroffen angesehen wurden und andere nicht. Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich aus der Berücksichtigung der Suchanstrengungen der Angehörigen, um den Opferstatus zu bestimmen. Soziale und familiäre Strukturen können eine bestimmte Rollenverteilung zwischen den Angehörigen zur Folge haben. Zudem können psychologische Beeinträchtigungen durch die Tat oder Druck durch Behörden oder Polizei eine aktive Beteiligung an der Informationsbeschaffung behindern.476 Passivität eines Familienmitgliedes kann somit nicht grundsätzlich als Zeichen geringeren Leids gewertet werden. Beide Gerichtshöfe berücksichtigen in der Anwendung dieses Kriteriums regelmäßig die Umstände des Einzelfalls und lassen auch familiäre Arbeitsteilung oder psy473 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 176; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 162 f. 474 Claude, 5 Intercultural Hum. Rts. L. Rev. 407 2010, S. 442; Feldman, European Human Rights Law Review 2009, 1, S. 51; Ott, S. 97 f. 475 Feldman, European Human Rights Law Review 2009, 1, S. 61 f. 476 Feldman, European Human Rights Law Review 2009, 1, S. 61 f.; Ott, S. 98.
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chische Einschränkungen der Beschwerdeführer nicht unbedacht,477 dennoch ist dies kein geeignetes Merkmal, um die Opfereigenschaft einer Person zu bestimmen. Die formalen Kriterien sind an sich nicht ausreichend, um den Kreis betroffener Familienangehöriger ausreichend zu erfassen. Die Rechtsprechung beider Gerichtshöfe ist in den vergangenen Jahren jedoch vielschichtiger geworden und hat den konkreten Umständen des Einzelfalls mehr Gewicht zugemessen. Die Opfereigenschaft eines Familienangehörigen wird in der Regel somit nicht anhand starrer Kriterien, sondern fallbezogen entschieden.
II. Verbot der Folter 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof In Blake gegen Guatemala stellte der Gerichtshof erstmalig einen Verstoß gegen Art. 5 der AMRK im Bezug auf die Angehörigen eines Verschwundenen fest. Der Bruder von Nicholas Blake erlitt infolge der siebenjährigen Suche nach seinem Bruder eine schwere Depression, die mit erheblichen Behandlungskosten verbunden war. Daher stellt der Gerichtshof fest: „This matter raised by the Commission may only be examined in connection with Mr. Nicholas Blake’s relatives, since the violation of those relatives’ mental and moral integrity is a direct consequence of his forced disappearance. The circumstances of such disappearances generate suffering and anguish, in addition to a sense of insecurity, frustration and impotence in the face of the public authorities’ failure to investigate. (. . .) Consequently, the Court considers that such suffering, to the detriment of the mental and moral integrity of Mr. Nicholas Blake’s relatives, constitutes a violation by the State of Article 5 of the Convention in relation to its Article 1 (1).“ 478
Zudem verurteilte der Gerichtshof das Verbrennen der Überreste als einen Angriff gegen die kulturellen Werte der guatemaltekischen Gesellschaft, wodurch das Leiden der Opfer weiter verstärkt würde.479 Auch in nachfolgenden Entscheidungen wurde der Umgang mit den Leichen sowie die Möglichkeit, diese zu beerdigen, immer wieder unter Art. 5 AMRK berücksichtigt. Im Fall Juan Humberto Sánchez wiesen dessen sterbliche Überreste schwere Misshandlungen auf und wurden ohne Einverständnis der Angehörigen am Ort des Auffindens begra-
477 In Luluyev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 112 berücksichtigte der EGMR beispielsweise, dass der Vater des Opfers aufgrund seiner Tätigkeit als Anwalt bei der Suche die Hauptlast trug und sein Sohn lediglich die Identifizierung übernahm. 478 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 114 ff. 479 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 115; dies entschied der Gerichtshof, obwohl es sich bei Blakes Angehörigen um US-Amerikaner handelte.
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4. Teil: Schutz der Opfer
ben. Darin sah der Gerichtshof eine unmenschliche Behandlung gegenüber den Angehörigen.480 Nach der Leitentscheidung im Blake-Fall nahm der Gerichtshof in der überwiegenden Zahl von Fällen eine Verletzung des Art. 5 AMRK bei den Angehörigen an. Insbesondere wenn die staatliche Verantwortlichkeit geleugnet wurde und keine Ermittlungen zum Verbleib des Opfers stattfanden, wurde darin eine Verschlimmerung für die Opfer gesehen.481 Um einer Verletzung des Art. 5 AMRK vorzubeugen, sind die Familien unverzüglich über den Tod eines Angehörigen zu informieren und ihnen ist die Leiche zur Verfügung zu stellen. Für die Angehörigen haben die anhaltende Straflosigkeit der Täter und die unterbliebenen Ermittlungen Angst und ein Gefühl der Machtlosigkeit zur Folge.482 Die andauernde Verheimlichung der Wahrheit stellt eine unmenschliche Behandlung der Angehörigen dar.483 Berücksichtigung findet zudem, ob die Angehörigen bei der Verhaftung anwesend waren,484 die Länge des Zeitraums, in dem die Angehörigen in Ungewissheit über den Verbleib waren,485 Drohungen gegen die Familie486 sowie der psychische und gesundheitliche Zustand der Angehörigen487. Sind die Angehörigen aufgrund ihrer Ermittlungen in das Verschwindenlassen bedroht worden, stellt dies alleine bereits eine Verletzung des Art. 5 AMRK dar.488
480 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 174; ebenso in Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 102. 481 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 123; Contreras u. a. v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. August 2011, Abs. 123. 482 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 173; Garía und Familie v. Guatemala, Fondo, Reparaciones y Costas, Urteil vom 29. November 2012, Abs. 163. 483 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 125 f. 484 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 101; Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 60; Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 155. 485 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 101; 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 215. 486 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 101; 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 214; Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 115. 487 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 101; Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 113; González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 420.
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Insbesondere in Fällen des Verschwindenlassens und der außergerichtlichen Tötung hat der Gerichtshof das Leid der Angehörigen als eine Verletzung des Art. 5 AMRK anerkannt.489 Durch die Kurt-Entscheidung des EMRK, sah sich der Inter-Amerikanische Gerichtshof in dieser Ansicht bestätigt.490 2. Europäischer Gerichtshof Für den EGMR ist das behördliche Verhalten im Zusammenhang mit dem Verschwindenlassen von herausragender Bedeutung für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK der Angehörigen. „The Court would further emphasise that the essence of such a violation does not so much lie in the fact of the ,disappearance‘ of the family member but rather concerns the authorities’ reactions and attitudes to the situation when it is brought to their attention. It is especially in respect of the latter that a relative may claim directly to be a victim of the authorities’ conduct.“ 491
Wurde eine Person von staatlicher Stelle verhaftet und fehlt es im Anschluss an offiziellen Informationen oder wird die Beschwerde des Familienangehörigen durch die Staatsanwaltschaft nicht ernsthaft beachtet, ist dies für nahe Familienangehörige mit einer derart schweren Angst verbunden, dass die Schwelle des Art. 3 EMRK erreicht wird.492 Dies liegt in der Regel auch dann vor, wenn der Beschwerdeführer wiederholt versuchte, von den Behörden Informationen über den Verbleib seines Angehörigen zu erlangen und er zu keiner Zeit plausible Erklärungen erhalten hat oder die Verantwortung von staatlicher Seite schlicht geleugnet wurde.493 Dieses Leid kann beispielsweise noch dadurch verschlimmert werden, dass die Betroffenen von dem Tod anderer Gefangener in vergleichbarer Situationen erfuhren494 oder ihnen der Zugriff auf die Ermittlungsunterlagen ungerechtfertigterweise verweigert wurde.495 Zum Teil hat der Gerichtshof eine
488 Es muss sich um eine reale Bedrohung handeln, die unmittelbar bevorsteht, Garía und Familie v. Guatemala, Fondo, Reparaciones y Costas, Urteil vom 29. November 2012, Abs. 169. 489 APT/CEJIL, S. 120. 490 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 176. 491 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 98; ebenso Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 95; Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 156; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 358; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 139; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 164. 492 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 133. 493 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 359; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 140. 494 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 96. 495 Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 165.
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unmenschliche Behandlung der Beschwerdeführer jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass „nothing in the content or tone of the authorities’ replies to the enquiries made by the applicant that could be described as inhuman or degrading treatment.“ 496
Aus diesen Entscheidungen geht jedoch nicht klar hervor, inwieweit sie sich von den Fällen unterscheiden, in denen das Verhalten der Ermittlungsbehörden nicht als unmenschliche Behandlung qualifiziert wurde. Berücksichtigung findet auch die Dauer, die eine Person dieser Angst ausgesetzt ist.497 Je länger ein Familienangehöriger ohne Informationen ist, umso größer wird sein Leiden. Es ist daher fraglich, ob auch kurze Zeiträume von wenigen Tagen oder Wochen, in denen die Familienangehörigen von den Behörden im Unklaren gelassen werden, für die Einstufung als unmenschliche Behandlung ausreichen. In Fällen, in denen die Leiche des Verschwundenen später gefunden wurde, können sich die Verwandten regelmäßig nicht auf eine Verletzung des Art. 3 EMRK berufen. Etwas anderes nimmt der Gerichtshof nur an, wenn die Dauer des Verschwindenlassens eine gewisse Länge umfasst.498 Fünf Monate können als Zeitraum dabei genügen.499 Wenige Tage oder Wochen sind für eine Verletzung des Art. 3 EMRK jedoch nicht ausreichend.500 In Khadzhialiyev u. a. v. Russland wurden die Leichen der Verschwundenen bereits nach vier Tagen aufgefunden. Diesen Zeitraum erachtete der Gerichtshof als zu kurz. Da die Leichen jedoch zerstückelt wurden und es den Angehörigen auch sechs Jahre nach dem Auffinden der Überreste nicht möglich war, diese in geeigneter Weise zu beerdigen, sah der Gerichtshof eine unmenschliche Behandlung der Angehörigen als gegeben an.501 Eine Verletzung des Art. 3 EMRK wird zudem auch immer in den Fällen abgelehnt, in denen der Gerichtshof eine staatliche Beteiligung an dem Verschwindenlassen als nicht nachgewiesen betrachtet. Auch wenn der EGMR in solchen
496 Seker v. Türkei, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 83; Uçar v. Türkei, Urteil vom 11. April 2006, Abs. 110. 497 In Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 133 spricht der Gerichtshof generell von einer „prolonged period of time“; in Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 173 hat die Mutter seit sechs Jahren keine Nachricht von ihrem Sohn; in Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 359 war der Sohn des Beschwerdeführers seit fast acht Jahren verschwunden. 498 Luluyev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 114; Akhmadova und Sadulayeva v. Russland, Urteil vom 10. Mai 2007, Abs. 109; Kukayev v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 106; Khadzhialiyev u. a. v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 120. 499 Kukayev v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 107. 500 In Bitiyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 106 erachtete der Gerichtshof zwei Wochen als zu kurz. 501 Khadzhialiyev u. a. v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 121.
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Fällen eine Verletzung der Untersuchungspflichten bezüglich Art. 2 EMRK feststellt, lässt er das Untätigbleiben und den Mangel an Informationen durch die Ermittlungsbehörden für eine unmenschliche Behandlung nicht ausreichen.502 3. Vergleich Sowohl der Europäische als auch der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte sehen regelmäßig das Recht der Angehörigen auf menschliche Behandlung durch das Verschwindenlassen verletzt. Allerdings beschränkt sich der EGMR bei der Feststellung des Leids der Opfer auf das staatliche Verhalten. Ausschlaggebend ist danach, ob die staatliche Verantwortlichkeit geleugnet wurde und Ermittlungen zum Verbleib des Opfers verhindert oder verzögert wurden. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof berücksichtigt alle Aspekte, die zu einem Leiden führen können, wie beispielsweise die mit dem Verschwindenlassen verbundene Unsicherheit, den Umgang mit der Leiche und die anhaltende Straflosigkeit der Täter. Zudem geht er bei der Feststellung des Leidens deutlich gründlicher vor und lässt die psychischen Einschränkungen regelmäßig durch Psychologen feststellen. Der EGMR wird durch jene Beschränkung in seinen Urteilen der Angst und dem Leiden der Angehörigen nicht gerecht und sollte in seinen zukünftigen Urteilen deren Schicksal vollumfänglich erfassen.
III. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens Obwohl durch das Verschwinden einer Person in der Regel die ganze Familie betroffen ist, findet das Recht auf Achtung des Familienlebens nur in wenigen Fällen Berücksichtigung. Oftmals wird das Opfer zu Hause im Beisein seiner Angehörigen verhaftet und durch die Haft ist es den Familienmitgliedern nicht möglich, mit ihm in Kontakt zu treten. Art. 11 und 17 der AMRK und Art. 8 der EMRK sollen den Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt in sein Privat- und Familienleben schützen. 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Der Inter-Amerikanische Gerichtshof sieht im Verschwindenlassen von Personen nicht generell eine Verletzung des Privat- und Familienlebens. Die von den Angehörigen vorgebrachten Verletzungen würden bereits durch Art. 5 AMRK erfasst und stellten in der Regel keine eigenständige Verletzung der Art. 11 und 17 502 Shaipova u. a. v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 110; Tagirova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 102; Zakriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 97; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 130.
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4. Teil: Schutz der Opfer
AMRK dar.503 In Molina Theissen nahm der Gerichtshof nach der staatlichen Anerkennung der Verantwortung eine Verletzung des Art. 17 AMRK ohne weitere Ausführungen an.504 Eine Verletzung des Rechts auf Familienleben wurde auch dann angenommen, wenn es um das Verschwindenlassen von Kindern ging. Während im Fall der Serrano Cruz-Geschwister aufgrund der temporalen Zuständigkeit des Gerichtshofes keine Entscheidung erfolgte, erachtete er das Recht auf Familienleben in Gelman v. Uruguay für betroffen. Die Mutter von María Macarena Gelman wurde durch argentinische Behörden verschwinden gelassen, als diese mit ihr schwanger war. Nach der Niederkunft wurde die Mutter ermordet und ihre Tochter einer uruguayischen Familie, die selber keine Kinder bekommen konnte, zur Adoption gegeben.505 Erst 24 Jahre später war es den Großeltern möglich, die Enkeltochter aufzufinden und diese darüber zu informieren, wer ihre leiblichen Eltern waren.506 Diese unrechtmäßige Trennung eines Kindes von seiner Familie, wodurch es dem Kind unmöglich gemacht wird, ein Verhältnis zu den eigenen Familienangehörigen aufzubauen, stellt eine Verletzung des Art. 17 AMRK dar.507 Am ausführlichsten beschäftigte sich der Gerichtshof in Chitay Nech mit der Verletzung des Familienlebens durch das Verschwindenlassen. Nach dem Verschwindenlassen des Vaters war es seiner Familie aufgrund der Bedrohungslage und aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich, zusammen zu wohnen. Seine Söhne mussten getrennt voneinander aufwachsen.508 Der IAGMR stellte daraufhin fest, dass Kinder ein Anrecht darauf haben, mit ihren Familien zusammen zu bleiben. Eine rechtswidrige Trennung stellt mithin einen Eingriff in Art. 17 AMRK dar.509 Besondere Berücksichtigung fand, dass es sich um eine indigene Familie handelte, die durch das Verschwinden des Familienvaters bestimmte Traditionen nicht fortsetzen konnte. Das Verschwinden von Chitay Nech richtete sich zudem gegen seine Familie und die ganze Gemeinschaft.510 Anhaltende Drohun503 González v. Mexiko, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 445; González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 274. 504 Molina-Theissen v. Guatemala, Merits, Urteil vom 4. Mai 2004, Abs. 43. 505 Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 81, 85 ff. 506 Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 111 f. 507 Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 125 f. 508 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 161. 509 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 157. 510 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 160 f.
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gen und Verfolgungen, denen die Familie nach dem Verschwindenlassen ausgesetzt war, und die Tatsache, dass der 5-jährige Sohn des Opfers Zeuge der gewaltsamen Entführung seines Vaters wurde, wurden ebenfalls angeführt, um eine Verletzung des Art. 17 AMRK zu begründen.511 Bei der Anerkennung einer Verletzung des Privat- und Familienlebens ist der Gerichtshof sehr zurückhaltend. Bisher spielte eine solche Verletzung vorrangig in Fällen eine Rolle, in denen Kinder vom Verschwindenlassen betroffen waren. 2. Europäischer Gerichtshof In verschiedenen Fällen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres in Art. 8 EMRK normierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gerügt. Der Gerichtshof sah jedoch nur in seltenen Fällen eine Beeinträchtigung als gegeben an. Ging die Verhaftung des Opfers mit der Durchsuchung seiner Wohnung und der Beschlagnahmung oder Zerstörung von Gegenständen einher, prüft der EGMR eine Verletzung des Art. 8 EMRK. Lag für die Durchsuchung keine rechtliche Grundlage vor, sieht er darin einen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Zuhauses.512 In der Mehrheit der Fälle wird das Recht auf Privat- und Familienleben nach Auffassung des EGMR durch das Verschwindenlassen nicht berührt. Trotz der tragischen Umstände, die für eine Familie durch das Verschwindenlassen entstehen können, werden diese Effekte bereits durch die Artikel 2 und 3 EMRK abgedeckt.513 Eine Ausnahme stellt nur der Fall El-Masri dar, in dem der EGMR auf die Feststellungen in den Artikeln 3 und 5 EMRK verweist und in deren Verletzung ebenfalls eine Beeinträchtigung des Art. 8 EMRK sieht. Die unterschiedliche Beurteilung erscheint darin begründet, dass bei El-Masri eine Verhaftung über einen längeren Zeitraum nachgewiesen wurde. Auch in anderen Fällen, in denen eine Verhaftung zumindest für ein paar Tage als bewiesen gilt, nimmt der 511 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 163. 512 In Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 187 ff. lag kein Durchsuchungsbefehl vor und es wurde keine Liste mit den beschlagnahmten Gegenständen angefertigt. Auch den Verweis auf das Terrorismusgesetz ließ der Gerichtshof als rechtliche Grundlage nicht genügen. In Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 397 wurden durch die Sicherheitskräfte das Haus und bestimmte Besitztümer des Beschwerdeführers zerstört. In Khutsayev u. a. v. Russland, Urteil vom 27. Mai 2010, Abs. 154 mangelte es ebenfalls an einem Durchsuchungsbefehl. 513 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 157; Luluyev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 133; Ruslan Umarov v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 139; Lyanova und Aliyeva v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 130; Dzhambekova u. a. v. Russland, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 322; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 131.
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Gerichtshof eine Verletzung des Art. 8 EMRK an. In Ucar v. Türkei war das Opfer bereits neun Tage in Haft, bis seine Familie über seinen Verbleib informiert wurde. Zudem hatte er keine Möglichkeit, mit seinen Angehörigen in Kontakt zu treten.514 Der Gerichtshof kam daher zu dem Ergebnis, dass „The unexplained disappearance of a family member, even for a short period of time, may provoke great anxiety. The Court further considers that the situation complained of in the instant case concerns not an interference with the applicant’s right under Article 8, but the State’s inaction to regulate the communications between persons in custody and their relatives.“ 515
Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Gerichtshof in vergleichbaren Fällen des Verschwindenlassens nicht zu dem selben Ergebnis kommt. In einer Vielzahl der Fälle werden die verschwundenen Personen zumindest für mehrere Tage ohne Kontaktmöglichkeit zu ihrer Familie gefangen gehalten. Aus Sicht ihrer Angehörigen ist das dadurch ausgelöste Leid nicht geringer, selbst wenn das Opfer bereits kurz nach der Verhaftung ermordet wurde. Der EGMR sollte daher in dem Verschwindenlassen grundsätzlich eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben sehen. 3. Vergleich Nach der Auffassung beider Gerichtshöfe ist durch das Verschwindenlassen das Recht auf Familienleben nicht generell betroffen. Nur in speziellen Fällen haben sie eine Verletzung angenommen. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof berücksichtigt vor allem, ob durch die Tat Kinder in ihrer Entwicklung nachteilig betroffen wurden. Der Europäische Gerichtshof verlangt, dass die Verhaftung des Opfers über einen bestimmten Zeitraum, in dem er keine Kontaktmöglichkeiten mit seiner Familie hatte, als erwiesen gilt. Die Rechtsprechungspraxis beider Menschenrechtsgerichtshöfe erscheint in diesem Aspekt als zu restriktiv. Durch das Verschwindenlassen wird grundsätzlich das Recht auf Familienleben verletzt. Der EGMR hat in der Entscheidung Uçar v. Türkei richtig festgestellt, dass die Unterbindung von Kontakt zwischen einem Häftling und seinen Angehörigen eine Verletzung darstellt. Dafür ist bereits ein kurzer Zeitraum ausreichend. In den meisten Fällen des Verschwindenlassens kann davon ausgegangen werden, dass die Opfer nicht unmittelbar nach ihrer Verhaftung umgebracht wurden, sondern zumindest einige Tage in Haft verbrachten. Wird einer Person nach seiner Verhaftung nicht die Gelegenheit gegeben, unverzüglich Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, ist der Staat seiner Verpflichtung zum Schutz der Integrität der Familie nicht nachgekommen. Die Verhinderung von Kontakt zwischen Familienmitgliedern und die Leugnung der
514 515
Uçar v. Türkei, Urteil vom 11. April 2006, Abs. 139 f. Uçar v. Türkei, Urteil vom 11. April 2006, Abs. 136 f.
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gesamten Tat stellt somit regelmäßig eine Verletzung des Familienlebens dar. Das Verschwindenlassen zielt zudem nicht nur darauf ab, den Verschwundenen für sein Verhalten zu bestrafen, sondern darüber hinaus soll auch seine Familie eingeschüchtert werden. Die Tat richtet sich somit bewusst gegen die gesamte Familie.
IV. Rechtsschutzgarantien Ein wesentlicher Faktor für das anhaltende Leid der Angehörigen ist die Verheimlichung des Tatgeschehens. Sie verbringen nach der Verhaftung des Opfers oftmals viele Jahre damit, herauszufinden, was mit ihm geschehen ist und wer für sein Verschwinden Verantwortung trägt. Aufgrund der Ablehnung jeglicher Schuld von staatlicher Seite ist eine Unterstützung durch Behörden nicht gegeben. Oftmals werden auch nach der demokratischen Transformation eines Landes nur ungenügende Ermittlungen angestellt oder diese immer weiter verzögert. Art. 25 AMRK und Art. 13 der EMRK gewähren ein Recht auf wirksame Beschwerde, wonach jede Person, die in ihren durch die Konvention anerkannten Rechten verletzt wurde, bei einer nationalen Instanz Beschwerde erheben darf. Dadurch soll die effektive Gewährung der Konventionsrechte in den Mitgliedstaaten sichergestellt werden. Art. 25 AMRK geht dabei jedoch weiter und gewährt effektiven Rechtsschutz nicht nur im Hinblick auf die Konventionsrechte, sondern umfasst alle in den Verfassungen und Gesetzen der Staaten gewährten fundamentalen Rechte. Er steht zudem in enger Verbindung mit Art. 8 AMRK, der das Recht auf ein faires Verfahren schützt. Das Recht auf wirksame Beschwerde ist ein akzessorisches Recht und muss daher zusammen mit einem materiellen Konventionsrecht gerügt werden. In Fällen des Verschwindenlassens rügten die Beschwerdeführer in erster Linie, dass staatliche Ermittlungen nicht oder nur unzureichend erfolgten (a). Zudem beriefen sie sich auf ein Recht, die Wahrheit über die mit der Tat im Zusammenhang stehende Ereignisse zu erfahren (b). 1. Inter-Amerikanischer Gerichtshof a) Ermittlungspflichten Den Staaten obliegt die Ermittlungspflicht für jede Situation, die eine Verletzung der Konventionsrechte zur Folge haben könnte. Geprüft wird diese Verpflichtung im Zusammenhang mit den Artikeln 8, 25 und 1 Abs. 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention.516 Ob eine Verletzung der Ermittlungspflichten vor-
516 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 225.
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liegt, überprüft der Gerichtshof anhand aller nationalen juristischen Verfahren einschließlich des Berufungsverfahrens und der Beweiserhebung.517 Immer wenn eine berechtigte Annahme besteht, dass eine Person verschwinden gelassen wurde, sind die Staaten dazu verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen und die Ereignisse aufzuklären. Dabei stellt sich zunächst die Frage, wann sie dieser Pflicht angemessen nachgekommen sind, denn auch in einem gut funktionierendem Rechtssystem ist es nicht möglich, alle Straftaten aufzudecken. Die Pflicht zur Ermittlung ist deshalb nicht bereits dadurch verletzt, dass eine Untersuchung keine ausreichenden Ergebnisse produziert hat. Sie muss jedoch ernsthaft durchgeführt werden und darf nicht nur reine Formsache sein, die dazu bestimmt ist, erfolglos zu bleiben.518 Eine ernsthafte Untersuchung beschreibt der Gerichtshof wie folgt: „An investigation must have an objective and be assumed by the State as its own legal duty, not as a step taken by private interests that depends upon the initiative of the victim or his family or upon their offer of proof, without an effective search for the truth by the government. This is true regardless of what agent is eventually found responsible for the violation.“ 519
Voraussetzungen für eine ernsthafte Untersuchung ist danach, dass durch die Untersuchungsbehörden ein Ziel verfolgt wird (1), die Untersuchung ex officio durchgeführt wird (2) und der Grundsatz der Objektivität gewährt bleibt (3). Zudem besteht die Untersuchungspflicht so lange, bis alle Unsicherheiten über den Verbleib und das Schicksal des Verschwundenen aufgeklärt sind (4).520 Für eine ernsthafte Untersuchung muss durch die Ermittlungsbehörden zunächst das Ziel verfolgt werden, die Wahrheit über das Verschwindenlassen herauszufinden. Das verfolgte Ziel muss nicht zwangsläufig vom Staat erreicht werden, jedoch muss er alles in seiner Macht Stehende tun, um das Schicksal und den Verbleib des Verschwundenen aufzuklären. Die Ermittlungspflicht ist nach Auffassung des Gerichtshofes „an obligation of means, rather than results“.521 Die Untersuchungen dürfen daher nicht nur reine Formalitäten sein, sondern
517 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 222, 224; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 188 f.; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 120. 518 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 177; Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 61; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 123. 519 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 177. 520 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 181. 521 Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 131; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 184 f.
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müssen auch auf Effektivität angelegt sein.522 Als Ziel der Untersuchungspflichten beschreibt der Gerichtshof nicht nur die Aufklärung der Umstände, sondern auch die Strafverfolgung der Verantwortlichen: „Each act of the State that forms part of the investigative process, as well as the investigation as a whole, should have a specific purpose: the determination of the truth, and the investigation, pursuit, capture, prosecution and, if applicable, punishment of those responsible for the facts.“ 523
Die staatliche Ermittlungspflicht und die staatliche Strafverfolgungspflicht sind komplementär, jede Pflicht hat jedoch ihren eigenen separaten Regelungsinhalt.524 Allein durch die Verurteilung der Straftäter genügt der Staat seinen Ermittlungspflichten nicht. Er muss sich auch um das Auffinden der Leiche bemühen.525 Als zweites Kriterium setzt eine ernsthafte Untersuchung ein Eingreifen von Amts wegen voraus. Die Behörden müssen auch dann tätig werden, wenn ihnen von den Angehörigen kein Antrag vorliegt, sie aber auf anderen Wegen von einem Verschwindenlassen Kenntnis erlangt haben.526 Diese Verpflichtung wird aus dem internationalem Recht zum Schutz gegen das Verschwindenlassen abgeleitet527 sowie aus den jeweils geltenden nationalen Gesetzen der Mitgliedsstaaten528. Ermittlungen ex officio stellen ein wesentliches Element zum Schutz der in diesen Situationen betroffenen Rechte dar.529 Deshalb sind alle öffentlichen Behörden, die Anhaltspunkte für ein Verschwindenlassen haben, dazu angehalten diese unverzüglich zu melden.530 Zudem müssen die Behörden in den ersten Stunden nach Bekanntwerden eines Verschwindenlassens handeln und dürfen 522 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 177; Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 131. 523 Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 131. 524 Zur Strafverfolgungspflicht siehe 5. Teil, C, I. 525 Gómez-Palomino v. Peru, Compliance, 5. Juli 2011, Abs. 15. 526 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 177; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 65; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar, 2011, Abs. 186. 527 Art. 12 (2) der Internationalen Konvention gegen das Verschwindenlassen; Art. 13 der Erklärung gegen das Verschwindenlassen. 528 In Heliodoro Portugal zitiert der Gerichtshof die Artikel 1975 und 1977 des panamaischen Strafprozessrechtes, nach dem Strafverfahren ex officio eingeleitet werden müssen, Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 143. 529 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai, 2010, Abs. 92; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar, 2011, Abs. 186. 530 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai, 2010, Abs. 92.
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dieses nicht schuldhaft verzögern.531 Dennoch hat der Gerichtshof in Blake v. Guatemala eine Verletzung des Art. 25 AMRK mit der Begründung abgelehnt, dass durch die Angehörigen keine rechtlichen Schritte zur Aufklärung des Verschwindenlassens eingeleitet wurden.532 In den früheren Entscheidungen des Gerichtshofes, zu dem auch der Blake-Fall gehört, wurden die Artikel 8 und 25 getrennt behandelt. Während in Blake eine Verletzung des Art. 25 AMRK mangels Beschwerde abgelehnt wurde, sah der Gerichtshof den Art. 8 verletzt, da die Behörden nicht effektiv ermittelt hätten, um die Täter zu bestrafen sowie den Angehörigen eine Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Daher scheint es umso fraglicher, warum Art. 25 nicht betroffen sein soll. Die Angehörigen von Nicholas Blake, der US-amerikanischer Staatsbürger war, kontaktierten bereits kurz nach dessen Verschwinden die US-Botschaft und organisierten verschiedene Reisen nach Guatemala, um sich dort mit zivilen und militärischen Behörden zu treffen.533 Der Staat war somit in Kenntnis über das Verschwindenlassen und hätte dem Amtsermittlungsgrundsatz folgend Ermittlungen einleiten müssen. In vielen Fällen besteht für die Angehörigen zudem eine konkrete Bedrohungslage, aufgrund derer sie sich nicht an Behörden oder Justiz wenden können oder wollen. Würde der Gerichtshof dem Antragsgrundsatz folgen, schaffte dies Anreize für die Täter, Angehörige derart unter Druck zu setzen, dass sie von juristischen Anfragen Abstand nehmen. Im konkreten Fall von Nicholas Blake kommt hinzu, dass seine Angehörigen US-Amerikaner sind, für die es aufgrund von sprachlichen und kulturellen Unterschieden um so schwieriger ist, in einem fremden Land juristische Schritte wegen des Verschwindenlassens einzuleiten. Auch wenn der Staat ex officio tätig werden muss, soll den Opfern oder ihren Angehörigen die Möglichkeit eingeräumt werden, sich in die Ermittlungen einzubringen.534 Die Erhebung von Beweisen darf ihnen jedoch nicht aufgebürdet werden.535 Des Weiteren muss sichergestellt sein, dass die Untersuchung objektiv erfolgt. Alle an den Ermittlungen beteiligten Behörden und Personen müssen die Untersuchung unabhängig und unbefangen durchführen.536 Erfolgen nach der Tat überhaupt Untersuchungen, sind sie in der Regel von der Subjektivität der Ermitt531 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 284; Palma Mendoza u. a. v. Ecuador, Preliminary Objection and Merits, Urteil vom 3. September 2012, Abs. 91. 532 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 104. 533 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 52 (c) f. 534 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 227. 535 In Chitay Nech verloren die Behörden Dokumente, die ihnen von den Angehörigen überlassen wurden. Darin sah der Gerichtshof eine Verletzung der staatlichen Ermittlungspflicht, die den Opfern nicht aufgelastet werden darf, Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 208.
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lungsbehörden geprägt, denn beim systematischen Verschwindenlassen wirken alle staatlichen Organe an der Verheimlichung des Geschehens mit oder reagieren mit Tatenlosigkeit.537 Auch nach einem Regimewechsel in einem Staat sind viele Täter weiterhin in den staatlichen Strukturen verankert, sodass eine unparteiische Untersuchung nicht gesichert ist.538 Dennoch sind die Staaten dazu verpflichtet, objektiv in alle Richtungen zu ermitteln und dabei auch die Opfer mit einzubeziehen.539 Ein viertes Kriterium setzt voraus, dass die Untersuchungen so lange anhalten müssen, bis aufgeklärt wurde, was mit dem Verschwundenen passiert ist. Auch wenn die Straftäter für das Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen werden können, muss der Staat dennoch alles in seinen Möglichkeiten Stehende tun, um die Angehörigen darüber zu informieren, was mit dem Opfer nach seiner Verhaftung geschah. Zudem trifft den Staat die Verpflichtung, seine Überreste zu lokalisieren.540 Vermeulen geht davon aus, dass diese Pflicht erst dann erfüllt ist, wenn der Verschwundene aus der Haft entlassen wurde oder seine Überreste an die Familie übergeben wurden.541 Sie bezieht sich dabei auf den Fall Bámaca Velásquez, in dem festgestellt wurde, dass „the State must conduct the exhumations, in the presence of the next of kin, to locate the mortal remains of Efraín Bámaca Velásquez and to hand them over to them.“ 542
In diesem Fall gab es jedoch sehr konkrete Hinweise, wo sich die Leiche von Efraín Bámaca Velásquez befand. Die Angehörigen hatten zusammen mit einem forensischen Team bereits drei Versuche unternommen, die Exhumierung der Leiche vorzunehmen, um feststellen zu können, ob es sich um den Gesuchten handelt. Jedes Mal wurden sie jedoch von den Behörden daran gehindert und auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs war die Exhumierung noch nicht durchgeführt worden.543
536 Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 133. 537 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 137 f. 538 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 199. 539 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 227; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 187; González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 207. 540 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 181. 541 Vermeulen, S. 325. 542 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 82. 543 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 88 ff., Tesimonal Evidence of Jennifer Harbury, Julio Arango Escobar, José Fernando Moscoso Moller.
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In der Mehrheit der Fälle ist völlig unklar, wo die Überreste der Verschwundenen begraben wurden. Aufgrund der seit der Begehung der Tat verstrichenen Zeit und der oftmals erfolgten Regimewechsel in den betreffenden Ländern ist das Auffinden der Leichen in vielen Fällen ein sehr langwieriger Prozess, wenn nicht sogar unmöglich. Zum Teil wurden die Überreste auch durch Verbrennen derart zerstört, dass eine Identifizierung unmöglich ist.544 Zugleich spricht der Gerichtshof in seinen Entscheidungen explizit nur davon, dass die Staaten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen müssen.545 Ein konkretes Ergebnis, um dieser Pflicht zu genügen, also das Auffinden der Leiche, wird dabei nicht verlangt. Es erscheint somit ausreichend, dass die Staaten sich mit aller Kraft bemühen, die Leiche eines Verschwundenen aufzufinden und an die Angehörigen zu übergeben. Es ist durch den Gerichtshof bisher nicht konkretisiert worden, wann ein Staat seiner Ermittlungspflicht Genüge getan hat, auch wenn die sterblichen Überreste nicht aufgefunden werden konnten. Es ist jedoch vorstellbar, dass der Gerichtshof einen Fall schließt, wenn der Staat nachweisen kann, dass er viele Jahre alles ihm Mögliche getan hat, um die Überreste zu lokalisieren, und keine realistische Hoffnung mehr besteht, diese noch zu finden.546 Eine Untersuchung im Sinne des IAGMR setzt zudem ein sorgfältiges Vorgehen der Ermittlungsbehörden voraus. Im Fall der Serrano-Cruz-Geschwister gegen El Salvador stellt der Gerichtshof sogenannte „due diligence“ Kriterien auf. Danach müssen die Ermittlungen innerhalb einer angemessen Zeit durchgeführt werden (a) und sie müssen effektiv sein (b).547 Das Kriterium der angemessenen Zeit („reasonable time“) spielt sowohl im Rahmen der staatlichen Ermittlungspflichten als auch bei der Strafverfolgung eine erhebliche Rolle. Um festzustellen, ob die Ermittlungen innerhalb einer angemessenen Zeit erfolgten, sind drei Elemente zu berücksichtigen: Die Komplexität des Falls (a), die prozessualen Aktivitäten der betroffenen Parteien (b) sowie das Verhalten der Gerichte (c).548 Zudem obliegt es dem Staat, alle Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer effektiven Ermittlung des Tathergangs sowie der Feststellung der Verantwortlichen notwendig sind. Zur Konkretisierung dieser Maßnahmen greift der Gerichtshof auf das UN-Manual zur effektiven Verhinderung und Untersuchung von extra-legalen, willkürlichen und standesrechtlichen Hinrichtungen zurück. 544 So beispielsweise im Fall des Verschwindens von Nicholas Blake, Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 115. 545 Der Gerichtshof spricht von „to use the means at ist disposal“; Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 181; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar, 1989, Abs. 191. 546 Interview mit Richter Diego García Sayán. 547 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 65. 548 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni. 2003, Abs. 129; 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 190; Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 67.
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„The Protocol has listed as minimum requirements for the investigation: identification of the victim, gathering and preserving evidence pertaining to the death so as to help in possible prosecution of those responsible; identification of possible witness and obtaining their statements regarding the death; determination of the cause, manner, place and time of death, as well as any pattern or practice that might have caused the death; establishing the distinction among natural death, suicide, and homicide; identification and capture of the person or persons involved in the death, and bringing the alleged perpetrators before a competent tribunal established by law.“ 549
Der Tatort, die Leiche und alle weiteren potenziellen Beweise müssen so abfotografiert werden wie sie vorgefunden wurden und die Ermittler sind dazu angehalten, die Umgebung nach weiteren Beweisen abzusuchen. Alle Erkenntnisse und Ermittlungsergebnisse sind in einem Bericht festzuhalten.550 Insbesondere in Fällen außergerichtlicher Tötungen ist eine gründliche Untersuchung der Umstände von großer Bedeutung. In Juan Humberto Sánchez wurde nach dem Auffinden der Leiche keine Autopsie durchgeführt und auch keine Fotos von der Stelle des Leichenfundes aufgenommen, wodurch nach Auffassung des Gerichtshofes eine effektive Untersuchung unmöglich wurde.551 In Anzualdo Castro gegen Peru stellte der Gerichtshof weitere Garantien auf, die von den Staaten erfüllt werden müssen, um ihren Ermittlungspflichten effektiv nachzukommen. „For this, the State will guarantee that the authorities in charge of the investigation have the logistic and scientific resources necessary to collect and process evidence, and more specifically, that he is allowed access to the documents and information relevant to the investigation of the facts denounced and that they be able to obtain evidence of the locations of the victims. Furthermore, it is fundamental that the investigating authorities have unrestricted access to detention centers, regarding the documentation as well as the people.“ 552
Zwischen dem Verschwindenlassen einer Person und dem Verhandlungsbeginn vor dem IAGMR vergehen nicht selten 10 bis 20 Jahre. Viele Staaten berufen sich darauf, dass es daher nicht mehr möglich sei, effektive Untersuchungen durchzuführen. Der Gerichtshof erkennt zwar an, dass sich lange Zeitspannen negativ auf die Beweislage auswirken, verpflichtet die Staaten dennoch dazu, alles in ihren Möglichkeiten Stehende zu tun:
549 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni. 2003, Abs. 127. 550 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 300 f. 551 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni. 2003, Abs. 128. 552 Tiu Tojín v. Guatemala, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 26. November 2008, Abs. 77; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 135.
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„The Court repeats that the passage of time has a directly proportionate relationship to the constraints – and, in some cases, the impossibility – of obtaining evidence or testimonies that help clarify the facts under investigation and even invalidates the practice of procedures for taking evidence in order to shed light on the facts of the investigation, identify the possible perpetrators and participants and determine the possible criminal responsibilities. It is worth mentioning that these resources and elements contribute to the effective investigation, but the lack of them does not exonerate state authorities from making the necessary efforts to comply with this obligation.“ 553
Im Cotton Field-Fall hat sich der Gerichtshof sehr ausführlich mit den durch Mexico vorgenommenen Untersuchungen auseinandergesetzt und sie an dem entwickelten due diligence-Standard einer effektiven Ermittlung gemessen. Dieser Fall unterscheidet sich von den anderen vor dem Gerichtshof verhandelten Fällen des Verschwindenlassens in erster Linie dadurch, dass keine staatliche Beteiligung angenommen wurde. Die Entscheidung behandelt das Verschwinden von drei jungen Frauen im Alter von 15 und 20 Jahren in Ciudad Juárez, deren Leichen später auf einem Baumwollfeld gefunden wurden.554 Ihr Verschwinden steht im Zusammenhang mit massiver Gewalt gegen Frauen in der Stadt Ciudad Juárez infolge organisierter Kriminalität und Sexualdelikten.555 Berichten zufolge sollen in den Jahren 1993 bis 2003 zwischen 260 und 370 Frauen verschwunden sein.556 Dem Staat wurde jedoch unter anderem vorgeworfen, die Ermittlungen in das Verschwinden nicht ordnungsgemäß durchgeführt zu haben. Der offizielle Ermittlungsbericht enthält viele Unregelmäßigkeiten, mit denen sich der IAGMR in seiner Entscheidung beschäftigte. Das Auffinden der Leichen wird im Bericht nicht erwähnt. Zudem weichen die Beweislisten der Ermittlungsbehörden voneinander ab und indizieren nicht, wo ein Beweis gefunden wurde.557 Die Überwachungskette („chain of custody“), nach der nachgehalten werden muss, welchen Gang ein Beweismittel oder Befund innerhalb der Ermittlungsbehörden genommen hat, wurde nicht eingehalten.558 Bei eigenen Nachforschungen durch die Angehörigen wurden am Tatort verschiedene wichtige Beweise gefunden, die von Behörden unberücksichtigt blieben, sodass von einer sorgfältigen
553 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 135. 554 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 165 ff., 209. 555 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 131. 556 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 118. 557 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 302 f. 558 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 305.
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Ermittlung nicht ausgegangen werden konnte.559 Weitere Unregelmäßigkeiten stellte der Gerichtshof bei der Durchführung der Autopsien fest. Eine Autopsie dient dazu, Informationen über die ermordete Person, den Todeszeitpunkt und die Todesursache zu sammeln. Dabei müssen einige Formalitäten schriftlich niedergelegt werden, wie beispielsweise der Tag und das Datum der Autopsie sowie der durchführende Pathologe. Zudem müssen alle Verletzungen an der Leiche dokumentiert werden und die Überreste geröntgt und fotografiert werden. Dies ist regelmäßig in den Fällen betreffend das Verschwindenlassen in Ciudad Juárez nicht erfolgt. Teilweise wurden Daten in den Berichten aufgeführt, zu denen die Opfer erwiesenermaßen noch am Leben waren.560 Auch bei der Identifizierung der Opfer kam es zu Diskrepanzen. Der Leichnam darf erst dann an die Familien übergeben werden, wenn eine positive Identifikation stattgefunden hat. Eine Identifizierung anhand der Kleidung und genereller physischer Angaben ist dafür nicht ausreichend. Zudem wurde von vielen zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten zur Identifizierung einer Leiche kein Gebrauch gemacht.561 Darin sah der Gerichtshof eine Verletzung der staatlichen Ermittlungspflichten und hielt fest, dass dem Staat eine Pflicht obliegt, die Unregelmäßigkeiten zu untersuchen und die zuständigen Mitarbeiter dafür zur Verantwortung zu ziehen. Disziplinarische und strafrechtliche Konsequenzen sind von erheblicher Bedeutung, damit die Handelnden ihr fehlerhaftes Verhalten nicht fortsetzen können und einem Klima der Straflosigkeit entgegengewirkt wird.562 Der Fall Gómez-Palomino gegen Peru ist beispielhaft für eine ineffektive Untersuchung durch die Ermittlungsbehörden. In der Morgendämmerung des 9. Juli 1992 wurde der 27-jährige Santiago Gómez-Palomino im Haus einer Freundin, in dem er seit einigen Wochen lebte, gewaltsam befragt und anschließend verschleppt. Die Mutter des Opfers begann unverzüglich in Polizeistationen, Krankenhäusern und Leichenhäusern nach ihrem Sohn zu suchen. Im August 1992 wandte sie sich ohne Erfolg an das Büro des obersten Staatsanwalts für Menschenrechte und an den nationalen Generalstaatsanwalt.563 Die Untersuchungen wurden verschleppt und führten zu keinem Ergebnis. Erst nach dem Übergang zur Demokratie in 2001 wurden erste effektive Schritte eingeleitet. 564 Hinweise ließen darauf schließen, dass Gómez-Palomino ein Opfer der sogenannten Co559 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 304. 560 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 311 f. 561 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 318 ff. 562 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 376 ff. 563 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.8 ff. 564 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.14.
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lina-Gruppe wurde. Diese Gruppe setzte sich aus Mitgliedern der peruanischen Armee zusammen und war bekanntermaßen für Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen im Kampf gegen den Terrorismus verantwortlich.565 Die Aushebung eines Massengrabs der Colina-Gruppe, in dem man auch die Leiche des Verschwundenen vermutete, brachte kein Ergebnis.566 Peru erkannte in diesem Verfahren seine Verantwortung für die ineffektiven Ermittlungen bis 2001 an. Der Gerichtshof beurteilte jedoch auch die nach dem Übergang zur Demokratie eingeleiteten Schritte als zu gering.567 Die Leiche des Opfers wurde nicht aufgefunden und konkrete Verdächtige konnten nicht ermittelt werden. Obwohl die Mutter des Opfers im Dezember 2002 bei der regionalen Staatsanwaltschaft Strafanzeige gegen einen Verdächtigen einreichte, legte Peru dem IAGMR keine Unterlagen vor, die weitere Ermittlungsschritte in dem Fall hätten belegen können.568 Dieser Mangel an Beweisen geht zu Lasten des Staates und der Gerichtshof sah die staatlichen Ermittlungspflichten nicht ausreichend erfüllt. Der Staat wurde deshalb dazu angehalten, innerhalb einer angemessenen Zeit alle notwendigen Schritte zum Auffinden der sterblichen Überreste von Santiago Gómez-Palomino vorzunehmen und diese an seine Angehörigen zu übergeben, damit ihnen eine Bestattung möglich ist.569 Allerdings wurde die Leiche auch fünf Jahre nach diesem Urteil nicht aufgefunden. Obwohl weitere Zeugenaussagen vorliegen, die Hinweise auf den möglichen Fundort der Überreste geben, wurden durch den Staat keine weiteren Schritte unternommen.570 Trotz einiger Fortschritte in der Strafverfolgung stellte der Gerichtshof fest: „. . . that the obligation to carry out, with due diligence, any necessary actions to locate and deliver the mortal remains of Mr. Santiago Gómez Palomino to his nextof-kin is separate from the obligation to effectively investigate the reported facts and, possibly, punish those responsible. In this regard, the Court finds that even though these two obligations may be mutually complementary, each has its own separate criteria for compliance, and the State may not choose which of them to fulfill. Thus, the criminal investigation at issue is not incompatible with the adoption of adequate and effective mechanisms for determining the whereabouts of the disappeared persons.“ 571
Eine effektive Untersuchung setzt somit zwar nicht zwangsläufig voraus, dass die Leiche eines Verschwundenen aufgefunden wird, jedoch zumindest, dass der Staat alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschöpft, um sie zu fin565
Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.6. Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.18 f. 567 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 81. 568 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 83 f. 569 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Operative Abs. 8. 570 Gómez-Palomino v. Peru, Compliance, 5. Juli 2011, Abs. 12. 571 Gómez-Palomino v. Peru, Compliance, 5. Juli 2011, Abs. 15. 566
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den. Diese Verpflichtung ist zudem unabhängig von der Strafverfolgungspflicht und der Pflicht, die Tatsachen wirksam zu untersuchen. Der Gerichtshof hat im Laufe der Jahre sehr ausführliche und genaue Vorgaben für die Einhaltung der staatlichen Ermittlungspflichten aufgestellt. Die Bedeutung von sorgfältigen Untersuchungen hat der Gerichtshof jedoch nicht sofort erkannt. In den ersten Entscheidungen bezüglich des Verschwindenlassens spielte die Pflicht, den Sachverhalt zu ermitteln, eine untergeordnete Rolle, mit der sich der Gerichtshof nur kurz oder gar nicht auseinandersetzte. Im Fall Fairén-Garbi und Solís-Corrales gegen Honduras hatte der Gerichtshof keine Verletzung der Ermittlungspflichten festgestellt, obwohl sich der Staat geweigert hatte, eine Exhumierung durchzuführen.572 In Castillo-Páez gegen Peru hat sich der Gerichtshof im Rahmen des Art. 25 AMRK zwar mit der Effektivität von habeas corpusAnträgen beschäftigt, auf die Ermittlungspflichten jedoch keinen Bezug genommen.573 Erst in den jüngeren Urteilen nahm deren Bedeutung zu und sie werden zuweilen am ausführlichsten vom Gerichtshof behandelt. b) Recht auf Wahrheit Ein primäres Ziel vieler Angehöriger, die einen Prozess anstreben, ist die Wahrheit über das Verschwindenlassen herauszufinden. Sie wollen wissen, warum das Verbrechen passierte, wie der Tathergang war und wer dafür verantwortlich gemacht werden kann. Die Verurteilung der Straftäter und die Gewährung von Schadensersatz spielen oft nur eine untergeordnete Rolle. Das Recht auf Wahrheit, welches Ermittlungen über den Tathergang durch den Staat bedingt, ist jedoch auch die Voraussetzung für einen wirksamen Zugang zu den Gerichten. Trotz dieser Bedeutung für die Angehörigen fand das Recht auf Wahrheit in den ersten Urteilen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes keine explizite Erwähnung. Dennoch erkannte der Gerichtshof im Zusammenhang mit den Ermittlungspflichten das Bedürfnis der Angehörigen an, zu erfahren, was mit dem Verschwundenen geschehen ist. „The duty to investigate facts of this type continues as long as there is uncertainty about the fate of the person who has disappeared. Even in the hypothetical case that those individually responsible for crimes of this type cannot be legally punished under certain circumstances, the State is obligated to use the means at its disposal to inform the relatives of the fate of the victims and, if they have been killed, the location of their remains.“ 574
Erstmalig in Castillo-Páez v. Peru war ein Recht auf Wahrheit ausdrücklich Gegenstand der Entscheidung. Die Inter-Amerikanische Kommission argumen572 Fairén-Garbi und Solís-Corrales v. Honduras, Preliminary Objections, Urteil vom 26. Juni 1987, Abs. 59 ff. 573 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 81 ff. 574 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 181.
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tierte, dass es sich beim Recht auf Wahrheit um ein eigenständiges Recht handle. Dabei verwies die Kommission nicht auf die in der Konvention genannten Rechte, sondern betonte, dass Wahrheit von verschiedenen internationalen Organisationen als Recht anerkannt sei.575 Nach Auffassung des Gerichtshofs ist das Recht auf Wahrheit kein gesondertes Recht, weil es als solches nicht in der Konvention vorhanden ist, kann jedoch aus den anderen in der Konvention geschützten Rechten abgeleitet werden.576 Diese Sichtweise bestätigte der Gerichtshof im Fall Bámaca-Velásquez. Die Inter-Amerikanische Kommission rügte eine Verletzung des Rechts auf Wahrheit, welches sich aus den Artikeln 1 (1), 8, 25 und 13 der Konvention ergeben würde und neben seiner individuellen Dimension auch der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zustehen solle.577 Die kollektive Dimension bestätigte der Gerichtshof in seiner Entscheidung in der Hauptsache nicht,578 leitete jedoch ein individuelles Recht auf Wahrheit aus den Ermittlungspflichten und der Pflicht zur Strafverfolgung gem. Artikeln 8 und 25 AMRK ab.579 Ein separates Recht auf Wahrheit wurde erneut abgelehnt.580 In Blanco Romero stellte der Gerichtshof noch einmal ausdrücklich fest, dass er das Recht auf Wahrheit nicht als ein separates Recht betrachtet.581 Auf die im Fall Bámaca-Velásquez von der Kommission vorgetragene Verletzung der in Art. 13 AMRK normierten Informationsfreiheit ging der Gerichtshof nicht ein. In einer nachfolgenden Entscheidung wurde das Recht auf Wahrheit jedoch eindeutig nur unter die Artikel 8 und 25 normiert und eine Verletzung des Art. 13 AMRK abgelehnt: „With regard to the violation of Article 13 of the American Convention alleged by the representatives, the Court notes that the right to truth is subsumed within Articles 8 and 25 of the Convention. These Articles provide the right of the victim or his or her next of kin to obtain a State determination of the truth of the events and the corresponding responsibility through an investigation and trial.“ 582
575
Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 85. Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 86. 577 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 197. 578 In seinem Urteil über den Schadensersatz geht der Gerichtshof von einer kollektiven Dimension dieses Rechts aus. „Society has the right to know the truth regarding such crimes, so as to be capable of preventing them in the future.“, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 77. 579 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 201. 580 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 201. 581 Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 62. 582 Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 62; Rochela Massaker v. Columbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 11. Mai 2007, Abs. 147. 576
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Der Gerichtshof gibt keine weitere Begründung für die rigorose Ablehnung des Art. 13 AMRK. Erst in der Gomes Lund-Entscheidung von 2010 erkennt der Gerichtshof erstmalig auch eine Verletzung des Art. 13 AMRK in Verbindung mit den Artikeln 8 und 25 AMRK an.583 In diesem Fall weigerten sich staatliche Behörden, Informationen herauszugeben, weil diese als geheim eingestuft wurden. Der Gerichtshof sah das Recht von Behörden, Informationen geheim zu halten, als eingeschränkt an. „Finally, the Court has also established that in cases of violations of human rights, the State authorities cannot resort to mechanisms such as official secret or confidentiality of the information, or reasons of public interest or national security, to refuse to supply the information required by the judicial or administrative authorities in charge of the ongoing investigation or pending procedures. Moreover, when it comes to the investigation of punishable facts, the decision to qualify the information as secretive or to refuse to hand it over cannot stem solely from a State organ whose members are charged with committing the wrongful acts. In the same sense, the final decision on the existence of the requested documentation cannot be left to its discretion.“ 584
Um das Recht auf Wahrheit effektiv zu gewähren, sollen grundsätzlich alle Informationen frei zugänglich sein mit einer begrenzten Anzahl an begründeten Ausnahmen. Dem Staat obliegt die Beweispflicht, dass bestimmte Dokumente geheimzuhalten sind. Bestehen Zweifel, gehen diese zu Lasten des Staates.585 Das Recht auf Wahrheit verpflichtet einen Staat, Untersuchungen durchzuführen, die aufklären, was mit dem Verschwundenen geschehen ist. Die Angehörigen des Opfers müssen innerhalb einer angemessenen Frist über die Ergebnisse dieser Untersuchung sowie alle anderen Tatsachen, die im Zusammenhang mit der Konventionsverletzung stehen, informiert werden. Dies umfasst das Recht zu erfahren, was passiert ist und wer dafür verantwortlich ist.586 Die Wahrheit über das Verschwinden zu erfahren sowie das Auffinden und insbesondere die Übergabe der sterblichen Überreste an die Familie fungiert für die Angehörigen auch als Wiedergutmachung.587
583 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 212. 584 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 202. 585 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 230. 586 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 62. 587 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 76; Trujillo-Oroza v. Bolivien, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2002, Abs. 113 ff.
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2. Europäischer Gerichtshof a) Ermittlungspflichten Kommt es zu Fällen des Verschwindenlassens in einem Staat, ist dieser verpflichtet, effektive Ermittlungen in die Taten vorzunehmen. Der Europäische Gerichtshof unterscheidet dabei zwischen der staatlichen Verpflichtung, die Umstände der Verhaftung sowie mögliche Verletzungen der Artikel 2 und 3 EMRK zu untersuchen, und dem in Art. 13 EMRK anerkannten Recht auf eine wirksame Beschwerde. Die Voraussetzungen des Art. 13 EMKR sind weitergehender als die in Artikel 2, 3 und 5 umfassten Ermittlungspflichten. Neben der Zahlung einer Entschädigung müssen die Ermittlungspflichten unter Art. 13 EMRK darauf abzielen, die Täter zu identifizieren und zu bestrafen.588 Zur Erfüllung der Untersuchungspflichten, die sich aus den materiellen Konventionsrechten ergeben, ist es hingegen ausreichend, dass „some form of effective official investigation“ stattfindet.589 aa) Wirksame Beschwerde Das Recht auf wirksame Beschwerde gewährt, „. . . the availability at the national level of a remedy to enforce the substance of the Convention rights and freedoms in whatever form they might happen to be secured in the domestic legal order. The effect of Article 13 is thus to require the provision of a domestic remedy to deal with the substance of the relevant Convention complaint and to grant appropriate relief, although Contracting States are afforded some discretion as to the manner in which they conform to their Convention obligations under this provision.“ 590
In den Fällen vor dem EGMR betreffend die Türkei und Russland liegt das Problem weniger darin, dass die jeweiligen Rechtsmittel nicht bestehen, sondern, dass sie nicht effektiv sind. Der Gerichtshof hat daher ausdrücklich festgestellt, dass Rechtmittel sowohl rechtlich als auch in der Praxis wirksam sein müssen. Dazu zählt insbesondere, dass ihre Ausübung durch den beschwerdegegnerischen
588 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 140; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 384; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 193; Bitiyeva und X v. Russland, Urteil vom 21. Juni 2007, Abs. 156; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 256. 589 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 87; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 334; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 14; Saydaliyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 109; Kosumova u. a. v. Russland, Urteil vom 7. Juni 2011, Abs. 76. 590 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 139; ebenso Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 112; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 383; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 160; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 255.
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Staat nicht ungerechtfertigt behindert werden darf.591 In der El-Masri-Entscheidung legte der Gerichtshof im Hinblick auf eine Verletzung des Art. 3 EMRK genauere Kriterien für ein effektives Rechtsmittel fest: „. . . an effective remedy under Article 13 requires independent and rigorous scrutiny of the claim that there exist substantial grounds for fearing a real risk of treatment contrary to Article 3. This scrutiny must be carried out without regard to what the person may have done to warrant expulsion or to any perceived threat to the national security of the expelling State.“ 592
Den Beschwerden der Opfer wird von Seiten der beklagten Staaten in Fällen des Verschwindenlassens regelmäßig kein Gewicht zugemessen. Zum Teil ziehen sich die Staaten auch auf die Behauptung zurück, dass die verschwundene Person von Unbekannten entführt worden oder in den terroristischen Untergrund gegangen sei und weitere Ermittlungen daher nicht möglich gewesen seien.593 Um die mangelnde Ernsthaftigkeit der Untersuchung nachzuweisen, verweist der Gerichtshof in fast allen Fällen auf die bereits im Rahmen des Art. 2 EMRK vorgenommene Prüfung über die Effektivität der Ermittlungen.594 Fraglich ist, wie es sich auswirken würde, wenn der Staat strafrechtliche Ermittlungen verzögern würde, dem Beschwerdeführer hingegen auf zivilrechtlichem Weg eine Wiedergutmachung für die Tat zuspräche. Der EGMR verlangt nämlich, dass sich nicht nur eine strafrechtliche Verfolgung der Tat als ineffektiv erweist, sondern auch alle anderen Rechtsmittel, einschließlich zivilrechtlicher Beschwerden.595 Zivilrechtliche Wiedergutmachung, zum Beispiel im Rahmen des Staatshaftungsrechts, kann als Gewährleistung des von Art. 13 EMRK umfassten Schutzes nicht genügen. Es muss zumindest gewährleistet werden, dass sich der beschwerdegegnerische Staat ernsthaft und effektiv um die Ermittlung und Bestrafung der Täter bemüht.596 Allein zivilrechtliche Ermittlungen erschei591 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 139; Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 112; Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 383; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 160; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 255. 592 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 257. 593 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 137, 141; Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 38; Koku v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 46. 594 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 387; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 170; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 194; Akhmadova und Sadulayeva v. Russland, Urteil vom 10. Mai 2007, Abs. 127; Betayeva v. Russland, Urteil vom 29. Mai 2008, para 129; El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 259. 595 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 163; Kukayev v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 117; Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 167; Tumayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 16. Dezember 2010, Abs. 165. 596 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 113; Gongadze v. Ukraine, Urteil vom 8. November 2005, Abs. 191; Uçar v. Türkei, Urteil vom 11. April 2006, Abs. 147;
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nen somit nicht ausreichend, vielmehr müssen die Täter strafrechtlich verfolgt werden und dem Opfer ist eine Entschädigung zu zahlen.597 bb) Effektive Untersuchung Vorrangig im Bezug zu dem in Art. 2 EMRK598 normierten Recht auf Leben in Verbindung mit Art. 1 EMRK, nahm der Gerichtshof eine staatliche Pflicht an, Ermittlungen über die Verhaftung und das Verschwindenlassen einer Person durchzuführen. Welche Art von Untersuchung diesen Zweck am besten erreicht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.599 Der Gerichtshof hat jedoch vier Kriterien entwickelt, an denen die Ermittlungen gemessen werden. Zunächst müssen die Behörden eine Ermittlung ex officio einleiten, sobald sie über das Verschwindenlassen einer Person informiert wurden. Der Staat kann sich nicht darauf zurückziehen, dass durch die Angehörigen keine offizielle Beschwerde eingelegt wurde, oder ihnen die Verantwortung für das Untersuchungsverfahren übertragen.600 Des Weiteren müssen die Ermittlungen effektiv sein. Um diese Effektivität zu gewährleisten, dürfen die Personen, die mit der Durchführung der Untersuchung betraut werden, in keinem Zusammenhang mit den aufzuklärenden Geschehnissen stehen.601 Mit der Untersuchung darf nicht nur das Ziel verfolgt werden, den Angehörigen Entschädigungszahlungen zukommen zu lassen, sondern die Ermittlungen müssen auch geeignet sein, zur Identifizierung und Bestrafung der Täter zu führen. In Fällen des Verschwindenlassens müssen sie zudem darauf gerichtet sein, die verschwundene Person zu finden oder aufzuklären, was mit ihr
Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 161; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 193. 597 In einigen Fällen spricht der Gerichtshof ausdrücklich davon, dass die Rechtsmittel dazu geeignet sein müssen, zur Identifizerung und Bestrafung der Täter zu führen und eine Wiedergutmachung zu leisten, beispielsweise in Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 194; Elmurzayev u. a. v. Russland, Urteil vom 12. Juni 2008, Abs. 137. 598 Wurde eine Verletzung des Art. 2 EMRK nicht angenommen, wie beispielsweise im Fall Kurt, wurden die Ermittlungspflichten auf Art. 5 EMRK gestützt, Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 124. 599 Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 6. Mai 2003, Abs. 221; Gongadze v. Ukraine, Urteil vom 8. November 2005, Abs. 175; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 117; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 146. 600 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 334; Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 6. Mai 2003, Abs. 221; Gongadze v. Ukraine, Urteil vom 8. November 2005, Abs. 175; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 117. 601 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 335; Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 6. Mai 2003, Abs. 222; Gongadze v. Ukraine, Urteil vom 8. November 2005, Abs. 176; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 118.
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geschehen ist.602 Defizite in der Untersuchung, die eine Identifizierung der Täter verhindern, sprechen gegen eine effektive Ermittlung. Zudem wird verlangt, dass die Untersuchung geeignet ist, zu bestimmen, ob die in dem Fall angewandte Gewalt den Umständen entsprechend gerechtfertigt war.603 Ebenso wie beim InterAmerikanischen Gerichtshof ist nicht das Erreichen eines bestimmten Ziels entscheidend, sondern dass der Staat alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel effektiv eingesetzt hat. „This is not an obligation of result, but of means. The authorities must have taken the reasonable steps available to them to secure the evidence concerning the incident, including, inter alia, eyewitness testimony, forensic evidence and, where appropriate, an autopsy which provides a complete and accurate record of injury and an objective analysis of clinical findings, including the cause of death.“ 604
In vielen Fällen haben die Behörden wichtige Zeugen nicht befragt oder der Tatort wurde nicht inspiziert.605 Sie müssen aber einen ernsthaften Versuch unternehmen, den Sachverhalt aufzuklären und dürfen nicht auf übereilte oder unbegründete Schlussfolgerungen zurückgreifen, um ihre Ermittlungen zu schließen, oder diese als Grundlage ihrer Entscheidung nutzen.606 Selbst wenn ausreichende Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts ergriffen wurden, kommt ein Staat seinen Ermittlungspflichten nicht ausreichend nach, wenn bestehende Widersprüche nicht aufgeklärt wurden.607 Ein weiteres Zeichen ineffektiver Ermittlungen sind häufige Unterbrechungen und längere Phasen, in denen von den Strafverfolgungsbehörden keine Ermittlungsmaßnahmen ergriffen wurden. Der Gerichtshof betonte zwar, dass die Vertagung und Wiedereröffnung eines Verfahrens an sich kein Zeichen für die Unwirksamkeit desselbigen ist, wurden dadurch jedoch wesentliche Ermittlungsschritte nicht unternommen, führt dies zu unnötigen Verzögerungen.608
602
Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 214. Gongadze v. Ukraine, Urteil vom 8. November 2005, Abs. 176; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 117 f.; Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 146 f. 604 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 335; Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 6. Mai 2003, Abs. 223; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 118; ebenso Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 147. 605 Ipek v. Türkei, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 173; Khamila Isayeva v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 131; Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 115 f.; Nenkayev u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 155 f. 606 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 183. 607 Lyanova und Aliyeva v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 106. 608 Gerasiyev u. a. v. Russland, Urteil vom 7. Juni 2011, Abs. 103; Babusheva u. a. v. Russland, Urteil vom 24. September 2009, Abs. 101 f.; Maayevy v. Russland, Urteil vom 24. Mai 2011, Abs. 120; Dzhamayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 21. Dezember 2010, 114 f. 603
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Als drittes Kriterium setzt der Gerichtshof eine gewisse Schnelligkeit bei der Durchführung der Ermittlungen voraus.609 Insbesondere in Fällen des Verschwindenlassens sind die Ermittlungsbehörden mit verschiedenen Hindernissen konfrontiert. So beklagten die Türkei und Russland unter anderem Schwierigkeiten beim Auffinden von Zeugen sowie die Behinderung der Ermittlungen aufgrund terroristischer Aktivitäten.610 Zwar erkennt der Gerichtshof an, dass bestimmte Umstände des Falls die Untersuchungen verlangsamen können, allerdings misst er der unverzüglichen staatlichen Reaktion große Bedeutung zu. „It must be accepted that there may be obstacles or difficulties which prevent progress in an investigation in a particular situation. However, a prompt response by the authorities in investigating the use of lethal force may generally be regarded as essential in maintaining public confidence in maintenance of the rule of law and in preventing any appearance of collusion in or tolerance of unlawful acts.“ 611
Wiederholt kritisiert der Gerichtshof die Staaten für Verzögerungen in den Ermittlungen und betont zugleich, wie bedeutend ein schnelles Handeln nach der Tat für die Sicherung von Beweisen und die Aufklärung der Tat ist.612 Teilweise wurden die Ermittlungen erst viele Monate oder sogar Jahre nach dem Verschwinden der Person aufgenommen.613 In Ruslan Umarov beispielsweise wurde der Tatort erstmals fünf Jahre nach der Tat untersucht614 und in Baysultanova u. a. wurden die Augenzeugen erst sechs Jahre nach dem Verschwinden des Opfers befragt615. Viele Ermittlungsmaßnahmen sind jedoch nur unmittelbar nach dem Verschwinden effektiv und können zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr 609 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 336; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 119; Umarovy v. Russland, Urteil vom 12. Juni 2012, Abs. 127. 610 Koku v. Türkei, Urteil vom 21. Mai 2005, para 124; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 116. 611 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 119; ebenso Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 6. Mai 2003, Abs. 225; Luluyev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 92; Dzhabrailova v. Russland, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 71. 612 Sagayev u. a. v. Russland, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 114; Tumayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 16. Dezember 2010, Abs. 121; Murtazovy v. Russland, Urteil vom 29. März 2011, Abs. 96; Matayeva und Dadayeva v. Russland, Urteil vom 19. April 2011, Abs. 105; Gerasiyev u. a. v. Russland, Urteil vom 7. Juni 2011, Abs. 101; im Fall Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 161, stellte der Gerichtshof bezugnehmend darauf, dass auch die Angehörigen nicht unbestimmte Zeit mit einer Beschwerde warten können, fest: „With the lapse of time, memories of witnesses fade, witnesses may die or become untraceable, evidence deteriorates or ceases to exist, and the prospects that any effective investigation can be undertaken will increasingly diminish; and the Court’s own examination and judgment may be deprived of meaningfulness and effectiveness.“ 613 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 121; Basayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 136; Gerasiyev u. a. v. Russland, Urteil vom 7. Juni 2011, Abs. 95. 614 Ruslan Umarov v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 104. 615 Baysultanova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Juli 2013, Abs. 96.
D. Angehörige als Opfer
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sinnvoll nachgeholt werden.616 Daher sah der Gerichtshof die Notwendigkeit des unverzüglichen Handelns selbst dann als verletzt an, wenn die Behörden erst einige Tage nach der Tat aktiv wurden.617 Zuletzt wird verlangt, dass die Untersuchungen einer öffentlichen Kontrolle unterliegen, um deren Rechtschaffenheit zu sichern. Wie diese konkret auszugestalten ist, wird vom Gerichtshof nicht festgelegt, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Es wird jedoch immer vorausgesetzt, dass die Opfer an den Ermittlungen beteiligt werden, um ihre legitimen Interessen zu schützen.618 Dies beinhaltet unter anderem, dass den betroffenen Angehörigen ein Opferstatus von den Behörden zugesprochen wird und sie über die Entwicklungen des Falls informiert werden.619 In einer jüngeren Entscheidung, Aslakhanova gegen Russland, hat der Gerichtshof die Mängel in den strafrechtlichen Ermittlungen in Fällen des Verschwindenlassens in Tschetschenien und Inguschetien zwischen 1999 und 2006 folgendermaßen zusammengefasst: „Delays in the opening of the proceedings and in the taking of essential steps; lengthy periods of inactivity; failure to take vital investigative steps, especially those aimed at the identification and questioning of the military and security officers who could have witnessed or participated in the abduction; failure to involve the military prosecutors even where there was sufficient evidence of the servicemen’s involvement in the crimes; inability to trace the vehicles, their provenance and passage through military roadblocks; belated granting of victim status to the relatives; and failure to ensure public scrutiny by informing the next of kin of the important investigative steps and by granting them access to the results of the investigation. In numerous such cases, the Court has noted that the combination of these factors had rendered the criminal investigations ineffective, and thus had rendered the domestic remedies, potentially available to the victims, futile.“ 620
In dieser Entscheidung ging der Gerichtshof sogar so weit, Russland im Rahmen des Art. 46 EMRK ein systematisches Problem in der Untersuchung dieser 616 Shaipova u. a. v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 99; Ustarkhanova v. Russland, Urteil vom 26. November 2009, Abs. 81; Tumayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 16. Dezember 2010, Abs. 118; Gerasiyev u. a. v. Russland, Urteil vom 7. Juni 2011, Abs. 103. 617 In Dokayev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 89, vergingen sechs Tage; in Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 113, wurden die Strafermittlungen fünf Tage nach der Beschwerde eingeleitet. 618 Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 6. Mai 2003, Abs. 225; Khamila Isayeva v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 130; Nenkayev u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 152; Sasita Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Oktober 2010, Abs. 111. 619 Khamila Isayeva v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 132 f.; Dokayev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 90; Tumayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 16. Dezember 2010, Abs. 123. 620 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 123.
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4. Teil: Schutz der Opfer
Fälle zu attestieren. In mehr als 120 vergleichbaren Urteilen bezüglich Tschetschenien hatte der Gerichtshof bis September 2012 eine Verletzung der prozessrechtlichen Aspekte des Art. 2 EMRK festgestellt.621 In der Entscheidung Palic´ aus dem Jahr 2011 kam der Gerichtshof zu einem gegenteiligen Ergebnis und stellte keine prozessuale Verletzung des Art. 2 EMRK fest. Der Fall betraf ein Verschwindenlassen im Zusammenhang mit dem Bosnienkrieg von 1992 und 1995. Der Ehemann der Beschwerdeführerin war Militärkommandeur der überwiegend bosnischen ARBH und verschwand im Juli 1995 während Verhandlungen zur Kapitulation mit der hauptsächlich aus Serben bestehenden VRS.622 Der Gerichtshof sah die nachfolgenden Untersuchungen als effektiv an, da sie schlussendlich zum Auffinden und zur Identifikation der Überreste des Verschwundenen führten.623 Auch bezüglich der Ermittlung der Täter konnte dem Staat kein Verschulden nachgewiesen werden. Die Behörden nahmen verschiedene Untersuchungen vor, die in Haftbefehlen gegen zwei Täter mündeten. Zu einem Prozess kam es seither zwar nicht, da sich die Verdächtigen in Serbien aufhalten und eine Auslieferung abgelehnt wurde. Auch ohne strafrechtliche Verurteilung ist der Staat seiner Verpflichtung jedoch ausreichend nachgekommen, da es bei der prozessrechtlichen Verpflichtung des Art. 2 EMRK nicht auf ein bestimmtes Ergebnis ankommt.624 Bei der Beurteilung der zeitlichen Verzögerungen zu Beginn der Untersuchungen wird die komplexe Situation in Bosnien Herzegowina nach dem Bürgerkrieg berücksichtigt. Art. 2 EMRK darf nicht derart interpretiert werden, dass er eine unmögliche oder unverhältnismäßige Belastung für die Behörden darstellt. Aufgrund des Ausmaßes der Zerstörung durch den Krieg sah der Gerichtshof das nationale Rechtssystem erst im Jahr 2005 als fähig an, das Verschwindenlassen effektiv zu untersuchen.625 Aufgrund der oftmals mangelnden Kooperation der Staaten in den Verfahren wurde dem Gerichtshof und den Opfern in vielen Fällen nicht die gesamte Ermittlungsakte zur Verfügung gestellt. Wie auch im Bezug auf eine materiellrechtliche Verletzung einer Norm zieht der EGMR aus diesem Verhalten bei der prozessrechtlichen Verpflichtung beweisrechtliche Erleichterungen für den Beschwerdeführer. Allerdings findet keine Beweislastumkehr statt, sondern der Gerichtshof zieht eine Schlussfolgerung zu Lasten des beschwerdegegnerischen Staates.
621
Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 216 f. Palic´ v. Bosnien und Herzegowina, Urteil vom 15. Februar 2011, Abs. 10 f. 623 Der Gerichtshof sieht darin, in Anbetracht von fast 30.000 verschwundenen Personen während des Bürgerkriegs, sogar einen großen Erfolg, Palic´ v. Bosnien und Herzegowina, Urteil vom 15. Februar 2011, Abs. 64. 624 Palic ´ v. Bosnien und Herzegowina, Urteil vom 15. Februar 2011, Abs. 65. 625 Palic ´ v. Bosnien und Herzegowina, Urteil vom 15. Februar 2011, Abs. 70. 622
D. Angehörige als Opfer
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„Drawing inferences from the respondent Government’s conduct when evidence is being obtained, the Court assumes that the materials made available to it have been selected so as to demonstrate to the maximum extent possible the effectiveness of the investigation in question. It will therefore assess the merits of this complaint on the basis of the existing elements in the file and in the light of these inferences.“ 626
Eine Verletzung des in Art. 2 EMRK gewährten Rechts auf effektive Untersuchung nimmt der Gerichtshof auch in solchen Fällen an, in denen eine staatliche Beteiligung an der Tat nicht nachgewiesen werden konnte, es aber als erwiesen gilt, dass die Umstände des Verschwindenlassens lebensbedrohlich sind.627 Auch wenn sich der Gerichtshof mit den Ermittlungspflichten des Staates vorrangig im Rahmen des Art. 2 EMRK beschäftigt, sieht er auch im Zusammenhang mit Art. 3 eine Pflicht, den Sachverhalt aufzuklären. In der El-Masri-Entscheidung stellte der Gerichtshof fest, dass „where an individual raises an arguable claim that he has suffered treatment infringing Article 3 at the hands of the police or other similar agents of the State, that provision, read in conjunction with the State’s general duty under Article 1 of the Convention to ,secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in . . . [the] Convention‘, requires by implication that there should be an effective official investigation.“ 628
In Fällen des Verschwindenlassens, die den Tod des Opfers zur Folge hatten, tritt eine Verletzung der Untersuchungspflichten im Rahmen des Art. 3 EMRK regelmäßig hinter der Entscheidung in Art. 2 EMRK zurück.629 b) Das Recht auf Wahrheit Der Europäische Gerichtshof ist sehr zurückhaltend in der Anerkennung eines Rechts auf Wahrheit. Im Rahmen der Wiedergutmachung ging der Gerichtshof bereits in Kurt v. Türkei auf die Suche der Angehörigen nach der Wahrheit ein. „Moreover, given that the authorities have not assisted the applicant in her search for the truth about the whereabouts of her son, which has led it to find a breach of Articles 3 and 13 in her respect, the Court considers that an award of compensation is also justified in her favour.“ 630 626 Luluyev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 93; Bitiyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 23. April 2009, Abs. 88; Tsechoyev v. Russland, Urteil vom 15. März 2011, Abs. 146. 627 Shaipova u. a. v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 96; Tagirova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 87; Zakriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 79; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 110. 628 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 182; ebenso Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 119. 629 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 136, Baysayeva v. Russland, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 138. 630 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 175.
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4. Teil: Schutz der Opfer
Ein eigenständiges Recht auf Wahrheit, das die Staaten dazu anhält, die Wahrheit über den Tathergang zu ermitteln und den Angehörigen mitzuteilen, ergibt sich daraus allerdings nicht. In weiteren Urteilen stellt der Gerichtshof fest, dass Verzögerungen die Effektivität von Untersuchungen beeinträchtigen und einen negativen Einfluss auf das Finden der Wahrheit haben.631 Daraus lässt sich schließen, dass ein Recht auf Wahrheit zumindest aus den Artikeln 2 und 3 EMRK abgeleitet werden kann. Von einem Recht auf Wahrheit in Fällen des Verschwindenlassens spricht der Gerichtshof explizit nur in der El-Masri-Entscheidung.632 Im Zusammenhang mit der staatlichen Pflicht zur Ermittlung der Tatumstände betont er die Bedeutung des Rechts auf Wahrheit. Nicht nur die Angehörigen, sondern auch die Opfer ähnlicher Taten und die gesamte Öffentlichkeit haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Dies sieht der Gerichtshof insbesondere als gegeben an, weil das extraordinary rendition-Programm der USA weltweite Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.633 „The inadequate investigation in the present case deprived the applicant of being informed of what had happened, including of getting an accurate account of the suffering he had allegedly endured and the role of those responsible for his alleged ordeal.“ 634
Damit zeigt sich, dass der Europäische Gerichtshof erste Schritte zur Anerkennung eines ausdrücklichen Rechts auf Wahrheit vorgenommen hat. Über Art und Umfang dieses Rechts gibt er bisher keine Auskunft. Zudem hat auch der Fall ElMasri v. Republik Mazedonien nicht dazu geführt, dass in nachfolgenden Entscheidungen zum Verschwindenlassen ein Recht auf Wahrheit in Betracht gezogen wurde.635 3. Vergleich Das Verschwindenlassen einer Person findet im Geheimen statt und lediglich der Staat kann die Umstände der Tat aufklären, sodass die Angehörigen auf die Behörden angewiesen sind. Daher sind die staatlichen Ermittlungspflichten von 631 Der Gerichtshof spricht davon, dass die Verzögerungen „had a negative impact on the prospects for arriving at the truth“, Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 121; Baysayeva v. Russland, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 127; Takhayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 18. September 2008, Abs. 92. 632 Zuvor hat der Gerichtshof nur in dem Fall Association 21 Dezember 1989 v. Rumänien auf die Bedeutung des Rechts der Opfer und ihrer Familenangehörigen, die Wahrheit über die Tatumstände bei massiver Gewaltanwendung zu erfahren, hingewiesen, Association 21 Dezember 1989 v. Rumänien, Urteil vom 24. Mai 2011, Abs. 144. 633 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 191. 634 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 192. 635 In den Entscheidungen Askhabova v. Russland, Urteil vom 18. April 2013 und Baysultanova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Juli 2013 findet das Recht auf Wahrheit keine Erwähnung.
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großer Bedeutung. Das haben auch der Europäische und der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte erkannt und Kriterien entwickelt, an denen sich der Staat messen lassen muss, um dieser Pflicht zu genügen. Die von den Gerichtshöfen angewandten Kriterien gleichen sich im Wesentlichen. Staatliche Ermittlungen müssen vor allem effektiv sein, wobei es zur Erfüllung dieses Kriteriums weniger auf die erzielten Ergebnisse ankommt als auf die von den Staaten ausgeschöpften Mittel. Die Ermittlungen müssen von Amts wegen eingeleitet werden und die ermittelnden Personen dürfen in keinem Zusammenhang mit der Tat stehen. Es wird unverzügliches Handeln von den Ermittlungsbehörden erwartet, wobei jedoch die nationalen Umstände sowie die Schwierigkeiten in der Untersuchung der Taten berücksichtigt werden. Der InterAmerikanische Gerichtshof postuliert zudem explizit die Pflicht, dass die Ermittlungen anhalten müssen, bis der Sachverhalt aufgeklärt ist. Werden durch den beschwerdegegnerischen Staat Informationen oder Dokumente zurückbehalten, wirkt sich dies nachteilig für ihn aus. Insgesamt sind die entwickelten Kriterien gut geeignet um zu messen, ob der Staat seiner Ermittlungspflicht im ausreichendem Maße nachgekommen ist. Problematisch ist, dass für beide Gerichtshöfe das Auffinden der Leiche nicht zwingend erforderlich ist, damit ein Staat seiner Ermittlungspflicht genügt. Für die Angehörigen ist die Übergabe der sterblichen Überreste des Verschwundenen von herausragender Bedeutung.636 Die Möglichkeit, den Verstorbenen würdevoll zu beerdigen und einen Ort zum Trauern zu haben ist für sie ein wesentliches Ziel der angestrebten Verfahren. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof selbst betrachtet den respektvollen Umgang mit den sterblichen Überresten einer Person als eine Ausprägung der Menschenwürde. Insbesondere aufgrund der Bedeutung für die Angehörigen muss der Leichnam würdevoll behandelt werden.637 Das umfasst auch, dass die Überreste nicht an einem unbekannten Ort verscharrt werden, sondern einzig und allein die Familienangehörigen entscheiden, was mit ihnen geschieht. Kulturelle und psychologische Gründe sprechen für den Fortbestand der staatlichen Ermittlungspflicht bis zum Auffinden der Leiche. Es gibt sicherlich Fälle, in denen es unmöglich erscheint, die Überreste einer Person auf636 Jennifer Harbury, die Ehefrau des Verschwundnen Efraín Bámaca Velásquez beschreibt es in der Zusammenfassung ihrer Zeugenaussage vor Gericht so: „She believes it is very important to have the mortal remains of her husband, as she does not want them ,to remain in the hands [of the army]‘ and she also feels the need to ,have him in [her] arms once again‘. [She does] not want him [to have undergone] and suffer[ed] all this and for them to have the right to throw him below, perhaps, their military base, under their latrines, inside a trench or anonymous, [. . .] as if he were Indian garbage, according to their mentality, as a symbol that no human being, no Indian had the right to claim their rights.“; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Zeugenaussage von Jennifer Harbury. 637 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 81.
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4. Teil: Schutz der Opfer
zufinden oder in denen ein Staat erfolglos alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft hat. Das darf dennoch nicht dazu führen, den Staat von seinen Ermittlungspflichten zu entlassen. Durch das Voranschreiten der Technik oder neue finanzielle Mittel kann auch zu einem viel späteren Zeitpunkt die Möglichkeiten zum Auffinden der Personen entstehen. Für die Familien endet die Suche auch viele Jahrzehnte nach dem Verschwinden nicht. Das sollte auch für den Staat gelten. Zudem ist es für den Gerichtshof bisweilen schwer nachprüfbar, ob ein Staat tatsächlich alle Mittel ausgeschöpft hat, um den Leichnam einer Person zu finden. Das einzig verlässliche Kriterium, um eine ordnungsgemäße Umsetzung dieser Vorgabe durch den Staat sicherzustellen, ist der Eintrittserfolg, in diesem Fall der Leichenfund. Deshalb sollten die staatlichen Ermittlungspflichten bis zum Auffinden der sterblichen Überreste eines Verschwundenen anhalten. Beide Gerichtshöfe haben eine Ermittlungspflicht unabhängig von der staatlichen Beteiligung an der Tat festgestellt. Dies hat zu Kritik geführt, da die Anwendung der Konvention damit auf private Akteure ausgeweitet wird.638 Diese Vorgehensweise steht jedoch einer Beweislastumkehr gleich. Gelingt es aufgrund mangelnder Beweise nicht, eine staatliche Beteiligung an der Tat nachzuweisen, wird zwar eine materielle Verletzung des Rechts auf Lebens abgelehnt, allerdings kann zumindest eine prozessuale Verletzung festgestellt werden. Der Gerichtshof ist somit von der umständlichen Tatsachenermittlung befreit.639 Aufgrund der eingeschränkten Ermittlungsmöglichkeiten von Einzelpersonen, die beispielsweise kein Recht zur Vorladung von Zeugen besitzen, ist die staatliche Ermittlungspflicht auch bei Tatbegehung durch Private von Bedeutung. Zwischen beiden Gerichtshöfen besteht ein wesentlicher Unterschied bei der Begründung der Ermittlungspflichten. Während sich der Inter-Amerikanische Gerichtshof auf das in den Artikeln 8 und 25 AMRK enthaltene Recht auf eine wirksame Beschwerde stützt, bezieht sich der EGMR vorrangig auf die prozessualen Pflichten des Art. 2 EMRK. Das Vorgehen des IAGMR hat Kritik erfahren.640 Richterin Medina Quiroga beanstandet die Verbindung der beiden Normen, da sie unterschiedliche Aspekte des Rechts auf ein faires Verfahren schützen.641 Vielmehr sollte der Gerichtshof, dem Beispiel des EGMR folgend, eine prozessuale Verletzung der Konventionsrechte prüfen.642 Die staatlichen Ermittlungspflichten aus den prozessualen Rechten herzuleiten ist dogmatisch konse-
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Ambos/Böhm, S. 62 f. Seibert-Fohr, S. 129 f.; Ambos/Böhm, S. 62 f.; vgl. Bozkir u. a. v. Türkei, Urteil vom 26. Februar 2013, Abs. 54. 640 Burgorgue-Larsen/Úbeda de Torres, Rn. 27.14. 641 Partially Dissenting Opinion of Judge Medina Quiroga in 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 3. 642 Partially Dissenting Opinion of Judge Medina Quiroga in 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 10 f. 639
E. Dauercharakter des Verschwindenlassens
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quenter, hat für den Umfang und die Ausgestaltung der Pflichten jedoch keine weitergehende Bedeutung. Ein selbstständiges Recht auf Wahrheit betont die Bedeutung, welche die vollständige Aufdeckung der Wahrheit für die Familienangehörigen eines Verschwundenen hat. Gerade bei einem Verbrechen, das durch seine heimliche Begehung gekennzeichnet ist, sind der Zugang zu Informationen und die Aufklärung des Sachverhalts von besonderer Bedeutung. Die Anerkennung dieses Rechts steht auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen auf internationaler Ebene, auf der sich ein eigenständiges Recht auf Wahrheit herausgebildet hat.643 Sowohl der Europäische als auch der Inter-Amerikanische Gerichtshof haben mittlerweile ein grundsätzliches Recht auf Wahrheit in ihren Entscheidungen angenommen. Trotz seiner anfänglichen Zurückhaltung hat vor allem der InterAmerikanische Gerichtshof wesentlich zur Entwicklung dieses Rechts beigetragen und es nimmt eine immer größere Rolle in seinen Entscheidungen zum Verschwindenlassen ein. Der EGMR hat erst in seiner jüngsten Rechtsprechung ein individuelles und kollektives Recht auf Wahrheit anerkannt. Vieles ist diesbezüglich noch unklar; beispielsweise welchen Umfang dieses Recht haben soll und warum es in den aktuellen Fällen des Verschwindenlassens nur in Ausnahmefällen Erwähnung findet. Der Europäische Gerichtshof sollte seine Rechtsprechungspraxis zum Recht auf Wahrheit daher erweitern und auch in zukünftigen Entscheidungen zum Verschwindenlassen eine Verletzung dieses Rechts prüfen. Hinsichtlich dem Umfang und der Anwendung dieses Rechts kann sich der EGMR an der Rechtsprechung des IAGMR aus den letzten Jahren orientieren.
E. Dauercharakter des Verschwindenlassens Die von den Gerichtshöfen verhandelten Fälle des Verschwindenlassens liegen oftmals viele Jahre zurück. Insbesondere in Lateinamerika erfolgte ein Großteil der Fälle zur Zeit des Kalten Krieges, in der sich die Militärdiktaturen aus offensichtlichen Gründen keinen menschenrechtlichen Schutzsystemen unterwarfen.644 Erst in den 80er und 90er Jahren, als es in vielen lateinamerikanischen Ländern zum politischen Umbruch kam, stieg die Akzeptanz internationaler Menschenrechtsgerichtshöfe.645 Die Gerichtshöfe können ihre Gerichtsbarkeit je643 Die Internationale Konvention für den Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen normiert in Art. 24 Abs. 2 ein explizites Recht auf Wahrheit für die Angehörigen eines Verschwundenen. 644 Über den Inter-Amerikanischen Gerichtshof als Instrument zur Aufarbeitung des Kalten Krieges siehe Hall, 14 Law and Business Review of the Americas 2008, S. 680 ff. 645 Beispielsweise Argentinien und Chile, die jeweils ein Jahr nach dem Ende der Diktaturen in ihrem Land den Gerichtshof anerkannten. Die vollständige Liste findet sich unter: http://www.cidh.oas.org/basicos/english/Basic4.Amer.Conv.Ratif.htm.
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4. Teil: Schutz der Opfer
doch nur für Verletzungen ausüben, die nach Inkrafttreten des Statuts für den betreffenden Staat begangen wurden.646 Dadurch werden die Angehörigen in der Anrufung der Gerichtshöfe erheblich eingeschränkt. Gegen dennoch vorgebrachte Beschwerden können Staaten die vorläufige Einwendung ratione temporis einlegen. Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommt hinzu, dass Art. 35 Abs. 1 EMRK eine Beschwerdefrist von sechs Monaten normiert. Wurde die Beschwerde nicht innerhalb dieser Frist, beginnend mit der endgültigen Entscheidung in der Sache, eingelegt, ist sie unzulässig.647 Beim Verschwindenlassen stellt sich jedoch mangels nationaler gerichtlicher Entscheidungen die Frage, wann diese Frist zu laufen beginnt. Zudem handelt es sich um ein anhaltendes Delikt, das mit dem Verschwinden der Person erst seinen Anfang nimmt. Für die Angehörigen sind die Auswirkungen oftmals noch lange spürbar und die Taten in der Regel auch nach vielen Jahren noch nicht aufgeklärt. Dieser Dauercharakter des Verschwindenlassens kann sich auf die zeitlichen Beschränkungen der Gerichtshöfe auswirken.
I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Bereits in den Honduras-Fällen bezeichnete der Gerichtshof das Verschwindenlassen als andauernde Verletzung („continuous violation“) verschiedener Konventionsrechte.648 Da in diesen Fällen die zeitliche Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht in Frage stand, ging er auf dieses Kriterium nicht weiter ein. Erstmals in der Blake-Entscheidung war er mit einem Fall konfrontiert, in dem das Verschwindenlassen vor der Anerkennung der Zuständigkeit stattgefunden hatte. Nicholas Blake verschwand 1985 und wurde unmittelbar nach seinem Verschwinden ermordet. Seine Leiche wurde 1992 aufgefunden.649 Guatemala erkannte erst 1987 die Zuständigkeit des Gerichtshofes an und erhob gegen die Beschwerde beim IAGMR Einrede ratione temporis.650 Zwischen Kommission und Staat bestand Einigkeit, dass die Verhaftung und Ermordung von Nicholas Blake nicht in den Zuständigkeitsbereich des Gerichtshofes fällt. Die Kommission argumentierte jedoch, dass die Effekte dieser Rechtsverletzung fortwirken würden, insbesondere da die Leiche erst sieben Jahre später gefunden wurde und Guatemala den Angehörigen Rechtsschutz verweigerte.651 Bezugnehmend auf die Inter-Amerikanische Konvention gegen das Verschwindenlassen und die UN-De646
Siehe Art. 28 Wiener Vertragsrechtskonvention. Art. 35 Abs. 4 EMRK. 648 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 155; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar, 1989, Abs. 163. 649 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 52 (a) f. 650 Blake v. Guatemala, Preliminary Objection, Urteil vom 2. Juli 1996, Abs. 23 f. 651 Blake v. Guatemala, Preliminary Objection, Urteil vom 2. Juli 1996, Abs. 30 f. 647
E. Dauercharakter des Verschwindenlassens
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klaration sowie den Straftatbestand des Verschwindenlassens im guatemaltekischen Strafgesetzbuch nahm der Gerichtshof ein Fortdauern der Verletzung bis zum Auffinden des Leichnams an.652 „The foregoing means that, in accordance with the aforementioned principles of international law which are also embodied in Guatemalan legislation, forced disappearance implies the violation of various human rights recognized in international human rights treaties, including the American Convention, and that the effects of such infringements – even though some may have been completed, as in the instant case – may be prolonged continuously or permanently until such time as the victim’s fate or whereabouts are established.“ 653
Alle Handlungen und Auswirkungen, die nach der Anerkennung erfolgten, werden aufgrund des Dauercharakters des Verschwindenlassens vom Gerichtshof berücksichtigt. Eine Verletzung des in Art. 7 AMRK gewährten Rechts auf Freiheit und des in Art. 4 AMRK enthaltenen Rechts auf Leben wird vom Gerichtshof somit abgelehnt.654 Die in den Artikeln 8 und 5 AMRK gewährten Rechte sah er jedoch im Zusammenhang mit dem Leiden der Angehörigen als betroffen an.655 Ähnlich entschied der IAGMR im Fall der Serrano Cruz-Schwestern und sah eine Zuständigkeit für die Artikel 4 und 7 AMRK als nicht gegeben an. Hingegen prüfte er eine Verletzung der Artikel 8 und 25 AMRK, da die Unregelmäßigkeiten bei der staatlichen Untersuchung nach der Anerkennung der Gerichtsbarkeit auftraten.656 Zu diesem Ergebnis kam der Gerichtshof, obwohl El Salvador bei der Anerkennung der Gerichtsbarkeit eine Erklärung abgab, wodurch fortlaufende Verletzungen explizit von der Zuständigkeit des Gerichtshofes ausgeschlossen wurden.657 Der Gerichtshof erachtete diesen Vorbehalt als rechtmäßig, sah jedoch in den Ermittlungen, die nach Anerkennung der Zuständigkeit ergingen, autonome Verletzungen, für die er seine Zuständigkeit begründen könne.658 In Heliodoro Portugal zerlegt der Gerichtshof erneut das Verschwindenlassen in einzelne Konventionsverletzungen, um seine zeitliche Zuständigkeit zu bestimmen. Heliodoro Portugal verschwand 1970 während der Militärdiktatur in Panama und sein Leichnam wurde im Jahr 2000 identifiziert. 1990 hatte Panama die Zuständigkeit des IAGMR anerkannt.659 Der Gerichtshof berücksichtigte das 652
Blake v. Guatemala, Preliminary Objection, Urteil vom 2. Juli 1996, Abs. 36 ff. Blake v. Guatemala, Preliminary Objection, Urteil vom 2. Juli 1996, Abs. 39. 654 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 82, 86. 655 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 96 f., 112 ff. 656 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Preliminary Objections, Urteil vom 23. November 2003, Abs. 83 ff. 657 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Preliminary Objections, Urteil vom 23. November 2003, Abs. 72. 658 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Preliminary Objections, Urteil vom 23. November 2003, Abs. 73, 84. 659 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 28 f. 653
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4. Teil: Schutz der Opfer
Andauern des Verschwindenlassens bis zum Auffinden der Leiche im August 2000 und sah sich insoweit zuständig, über die Freiheitsentziehung sowie die unterbliebenen staatlichen Ermittlungen zu urteilen, obwohl der Gerichtshof davon ausging, dass die Ermordung Heliodoro Portugals vor der Anerkennung der Zuständigkeit durch Panama erfolgte.660 „In this regard, forced disappearance affects different juridical rights and it continues owing to the deliberate intention of the alleged perpetrators, who, by refusing to provide information on the victim’s whereabouts maintain the offense throughout time. Consequently, when examining an alleged forced disappearance it should be taken into account that the deprivation of liberty of the individual must be understood merely as the beginning of the constitution of a complex violation that is prolonged over time until the fate and whereabouts of the alleged victim are established.“ 661
Dem folgend wiederholt der Gerichtshof, dass ein Verschwindenlassen ganzheitlich beurteilt werden muss, da die einzelnen Elemente eng miteinander verwoben sind und es sich beim Verschwindenlassen als Ganzes um ein autonomes Verbrechen handelt.662 Dennoch wird die Tat auch in dieser Entscheidung in eine Reihe unterschiedlicher und getrennter Verletzungen unterteilt. Einerseits sah sich der Gerichtshof nicht zuständig, über eine Verletzung der Rechte aus den Artikeln 4, 5 und 13 AMRK zu entscheiden, andererseits nahm er eine Zuständigkeit bezüglich der behaupteten Verletzung des Rechts auf Freiheit an, da diese bis zum Auffinden der sterblichen Überreste in 2000 anhielt.663 Bezüglich der Angehörigen des Verschwundenen lehnt er die Einrede Panamas betreffend der Verletzung des Art. 5 AMRK ab.664 Diese Herangehensweise des Gerichtshofes wurde mehrfach kritisiert. Richter Cançado Trindade beanstandete in seiner Separate Opinion zum Blake-Fall die künstliche Fragmentierung des Verschwindenlassens. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei diesem Verbrechen um ein selbständiges und anhaltendes Delikt, dem aufgrund seiner Schwere mit einem ganzheitlichen Ansatz begegnet werden
660 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 31 f., 36 ff. 661 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 112. 662 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 112, „. . . it is therefore necessary to consider the offense of forced disappearance in toto, as an autonomous offense of a continuing or permanent nature with its multiple elements intricately interrelated. Consequently, the examination of a possible forced disappearance should not be approached in an isolated, divided and fragmented manner . . .“. 663 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 36 f. 664 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 43 f.
E. Dauercharakter des Verschwindenlassens
189
muss.665 Für Popkin ist eine zeitliche Einschränkung der gerichtlichen Zuständigkeit den Zielen und Absichten der Konvention gegenläufig.666 Insbesondere der Fall Heliodoro Portugal ist widersprüchlich, da der IAGMR eine Freiheitsentziehung annimmt, obwohl das Opfer nach Ansicht des Gerichtshofes lange vor der Anerkennung der Zuständigkeit starb.667 Rivera Juaristi erachtet diese Entscheidung als unlogisch und wirft die berechtigte Frage auf, wem bis ins Jahr 2000 die Freiheit entzogen wurde, wenn Heliodoro Portugal bereits viele Jahre zuvor ermordet wurde. Er argumentiert, dass der Gerichtshof dieses unlogische Ergebnis hätte verhindern können, wenn er das Verschwindenlassen als autonomes, verschiedene Verletzungen umfassendes Phänomen behandelt hätte.668 Der Gerichtshof sollte das Verschwindenlassen daher einheitlich interpretieren und die zeitliche Einrede von Staaten in Gänze ablehnen.669 Für diese Sichtweise spricht auch, dass der Gerichtshof, beginnend mit der Goiburú-Entscheidung, das Verschwindenlassen als ein ganzheitliches, andauerndes Delikt versteht: „The need to consider integrally the offense of forced disappearance of an autonomous, continuing or permanent nature, composed of multiple elements with their complex interrelationships, and related criminal acts, can be deduced not only from the its definition in the abovementioned Article III of the Inter-American Convention on Forced Disappearance of Persons, the travaux préparatoires for this instrument, its preamble and provisions, but also from Article 17(1) of the 1992 United Nations Declaration on the Protection of all Persons from Forced disappearance, which even adds one further element, related to the obligation to investigate, by indicating that this must be considered „a continuing offence as long as the perpetrators continue to conceal the fate and the whereabouts of persons who have disappeared and these facts have not been clarified.“ 670
Dieser Analyse folgend behandelte der Gerichtshof fortan das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Folterverbot nicht mehr in getrennten Kapiteln, sondern zusammen. Trotz dieser Kritik hat der Gerichtshof auch in Gomes Lund eine zeitliche Einschränkung angenommen und behandelte das Recht auf Leben erneut aufgrund der zeitlichen Unzuständigkeit des Gerichtshofes nicht.671 Anders entschied er
665
Separate Opinion of Judge A. A. Cançado Trindade, Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 8 ff.; ebenso Parayre, Revista IIDH, Vol. 29, 1999, S. 48. 666 Popkin, Revista CEJIL, Year 1, No. 1, 2005, S. 45. 667 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs.31 f.; siehe ebenso Vermeulen, S. 197. 668 Rivera Juaristi, CEJIL No. 5 2009, S. 26 f. 669 Siehe ebenso Vermeulen, S. 198. 670 Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 83. 671 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 15 ff.
190
4. Teil: Schutz der Opfer
jedoch in den Fällen González Medina und Radilla-Pacheco. Im wesentlichen Unterschied zu den vorangegangenen Entscheidungen hatten die Staaten bei der Anerkennung des Gerichtshofes keine Einschränkungen bezüglich fortlaufender Verletzungen vorgenommen, wie zuvor beispielsweise El Salvador. Zudem wurden die Überreste der Verschwundenen nicht aufgefunden und es konnte nicht abschließend bestimmt werden, wann der Tod eintrat. Dies veranlasste den Gerichtshof dazu, auch eine Verletzung des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit und des Verbots der unmenschlichen Behandlung zu prüfen.672
II. Europäischer Gerichtshof Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt ebenfalls an, dass die durch das Verschwindenlassen begangenen Konventionsverletzungen über einen längeren Zeitraum fortwirken können. Bei den Opfern werden durch dieses Verbrechen Unsicherheiten und Zweifel ausgelöst, die zu schwerem psychischen Stress führen.673 Die erste Entscheidung des EGMR zum Dauercharakter des Verschwindenlassens erging im Fall Zypern gegen Türkei. Die Türkei berief sich darauf, dass Zypern die sechsmonatige Beschwerdefrist nicht eingehalten habe. Der Gerichtshof ließ daher alle Ereignisse außer Acht, die sich sechs Monate vor dem Zeitpunkt, an dem der Antrag eingebracht wurde, zugetragen hatten.674 Die Sechs-MonatsFrist greift hingegen nicht bei andauernden Verletzungen. Im nachfolgenden stellte der Gerichtshof eine anhaltende Verletzung der Artikel 2, 3, 5 und 8 EMRK fest.675 Die Artikel 2 und 5 EMRK sind vor allem aufgrund der mangelhaften behördlichen Ermittlungen betroffen und der Art. 3 EMRK wegen des anhaltenden Leids der Angehörigen.676 Dem folgend beschäftigte sich der Gerichtshof auch in der Entscheidung Varnava v. Türkei mit dem Andauern der Verletzung. Dieser Fall steht, ebenso wie in Zypern gegen Türkei, im Zusammenhang mit der türkischen Militäroperation in Nordzypern im Juli und August 1974. Im Zuge dieses Einsatzes verschwanden 9 Personen, die bis heute nicht wiedergefunden wurden.677 2007 wurden durch das United Nations Committee on Missing Persons die sterblichen Überreste eines 672 Radilla-Pacheco v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 23 November 2009, Abs. 49; González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 52 f. 673 Timurtas ¸ v. Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 98; Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 173. 674 Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 104. 675 Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 136, 145, 158, 175. 676 Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 136, 150, 157. 677 Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 20 f.
E. Dauercharakter des Verschwindenlassens
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Verschwundenen aufgefunden.678 Die Türkei hatte erst am 28. Januar 1987 das Individualbeschwerdeverfahren anerkannt und machte daher die Unzuständigkeit des Gerichtshofs ratione temporis für sich geltend.679 Der Gerichtshof berücksichtigte daher nur solche Umstände, die nach der Anerkennung durch die Türkei eingetreten waren. „On that basis, any complaints by the applicants asserting the responsibility of the Contracting State for factual events in 1974 are outside the Court’s temporal jurisdiction. In so far as any complaints are raised concerning acts or omissions of the Contracting State after 28 January 1987, the Court may take cognisance of them. It notes in this respect that the applicants specified that their claims related only to the situation pertaining after January 1987, namely the continuing failure to account for the fate and whereabouts of the missing men by providing an effective investigation.“ 680
In seinen Ausführungen über die Frage, ob es sich beim Verschwindenlassen um eine fortdauernde Verletzung handelt, beschäftigt sich der Gerichtshof ausführlich mit den zuvor ergangenen Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs.681 Zur Beurteilung der zeitlichen Zuständigkeit zog er drei wesentliche Aspekte heran: die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 2 EMRK (1), die Vermutung, dass die verschwundenen Personen bereits um 1974 starben (2) und die Verpflichtung das Verschwindenlassen zu untersuchen (3).682 Der beschwerdegegnerische Staat argumentierte, dass Beschwerden bezüglich ungenügender oder fehlender Ermittlungen in Taten, die vor Inkrafttreten der Konvention begangen wurden und die auf die Wiedergutmachung der Opfer abzielten, die zeitliche Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht berühren.683 Der Gerichtshof stellte jedoch fest, dass es sich bei den unter Art. 2 EMRK entwickelten Ermittlungspflichten nicht vorrangig um eine Wiedergutmachung für die Opfer handelt. „The lack of an effective investigation itself is the heart of the alleged violation. It has its own distinct scope of application which can operate independently from the substantive limb of Article 2, which is concerned with State responsibility for any unlawful death or life-threatening disappearance as shown by the numerous cases decided by the Court where a procedural violation has been found in the absence of any finding that State agents were responsible for the use of lethal force.“ 684
Bezüglich der Vermutung des Todes kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Regierung auch dann nicht von ihren Ermittlungspflichten entlastet wird, wenn sich der Tod der Verschwundenen im Jahre 1974 als gesichert herausstellen würde. 678 679 680 681 682 683 684
Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 83. Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 122 ff. Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 134. Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 93 ff. Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 135. Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 136. Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 136.
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4. Teil: Schutz der Opfer
„The Court would recall that the procedural obligation to investigate under Article 2 where there has been an unlawful or suspicious death is triggered by, in most cases, the discovery of the body or the occurrence of death. Where disappearances in lifethreatening circumstances are concerned, the procedural obligation to investigate can hardly come to an end on discovery of the body or the presumption of death; this merely casts light on one aspect of the fate of the missing person. An obligation to account for the disappearance and death, and to identify and prosecute any perpetrator of unlawful acts in that connection, will generally remain.“ 685
Abschließend differenziert der Gerichtshof zwischen den Ermittlungspflichten aus Art. 2 EMRK in Fällen der Ermordung einer Person und dem Verschwindenlassen einer Person und betont zugleich das anhaltende Leid für die Opfer in letzterem Fall. Die verfahrensrechtliche Verpflichtung besteht daher solange das Schicksal der Person noch nicht aufgeklärt ist, auch wenn der Tod vermutet werden kann.686 Im Nachfolgenden prüft der Gerichtshof, ob die Sechs-Monats-Frist durch die Beschwerdeführer eingehalten wurde. Dafür wird zunächst festgestellt, bis zu welchem Zeitpunkt das Einreichen der Beschwerde als angemessen betrachtet werden kann. Der Gerichtshof führt drei wesentliche Gründe auf, weshalb die Frist in Fällen des Verschwindenlassens flexibel gehandhabt werden muss: Zum einen sind die Fälle in der Regel sehr komplex und die Situation für die Angehörigen nicht immer klar ersichtlich. Zum anderen hat sich im internationalen Recht der Konsens entwickelt, dass die Bestrafung der Täter solch schwerer Menschenrechtsverletzungen auch nach vielen Jahren noch möglich sein soll. Zudem ist es, im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip, für die Tatsachenermittlung und somit auch für den Beschwerdeführer vorteilhafter, wenn sie auf nationaler Ebene erfolgt.687 Dennoch hält der Gerichtshof gerade bei den Verfahrenspflichten des Art. 2 EMRK eine zeitliche Beschränkung für wesentlich. „Not all continuing situations are the same; the nature of the situation may be such that the passage of time affects what is at stake. In cases of disappearances, just as it is imperative that the relevant domestic authorities launch an investigation and take measures as soon as a person has disappeared in life-threatening circumstances, it is indispensable that the applicants, who are the relatives of missing persons, do not delay unduly in bringing a complaint about the ineffectiveness or lack of such investigation before the Court. With the lapse of time, memories of witnesses fade, witnesses may die or become untraceable, evidence deteriorates or ceases to exist, and the prospects that any effective investigation can be undertaken will increasingly
685
Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 145. Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 148; ebenso Tashukhadzhiyev v. Russland, Urteil vom 25. Oktober 2011, Abs. 76; Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 122. 687 Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 162 ff.; Er u. a. v. Türkei, Urteil vom 31. Juli 2012, Abs. 56 f. 686
E. Dauercharakter des Verschwindenlassens
193
diminish; and the Court’s own examination and judgment may be deprived of meaningfulness and effectiveness.“ 688
Die Beschwerdeführer könnten daher nicht auf unbestimmte Zeit mit der Erhebung der Klage warten. Zwar ist es beim Verschwindenlassen, das in der Regel von ineffektiven und verzögerten Ermittlungen geprägt ist, weitaus schwieriger, einen konkreten Zeitpunkt für das Scheitern der nationalen Untersuchungen zu bestimmen, dennoch wird durch den EGMR eine solche Grenze gesetzt.689 Danach gilt eine Beschwerde als verfristet, wenn „. . . there has been excessive or unexplained delay on the part of applicants once they have, or should have, become aware that no investigation has been instigated or that the investigation has lapsed into inaction or become ineffective and, in any of those eventualities, there is no immediate, realistic prospect of an effective investigation being provided in the future.“ 690
Dabei wird jedoch auch die Situation der Beschwerdeführer mit einbezogen. In Meryem Çelik u. a. v. die Türkei wurde berücksichtigt, dass die Angehörigen nach der Tat mehrere Jahre als Flüchtlinge im Irak lebten und es sich bei ihnen um Analphabeten handelt, die kein Türkisch sprechen. Darin sah der Gerichtshof Entschuldigungsgründe für eine Verzögerung der Beschwerde.691 Grundsätzlich geht der Gerichtshof jedoch von einer Grenze von zehn Jahren aus.692 Wird eine Beschwerde nach diesem Zeitraum eingereicht, obliegt den Beschwerdeführern die Beweislast, dass in dem Staat noch konkrete und effektive Maßnahmen stattfanden, die eine Verzögerung der Beschwerde rechtfertigten.693 Aufgrund dieser starren Grenze wurden einige Fälle für unzulässig erklärt.694 Konnten die Beschwerdeführer jedoch nachweisen, dass sie von der Effektivität der nationalen Ermittlungen überzeugt waren und mit den Behörden regelmäßig im Kontakt standen um die Ermittlungen zu beschleunigen, wurden die Beschwerden auch nach Überschreiten der Zehnjahresfrist zugelassen.695 Dieses Vorgehen ist nicht überzeugend, da der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, dass die Verletzung aufgrund der nicht erfolgten Ermittlungen im688
Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 160. Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 162. 690 Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 165. 691 Meryem Çelik u. a. v. Türkei, Urteil vom 16. April 2013, Abs. 37, 39. 692 In Varnava u. a. v. Türkei wurde diese Frist gewahrt; Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 167, 171 f. 693 Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 166; Er u. a. v. Türkei, Urteil vom 31. Juli 2012, Abs. 58 f.; Pitsayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 09. Januar 2014, Abs. 384. 694 Açıs ¸ v. Türkei, Urteil vom 01. Mai 2011, Abs. 40 ff.; Findik v. Türkei, Urteil vom 09. Oktober 2012, Abs. 13 ff.; Tas¸çi und Duman v. Türkei, Urteil vom 09. Oktober 2012, Abs. 18 ff. 695 Pitsayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 09. Januar 2014, Abs. 389 ff.; Akhmatov u. a. v. Russland, Urteil vom 16. Januar 2014, Abs. 189 ff. 689
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4. Teil: Schutz der Opfer
mer noch andauert. Solange eine Verletzung anhält, muss jedoch auch das Recht anhalten, sich über diese Verletzung zu beschweren. Die Sechs-Monats-Frist sollte vom Gerichtshof somit in Fällen anhaltender Verletzungen keine Anwendung finden.696 Für die Frist spricht auch nicht, dass beim Verschwindenlassen unverzüglich Ermittlungen angestrengt werden müssen, da ansonsten die Wirksamkeit der Entscheidung des Gerichtshofes negativ betroffen sein könnte. Es sollte anhand jedes Einzelfalls geprüft werden, ob der Zeitpunkt, an dem die Beschwerde eingereicht wurde, negative Auswirkungen auf die Untersuchungen des Gerichtshofes hatte.697 Zudem wird die Glaubwürdigkeit der Entscheidungen nicht grundsätzlich dadurch beeinträchtigt, dass aufgrund der vergangenen Zeit keine vollumfänglichen Ermittlungen mehr möglich waren. Diese prozessualen Bedenken sollten einer gerichtlichen Kontrolle von schwersten Menschenrechtsverletzungen nicht entgegenstehen.698 Im Übrigen beschäftigt sich der Gerichtshof auch mit einer materiellrechtlichen Verletzung des Art. 5 EMRK, jedoch lediglich im Hinblick auf das Verhalten der Türkei nach Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens. Da sich keine Anhaltspunkte dafür finden ließen, dass sich die verschwundenen Personen auch nach 1987 noch in türkischer Haft befanden, wurde eine Verletzung abgelehnt.699 In El-Masri gegen Republik Mazedonien stellt der Gerichtshof auch außerhalb einer prozessualen Einrede den Dauercharakter des Verschwindenlassens fest. Das Verschwindenlassen wurde im Rahmen der Prüfung des Art. 5 EMRK als anhaltende Situation der Unsicherheit und Unberechenbarkeit bestimmt, welche über den gesamten Zeitraum der Haft anhält.700 Inwieweit die mangelnden Ermittlungen bis heute eine Verletzung des Rechts El-Masris darstellen, wurde nicht entschieden.
III. Vergleich Die Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe hat den anhaltenden Charakter des Verschwindenlassens bestätigt. Es beginnt, wenn das Opfer verhaftet wird und endet mit der endgültigen Aufklärung des Sachverhalts und dem Auffinden der Leiche, denn bis zu diesem Moment hält auch das Leiden der Angehörigen an. Während der Inter-Amerikanische Gerichtshof das Verschwindenlassen an
696 Ebenso Concurring Opinion of judge Ziemele, Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 10 sowie Joint Concurring Opinion of judge Spielmann und Power, Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 6. 697 Kyriakou, S. 11. 698 Kyriakou, S. 11. 699 Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 208. 700 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 240.
F. Entschädigung und Ersatz der Kosten
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sich als anhaltend definiert, sieht der Europäische Gerichtshof vor allem in der mangelhaften Untersuchung der Vorkommnisse eine anhaltende Verletzung. Zur Feststellung der zeitlichen Zuständigkeit fragmentieren die Gerichtshöfe das Verschwindenlassen in die betroffenen Konventionsrechte und prüfen für jedes gesondert die Zuständigkeit. Beim Verschwindenlassen handelt es sich jedoch um ein eigenständiges Delikt, das sich lediglich aus verschiedenen Konventionsverletzungen zusammensetzt. Mehrere Effekte des Verschwindenlassens wirken auch viele Jahre nach der Tat noch fort, insbesondere das Fehlen wirksamer Untersuchungen. Schlüssiger wäre es daher, das Verschwindenlassen mit seinen einzelnen Elementen grundsätzlich als einheitliches Verbrechen zu behandeln, das in seiner Gänze fortwirkt. Eine Fragmentierung dieses Verbrechens wirkt künstlich und führt wie im Fall Heliodoro Portugal zu unlogischen Ergebnissen. In seiner jüngsten Rechtsprechung hat auch der Inter-Amerikanische Gerichtshof davon abgesehen, die betroffenen Konventionsnormen separat zu prüfen, sondern lehnte die Einrede ratione temporis hinsichtlich der konstituierenden Elementen des Verschwindenlassens grundsätzlich ab. Diese Entwicklung scheint auch im Lichte der Entwicklungen auf internationaler Ebene konsequent. So legt das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen in Art. 8 Abs. 1 b ausdrücklich fest, dass es sich beim Verschwindenlassen um eine Straftat von Dauer handelt. Deshalb sollte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner zukünftigen Rechtsprechung zum Verschwindenlassen dieses nicht nur als ganzheitliches Delikt prüfen, sondern ferner seine zeitliche Zuständigkeit auf die materiellrechtliche Verletzung aller konstituierenden Elemente des Verbrechens ausweiten.
F. Entschädigung und Ersatz der Kosten Hat ein Staat ein Konventionsrecht verletzt, muss er an das Opfer oder dessen Angehörige eine gerechte Entschädigung leisten. Das Verschwinden einer Person betrifft oftmals die finanzielle Situation einer ganzen Familie. Verschwundene Familienväter haben mit ihrem Gehalt Frau und Kinder meist allein unterhalten und oftmals auch die Eltern finanziell unterstützt. Die Suche nach dem Verschwundenen ist für viele Familien mit großen finanziellen Belastungen verbunden. Im Blake-Fall sind die Angehörigen des Verschwundenen beispielsweise mehrmals von den USA nach Guatemala gereist, um etwas über seinen Verbleib herauszufinden. Aufgrund fehlender Krankenversicherung entstanden ihnen Kosten für medizinische und psychologische Behandlungen wegen der durch das Verschwindenlassen verursachten psychischen Belastung. Zudem sind jahrelange Prozesse vor innerstaatlichen und internationalen Gerichten mit hohen Prozesskosten verbunden. Sowohl der Europäische als auch der Inter-Amerikanische Menschenrechtsgerichtshof gewähren den Angehörigen eines Verschwundenen Schadensersatz für materielle und immaterielle Schäden sowie entstandene Kos-
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4. Teil: Schutz der Opfer
ten. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof ordnet zudem auch nicht-monetäre Maßnahmen an.
I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Art. 63 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention legt fest, dass die Folgen einer Konventionsverletzung wiedergutzumachen sind und der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu zahlen ist. Die Angehörigen eines Verschwundenen sind auf zwei Weisen begünstigt. Der Verschwundene vererbt seinen Anspruch auf Entschädigung für die erlittenen Konventionsverletzungen an seine Verwandten, die diesen in seinem Namen vor dem Gerichtshof geltend machen können.701 Zudem sind sie in der Regel selber direkte Opfer des Verschwindenlassens und in ihren eigenen Rechten betroffen.702 Von Beginn an konnten Opfer und ihre Rechtsvertreter im Rahmen der Wiedergutmachung ihre Argumente unabhängig von der Kommission vortragen, wodurch ihnen ein stärkeres Mitspracherecht bei Form und Höhe der Wiedergutmachungsleistungen zukam. Die Verurteilung des Staats stellt an sich bereits eine Wiedergutmachung dar. Dies allein ist bei schweren Menschenrechtsverletzungen jedoch nicht ausreichend.703 Bei der Feststellung des Entschädigungsanspruches unterscheidet der Gerichtshof zwischen materiellen und immateriellen Schäden. 1. Materielle Schäden Materielle Schäden sind nach dem Prinzip „restitutio in integrum“ voll zu erstatten. Es ist der Zustand wiederherzustellen, der vor der Schädigung bestand. Ist dies wie in Fällen des Verschwindenlassens nicht möglich, ist finanzielle Entschädigung zu leisten.704 Finanzielle Schäden umfassen entgangenes Einkommen, Ausgaben, die im Zusammenhang mit dem Fall entstanden sind und weitere finanzielle Konsequenzen, die auf das Verschwindenlassen zurückgehen.705 Zur Ermittlung des entgangenen Einkommens bediente sich der Gerichtshof in den frühen Urteilen der Differenzialmethode. 706 Zu ersetzen ist die Differenz zwi701
Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 145. Zur Opfereigenschaft von Familienangehörigen siehe 4. Teil, D, I, 1. 703 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 60; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 172. 704 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 26; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 39 f.; 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 221. 705 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 43. 706 Bruckmann, S. 238 f. 702
F. Entschädigung und Ersatz der Kosten
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schen der tatsächlichen finanziellen Situation des Opfers und dem, was dieses potenziell hätte verdienen können. Neben dem Verdienst des Opfers zum Zeitpunkt seines Verschwindens werden bei der Kalkulation mögliche Gehaltserhöhungen und Rentenansprüche für seine voraussichtliche Lebensdauer mit herangezogen. Allerdings werden auch zwischen 25 % und 50 % an persönlichen Lebenshaltungskosten für den Verschwundenen abgezogen.707 Wird der entgangene Gewinn den Angehörigen zugesprochen, werden auch ihre potenziellen Erwerbsmöglichkeiten mit berechnet. Unter Berücksichtigung einer Ausbildungszeit bis zum 25. Lebensjahr sind Kinder eines Verschwundenen in der Lage, eigene Einkünfte zu erwirtschaften.708 Konnten die Beschwerdeführer nicht nachweisen, wie viel das Opfer zum Zeitpunkt seines Verschwindens verdiente, zieht der Gerichtshof das Mindesteinkommen in dem betreffenden Land für den entsprechenden Beruf heran.709 In späteren Urteilen griff der Gerichtshof vermehrt auf den Grundsatz der Billigkeit („equity“) zur Berechnung einer angemessenen finanziellen Entschädigung zurück.710 Dies geschah insbesondere in Fällen, in denen der Nachweis über das konkrete Einkommen eines Verschwundenen nicht gelang. Den Angehörigen wurden dann pauschale Summen zugesprochen.711 Der durch den Gerichtshof ermittelte Betrag wird in der Regel zur Hälfte dem Lebensgefährten des Verschwundenen zugesprochen und die andere Hälfte zwischen dessen Kindern aufgeteilt.712 Den Eltern wird eine Entschädigung zugesprochen, wenn weder ein erbberechtigter Lebensgefährte noch Kinder des Opfers vorhanden sind. Neben dem Verschwundenen können auch seine Familienangehörigen Einkommensverluste geltend machen, wenn es ihnen z. B. aufgrund der psychischen Belastung nicht möglich war zu arbeiten. Jennifer Harbury, die Ehefrau von Efraín Bámaca Velásquez, erhielt eine Entschädigung für den Verdienstaus-
707 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 46; Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Reparations and Costs, Urteil vom 29. Januar 1997, Abs. 43; Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 26. Mai 2001, Abs. 81. 708 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 48. 709 Castillo-Páez v. Peru, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 1998, Abs. 75; Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 26. Mai 2001, Abs. 79. 710 Ebenso Bruckmann, S. 239. 711 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 51 b); Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 272; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 292 f. 712 Paniagua-Morales u. a. v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2001, Abs. 118; Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 72; Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 161.
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fall von fast fünf Jahren, in denen sie aufgrund der Suche nach ihrem Mann keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnte.713 Umfasst werden auch Kosten, die den Angehörigen im Rahmen ihrer Suche nach dem Verschwundenen entstanden sind.714 Meistens handelt es sich dabei um Reisekosten zu Gefängnissen, Krankenhäusern, Leichenhäusern, Regierungsstellen oder Nichtregierungsorganisationen. Zum Teil haben die Familien auch Annoncen oder Werbespots geschaltet, um nach den Verschwundenen zu suchen.715 Die Kosten können auch ohne das Vorliegen entsprechender Belege erstattet werden, da viele Unterlagen aufgrund der langen Zeitspanne zwischen Verschwinden und Verhandlungsbeginn nicht mehr vorliegen.716 Medizinische und psychologische Behandlungen können den Angehörigen ebenfalls erstattet werden. Sogar zukünftige Behandlungen werden vom Gerichtshof berücksichtigt, wenn sie beantragt und nachweisbar sind.717 Allerdings werden den Angehörigen die Kosten oftmals nicht gänzlich zugesprochen. In Blake v. Guatemala beantragten die Angehörigen 138.470 US-Dollar für entstandene und zukünftige Behandlungskosten sowie die Kosten für Medikamente. Der Gerichtshof sprach ihnen jedoch ohne weitere Begründung nach dem Prinzip der Billigkeit („in equity“) lediglich eine Entschädigung in Höhe von 15.000 US-Dollar zu.718 Für die Geltendmachung materieller Schäden setzt der Gerichtshof zudem voraus, dass zwischen dem Verschwindenlassen und dem eingetretenen Schaden ein kausaler Zusammenhang („causual nexus“) besteht.719 In der Anwendung dieses Kausalzusammenhangs ist er jedoch nicht restriktiv. In Castillo-Páez machte die Familie des Opfers geltend, dass resultierend aus seinem Verschwinden das Fa713 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 54 a); vergleichbar in Juan Humberto Sánchez, in dem verschiedene Familienmitglieder aufgrund der Suche nach dem Verschwundenen und des anschließenden Gerichtsverfahrens ihre Arbeitsstelle verloren, Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 166b. 714 In den beiden ersten Entscheidungen wurde der Anspruch auf Kostenerstattung abgelehnt, weil diese nicht rechtzeitig eingereicht wurden; Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 41 f.; Godínez-Cruz v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 40. 715 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 166; Molina-Theissen v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 3. Juli 2004, Abs. 58. 716 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 54c; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 210. 717 Blake v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Januar 1999, Abs. 50; Molina-Theissen v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 3. Juli 2004, Abs. 71 f. 718 Blake v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Januar 1999, Abs. 50. 719 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 43.
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milienunternehmen Bankrott ging, ihr Haus unter Marktwert verkauft werden musste und das Familieneinkommen sank.720 Der Gerichtshof stellte fest, dass es zuweilen unmöglich ist, den Kausalzusammenhang zwischen der Tat und den daraus folgenden Schäden festzustellen. Bereits in einem früheren Fall entschied der Gerichtshof „To compel the perpetrator of an illicit act to erase all the consequences produced by his action is completely impossible, since that action caused effects that multiplied to a degree that cannot be measured.“ 721
Dennoch wird durch das Verschwindenlassen ein materieller Schaden bei den Angehörigen verursacht, der ihnen nach dem Prinzip der Billigkeit erstattet werden muss.722 2. Immaterielle Schäden Durch immateriellen Schadensersatz soll das Leiden und der Kummer des unmittelbaren Opfers und seiner Angehörigen wiedergutgemacht werden. Umfasst werden auch nicht finanzielle Veränderungen der Lebensbedingungen des Opfers oder seiner Familie.723 Aufgrund der Schwere des Verschwindenlassens wird den Opfern auch eine finanzielle Entschädigung für den entstandenen immateriellen Schaden gewährt.724 Die Höhe der Entschädigung bestimmt sich nach dem Prinzip der Billigkeit (equity), wobei die Schwere und die Dauer des Eingriffs, das bei den Opfern verursachte Leid, die Zeitspanne, die seit dem Verschwinden vergangen ist, sowie die Verweigerung des Rechtsschutzes berücksichtigt wird.725 Beim Verschwindenlassen spielt insbesondere die Behandlung des direkten Opfers vor seiner Ermordung eine wichtige Rolle. Beispielsweise in Villagrán-Morales zog der Gerichtshof die Folter der Opfer als ein Kriterium zur Festsetzung des Schadensersatzes heran.726 In seinen ersten Fällen hat der Gerichtshof sehr 720 Castillo-Páez v. Peru, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 1998, Abs. 71. 721 Aloeboetoe u. a. v. Suriname, Reparations and Costs, Urteil vom 10. September 1993, Abs. 48. 722 Castillo-Páez v. Peru, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 1998, Abs. 76. 723 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 56; Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 156. 724 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 60; Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 239. 725 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 222; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 307. 726 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 26. Mai 2001, Abs. 93; Villagrán Morales wurde ohne vorherige Folterung direkt erschossen und ihm wurden vom Gerichtshof 23.000 US-Dollar zugesprochen. Contreras und
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hohe Entschädigungen festgesetzt. In den Honduras-Fällen wurden den Angehörigen jeweils 250.000 Lempias727 zugesprochen.728 Dieser Betrag ist 250 mal höher als das monatliche Einkommen der Opfer.729 In anderen Fällen wurde jedoch nur ein deutlich geringerer immaterieller Schadensersatz festgesetzt. In der Regel spricht der Gerichtshof dem Verschwundenen einen Betrag zwischen 50.000 und 100.000 US-Dollar zu.730 Die Angehörigen erhalten deutlich weniger, oft zwischen 10.000 und 50.000 US-Dollar.731 Eine Ausnahme stellt der Serrano-Cruz-Fall dar, in dem den Eltern mit 80.000 US-Dollar ein höherer Betrag zugesprochen wurde als ihren verschwundenen Kindern.732 Des Weiteren wird vom Gerichtshof berücksichtigt, ob sich die Angehörigen an der Suche nach dem Verschwundenen beteiligt haben, und gewährt, wenn das der Fall ist, einen höheren Betrag.733 Die Verurteilung zur Zahlung von Strafschadensersatz (punitive damages) lehnt der Gerichtshof mit der Begründung ab, dass Art. 63 Abs. 1 AMRK einen entschädigenden und keinen strafenden Charakter hat.734 Neben finanzieller Entschädigung hat der Inter-Amerikanische Gerichtshof weitreichende sonstige Wiedergutmachungsmaßnahmen insbesondere für das bei Figueroa Túnchez erhielten jeweils 27.000 US-Dollar, weil sie 10 Stunden in der Gewalt ihrer Folterer waren und Caal Sandovals und Juárez Cifuentes immaterieller Schaden wurde auf 30.000 US-Dollar beziffert für 21 Stunden. 727 Das entspricht etwa 125.000 US-Dollar. 728 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 52; Godínez-Cruz v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 50; ausführlich zum Schadensersatz in den ersten Honduras-Fällen siehe Shelton, Reparations in the Inter-American System, S. 153 ff. 729 Dannemann, S. 405 f.; Bruckmann, S. 253. 730 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 177; Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 88; Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 161. 731 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 177; Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 89; Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 161; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs.220. 732 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 160. 733 Juan Humberto Sánchez hatte zwei Lebensgefährtinnen, von denen sich eine bei der Suche nach ihm beteiligte und dafür mit 20.000 US-Dollar entschädigt wurde, wohingegen die andere 5.000 US-Dollar erhielt, Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 177; die Frau und ein Bruder von Cantoral-Huamaní wurden mit höheren Summen bedacht, weil sie sich stärker in die Untersuchungen eingebracht hatten, Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 181. 734 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 38; Castillo-Páez v. Peru, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 1998, Abs. 95.
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den Opfern entstandene psychische Leid angeordnet. Bei der Festsetzung nichtfinanzieller Wiedergutmachung hat er viel Kreativität bewiesen. Insbesondere eine effektive Untersuchung ist in Fällen des Verschwindenlassens für die Angehörigen die bedeutendere Wiedergutmachung.735 Sie haben ein großes Interesse daran, dass der Sachverhalt aufgeklärt wird und die Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt werden. Die staatlichen Untersuchungspflichten stellen daher eine Form der Wiedergutmachung für die Verletzung der in der Konvention gewährten Freiheitsrechte dar.736 Bei der Erfüllung seiner Ermittlungspflichten sind durch den Staat verschiedene Punkte zu berücksichtigen: Der systematische Charakter des Verschwindenlassen soll mit einbezogen werden sowie alle an der Tat beteiligten Personen und Hintermänner identifiziert werden. Aufgrund der Schwere der Menschenrechtsverletzung sollen strafausschließende Maßnahmen für die Täter, wie beispielsweise Amnestiegesetze, keine Anwendung finden. Zudem sollen die Untersuchungen ex officio und durch ordentliche Gerichte erfolgen.737 Der Gerichtshof betont insbesondere, wie bedeutend das Auffinden der Leiche für die Angehörigen ist, damit deren anhaltendes Leid ein Ende finden kann.738 Deshalb muss unverzüglich nach den sterblichen Überresten gesucht werden und bei deren Auffinden darf der Staat keine Kosten scheuen, um sie anhand von Gen- oder Bluttests zu identifizieren.739 Wenn notwendig, soll sogar die Kooperation mit anderen Staaten gesucht werden.740 Da in Peru auch im Jahr 2009 nur wenige Opfer identifiziert wurden, verpflichtete der Gerichtshof Peru dazu, alle notwendigen legislativen Maßnahmen zu ergreifen, um ein standardisiertes Verfahren zum Auffinden und zur Identifizierung der Überreste verschwundener Personen zu entwickeln. Ferner soll eine genetische Datenbank eingerichtet werden, um das Verfahren zu vereinfachen.741 Speziell im Fall verschwundener Kinder, die oftmals nicht ermordet wurden, sondern ohne Kenntnis über ihre ursprüngliche Identität zu Adoptiveltern gegeben wurden, regt der Gerichtshof die Gründung einer Kommission mit weitgehenden Investigationsmöglichkeiten an und verweist auf die Bedeutung genetischer Daten-
735
Vgl. Leach – Chechen Conflict, S. 768 f. Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Reparations and Costs, Urteil vom 21. Juli 1989, Abs. 33. 737 Contreras u. a. v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. August 2011, Abs. 185. 738 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 264 f.; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 258 f. 739 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 185. 740 Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 334. 741 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 188 f. 736
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banken sowie Internetseiten für das Auffinden dieser Kinder.742 Zudem sehen die Urteile Maßnahmen zur Rehabilitierung und Genugtuung für die Opfer vor. Ihnen soll unentgeltliche effektive medizinische und psychologische Betreuung bereitgestellt werden. Dabei ist die individuelle Situation des Opfers zu berücksichtigen und die Behandlung hat, soweit möglich, in der nächstgelegenen Institution zu erfolgen.743 Zum Teil hat der Gerichtshof die Einrichtung staatlicher Stipendien für die Ausbildung der Kinder eines Verschwundenen angeordnet. Dadurch soll es ihnen ermöglicht werden, auch ohne finanzielle Unterstützung des verschwundenen Elternteils eine universitäre oder anderweitige berufliche Ausbildung zu genießen.744 Weitere Formen der Genugtuung sind die Veröffentlichung des Urteils in den nationalen Medien und auf einer nationalen Webseite,745 ein öffentlicher Akt, in dem der Staat seine internationale Verantwortlichkeit bezüglich des entsprechenden Falles anerkennt,746 oder die Errichtung von Gedenkstätten.747 Durch diese Maßnahmen soll die Reputation des Verschwundenen wiederhergestellt werden. Bei der Festsetzung der Wiedergutmachung nimmt der Gerichtshof Rücksicht auf die Traditionen und Gebräuche der indigenen Bevölkerung in einem Staat. In Bámaca-Velásquez gewährte der Gerichtshof auch dem Vater des Opfers eine Entschädigung für entgangenen Lohn, da der Maya-Tradition folgend der älteste Sohn seine Eltern finanziell unterstützt.748 Im Fall Chitay Nech, der sich mit dem Verschwindenlassen eines Maya-Führers beschäftigte, wurde der Staat dazu ange-
742 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 183 ff. 743 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 278; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 203; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 267 f. 744 Cantoral-Huamaní und García-Santa Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 194. 745 Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 101; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 194; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 273. 746 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 274; Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 173; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 200; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 277. 747 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 273; Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai, 2010, Abs. 251; Contreras u. a. v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. August 2011, Abs. 208. 748 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 52.
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halten, das Urteil auch in Cakchiquel, der Muttersprache der in Guatemala lebenden Maya, zu veröffentlichen.749 Die Anordnung nicht-finanzieller Wiedergutmachungen ist insbesondere für die Opfer von großer Bedeutung und mittlerweile ein wichtiger Baustein des Inter-Amerikanischen Systems. Allerdings haben die vergangenen Jahre auch gezeigt, dass die Staaten sich mit deren Erfüllung ganz besonders schwer tun.750 3. Kostenersatz Viele Familien haben durch das Verschwindenlassen ihren Hauptverdiener verloren, sodass die Kosten eines Prozesses sie nicht selten abschrecken. Die Verfahren vor der Kommission und dem Gerichtshof sind kostenfrei,751 allerdings entstehen Kosten für die Arbeit der Anwälte. Mit den zunehmenden Beteiligungsmöglichkeiten der Angehörigen in den vergangenen Jahren sind auch höhere Kosten verbunden.752 In den ersten Fällen vor dem Gerichtshof wurde zudem die Erstattung der Prozesskosten mit der Begründung verweigert, sie wären nicht rechtzeitig eingereicht worden.753 In Garrido und Baigorria sah der IAGMR die vom Beschwerdeführer aufgewandten Kosten als erstattungsfähig nach Art. 63 Abs. 1 AMRK an. In seiner Entscheidung bezog er sich explizit auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.754 Umfasst werden tatsächlich entstandene Anwaltskosten während der nationalen Verfahren und vor dem Inter-Amerikanischem System. Auch zukünftige Kosten sind erstattungsfähig.755 Erstattet werden jedoch nur die Kosten, die im Hinblick auf den 749 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai, 2010, Abs. 245. 750 Separate Opinion of judge Cançado Trindade, Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 6; einen Gesamtüberblick über die Erfüllung der Urteile bietet González-Salzberg, 16 International Law, Revista Kolumbien de Derecho Internacional, S. 125 ff. 751 Kritik an der Kostenfreiheit siehe Pasqualucci, 1. Auflage S. 279 f.; der Gerichtshof hält die Kosten der Kommission für ein Verfahren hingegen nicht als erstattungsfähig, da das System durch die Mitgliedsbeiträge der OAS-Staaten finanziert wird, NeiraAlegría et al. v. Peru, Merits, Urteil vom 19. Januar 1995, Abs. 88. 752 Seit einigen Jahren können die Prozessbeteiligten eigenständig Beweise einreichen, müssen aber gem. Art. 60 der Rules of Procedure die Kosten, die dadurch entstehen, selbst tragen. 753 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 193; Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar, 1989, Abs. 202. 754 Garrido und Baigorria v. Argentinien, Reparations and Costs, Urteil vom 27. August 1998, Abs. 82. 755 In Heliodoro Portugal beantragte die Beschwerdführerin lediglich 17.533 US-Dollar für entstandene Anwaltskosten, ihr wurden jedoch unter Berücksichtigung noch zukünftig anfallender Kosten 30.000 US-Dollar zugesprochen, Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 266 f.
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jeweiligen Fall notwendig sind.756 Generell wurde den Angehörigen in der Regel ohne weitere Begründung nur ein Teil der angefallenen Kosten zugesprochen.757
II. Europäischer Gerichtshof Gemäß Art. 41 EMRK kann der Gerichtshof einer verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zusprechen. Als „verletzte Partei“ im Sinne des Art. 41 EMRK gelten neben der unmittelbar durch die Konventionsverletzung betroffenen Person bei deren Tod auch ihr Rechtsnachfolger oder nahe Verwandte.758 Bei einer Staatenbeschwerde kann sich auch der Staat auf Art. 41 EMRK berufen, soweit dies zum Nutzen der einzelnen Opfer geschieht.759 Dem Beschwerdeführer wird eine Entschädigung jedoch nur dann zugesprochen, wenn er diese rechtzeitig beantragt hat und seinen Schaden nachweisen kann.760 1. Materielle Schäden Etwa in der Hälfte der untersuchten Fälle wurde durch die Beschwerdeführer materieller Schadensersatz geltend gemacht. Bereits in seinen frühen Entscheidungen hat der EGMR deutlich gemacht, dass er der Erstattung entgangenen Einkommens positiv gegenübersteht. In Çakici v. Türkei verlangte der Beschwerdeführer entgangenes Einkommen in Höhe von 11.534,29 Britischen Pfund. In der Prüfung dieses Anspruchs ging der Gerichtshof vor allem auf das Kausalitätserfordernis zwischen konventionsverletzender Handlung und dem Schaden ein. „. . . the Court’s case-law establishes that there must be a clear causal connection between the damage claimed by the applicant and the violation of the Convention and that this may, in the appropriate case, include compensation in respect of loss of earnings.“ 761
Im vorliegenden Fall sah der Gerichtshof diesen Kausalzusammenhang gegeben, da er es als erwiesen ansah, dass Çakici im Zuge der Festnahme durch staatliche Sicherheitskräfte verstarb. Daraus schließt er einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen der Verletzung des Art. 2 EMRK und dem Verlust der finanziellen Unterstützung, die das Opfer seinen Angehörigen darbot. Dem Beschwerdeführer sowie der Witwe und den Kindern des Verschwundenen wurde somit die gesamte Summe zugesprochen.762 756 Garrido und Baigorria v. Argentinien, Reparations and Costs, Urteil vom 27. August 1998, Abs. 80 f. 757 Pasqualucci, 1. Auflage, S. 277; Cassel, Reparations, S. 202; Bruckmann, S. 268. 758 Grabenwarter, § 15 Rn. 3; Bruckmann, S. 67. 759 Zypern v. Türkei, Urteil vom 12. Mai 2014, Abs. 46 f. 760 Grabenwarter, § 15 Rn. 2. 761 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 127. 762 Çakici v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 127.
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Anders entschied der Gerichtshof hingegen in Fällen, in denen er eine staatliche Verantwortlichkeit für den Tod des Opfers als nicht nachgewiesen erachtete. Eine lediglich verfahrensrechtliche Verletzung des Art. 2 EMRK durch unzureichende Ermittlungen lässt der Gerichtshof als Kausalzusammenhang nicht ausreichen.763 Er sieht vielmehr den Tod des Opfers als kausal für die finanziellen Einbußen der Angehörigen.764 Die Höhe des entgangenen Gewinns ist durch den Beschwerdeführer zu beziffern und zu belegen.765 Bei der Festsetzung findet vor allem das durchschnittliche Einkommen des Opfers, sein Alter und seine Lebenserwartung Berücksichtigung.766 Widerspricht der beschwerdegegnerische Staat der geforderten Summe nicht, wird dies als Hinweis für die Berechtigung des Betrages gewertet.767 Zum Teil ist jedoch nicht klar nachvollziehbar, wie der Gerichtshof die zugesprochenen Summen errechnet. Im Fall Tanis forderten die beiden Frauen der Opfer 150.000 Euro und 100.000 Euro Entschädigung für den Verlust finanzieller Unterstützung. Aus dem Urteil ergibt sich nicht, inwieweit diese Forderung durch die Beschwerdeführerinnen nachgewiesen wurde. Ohne weitere Begründung spricht der Gerichtshof ihnen jedoch lediglich 40.000 und 50.000 Euro zu.768 In einigen Entscheidungen verweist der Gerichtshof bei der Festsetzung des entgangenen Gewinns auf den Grundsatz der Billigkeit. Die Höhe der Entschädigung wird somit auf einer gerechten Grundlage („equitable basis“) bestimmt.769 „A precise calculation of the sums necessary to make complete reparation (restitutio in integrum) in respect of the pecuniary losses suffered by an applicant may be prevented by the inherently uncertain character of the damage flowing from the violation. An award may still be made notwithstanding the large number of imponderables involved in the assessment of future losses, though the greater the lapse of time involved the more uncertain the link between the breach and the damage becomes. The question to be decided in such cases is the level of just satisfaction, in respect of either past and future pecuniary loss, which it is necessary to award to an applicant, the matter to be determined by the Court at its discretion, having regard to what is equitable.“ 770 763 Tepe v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2003, Abs. 212; Tekdag ˘ v. Türkei, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 114; Tahsin Acar v. Türkei, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 260; Türkoglu v. Türkei, Urteil vom 17. März 2005, Abs. 138. 764 Ebenso Bruckmann, S. 82. 765 Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 162; Dzhabayeva v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 133; Khalitova u. a. v. Russland, Urteil vom 11. Juni 2009, Abs. 168; Bruckmann, S. 87. 766 Bruckmann, S. 124. 767 Çakic v. Türkei, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 127. 768 Tanis u. a. v. Türkei, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 229 ff. 769 Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 201; Koku v. Türkei, Urteil vom 21. Mai 2005, Abs. 195; Tanis u. a. v. Türkei, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 232. 770 Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 128.
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Diese Argumentation verwundert, da gerade hinsichtlich materieller Schäden eine Bestimmung des Schadensersatzes leichter erfolgen kann.771 Liegen dem Gerichtshof keine konkreten Gehaltsnachweise vor, kann immer noch das Mindesteinkommen in einem Land herangezogen werden. Ein Rückgriff auf das Prinzip der Billigkeit ist nicht notwendig. In einigen Entscheidungen verlangt der Gerichtshof den Nachweis, dass der Verschwundene seine Familie finanziell unterstützte,772 in anderen hingegen wird auf dieses Kriterium nicht eingegangen. In Ipek v. Türkei sprach der Gerichtshof dem Vater Schmerzensgeld zu, obwohl unklar war, ob der 15-jährige Sohn mit seinem Gehalt jemanden unterstützte.773 In der Entscheidung Mahmut Kaya stellte er sogar ausdrücklich fest, dass eine Entschädigung für entgangenen Gewinn nicht allein dadurch ausgeschlossen wird, dass der Verschwundene niemanden finanziell unterstützte.774 Auch in Fällen, in denen das Opfer zum Zeitpunkt seines Verschwindens arbeitslos war, spricht der Gerichtshof entgangenen Gewinn zu. Allerdings fällt der Betrag in diesen Fällen deutlich geringer aus als von den Beschwerdeführern beantragt.775 Wurde die Leiche des Opfers aufgefunden, machten die Beschwerdeführer auch die Kosten für die Beerdigung geltend. Der Gerichtshof ging auf diese Forderung jedoch ohne Erklärung einfach nicht ein.776 Auch die Anerkennung von Strafschadensersatz hat der Gerichtshof immer abgelehnt mit der Begründung, dass solche Strafzahlungen von der Konvention nicht umfasst seien.777 2. Immaterielle Schäden Art. 41 EMRK umfasst auch den Ersatz immaterieller Schäden, die durch eine Konventionsverletzung hervorgerufen wurden. Das Leid der Angehörigen ist oftmals sehr groß und diesem Umstand wird der Gerichtshof durch die Anerkennung immateriellen Schadensersatzes in allen von ihm verhandelten Fällen des Verschwindenlassens gerecht. Auch der Europäische Gerichtshof lässt in einigen Fällen allein die Feststellung einer Konventionsverletzung als Wiedergutmachung 771
Ebenso Bruckmann, S. 121. I˙rfan Bilgin v. Türkei, Urteil vom 17. Juli 2001, Abs. 162; Agayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. April 2010, Abs. 141. 773 Ipek v. Türkei, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 221 ff. 774 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 135. 775 Akhmadova und Sadulayeva v. Russland, Urteil vom 10. Mai 2007, Abs. 143; Khamila Isayeva v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 180; Amanat Ilyasova u. a. v. Russland, Urteil vom 1. Oktober 2009, Abs. 145; Edilova v. Russland, Urteil vom 28. Februar 2012, Abs. 148. 776 Akhmadova und Sadulayeva v. Russland, Urteil vom 10. Mai 2007, Abs. 141 f. 777 Orhan v. Türkei, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 448; Tepe v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2003, Abs. 218; Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 223. 772
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genügen.778 In Fällen des Verschwindenlassens ist die Verletzung jedoch so schwerwiegend, dass eine bloße Feststellung nicht ausreicht.779 Für die Bemessung des immateriellen Schadensersatzes zieht der Gerichtshof grundsätzlich die Intensität und Dauer des Eingriffs, die Situation und das Verhalten der Opfer bzw. ihrer Angehörigen sowie das Verhalten des beschwerdegegnerischen Staates heran.780 In den hier untersuchten Fällen finden diese Kriterien jedoch selten Anwendung. Vielmehr stellt der Gerichtshof eine Verletzung der Konventionsrechte fest und folgert daraus, dass die Beschwerdeführer einen immateriellen Schaden erlitten haben. Welche Kriterien er bei der Festsetzung der Höhe des Schadensersatzes heranzieht, wird nicht weiter konkretisiert. In einigen Fällen wird das Prinzip der Billigkeit genannt.781 Grundsätzlich lässt sich jedoch feststellen, dass der zugesprochene Betrag fast immer hinter der geforderten Summe zurückbleibt.782 Berücksichtigung findet, ob der Verschwundene vor seiner Ermordung gefoltert wurde.783 Zudem werden Eltern und Ehepartner einer verschwundenen Person mit höheren Beträgen bedacht als Geschwister.784 In den ersten Entscheidungen wurde den Beschwerdeführern regelmäßig gemeinsam ein Betrag zwischen 35.000 und 40.000 Euro für jede verschwundene Person zugesprochen.785 In Dolsayev u. a. v. Russland erhielten die Beschwerdeführer beispielsweise 140.000 Euro, da vier Familienmitglieder verschwinden gelassen wurden.786 Seit 778
Bruckmann, S. 131; Dannemann, S. 365. Akhiyadova v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 118; Abdulkadyrova u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 181; Turluyeva und Khamidova v. Russland, Urteil vom 14. Mai 2009, Abs. 141; Tovsultanova v. Russland, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 119; Beksultanova v. Russland, Urteil vom 27. September 2011, Abs. 126. 780 Bruckmann, S. 132. 781 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 139; Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 153; Magomadov und Magomadov v. Russland, Urteil vom 12. Juli 2007, Abs. 140; Kukayev v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 130; Slyusar v. Ukraine, Urteil vom 17. Januar 2013, Abs. 96. 782 Alikhadzhiyeva v. Russland, Urteil vom 5. Juli 2007, Abs. 111; Khamila Isayeva v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 181 ff.; Akhmadova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 180; Zaurbekova und Zaurbekova v. Russland, Urteil vom 22. Januar 2009, Abs. 135; Karimov u. a. v. Russland, Urteil vom 16. Juli 2009, Abs. 162 ff. 783 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 138; Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 133. 784 Sangariyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 132; Takhayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 18. September 2008, Abs. 138; Tagirova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 124; Nasukhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2008, Abs. 158; Nenkayev u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 213. 785 Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 153 f.; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 181; Akhiyadova v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 118; Akhmadova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 180; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 166. 786 Dolsayev u. a. v. Russland, Urteil vom 22. Januar 2009, Abs. 152. 779
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4. Teil: Schutz der Opfer
2010 wurde dieser Betrag ohne weitere Begründung des Gerichtshofs erhöht und den Beschwerdeführern werden regelmäßig 60.000 Euro zugesprochen.787 Im Fall Zypern gegen die Türkei sprach der Gerichtshof Griechenland 30 Millionen Euro Schadensersatz für etwa 1500 verschwundene griechische Zyprer zu.788 Die Summe ist damit fast doppelt so hoch wie vom Staat eingangs gefordert, liegt aber dennoch deutlich hinter den Beträgen, die bei Individualbeschwerden zugesprochen werden.789 Allerdings werden auch deutlich geringere Beträge von nur wenigen tausend Euro als immaterieller Schadensersatz anerkannt. Auf die Höhe des Schadensersatzes wirkt es sich beispielsweise aus, ob lediglich eine prozessrechtliche Verletzung des Art. 2 EMRK festgestellt wurde oder ob der Staat zudem für die Tötung des Opfers verantwortlich ist.790 Auch wenn sich aus der Rechtsprechungspraxis des EGMR ein Muster in der Bemessung immateriellen Schadensersatzes erkennen lässt, lehnt der Gerichtshof eine Bestimmung anhand von Tabellen ab und entscheidet fallbasiert.791 In verschiedenen Fällen haben die Beschwerdeführer neben einer finanziellen Entschädigung nach Art. 41 EMRK auch weitergehende nicht-finanzielle Wiedergutmachungen gefordert. Im Fall Bersunkayeva v. Russland beantragte der Beschwerdeführer, bezugnehmend auf die Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs, eine unabhängige Untersuchung in die Umstände des Verschwindenlassens und forderte eine öffentliche Entschuldigung des Staates.792 Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass „. . . its judgments are essentially declaratory in nature and, in general, it is primarily for the State concerned to choose the means to be used in its domestic legal order in order to discharge its legal obligation under Article 46 of the Convention, provided
787 Dubayev und Bersnukayeva v. Russland, Urteil vom 11. Februar 2010, Abs. 160; Sadulayeva v. Russland, Urteil vom 8. April 2010, Abs. 114; Tupchiyeva v. Russland, Urteil vom 22. April 2010, Abs. 109; Dhhabrailov u. a. v. Russland, Urteil vom 27. Februar 2014, Anhang 2. 788 Zypern v. Türkei, Urteil vom 12. Mai 2014, Abs. 58. 789 Legt man der Berechnung die im vorherigen Urteil festgelegten 1485 verschwundenen Personen zugrunde, erhielten die Angehörigen für jede verschwundene Person ca. 20.000 Euro. 790 In Tagirova u. a. v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 124 wurden den Beschwerdeführern zwischen 850 und 3.000 Euro für die prozessuale Verletzung des Art. 2 EMRK zugesprochen; in Zakriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 119 erhielten sie zwischen 850 und 2.000 Euro und in Khumaydov and Khumaydov v. Russland, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 152 bis zu 5.000 Euro. 791 In Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 224 stellte der Gerichtshof fest, dass „Its guiding principle is equity, which above all involves flexibility and an objective consideration of what is just, fair and reasonable in all the circumstances of the case, including not only the position of the applicant but the overall context in which the breach occurred.“ 792 Bersunkayeva v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 155.
F. Entschädigung und Ersatz der Kosten
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that such means are compatible with the conclusions set out in the Court’s judgment.“ 793
Der Gerichtshof hält es des Weiteren aufgrund der ineffektiven Ermittlungen der Staaten für zweifelhaft, dass die Situation, die vor der Verletzung bestand, wiederhergestellt werden kann.794 Leach stellt richtigerweise fest, dass eine vollkommene Wiederherstellung nur durch das lebendige Auffinden der Verschwundenen möglich ist. Ist dies jedoch aufgrund ihres Todes nicht mehr möglich, kommt das Auffinden der Leiche und die Aufklärung der Tatumstände einer Wiedergutmachung am nächsten.795 In jüngerer Zeit hat der Gerichtshof in Fällen, die nicht das Verschwindenlassen betrafen, auch verstärkt nicht-monetäre Abhilfemaßnahmen zugelassen. Diese umfassen beispielsweise auch die Anordnung effektiver Untersuchungen sowie öffentliche Entschuldigungen oder Erinnerungsstätten für verstorbene Personen.796 In der Entscheidung Aslakhanova gegen Russland ging der Gerichtshof einen Schritt weiter als in den vorherigen Fällen des Verschwindenlassens. Zwar betonte er erneut, dass es nicht die Aufgabe des Gerichtshofes sei, geeignete Maßnahmen zur Durchsetzung der Urteile zu formulieren, sondern Aufgabe des Ministerkomitees.797 Dennoch sah er sich aufgrund der Masse an gleichgelagerten Fällen dazu berufen, dem Staat gewisse Empfehlungen zum Umgang mit Verschwindenlassen-Fällen aufzuzeigen.798 Diese zielen darauf ab, dem fortdauernden Leid der Angehörigen ein Ende zu setzen und die effektive Untersuchung in die Fälle voranzutreiben.799 Das alleinige Zusprechen von Schadensersatz ist nicht immer ausreichend. „The Court reiterates that, in cases concerning deprivations of life, Contracting States have an obligation under Article 2 of the Convention to conduct an effective investigation capable of leading to the identification and punishment of those responsible. The Court considers that that obligation would be rendered illusory if, in re-
793 Ülkü Ekinci v. Türkei, Urteil vom 16. Juli 2002, Abs. 179; ebenso Kukayev v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 133; Musayeva v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 165; Bersunkayeva v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 157; Umayevy v. Russland, Urteil vom 12. Juni 2012, Abs. 125. 794 Kukayev v. Russland, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 133; ebenso Musayeva v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 166; Bersunkayeva v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 158. 795 Leach – Chechen Conflict, S. 768 f. 796 Für eine ausführliche Darstellung der Urteile zu nicht-monetären Abhilfemaßnahmen siehe Bruckmann, S. 88 ff. 797 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 211. 798 Der Gerichtshof spricht von „guidance“; Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 221. 799 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 221.
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4. Teil: Schutz der Opfer
spect of complaints under Article 2 of the Convention, an applicant’s victim status were to be remedied by merely awarding damages.“ 800
Diese Empfehlungen unterteilt der Gerichtshof in zwei Hauptgruppen: Die Bedürfnisse der Angehörigen der Opfer und die strafrechtliche Untersuchung der Fälle. Das Leiden der Angehörigen sah der Gerichtshof als dringendstes Problem an. Er befürwortete die Errichtung eines Gremiums zur Aufklärung der Fälle und schlug die Bereitstellung von Geldern für umfassende forensische Arbeiten vor.801 Zudem begrüßt er die Schritte, die bereits unternommen wurden, um die Angehörigen zu entschädigen.802 Um den Anforderungen an eine effektive Strafverfolgung zukünftig gerecht zu werden betonte der Gerichtshof die Bedeutung eines allgemeinen Aktionsplanes für alle Fälle, in denen der Verdacht besteht, dass Staatsbeamte in Entführungen verwickelt sind.803 Aufgrund der Dringlichkeit der Fälle soll Russland unverzüglich eine umfassende Strategie ausarbeiten und dem Ministerkomitee zur Überwachung der Umsetzung vorlegen.804 Erstmalig hat der Gerichtshof damit in einem Fall des Verschwindenlassens sehr konkrete nicht-finanzielle Wiedergutmachung für die Angehörigen gefordert und damit auch deren Bedeutung hervorgehoben. Da sich der Gerichtshof nicht dazu berechtigt sieht, den Staat zu derartigen Wiedergutmachungen zu verpflichten, greift er auf unverbindliche Empfehlungen zurück, um Russland zum Handeln zu bewegen. Dies verdeutlicht, dass der Gerichtshof nach mehr als hundert gleichgelagerten Fällen erkannt hat, dass eine finanzielle Entschädigung für die Angehörigen nicht ausreichend ist. 3. Kostenersatz Das Verfahren vor dem EGMR ist kostenfrei und für weitere Verfahrenskosten können die Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe beantragen.805 Weitere Kosten und Auslagen können dem Beschwerdeführer gem. Art. 41 EMRK durch den Staat erstattet werden. Im Vordergrund steht in der Regel die Erstattung der Anwaltshonorare abzüglich erhaltener Prozesskostenhilfe.806 Die tatsächlich entstandenen Kosten müssen nachgewiesen werden und der Gerichtshof behält es sich vor, über die Angemessenheit der Anwaltshonorare zu entscheiden.807 Auch 800
Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 213. Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 225 f. 802 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 227. 803 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 232 ff. 804 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 238. 805 Art. 100 bis 105 VerfO. 806 Abdurzakova und Abdurzakov v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 158; Dokuyev u. a. v. Russland, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 174; Aliyeva v. Russland, Urteil vom 18. Februar 2010, Abs. 124. 807 Alikhadzhiyeva v. Russland, Urteil vom 5. Juli 2007, Abs. 11 f.; Abayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. April 2010, Abs. 148. 801
F. Entschädigung und Ersatz der Kosten
211
hierbei greift der Gerichtshof auf das Prinzip der Billigkeit zurück, um die Höhe der zu erstattenden Kosten zu ermitteln.808 Nur in den seltensten Fällen wird dem Beschwerdeführer der gesamte geforderte Betrag zugesprochen.809 In der Mehrheit werden lediglich zwei Drittel der angeführten Kosten durch den Gerichtshof bewilligt.810 Sind den Familien im Zusammenhang mit der Suche nach der verschwundenen Person Kosten entstanden, insbesondere Reisekosten, so werden diese ebenfalls vom Art. 41 EMRK erfasst.811
III. Vergleich Die Feststellung einer Konventionsverletzung lassen beide Gerichtshöfe in Fällen des Verschwindenlassens als Wiedergutmachung nicht ausreichen. Sie sprechen den Angehörigen sowohl materiellen Schadensersatz, insbesondere aufgrund entgangenen Einkommens, als auch immateriellen Schadensersatz zu. Der Ersatz von materiellen Schäden setzt einen Kausalzusammenhang zwischen der Tat und dem daraus resultierenden Schaden voraus. In der Annahme dieses Kausalitätserfordernisses ist der EGMR jedoch restriktiver und lehnt einen Schaden dann ab, wenn nur prozessrechtliche Aspekte des Art. 2 EMRK verletzt wurden. Der IAGMR hat in der Entscheidung Castillo-Páez einen Schaden dagegen angenommen, obwohl ein konkreter kausaler Zusammenhang nicht nachgewiesen wurde. In der Bestimmung des materiellen Schadensersatzes unterscheiden sich die Methoden der Gerichtshöfe. Während der EGMR fast ausnahmslos auf das Prinzip der Billigkeit zurückgreift und unklar bleibt, wie genau er die zugesprochenen Summen ermittelt, wandte der IAGMR, insbesondere in seiner frühen Rechtsprechung, die Differenzmethode an. In den vergangenen Jahren hat sich allerdings auch die Rechtsprechungspraxis des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs dahingehend verändert, dass er zur Festsetzung der Summe vermehrt den Grundsatz der Billigkeit heranzieht. Dieser Grundsatz ist im Hinblick auf die Bezifferung materieller Schäden, die sich in der Regel leicht nachweisen lassen, 808 Musayeva v. Russland, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 173; Rasayev und Chankayeva v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 129; Rasayev und Chankayeva v. Russland, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 129; Dolsayev u. a. v. Russland, Urteil vom 22. Januar 2009, Abs. 158. 809 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 188; Luluyev u. a. v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 163; Shakhgiriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 214; Medova v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 148. 810 Nesibe Haran v. Türkei, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 110; Zulpa Akhmatova u. a. v. Russland, Urteil vom 9. Oktober 2008, Abs. 149; Magamadova und Iskhanova v. Russland, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 145; Ustarkhanova v. Russland, Urteil vom 26. November 2009, Abs. 131. 811 Akdeniz v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 130, in diesem Fall erläuterte der Gerichtshof die Frage der Reisekosten jedoch im Zusammenhang mit den materiellen Schäden und nicht unter der Überschrift „Kosten“.
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4. Teil: Schutz der Opfer
wenig geeignet. Daher sollte durch die Gerichtshöfe zunächst auf Gehaltsnachweise für die Festsetzung der Summe zurückgegriffen werden. Ist dies nicht möglich, kann immer noch das Mindestgehalt für die betreffende Berufsgruppe als Vergleichswert berücksichtigt werden. Durch dieses Vorgehen würden gerechtere und transparentere Entscheidungen zur Bestimmung des Schadensersatzes getroffen.812 Bei der Berechnung weiterer materieller Schäden, die vor allem durch die Suche nach dem Verschwundenen verursacht werden, spricht der IAGMR den Betroffenen sehr umfassend Schadensersatz zu, auch wenn die geforderte Höhe in der Regel nicht ganz gewährt wird. Beim EGMR wurde nur in einem Verfahren Ersatz für entstandene Kosten aus dem Verschwindenlassen gefordert. Diese Forderung wurde vom Gerichtshof jedoch ignoriert. Die Höhe des immateriellen Schadensersatzes bestimmt sich nach dem Prinzip der Billigkeit, wobei beide Gerichtshöfe die Umstände des Einzelfalls mit einbeziehen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der IAGMR deutlich großzügiger in der Festsetzung der zugesprochenen Summen ist. Auch im Vergleich zu nationalen Verfahren sind die Schadensersatzzahlungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes deutlich höher.813 In Anbetracht der Schwere der Menschenrechtsverletzungen erscheint die Höhe der Schadensersatzzahlungen des EGMR als sehr niedrig. Es ist begrüßenswert, dass die beschwerdegegnerischen Staaten ihrer Verpflichtung zur Zahlung von Schadensersatz in der Regel nachkommen.814 Für die Angehörigen ist die Zahlung von Schadensersatz in der Regel von nachrangiger Bedeutung. Viel wichtiger für sie ist das Auffinden der sterblichen Überreste ihres Familienangehörigen oder auch eine öffentliche Entschuldigung der Regierung.815 Daher ist es sehr begrüßenswert, dass der IAGMR den Opfern regelmäßig auch nicht-finanzielle Entschädigung wie beispielsweise öffentliche Entschuldigungen, den Bau von Erinnerungsstätten und die Aufklärung der Fälle, zuspricht. Art. 63 AMRK umfasst eindeutig nicht nur die Zahlung von Geldleistungen, sondern auch nicht-finanzielle Wiedergutmachungen. Art. 41 EMRK ist hingegen enger gefasst, sodass der EGMR die Forderungen nach unabhängigen Untersuchungen durchweg abgelehnt hat. In seiner jüngsten Rechtsprechung hat der EGMR jedoch auf die Vielzahl an gleichgelagerten Fällen in Tschetschenien reagiert und zumindest Empfehlungen hinsichtlich des Umgangs mit den Ange812
Ebenso Bruckmann, S. 240, 288. Interview mit Miguel Huerta. 814 Für Lateinamerika siehe González-Salzberg, 16 International Law, Revista Kolumbien de Derecho Internacional, S. 125 ff.; auch Russland kommt den Schadensersatzzahlungen unverzüglich nach, Lapitskaya, 43 N.Y.U. J. Int’l L&Pol., S. 490. 815 Alpkaya/Altintas/Sevdiren/Sevimli, S. 43; Antkowiak, Columbia Journal of Transnational Law 46, S. 388 f. 813
F. Entschädigung und Ersatz der Kosten
213
hörigen der Opfer und der strafrechtlichen Verfolgung der Taten ausgesprochen. Auch wenn der Gerichtshof diese Vorschläge als nicht verbindlich für den Staat betrachtet, hat er Russland dazu angehalten, eine Strategie zur Bewältigung der benannten Probleme zu entwickeln. Dies ist als positiv zu bewerten, da solche Maßnahmen für die Angehörigen von großer Bedeutung sind. Der Bau von Gedenkstätten hat beispielsweise nicht nur den Effekt, die Taten für alle sichtbar unvergessen zu machen, sondern sie dienen den Familien zudem als Ort der Trauer und Erinnerung an die verschwundene Person. Mangels Grabstätte stellen sie einen Ersatz dar, was gerade bei dem in Lateinamerika bedeutsamen Totenkult von großem Gewicht ist.816 Die öffentliche Anerkennung der staatlichen Verantwortlichkeit für die Taten und eine damit verbundene Entschuldigung erfüllt für die Angehörigen eine wichtige Funktion. Nicht selten werden sie dadurch von der jahrelangen Diskreditierung als Terroristen befreit. Rein finanzielle Entschädigungen könnten bei den betroffenen Staaten zudem den Eindruck erwecken, dass sie mit konventionsverletzenden Handlungen fortfahren können, solange sie sich den Schadensersatz leisten können.817 In der Erfüllung der Urteile hat sich immer wieder gezeigt, dass es den Staaten leichter fällt, Schadensersatz zu zahlen, als den nicht-finanziellen Entschädigungen Folge zu leisten. Allein legislative Reformen werden überraschenderweise häufig umgesetzt, wohingegen der Anordnung zur Durchführung strafrechtlicher Verfahren nur selten Folge geleistet wird.818 Die Kosten, die den Beschwerdeführern im Zusammenhang mit dem Verfahren entstehen, erkennen beide Gerichtshöfe als ersatzfähig an, jedoch wird nur ein Teil der Kosten erstattet. In vielen Fällen sind durch das Verschwindenlassen Familien betroffen, die finanziell schlecht gestellt sind. Von der Aussicht, ihre Prozesskosten nicht vollständig ersetzt zu bekommen, könnten sie von der Einleitung eines Verfahrens abgehalten werden. Insbesondere aufgrund der Komplexität und Dauer der Fälle sowie dem für die Parteien bestehenden beweisrechtlichen Risiko ist diese Praxis kritikwürdig.819
816
Interview mit Augusto Medina Otazu. Shelton, Reparations in the Inter-American System, S. 170. 818 Cavallaro/Brewer, The American Journal of International Law, Vol. 102, No. 4, 2008, 785 f.; Camilleri/Krsticevic, S. 241 führen dies auf eine Reihe von Faktoren zurück, unter anderem die Komplexität der Fälle und die oftmals fehlende Unabhängigkeit der Richter und Strafverfolgungsbehörden. 819 Pasqualucci, S. 277; Cassel, Reparations, S. 202; Bruckmann, S. 268. 817
5. Teil
Beitrag zur Aufarbeitung, Strafverfolgung und Verhinderung des Verschwindenlassens Bereits in Velásquez Rodríguez stellte der Inter-Amerikanische Gerichtshof fest, dass für die Mitgliedsstaaten nicht nur eine Verpflichtung zur Abwehr staatlicher Eingriffe in die Konventionsrechte besteht („duty to respect“), sondern auch eine positive Verpflichtung, Maßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Ausübung dieser Rechte ermöglichen („duty to ensure/protect“). „The second obligation of the States Parties is to ,ensure‘ the free and full exercise of the rights recognized by the Convention to every person subject to its jurisdiction. This obligation implies the duty of States Parties to organize the governmental apparatus and, in general, all the structures through which public power is exercised, so that they are capable of juridically ensuring the free and full enjoyment of human rights. As a consequence of this obligation, the States must prevent, investigate and punish any violation of the rights recognized by the Convention and, moreover, if possible attempt to restore the right violated and provide compensation as warranted for damages resulting from the violation.“ 1
Der Staat ist somit verpflichtet, bei der Verwirklichung der Grundrechte für den Einzelnen mitzuwirken. Insbesondere treffen ihn drei Pflichten: Der Staat muss vernünftige Schritte einleiten, um eine Konventionsverletzung zu verhindern (Pflicht zur Verhinderung); liegt eine Verletzung vor, muss er alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um eine ernsthafte Untersuchung über die Verletzungen durchzuführen, die Verantwortlichen zu ermitteln (Pflicht zur Aufarbeitung) und sie strafrechtlich zu belangen (Pflicht zur Strafverfolgung). Diese Verpflichtungen bestehen unabhängig von der Begehung der Tat. Wurde das Verschwindenlassen von einer Privatpersonen verübt und der Staat blieb hinsichtlich einer seiner positiven Verpflichtungen untätig, wird er dennoch verantwortlich gemacht.2 Die Bedeutung dieser Verpflichtungen hat der Gerichtshof auch im Rahmen der Überwachung der Urteile herausgestellt: „That this Court has asserted that the prohibition of forced disappearance of persons and the corollary duty to investigate it and punish those responsible for it are regulations that have reached a nature of jus cogens.“ 3 1 2
Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 166. Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 173.
A. Pflicht zur Aufarbeitung
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Anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der lediglich eine individuelle Dimension des Verschwindenlassens anerkennt,4 hat der Inter-Amerikanische Gerichtshof auch die Gesellschaft als Ganzes („society as a whole“) in seiner Rechtsprechung berücksichtigt.5 Diese hat insbesondere ein Anrecht auf historische und juristische Aufarbeitung, um zu erfahren was passiert ist.6 Der Staat ist zudem verpflichtet, seine Bevölkerung vor einer Wiederholung der Verletzungen zu schützen. Diese Erweiterung auf die ganze Gesellschaft ist insoweit konsequent, da das Verschwindenlassen gerade darauf abzielt, nicht nur das Individuum, sondern die ganze Bevölkerung in Angst und Rechtsunsicherheit zu versetzen.7 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich nicht so ausdrücklich für die Aufarbeitung, Strafverfolgung und Verhinderung der Taten ausgesprochen. Positive Verpflichtungen spielen auch beim EGMR eine bedeutende Rolle,8 allerdings bezieht er sich in Fällen des Verschwindenlassen vor allem auf die staatlichen Ermittlungspflichten und weitere Präventionsmaßnahmen. Im Folgenden soll daher untersucht werden, welche Pflichten zur gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung, Verhinderung und strafrechtlichen Verfolgung der Taten durch die beiden Menschenrechtsgerichtshöfe festgelegt wurden. Zudem wird am Beispiel Perus dargelegt, welche Auswirkungen die Entscheidungen des IAGMR haben.
A. Pflicht zur Aufarbeitung Diktaturen sind durch intransparente Prozesse sowie die Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit geprägt. Der Bevölkerung sollen möglichst lange die menschenrechtsverletzenden Handlungen verheimlicht werden, um den Verantwortlichen ein ungestörtes Herrschen zu ermöglichen. Das Verschwindenlassen einer Person, ein Verbrechen, das von Beginn an darauf ausgelegt ist, alles was mit dieser Tat im Zusammenhang steht zu verdunkeln, stellt daher ein gern 3 Bámaca Velásquez v. Guatemala, Monitoring Compliance with Judgement, 27. Januar 2009, Abs. 26; Castillo-Páez v. Peru, Monitoring Compliance with Judgement, 3. April 2009, Abs. 12. 4 Jötten, S. 68 f. 5 Das Verbrennen von Nicholas Blakes Überresten sieht der Gerichtshof als einen Angriff auf die kulturellen Werte der guatemaltekischen Gesellschaft, Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 115. 6 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 134; 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 259. 7 Der Gerichtshof beschreibt die Zielrichtung des Verschwindenlassens als „to create a general state of anguish, insecurity and fear, in the social as well as in the intellectual sectors of the society“; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 80. 8 Grabenwarter, S. 125 f.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
genutztes Mittel unterdrückerischer Regime dar. Nicht nur die unmittelbaren Angehörigen, sondern auch Freunde, Bekannte, Nachbarn und Arbeitskollegen bemerken zwar, dass Menschen in ihrer Umgebung plötzlich verschwinden, erfahren jedoch nicht, was mit ihnen passiert ist. Deshalb fordern auch diese Personen und die ganze Gesellschaft, die von diesem Phänomen betroffen ist, die Wahrheit über den Verbleib dieser Personen zu erfahren. Insbesondere nach Diktaturen, die sich vermehrt dem Verschwindenlassen bedienten, ist die Wahrheitsfindung für die Vergangenheitsbewältigung von essentieller Bedeutung. Die Aufarbeitung der Geschehnisse stellt einen ersten wichtigen Schritt für einen erfolgreichen Transformationsprozess dar. Juristische Prozesse, auch wenn sie lediglich Einzelfälle behandeln, können im Rahmen der Tatsachenfeststellung maßgeblich an der Vergangenheitsaufarbeitung mitwirken.
I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Die Ermittlung und Verifizierung der Tatsachen obliegt im Inter-Amerikanischen System in erster Linie der Kommission. Gemäß Art. 58 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf eigene Initiative hin sämtliche Beweise einholen, die er für den Fall als hilfreich erachtet. Im Besonderen kann er Opfer, Zeugen und Sachverständige befragen sowie jede Person, deren Aussage relevant erscheint. Zudem kann er von der Kommission, den Opfern oder ihren Vertretern sowie dem beschwerdegegnerischen Staat das Vorbringen aller Beweise verlangen, die er für nützlich hält. In den frühen Entscheidungen des Gerichtshofs spielte die Ermittlung des Sachverhalts eine wesentliche Rolle. In den Honduras-Fällen wurden Zeugen über eine Woche lang vom Gerichtshof befragt.9 Die Bedeutung der Tatsachenfeststellung spiegelt sich auch in den ersten Urteilen wieder, in denen die Sachverhaltsermittlung ungefähr ein Viertel des Umfangs der Entscheidungen einnahm.10 Sämtliche Zeugen- und Expertenaussagen wurden teilweise über mehrere Seiten wiedergegeben und die vorgelegten Beweise ausführlich vom IAGMR ausgewertet. Anschließend stellt der Gerichtshof den für ihn erwiesenen Sachverhalt dar. Dabei geht er nicht nur auf die Einzelheiten des Falls ein, sondern beschreibt zudem den sozialen und politischen Hintergrund, in dem das Verbrechen erfolgte. Im Fall Goiburú gegen Paraguay beschäftigte sich der Gerichtshof beispielsweise mit der in Kooperation verschiedener lateinamerikanischer Geheimdienste erfolgten „Operation Condor“. In der Entscheidung werden ausführlich 9 Cavallaro/Brewer, The American Journal of International Law, Vol. 102, No. 4, 2008, 797. 10 In 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, behandeln 56 von 140 Seiten die Tatsachenfeststellung; in Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, sind es 37 von 142 Seiten; in La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, sind es 39 Seiten von 144.
A. Pflicht zur Aufarbeitung
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die Methoden und Aktionen der beteiligten Länder dargestellt. Der Gerichtshof betont die Bedeutung einer umfassenden Tatsachenfeststellung, um die historische Wahrheit zu dokumentieren.11 Richter Cançado Trindade gingen die Ermittlungen des IAGMR jedoch nicht weit genug. In seiner abweichenden Entscheidung kritisiert er, dass im Angesicht der besonderen Schwere und der historischen Auswirkungen dieses geheimdienstlichen Programms eine öffentliche Verhandlung hätte erfolgen sollen. Der Gerichtshof habe so die einmalige Gelegenheit verpasst, einen eigenen Beitrag zur Aufklärung der „Operation Condor“ beizusteuern.12 Diese Kritik geht einher mit dem grundsätzlichen Rückgang an Verhandlungstagen am IAGMR. In den vergangenen Jahren wurden immer weniger Zeugen angehört und im Durchschnitt nur etwas mehr als ein Verhandlungstag pro Fall angesetzt mit nur drei unmittelbar angehörten Zeugen.13 Dies zeigt sich auch bei der Darstellung des Sachverhalts, die zunehmend verkürzt wurde, um die Produktivität des Gerichtshofes zu erhöhen. Dennoch nimmt die Tatsachenfeststellung in den Entscheidungen des IAGMR immer noch einen beachtlichen Teil ein.14 In der Entscheidung Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala aus 2012 stellte der Gerichtshof ausdrücklich die Bedeutung seiner Tatsachenermittlung fest. „Given the importance of establishing the facts that gave rise to State responsibility in this case, in order to preserve the historical memory and to avoid the repetition of similar events, and as a form of reparation to the victims, in this chapter the Court will establish the facts of this case, based on the facts submitted to the consideration of the Court by the Commission and the acknowledgment of responsibility made by the State, taking into consideration the pleadings and motions brief of the representatives and the body of evidence.“ 15
1. Recht auf Wahrheit In Teil 4 wurde dargestellt, dass der Inter-Amerikanische Gerichtshof den Angehörigen ein Recht auf Wahrheit einräumt und die Staaten verpflichtet, Ermitt11 Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 93. 12 Separate Opinion of judge Cançado Trindade, Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 21 f. 13 Cavallaro/Brewer, The American Journal of International Law, Vol. 102, No. 4, 2008, 799 ff. 14 In Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, sind es 10 von 81 Seiten; anders hingegen in der Entscheidung Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, in der die Sachverhaltsfeststellung ca. 40 von 108 Seiten einnimmt; in Contreras u. a. v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. August 2011, beschäftigen sich nur noch 15 von 86 Seiten mit dem Sachverhalt. 15 Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 51.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
lungen anzustellen um aufzuklären, was mit den Verschwundenen passiert ist.16 Neben der individuellen Dimension des Rechts auf Wahrheit besteht auch eine kollektive, die der Gesamtheit einer Gesellschaft zusteht.17 Zu Beginn war der Gerichtshof in der Anerkennung eines solchen Konzepts zurückhaltend und lehnte es mit der Begründung ab, dass sich ein solches Recht in der Konvention nicht finden lasse. In späteren Urteilen sah er jedoch auch die kollektive Dimension dieses Rechts verletzt, da auf internationaler Ebene ein Recht auf Wahrheit im Entstehen begriffen sei.18 „The Court has reiterated that everyone, including the next of kin of victims of serious human rights violations, has the right to know the truth. Consequently, the next of kin of the victims, and society as a whole, must be informed of everything that happened in relation to the said violations. International human rights law has been developing this right to the truth; when it is recognized and exercised in a specific situation, it constitutes an important measure of reparation. Therefore, in this case, the right to know the truth gives rise to an expectation of the next of kin of the alleged victims that the State must satisfy.“ 19
Die Gesellschaft hat ein generelles Recht zu erfahren, was in einem bestimmten Zeitraum, der meist durch autoritäre Regime dominiert wurde und in dem die in einem demokratischen System vorgesehenen Verfahren zur öffentlichen Meinungsbildung eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt waren, geschehen ist.20 Möglichst umfangreich sollen die historischen Tatsachen aufgearbeitet werden und die systematische Praxis sowie die beteiligten Personen dargestellt werden.21 Die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen ist die Voraussetzung für die Gestaltung demokratischer Systeme und ermöglicht, vergleichbare Verbrechen in der Zukunft zu verhindern.22
16
Siehe 4. Teil, D., IV., 1., b). Der Gerichtshof spricht von der „society as a whole“, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 197; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 4. 18 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 86. 19 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 62; Garía und Familie v. Guatemala, Fondo, Reparaciones y Costas, Urteil vom 29. November 2012, Abs. 148. 20 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 197; Separate Concurring Opinion of judge Sergio García Ramírez, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 17; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 134. 21 Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 192. 22 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations and Costs, Urteil vom 22. Februar 2002, Abs. 77; 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 259. 17
A. Pflicht zur Aufarbeitung
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In verschiedenen lateinamerikanischen Ländern entstanden Wahrheitskommissionen mit dem Ziel, die Ursachen der Gewalt zu ergründen, schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die Verantwortlichkeiten festzustellen und einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess voranzutreiben.23 Beginnend mit der Nationalen Kommission über das Verschwindenlassen von Personen (CONADEP) in Argentinien folgten 12 weitere Wahrheitskommissionen, darunter auch Guatemala und Peru.24 Die durch die Kommissionen ermittelten Tatsachen nutzte auch der Gerichtshof zur Feststellung des Sachverhalts in Fällen des Verschwindenlassens. Überwiegend bezieht er sich dabei auf die generelle Menschenrechtssituation in einem Land, zum Teil werden aber auch die Ermittlungsergebnisse zu Einzelfällen berücksichtigt, die auch vor dem Gerichtshof behandelt werden.25 Die Berichte der Truth and Reconciliation Commission (CVR) dienten in verschiedenen peruanischen Fällen dazu, die systematische Praxis des Verschwindenlassens in Peru nachzuweisen.26 Teilweise wurden die Mitglieder der Wahrheitskommissionen als Sachverständige vom Gerichtshof befragt.27 Die Aufnahme der Ergebnisse der Wahrheitskommissionen in die eigene Sachverhaltsermittlung verdeutlicht die Wertschätzung des Gerichtshofes für ihre Arbeit und deren Beweiskraft.28 Wahrheitskommissionen können einen wesentlichen Beitrag zur 23 Art. 1 Decreto Supreme No. 065-2001-PCM zur Schaffung der peruanischen Wahrheitskommission beschreibt die Funktionen als „den Verlauf, die Taten der und die Verantwortlichkeiten für die terroristischen Gewalt- und Menschenrechtsverletzungen, die sich zwischen Mai 1980 bis November 2000 ereigneten und sowohl den terroristischen Organisationen als auch staatlichen Funktionären zuzurechnen sind, aufzuklären, sowie Initiativen vorzuschlagen, die der Stärkung des Friedens und der Einigkeit zwischen den Peruanern dienen.“ Übersetzung nach Ambos, 2009, S. 554. 24 Ein Überblick über alle Wahrheitskommissionen mit ihren wesentlichen Fakten gibt Hayner, International Review of the Red Cross, 88, S. 295 ff.; über die Zielsetzung und Entwicklung von Wahrheitskommissionen siehe Cuya, 33 ff. 25 Almonacid-Arellano u. a. v. Chile, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 26. September 2006, Abs. 82 (2)ff.; Cantoral-Huamaní und GarcíaSanta Cruz v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 10. Juli 2007, Abs. 54 ff., 62, 77 f.; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 33 f. 26 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.1 ff.; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (2) ff., 109; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 48, 75, 83, 136 f. 27 Beispielsweise Sofía Macher, Mitglied der peruanischen Truth and Reconciliation Commission, berichtete in Gómez-Palomino über die systematische Praxis des Verschwindenlassens, Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, S. 17. 28 Die Arbeit der Truth and Reconciliation Commission ist ein erster wichtiger Schritt zur Wiedergutmachung und ist laut Inter-Amerikanischem Gerichtshof ein „major effort and has contributed to the search for and establishment of truth for a period of Perú’s history“, Almonacid-Arellano u. a. v. Chile, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 26. September 2006, Abs. 149; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 223 f.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
Feststellung der sog. „historical truth“ 29 leisten. Dennoch sind ihnen einige juristische und praktische Grenzen gesetzt.30 Vor allem sind sie in der Regel nicht dazu ermächtigt, juristische Konsequenzen aus den ermittelten Tatsachen zu ziehen und können somit keinen Ersatz für eine juristische Aufarbeitung darstellen. „. . . the Court deems it appropriate to specify that the ,historical truth‘ contained in said report does not complete or substitute the State’s obligation to also establish the truth through court proceedings, as acknowledged by the State itself by keeping the investigations open even after the report was issued. In this regard, it is worth noting that, in the framework of Articles 1(1), 8 and 25 of the Convention, the victims’ next of kin have a right, and the State has the obligation, to have what happened to the victims effectively investigated by the State’s authorities, the parties allegedly responsible for such illegal acts prosecuted, and, if appropriate, appropriately punished.“ 31
Ein Staat kann seine Verpflichtung zur Ermittlung der Taten und zur Strafverfolgung der Verantwortlichen nicht durch die Einsetzung einer Wahrheitskommission ersetzen. Zudem muss sichergestellt werden, dass die Ergebnisse der Verfahren der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.32 Die Unabhängigkeit von juristischer und historischer Aufarbeitung führt umgekehrt auch dazu, dass das Recht auf Wahrheit auch weiter besteht, wenn eine strafrechtliche Verfolgung nicht erfolgte. In der Veröffentlichung der Abschlussberichte der Wahrheitskommissionen sah der Gerichtshof zudem einen ersten Schritt zur Wiedergutmachung für die Opfer auf der Suche nach der historischen Wahrheit.33 In Gomes Lund stand Brasilien bei Urteilsverkündung im Begriff eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Ereignisse unter der Militärdiktatur zu etablieren. Der Gerichtshof hielt Brasilien mit Nachdruck dazu an, diese Kommission zu gründen, da diese einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung der historischen Wahrheit leisten könne.34 Das Recht auf Wahrheit umfasst auch die staatliche Verpflichtung, die sterblichen Überreste der Verschwundenen ausfindig zu machen, sie einer forensischen 29 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 224; Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 298. 30 Zu den Schwierigkeiten von Wahrheitskommissionen bei der Tatsachenfeststellung siehe Cassel, 2000, S. 109 ff. 31 Almonacid-Arellano u. a. v. Chile, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 26. September 2006, Abs. 150; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 224. 32 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 183. 33 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 180. 34 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 297; vergleichbare Würdigung der Gründung einer Wahrheitskommission in Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 169.
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Untersuchung zu unterziehen und den Angehörigen zu übergeben. Erst durch die Untersuchung der Leiche lässt sich abschließend klären, was mit dem Opfer nach seinem Verschwinden geschehen ist. Insbesondere die Öffnung von Massengräbern ist wichtig, um die systematische Praxis des Verschwindenlassens rekonstruieren zu können. 2. Staatliche Anerkennung der Verantwortlichkeit In den vergangenen Jahren haben Staaten in zunehmendem Maße ihre Verantwortlichkeit für die Verletzung von Menschenrechten vor dem Inter-Amerikanischem Gerichtshof anerkannt.35 Für Staaten, in denen ein Regimewechsel stattgefunden hat, stellt dies eine Möglichkeit dar, sich der dunklen Vergangenheit zu stellen und den Opfern eine öffentliche Entschuldigung zukommen zu lassen. Grundsätzlich kann die Anerkennung als positives Zeichen des Staates gewertet werden, allerdings kann sie auch genutzt werden, um einer unangenehmen Sachverhaltsermittlung des Gerichtshofes vorzubeugen.36 Das Europäische System zum Schutz der Menschenrechte hingegen, kennt die Anerkennung der staatlichen Verantwortlichkeit nicht. Hat ein Staat die rechtlichen oder tatsächlichen Umstände eines Falls anerkannt, entscheidet der Gerichtshof gemäß Art. 62 der Verfahrensregeln darüber, ob er die Anerkennung des Staates akzeptiert. Nach Art. 64 muss der Gerichtshof die Bedeutung seiner Urteile für den Schutz der Menschenrechte berücksichtigen, was für eine Fortführung des Verfahrens sprechen kann. Anfänglich führte die Anerkennung der Verantwortlichkeit zu einer frühzeitigen Beendigung des Verfahrens in der Sache und der Gerichtshof ging direkt zur Wiedergutmachung über.37 Die Sachverhaltsaufklärung in Fällen des Verschwindenlassens, insbesondere wenn es im Rahmen einer systematischen Praxis erfolgte, führt zur Feststellung einer offiziellen Wahrheit, die für Angehörige und das ganze gesellschaftliche Umfeld von enormer Bedeutung ist.38 Deshalb nimmt der Gerichtshof mittlerweile auch bei einer vollständigen staatlichen Anerkennung der Tatsachen regelmäßig eine umfassende Sachverhaltsaufklärung vor. 35 Während es in den 90er Jahren eine Seltenheit war, dass ein Staat seine Verantwortlichkeit anerkannte, nahm die Zahl der Anerkennungen seit 2003 stetig zu, Cavallaro/Brewer, The American Journal of International Law Vol. 102, S. 809. 36 Cavallaro/Brewer, The American Journal of International Law Vol. 102, S. 809 f. 37 Garrido und Baigorria v. Argentinien, Merits, Urteil vom 2. Februar 1996, Abs. 27; Benavides-Cevallos v. Ecuador, Mertis, Reparations and Costs, Urteil vom 19. Juni 1998, Abs. 42 f.; Caracazo v. Venezuela, Merits, Urteil vom 11. November 1999, Abs. 44; Trujillo-Oroza v. Bolivien, Merits, Urteil vom 26. Januar 2000, Abs. 43; Molina-Theissen v. Guatemala, Merits, Urteil vom 4. Mai 2004, Abs. 43. 38 Vergleichbar argumentiert der Richter Cançado Trindade im Zusammenhang mit der Bedeutung einer öffentlichen Verhandlung, Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 21 f.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
„. . . the Court considers that a judgment adjudicating on the issues of fact and on all the elements of the merits of the case, as well as on the corresponding consequences thereof, constitutes a way of contributing to the preservation of the historical memory, to the redress of the damage inflicted upon the next of kin of the victims and, moreover, it also contributes to avoid the repetition of similar events. Therefore, without prejudice of the scope and extent of the acknowledgement made by the State, the Court deems it convenient to include the following section to analyze the facts subject matter of this case, including both the facts acknowledged by the State and the proven facts. Besides, the Court deems it necessary to clarify certain matters regarding how the violations have taken place in the context and under the circumstances of this particular case, and regarding certain consequences related to the obligations established in the American Convention.“ 39
Bei der Untersuchung des Sachverhalts zieht der Gerichtshof die Anerkennung zwar in Betracht, kann jedoch auch zu dem Ergebnis kommen, dass eine durch den Staat anerkannte Konventionsverletzung nicht erwiesen wurde.40 Die detaillierte Aufarbeitung der Umstände eines Falls, die immer in den Kontext der damaligen Zeit gesetzt werden und somit ein weitreichendes Bild der historischen Ereignisse vermitteln, macht aus den Urteilen auch ein beutendes Mittel zur Konservierung der kollektiven Wahrheit verschiedener Länder. Das System und die Vorgehensweise verschiedener unterdrückerischer Regime sowie deren repressive Methoden werden durch den Gerichtshof dargestellt und tragen dadurch auch zur Prävention zukünftiger Straftaten bei.41 3. Weitere Maßnahmen zur Aufarbeitung Der IAGMR ordnete in seinen Entscheidungen auch immer wieder Maßnahmen an, um die Aufarbeitung der mit dem Verschwindenlassen zusammenhängenden Geschehnisse in den Ländern voranzutreiben. In einer Vielzahl von Fällen wurde der beschwerdegegnerische Staat dazu verpflichtet, die Entscheidungen des Gerichtshofs, zumindest in ihren wesentlichen Punkten, in überregionalen Zeitungen und auf frei zugänglichen Webseiten zu veröffentlichen.42 Dadurch soll einem großen Personenkreis ermöglicht werden, sich über die tatsächlichen und juristischen Feststellungen des Gerichtshofs zu informieren. Auch für die Familien ist die Publikation als Mittel zur moralischen Reparation von
39 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 57. 40 So stellte der Gerichtshof in La Cantuta fest, dass keine Verletzung des Art. 3 AMRK erfolgte, La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 121. 41 Burgorgue-Larsen/Úbeda de Torres, Rn. 13.38. 42 Contreras u. a. v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. August 2011, Abs. 203 f.
A. Pflicht zur Aufarbeitung
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Bedeutung. Allerdings sind die Entscheidungen in der Regel lang und komplex, wodurch viele Personen vom Lesen abgeschreckt werden. Zudem sollen Dokumente, die im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverbrechen stehen, vom Staat systematisiert und veröffentlicht werden.43 Im Contreras-Fall verpflichtete der Gerichtshof den Staat, unter Mithilfe der Opfer und NGOs eine Dokumentation über verschwundene Kinder während der Militärdiktatur zu produzieren. Mit dem Ziel, die salvadorianische Gesellschaft über diese Vorkommnisse zu informieren, soll diese Dokumentation den Opfern und öffentlichen Schulen zur Verfügung gestellt werden, sowie zumindest einmal zur Hauptsendezeit auf einem nationalen Sender ausgestrahlt werden und gratis im Internet abrufbar sein.44 Auch im Fall Gudiel Álvarez ordnete der Gerichtshof die Produktion eines Dokumentarfilms an, um die Erinnerung an das Geschehene zu bewahren und Wiedergutmachung für die Angehörigen der Opfer zu leisten.45 4. Auswirkungen in Peru Peru hat seit dem Ende der Herrschaft Fujimoris wesentliche Anstrengungen zur Aufarbeitung der begangenen Menschenrechtsverletzungen unternommen. Neben der strafrechtlichen Verfolgung der Täter war die Einsetzung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission im Juni 2001, die sich mit der politischen Gewalt der vergangenen 20 Jahre beschäftigte, der wichtigste Schritt. In ihrer Arbeit nahm die Kommission immer wieder Bezug auf die bisherigen durch den Inter-Amerikanischen Gerichtshof entschiedenen Fälle zum Verschwindenlassen. Sie orientierte sich dabei insbesondere an der durch den Gerichtshof getroffenen rechtlichen Einordnung des Phänomens sowie den Auswirkungen auf die Opfer und Angehörigen.46 Die Kommission ging jedoch auch unmittelbar auf einige Fälle des Verschwindenlassens ein, die zuvor vom Gerichtshof entschieden wurden. Nach einer eigenständigen Sachverhaltsaufklärung im Fall Castillo-Páez stellte die Kommission die Rechtsprechung des Gerichtshofes in dem Fall dar und bezog auch die weiteren Schritte der nationalen Justiz mit ein.47 Intensiver beschäftigte die Kommission sich mit dem kurz vor ihrem Einsetzen ergangenen Urteil zum Fall Barrios Altos. In ihrer Schlussfolgerung mit Empfehlungen an den Staat stützte sich die Kommission maßgeblich auf die Feststellungen des 43 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 292 f.; Contreras u. a. v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. August 2011, Abs. 211 f. 44 Contreras u. a. v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. August 2011, Abs. 210. 45 Gudiel Álvarez u. a. v. Guatemala, Merits, Reparations und Costs, Urteil vom 20. November 2012, Abs. 345 f. 46 CVR Informe Final, 2003, Bd. VI, S. 59, 67. 47 CVR Informe Final, 2003, Bd. III, S. 638 ff.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
IAGMR.48 Die Kommission hat darüber hinaus zudem auf Fälle und Berichte des Gerichtshofes verwiesen, die andere Staaten betrafen.49 Die Arbeit des Gerichtshofes und der Kommission hat dazu beigetragen, dass in Peru ein grundsätzliches Verständnis davon vorherrscht, was mit verschwundenen Personen nach ihrer Verhaftung passiert ist, obgleich das Interesse der Gesellschaft und der Medien an diesem Thema sehr gering ist.50 Dies liegt im Besonderen an der Opferstruktur der Verschwundenen. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern waren in Peru deutlich weniger Personen aus der Mittel- oder Oberschicht betroffen. In der Mehrzahl der Fälle wurden die Ärmsten der Gesellschaft in den zum Teil schwer zugänglichen abgeschiedenen Andenregionen verschwinden gelassen.51 Das größte Problem, mit dem Peru jedoch immer noch konfrontiert ist, besteht in dem Auffinden der sterblichen Überreste der Verschwundenen. Auch 13 Jahre nach dem Ende des Fujimori-Regimes ist nur ein sehr geringer Teil der Toten aufgefunden. In den Jahren 2002 bis 2012 hat der peruanische Staat lediglich 2.407 Leichen geborgen, von denen 1.574 identifiziert wurden.52 Ein Beispiel dafür ist der Fall Castillo-Páez, der sowohl durch die peruanische Wahrheitskommission als auch durch den Inter-Amerikanischen Gerichtshof und die nationale Justiz ausführlich bearbeitet wurde. Dennoch stellte der Gerichtshof 2011, 14 Jahre nach der Entscheidung in der Sache, fest, dass Peru seiner Verpflichtung zur Aufklärung des Verbleibs des Verschwundenen nicht ausreichend nachgekommen ist. Die Überreste von Castillo-Páez sind noch immer nicht aufgefunden worden und ausgenommen einiger inoffizieller Theorien sind die Angehörigen bis heute im Unklaren über das Schicksal des Verschwundenen.53 Die Equipo Peruano de Antropología Forense (EPAF) führt verschiedene Gründe für das Verschleppen der Suche an.54 Zunächst fehlt es an finanziellen Mitteln und geschultem Personal, um eine effektive Suche durchzuführen. Informationen und Forschungsstrategien werden in Peru nur unzureichend ausgetauscht. Zudem existiert keine genetische Datenbank, die es den Forschern ermöglichen würde, die Skelettreste mit der DNA der Angehörigen zu vergleichen.55 In einer Entscheidung von 2009 im Fall Anzualdo-Castro hielt der Gerichtshof Peru aus48
CVR Informe Final, 2003, Bd. III, S. 492 f. Rodríguez-Pinzón, S. 248 f. 50 Interview mit Jose Pablo Baraybar. 51 CVR Informe Final, 2003, Bd. VI, S. 74, 101 ff.; EPAF, Abs. 1. 52 EPAF, Abs. 2. 53 Castillo-Páez v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 19. Mai 2011, Abs. 9 f. 54 Den Fortschritt und die Hindernisse bei der Suche nach den Überresten verschwundener Personen in Ayacucho, der am stärksten betroffenen Region Perus werden detailliert in einer Publikation der peruanischen NGO COMISEDH dargestellt, COMISEDH, S. 27 ff. 55 EPAF, Abs. 5. 49
A. Pflicht zur Aufarbeitung
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drücklich zur Errichtung einer solchen Datenbank an, um die Ermittlung und Aufklärung der Verwandtschaft der Opfer sowie ihre Identifizierung voranzutreiben.56 Dieser Verpflichtung ist Peru bis heute nicht nachgekommen. Die Organisation des Militärs trägt zudem dazu bei, dass bis heute Schwierigkeiten bestehen, die Überreste verschwundener Personen aufzufinden. In Argentinien beispielsweise bestanden organisierte, routinierte und systematisierte Abläufe beim Verschwindenlassen. Verhaftete Personen wurden in die ESMA gebracht, dort gefoltert und dann umgebracht. Der gesamte Ablauf war geregelt und die Verantwortlichen führten Listen mit den Namen der entführten und ermordeten Personen.57 In Peru erfolgten hingegen viele lokale Entscheidungen durch niederrangige Militärangehörige, die ihre Opfer nach der Ermordung nicht in festgelegten Massengräbern vergruben, sondern an dem ihnen gerade am geeignetsten erscheinenden Ort. Es fehlte zudem an einem zentralen Register oder generellen Vorgaben über den Ablauf dieser Operationen.58 Dies erschwert die Suche erheblich, insbesondere wenn die Verantwortlichen mit den Behörden nicht kooperieren und sich weigern, Informationen über die Taten oder den Ort von Gräbern preis zu geben. Auch bei der Suche nach den Verschwundenen ist es von Bedeutung, dass viele Betroffene aus der peruanischen Unterschicht stammen. Ihre Angehörigen haben deutlich weniger Einfluss darauf, die Suche voranzutreiben. Nicht zuletzt fehlt es auch am politischen Willen, die Suche voranzutreiben. Der aktuelle Präsident Perus Ollanta Humala zeigt zwar ein größeres Interesse an Menschenrechten als viele seiner Vorgänger, dennoch handelt es sich bei ihm um einen ehemaligen hochrangigen Militärangehörigen. Humala wird mit Fällen des Verschwindenlassens während seiner Zeit als Kommandeur der Militärbasis „Madre Mia“ von 1992 bis 1993 in Verbindung gebracht. Ein Verfahren gegen ihn wurde jedoch 2009 wegen Mangels an Beweisen eingestellt.59 Dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof fehlt es an Durchsetzungsmechanismen, um die Umsetzung seiner Urteile sicherzustellen. Trotz verschiedener Monitoring-Entscheidungen, in denen Peru regelmäßig an seine Verpflichtung zur Aufklärung der Fälle erinnert wurde, hat der Staat seine Anstrengungen bei der Aushebung von Massengräbern und der damit verbundenen Analyse der Überreste nicht verstärkt. Die Forderungen des IAGMR bleiben somit in vielen Fällen ergebnislos. Weitere Schwierigkeiten in der Befolgung der Entscheidungen ergaben sich im Bereich der Veröffentlichung der Urteile in der nationalen Presse. Die Vorgaben 56 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 189. 57 Interview mit Jose Pablo Baraybar. 58 Interview mit Jose Pablo Baraybar; Interview mit Richter Diego García Sayán. 59 Zurzeit liegt der Inter-Amerikanischen Kommission eine Beschwerde im Fall „Madre Mia“ vor, Peru 21 vom 10. April 2012; Reuters vom 10. April 2012.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
des IAGMR wurden von Peru nicht ordnungsgemäß eingehalten und die Publikation der Urteile wurde zum Teil erheblich verzögert.60 Allerdings sind die Entscheidungen des Gerichtshofes über eine Informationsseite des peruanischen Justiz- und Menschenrechtsministeriums frei zugänglich.61 Von großer Bedeutung, nicht nur für die Angehörigen der Opfer, ist die offizielle öffentliche Anerkennung der Verantwortlichkeit durch den Staat. In Peru erfolgte diese staatliche Anerkennung nicht nur wie gefordert unter Anwesenheit der Angehörigen, sondern die Zeremonie wurde von einer breiten Medienöffentlichkeit begleitet und in Fernsehen und Radio übertragen.62 Allerdings hat sich das Militär bis heute für die begangenen Taten niemals öffentlich entschuldigt.63
II. Europäischer Gerichtshof Vor dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls war die Tatsachenermittlung vorrangig Aufgabe der Kommission. Der Gerichtshof behielt sich lediglich vor, die Fakten anders zu bewerten oder Umstände mit einzubeziehen, die sich erst nach Abschluss der Untersuchung durch die Kommission ereigneten.64 Seit der Reform obliegt allein dem Gerichtshof die Ermittlung der Fakten des Falls und seine grundsätzlich subsidiäre Rolle gegenüber der nationalen Beweisermittlung hat sich zu einer immer stärkeren Fact-Finding-Funktion entwickelt.65 Insbesondere beim Verschwindenlassen, das gekennzeichnet ist von fehlenden oder ungenügenden Ermittlungen, kann sich der Gerichtshof nicht auf eine sachgemäße Untersuchung der Tatsachen durch nationale Organe verlassen und muss selbst tätig werden. Er ist ermächtigt von den Parteien alle Beweise zu verlangen, die er für die Aufklärung des Sachverhalts geeignet findet. Zudem kann ein Richter dazu bestimmt werden, eine Vor-Ort-Untersuchung durchzuführen oder andere Maßnahmen zur Beweiserhebung zu ergreifen.66 Eigenständige Tatsachenfeststellungen sind jedoch die Ausnahme. Zwischen 1957 und 2009 wurden Kom-
60 La Cantuta v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 20. November 2009, Abs. 23 ff.; Gómez Palomino v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 5. Juli 2011, Abs. 17 ff. 61 Die Entscheidungen sind auf der Webseite „Sistema Peruano de Información Jurídica“ des Justiz- und Menschenrechtsministeriums verfügbar unter: http://spij.min jus.gob.pe/CLP/contenidos.dll?f=templates&fn=default-segciudadana.htm&vid=Ciclope: CLPjurisupranac. 62 La Cantuta v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 20. November 2009, Abs. 15. 63 Interview mit Miguel Huerta. 64 Schorm-Bernschütz, S. 36 f.; Leach/Paraskeva/Uzelac, S. 26, in außergewöhnlichen Fällen ermittelte der Gerichtshof jedoch auch selbst. 65 Schorm-Bernschütz, S. 37 f., 40. 66 Regel A1 des Anhangs zur Verfahrensordnung des EGMR.
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mission und Gerichtshof lediglich in 92 Fällen eigenständig tätig.67 Die Mehrheit der Untersuchungen erfolgte im Bezug auf schwere Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und damit auch in Fällen des Verschwindenlassens.68 Generell hat die Feststellung des Sachverhalts seit der Einführung des 11. Zusatzprotokolls deutlich abgenommen. Der Gerichtshof eröffnet nur in seltenen Fällen Ermittlungen.69 Betreffend Tschetschenien erfolgte nur ausnahmsweise eine Tatsachenfeststellung, was der Gerichtshof mit der Aussichtslosigkeit einer solchen Maßnahme begründete. „The Government refused to disclose any documents which could shed light on the fate of the applicant’s son and husband and did not present any plausible explanation concerning their alleged detention or subsequent fate. In view of this patent denial of cooperation, the Court is obliged to take a decision on the facts of the case with the materials available.“ 70
Dieser Mangel an eigenständigen Untersuchungen spiegelt sich auch in den Entscheidungen wider, die ausschließlich eine Auflistung der durch die Parteien eingebrachten Behauptungen und Beweise enthalten.71 Dennoch macht die Tatsachenfeststellung in den meisten Fällen einen erheblichen Teil der Entscheidung aus.72 Durch die ausführliche Wiedergabe des Sachverhalts in einer Vielzahl von Fällen des Verschwindenlassens lässt sich die Methodik dieser Repressionsmaßnahme deutlich nachzeichnen und die Entscheidungen tragen somit auch zur Aufarbeitung der Verbrechen bei. Ein gesamtgesellschaftliches Recht, die Wahrheit zu erfahren, kennt der Gerichtshof jedoch nicht. Die ordnungsgemäße Erfüllung der staatlichen Ermittlungspflichten in Fällen des Verschwindenlassens verlangt jedoch, dass nicht nur die Opfer in das Verfahren mit einbezogen werden, sondern zudem eine öffentli-
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Leach/Paraskeva/Uzelac, S. 24. Leach/Paraskeva/Uzelac, S. 26; Cavallaro/Brewer, The American Journal of International Law, Vol. 102, No. 4, 2008, 803 f. 69 Leach/Paraskeva/Uzelac, S. 28. 70 In vorherigen Verfahren hatte Russland sich kooperationsbereiter gezeigt, weshalb dann eine mündliche Verhandlung durchgeführt wurde, Imakayeva v. Russland, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 118 f. 71 Nur in den wenigen Fällen in denen die Kommission eine Untersuchung veranlasste gibt es in den Entscheidungen einen Abschnitt der die von ihr erhobenen schriftlichen und mündlichen Beweise zusammenfasst, Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 45 ff.; Ertak v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 27 ff.; Çiçek v. Türkei, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 22 ff. 72 Oftmals machen sie zwischen 40 und 50 % des Urteils aus, unabhängig davon ob eine eigenständige Tatsachenfeststellung des Gerichtshofs erfolgte oder nicht, Ertak v. Türkei, Urteil vom 9. Mai 2000; Tas¸ v. Türkei, Urteil vom 14. November 2000; Magomadova v. Russland, Urteil vom 18. Juni 2009; Batayev u. a. v. Russland, Urteil vom 17. Juni 2010; Akhmatkhanovy v. Russland, Urteil vom 22. Juli 2010; Vitayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 7. Juni 2011. 68
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
che Kontrolle stattfindet.73 Daraus kann geschlossen werden, dass nicht bloß die Erfüllung überwacht werden soll, sondern der Öffentlichkeit auch ein Interesse an den Ergebnissen der Untersuchung zugesprochen wird. Ausdrücklich betont der Gerichtshof in der El-Masri-Entscheidung im Zusammenhang mit dem USamerikanischen extraordinary rendition-Programm die Bedeutung des Rechts auf Wahrheit nicht nur für das Opfer und seine Familie, sondern auch für diejenigen Personen, die Opfer eines vergleichbaren Verbrechens wurden und die Gesellschaft als Ganzes.74 Diese Bedeutung sieht der Gerichtshof vor allem dadurch belegt, dass ein weltweites Interesse an diesem Programm besteht und das Verfahren vor dem EGMR eine Vielzahl an Anfragen verschiedener Nichtregierungs- und Regierungsorganisationen hervorrief.75 Ein eigenständiges Recht scheint der Gerichtshof daraus jedoch nicht ableiten zu wollen, sondern es soll vielmehr das Ausmaß dieser Methode über den Einzelfall hinaus betont werden. Dennoch überrascht es, dass sich eine vergleichbare Formulierung nicht in den Fällen bezüglich Russlands und der Türkei findet. Mit einer zu geringen Fallzahl kann es nicht zusammenhängen, da auch bei den Geschehnissen in Tschetschenien und der Türkei eine große Anzahl an Personen verschwinden gelassen wurde. Die öffentliche Aufmerksamkeit für einen Fall heranzuziehen, um daraus ein gesamtgesellschaftliches Interesse an der Aufklärung herzuleiten, ist jedoch verfehlt. Was die öffentliche Wahrnehmung dominiert ist von so vielen verschiedenen Faktoren abhängig, dass dies wohl kaum zur Abgrenzung herangezogen werden kann. Vielmehr sollte bei einer derart schweren Menschenrechtsverletzung wie dem Verschwindenlassen grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass auch die Öffentlichkeit ein Interesse an der Aufklärung des Falls hat. Beim Verschwindenlassen, das in seiner systematischen Praxis nicht selten gegen die Gesellschaft als Ganzes gerichtet ist, trifft dies im Besonderen zu. Die Einbeziehung der Gesellschaft als möglicher Adressat des Rechts auf Wahrheit war unter den Richtern nicht unumstritten. Einerseits sehen einige Richter in der Wahrheit ein wichtiges Mittel, um das Vertrauen der Menschen in öffentliche Institutionen und die Rechtsstaatlichkeit zu stärken.76 Auf der anderen Seite soll nach Auffassung der Richter Casadevall und López Guerra allein das Opfer und nicht die Öffentlichkeit zu einem Recht auf Wahrheit berechtigt sein.77
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Siehe 4. Teil, D., IV., 2., b). „In this connection it underlines the great importance of the present case not only for the applicant and his family, but also for other victims of similar crimes and the general public, who had the right to know what had happened.“, El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 191. 75 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 191. 76 Joint Concurring Opinion of judges Tulkens, Spielmann, Sicilianos and Keller, ElMasri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 6. 77 Joint Concurring Opinion of judges Casadevall and López Guerra, El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 6. 74
A. Pflicht zur Aufarbeitung
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In dem wegweisenden Urteil Aslakhanova v. Russland setzte sich der Gerichtshof im Rahmen des Art. 46 EMRK ausführlich mit der staatlichen Zurückhaltung bei der Aufarbeitung begangener Menschenrechtsverletzungen auseinander. Das Verhalten Russlands in der Ermittlung von Verschwindenlassen-Fällen stellt ein systematisches Problem dar.78 Die Beschwerdeführer führten dies auf einen Mangel an politischem Willen zurück, Verbrechen, die durch das Militär begangen wurden, aufzuklären.79 Auch die Zahlen, die Russland selber vorlegte, um die Effektivität der Untersuchungen zu belegen, weisen eher in eine andere Richtung. Zwischen 1999 und 2006 wurden demnach 1.876 Fälle des Verschwindenlassens registriert.80 Davon wurden lediglich 139 Fälle aufgeklärt und 95 Personen, die in diese Verbrechen verwickelt waren, wurden identifiziert. Für das Jahr 2002, in dem die meisten Fälle des Verschwindenlassens auftraten, lag die Aufklärungsquote bei nur 3,5 %.81 Erstmalig in dieser Entscheidung formulierte der EGMR konkrete Schritte, die eine Regierung für eine effektivere Aufklärung der Verbrechen ergreifen soll. Zum einen sollte Russland ein hochrangiges Gremium einsetzen, das für die Untersuchung dieser Fälle zuständig ist. Um die Qualität seiner Arbeit zu sichern, soll es uneingeschränkten Zugriff auf alle relevanten Informationen erhalten und eng mit den Angehörigen zusammenarbeiten. Zudem erachtet es der Gerichtshof als wesentlich, dass eine einheitliche Datenbank aller Fälle des Verschwindenlassens erstellt und aufrechterhalten wird, da diese weiterhin fehlt.82 Ferner ist die Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel von großer Bedeutung, um groß angelegte forensische und wissenschaftliche Arbeiten, wie beispielsweise die Lokalisierung und Exhumierung von mutmaßlichen Grabstätten, zu ermöglichen. Der Gerichtshof begrüßte die von der Regierung bereits unternommenen Schritte, sieht jedoch noch weiteren Verbesserungsbedarf.83 Um die Umsetzung zu gewährleisten, hielt er Russland dazu an, dem Ministerkomitee unverzüglich eine umfassende und zeitgebundene Strategie zum Umgang mit den Vorschlägen vorzulegen.84
III. Vergleich Die Tatsachenfeststellung dient nicht nur als Grundlage für eine juristische Beurteilung des Einzelfalls, sondern ist zudem für die Aufarbeitung der Vergangenheit und das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft von Bedeutung. Dieser 78
Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 216 f. Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 160. 80 Der tschetschenische Ombudsman geht hingegen von 5.000 Fällen aus; Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 80. 81 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 180. 82 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 225. 83 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 226. 84 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 238. 79
230
5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
ist insbesondere der Inter-Amerikanische Gerichtshof mit seiner ausführlichen Sachverhaltsermittlung gerecht geworden. In den vergangenen Jahren wurde sie jedoch aufgrund gestiegener Fallzahlen deutlich verringert. Aufgrund der Bedeutung einer umfassenden Sachverhaltsermittlung unter Einbeziehung direkter Zeugenbefragungen für die Allgemeinheit sollte eine Reduzierung in den Ermittlungen nur sehr beschränkt erfolgen. Zwar verwendet auch der Europäische Gerichtshof in Fällen des Verschwindenlassens viel Raum auf die Ermittlung des Sachverhalts, in der Anerkennung eines kollektiven Rechts auf Wahrheit ist er jedoch deutlich zurückhaltender. Allein in der El-Masri-Entscheidung sieht der EGMR aufgrund des großen internationalen Interesses an dem extraordinary rendition-Programm auch die Bedeutung für die ganze Gesellschaft ausdrücklich als gegeben an. Das Kriterium des öffentlichen Interesses lässt sich jedoch auch bezüglich Russlands und der Türkei bejahen, sodass der Gerichtshof auch in diesen Fällen ein kollektives Recht annehmen sollte. Im lateinamerikanischen Raum haben nach den Diktaturen und Bürgerkriegen der vergangenen Jahrzehnte Wahrheitskommissionen eine herausragende Bedeutung gehabt. Sie waren in der Regel die ersten Instrumente, die sich mit den Ereignissen während dieser Zeit beschäftigten, und dokumentierten umfassend die begangenen Menschenrechtsverletzungen. Der IAGMR konnte in seiner Rechtsprechung daher auf ihre Ergebnisse im Rahmen der Sachverhaltsermittlung zurückgreifen. Richtigerweise lässt er jedoch die alleinige Wahrheitsfindung nicht ausreichen, sondern verlangt zusätzlich eine juristische Aufarbeitung der Geschehnisse. Betreffend die Ereignisse in der Türkei und Russland kam es bisher nicht zur Gründung von Wahrheitskommissionen, die vom EGMR hätten berücksichtigt werden könnten. Die durch den EGMR formulierten Vorschläge in der Entscheidung Aslakhanova lassen jedoch vermuten, dass auch er die Arbeit von Wahrheitskommissionen und ähnlichen Gremien begrüßenswert findet, solange dies keine Einschränkung in der strafrechtlichen Verfolgung der Taten nach sich zieht. Welche überragende Bedeutung das Auffinden der sterblichen Überreste verschwundener Personen nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für die Vergangenheitsbewältigung der gesamten Gesellschaft hat, wurde durch beide Gerichtshöfe erkannt. Im Fall Aslakhanova umgeht der Europäische Gerichtshof die Einschränkungen des Art. 46 EMRK, indem er klare Vorschläge zur Verbesserung der Suche benennt. Der IAGMR wird insoweit deutlicher und verpflichtet die Staaten im Rahmen der nicht-finanziellen Wiedergutmachung dazu, die Taten aufzuklären und die Leichen zu suchen. Die Bemühungen der Staaten sollten aber darüber hinaus gehen und sie sollten dazu verpflichtet werden, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Überreste einer Person aufzufinden. Insbesondere in Ländern, in denen sich die Ausgrabung und Identifizierung von Leichen als
B. Pflicht zur Verhinderung
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schwierig erwiesen hat, wie im Beispiel Peru, sollte der IAGMR die Entwicklung einer staatlichen Strategie anordnen. Teilweise hat der Gerichtshof die Regierungen zur Einführung von genetischen Datenbanken angehalten, aber für eine effektive Aufarbeitung der Vergangenheit bedarf es zudem einer nationalen Strategie zur Koordinierung und Förderung der Suche nach verschwundenen Personen. Es ist positiv, dass der Inter-Amerikanische Gerichtshof den Staaten ermöglicht, ihre Verantwortung für begangene Menschenrechtsverletzungen im Zuge des Verfahrens einzuräumen. Staaten können dadurch das positive Signal an die Opfer senden, dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind und die Aufklärung der Taten aktiv unterstützen wollen. Für viele Angehörige ist das von großer Bedeutung, da sie oftmals viele Jahre mit dem Makel leben mussten, dass es sich bei ihren verschwundenen Angehörigen um terroristische Staatsfeinde handle. Die Anerkennung der Verantwortung darf jedoch nicht dazu führen, dass Staaten diesen Mechanismus nutzen, um die Aufmerksamkeit für ein Verfahren geringer zu halten. Dem Grundsatz folgend, dass das Recht auf Wahrheit auch eine vollumfängliche Sachverhaltsermittlung voraussetzt, hat der Gerichtshof auch bei Anerkennung der Verantwortlichkeit immer eine Sachverhaltsaufklärung durchgeführt und Zeugen, Opfer sowie Sachverständige befragt. Der Gefahr des Missbrauchs wird damit entgegengetreten.
B. Pflicht zur Verhinderung Menschenrechte schützen den Bürger vor staatlichen Eingriffen in elementare Freiheiten, damit diese ungehindert ausgeübt werden können. Daneben hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine staatliche Verpflichtung entwickelt, den Bürger auch aktiv vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Ihr Genuss soll sichergestellt werden und Eingriffe von staatlicher Seite, aber auch durch Private verhindert werden.85 Dass dies auch für das Verschwindenlassen gilt, zeigt sich an verschiedenen Regelungen des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen. Nach Art. 4 der UN-Konvention muss jeder Vertragsstaat das Verschwindenlassen in seinem Strafrecht unter Strafe stellen.86 Zudem besteht ein Abschiebeverbot, wenn die Person Gefahr läuft, sonst Opfer des Verschwindenlassens zu werden (Art. 16 Abs. 1 UN-Konvention) und Art. 17 der Konvention verpflichtet zu präventiven Maßnahmen, um eine geheime Haft zu verhindern. Auch die beiden Gerichtshöfe haben eine staatliche Pflicht zur Verhinderung des Verschwindenlassens anerkannt und die Staaten wiederholt an ihre Präventionspflichten erinnert. 85 Zur Entwicklung der positiven Maßnahmen („positive obligations“) ausführlich Vermeulen (2011), S. 155 f. 86 Art. 6 bis 9 der UN-Konvention konkretisieren zudem, welche Voraussetzungen dabei erfüllt sein müssen.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Der Staat muss alle angemessenen Schritte einleiten, um das Verschwindenlassen zu verhindern. Der IAGMR erkannte bereits in seinen frühen Urteilen die präventive Schutzpflicht des Staates, teilweise bezugnehmend auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, an.87 Als Rechtsgrundlage dienen die betroffenen materiell-rechtlichen Normen zusammen mit Art. 1 Abs. 1 AMRK. In Velásquez Rodriguez beschreibt der Gerichtshof die Pflicht zur Verhinderung wie folgt: „This duty to prevent includes all those means of a legal, political, administrative and cultural nature that promote the protection of human rights and ensure that any violations are considered and treated as illegal acts, which, as such, may lead to the punishment of those responsible and the obligation to indemnify the victims for damages.“ 88
Die Pflicht, eine Konventionsverletzung zu verhindern, bedeutet nicht, dass das Vorliegen einer solchen Verletzung eine Vernachlässigung dieser Pflicht nachweist. Es müssen nur angemessene Maßnahmen zur Verhinderung ergriffen werden. Der Gerichtshof erkennt an, dass auch ein Staat, der seine Verpflichtung gewissenhaft erfüllt und alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Prävention einsetzt, einen vollumfänglichen Schutz vor Rechtsverletzungen nicht garantieren kann.89 Angemessen ist danach ein solches Verhalten, das man realistischerweise vom Staat erwarten kann. Wird eine Person jedoch repressiven Organen unterworfen, die ungestraft foltern und morden, stellt das an sich eine Verletzung der Pflicht zur Verhinderung in Bezug auf das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche Unversehrtheit dar. Dies gilt selbst dann, wenn die Person nicht gefoltert wurde oder dieser Umstand nicht nachweisbar ist.90 1. Schutzpflichten Die Pflicht zu verhindern setzt zunächst voraus, dass der Staat Schutzmaßnahmen ergreift, wenn eine Person vom Verschwindenlassen bedroht ist. Im Zusammenhang mit dem in Art. 4 AMRK geschützten Recht auf Leben hat der Gerichtshof die Bedeutung der staatlichen Schutzpflicht besonders deutlich gemacht: „Compliance with Article 4, in combination with Article 1(1) of the American Convention, not only requires that no person be deprived of his life arbitrarily (negative obligation), but also that the States take all appropriate measures to protect and pre87 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 84; Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 124 f. 88 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 175. 89 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 175. 90 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 187.
B. Pflicht zur Verhinderung
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serve the right to life (positive obligation), as part of their duty to ensure full and free exercise of the rights by all persons under their jurisdiction. This active protection of the right to life by the State does not only involve legislators, but all State institutions and those who must protect security, both its police forces and its armed forces. Due to the above, the States must take all necessary measures not only to prevent and punish deprivation of life as a consequence of criminal acts, but also to prevent arbitrary executions by its own security forces.“ 91
Der aktive Schutz vor dem Verschwindenlassen trifft alle staatlichen Akteure, die für die Gewährleistung der Sicherheit zuständig sind. Demzufolge müssen Normen geschaffen werden, die zu einer Verhinderung der Taten führen und damit einhergehend zudem eine effektive Untersuchung und Strafverfolgung ermöglichen.92 Der Staat kann jedoch auch nicht für alle Rechtsverletzungen zwischen Individuen verantwortlich gemacht werden. „Indeed, the nature erga omnes of the treaty-based guarantee obligations of the States does not imply their unlimited responsibility for all acts or deeds of individuals, because its obligations to adopt prevention and protection measures for individuals in their relationships with each other are conditioned by the awareness of a situation of real and imminent danger for a specific individual or group of individuals and to the reasonable possibilities of preventing or avoiding that danger. In other words, even though an act, omission or deed of an individual has the legal consequence of violating the specific human rights of another individual, this is not automatically attributable to the State, because the specific circumstances of the case and the execution of these guarantee obligations must considered.“ 93
Im Cotton Field-Fall, in dem es um Fälle des Verschwindenlassens durch nicht-staatliche Akteure ging, unterschied der Gerichtshof zwischen der Phase vor dem Verschwindenlassen der Opfer und dem Zeitraum zwischen dem Verschwinden und dem Auffinden der Leiche.94 Vor dem Verschwindenlassen hätte der Staat nur dann aktiv werden müssen, wenn ihm eine gegenwärtige unmittelbare Gefahr für die Opfer bekannt gewesen wäre. Ein generelles Risiko für eine bestimmte Gruppe, wie in diesem Fall für junge arme Frauen in Ciudad Juárez, ist nicht ausreichend.95 In Fällen staatlichen Verschwindenlassens haben die behördlichen Stellen ihre Pflicht zur Verhinderung grundsätzlich verletzt.96 In den 91 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 110. 92 Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 120. 93 Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 123. 94 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 281. 95 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 282. 96 In Gelman v. Uruguay stellte der Gerichtshof fest: „The preparation and execution of the arrest and subsequent disappearance of María Claudia García could not have
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
ersten Stunden und Tagen nach dem Verschwinden einer Person obliegen den Staaten umfassende Ermittlungspflichten, um das Opfer zu finden und die drohende Ermordung abzuwenden.97 Die Ermittlung ist unabhängig davon, ob durch die Angehörigen eine Beschwerde eingereicht wurde, durchzuführen, da diese Pflicht ex officio besteht.98 Ebenfalls von Bedeutung sind Fälle, in denen Familienangehörige des Opfers, Zeugen oder Rechtsanwälte im Zusammenhang mit der Beschwerde Drohungen erhalten haben. Zum Schutz der Betroffenen erließ der Gerichtshof vorläufige Maßnahmen, die sich auf die staatliche Schutzpflicht stützten.99 Wird ein Staat diesen Schutzpflichten nicht gerecht und eine Person wird Opfer des Verschwindenlassens, nimmt der Inter-Amerikanische Gerichtshof eine Verletzung der Konventionsrechte, insbesondere des Art. 4 EMRK, aber auch weiterer Normen wie beispielsweise Art. 5 und 7 der Konvention an.100 Zudem legt der Gerichtshof einige Grenzen für den Freiheitsentzug fest, um Personen, die in Haft genommen wurden, vor dem Verschwindenlassen zu schützen. Aus Art. 7 Abs. 1 und 2 AMRK wird eine staatliche Verpflichtung abgeleitet, unabhängig von Grund und Dauer der Verhaftung ein Haftregister zu führen. In dieses muss der Name der verhafteten Person, der Grund für die Verhaftung, das Datum der Verhaftung und einer eventuell erfolgten Freilassung sowie ein Nachweis über die Anhörung vor dem zuständigen Richter, eingetragen werden.101 Geheime Gefangenenlager führen somit per se zu einer Verletzung des Art. 7 AMRK, da sie unmittelbar das Recht auf Freiheit betreffen.102 been perpetrated without the knowledge or higher orders of the military, police, and intelligence headquarters at the time, or without the collaboration, acquiescence, or tolerance, manifested in various actions, carried out in a coordinated or concatenated manner, by members of the security forces and intelligence services (and even diplomats) of the States involved, wherein State agents not only grossly failed in the obligations to prevent and protect against violations of the rights of the alleged victims, enshrined in Articles 1(1) of the American Convention, but also used the official investiture and resources provided by the State to commit the violations.“, Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 100. 97 González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 283. 98 Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 143; Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 108. 99 Siehe 4. Teil A., V., 1. 100 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 110 f.; Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 140. 101 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 178. 102 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 63; Ibsen Cárdenas und Ibsen Peña v. Bolivien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 1. September 2010, Abs. 63.
B. Pflicht zur Verhinderung
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Gemäß Art. 7 Abs. 4 AMRK muss der Festgenommene unverzüglich über die Gründe für die Ingewahrsamnahme informiert werden. Nur dadurch ist es dem Beschuldigten möglich, sein Recht auf Verteidigung ausüben zu können. Ist eine Belehrung nicht erfolgt und liegt dafür auch keine gesetzliche Ausnahme vor, hat der Staat seine Präventionspflicht verletzt.103 Es ist nicht ausreichend, wenn die Familie der verhafteten Person über die Gründe informiert wird.104 Ergänzend stellt der Gerichtshof fest, dass es dem Verhafteten möglich sein muss, seine Angehörigen über die Verhaftung zu informieren.105 Unverzüglich nach der Verhaftung ist die Person gemäß Art. 7 Abs. 5 AMRK einem Richter vorzuführen und ein Strafverfahren hat innerhalb einer angemessenen Frist zu erfolgen. Eine genaue Zeitspanne, innerhalb der die gerichtliche Überprüfung der Verhaftung zu erfolgen hat, wird durch den Gerichtshof nicht bestimmt. Er bezieht sich jedoch auf die Entscheidungen seines europäischen Pendants, wonach sich dies nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt, aber eine übermäßige Verlängerung nicht gerechtfertigt ist.106 Durch die richterliche Kontrolle soll willkürlichen Verhaftungen vorgebeugt werden und dem Verhafteten die Möglichkeit gegeben werden, seine Rechte geltend zu machen. Das Verschwindenlassen zeichnet sich jedoch gerade dadurch aus, dass dem Opfer diese Rechte nicht gewährt werden. Im Gegenteil bemühen sich die Täter im Verborgenen zu handeln und die Verantwortlichkeit wird von staatlicher Seite geleugnet.107 Der Gerichtshof betont deshalb die Bedeutung der sofortigen gerichtlichen Überprüfung einer Verhaftung, um eine Verletzung der Freiheitsrechte des Einzelnen zu verhindern.108 Art. 7 Abs. 6 AMRK gewährt jeder Person, der die Freiheit entzogen wurde, das Recht, sich an ein kompetentes Gericht zu wenden, um über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zu entscheiden. Dem Opfer wird durch das Verschwindenlassen und der damit verbundenen außergerichtlichen Ermordung die-
103 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 132 f.; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 79 ff. 104 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 82. 105 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 87. 106 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 84. 107 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 57 f.; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 83. 108 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 140.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
ses Recht entzogen.109 Allein die Angehörigen haben in der Regel die Möglichkeit, Rechtsschutz für den Verschwundenen zu erwirken. Adäquate Rechtmittel in Fällen des Verschwindenlassens sind dabei habeas corpus-Anträge.110 Habeas corpus schützt das Recht auf Freiheit und wirkt präventiv gegen Folter und Verschwindenlassen.111 Es ist dabei nicht ausreichend, dass die Möglichkeit zur Stellung eines habeas corpus-Antrags besteht, sondern dieser muss auch effektiv sein. Das bedeutet, dass ein solcher Antrag Ergebnisse produziert und gegen eine unberechtigte Freiheitsentziehung schützend wirkt.112 Es muss den Angehörigen möglich sein, auf schnellem juristischem Weg herauszufinden, wo sich die Person aufhält und in welchem gesundheitlichen Zustand sie sich befindet.113 Rechtsmittel, die aufgrund der generellen Situation im Land oder wegen des speziellen Falles aussichtslos sind, können nicht als effektiv gelten.114 Werden durch die Angehörigen verschiedene habeas corpus-Anträge gestellt, die das Verschwindenlassen einer Person nicht beenden, sieht der Gerichtshof die staatliche Pflicht zur Verhinderung als verletzt an.115 Diese Verletzung bezieht sich jedoch nur auf das Recht des Verschwundenen und nicht auf das der Angehörigen.116 2. Schaffen von nationalen Straftatbeständen Die Mitgliedsstaaten sind nach Art. 2 AMRK verpflichtet, ihre nationalen Gesetze anzupassen, um eine Verletzung der in der Konvention erfassten Rechte abzuwenden.117 Dies umfasst sowohl die Aufhebung sämtlicher Gesetze und
109 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 85; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 112; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs.74 ff. 110 Siehe 4. Teil, A., II., 1. 111 Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 103; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 192. 112 Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 102; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 191; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 121 f. 113 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 64. 114 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 191. 115 Dabei bezieht sich der Gerichtshof teilweise auf eine Verletzung der Art. 8 und 25 AMRK und teilweise auf eine Verletzung des Art. 7, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 193. 116 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 112. 117 Art. 2 AMRK.
B. Pflicht zur Verhinderung
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Praktiken, die eine Konventionsverletzung darstellen, als auch die Verabschiedung von Gesetzen zum Schutz der garantierten Rechte.118 Eine Norm, die sich speziell mit dem Verschwindenlassen beschäftigt, findet sich in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention nicht. Dennoch war der Gerichtshof in seinen Entscheidungen mit der Frage konfrontiert, ob die Staaten dazu verpflichtet sind, Straftatbestände zum Schutz vor dem Verschwindenlassen in ihre nationalen Rechtsordnungen einzuführen. Eine eigenständige Norm, die das Verschwindenlassen im nationalen Strafrecht verbietet, erachtete der Gerichtshof bereits in seinen frühen Urteilen als wünschenswert, konnte aus der Konvention jedoch keine Verpflichtung zur Schaffung eines solchen ableiten.119 In Bámaca-Velásquez wurden die Definitionen des Verschwindenlassens in Art. II der Inter-Amerikanischen Konvention gegen Verschwindenlassen und diejenige des guatemaltekischen Strafgesetzbuchs gegenübergestellt. Überprüft wurde die nationale Norm jedoch nicht, obwohl Guatemala sich der Konvention damals bereits unterworfen hatte.120 In seinen späteren Entscheidungen stellte der Gerichtshof in Verbindung mit der Inter-Amerikanischen Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen auch eine Pflicht zur Normierung eines nationalen Straftatbestandes zum Verschwindenlassen fest. „. . . as part of its obligation to establish an appropriate legal framework so that the investigation is effective, States must, in the first place, classify the forced disappearance of persons as an autonomous crime in their domestic legislation, on the understanding that the criminal prosecution can be an essential channel to prevent future human rights violations.“ 121
Die Normierung eines eigenständigen Straftatbestands ist von erheblicher Bedeutung, um das Verschwindenlassen zu verhindern und eine effektive Strafverfolgung zu ermöglichen.122 Aufgrund seiner Schwere ist es nicht ausreichend, den Unrechtsgehalt mit dem bereits vorhandenen Strafrecht zu erfassen.123 Zudem muss ein entsprechender Straftatbestand eine genaue Beschreibung des 118 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 180. 119 Auch ohne einen Straftatbestand des Verschwindenlassens sind die Behörden verpflichtet, strafrechtliche Schritte einzuleiten, Caballero-Delgado und Santana v. Kolumbien, Reparations and Costs, Urteil vom 29. Januar 1997, Abs. 56. 120 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 126 f. 121 Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 66. 122 Der Gerichtshof überprüft dabei im Einzelfall, ob es sich auf das Strafverfahren negativ ausgewirkt hat, dass kein eigenständiger Straftatbestand des Verschwindenlassens bestand, Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 166. 123 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 92; Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 181.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
strafbaren Verhaltens beinhalten.124 Der Gerichtshof bezieht sich dabei immer auf den Art. III der Inter-Amerikanischen Konvention gegen das Verschwindenlassen, der die Staaten dazu anhält, das Verschwindenlassen in einer eigenständigen Norm unter Strafe zu stellen.125 Staaten, die sich der Konvention nicht unterworfen haben, können vom Gerichtshof somit nicht überprüft werden, allerdings ruft er diese Staaten dazu auf, die Konvention zu ratifizieren.126 Seit dem Inkrafttreten der UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen stellt auch diese eine Grundlage für die staatliche Pflicht zur Schaffung eines Straftatbestandes dar.127 Im Fall Trujillo Oroza befasste sich der Gerichtshof in der Entscheidung über die Wiedergutmachung mit der Normierungspflicht. In Bolivien war ein Gesetz zur Schaffung eines eigenständigen Straftatbestands auch viele Jahre nach der Ratifizierung der Konvention noch nicht verabschiedet. Der Gerichtshof hielt den Staat dazu an, das Gesetz unverzüglich in Kraft zu setzen, um negativen Auswirkungen auf die Strafverfolgung entgegenzuwirken.128 Interessanterweise geht der Gerichtshof sogar so weit, dass er die im nationalen Recht verankerten Straftatbestände an internationalen Standards überprüft. Im Fall Gómez-Palomino v. Peru beschäftigte sich der Gerichtshof mit dem in Art. 320 des peruanischen Strafgesetzes normierten Straftatbestand des Verschwindenlassens129 und formuliert drei wesentliche Kritikpunkte.130 Zunächst kritisiert er, dass der Täterkreis der peruanischen Norm zu beschränkt sei. Alle Personen, die an einem Verschwindenlassen beteiligt sind, müssen bestraft werden und eine Begrenzung auf Beamte, wie in Peru vorgesehen, ist nicht ausrei124 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 181. 125 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 186; Ticona Estrada et al. v. Bolivien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 2008, Abs. 105; Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai, 2010, Abs. 215. 126 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 174. 127 Torres Millacura u. a. v. Argentinien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 26. August 2011, Abs. 148 f. 128 Trujillo-Oroza v. Bolivien, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2002, Abs. 97 f.; zur Problematik, das Verschwindenlassen unter Mord zu subsummieren, siehe Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 183. 129 Art. 320 des peruanischen Strafrechts bestimmte: „[the] public official or servant who deprives any person of their liberty by either ordering or carrying out actions leading to the duly proven disappearance of any such person, shall be punished by imprisonment for not less than fifteen years and disqualification from office, pursuant to Article 36(1) and (2) of the Criminal Code.“, Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 98. 130 Zu einer sehr ähnlichen Kritik kam der Gerichtshof auch im Fall Radilla-Pacheco v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 23. November 2009, Abs. 315 ff.
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chend.131 Gerade im Fall Perus war es nicht nur der Staat, der das Verschwindenlassen eingesetzt hat, sondern auch terroristische Gruppen. Zudem ist unklar, ob paramilitärische Organisationen von dieser Definition umfasst werden. Der nächste Kritikpunkt bezieht sich auf die gesetzliche Definition des Verschwindenlassens. Das Leugnen der Freiheitsentziehung und die Verschleierung des Schicksals des Verschwundenen sind wesentliche Elemente des Delikts und müssen daher auch Teil der Definition sein.132 Dadurch soll sichergestellt werden, dass das Verschwindenlassen von anderen ähnlichen Straftaten, wie beispielsweise der unrechtmäßigen Verhaftung und Mord, unterschieden werden kann, damit die Richter der Schwere der Tat gerecht werden können.133 Der dritte Punkt beschäftigt sich mit der Beweislastverteilung. Art. 320 verlangt, dass das Verschwindenlassen ordnungsgemäß nachgewiesen ist („duly proven“), was eine Beweislast für die Angehörigen nahelegt. Dies widerspricht jedoch den Vorgaben der Inter-Amerikanischen Konvention. Das Verschwindenlassen zeichnet sich dadurch aus, dass es im Verborgenen stattfindet, sodass den Opfern und ihren Vertreten nicht auferlegt werden kann, die Taten nachzuweisen.134 Peru wird dazu verpflichtet, sein nationales Recht anzupassen.135 Eine ähnliche Prüfung unterzog der Gerichtshof dem panamaischen Straftatbestand des Verschwindenlassens in Heliodoro Portugal.136 Neben den bereits in Gómez-Palomino v. Peru genannten Kritikpunkten wurden noch weitere Punkte bemängelt. Die Definition des Verschwindenlassens beinhaltete einige Zweideutigkeiten bezüglich der Form der Freiheitsentziehung sowie der Leugnung selbiger.137 Zudem erinnert er Panama daran, dass Tat und Strafe in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen138 und dass der Straftatbestand des Verschwindenlassens den Dauercha131 132 133 134
Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 101 f. Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 103 f. Citroni, Revista Institutional Qatary Panituri, No. 2 2010, S. 7. Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 106 f.,
149. 135
Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 149. Art. 150 des panamaischen Strafgesetzes normiert: „The public servant who, in abuse of his functions or in violation of legal procedures, shall deprive one or more persons of their physical liberty in whatever form or, knowing their whereabouts, refuses to provide this information when it is requested, shall be punished with from three to five years’ imprisonment. The same punishment applies to private individuals who act with the authorization or support of the public servants. If the forced disappearance is for more than one year, the punishment shall be from ten to fifteen years’ imprisonment“; Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 190. 137 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 192 ff. 138 Panama unterschied beim Strafmaß nach der Länge der Freiheitsentziehung und dem Vorliegen eines systematischen Vorgehens, Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 202 f. 136
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
rakter des Delikts berücksichtigen muss139. Schlussendlich wurde Panama auch dafür gerügt, dass es über 10 Jahre benötigte, um seiner Normierungspflicht im nationalen Strafrecht nachzukommen.140 Obwohl Staaten, die noch keinen Straftatbestand normiert haben, vom Gerichtshof mit Nachdruck dazu angehalten werden, werden keine genauen Vorgaben aufgestellt, was eine solche Norm als Mindestmaß enthalten soll. In Gomes Lund führten die Opfer Kriterien an, die eine Strafnorm enthalten müsse, welche in der Entscheidung vom Gerichtshof jedoch ignoriert wurden.141 Viele lateinamerikanische Länder haben mittlerweile aufgrund der Inter-Amerikanischen Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen und der Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes nationale Straftatbestände zum Verschwindenlassen verabschiedet.142 Dort stellt sich jedoch die Frage, ob diese neue Norm ohne Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot in einem Strafverfahren herangezogen werden kann, wenn sie zum Tatzeitpunkt noch nicht in Kraft war. Dies bejaht der Gerichtshof mit Verweis auf den Dauercharakter des Verschwindenlassens, der die Tat erst mit Auffinden des Verschwundenen bzw. seiner Überreste enden lässt.143 3. Weitere Präventionsmaßnahmen Der Gerichtshof hat den Staaten zuweilen weitere Präventionsmaßnahmen auferlegt, um eine Wiederholung ähnlicher Geschehnisse zu verhindern (Guarantees of non-repetition). In verschiedenen Entscheidungen wurde der Aufbau menschenrechtlicher Bildungsprogramme für Mitglieder des Geheimdienstes und des Militärs, der Polizei sowie Richter und Staatsanwälte angeordnet. Diese sollen permanent fortgeführt werden, um eine dauerhafte Veränderung in den staatlichen Institutionen herbeizuführen.144 Wiederholt werden die Staaten aufgefordert, Erinnerungsstätten zu errichten, die dazu beitragen sollen, die Geschehnisse im kollektiven Gedächtnis zu behalten, wodurch ihnen auch eine präventive Wir139 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 206 f. 140 Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 187. 141 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 285 ff. 142 Art. 236 paraguayanisches Strafgesetzbuch; Art. 201 ter guatemaltekisches Strafgesetzbuch; Art. 142 ter argentinisches Strafgesetzbuch. 143 Tiu Tojín v. Guatemala, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 26. November 2008, Abs. 86 f. 144 Blanco-Romero u. a. v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Abs. 106; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 240 ff.; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 193; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 278.
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kung zukommt.145 In La Cantuta ordnete der Gerichtshof beispielsweise an, dass die Namen der verschwundenen Personen innerhalb eines Jahres in eine bereits bestehende Gedenkstätte in Peru eingraviert werden sollten.146 4. Auswirkungen in Peru Das Verschwindenlassen von Personen wird heutzutage in Peru weder systematisch noch vereinzelt von staatlicher Seite betrieben. Auch von privaten Akteuren begangene Taten, die unter die Definition des Verschwindenlassens fallen, sind nicht bekannt. Die administrativen Strukturen sind jedoch nicht immer so ausgerichtet, dass einem Verschwindenlassen effektiv entgegengewirkt werden kann. Es bestehen verschiedene gesetzliche Regelungen, die verhafteten Personen grundlegende Rechte einräumen.147 Der Betroffene oder seine Angehörigen haben zudem die Möglichkeit, habeas corpus-Anfragen zu stellen.148 Art. 32 Código Procesal Constitutional beschäftigt sich sogar ausdrücklich mit dem Verschwindenlassen und ermächtigt den zuständigen Richter, in einem solchen Fall alle Maßnahmen zu ergreifen, die zum Auffinden der Person notwendig sind.149 Allerdings ist deren Durchsetzung nicht immer gewahrt. Beispielsweise haben Richter und Staatsanwälte auf der Suche nach einer verhafteten Person keine rechtliche Möglichkeit, polizeiliche oder militärische Haftanstalten zu betreten. Die Überprüfung von habeas corpus-Anfragen ist somit stark beschränkt und auch die Angaben in den Haftregistern sind nur schwer zu verifizieren.150 Das peruanische Strafrecht beinhaltet seit 1991 einen eigenständigen Straftatbestand des Verschwindenlassens.151 Im Zuge der Antiterrorgesetzgebung wurde
145 Mapiripán Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 15. September 2005, Abs. 315. 146 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 236. 147 Art. 25 Código Procesal Constitutional beinhaltet eine Reihe von Rechten, darunter unter anderem auch, innerhalb von 24 Stunden nach der Verhaftung einem Richter vorgeführt zu werden oder das Recht eines Verhafteten, seinen Anwalt anzurufen. 148 Art. 26 ff. Código Procesal Constitutional. 149 Art. 32 Código Procesal Constitutional besagt: „Sin perjuicio del trámite previsto en los artículos anteriores, cuando se trate de la desaparición forzada de una persona, si la autoridad, funcionario o persona demandada no proporcionan elementos de juicio satisfactorios sobre su paradero o destino, el Juez deberá adoptar todas las medidas necesarias que conduzcan a su hallazgo, pudiendo incluso comisionar a jueces del Distrito Judicial donde se presuma que la persona pueda estar detenida para que las practiquen. Asimismo, el Juez dará aviso de la demanda de hábeas corpus al Ministerio Público para que realice las investigaciones correspondientes.“ 150 Interview mit Giovanna Vélez Fernández. 151 Der Wortlaut der Norm besagte: „Any public official or servant who deprives any person of their liberty by either ordering or carrying out actions for the disappearance of any such person shall be sentenced to no less than fifteen years’ imprisonment and
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dieser jedoch bereits ein Jahr später wieder außer Kraft gesetzt, um nach nur zwei weiteren Jahren durch einen neuen Straftatbestand ersetzt zu werden, der noch bis heute gilt.152 Art. 320 des peruanischen Strafgesetzbuches besagt: „Any public official or servant who deprives any person of their liberty by either ordering or carrying out actions leading to the duly proven disappearance of any such person, shall be punished by imprisonment for not less than fifteen years and disqualification from office, pursuant to Article 36(1) and (2) of the Criminal Code.“ 153
1998 wurde in das peruanische Strafgesetzbuch das Kapitel „Straftaten gegen die Menschlichkeit“ eingeführt, in das das Verschwindenlassen von Personen eingegliedert wurde.154 Wie bereits dargestellt, hatte der Gerichtshof einige Kritikpunkte an dieser Norm, die sich vor allem auf den eingeschränkten Täterkreis, eine nicht vollumfängliche Definition der Tat sowie die unzureichende Beweislastverteilung konzentrierte.155 Peru wurde aufgegeben, Nachbesserungen an diesem Paragrafen vorzunehmen, die jedoch bisher immer noch nicht erfolgt sind. Ein Änderungsgesetz zur Schließung dieser Lücken wurde nie verabschiedet. Die strafrechtliche Kammer des obersten peruanischen Gerichts (Salas Penales y Transitorias de la Corte Suprema del Perú) hat am 13. November 2009 ein Übereinkommen zur verbindlichen Interpretation des Verschwindenlassens angenommen, wodurch den Schwierigkeiten in der Anwendung des aktuellen Straftatbestands des Verschwindenlassens entgegengewirkt werden soll.156 In der Übereinkunft werden internationale Instrumente zum Schutz vor dem Verschwindenlassen und die Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs, nicht nur bezüglich Peru, stark berücksichtigt.157 Dennoch bestehen weiterhin erhebliche Lücken, die eine Straflosigkeit der Täter ermöglichen. Das Gericht bestärkt die Beschränkung des Täterkreises auf Beamte. Nur staatliche Akteure, die auch 1991 bei Inkrafttreten des Straftatbestandes des Verschwindenlassens ins peruanische Strafgesetzbuch noch weiterhin staatliche Beamte waren, können für ihre Taten verfolgt werden. Nach Ansicht des Gerichts wäre die Strafverfolgung von punished by disqualification.“; Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.28. 152 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.29 f. 153 Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Urteil vom 22. November 2005, Abs. 54.30; das aktuelle peruanische Strafgesetzbuch ist auch online verfügbar unter http://spij.min jus.gob.pe/CLP/contenidos.dll?f=templates&fn=default-codpenal.htm&vid=Ciclope:CLP demo. 154 Vélez Fernández, S. 108. 155 Siehe 5. Teil, B., I., 2., für eine genaue strafrechtliche Analyse des Art. 320 und seinen Beschränkungen. 156 Oberstes Gericht Peru, Acuerdo Plenario No 9-2009/CJ 116, 13. November 2009. 157 Das Gericht bezieht sich an mehreren Stellen auf die Rechtsprechung des InterAmerikanischen Gerichtshofes, Oberstes Gericht Peru, Acuerdo Plenario No 9-2009/CJ 116, 13. November 2009, Abs. 9, 13 und 14.
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Personen, die bereits vorher aus dem öffentlichen Dienst ausschieden, ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot.158 Dadurch wird die Strafverfolgung stark eingeschränkt, da eine Vielzahl der Fälle in den 80er Jahren begangen wurden. Das Gericht kommt zu diesem Ergebnis, obwohl es zu Beginn selber feststellt, dass der Inter-Amerikanische Gerichtshof die Beschränkung des Art. 320 auf Beamte als eine Verletzung internationaler Standards wertet. Die vom IAGMR formulierten Anforderungen an den nationalen Straftatbestand des Verschwindenlassens sind folglich immer noch nicht ausreichend umgesetzt worden. Dies wird sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern.159 In La Cantuta wurde Peru dazu angehalten, erforderliche Maßnahmen zur Schulung und Weiterbildung der Mitglieder des Geheimdienstes, der Streitkräfte und der nationalen Polizei zu ergreifen. Innerhalb einer angemessenen Frist soll der Staat Programme entwickeln, um die Menschenrechtsbildung in diesen Organisationen voranzutreiben.160 In den vergangenen Jahren wurden in den Ausbildungsstätten von Militär und Polizei zwar einige Kurse zu Menschenrechten eingeführt, allerdings sind diese Schulungen nicht obligatorisch, sodass Peru seiner Verpflichtung nur teilweise nachgekommen ist.161
II. Europäischer Gerichtshof Im Zusammenhang mit dem Verschwindenlassen hat sich der Gerichtshof vorrangig mit der Frage beschäftigt, ob die Staaten Schutzmaßnahmen für das später verschwundene Opfer hätten ergreifen müssen. Diese Verpflichtung wurde erstmalig in der Entscheidung Osman v. Vereinigtes Königreich artikuliert. In dem Fall hatte der ehemalige Lehrer eines fünfzehnjährigen Jungen diesen verletzt und dessen Vater umgebracht.162 Dem Ereignis gingen verschiedene Warnungen voraus, sodass die Beschwerdeführerin den Behörden vorwarf, ihre Familienangehörigen nicht ausreichend geschützt zu haben. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Staaten eine generelle Pflicht trifft, geeignete Schritte zu unternehmen, um das Leben aller Menschen in ihrem Zuständigkeitsbereich zu schützen. Diese Verpflichtung interpretiert der Gerichtshof jedoch dahingehend, dass sie keine unmögliche oder unverhältnismäßige Belastung für die Behörden darstellt. Ein bestimmtes Ergebnis, in der Regel der Schutz der Person, wird somit nicht
158 Oberstes Gericht Peru, Acuerdo Plenario No 9-2009/CJ 116, 13. November 2009, Abs. 15. 159 Interview mit Giovanna Vélez Fernández. 160 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 240. 161 La Cantuta v. Peru, Monitoring Compliance with Judgment, Urteil vom 20. November 2009, Abs. 35; Interview mit Augusto Medina Otazu. 162 Osman v. Vereinigte Königreich, Urteil vom 28. Oktober 1998, Abs. 56 f.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
vorausgesetzt. Es wird ebenso nicht verlangt, dass es dem Staat gelingt, die Täter zu ermitteln und zu bestrafen.163 Eine Verletzung der positiven Verpflichtung des Art. 2 EMRK setzt vielmehr voraus, dass „. . . it must be established to its satisfaction that the authorities knew or ought to have known at the time of the existence of a real and immediate risk to the life of an identified individual or individuals from the criminal acts of a third party and that they failed to take measures within the scope of their powers which, judged reasonably, might have been expected to avoid that risk.“ 164
Auf diese Formel bezog sich der Gerichtshof auch in vielen nachfolgenden Entscheidungen zum Verschwindenlassen. Erstmalig im Fall Mahmut Kaya stellte der EGMR fest, dass die Türkei ihrer Schutzpflicht nicht ausreichend nachgekommen ist. Auch wenn eine staatliche Beteiligung an der Tat nicht nachgewiesen werden konnte, ist der Staat dazu verpflichtet, wirksame strafrechtliche Bestimmungen zur Abschreckung einzuführen und zudem eine Strafverfolgungsbehörde zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung von Verstößen zu unterhalten.165 Bezugnehmend auf die zuvor in Osman entwickelte Formel stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Täter den Behörden bekannt waren.166 Nachfolgend beschäftigte sich der EGMR mit der Frage, ob für das Opfer eine unmittelbare Lebensgefahr bestand. Die Regierung war der Auffassung, das Opfer wäre nicht gefährdeter gewesen als andere Personen in der Region. Der Gerichtshof kam jedoch zu der Überzeugung, dass für den Verschwundenen eine erhöhte Gefahr bestand, die den Sicherheitskräften durchaus bekannt war.167 Zudem befand er, dass die Behörden nicht alles in ihrer Macht stehende getan haben, um den Betreffenden zu beschützen. Zwar beinhaltet das türkische Strafgesetzbuch die wesentlichen Straftatbestände und es bestehen auch entsprechende Durchsetzungsmechanismen, allerdings erachtet der EGMR diese aus verschiedenen Gründen als mangelhaft. Ferner wurden eine Reihe präventiver Maßnahmen durch den beschwerdegegnerischen Staat nicht ergriffen.168 Deshalb sah der Gerichtshof den Schutz des Opfers als nicht gewährleistet an. Auch in den nachfolgenden Entscheidungen hat der Gerichtshof anhand dieser drei Kriterien entschieden, ob dem Opfer ein ausreichender Schutz gewährt wurde: Bestand eine unmittelbare Gefahr für das Leben des Opfers (1);169 war 163 Osman v. Vereinigte Königreich, Urteil vom 28. Oktober 1998, Abs. 115 f.; Tekdag˘ v. Türkei, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 79. 164 Osman v. Vereinigte Königreich, Urteil vom 28. Oktober 1998, Abs. 116. 165 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 85. 166 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 87. 167 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 87 ff. 168 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 92 ff. 169 Koku v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 129 ff.; Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 75; Turluyeva v. Russland, Urteil vom 20. Juni 2013, Abs. 91; Dobriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 19. Dezember 2013, Abs. 81.
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den Behörden diese Gefahr bekannt oder hätten sie diese erkennen können (2);170 inwieweit bestanden legislative und administrative Maßnahmen sowie solche der Judikative zum Schutz des Opfers (3)171. Das erste Kriterium sah der EGMR in der Regel als erfüllt an, da ein Verschwindenlassen in der südöstlichen Türkei und in Tschetschenien grundsätzlich lebensbedrohlich ist. Dies gilt im Besonderen, wenn die Person zuvor Drohungen erhalten hat.172 Ein Verschwinden von Personen außerhalb dieser Gebiete führt nicht grundsätzlich zur Annahme der unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben, sondern diese muss dargelegt werden.173 Dass den Behörden die Gefahr bekannt war, sah der Gerichtshof als gegeben an, wenn sie durch die Angehörigen über das Verschwinden informiert wurden.174 Ob dieses Kriterium erfüllt ist, war vor allem in den Fällen Medova und Tsechoyev fraglich. In Medova v. Russland wurde das Opfer von vier Männern verhaftet und in ein Auto gezwungen. Die Gruppe wurde später an einem militärischen Kontrollpunkt angehalten und die Entführer weigerten sich zunächst, sich zu identifizieren. Erst später wiesen sie Ausweispapiere des russischen Inlandsgeheimdienstes (FSB) und eine Genehmigung für die Verhaftung von Herrn Medova vor. Nachdem das Büro der Staatsanwaltschaft die Gültigkeit der Ausweispapiere und die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung bestätigt hatte, wurden die Männer freigelassen. Anschließend verschwand Herr Medova und die FSB-Abteilung für Tschetschenien leugnete jegliche Beteiligung an dem Fall.175 Der EGMR stellte fest, dass die Behörden es versäumt hätten, eine erkennbare Gefahr für das Leben der Person zu verhindern. Zu diesem Ergebnis kam er vor allem aufgrund des alarmierenden Verhaltens der Entführer sowie einigen Versäumnissen in der Überprüfung der von ihnen gemachten Angaben.176 In Tsechoyev v. Russland kam der Gerichtshof zu einem vergleichbaren Ereignis. Das Opfer wurde von Personen in Polizeiuniform aus der Untersuchungshaft abgeholt. Sie konnten sich ausweisen und das Opfer wurde ihnen mitgegeben. Erst später stellten sich die vorgelegten Unterlagen als
170 Koku v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 133 ff.; Gongadze v. Ukraine, Urteil vom 8. November 2005, Abs. 168; Osmanog˘lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 77; Turluyeva v. Russland, Urteil vom 20. Juni 2013, Abs. 91; Dobriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 19. Dezember 2013, Abs. 81. 171 Koku v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 135 ff.; Gongadze v. Ukraine, Urteil vom 8. Novmeber 2005, Abs. 169 f.; Tsechoyev v. Russland, Urteil vom 15. März 2011, Abs. 135; Turluyeva v. Russland, Urteil vom 20. Juni 2013, Abs. 91. 172 Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 75; Medova v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 97. 173 In Dobriyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 19. Dezember 2013, Abs. 84 verschwanden vier Personen in St. Petersburg. 174 Koku v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 133; Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 77. 175 Medova v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 11 f., 17, 72, 97. 176 Medova v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 98 f.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
gefälscht heraus.177 In diesem Fall befand der Gerichtshof, dass den Staat eine besondere Verpflichtung zur Aufarbeitung der Geschehnisse trifft, da sich der Verschwundene zuvor in staatlicher Obhut befand. Dennoch konnte der Gerichtshof für den Zeitpunkt der Entführung keine Hinweise darauf erkennen, dass für Herrn Tsechoyev Lebensgefahr bestand. Eine Verletzung der positiven Verpflichtung, das Leben des Betroffenen zu schützen, nahm der Gerichtshof somit nicht an.178 Das dritte Kriterium bezüglich der vom Staat zu ergreifenden Schutzmaßnahmen bezog der EGMR vorrangig auf die Durchsetzung der strafrechtlichen Normen und die durchgeführten Ermittlungen.179 In der Entscheidung Osmanog˘lu zählte der EGMR sogar eine Reihe von Maßnahmen auf, die von den Behörden hätten ergriffen werden können.180 Von Bedeutung für den Osman-Test ist zudem die Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates mit dem Gerichtshof. In einer abweichenden Meinung zu Osmanog˘lu, in der die Richter sich gegen eine Verletzung der staatlichen Schutzpflichten aussprachen, war ein wesentliches Kriterium die Mitarbeit der Türkei bei der Aufklärung des Falls. Anders als in der vorherigen Entscheidung zu Koku hatte der Staat eine Vielzahl an Dokumenten eingereicht und der EGMR somit keine negativen Schlüsse aus dem Verhalten gezogen.181 Ähnlich verhielt sich der Staat im Fall Tsechoyev in dem er 380 Seiten aus den Ermittlungsakten einreichte.182 Da in diesem Fall keine Verletzung der Schutzpflicht angenommen wurde kann davon ausgegangen werden, dass sich die Mitwirkung des Staates positiv auswirkt.183 Zum Schutze von Personen vor dem Verschwindenlassen nach und während einer Verhaftung normiert Art. 5 EMRK eine Reihe von Garantien für den Verhafteten. In der Kurt-Entscheidung betont der Gerichtshof die Bedeutung des Artikels 5 EMKR zur Verhinderung willkürlicher Verhaftung und Verschwindenlassen.
177
Tsechoyev v. Russland, Urteil vom 15. März 2011, Abs. 139. Tsechoyev v. Russland, Urteil vom 15. März 2011, Abs. 141 f. 179 Tekdag ˘ v. Türkei, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 80; Koku v. Türkei, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 136 ff.; Osmanog˘lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 78 ff. 180 Darunter unter anderem die Überprüfung von Orten zu denen das Opfer mutmaßlich gebracht wurde, der Versuch Augenzeugen für den Vorfall zu finden sowie Aussagen von Beteiligten sicher zu stellen; Osmanog˘lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 81; vgl. Turluyeva v. Russland, Urteil vom 20. Juni 2013, Abs. 97. 181 Joint Dissenting Opinion of judges Türmen, Vajic and Steiner, Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, S. 20. 182 Tsechoyev v. Russland, Urteil vom 15. März 2011, Abs. 33. 183 Vermeulen, S. 413. 178
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„The Court notes at the outset the fundamental importance of the guarantees contained in Article 5 for securing the right of individuals in a democracy to be free from arbitrary detention at the hands of the authorities. It is precisely for that reason that the Court has repeatedly stressed in its case-law that any deprivation of liberty must not only have been effected in conformity with the substantive and procedural rules of national law but must equally be in keeping with the very purpose of Article 5, namely to protect the individual from arbitrariness. This insistence on the protection of the individual against any abuse of power is illustrated by the fact that Article 5 § 1 circumscribes the circumstances in which individuals may be lawfully deprived of their liberty, it being stressed that these circumstances must be given a narrow interpretation having regard to the fact that they constitute exceptions to a most basic guarantee of individual freedom.“ 184
Der EGMR betont insbesondere die Bedeutung der Absätze 3 und 4 des Art. 5 EMRK, die eine schnelle gerichtliche Überprüfung der Verhaftung gewährleisten. Durch unverzügliches gerichtliches Eingreifen können Misshandlungen und lebensbedrohliche Situationen für das Opfer verhindert werden.185 Grundsätzlich stellt der EGMR in den Fällen des Verschwindenlassens jedoch eine allgemeine Verletzung des Art. 5 EMRK fest und unterlässt eine detaillierte Prüfung der einzelnen Absätze dieser Norm. Ebenso wie der Inter-Amerikanische Gerichtshof sieht der EGMR in dem Führen von Haftregistern eine weitere präventive Maßnahme. „In the view of the Court, the absence of holding data recording such matters as the date, time and location of detention, the name of the detainee as well as the reasons for the detention and the name of the person effecting it must be seen as incompatible with the very purpose of Article 5 of the Convention.“ 186
Vermeulen geht davon aus, dass die Voraussetzungen an ein Haftregister kumulativ bestehen, da bereits das Fehlen eines Elements die Ermittlungsbehörden in ihren Untersuchungen einschränken.187 Ohne sorgfältige Haftunterlagen wird es den Verantwortlichen erleichtert, ihre Beteiligung an der Freiheitsentziehung zu verbergen und Spuren zu verwischen.188 Diese Verpflichtung erlöscht auch dann nicht, wenn sich der Staat in einer Konfliktsituation oder einer grundsätzlich angespannten Situation befindet.189 Die Einführung eines konkreten Straftatbestandes zum Verschwindenlassens verlangt der EGMR in seinen Urteilen nicht. Im Rahmen des Art. 2 EMRK sieht
184
Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 122. Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 123. 186 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 125. 187 Vermeulen, S. 292. 188 Kurt v. Türkei, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 125; Magomadova v. Russland, Urteil vom 18. Juni 2009, Abs. 158; Khantiyeva u. a. v. Russland, Urteil vom 29. Oktober 2009, Abs. 136; Vakhayeva u. a. v. Russland, Urteil vom 29. Oktober 2009, Abs. 177. 189 Zypern v. Türkei, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 148. 185
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
es der Gerichtshof jedoch als primäre Aufgabe des Staates an, wirksame strafrechtliche Bestimmungen einzuführen, um die Begehung von Straftaten zu verhindern.190 In Aslakhanova v. Russland bemängelten die Beschwerdeführer, dass Fälle des Verschwindenlassens in Russland grundsätzlich unter Art. 126 des Strafgesetzbuches eröffnet werden, der sich mit der Entführung von Personen beschäftigt. Diese Vorschrift ist unzureichend um dem komplexen Phänomen des Verschwindenlassens gerecht zu werden.191 Der EGMR geht auf diese Forderung nicht direkt ein, sondern stellt vielmehr generell fest, dass auch legislative Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Anforderungen an das Übereinkommen zu erfüllen.192 Das Ministerkomitee des EGMR hat sich in einigen Empfehlungen für weitere Präventionsmaßnahmen ausgesprochen, die allerdings generell gehalten sind und sich nicht alleine auf das Verschwindenlassen beziehen. Die Mitgliedstaaten sollen sicherstellen, dass ihre Gesetze und Verwaltungspraxis mit den Vorgaben der EGMR übereinstimmen,193 sowie regelmäßig überprüfen, ob effektive nationale Rechtsmittel für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen bestehen194. Zudem sollen sie in den Bereichen Polizei und Militär professionelle Trainings anbieten.195 Bezüglich der Situation in der Türkei sprach sich das Ministerkomitee für eine Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere im Hinblick auf den gerichtlichen Rechtsschutz, sowie für eine verbesserte Ausbildung der Sicherheitskräfte und eine Stärkung der gerichtlichen Unabhängigkeit aus.196
III. Vergleich Damit es erst gar nicht zu einer Verletzung der Konventionsrechte kommt, sind die Staaten dazu angehalten Schutzmaßnahmen zu ergreifen um ein Verschwin-
190 Osmanog ˘ lu v. Türkei, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 72; Medova v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 95; Tsechoyev v. Russland, Urteil vom 15. März 2011, Abs. 135. 191 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 162, 166. 192 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 210. 193 Rec(2004)5E of the Committee of Ministers to member states on verification of the compatibility of draft laws, existing laws and administrative practice with the standards laid down in the European Convention on Human Rights, 12. Mai 2004. 194 Rec(2004)6E of the Committee of Ministers to member states on the improvement of domestic remedies, 12. Mai 2004. 195 Rec(2004)4E of the Committee of Ministers to member states on the European Convention on Human Rights in university education and professional training, 12. Mai 2004. 196 IntResDH(2002)98, on the Action of the security forces in Turkey: progress achieved and outstanding problems, 10. Juli 2002; CM/ResDH(2008)69E, on the Execution of the judgements of the European Court of Human Rights – Actions of the security forces in Turkey – Progress achieved and outstanding issues, 18. September 2008.
B. Pflicht zur Verhinderung
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denlassen zu verhindern. Beide Gerichtshöfe haben die Bedeutung präventiver Maßnahmen erkannt und sind nicht davor zurückgeschreckt Staaten wegen der Verletzung ihrer Schutzpflichten zu verurteilen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist in der Konkretisierung der dabei verletzten Pflichten jedoch deutlich zurückhaltender als sein inter-amerikanisches Gegenstück. Obwohl er eine Verletzung des Rechts auf Sicherheit und Freiheit in Art. 5 EMRK regelmäßig angenommen hat, stellt er diese immer nur generell fest und geht nicht auf die einzelnen Voraussetzungen dieser Norm ein. Beide Konventionen beinhalten detaillierte Regelungen zum Schutz verhafteter Personen und werden damit der Tatsache gerecht, dass sich diese in besonders bedrohlichen Situationen befinden. Allerdings stellt der EGMR lediglich fest, dass nach dem Verschwinden einer Person effektive Ermittlungen zu erfolgen haben und die Staaten dazu angehalten sind amtliche Register über die Personen zu führen, denen die Freiheit entzogen wurde. Beide Gerichtshöfe haben nicht weiter bestimmt, wem Zugriff auf die Haftregister gewährt werden muss. Nicht selten wurden Ermittlungsrichter und Staatsanwälte am Gefängnistor abgewiesen. Es wurde auch nicht konkretisiert, welche Besuchs- und Informationsrechte die Angehörigen bei einer Verhaftung haben. Es ist jedoch vor allem der EGMR, der sich nach der Feststellung einer Verletzung des Art. 5 EMRK auf keine weiteren Fragen im Zusammenhang mit einer Verhaftung einlässt. Dadurch nimmt sich der Gerichtshof nicht nur die Möglichkeit an einer Fortentwicklung des Rechts im Bereich präventiver Maßnahmen mitzuwirken, sondern erweckt auch den Anschein, dass diesem Bereich weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Die aktuell vor dem Europäischen Gerichtshof entschiedenen Fälle betreffen jedoch gerade keine Länder in denen das Verschwindenlassen ein längst überwundenes Problem darstellt. Ganz im Gegenteil ist das Verschwindenlassen in Tschetschenien bis heute hoch aktuell und es wäre daher umso wichtiger Russland verstärkt zu konkreten präventiven Maßnahmen anzuhalten. Zwar konkretisiert der EGMR in Fällen unrechtmäßiger Verhaftung die staatlichen Schutzpflichten, allerdings gibt es beim Verschwindenlassen Besonderheiten die so keine Berücksichtigung finden. Der IGAMR hat in seiner Rechtsprechung Staaten regelmäßig dazu angehalten, eigenständige Straftatbestände über das Verschwindenlassen in ihre nationale Rechtsordnung einzuführen. Teilweise ging der Gerichtshof soweit bereits bestehende Normen auf ihre Effektivität zu überprüfen. Der Europäische Gerichtshof hat, abgesehen von der generellen Verpflichtung zur Einführung wirksamer strafrechtlicher Regelungen, eine explizite Kriminalisierung des Verschwindenlassens im nationalen Recht nicht gefordert. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass im Europäischen System keine regionale Konvention vorhanden ist, die sich mit dem Verschwindenlassen beschäftigt. Eine vergleichbare Verpflichtung ergibt sich auch nicht aus der EMRK. Begrüßenswert ist, dass mittlerweile auch das europäische System die präventive Wirkung von Bildungsprogrammen erkannt hat. Maßnahmen zur Menschen-
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
rechtsbildung stellen insbesondere in Post-Konflikt-Staaten einen wichtigen Schritt dar, um die Wirksamkeit von Menschenrechten zu gewährleisten. Präventive Maßnahmen die Personen davor schützen Opfer des Verschwindenlassens zu werden sind von herausragender Bedeutung. Das vorrangige Ziel des Staates muss es sein Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Auch wenn beide Gerichtshöfe dies grundsätzlich erkannt haben, hat insbesondere der EGMR wenig konkret festgestellt, welche Maßnahmen durch den Staat hätten ergriffen werden müssen um seiner Präventionspflicht zu genügen. Die Staaten haben sich zudem als sehr zurückhaltend bei der Umsetzung präventiver Maßnahmen gezeigt. Am Beispiel Perus wurde dargelegt, dass die Regierung trotz sehr konkreter Kritik am nationalen Straftatbestand des Verschwindenlassens auch viele Jahre nach dieser Entscheidung keine Verbesserungen vorgenommen hat. Das nationale Rechtssystem ist insgesamt nicht ausreichend auf die Verhinderung von zukünftigen Taten ausgerichtet, trotz der umfangreichen Rechtsprechung des IAGMR. Generelle Feststellungen der Verletzung der staatlichen Schutzpflicht erscheinen somit wenig zielführend. Erfolgsversprechender ist es hingegen, sehr konkrete präventive Maßnahmen aufzuzeigen und deren Umsetzung regelmäßig zu überwachen. Dies erfolgte beispielsweise im Fall Gómez Palomino, in dem der Gerichtshof Peru wiederholt aufforderte, zu den Verzögerungen der legislativen Änderungen Stellung zu nehmen.197
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz Für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ist die Strafverfolgung der Verantwortlichen ein wichtiges Element auf dem Weg zur Aufarbeitung und Wiedergutmachung der Taten. Für die Angehörigen von Verschwundenen stellen die Verfahren zusätzlich ein adäquates Mittel dar, um die Wahrheit über den Tathergang und den Verbleib der verschwundenen Person zu erfahren. Wahrheitskommissionen die ein Strafverfahren ersetzen sollen, sind keine ausreichende Alternative, da sie zwar gut dazu geeignet sind institutionelle Verantwortlichkeiten aufzuzeigen, aber eine Festsetzung persönlicher Schuld nicht Teil ihrer Zuständigkeit ist.198 Die Strafverfolgung stellt zudem ein elementares Mittel zur Verhinderung zukünftiger Fälle des Verschwindenlassens dar. Viele Opfer befürchten, dass eine Wahrheitsfindung ohne die Täter persönlich zur Verantwortung zu ziehen, diese für zukünftige Taten ermutigt.199 Zudem haben nicht nur die Opfer, sondern auch
197 Gómez Palomino v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 21. Dezember 2010, Abs. 26 ff.; Gómez Palomino v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 5. Juli 2011, Abs. 33 ff. 198 Aldana-Pindell, Vanderbilt Journal of Transnational Law, 2002, S. 1442 f. 199 Aldana-Pindell, Vanderbilt Journal of Transnational Law, 2002, S. 1444.
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz
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die ganze Gesellschaft ein Interesse an der juristischen Aufarbeitung von schweren Menschenrechtsverletzungen.200 Fälle des Verschwindenlassens sind jedoch besonders oft von einer mangelnden strafrechtlichen Aufarbeitung betroffen. Durch das Verleugnen der Tat von staatlicher Seite und die Vernichtung aller wichtigen Beweise wird eine Strafverfolgung der Täter regelmäßig unmöglich gemacht. Juristische Schritte zur Aufklärung und die Ermittlung der Täter werden regelmäßig verzögert oder ad absurdum geführt. Gerade in den lateinamerikanischen Ländern herrschte über viele Jahre ein Klima der Straflosigkeit, die sich auch nach dem Ende der Diktaturen durch Amnestiegesetze fortsetzte. Eine juristische Aufarbeitung der Vergangenheit wurde dadurch verhindert.
I. Inter-Amerikanischer Gerichtshof Aufgrund der weit verbreiteten Straflosigkeit in Lateinamerika hat sich der Inter-Amerikanische Gerichtshof intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit nationale Strafverfolgungsorgane in Fällen des Verschwindenlassens tätig werden müssen. Unter Straflosigkeit versteht der Gerichtshof „the total lack of investigation, prosecution, capture, trial and conviction of those responsible for violations of the rights protected by the American Convention, in view of the fact that the State has the obligation to use all the legal means at its disposal to combat that situation, since impunity fosters chronic recidivism of human right violations, and total defenselessness of victims and their relatives.“ 201
Dabei wird zwischen de jure und de facto Straflosigkeit unterschieden. De jure Straflosigkeit liegt vor, wenn eine Strafverfolgung aufgrund von Amnestiegesetzen nicht erfolgt. Zunehmend beschäftigt sich der Gerichtshof auch mit Fällen in denen die Staaten de facto keine Anstrengungen zur Feststellung der individuellen strafrechtlichen Verantwortung vornehmen.202 In Velásquez-Rodríguez stellte der Gerichtshof erstmalig fest, dass die Staaten eine Pflicht trifft, die Verantwortlichen für das Verschwindenlassen strafrechtlich zu verfolgen. „. . . the States must prevent, investigate and punish any violation of the rights recognized by the Convention . . .“ 203
200 Eine ausführliche Darstellung über die Gründe der Opfer für eine Strafverfolgung siehe Aldana-Pindell, Vanderbilt Journal of Transnational Law, 2002, S. 1443 ff. 201 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 211; Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 143; Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 60. 202 Seibert-Fohr, S. 51. 203 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 166.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
Die sog. „duty to punish“, die sich aus Art. 1 Abs. 1 AMRK ergibt, besteht unabhängig von den anderen Pflichten zur Aufarbeitung und Verhinderungen der Verbrechen.204 Selbst wenn der Staat an dem Verschwindenlassen nicht beteiligt war oder dies nicht nachweisbar ist, liegt eine Konventionsverletzung vor, wenn der Staat seiner Ermittlungs- oder Strafverfolgungspflicht nicht nachgekommen ist.205 In dieser ersten Entscheidung beschäftigt sich der Gerichtshof nur generell mit der staatlichen Verpflichtung zur Strafverfolgung.206 Insbesondere wird Honduras nicht dazu angehalten ein strafrechtliches Verfahren zur Ermittlung und Bestrafung der Täter einzuleiten. Erst in den späteren Urteilen wird diese Verpflichtung vom Gerichtshof aufgegriffen. Drucker kann sich zwei mögliche Gründe für dieses Fehlen vorstellen: Zum einen könnte sich der Gerichtshof in seinen allerersten Entscheidungen unsicher darüber gewesen sein, ob er nach Art. 63 Abs. 1 der Konvention zur Anordnung solcher Maßnahmen überhaupt ermächtigt ist. Plausibler erscheint ihm hingegen, dass dem Gerichtshof die Durchsetzung unmöglich erschien, da zum Zeitpunkt des Urteils viele Militäroffiziere die in die Tat verstrickt waren, noch einflussreiche Ämter innehatten. Wäre das Urteil aufgrund dieser Umstände nicht umgesetzt worden hätte das einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust für den Gerichtshof bedeutet, insbesondere da es sich um seine erste Entscheidung handelte.207 In seiner jüngeren Rechtsprechung entschied der Gerichtshof zunehmend, dass die Ermittlung der Verantwortlichen und deren Bestrafung Teil des Wiedergutmachungsanspruchs der Opfer ist.208 Im Laufe der Zeit entwickelten sich eine Vielzahl von Kriterien, die vom Staat erfüllt werden müssen um seiner Pflicht zur Strafverfolgung zu genügen. Der Staat muss vor allem „. . . sanction effectively and within a reasonable time period those responsible for the forced disappearances that occur within its jurisdiction, assuring that it complies with the same nature of the punishment and avoiding impunity.“ 209
Demnach muss die Strafverfolgung in einer angemessenen Zeit erfolgen (1.) und effektiv sein (2.). In einigen Ländern beschäftigten sich Militärgerichte mit den Taten, was die Frage aufwirft ob diese zuständig sind (3.). Die Zulässigkeit von Amnestien (4.) sowie eine internationale Verpflichtung zur Zusammenarbeit
204
Seibert-Fohr, S. 54. Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 173. 206 Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 176 ff. 207 Drucker, 25 Stan. J. Int’l L. 289, S. 318 f. 208 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Operative Abs. 8; Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 227. 209 Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 200. 205
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz
253
(5.) wurden ebenfalls vom Gerichtshof untersucht und haben erheblich zur strafrechtlichen Aufarbeitung des Verschwindenlassens in Peru beigetragen (6.). 1. Angemessene Zeit Nach Art. 8 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention hat jedermann innerhalb einer angemessenen Zeit („reasonable time“) das Recht auf ein faires Verfahren. Davon wird neben dem Recht der Opfer die Wahrheit über die Tat zu erfahren auch die Bestrafung der Verantwortlichen umfasst.210 Fast alle nationalen Verfahren des Verschwindenlassens zeichnen sich dadurch aus, dass über Jahre hinweg keine Anstrengungen zur strafrechtlichen Aufarbeitung erfolgten oder diese sogar behindert wurden. Der Gerichtshof musste sich daher wiederholt der Frage stellen, wann ein Verfahren innerhalb einer angemessen Zeit erfolgt. Bezugnehmend auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte211 müssen drei Faktoren bei der Bestimmung der angemessenen Zeit herangezogen werden: Die Komplexität des Falls (1.), die prozessualen Aktivitäten der beteiligten Parteien (2.) und das Verhalten der Justizbehörden (3.).212 In der jüngsten Rechtsprechung folgte als viertes Kriterium noch die Berücksichtigung der Auswirkungen die diese Situation auf die Verfahrensbeteiligten hat.213 Ein Verfahren endet mit einem abschließenden Urteil und umfasst auch die Berufung.214 Eine starre zeitliche Grenze kennt der Gerichtshof nicht und lässt sich einen weiten Interpretationsspielraum.215 Um die Komplexität eines Falls festzustellen wird untersucht welche Beweise den Behörden zur Verfügung standen und welche Verfahrensdauer damit zu erwarten ist.216 Zudem werden bereits eingeleitete juristische Schritte untersucht
210 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Abs. 97; 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 188; Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 66. 211 Der IAGMR bezieht sich dabei jedoch nicht auf Fälle des Verschwindenlassens vor dem EGMR. 212 Auch wenn der Gerichtshof auf die einzelnen Kriterien nicht näher eingeht, Suárez-Rosero v. Ecuador, Merits, Urteil vom 12. November 1997, Abs. 72; ebenso Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 63 d; Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 149. 213 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 255. 214 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 189. 215 In Serrano Cruz zogen sich die Untersuchungen fast 8 Jahre hin, Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 68; in Anzualdo Castro zog sich das Verfahren seit über 15 Jahren hin; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 156 f. 216 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 203.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
und in ein Verhältnis zu anderen Verfahren gesetzt.217 Ein überlanges Verfahren an sich stellt in der Regel eine Verletzung der Verfahrensgarantien dar, außer dem Staat gelingt es nachzuweisen, dass die Verzögerung mit der Komplexität des Verfahrens zusammen hängt.218 Zumeist wurde die Komplexität von Verschwindenlassen Fällen anerkannt, die Verzögerung aber dennoch mit der Inaktivität der Behörden begründet.219 Zudem berücksichtigt der IAGMR das Verhalten der betroffenen Personen, obwohl die Ermittlungen ex officio erfolgen müssen. Ein spezielles Verhalten wird von den Betroffenen nicht erwartet, allerdings findet es Berücksichtigung wenn sich die Parteien um das Voranschreiten des Verfahrens bemüht haben.220 Bezüglich des dritten Kriteriums analysiert der Gerichtshof sehr detailliert jedes Handeln und Unterlassen der zuständigen Behörden. Insbesondere wird dabei einbezogen was unternommen wurde um die Beschuldigten aufzufinden.221 Trotz der nachträglichen Einführung des 4. Merkmals hat der Gerichtshof dieses bei der Bestimmung des angemessenen Zeitrahmens bisher nicht weiter berücksichtigt.222 Dadurch soll jedoch gewährleistet werden, dass in Situationen in denen die rechtliche Situation besonders belastend für die Opfer ist, das Verfahren weiter beschleunigt werden muss.223 In Fällen des Verschwindenlassens, in denen die Ermittlung des Tathergangs eng mit dem Strafverfahren verzahnt ist, stehen die Angehörigen regelmäßig unter besonderem Leidensdruck, sodass dieses Kriterium immer erfüllt ist. 217 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 130. 218 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 191; SerranoCruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 69; González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 257. 219 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 70 f.; Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 184; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 157. 220 In Juan Humberto Sánchez fand es Erwähnung, dass die Angehörigen trotz Drohungen durch das Militär wiederholt über die Tat ausgesagt haben, Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 132; in Heliodoro Portugal finanzierten die Angehörigen den DNATest zur Identifizierung von Mr. Portugal, Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 151. 221 Juan Humberto Sánchez v. Honduras, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 7. Juni 2003, Abs. 131; Heliodoro Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Abs. 152 ff. 222 González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 261. 223 Valle Jaramillo u. a. v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 2008, Abs. 155.
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz
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Das Recht der Opfer auf ein faires Verfahren in angemessener Zeit kann im Widerspruch zu dem Erfordernis eines rechtsstaatlichen Verfahrens stehen. Zuweilen fällt insbesondere bei komplexen Fällen die Beweisführung schwer und es bedarf eines zeitlichen und personellen Mehraufwandes. Zudem muss dem Beschuldigten eine angemessene Zeit zur Verfügung gestellt werden seine Verteidigung vorzubereiten.224 Die Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes überwiegt gegenüber der Garantie eines Verfahrens in angemessenen Zeit.225 2. Effektivität Die Effektivität der Strafverfolgung, die in Art. 25 Abs. 1 AMRK226 gewährt wird, ist für den Inter-Amerikanischen Gerichtshof von besonderer Bedeutung: „The guarantee of an effective remedy ,constitutes one of the basic pillars, not only of the American Convention, but also of the rule of law in a democratic society in the meaning of the Convention.‘ This guarantee to protect the rights of the individual includes not only the direct safeguard of vulnerable people but, also, the next of kin, who, owing to the specific circumstances and events of the case, are those who file the claim in the domestic order.“ 227
Daraus folgt, dass die reine Existenz eines Rechtsmittels nicht ausreichend ist, sondern es muss sich als effektiv in der Durchsetzung der Konventionsrechte erweisen. „[. . .] the formal existence of remedies is not sufficient; these must be effective, in other words, they must provide results or responses to the violations of rights included in the Convention. [. . . T]hose remedies that, owing to the general conditions of the country or even the particular circumstances of a case, are illusory cannot be considered effective. This may occur, for example, when there uselessness has been shown in practice, because the jurisdictional body lacks the necessary independence to decide impartially or because the means to execute its decisions are lacking; or owing to any other situation that establishes a situation of denial of justice, as happens when there is unjustified delay in the decision.“ 228
Habeas corpus-Anfragen sind beim systematisch angewandtem Verschwindenlassen grundsätzlich ineffektiv.229 Die Ineffektivität des Strafverfahrens muss an224
Seibert-Fohr, S. 78. La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 149; Anzualdo Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Abs. 156. 226 Art. 25 Abs. 1 bestimmt: „Everyone has the right to simple and promt recourse, or any other effective recourse, to a competent court or tribunal . . .“. 227 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 193; SerranoCruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 75. 228 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 192 zitiert nach Baena-Ricardo u. a. v. Panama, Competence, Urteil vom 28. November 2003, Abs. 77; La Palmeras v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 6. Dezember 2001, Abs. 58. 229 Siehe 4. Teil, A., II., 1. 225
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
hand des Einzelfalls geprüft werden. In der Entscheidung Serrano Cruz analysiert der Gerichtshof die juristischen Anstrengungen El Salvadors sehr detailliert und stellt verschiedene Defizite fest. Den Ermittlungsorganen und Richtern wird eine grundsätzlich passive Haltung bei der Erhebung der Beweise nachgewiesen. Wesentliche Eigenschaften des Falls blieben unberücksichtigt und das Gericht hat sich bei der Ermittlung des Sachverhalts bereits mit sehr wenigen Informationen zufrieden gegeben.230 Zudem sind die Staaten dazu angehalten, die Opfer bzw. Angehörigen beim Gerichtsverfahren mit einzubeziehen. Sie haben das Recht gehört zu werden und es muss ihnen die Möglichkeit gegeben werden am Verfahren und bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Diese prozessualen Garantien dürfen nicht dazu führen, dass der Staat seine Pflicht ex officio zu ermitteln vernachlässigt.231 Die Verurteilung der Straftäter wird dabei grundsätzlich nicht vorausgesetzt, sondern der Staat muss alle Maßnahmen ergreifen die zu einer effektiven Strafverfolgung führen. In der Entscheidung Villagrán-Morales gegen Guatemala ließ der Gerichtshof jedoch die nicht erfolgte Verurteilung der Täter ausreichen um eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 AMKR anzunehmen. „. . . Guatemala conducted various judicial proceedings on the facts. However, it is clear that those responsible have not been punished, because they have not been identified or penalized by judicial decisions that have been executed. This consideration alone is enough to conclude that the State has violated Article 1.1 of the Convention, since it has not punished the perpetrators of the corresponding crimes . . . What is important is that, independently of whether or not they were the perpetrators of the unlawful acts, the State should have identified and punished those who were responsible, and it did not do so.“ 232
Nachfolgend wird das nationale Verfahren jedoch einer genauen Überprüfung unterzogen, woraus sich schließen lässt, dass der Gerichtshof eben keine ergebnisorientierte Sichtweise einnimmt, sondern vor allem die Bemühungen der Staaten von Bedeutung sind. Dafür spricht auch, dass der IAGMR Situationen anerkennt, in denen eine Bestrafung der Täter nicht möglich erscheint.233 Die im
230
Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Urteil vom 1. März 2005, Abs. 90 ff. Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 117; González Medina und Familie v. Dominikanische Republik, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2012, Abs. 253 f. 232 Villagran-Morales et al. v. Guatemala, Merits, Urteil vom 19. November 1999, Abs. 228. 233 „Even in the hypothetical case that those individually responsible for crimes of this type cannot be legally punished under certain circumstances, the State is obligated to use the means at its disposal to inform the relatives of the fate of the victims and as may be the case, the location of their remains.“, Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 181. 231
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz
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Zuge der Strafverfahren erzielten Ergebnisse können jedoch einen Hinweis darauf geben, als wie effektiv die eingesetzten Mittel zu bewerten sind.234 Viele postdiktatorischen lateinamerikanischen Staaten, insbesondere wenn ein gewaltfreier Wandel zur Demokratie erfolgte, waren in den ersten Jahren nach dem Übergang davon geprägt, dass ehemalige führende Militärs weiterhin hohe Ämter im Staat bekleideten. Dennoch ist dafür Sorge zu tragen, dass nicht nur ausführende Kräfte wie beispielsweise Polizeibeamte oder Gefängniswärter verfolgt werden und die führenden Köpfe hinter den Taten unbehelligt bleiben. Es ist nicht ausreichend nur einen Teil der Täter zu verfolgen oder sich auf einige wenige Täter zu konzentrieren und dabei andere Ermittlungswege zu vernachlässigen.235 Zudem darf das Strafverfahren nicht durch ein verwaltungsrechtliches Verfahren ersetzt werden. Bezugnehmend auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte stellt der Inter-Amerikanische Gerichtshof fest, dass Verfahren die lediglich die Feststellung zivilrechtlicher Verantwortlichkeit und die Gewährung von Wiedergutmachung zum Ziel haben, als Ersatz für einen Strafprozess nicht ausreichen.236 3. Zuständigkeit von Militärgerichten In Lateinamerika erfolgten viele Fälle des Verschwindenlassens im Zuge einer in den Staaten herrschenden Militärdiktatur. Selbst wenn die Ausführung der Taten nicht unmittelbar von Militärangehörigen vorgenommen wurden, waren es oberste Militärs die generelle Direktiven zur systematischen Verfolgung und Eliminierung von Oppositionellen ausgaben. Bei der strafrechtlichen Verfolgung dieser Täter haben zuweilen Militärgerichte ihre Zuständigkeit begründet. Nach Auffassung des Inter-Amerikanische Gerichtshofes können Militärgerichte in einem demokratischen Rechtsstaat nur sehr begrenzt strafrechtliche Verfahren durchführen. Nur in Ausnahmefällen, in denen durch einen Armeeangehörigen eine Tat begangen wurde, die spezielle militärische Interessen betrifft, können sie ihre Zuständigkeit begründen.237 Wird ein Fall, der von einem ordentlichen Gericht gehört werden muss, trotzdem vor einem Militärgericht verhandelt, stellt dies a fortiori eine Verletzung des Rechts auf einen gesetzlichen Richter gemäß Art. 8
234
Ebenso Vermeueln, S. 366. González u. a. v. Mexiko, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 16. November 2009, Abs. 346. 236 Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 207 f. 237 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 165; Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Abs. 189. 235
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
Abs. 1 AMRK dar.238 Militärgerichten fehlt es an der notwendigen Objektivität, da sie wie beispielsweise in Peru der Exekutive untergeordnet sind und die Richter selber im aktiven Dienst stehen.239 Die Rechte der Angehörigen auf ein faires Verfahren können somit nur durch ordentliche Gerichte gewährleistet werden. Zunehmend finden auch die Recht des Beschuldigten bei der Ablehnung von Militärgerichten eine Rolle.240 Dieser Begründung folgend müssen alle Verdächtigen durch ordentliche Gerichte verfolgt werden. Das gilt auch für Personen die von einem Militärgericht freigesprochen wurden. Trotz des Grundsatzes ne bis in idem dürfen sie erneut vor ein ordentliche Gericht gestellt werden, da ihr Freispruch von einem nicht zuständigen Gericht erfolgte.241 4. Amnestien Amnestien waren im Lateinamerika der siebziger und achtziger Jahre eine beliebte Methode den Tätern von Menschenrechtsverletzungen bei einem Regimewechsel strafrechtlich Unversehrtheit zu sichern.242 Erst in seiner jüngeren Rechtsprechung hat sich der Gerichtshof mit diesen Amnestien auseinandergesetzt. In Castillo-Páez erörtert er im Rahmen der Wiedergutmachung die in Peru geltenden Amnestiegesetze. Der Gerichtshof ging dabei jedoch nicht so weit die Amnestiegesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Amerikanischen Menschenrechtskonvention zu überprüfen, stellt jedoch eine Behinderung der Strafverfahren durch selbige fest: „. . . the Amnesty Law enacted by Peru is one of the ,internal difficulties that might prevent the identification of the individuals responsible for crimes of this kind‘, since it obstructs investigation and access to the courts and prevents the victim’s next of kin from learning the truth and receiving the reparations to which they are entitled.“ 243
Durch Amnestien wird die Ermittlungs- und Strafverfolgungspflicht der Staaten verhindert, wodurch die Opfer in ihrem in Art. 8 Abs.1, 25 AMRK verankerten Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz verletzt werden. In der übereinstim238 19 Merchants v. Kolumbien, Merits, Urteil vom 5. Juli 2004, Abs. 167; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 142. 239 Durand und Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Abs. 126; La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 141. 240 Seibert-Fohr, S. 75. 241 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 151 ff. 242 Für eine ausführliche Darstellung der Amnestiegesetze in Kolumbien, Peru, Bolivien, Chile und Argentinien siehe Ambos, 1997. 243 Castillo-Páez v. Peru, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 1998, Abs. 105.
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menden Stellungnahme des Richters García-Ramírez zu dieser Entscheidung sprach er sich gegen Amnestien bei schweren Menschenrechtsverletzungen aus. Zudem unterschied er zwischen Amnestien die von Postkonflikt-Staaten auf dem Wege der nationalen Versöhnung ausgehandelt wurden und selbstgewährten Begnadigungen wie im Fall Perus.244 Im Fall La Cantuta beschäftigte sich der Gerichtshof erneut mit den peruanischen Amnestiegesetzen. Aufbauend auf der Entscheidung Barrios Altos v. Peru245 erklärte er die Begnadigungen als mit Art. 2 AMRK in Kombination mit den Artikeln 4, 5, 7, 8 Abs. 1, 25 und 1 Abs. 1 unvereinbar.246 Obwohl Peru ausdrücklich die rechtliche Verantwortung für die Behinderungen durch die Amnestiegesetze übernahm247, setzte sich der Gerichtshof ausführlich mit ihnen auseinander248. „This Court considers that all amnesty provisions, provisions on prescription and the establishment of measures designed to eliminate responsibility are inadmissible, because they are intended to prevent the investigation and punishment of those responsible for serious human rights violations such as torture, extrajudicial, summary or arbitrary execution and forced disappearance, all of them prohibited because they violate non-derogable rights recognized by international human rights law.“ 249
Zudem wurde im Fall Barrios Altos festgestellt, dass selbsterlassene Begnadigungen ein gesellschaftliches Klima der Straflosigkeit fördern, da die Verantwortlichen für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden können und den Opfern Wiedergutmachung verwehrt bleibt.250 Fünf Jahre nach dieser wegweisenden Entscheidung waren die Amnestiegesetze in Peru immer noch nicht aufgehoben worden, entfalteten jedoch keine rechtliche Wirkung mehr. Deshalb musste sich der Gerichtshof im Fall La Cantuta mit der Frage beschäftigen, ob Peru seinen Verpflichtungen aus der Konvention nicht im ausreichendem Maße nachgekommen war.251 Art. 2 AMRK verpflichtet die Mitgliedsstaaten ihre nationale Rechtsordnung den Garantien aus der Konvention anzupassen. Im vorliegenden Fall ist dabei entscheidend, ob die Amnestiegesetze weiterhin eine effektive Strafverfolgung in Peru verhindern.252 Der Gerichtshof kam jedoch zu der 244 Concurring Vote of Judge Sergio García-Ramírez, Castillo-Páez v. Peru, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 1998, Abs. 9 f. 245 Barrios Altos v. Peru, Merits, Urteil vom 14. März 2001. 246 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 166 f., Operative Abs. 7; Barrios Altos v. Peru, Merits, Urteil vom 14. März 2001, Abs. 42. 247 Barrios Altos v. Peru, Merits, Urteil vom 14. März 2001, Abs. 35. 248 Barrios Altos v. Peru, Merits, Urteil vom 14. März 2001, Abs. 41 ff. 249 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 152; Barrios Altos v. Peru, Merits, Urteil vom 14. März 2001, Abs. 41. 250 Barrios Altos v. Peru, Merits, Urteil vom 14. März 2001, Abs. 43. 251 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 169.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
Überzeugung, dass die Begnadigungen keinerlei rechtliche Wirkung mehr entfalteten. Dafür sprach unter anderem, dass nationale Strafgerichte aufgrund der Barrios Altos-Entscheidung den Einwand der Amnestien nicht mehr gelten ließen und nationale Regeln die Anwendung der Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Menschenrechtgerichtshof ins peruanische Rechtssystem sicherstellen.253 Strafverfahren können auch nicht durch andere Formen der Aufarbeitung, wie beispielsweise Wahrheitskommissionen ersetzt werden.254 Der Gerichtshof erklärte die Amnestien ab initio für nichtig und verlangte so keinen weiteren Umsetzungsakt auf nationaler Ebene.255 Dem Urteil kommt somit eine supranationale Wirkung zu und der Gerichtshof nimmt die Rolle eines nationalen Verfassungsgerichts ein.256 Obgleich dieser sehr klaren Positionierung des Gerichtshofes gegen Amnestiegesetze nutzte er in einem späteren Urteil, Gomes Lund v. Brasilien, die Möglichkeit seinen Standpunkt mit dem international vorherrschenden Standards im Umgang mit Amnestien abzugleichen. Dafür zog er sehr ausführlich unter anderem Berichte des Sicherheitsrats, des UN-Menschenrechtskommissionars, des Sonderberichterstatters gegen Straflosigkeit, der UN-Arbeitsgruppe über gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen, sowie die Rechtsprechung der obersten Gerichte in verschiedenen OAS-Ländern heran.257 Andere internationale Institutionen haben in den vergangenen Jahren die gleichen Kriterien für ein Verbot von Amnestien entwickelt.258 Neben Amnestien, gleich ob selbstgewährte oder gesellschaftlich ausgehandelte, erklärt der Gerichtshof auch andere Gesetze, die Amnestien gleich kommen, oder Verjährungsfristen, die eine strafrechtliche Verfolgung der Taten verhindern, als mit der Konvention unvereinbar.259 252 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 175. 253 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 180 ff. 254 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 157; Laplante, Virginia Journal of International Law 49, S. 971. 255 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 187. 256 Binder, ZaöRV 71 (2011), S. 10. 257 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 150 ff.; ebenso Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 198 ff. 258 Gomes Lund v. Brasilien, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 24. November 2010, Abs. 156. 259 Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 232 ff., in Uruguay galt das sog. „Expiry Law“, durch das der Staat auf eine Strafverfolgung der Taten unter der Militärdiktatur verzichtet; Trujillo-Oroza v. Bolivien, Reparations and Costs, Urteil vom 27. Februar 2002, Abs. 106, bezüglich Verjährungsfristen.
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Die Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Bezug auf Amnestien waren bahnbrechend. Zum ersten Mal stellte ein internationaler Menschenrechtskontrollmechanismus die Verletzung von wesentlichen Menschenrechten durch Amnestien fest. Der IAGMR hat dadurch wesentlich zum Kampf gegen die Straflosigkeit in Lateinamerika beigetragen. 5. Internationale Zusammenarbeit Einige Täter, insbesondere auf der Führungsebene, haben nach Fall ihres Regimes das Land verlassen und im Ausland Zuflucht gesucht. Für einen Strafprozess wird in vielen Ländern jedoch die Anwesenheit des Angeklagten vorausgesetzt, denn eine Strafverfolgung in absentia ist in den meisten lateinamerikanischen Ländern nicht zulässig.260 In diesem Zusammenhang beschäftigte sich der Gerichtshof mit der Frage inwieweit der Staat verpflichtet ist die Auslieferung eines Täters voran zu treiben. Im Fall La Cantuta wurde über die Auslieferung des ehemaligen Präsidenten Perus Alberto Fujimori verhandelt. Nachdem Fujimori 2000 sein Amt niederlegte, lebte er zunächst in Japan und hielt sich ab 2006 in Chile auf. Peru hatte sowohl gegenüber Japan als später auch gegenüber Chile die Auslieferung Fujimoris unter anderem im Hinblick auf die Geschehnisse in La Cantuta verlangt.261 Wie der Gerichtshof bereits in seiner Entscheidung Goiburú gegen Paraguay in Bezug auf den ehemaligen Präsidenten Strosser festgestellt hat, sind die Staaten dazu verpflichtet die Auslieferung von Tätern schwerer Menschenrechtsverletzungen mit der gebührenden Sorgfalt voran zu treiben.262 Die Auslieferung von Straftätern ist ein wichtiges Mittel der internationalen Zusammenarbeit, deshalb sind auch die Staaten in der Pflicht in denen sich der Täter aufhält.263 „Access to justice constitutes a peremptory norm of International Law and, as such, it gives rise to the States’ erga omnes obligation to adopt all such measures as are necessary to prevent such violations from going unpunished, whether exercising their judicial power to apply their domestic law and International Law to judge and eventually punish those responsible for such events, or collaborating with other States aiming in that direction.“ 264
260 Im Zusammenhang mit dem Verschwindenlassen beschäftigte sich der Gerichtshof mit der Anwesenheitserfordernis in Paraguay und Peru. 261 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 158. 262 Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 130. 263 Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Abs. 131. 264 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 160.
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Ist ein Staat nicht zur Auslieferung bereit, muss er dem fremden Staatsangehörigen nach dem Grundsatz „aut dedere aut judicare“ selber verfolgen. Eine konkrete Aufforderung an Chile Fujimori auszuliefern findet sich in der Entscheidung jedoch nicht, sondern es wird lediglich betont, dass die Konventionsstaaten zur Kooperation verpflichtet sind.265 6. Das Beispiel Peru Bis Ende 2010 waren insgesamt 162 Beschwerden von Verschwindenlassen Gegenstand von Ermittlungen durch die peruanische Staatsanwaltschaft. 13 Verfahren wegen gewaltsamen Verschwindenlassens wurden von der Nationalen Strafkammer und weiter 73 Verfahren durch das höhere Provinzgericht Limas gehört. 20 Personen mussten sich vor speziellen Gerichten für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten und 265 Personen wurden wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit durch das Büro der nationalen Staatsanwaltschaft angeklagt.266 Die Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat bei der nationalen Strafverfolgung in Peru große Berücksichtigung gefunden. Beispielsweise die Entscheidung im Fall Barrios Altos wurde von der Übergangsregierung an den Obersten Gerichtshof weitergeleitet, welcher wiederrum am selben Tag die unteren Gerichte informierte und zur Wiedereröffnung der Verfahren in diesem Fall anhielt.267 Innerhalb weniger Tage nach dem Erlass der Barrios Altos-Entscheidung wurden somit mehrere Mitglieder der ColinaGruppe verhaftet.268 a) Der Fall Castillo Páez Nach dem Ende der Regierungszeit Fujimoris beschäftigten sich verschiedene Gerichte mit der Aufarbeitung der begangenen Menschenrechtsverletzungen. Das peruanische Verfassungsgericht hat sich mehrfach mit dem Verschwindenlassen auseinandergesetzt und dabei die Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs als Grundlage genutzt. Das Gericht bezog nicht nur Entscheidungen betreffend Peru in seine Urteilsfindung mit ein, sondern auch solche die sich gegen andere Staaten richteten.269 Dem folgend nahm auch das Verfassungsgericht 265 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 160. 266 Human Rights Committee, Considerations of reports submitted by States parties under article 40 of the Covenant, Fifth periodic report, Peru, CCPR/C/PER/5, Abs. 86 ff. 267 García-Sayán, Texas Law Review Vol. 89, S. 1843. 268 García-Sayán, Texas Law Review Vol. 89, S. 1843; HRW, World Report 2002, S. 168. 269 Verfassungsgericht Peru, Genaro Villegas Namuche, Fallnr.: 2488-2002-HC/TC vom 18. März 2004, Abs. 3, 19; Verfassungsgericht Peru, Gabriel Orlando Vera Navarrete, Fallnr.: 2798-2004-HC/TC vom 9. Dezember 2010, Abs. 10.
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in Fällen des Verschwindenlassens eine staatliche Pflicht zur Verhinderung, Aufarbeitung und Strafverfolgung an.270 Die erste strafrechtliche Verurteilung aufgrund eines Verschwindenlassens vor peruanischen Gerichten erfolgte jedoch erst im Jahr 2006 im Fall Castillo-Páez, der zuvor vom Inter-Amerikanischen Gerichtshof behandelt wurde. Ernesto Rafael Castillo-Páez wurde im Oktober 1990 von Polizisten in der Nähe eines Parks in Lima verhaftet und in den Kofferraum des Polizeiautos verfrachtet. Seither fehlt von ihm jede Spur. Auf Grundlage des habeas corpus-Antrags seiner Eltern wurde ein Strafverfahren eingeleitet, die Beschuldigten jedoch aufgrund fehlender Beweise freigesprochen.271 Die Angehörigen übergaben den Fall danach an das Inter-Amerikanische System zum Schutz der Menschenrechte und 1997 fällte der Gerichtshof ein Urteil in der Sache. Er stellte eine Verletzung der Artikel 7, 5 und 4 AMRK bezüglich Castillo-Páez sowie eine Verletzung des Artikels 25 i.V. m. Art. 1 AMRK bezüglich seiner Angehörigen fest.272 Peru wurde neben der Zahlung einer Wiedergutmachung dazu verurteilt, den Sachverhalt zu ermitteln und die Verantwortlichen für das Verschwindenlassen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.273 Obwohl dieses Urteil bereits 1998 erging dauerte es weitere drei Jahre bis die peruanischen Behörden tätig wurden. Um die Umsetzung der Entscheidung voranzutreiben, wurde der Fall im Januar 2001 an die Staatsanwaltschaft mit der Aufforderung strafrechtliche Ermittlungen aufzunehmen überwiesen.274 Im August 2001 leitete die Generalstaatsanwaltschaft Lima ein strafrechtliches Verfahren gegen 16 Polizeibeamte wegen Freiheitsberaubung ein. Anklage wegen Verschwindenlassen wurde nicht erhoben, da eine entsprechende Strafnorm zum Tatzeitpunkt nicht in Kraft war.275 Nach einem mehrjährigem Beweisverfahren wurde der Fall an die neu gebildete Nationale Strafkammer überwiesen und die Generalstaatsanwaltschaft änderte ihre Anklage auf Verschwindenlassen.276 Am 16. März 2006 erging das Urteil der peruanischen nationalen Strafkammer, in dem 12 Angeklagte freigesprochen wurden und die anderen vier zu Gefängnisstrafen von 15 und 16 Jahren sowie zur Zahlung einer
270 Verfassungsgericht Peru, Genaro Villegas Namuche, Fallnr.: 2488-2002-HC/TC vom 18. März 2004, Abs. 19, 10. 271 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Abs. 43 ff.; Rivera Paz, S. 15 ff. 272 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Operative Abs. 1 ff. 273 Castillo-Páez v. Peru, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 1998, Operative Abs. 1 ff. 274 Castillo-Páez v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 3. April 2009, Abs. 7; Caro Coria, Lateinamerika Analysen 18, 3/2007, S. 162. 275 Castillo-Páez v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 3. April 2009, Abs. 8; Rivera Paz, S. 31. 276 Castillo-Páez v. Peru, Monitoring Compliance, Urteil vom 3. April 2009, Abs. 8; Rivera Paz, S. 32 ff.
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Wiedergutmachung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form des Verschwindenlassens verurteilt wurden.277 In seinem Urteil orientierte sich die Strafkammer maßgeblich an der Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs. Bereits bei der Beschreibung des historischen Kontextes in dem sich das Verschwindenlassen in Peru ereignete greift die Kammer auf die Feststellungen des Gerichtshofs zurück. Dieser hatte festgestellt, dass zwischen 1989 und 1993 im Kampf gegen subversive Kräfte von staatlichen Organen Menschenrechtsverletzungen als systematische Praxis eingesetzt wurden.278 Interessanterweise bezieht sich die Strafkammer dabei auf die Entscheidungen Gómez Paquiyauri und Gómez Palomino und nicht auf Castillo Páez. Bei der juristischen Bewertung des Verschwindenlassens als eine anhaltende und mehrfache Verletzung verschiedener Menschenrechte zitiert die Kammer die umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofes zu dieser Thematik.279 Ähnlich wie der Gerichtshof sah das nationale Gericht durch das Verschwindenlassen verschiedene Rechte der Opfer verletzt, darunter das Recht auf Leben, das Recht auf Sicherheit und Freiheit, das Verbot der Folter und unmenschlichen Behandlung, das Verbot auf willkürliche Verhaftung, das Recht auf einen unabhängigen Richter und ein rechtmäßiges Verfahren sowie das Recht als rechtsfähig anerkannt zu werden.280 In nachfolgenden Verfahren wurde ferner ein Recht auf Wahrheit durch peruanische Gerichte angenommen. Im Fall Genaro Villegas Namuche sprach das Verfassungsgericht sowohl der Nation als auch dem Einzelnen ein Recht auf Wahrheit zu und stützte sich dabei unter anderem auf die Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes.281 Castillo Páez ist zudem ein Präzedenzfall im Hinblick auf den Dauercharakter des Verschwindenlassens. Zum Zeitpunkt der Verhaftung von Ernesto Castillo Páez war das Verschwindenlassen im peruanischen Strafrecht nicht verankert. Erst ein halbes Jahr später wurde eine entsprechende Norm eingeführt, weshalb sich die Beschuldigten auf den Grundsatz nulla poena sine lege beriefen. Ein wesentlicher Aspekt des Falles behandelte daher die Frage ob es sich beim Verschwindenlassen um ein andauerndes Delikt handelt. Dies bejahte das Gericht.282 277 Nationale Strafkammer Peru, Castillo-Páez, Fallnr.: 111-04, Urteil vom 20. März 2006; zur strafrechtlichen Bewertung des Urteils siehe Meini, S. 110 ff. 278 Nationale Strafkammer Peru, Castillo-Páez, Fallnr.: 111-04, Urteil vom 20. März 2006, S. 107. 279 Nationale Strafkammer Peru, Castillo-Páez, Fallnr.: 111-04, Urteil vom 20. März 2006, S. 106. 280 Nationale Strafkammer Peru, Castillo-Páez, Fallnr.: 111-04, Urteil vom 20. März 2006, S. 108. 281 Verfassungsgericht Peru, Fall Genaro Villegas Namuche, Fallnr.: 2488-2002-HC/ TC, Urteil vom 18. März 2004, Abs. 8, 19. 282 Nationale Strafkammer Peru, Castillo-Páez, Fallnr.: 111-04, Urteil vom 20. März 2006, S. 110.
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Es bezieht sich dabei vor allem auf die bereits bestehenden internationalen Konventionen und Erklärungen zum Schutze vor dem Verschwindenlassen sowie auf ein Urteil des peruanischen Verfassungsgerichts.283 Das Gericht ist daher der Auffassung, dass das Verschwindenlassen fort wirkt, bis die Überreste des Verschwundenen aufgefunden sind, da solange von dem Andauern des Freiheitsentzugs ausgegangen werden kann. „. . . hasta el momento, se ignora el paradero del joven Castillo Páez, situación que es una consecuencia directa del accionar típico del autor y por la que debe responder en toda su magnitud. Si partimos de la circunstancia, al parecer indiscutible, de que aún no se ha establecido el paradero del estudiante Ernesto Castillo Páez, debemos presumir que aún se mantiene su privación ilegal de la libertad, y por lo tanto que este delito, y de ahí su caracterización de permanente, se continúa ejecutando. En estos casos puede sostenerse que el delito ,tuvo ejecución continuada en el tiempo‘.“ 284
Drei Täter wurden daher für das gewaltsame Verschwindenlassen von Ernesto Castillo-Paéz zu 15 bzw. 16 Jahren Haft verurteilt.285 Sowohl die Beschuldigten als auch die Zivilpartei und die Staatsanwaltschaft legten jeweils aus unterschiedlichen Gründen Berufung gegen die Entscheidung ein. Die Verteidiger bemängelten insbesondere die rückwirkende Anwendung des Gesetzes durch die Verurteilung aufgrund einer Strafnorm die zum Tatzeitpunkt gesetzlich nicht normiert war. Die erste vorläufige Strafkammer des obersten Gerichts beurteilte das Verschwindenlassen ebenfalls als fortdauerndes Delikt, welches noch immer anhält. Die Kammer sieht diesen Punkt als wenig umstritten an und bezieht sich auf die eindeutigen Formulierungen der internationalen Konventionen sowie vorangegangenen Entscheidungen des peruanischen Verfassungsgerichts.286 Daher wird auf die Handlungen der Täter das neue Strafgesetzbuch angewandt.287 Zudem musste sich das Gericht mit Fragen der Beweislast auseinandersetzen. Den beweisrechtlichen Schwierigkeiten trägt das Gericht Rechnung, indem Zeugenaussagen und vor allem Indizien und Vermutungen ein höheres Ge283 Im Fall Genaro Villegas Namuche entschied das peruanische Verfassungsgericht „En cambio, en los delitos permanentes, pueden surgir nuevas normas penales, que serán aplicables a quienes en ese momento ejecuten el delito, sin que ello signifique aplicación retroactiva de la ley penal.Tal es el caso del delito de desaparición forzada, el cual, según el artículo III de la Convención Interamericana sobre Desaparición Forzada de Personas, deberá ser considerado como delito permanente mientras no se establezca el destino o paradero de la víctima.“, Verfassungsgericht Peru, Fall Genaro Villegas Namuche, Fallnr.: 2488-2002-HC/TC, Urteil vom 18. März 2004, Abs. 26. 284 Nationale Strafkammer Peru, Castillo-Páez, Fallnr.: 111-04, Urteil vom 20. März 2006, S. 112. 285 Nationale Strafkammer Peru, Castillo-Páez, Fallnr.: 111-04, Urteil vom 20. März 2006, S. 113. 286 Erste Vorläufige Strafkammer des Obersten Gerichts Peru, Castillo-Páez, Fallnr. 2779-2006, Urteil vom 18. Dezember 2007, S. 4 f. 287 Erste Vorläufige Strafkammer des Obersten Gerichts Peru, Castillo-Páez, Fallnr. 2779-2006, Urteil vom 18. Dezember 2007, S. 4 f.
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wicht zugeschrieben wird.288 Anders als beim Gerichtshof, der keine persönliche Verantwortlichkeit feststellt, können die nationalen Gerichte jedoch keine Beweislastumkehr vornehmen.289 Die nationalen Gerichtsentscheidungen zu Castillo Páez stellen einen wesentlichen Schritt zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter von Menschenrechtsverletzungen, insbesondere des Verschwindenlassens, dar. Im Hinblick auf die Beweiserleichterungen und den Dauercharakter des Delikts sind die Gerichtsentscheidungen auch für zukünftige Entscheidungen richtungsweisend. Die Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs hat nicht unwesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen. Bezugnehmend auf dessen Urteile gelangen die nationalen Gerichte in ihrer juristischen Beurteilung in allen wesentlichen Punkten zu vergleichbaren Ergebnissen. Seither ist es zu einer Reihe weiterer strafrechtlicher Verurteilungen in Peru gekommen, bei denen nicht selten direkt Bezug auf die Rechtsprechung des IAGMR genommen wurde.290 Dennoch muss festgehalten werden, dass die positive Entwicklung in Peru eine Besonderheit ist und die Verurteilung der Straftäter in vielen Ländern immer noch die Ausnahme darstellt. Der Fall Castillo Páez ist bis heute der einzige, in dem der Gerichtshof die staatliche Pflicht zur Aufarbeitung und Strafverfolgung als vollständig umgesetzt ansah.291 b) La Cantuta Bei La Cantuta handelt es sich um den auch international bekanntesten peruanischen Fall von Verschwindenlassen. In den Morgenstunden des 18. Juni 1992 betraten maskierte Mitglieder der Colina-Gruppe das Gelände der La Cantuta Universität in Lima und drangen gewaltsam in die Wohnungen von Studenten und Professoren ein. Die Studenten mussten sich im Flur auf den Boden legen und wurden anhand einer Liste separiert. Anschließend wurden neun Studenten mitgenommen. Die Wohnungstür des betroffenen Professors wurde gewaltsam aufgebrochen, sein Gesicht mit einem Tuch bedeckt und er wurde weggeschleppt während seine Wohnung durchsucht und seine Frau am Verlassen der Wohnung gehindert wurde.292 Die Leichen von zwei Studenten fand man 1993 in einem verborgenen Massengrab. Von den weiteren Personen fehlt bisher jede Spur.293 288 Erste Vorläufige Strafkammer des Obersten Gerichts Peru, Castillo-Páez, Fallnr. 2779-2006, Urteil vom 18. Dezember 2007, S. 3 f. 289 Diesen wesentlichen Unterschied zwischen menschenrechtlichen Gerichtshöfen und Strafverfolgung hat der Gerichtshof in seinen Urteilen bereits selbst festgestellt; Velásquez Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Abs. 134; BámacaVelásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Abs. 98. 290 Burt, The International Journal of Transitional Justice, Vol. 3, 2009, S. 394. 291 Open Society Justice Initiative, S. 68. 292 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (12)ff.
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Der Fall La Cantuta erregte viel Aufmerksamkeit, so dass 1993 im Kongress ein Untersuchungsausschuss zur Prüfung der Geschehnisse eingerichtet wurde. Den Abschlussbericht, in dem hochrangige Militärs für die Tat verantwortlich gemacht wurden, lehnte eine Mehrheit im Kongress ab.294 Parallel dazu begannen strafrechtliche Ermittlungen gegen die vermeintlichen Täter. Dabei kam es zu einem Konflikt zwischen ordentlichen und militärischen Gerichten, der durch ein Sondergesetz („Ley Cantuta“) entschieden wurde und der Militärgerichtsbarkeit die Zuständigkeit zusprach.295 Obwohl im Februar 1994 neun Armeeangehörige zu Haftstrafen zwischen einem bis 20 Jahren verurteilt wurden, erhielt die Entscheidung viel Kritik. Die Strafen wurden gemildert und die Hintermänner der Tat blieben unbehelligt.296 Schlussendlich wurde die Vollstreckung der Strafen ein gutes Jahr später aufgrund der ergangenen Amnestiegesetze ausgesetzt.297 Erst durch die Entscheidung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs kam Bewegung in die Sache.298 Trotz der Teilanerkennung seiner Verantwortung untersuchte der Gerichtshof den Sachverhalt und stellte eine Verletzung der Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 2 und 7 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 AMRK bezüglich der verschwundenen Studenten und des Professors sowie Art. 5 i. V.m Art. 1 Abs. 1 und Art. 8 und 25 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 AMRK bezüglich der Angehörigen der Verschwunden statt. Zudem verletzte Peru durch die, trotz der ergangenen Entscheidung in Barrios Altos, noch geltenden Amnestiegesetze seine Verpflichtung das nationale Recht den Vorgaben der Amerikanischen Menschenrechtskonvention anzupassen. Der Gerichtshof schreckte in dem Urteil auch nicht davor zurück die Verstrickung Fujimoris in die Taten zu benennen. „Suffice it to mention here that the Court considers it acknowledged and proven that the planning and execution of detention and subsequent cruel, inhumane and degrading treatment, extra-legal execution and forced disappearance of alleged victims, carried out in a coordinated and concealed way by the members of military forces and the Colina Group, could not have passed unnoticed to or have occurred without the orders of the superior ranks of the Executive Power and the then military forces
293 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (16). 294 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (25) ff.; Ambos, 1997, S. 47. 295 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (44) ff.; Ambos, 1997, S. 47 f. 296 Ambos, 1997, S. 48. 297 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 80 (58) ff. 298 Obwohl der Fall bereits kurz nach der Tat bei der Kommission eingereicht wurde, überwies diese ihn erst 14 Jahre später an den Gerichtshof; einen Erklärungsversuch für diese späte Verweisung siehe Sandoval, Essex Human Rights Review Vol. 5 No.1, 2008, S. 12.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
and intelligence bodies, especially the chiefs of intelligence and the same President of the Republic himself.“ 299
Obgleich der Gerichtshof keine individuelle Schuld von Personen feststellen kann, erhöhte er dadurch weiter den Druck Fujimori einem strafrechtlichen Verfahren zu unterziehen. Bahnbrechend war an dieser Entscheidung jedoch vor allem die Feststellung des Gerichtshofs einer internationalen Pflicht zur Zusammenarbeit bei Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen. In diesem Teil der Entscheidung wandte sich der Gerichtshof unmittelbar an Chile um das Auslieferungsverfahren Fujimoris voranzutreiben. Die chilenischen Behörden hatten Fujimori 2005 bei seiner Ankunft im Land festgenommen, eine Auslieferung bisher allerdings abgelehnt. Erst im Berufungsverfahren vor der zweiten Strafkammer des höchsten Gerichts wurde dem Auslieferungsgesuch entsprochen.300 Das Gericht nahm dabei zwar nicht ausdrücklich Bezug auf die beiden durch den Gerichtshof ergangenen Entscheidungen in La Cantuta und Barrios Altos, allerdings ist unbestritten, dass beide Fälle Einfluss auf das Urteil des chilenischen Berufungsgerichts hatten.301 Dennoch erfolgte im Fall La Cantuta eine erhebliche Einschränkung der Strafverfolgung. Das chilenische Gericht beschränkte das Auslieferungsverfahren auf die Delikte schwerer Totschlag und schwere Körperverletzungen, da Chile einen Straftatbestand des Verschwindenlassens im nationalen Recht noch nicht eingeführt hatte. Fujimori kann in Peru jedoch nur für die Straftaten belangt werden, für die er ausgeliefert wurde.302 Das hatte zur Folge, dass er auch im Fall La Cantuta nicht wegen dem Verschwindenlassen der Studenten und des Professors vor Gericht gestellt wurde, sondern nur wegen deren Ermordung. Aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes bei Auslieferungen wurden die Fälle nur unzureichend bearbeitet und dem Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen wurde nur eingeschränkt Rechnung getragen.303 Dennoch machte die Auslieferung Fujimoris am 22. September 2007 den Weg frei für ein beispielloses Strafverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten. Am 7. April 2009 wurde Fujimori unter anderem wegen der Fälle Barrios Altos und La Cantuta zu 25 Jahren Haft verurteilt.304 Die Strafkammer sah es als erwiesen an, dass seine Taten Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, und hielt 299 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 96. 300 Sandoval, Essex Human Rights Review Vol. 5 No.1, 2008, S. 14. 301 Sandoval, Essex Human Rights Review Vol. 5 No.1, 2008, S. 14. 302 Ambos, ZIS 11/2009, S. 557 f.; Sandoval, Essex Human Rights Review Vol. 5 No.1, 2008, S. 15. 303 Ambos, ZIS 11/2009, S. 557. 304 Zur deutschen Übersetzung des dritten Teils des Urteils der sich mit der rechtlichen Würdigung befasst siehe Ambos/Huber, ZIS 11/2009, 622; die Originalversion ist verfügbar unter http://www.justiciaviva.org.pe/nuevos/2009/abril/16/01.pdf.
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz
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seine mittelbare Täterschaft für schweren Totschlag für bewiesen.305 Ferner verurteilt der Gerichtshof Fujimori zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 62.000 Peruanischen Sol an die Angehörigen der Opfer von Barrios Altos und La Cantuta.306 Als weitere Wiedergutmachung wurde festgestellt, dass die Opfer in keinem Zusammenhang mit terroristischen Organisationen oder Aktionen standen.307 Aufgrund der fehlenden direkten Beweise die Fujimori mit den Taten in Verbindung hätte bringen können, ließ das Gericht Indizien ausreichen.308 Ohne die vorherigen Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes wäre diese Verurteilung nicht möglich gewesen. So stützte sich das Gericht unter anderem auf die Entscheidung im Fall La Cantuta um zu begründen, dass die Taten für die Fujimori schuldig gesprochen wurde, Teil einer systematischen Praxis waren, die ohne sein Mitwissen nicht hätten erfolgen können.309 Dennoch legte die Strafkammer auch ganz klare Grenzen für den Einfluss des Gerichtshofes auf ein Strafverfahren fest. Die Anwendung und Auslegung einschlägiger strafrechtlicher Vorschriften und die Zuschreibung individueller Schuld liegt alleine bei nationalen Strafgerichten. Der Gerichtshof kann die Schuld oder Unschuld einer Person nicht erklären, sondern beurteilt die internationale Verantwortung eines Staates.310 Dennoch können internationale Entscheidungen, im besonderen juristische Auslegungen von Menschenrechten, nicht ignoriert werden. Obwohl beide Gerichte unterschiedliche Zielrichtungen haben, sollen die Entscheidungen auf internationaler Ebene im wesentlichen Beachtung finden.311 Die Bedeutung der Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes wurde damit durch das Gericht explizit anerkannt. Neben diesem historischen Urteil erfolgten noch weitere Strafverfahren auf Grundlage der IAGMR-Entscheidungen La Cantuta und Barrios Altos. Beispielsweise das Verfahren gegen Julio Rolando Salazar Monroe, der zum Zeitpunkt der Geschehnisse an der La Cantuta Universität Direktor des staatlichen Geheimdienstes (SIN) war, sowie vier Mitglieder der Colina-Gruppe.312 Salazar Monroe 305
Ambos, ZIS 11/2009, S. 552. Oberster Gerichtshof der Republik Peru, Sonderstrafgerichtskammer, Exp. A.V. 19-2001, 7. April 2009, Abs. 825. 307 Oberster Gerichtshof der Republik Peru, Sonderstrafgerichtskammer, Exp. A.V. 19-2001, 7. April 2009, Abs. 827. 308 Oberster Gerichtshof der Republik Peru, Sonderstrafgerichtskammer, Exp. A.V. 19-2001, 7. April 2009, Abs. 51. 309 Oberster Gerichtshof der Republik Peru, Sonderstrafgerichtskammer, Exp. A.V. 19-2001, 7. April 2009, Abs. 717, 746. 310 Oberster Gerichtshof der Republik Peru, Sonderstrafgerichtskammer, Exp. A.V. 19-2001, 7. April 2009, Abs. 106. 311 Oberster Gerichtshof der Republik Peru, Sonderstrafgerichtskammer, Exp. A.V. 19-2001, 7. April 2009, Abs. 108; Ambos, ZIS 11/2009, S. 561. 312 Oberer Strafgerichtshof Peru, Julio Rolando Salazar Monroe u. a., Fallnr.: 2003-1 SPE/CSJLI, Urteil vom 8. April 2008. 306
No. No. No. No. No. No. 03-
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
wurde zu 25 Jahren Haft wegen Mord und Verschwindenlassens in mittelbarer Täterschaft verurteilt.313 Auch dieses Urteil ist wesentlich von den Entscheidungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshof beeinflusst. An mehreren Stellen zitiert das Gericht die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Fällen des Verschwindenlassens. Basierend auf den Tatsachenfeststellungen des IAGMR bezüglich der systematischen Praxis des Verschwindenlassens schloss das Gericht auf die hierarchische Struktur bei Einsätzen des Geheimdienstes, sodass Salazar Monroe als mittelbarer Täter qualifiziert werden konnte.314 Aber auch bei der rechtlichen Würdigung wurde auf die Erkenntnisse des Gerichtshofs bezüglich Definition, Beweisverfahren und Dauercharakter des Verschwindenlassens zurückgegriffen.315 c) Aktuelle Entwicklungen Trotz dieser positiven Entwicklungen in der peruanischen Strafverfolgung bezüglich schwerer Menschenrechtsverletzungen, bestehen weiterhin einige Mängel. Aktuell liegt dem Gerichtshof ein weiter Fall von Verschwindenlassen vor, der von der Inter-Amerikanischen Kommission überwiesen wurde, weil der Staat seiner Ermittlungs- und Strafverfolgungspflicht nicht nachgekommen ist.316 Zudem erging im Juli 2012 durch den obersten peruanischen Gerichtshof eine Entscheidung gegen verschiedene Mitglieder der Colina-Gruppe die für viel Kritik sorgte. Der Fall betraf das Massaker von Barrios Altos sowie das Verschwindenlassen eines Journalisten und neun Bauern. Nachdem sich das Verfahren viele Jahre hingezogen hatte wurden 2010 19 Beschuldigte wegen ihrer Beteiligung an den Taten zu langen Haftstrafen verurteilt, darunter auch Vladimiro Montesinos, de facto Chef des nationalen Geheimdienstes und Salazar Monroe, tatsächlicher Chef des Geheimdienstes zum Zeitpunkt der Taten. Durch das Urteil des obersten Gerichtshofes wurden die Haftstrafen für die Verurteilten reduziert. Darüber hinaus entschied der Gerichtshof, entgegen der vorherigen Feststellung im Strafverfahren gegen Fujimori, dass es sich beim Verschwindenlassen nicht um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt. Damit stellt sich der Gerichtshof auch gegen die Feststellungen des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes nach dem das Verschwindenlassen in Peru systematisch begangen wurde und somit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstelle.317 Zudem wurde eine mittelbare Tä313 Oberer Strafgerichtshof Peru, Julio Rolando Salazar Monroe u. a., Fallnr.: 032003-1 SPE/CSJLI, Urteil vom 8. April 2008, Abs. 3.1., 3.3. 314 Oberer Strafgerichtshof Peru, Julio Rolando Salazar Monroe u. a., Fallnr.: 032003-1 SPE/CSJLI, Urteil vom 8. April 2008, Abs. 50 ff. 315 Oberer Strafgerichtshof Peru, Julio Rolando Salazar Monroe u. a., Fallnr.: 032003-1 SPE/CSJLI, Urteil vom 8. April 2008, S. 99, 102 f., 105, 155. 316 Letter of Submission in der Sache Jeremías Osorio Rivera u. a. v. Peru, vom 10. Juni 2012, S. 2 f. 317 La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 157.
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz
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terschaft der beiden Geheimdienstchefs abgelehnt, was sich auf weitere Verfahren auswirken kann. Zum Beispiel auf die Verurteilung Fujimoris, der ebenfalls als mittelbarer Täter verurteilt wurde. Allerdings ist positiv zu bewerten, dass der aktuelle Präsident Ollanta Humala im Juni 2013 das Gnadengesuch Fujimoris abgelehnt hat.318 In Peru laufen noch weitere nationale Strafverfahren, wie beispielsweise im Fall Kenneth Anzualdo, allerdings kommen diese nur sehr schleppend voran und es gibt auch immer noch Fälle in denen keine signifikanten Ergebnisse erzielt wurden. Es lässt sich jedoch feststellen, dass die Behandlung eines Falls vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof den Druck auf die nationalen Verfahren erhöht und die Strafverfolgung somit positiv beeinflusst. Die Strafverfolgung der Hintermänner birgt jedoch immer noch viele Schwierigkeiten. Zwar haben die Gerichte in den hier dargestellten Verfahren auch Indizien für eine Verurteilung herangezogen, dennoch ist ein Nachweis der Taten, insbesondere bei der mittelbaren Täterschaft, oftmals nicht möglich.319
II. Europäischer Gerichtshof Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah sich in seiner Arbeit wiederholt mit der Straflosigkeit in Russland und der Türkei konfrontiert. Im Unterschied zum Inter-Amerikanischen Gerichtshof liegt in den Fällen jedoch nur eine de facto Straflosigkeit und keine de jure vor. Er hat jedoch deutlich gemacht, dass die Straflosigkeit von Tätern nicht akzeptiert werden kann. „. . . the confines of a democratic society governed by the rule of law cannot allow this system to operate in conditions of guaranteed impunity for the abuses committed by its agents.“ 320
Die Staaten sind daher dazu angehalten, angemessene Ermittlungen in Fällen des Verschwindenlassens einzuleiten um jedem Anschein von Straflosigkeit entgegen zu wirken.321 Konkret äußert sich das beim EGMR darin, dass die Ermittlungen in der Lage sein müssen, die Verantwortlichen zu identifizieren und zu bestrafen.322 Entgegen der vom IAGMR entwickelten Verpflichtung zur Bestrafung, sog. „duty to punish“ hat sich sein europäisches Gegenstück zurückhaltender gezeigt. Zum Teil erachtet der EGMR einen Strafprozess nicht als zwingende 318 Humala begründete die Entscheidung damit, dass Fujimori unter guten Haftbedingungen lebe und an keiner schweren Krankheit leide, Marti in NZZ vom 10. Juni 2013. 319 Interview mit Miguel Huerta. 320 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 231. 321 El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 192. 322 Tas ¸ v. Türkei, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 91; Seker v. Türkei, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 95; Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 161; Medova v. Russland, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 129; Sasita Israilova u. a. v. Russland, Urteil vom 28. Oktober 2010, Abs. 111.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
Voraussetzungen, sondern lässt auch Zivil- oder Verwaltungsverfahren ausreichen.323 Zudem beschränkt sich der Gerichtshof darauf, in seinen Urteilen die Staaten zu Wiedergutmachungszahlungen zu verurteilen. Selbst in Fällen, in denen der Gerichtshof von einer Verletzung der staatlichen Ermittlungspflicht überzeugt war, erfolgte keine ausdrückliche Verpflichtung der Staaten zur Durchführung von Strafverfahren.324 Bezugnehmend darauf, dass der Gerichtshof sich stärker auf das anzustoßende Verfahren als um dessen Ergebnis konzentriert, spricht Seibert-Fohr von einer sog. „duty to prosecute“.325 Diese Zurückhaltung im Hinblick auf eine staatliche Strafverfolgungspflicht zeigt sich auch darin, dass der EGMR in seinen Entscheidungen zum Verschwindenlassen nur sehr kursorisch darauf eingeht. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit der Unabhängigkeit und Effektivität der Ermittlungen und nicht mit etwaigen Strafverfahren, wobei beides nicht strikt voneinander getrennt werden kann.326 Bezeichnend ist jedoch womit sich der Gerichtshof in Fällen des Verschwindenlassens nicht beschäftigt hat. Ein Recht der Angehörigen auf ein Strafverfahren gegen die Verantwortlichen in angemessener Zeit hat er nicht festgestellt. Art. 6 EMRK beinhaltet das Recht des Einzelnen, dass innerhalb einer angemessenen Frist in einem fairen Verfahren über eine strafrechtliche Anklage entschieden wird. Dieser Artikel bezieht sich jedoch in erster Linie auf die Rechte des Angeklagten und normiert kein Recht für die Opfer oder dessen Angehörigen auf ein strafrechtliches Verfahren gegen die Täter.327 In den Entscheidungen zum Verschwindenlassen wird darauf auch nicht weiter eingegangen. Wenn Bezug zu Art. 6 EMRK genommen wird, dann nur im Zusammenhang mit dem Zugang der Angehörigen zu zivilrechtlichen Verfahren, der in Russland an den Ausgang der strafrechtlichen Untersuchung gebunden sei.328 Der Gerichtshof lehnt es im Fall Kaya u. a. vs. Türkei zudem ab, die Ermittlungen der Behörden an Art. 6 EMRK zu messen, sondern prüfte diese unter der allgemeineren Bestimmung des Art. 13 EMRK.329 Eine Überprüfung der strafrechtlichen Verfahren führt der Gerichtshof nicht durch. Dies hängt jedoch vor allem damit zusammen, dass es in den meisten Fällen des Verschwindenlassens zu keinem Strafverfahren kam, sondern die Verfahren auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurden.330 In einigen Entscheidungen des
323 Basch, American University International Law Review 23, No. 1 (2013), S. 224 verweist auf Öneryildiz v. Türkei, Urteil vom 20. November 2004, Abs. 148. 324 Basch, American University International Law Review 23, No. 1 (2013), S. 225. 325 Seibert-Fohr, S. 115. 326 Zu den Kriterien für ein effektives Ermittlungsverfahren siehe 4. Teil, D., IV., 2., a), bb). 327 Seibert-Fohr, S. 121 f. 328 Bazorkina v. Russland, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 151. 329 Kaya u. a. v. Türkei, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 46 ff.
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz
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EGMR, die nicht das Verschwindenlassen betrafen, stellte der Gerichtshof fest, dass das gesamte Verfahren und somit auch eine Gerichtsverhandlung, die Voraussetzungen für positive Verpflichtungen erfüllen muss.331 Weder Russland noch die Türkei haben Amnestiegesetze erlassen mit denen sich der EGMR hätte auseinander setzen können.332 Eine Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission im Fall Dujardin v. Frankreich lässt jedoch darauf schließen, dass Amnestien nicht generell abgelehnt werden. Unter legitimen und außergewöhnlichen Umständen, die nicht zu einer systematischen Straflosigkeit von Straftätern führt, können Amnestien rechtmäßig sein.333 Die Kommission legte Frankreich auch keine alternative Form der Aufarbeitung wie beispielsweise eine Wahrheitskommission auf.334 Im Hinblick auf das mittlerweile festgestellte Recht auf eine effektive Ermittlung lässt sich jedoch mutmaßen, dass der Gerichtshof bei einer vergleichbaren Entscheidung, einen Staat zumindest zu weitergehenden Ermittlungen anhalten würde.335 Der Gerichtshof hat sich auch ausschließlich im Fall Mahmut Kaya v. Türkei mit der Frage der Unabhängigkeit militärischer Richter beschäftigt. Liegt eine mutmaßliche terroristische Straftat vor, wird die Staatsanwaltschaft in der Türkei die Zuständigkeit zugunsten eines separaten Systems, den Nationalen Sicherheitsgerichten (National Security Courts), entzogen.336 Diese Gerichte sind mit jeweils einem militärischem Richter besetzt. Obwohl in der Türkei auch für militärische Richter einige Vorkehrungen zur Sicherung ihrer Unabhängigkeit bestehen, stellte der Gerichtshof fest, dass von ihnen, die als Soldaten immer noch Teil der Armee sind, die Gefahr ausgehe das Verfahren unzulässig zu beeinflussen.337 Fraglich ist, warum der EGMR in diesem Zusammenhang keine Verlet330 Nach einer Studie des Roten Kreuzes wurden in Tschetschenien in 90 % der untersuchten Fälle, das Verfahren ausgesetzt und nach einem Bericht des Ombudsmannes für Tschetschenien wurden 1949 Strafverfahren im Zusammenhang mit Entführungen eröffnet von denen 1679 ausgesetzt wurden, Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 77, 80. 331 Öneryildiz v. Türkei, Urteil vom 30. November 2004, Abs. 95; Nikolova und Velichkova v. Bulgarien, Urteil vom 20. Dezember 2007, Abs. 57 (c); Bajic´ v. Kroatien, Urteil vom 13. November 2012, Abs. 89; Przemyk v. Polen, Urteil vom 17. September 2013, Abs. 66. 332 In 2003 erließ die Duma zwar ein Amnestiegesetz für Verbrechen im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkonflikt zwischen 1993 und 2003, allerdings sind schwere Verbrechen wie beispielsweise Mord davon ausgenommen, Lapitskaya, 43 N.Y.U. J. Int’l L&Pol., S. 520. 333 Dujardin v. Frankreich, Entscheidung vom 2. September 1991, S. 243 f.; SeibertFohr, S. 142 f. 334 Zur Frage ob eine Wahrheitskommission als Alternative zur Strafverfolgung den Voraussetzungen der Konvention genügen würde siehe Seibert-Fohr, S. 145 f. 335 Seibert-Fohr, S. 144 f. 336 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 64. 337 Mahmut Kaya v. Türkei, Urteil vom 28. März 2000, Abs. 97.
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
zung des Rechts auf einen gesetzlichen Richter gem. Art. 6 EMRK festgestellt hat. Wenn jedoch bereits ein militärischer Richter genügt um die Unabhängigkeit des Gerichts zu gefährden, können Militärgerichte ihre Zuständigkeit erst recht nicht begründen. Verjährungsfristen bezüglich des Verschwindenlassens erachtet der Gerichtshof als eine Verletzung des Art. 2 EMRK. Aufgrund der Schwere des Verbrechens und der großen Zahl betroffener Personen besteht in der Öffentlichkeit bis heute ein großes Interesse an der Verurteilung von Tätern die Kriegsverbrechen begangen haben. Auch nach den heute in modernen Demokratien herrschenden gesetzlichen Standards, sollen Ermittlungen in schwere Menschenrechtsverletzung nicht wegen Fristablauf eingestellt werden.338 Trotz der Vielzahl an Fällen, insbesondere bezüglich der Situation in Tschetschenien, geht die strafrechtliche Verfolgung der Täter, wenn überhaupt nur sehr schleppend voran. Eine Statistik die einen Überblick über den Stand der Verfahren geben könnte, wird von Russland nicht herausgegeben.339
III. Vergleich Die Bedeutung von Strafverfahren für die Aufarbeitung der Taten als auch zur Verhinderung zukünftiger Verbrechen wurde von beiden Gerichtshöfen anerkannt. Im Hinblick auf die Unzulässigkeit von Amnestien und Militärgerichten liegen beide Gerichtshöfe nicht weit auseinander, auch wenn sich dies aufgrund der wenig ausgeprägten Rechtsprechung des EGMR zu diesen Themen nur in Ansätzen feststellen lässt. Insgesamt hat der Inter-Amerikanische Gerichtshof im Vergleich zu seinem Europäischen Gegenstück eindeutig die Vorreiterrolle übernommen. Im Zuge der „duty to punish“ hat die Überprüfung der nationalen Strafverfolgung in den vergangenen Jahren ein immer größeres Gewicht bekommen und den Angehörigen wurde ein Recht auf strafrechtliche Verfolgung der Täter zugesprochen. In seiner Rechtsprechung hat sich der IAGMR nicht nur umfassend mit den verschiedenen Aspekten durchgeführter Strafprozesse auseinandergesetzt, sondern zudem strenge Voraussetzungen für die Verfahren formuliert. Deutlich zurückhaltender hat sich der EGMR gezeigt. Grundsätzlich wird in seinen Entscheidungen auf die Verpflichtung hingewiesen, dass die Ermittlungen auch die Bestrafung der Täter ermöglichen sollen, aber eine „duty to punish“ die dem des IAGMR vergleichbar wäre, wird nicht angenommen. Die strafrechtlichen Verfahren spielen in den Urteilen zum Verschwindenlassen wenn überhaupt
338 Aslakhanova u. a. v. Russland, Urteil vom 18. Dezember 2012, Abs. 237; Varnava u. a. v. Türkei, Urteil vom 18. September 2009, Abs. 163. 339 Vgl. Lapitskaya, 43 N.Y.U. J. Int’l L&Pol., S. 528 ff.
C. Strafverfolgung in der nationalen Justiz
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nur eine untergeordnete Rolle. Zum Teil lässt sich dies auch mit den regionalspezifischen Unterschieden zwischen Europa und Lateinamerika erklären. Aufgrund der Regimewechsel in den meisten betroffenen lateinamerikanischen Staaten haben diese auch mit der strafrechtlichen Aufarbeitung begonnen, wohingegen die Straflosigkeit in Russland und der Türkei immer noch virulent ist. Dafür könnte auch sprechen, dass der IAGMR in seiner ersten Entscheidung gegen Honduras, die zu einem Zeitpunkt allgemeiner Straflosigkeit in Honduras erging, auf eine Pflicht zur strafrechtlichen Verfolgung keinen Bezug genommen hat. Dennoch ist es fraglich, warum der EGMR den Angehörigen ein Recht auf ein Strafverfahren gegen die Verantwortlichen verwehrt. Selbst bei Nichtbefolgung, könnte dadurch in den betroffenen Staaten ein stärkerer Druck auf untätige Ermittlungsorgane ausgeübt werden. Vermeulen sieht in der massiven systematischen Verletzung von Menschenrechten den Grund für die konsequente Formulierung einer Strafverfolgungspflicht durch den IAGMR.340 Allerdings sollten die Staaten eine Pflicht zur Bestrafung der Täter bei solchen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen nicht nur in einem systematischen Zusammenhang treffen, sondern auch bei vereinzelten Fällen. Zudem sieht der IAGMR in der Verpflichtung Straftäter für schwere Menschenrechtsverletzungen zu sanktionieren mittlerweile jus cogens, da die Straflosigkeit der Ereignisse nicht ohne eine individuelle strafrechtliche Haftung der Einzelnen beendet werden kann.341 Verwaltungs- oder zivilrechtliche Verfahren gegen die Täter, wie sie der EGMR ausreichen lässt, können angesichts der drohenden Straflosigkeit nicht genügen. Die Rechtsprechung des IAGMR hatte zudem deutliche Auswirkungen auf die strafrechtliche Verfolgung des Verschwindenlassens in der nationalen Justiz. Durch einige wegweisende Entscheidungen hat er die in Lateinamerika vorherrschende Straflosigkeit durchbrochen und wesentlich zur strafrechtlichen Aufarbeitung beigetragen. Zwar haben die Urteile des Gerichtshofes keine direkte Auswirkung auf die Strafverfolgung der Mitgliedsstaaten, da sie mit der Verurteilung von Staaten an Stelle von Individuen eine andere Zielrichtung verfolgen, sie sind für die nationalen Gerichte aber dennoch von großer Bedeutung. Die menschenrechtlichen Feststellungen des Gerichtshofs erleichtern eine kontextuale Einordnung der Geschehnisse insbesondere bei systematischen Menschenrechtsverletzungen und bieten Orientierung bei der rechtlichen Beurteilung der Taten. Insbesondere die materiell-rechtlichen und prozessualen Entwicklungen zum Verschwindenlassen haben in der nationalen Strafverfolgung in Lateinamerika 340
Vermeulen, S. 353. La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Abs. 157; Chitay Nech u. a. v. Guatemala, Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Mai 2010, Abs. 193; Gelman v. Uruguay, Merits and Reparations, Urteil vom 24. Februar 2011, Abs. 183. 341
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5. Teil: Aufarbeitung und Verhinderung des Verschwindenlassens
Eingang gefunden und diese entscheidend beeinflusst.342 Von wohl größter Bedeutung sind die Entscheidungen des IAGMR im Bezug auf Amnestien. In den Fällen Barrios Altos und La Cantuta hat der Gerichtshof ein deutliches Zeichen gegen Straflosigkeit gesetzt und dadurch nicht nur in Peru, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern Amnestiegesetze zu Fall gebracht und Strafverfahren angestoßen. Neben die Entscheidungen des Gerichtshofes treten noch weitere Faktoren, wie beispielsweise die peruanische Wahrheits- und Versöhnungskommission und das Engagement verschiedener NGOs, die den durchschlagenden Erfolg der nationalen Strafverfolgung voran trieben.343 Dennoch ist fraglich ob diese Maßnahmen alleine einen vergleichbaren Effekt erzielt hätten. Die Bedeutung die beispielsweise Peru der Rechtsprechung des Gerichtshofes zumisst lässt sich auch daran ablesen, dass das Verfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs als bindend für alle nationalen Behörden anerkannte, was selbst für die Urteile gilt, an denen Peru nicht beteiligt war.344 Einen solch starken Einfluss besitzt der IAGMR jedoch nicht in allen Mitgliedsstaaten.345 Hingegen haben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bisher keinen nachweisbaren Effekt auf die Strafverfolgung des Verschwindenlassens in den betroffenen Ländern gehabt. Allein eine vom EGMR aufgestellte konkrete staatliche Verpflichtung zur Bestrafung der Täter wird diesen Zustand sicherlich nicht beenden können, könnte allerdings ein erster Schritt gegen die Straflosigkeit darstellen.
342 Ebenso Caro Coria, Lateinamerika Analysen 18, 3/2007, S. 159; Ambos, ZIS 11/ 2009, S. 561. 343 Due Process of Law Foundation, S. 104 f.; Burt, The International Journal of Transitional Justice, Vol. 3, 2009, S. 395. 344 Verfassungsgericht, Peru, Fallnr.: 00007-2007-PI/TC, Urteil vom 19. Juni 2007, Abs. 36. 345 Beispielsweise in El Salvador gelten trotz der Entscheidung des IAGMR in Fall Massaker des El Mozote und Orten in der Nähe v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 25. Oktober 2012, bis heute die Amnestiegesetze und es fehlt am politischen Willen diese abzuschaffen; Burt, The International Journal of Transitional Justice, Vol. 3, 2009, S. 395; Dolliver/Kanavel/Robeck, S. 18 f.
6. Teil
Abschließende Bewertung und Ausblick Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist das älteste regionale Schutzsystem und diente daher auch dem Inter-Amerikansichen Gerichtshof für Menschenrechte als Vorbild. Thomas Buergenthal, der zu den ersten Richtern am IAGMR zählte, beschreibt das Verhältnis zwischen beiden Gerichtshöfen in der Gründungszeit des IAGMR folgendermaßen: „Not surprisingly, therefore, we looked to the European Court with admiration for what it had been able to achieve and as a model for what we hoped the Inter-American Court might one day become. Not only did we know that we had a great deal to learn from our elder sister institution; we were also aware of the fact that, to gain even some legitimacy in the unfriendly political environment in which the Inter-American Court had to exist, we needed patrons who enjoyed worldwide legal and political respectability. Above all, we needed the visible support of the European Court of Human Rights.“ 1
Allerdings kehrt sich diese Beziehung der beiden Gerichtshöfe gerade in den Fällen betreffend das Verschwindenlassen um. Wie Buergenthal bereits 2000 voraussah, ist das Verhältnis zwischen beiden Gerichtshöfen kein einseitiges mehr, sondern auch der EGMR kann insbesondere im Bereich der schweren Menschenrechtsverletzungen von den Erfahrungen seines inter-amerikanischen Pendants lernen.2 Dies zeigt sich deutlich in der Rechtsprechung zum Verschwindenlassen. Während der IAGMR bereits 1988 seine erste Entscheidung zum Verschwindenlassen traf, entschied der EGMR erst 10 Jahre später einen Fall. Dies ist vor allem die Folge der unterschiedlichen politischen Kontexte, in denen die Gerichtshöfe agieren. Während sich der europäische Gerichtshof in den ersten 40 Jahren seiner Existenz fast ausschließlich mit gefestigten Demokratien auseinandersetzte, entstand der IAGMR in einem Umfeld, das durch Militärdiktaturen und Terrorismus geprägt war. Der IAGMR musste sich damit von Anfang an stärker mit schweren Menschenrechtsverletzungen beschäftigen.3 Beide Gerichtshöfe gewähren den Opfern des Verschwindenlassens einen umfangreichen Schutz. Trotz verschiedenster Hindernisse, insbesondere der Schwierigkeit die Taten zu beweisen, erging in beiden Systemen eine Vielzahl an Verur-
1 2 3
Buergenthal, Beneficial interaction, S. 126. Buergenthal, Beneficial interaction, S. 133. Harris, S. 2.
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6. Teil: Abschließende Bewertung und Ausblick
teilungen. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof geht jedoch in vielen Punkten weiter und stellt für die Opfer der Taten somit ein attraktives Forum dar. Bereits in seiner ersten Entscheidung, Velásquez Rodríguez, hat der Gerichtshof sein Potential demonstriert und im Bereich des Verschwindenlassens eine vielzitierte Leitentscheidung getroffen. Obwohl es das erste Mal war, dass sich ein Gerichtshof mit diesem Phänomen beschäftigt hat und das Verschwindenlassen in den internationalen Instrumenten nicht kodifiziert war, wurde die Vielschichtigkeit der Taten erkannt und Honduras vollumfänglich zur Verantwortung gezogen. Insbesondere den Beweisschwierigkeiten der Opfer wurde durch eine Reihe von Beweiserleichterungen begegnet. In den nachfolgenden Entscheidungen hat der Gerichtshof seinen Schutz noch erweitert, die Rechte der Angehörigen sind zunehmend in den Fokus gerückt und es wurden eine Vielzahl an immateriellen Wiedergutmachungen entsprechend den Wünschen der Betroffenen festgelegt. Auch die Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes gewähren den Opfern wesentliche Rechte beim Verschwindenlassen. Dennoch bleibt der EGMR in mehreren Bereichen hinter seinen Möglichkeiten zurück. Insbesondere in dem zentralen Punkt der beweisrechtlichen Bewertung der Geschehnisse zeigt er sich unverständlicherweise zurückhaltend. Das hat in einer Reihe von Fällen zur Folge, dass die staatliche Verantwortlichkeit für die Taten nicht festgestellt werden konnte und führt zum Teil zu widersprüchlichen Entscheidungen. Das für die Angehörigen so bedeutende Recht auf Wahrheit ist bislang unterentwickelt und auch die Wiedergutmachungen sind weniger weitreichend. Zum einen ist der gewährte Schadensersatz geringer als im Inter-Amerikanischen System und zum anderen spricht der EGMR grundsätzlich keine nicht-finanzielle Entschädigung zu. Dies ist insbesondere im Hinblick darauf, dass die Angehörigen in erster Linie die Aufklärung der Taten erwirken wollen, sehr bedauernswert. Ganz deutlich zeigen sich die Unterschiede zwischen beiden Systemen bei ihrem Beitrag zur Aufarbeitung, Verfolgung und Verhinderung der Taten. Der Inter-Amerikanische Menschenrechtsgerichtshof hat bereits in seiner ersten Entscheidung die Grundlagen für diese staatlichen Pflichten gelegt. Nachfolgend hat er wiederholt betont, dass insbesondere die Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit von zentraler Bedeutung für die Angehörigen und die Gesellschaft ist. Während der EGMR dieses Thema in seinen Entscheidungen vermieden hat und nur eine „duty to prosecute“ aufstellt, zeichnet sich der IAGMR durch eine rigorose Rechtsprechung aus, nach der die Täter zu bestrafen sind. Diese staatliche Verpflichtung zur Strafverfolgung hat wesentlich zur Bekämpfung der Straflosigkeit in den Mitgliedstaaten beigetragen. In Peru hat die Rechtsprechung des IAGMR nicht nur zu einer Abschaffung der Amnestiegesetze geführt, sondern auch bedeutende Strafverfahren, allen voran das Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten Fujimori, angestoßen. Obwohl der Europäische Gerichtshof in der Türkei und Russland ebenfalls mit de facto Straflosigkeit konfrontiert ist, findet
6. Teil: Abschließende Bewertung und Ausblick
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dies in den Entscheidungen des Gerichtshofes keine Resonanz. Ausschließlich im Fall El-Masri wird die Straflosigkeit im Zusammenhang mit „extraordinary renditions“ thematisiert.4 Zwar nehmen beide Gerichtshöfe Präventionspflichten an und haben Staaten wegen Verletzung selbiger verurteilt, jedoch geht der IAGMR sogar so weit, bestehende nationale Straftatbestände des Verschwindenlassens an internationalem Recht zu überprüfen. Zudem hat der IAGMR durch seine ausführliche Sachverhaltsermittlung dazu beigetragen, das Verschwindenlassen und seine systematische Anwendung in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten zu dokumentieren. Der EGMR hat hingegen keinen großen Ehrgeiz gezeigt, über die notwendigsten Tatsachen hinausgehende Ermittlungen anzustellen. Insgesamt ist die Rechtsprechung des IAGMR zum Verschwindenlassen deutlich gewagter als die des EGMR. Ambos und Böhm relativieren den Wagemut des Gerichtshofs jedoch dahingehend, dass sich seine Entscheidungen vor allem auf Transitionstaaten bezogen, die im Bereich der Menschenrechte ähnliche Ziele wie der IAGMR verfolgten.5 Insbesondere im Verhältnis zu Peru ist diese Aussage nicht zutreffend, denn auch während der Herrschaft Fujimoris erließ der Gerichtshof einige kritische Entscheidungen. Es ist jedoch verwunderlich, dass wesentliche Entscheidungen, wie beispielsweise die Fälle Barrios Altos und La Cantuta, erst nach dem Ende des Regimes getroffen wurden. Das lässt politische Gründe hinter der Verzögerung vermuten. Dennoch haben die Entscheidungen einen erheblichen Einfluss auf die Mitgliedsstaaten. Ganz besonders das Beispiel Peru zeigt, wie stark die Entscheidungen auf ein Land einwirken können. Die peruanischen Gerichte haben sich stark am IAGMR orientiert, um dem vielfältigen Problem des Verschwindenlassens zu begegnen. Es hat sich auch gezeigt, dass durch die internationale Rechtsprechung der Druck auf die Regierungen erhöht wird, die Suche nach den Verschwundenen voranzutreiben. Lediglich im Bereich der legislativen Reformierungen haben sich die lateinamerikanischen Staaten widerstrebend gezeigt und diese zumeist nicht umgesetzt. Es ist möglich, dass auch der EGMR vergleichbare Auswirkungen in Russland erzielen könnte. Auch wenn die Umsetzung einer Strafverfolgungs- und Aufklärungspflicht durch den Gerichtshof nicht durchgesetzt werden könnte, sind seine Entscheidungen vielbeachtet und könnten politischen Druck erzeugen. Darüber hinaus wäre es ein Zeichen an die Angehörigen, dass ihr Leiden und ihre Bedürfnisse ernst genommen werden. An einigen Stellen lässt die Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs noch Raum für Verbesserung. Die bisher noch größten Defizite sind sein beschränkter Zugang und die geringen Partizipationsmöglichkeiten der Op4 5
El-Masri v. Republik Mazedonien, Urteil vom 13. Dezember 2012, Abs. 192. Ambos/Böhm, S. 47 f.
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6. Teil: Abschließende Bewertung und Ausblick
fer. Allerdings hat der Gerichtshof in den vergangenen Jahren kontinuierlich die Position der Opfer im Verfahren verbessert. Daraus lässt sich schließen, dass eine vergleichbare Entwicklung wie beim EGMR wahrscheinlich ist und in einigen Jahren auch die Opfer in Lateinamerika direkten Zugang zum Gerichtshof haben. Konkret absehbar ist dies im Moment jedoch noch nicht und so lange bleiben Opfer von Menschenrechtsverletzungen in ihren Rechtsschutzmöglichkeiten begrenzt. Angesichts des Potentials, das der Inter-Amerikanische Menschenrechtsgerichtshof in Fällen des Verschwindenlassens gezeigt hat, verwundert es, dass seine Entscheidungen beim Europäischen Gerichtshof nicht mehr Beachtung finden. Der IAGMR orientiert sich fortwährend an der Rechtsprechung des EGMR und hat sich beispielsweise bei der Anerkennung Angehöriger als unmittelbare Opfer und bei Beweiserleichterungen bei nachgewiesener staatlicher Inhaftierung deutlich vom Europäischen Gerichtshof beeinflussen lassen. Umgekehrt nimmt der EGMR nur in Ausnahmefällen Bezug auf sein Inter-Amerikanisches Pendant.6 Immer wieder haben auch die Beschwerdeführer auf die Rechtsprechung des IAGMR verwiesen, wie zum Beispiel bei der Gewährung immateriellen Schadensersatzes. Der Europäische Gerichtshof geht darauf jedoch regelmäßig nicht weiter ein. Auch wenn die Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofes zum Verschwindenlassen an einigen Stellen noch verbesserungswürdig ist und in wenigen Punkten das Vorgehen des Europäische Gerichtshof vorzugswürdig ist, wäre es insgesamt doch wünschenswert, wenn dieser die Entscheidungen des IAGMR stärker berücksichtigen würde und den Opfern damit einen größeren Schutz gewähren würde.
6 Bis August 2012 wurde durch den EGMR nur 25 Mal Bezug zum IAGMR genommen, davon betrafen sieben Verweise Fälle des Verschwindenlassens; EGMR, Research Report, S. 3 ff.
Rechtsprechungsverzeichnis Internationale Rechtsprechung Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Abayeva et al. v. Russland, 37542/05, 08.04.2010 Abdulkadyrova et al. v. Russland, 27180/03, 08.01.2009 Abdurzakova und Abdurzakov v. Russland, 35080/04, 15.01.2009 Açıs¸ v. Türkei, 7050/05, 01.02.2011 Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, 31.05.2001 Akdeniz v. Türkei, 25165/94, 31.05.2005 Akhiyadova v. Russland, 32059/02, 03.07.2008 Akhmadova und Akhmadov v. Russland, 20755/04, 25.09.2008 Akhmatkhanovy v. Russland, 20147/07, 22.07.2010 Akhmatkhanovy v. Russland, 20147/07, 22.07.2010 Akhmatov et al. v. Russland, 38828/10, 2543/11, 2650/11, 2685/11, 7409/11, 14321/ 11, 26277/11, 16.01.2014 Akhrnadova et al. v. Russland, 3026/03, 04.12.2008 Alaudinova v. Russland, 32297/05, 23.04.2009 Alikhadzhiyeva v. Russland, 68007/01, 05.07.2007 Aliyeva v. Russland, 1901105, 18.02.2010 Alpatu Israilova v. Russland, 15438/05, 14.03.2013 Amanat Ilyasova et al. v. Russland, 27001/06, 01.10.2009 Asadulayeva et al. v. Russland, 15569/06, 17.09.2009 Askhabova v. Russland, 54765/09, 18.04.13 Askharova v. Russland, 13566/02, 04.12.2008 Aslakhanova u. a. v. Russland, 2944/06, 8300/07, 50184/07, 332/08, 42509/10, 18.12. 2012 Association 21 December 1989 v. Rumänien, 33810/07, 25.05.2011 Astamirova et al. v. Russland, 27256/03, 26.02.2009 Atabayeva et al. v. Russland, 26064/02, 12.06.2008 Avkhadova u. a. v. Russland, 47215/07, 14.03.2013
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Stichwortverzeichnis Amnestiegesetze 20, 43 f., 201, 251, 258 ff., 267, 273 ff., 278 Angehörige 18, 27 ff., 37 ff., 69, 71, 74, 79 f., 86, 117, 121, 146 ff., 185 f., 190, 195 ff., 216 f., 224 ff., 229 ff., 235 f., 239, 243, 245, 249, 254, 258, 263, 267 f., 272, 274 f., 278 ff. Anscheinsbeweis 91, 93, 95, 116 Anscheinsvermutung 78 Aufarbeitung 18 ff., 26, 39, 84, 88 f., 185, 214 ff., 231, 246, 250, 251 ff., 260, 262 f., 266, 273, 274 ff. Bestrafung 46, 56, 130, 175 f., 192, 244, 252 f., 256, 271, 274 ff. Beweislast 18, 20 f., 55, 84, 94 ff., 108 ff., 130, 193, 239, 242, 265 Beweislastumkehr 93, 98, 100 f., 112 f., 116, 119 ff., 180, 184, 266 Beweismaß 84, 87, 92 ff., 105, 107 ff., 118 ff., 142, 238, 258 Bolivien 41, 69
Folter 17, 27, 30 ff., 37, 42, 75, 83, 88, 92, 95, 107 ff., 120, 129 ff., 145, 153 ff., 189, 199 f., 207, 225, 232, 236, 264 Fujimori, Alberto 41 ff., 89, 223 f., 261 f., 267 ff., 278 f. Geheimdienst 23, 27, 35, 42, 89, 105, 216 f., 240, 243, 245, 269 ff. Guatemala 22, 25, 35 f., 40, 51, 75, 79 ff., 85, 96, 138, 144, 153, 164, 186 f., 195, 198, 203, 217, 219, 237, 256 Habeas corpus 27 f., 52, 66 ff., 171, 236, 241, 255, 263 Honduras 38, 41, 51 f., 64 ff., 72, 74 ff., 79, 87, 94 ff., 109, 123, 138, 146, 171, 186, 200, 216, 252, 275, 278 Jus Cogens 122, 214, 275 Kinder 30, 34, 38, 124, 149 ff., 158 ff., 195 ff., 200 ff., 223
Brasilien 35, 41, 220, 260 Locus Standi 65, 74 ff. Chile 25, 35, 40 f., 185, 261 f., 268 Militärgerichte 252, 257 ff., 274 f. Dauercharakter 185 ff., 240, 264, 266, 270 El Salvador 256, 276 Entschädigung 46, 53, 56, 60, 174, 176, 195 ff., 278 Ermittlungspflichten 161 ff., 174 ff., 181 f., 184, 191 f., 201, 215, 227, 234 Europarat 57 f., 61, 82
Notstandsgesetz 69, 122 Operation Condor 216 f. Organisation amerikanischer Staaten 45, 48 f., 51 ff., 62, 87, 203, 260 Paramilitär 36, 42, 83, 239 Peru 20, 22, 24, 26 f., 32, 35 ff., 41 ff., 64, 69, 89, 98 f., 124, 142, 148, 167,
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Stichwortverzeichnis
169 ff., 201, 215, 219, 223 ff., 231, 238, 241 ff., 250, 253, 258 ff., 262 ff., 276, 278 f. Recht auf Leben 44, 67, 122 ff., 141, 143, 145, 176, 189, 232, 264 Recht auf Wahrheit 146, 171 ff., 176 ff., 217 ff., 228, 231, 264, 278 Rechtswegerschöpfung 59, 66 ff. Russland 25 f., 41, 63, 66, 70 f., 102, 108 ff., 113, 119 f., 126, 133, 135, 140, 144 f., 156, 174, 178 f., 207 ff., 210 ff., 227 ff., 245, 248 f., 271 ff. Sachverständige 60, 86 ff., 104, 216 ff., 231 Schadensersatz 56, 60 f., 71, 146, 171 f., 195, 199 f., 204, 206 ff., 269, 278, 280 Strafgesetze 187, 237 ff., 248, 265 Straflosigkeit 43, 46, 154, 157, 169, 242, 251, 259 ff., 271, 273, 275 ff. Strafverfolgung 20 f., 163, 166, 170 ff., 177, 210, 214 f., 220, 233, 237 f., 242 ff., 250 ff., 278 f. Systematische Praxis 91, 94 ff., 106, 108 ff., 119 ff., 123 f., 128 ff., 218 ff., 264
Terrorismus 43, 108, 129, 159, 170, 277 Türkei 17, 25, 31, 41, 77, 81, 101 ff., 119, 125 ff., 132 f., 139 f., 144 f., 149 ff., 160, 174, 178, 181, 190 ff., 206, 208, 227 ff., 244 ff., 271 ff. Überreste, sterbliche 32, 67, 89 f., 123, 128, 153, 156, 165 f., 169 f., 173, 180, 183 f., 188, 190, 201, 212, 215, 220, 224 f., 230, 240, 265 USA 17, 40, 134 ff., 182, 195 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 45 f., 262, 264, 268, 270 Vereinigtes Königreich 108 Verhinderung 18 ff., 45 f., 160, 166, 214 f., 231 ff., 250, 252, 263, 274, 278 Vollstreckung 56 f., 61, 267 Vorläufige Maßnahmen 82 Zeugen 26, 31 ff., 38, 54 f., 60, 63, 65 f., 74, 76, 78 ff., 86 ff., 90, 92, 94 f., 102 ff., 113, 117 f., 131 f., 147, 150, 159, 170, 178 f., 183 f., 216 f., 230 f., 234, 265