Das Verhältnis von Theologie und Philosophie II: Die Berner Vorlesung (1883): Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis. Unveröffentlichte Manuskripte Band 3 3766844970, 9783766844972


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German Pages [265] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
I. Theologische Einführung
II. Philosophische Einführung
§ 1 Die Begrenzung der Aufgabe
§ 2 Das Erkennen
§ 3 Die Beziehung des Erkennens auf Gott
§ 4 Der Begriff der Erkenntnis Gottes
§ 5 Kritik der traditionellen Gottesbeweise
§ 6 Überblick über einige andre theologische Standpunkte
§ 7 Glaube und Erkenntnis
§ 8 Das Zeugnis Gottes in der Natur
§ 9 Das Gotteszeugnis im geistigen Leben
§ 10 Die Selbstbezeugung Gottes in der Prophetie Israels und in Christus
§ 11 Das Gotteszeugnis durch die Schrift
Anhang
Personenregister
Sachregister
Bibelstellenregister
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Das Verhältnis von Theologie und Philosophie II: Die Berner Vorlesung (1883): Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis. Unveröffentlichte Manuskripte Band 3
 3766844970, 9783766844972

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Adolf Schlatter Das Verhältnis von Theologie und Philosophie II

Manfred Seitz (1928–2017), dem wegweisenden Theologen und Seelsorger zum bleibenden Gedenken

Unveröffentlichte Manuskripte Band 3

Adolf Schlatter

Das Verhältnis von Theologie und Philosophie II Die Berner Vorlesung (1883): Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis Im Auftrag der Adolf-Schlatter-Stiftung herausgegeben von Harald Seubert und Werner Neuer

Calwer Verlag Stuttgart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Adolf-Schlatter-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

eBook (pdf): ISBN 978–3–7668–4499–6 ISBN 978–3–7668–4497–2 © 2019 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Umschlaggestaltung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de Internet: www.calwer.com E-mail: [email protected]

Inhalt I. Theologische Einführung (Werner Neuer) . . . . . . . . II. Philosophische Einführung (Harald Seubert) . . . . Danksagung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den editorischen Grundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . Adolf Schlatter: Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis

Berner Vorlesung im Sommersemester 1883 . . . . . . . . . . § 1 § 2 § 3 § 4 § 5 § 6

Die Begrenzung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erklennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beziehung des Erkennens auf Gott . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der Erkenntnis Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der traditionellen Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . Überblick über einige andre theologische Standpunkte . . . 1. Das kantische Verbot der Theologie . . . . . . . . . . . . . 2. Der scholastische Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rothes Definition der spekulativen Theologie . . . . . . 4. [Schleiermachers dogmatischer Ansatz] . . . . . . . . . . . 5. Der Biblizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7 Glaube und Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8 Das Zeugnis Gottes in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Natur als die Manifestation der Kraft . . . . . . . . b) Die Natur als Manifestation der Unendlichkeit . . . . c) Die Natur als Manifestation der Intelligenz . . . . . . . d) Die Konstanz in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Natur als Manifestation des Willens . . . . . . . . . –5–

7 27 63 64

67 69 71 82 89 91 101 101 104 112 119 126 130 136 136 141 142 146 148

f) Die Natur als Manifestation der Güte . . . . . . . . . . . g) Die der Natur entnommenen Gegeninstanzen gegen das Dasein Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9 Das Gotteszeugnis im geistigen Leben . . . . . . . . . . . . . a) Das Gewissen nach seinem formalen Verlauf . . . . . . b) Der Inhalt des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Religionen als nach Gott suchendes Streben . . . § 10 Die Selbstbezeugung Gottes in der Prophetie Israels und in Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ergebnis der Geschichte Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Genesis der alttestamentlichen Religion . . . . . . . c) Das Gotteszeugnis in Christo . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Stellung der Apostel zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . § 11 Das Gotteszeugnis durch die Schrift . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis der Schrift zum Wort . . . . . . . . . . . . b) Der göttlich-menschliche Charakter des Schriftwortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Grenzen des Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Autorität und Infallibilität der Schrift . . . . . . . . . . . .

151 152 156 158 164 171 174 182 182 194 205 219 223 223 225 234 240

Anhang Adolf Schlatter – Habilitationsvorlesung zum Zusammenhang von Dogma und Geschichte . . . . . . . . 249 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

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Werner Neuer

I. Theologische Einführung Die Vorlesung Adolf Schlatters (1852–1938)1 »Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis« lag bislang als unveröffentlichtes handschriftliches Manuskript im Stuttgarter Schlatter-Archiv [Nr. 191]. Schlatter hatte sie im Sommersemester 1883 als junger Privatdozent in Bern gehalten. Vertieft man sich in ihren Inhalt, so stößt man auf eine Darlegung, die über viele Seiten hinweg (vor allem in den Paragraphen 2 und 5, 8 und 9) philosophische Sachverhalte erörtert und diese auf dem Hintergrund der klassischen griechischen und der neuzeitlichen Philosophie einer detaillierten und tief schürfenden Analyse unterzieht. Wüsste man nichts Näheres über Verfasser und Kontext könnte man in den genannten Paragraphen ohne Weiteres auf den Gedanken kommen, hier ein überwiegend philosophisches Werk vor sich zu haben. Dass es sich um die Abhandlung eines Theologen (noch dazu eines Dozenten für Neues Testament und Dogmengeschichte!) handelt, würde ein nicht informierter Leser nicht unbedingt vermuten, obwohl dort gelegentliche Hinweise auf Bibelstellen vorkommen. Aber diese Verweise sind in der Regel nicht Ausgangspunkt einer Begründung oder Beweisführung, sondern eine vom Duktus der Darstellung her nicht unbedingt erforderliche zusätzliche Bestätigung der vorgetragenen empirischen und systematischen Überlegungen. Allerdings machen der einführende Paragraph  1, die Paragraphen 2 und 4, 6 und 7 und die beiden letzten Paragraphen dann doch deutlich, dass es sich um eine theologische Vorlesung handelt. 1 Zu Leben und Werk Schlatters vgl. meine umfangreiche Biographie: Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, Stuttgart 1996.

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Dass Schlatter in einer theologischen Darlegung so stark die Philosophie einbezieht, könnte den Verdacht wecken, er sei der Gefahr jener von Karl Barth im Vorwort zu seiner letzten Vorlesung kritisierten Mixophilosophicotheologia erlegen, die auf einer unsachgemäßen Verquickung von Theologie und Philosophie beruht, die weder einer offenbarungsorientierten Theologie gerecht wird noch einer Philosophie, die bewusst auf jedwede Offenbarung verzichtet.2 Dieser Verdacht wird aber nicht nur durch die sieben bereits genannten eindeutig theologischen Paragraphen widerlegt, sondern auch durch den Gedankengang der anderen Kapitel, deren innere Orientierung an der biblischen Offenbarung immerhin an den gelegentlichen Verweisen auf Bibelstellen unübersehbar ist: Schon das erste Kapitel macht unmissverständlich deutlich, dass Schlatters Vorlesung die Gottesfrage im Unterschied zur Philosophie auf der Basis der »Theologie als Wissenschaft von Gott« zu beantworten sucht (M 1f., Hervorhebung W.N.). Allerdings setzt sie die Gewissheit einer dem christlichen Glauben zugrundeliegenden erkennbaren Offenbarung nicht einfach thetisch voraus, sondern stellt sich dem in der neuzeitlichen Philosophie verbreiteten »Zweifel, ob Theologie überhaupt möglich sei« (ebd.). Aufgrund dieser keineswegs nur philosophischen, sondern zugleich fundamentaltheologischen Frage nach Bedingung und Möglichkeit von Theologie überhaupt ordnet Schlatter die Vorlesung der »systematischen Theologie im Unterschied von der historischen« zu (ebd., Hervorhebung W.N.). Darüber hinaus rechnet Schlatter sein Kolleg aufgrund seines »vorbereitenden und darum grundlegenden Charakter[s]« der »theologische[n] Principienlehre« bzw. »Fundamentalwissenschaft« zu, also dem Bereich, der heute in der evangelischen Theologie meist als »Prolegomena« zur Dogmatik bezeichnet wird. Vollends deutlich wird der theologische Charakter der Vorlesung jedem Leser in den Kapiteln 1, 3 und 4, 2 Vgl. Karl Barth: Einführung in die evangelische Theologie, (Zürich 1962) München und Hamburg 1968, 8. Der Ausdruck Mixophilosophicotheologia stammt von dem orthodoxen lutherischen Theologen und Philosophen Abraham Calov (1612–1686).

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6 und 7 und in den beiden letzten Kapiteln (10, 11), die quantitativ weit über 50 % der Vorlesung ausmachen. Gerade diese letzten Paragraphen, welche »Die Selbstbezeugung Gottes in der Prophetie Israels und in Christus« (§ 10) bzw. »Das Gotteszeugnis durch die Schrift« (§ 11) behandeln, erörtern in sehr komprimierter Form die Erkenntnisgrundlage einer biblisch-heilsgeschichtlichen Theologie und lassen nicht den geringsten Zweifel am theologischen Charakter der Vorlesung zu. Gleichwohl ist die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der Ausführungen aus weitgehend philosophischen Erörterungen besteht, für eine evangelisch-theologische Vorlesung ungewöhnlich und macht die Originalität, Besonderheit und Kühnheit von Schlatters Kolleg aus. Die vorliegende Edition trägt dieser Eigenart Rechnung, indem mein Kollege Harald Seubert als Philosoph durch eine eigene philosophische Einführung (II.) und durch eine ausführliche, von mir nur ergänzte Kommentierung in den Fußnoten einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis dieser Vorlesung leistet. Ich bin Harald Seubert dankbar, dass er darüber hinaus nicht nur (auch aus philosophischen Gründen!) den entscheidenden Anstoß zur Herausgabe dieser bislang noch nicht publizierten Vorlesung des jungen Schlatter gab, sondern auch die maßgebliche Vorarbeit zur gemeinsam verantworteten Transkription geleistet hat. Um das hiermit der Öffentlichkeit präsentierte, in vieler Hinsicht ungewöhnliche Werk Schlatters theologisch besser einordnen und nachvollziehen zu können, möchte ich im Folgenden einige Hinweise zum adäquaten Verständnis dieser Vorlesung geben:

1. Die Voraussetzung der Vorlesung: Schlatters Berner Habilitationsrede Ein wesentlicher Schlüssel zu ihrem Verstehen ist seine am 6. Mai 1881 in Bern gehaltene Habilitationsrede. Denn sie legt die konzeptionellen Grundlagen offen, die für die gesamte akademische –9–

Lehrtätigkeit nicht nur des jungen Privatdozenten, sondern auch des späteren Theologen Schlatter gelten. Besonders aber trifft dies für die Vorlesung »Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis« zu. Aufgrund ihrer fundamentalen theologischen Bedeutung für Schlatters gesamtes exegetisches und systematisches Werk wurde die Habilitationsrede diesem Buch im Anhang beigefügt, zumal sie bislang gleichfalls noch unveröffentlicht ist. Denn diese als programmatisch anzusehende Rede erörterte ganz grundsätzlich die Grundlagen theologischer Wahrheitserkenntnis und damit einen wesentlichen Teil jener Thematik, die Schlatter dann erheblich ausführlicher in der Vorlesung »Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis« konkret zu entfalten suchte. Schon in seiner ersten Berner Vorlesung »Ausgewählte Abschnitte aus der alttestamentlichen Theologie« [1881] hatte Schlatter herausgearbeitet, dass die dem christlichen Glauben zugrunde liegende Wahrheit trotz ihrer universalen (und insofern übergeschichtlichen!) Geltung ganz auf der geschichtlichen Offenbarung Gottes beruht: »An sich freilich ist die Wahrheit das Ungewordene und Unveränderliche, das Übergeschichtliche, Ewige. Doch dies nur, sofern sie Inhalt des göttlichen Seins und Denkens ist. Als in menschliches Sein und Bewusstsein eingehend gewinnt sie eine Geschichte.«3 In seiner wenige Monate später gehaltenen Habilitationsrede nutzte Schlatter dann die Gelegenheit, »die Beziehungen der Geschichte zur Gotteserkenntnis«4 näher darzulegen: In dieser Rede betonte Schlatter mit großer Entschiedenheit, dass alle Theologie auf »Empirie« beruhe, d.h. auf »der realen Wechselwirkung zwischen dem Seienden und dem Geiste«, die sich in realitätskonformen »Wahrnehmungen« dokumentiere: »Nur was zuerst Moment unsres Lebens ist, kann Moment unsres Denkens werden« (7f.). Insofern ist diese Vorlesung ein eindrucksvolles programmatisches Plädoyer für das von Schlatter lebenslang vertretene Konzept einer 3 Ausgewählte Abschnitte aus der alttestamentlichen Theologie 1f. [Nr. 190] (Hervorhebung W.N.). 4 Brief an seine Schwester Christine, 15.5.1881 [Nr. 464/1].

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»empirischen Theologie« bzw. einer »Theologie der Tatsachen«.5 Diese prinzipielle Voraussetzung präzisierte Schlatter dahingehend, dass die christliche Theologie auf »bestimmten geschichtlichen Tatsachen«, nämlich der »historische[n] Gestalt Jesu« – und damit auf der Geschichte – beruhe (1):6 »Im historischen Elemente liegt die produktive Kraft, welche … den gesamten Prozess christliche[r] Gedankenbildung hervorgerufen hat« (ebd. 2). Die ganze christliche Dogmengeschichte sei trotz aller manchmal gewagten Spekulation »dominirt von der Geschichte«. Maßstab für alle dogmenhistorische Begrifflichkeit sei stets das geschichtliche »Faktum« gewesen (ebd. 4f.). Schlatter grenzt seinen konsequent an beobachtbaren Tatsachen orientierten »empirischen« Ansatz in der Rede zugleich konsequent ab von der Begründung der Theologie auf eine geschichtslose »Mystik« oder auf die im damaligen Protestantismus beliebte gleichfalls geschichtslose Theologie des »christlichen Bewusstseins«: Theologisches »Wissen und Wahrheit« kann es nach seiner theologischen, aber auch philosophischen Überzeugung einzig und allein durch die in der Empirie wahrnehmbare Wirksamkeit Gottes geben (ebd. 12)! In seiner Berner Antrittsvorlesung hat Schlatter den ihm eigenen Ansatz einer ganz in der Geschichte und in der erfahrbaren Wirklichkeit begründeten Theologie scharf und deutlich markiert. Er vollzog damit nicht nur eine Abgrenzung von den Strömungen der rationalistischen, liberalen und vermittelnden Theologie seines 5 Adolf Schlatter, Briefe über das christliche Dogma, Stuttgart 21978, vgl. dazu meine Dissertation Der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik bei Adolf Schlatter, Giessen/Basel 1986, 26–28 und meine Schlatter-Biographie, aaO 160f. (s.o. Anm. 1). Zum systematischtheologischen Recht und zur Grenze einer »empirischen Theologie« vgl. Werner Neuer, Art. »Empirische Theologie«, in: ELThG I. 22017, 1655–1658. 6 Schlatter unterscheidet – im Unterschied zu vielen Vertretern der neueren Theologie – bewusst nicht zwischen »Historie« und »Geschichte«.

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Jahrhunderts, sondern auch von den unter biblizistischen, konfessionalistischen oder (von Schleiermacher beeinflussten) subjektivistischen Voraussetzungen stehenden Spielarten der zeitgenössischen positiven Theologie: In seiner zukünftigen theologischen Arbeit versuchte Schlatter ein eigenes Konzept einer »positiven Theologie« zu entfalten, das sich zwar auch an Schrift und Bekenntnis orientierte, vor allem aber auf jene in der Habilitationsrede programmatisch anvisierte »Theologie der Tatsachen« zielte. Diese war eindeutig biblisch, aber nicht biblizistisch, sie sah sich dem reformatorischen Erbe mit seiner Christozentrik verpflichtet, war aber nicht konfessionalistisch, und sie fand ihre Erkenntnisgrundlagen nicht subjektivistisch im »frommen Bewusstsein«, sondern in der das Bewusstsein transzendierenden objektiven Realität von (Heils-) Geschichte und Schöpfung.

2. Die Vorlesung als Konkretisierung einer »empirischen Theologie« Schlatters Kolleg »Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis« (Sommersemester 1883) war für ihn eine willkommene Gelegenheit, seine Konzeption einer »empirischen Theologie« zwei Jahre später systematisch-theologisch zu konkretisieren und näher zu begründen. Wie in der Habilitationsrede, so ging er auch hier von der Prämisse aus: »Die Grundform alles Erkennens ist Empirie. So ruht alles Erkennen in einem Wesensverhältnis zwischen dem Ich und dem Seienden, in einem lebendigen Verband zwischen beiden. Das Prius alles Erkennens ist ein Realkontakt, ein Wesensverband zwischen der erkennenden Seele und dem erkannten Gegenstand« (M  3). Wie schon in der Habilitationsrede setzte Schlatters Vorlesung den klassischen Wahrheitsbegriff (im Sinne des erkenntnistheoretischen Realismus) voraus: Wahrheit ist für ihn »Kongruenz unsrer Gedanken mit dem Seienden« (ebd.). Während er in § 2 unter Rückgriff – 12 –

auf die Philosophiegeschichte das Erkennen wie in der Rede auf die »Wahrnehmung« gründet, sucht er jetzt die Erkenntnis im Sinne einer empirisch begründeten Erkenntnislehre als Dreischritt von »Wahrnehmung«, »Analyse« und »Synthesis« zu entfalten. Bei der Skizzierung der Grundlagen der Gotteserkenntnis (§ 3) ist Schlatter allerdings genötigt, die prinzipiellen Grenzen einer rein empirischen Vorgehensweise aufzuzeigen, indem er zwei naheliegende Einwände erörtert: Einerseits stellt er klar: »Unmittelbare Wahrnehmung Gottes haben wir nicht.« Empirische Gotteserkenntnis kann es also nur geben durch mittelbare, d.h. durch Empirie vermittelte Wahrnehmung: »Alles, was wir von Gott aussagen können, ist uns durch die Welt vermittelt« (ebd. 13). Da die geschöpfliche Welt als ganze Gottes Werk ist, gilt daher, dass »wir Gott nur aus seinen Werken« kennen (ebd. 15). Aufgrund der Geschöpflichkeit der Welt haben wir deshalb »kein Recht«, »von vornherein irgendein Gebiet der erfahrbaren Welt auszuschließen als unfähig, uns Erkenntnis Gottes zu vermitteln« (ebd.). Andererseits haben wir nach Schlatter kein Recht zu postulieren, »dass jedes Ding und Ereignis der Welt in selbiger Deutlichkeit und Vollständigkeit Zeuge Gottes an uns sei« (ebd. 16). Die prinzipielle Universalität der Erkennbarkeit Gottes muss daher faktisch eingeschränkt werden auf jene Werke Gottes, wo wir ihn »in seinem Handeln an uns und für uns« erfahren können (ebd. 16). Entscheidend für die Möglichkeit empirischer Gotteserkenntnis ist allerdings nach Schlatter nicht ein dem Menschen eigenes »natürliches« Erkenntnisvermögen, sondern die »Selbstbezeugung« Gottes, wie sie vor allem in der biblischen »Offenbarung«, aber auch in der Schöpfung vorliegt!7 Daher wird im vorletzten Paragraphen zunächst die (im Alten Testament dokumentierte) Geschichte Israels und dann vor allem die (neutestamentlich bezeugte) Geschichte Jesu 7 Schlatter gebraucht den Begriff »Selbstbezeugung« in der Vorlesung zweimal, häufiger dagegen die Begriffe »Selbstzeugnis« (9 mal) und am häufigsten die Begriffe »Offenbarung« und »offenbaren« (41 mal).

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Christi erörtert, da in dieser nach Schlatters Überzeugung Gottes Selbstmitteilung am unmittelbarsten und insofern auch am deutlichsten erkennbar ist: »die Offenbarung Gottes … geschieht nicht nur durch ihn, er ist sie« (ebd. 156, Hervorhebung W.N.). Schlatter schließt im letzten Kapitel mit der Bibel (§  10), weil diese beide geschichtlichen Selbstbekundungen Gottes in ihr dokumentiert und ausschließlich durch sie erkennbar sind. Fundamentaltheologisch ausschlaggebend für das Verständnis von Schlatters Konzeption ist an dieser Stelle die Einsicht, dass empirische Erkenntnis und Gottes Offenbarung keine sich ausschließenden Gegensätze sind! Was zunächst nur als menschlichvernünftige Erkenntnis einer speziellen religiösen Geschichte erscheint, erweist sich bei tieferer Betrachtung zugleich als Selbstkundgebung Gottes, der sich auf diese Weise dem Menschen als seinem Geschöpf zu erkennen gibt! Schlatter beruft sich in diesem entscheidenden Punkt ausdrücklich auf Röm 1,19f., wo Paulus die menschliche Vernunft ausdrücklich als Adressaten dieser Selbstbezeugung Gottes hervorhebe: Paulus leite den »natürlichen Erkenntnisbesitz des Menschen … aus den Werken Gottes ab und zwar durch Vermittlung des noein, d.h. vernünftiger Überlegung« (ebd. 18).

3. Die Vorlesung als konkrete Aktualisierung der kirchlichen Lehre von der Schöpfungsoffenbarung Schlatter versteht in seiner Berner Vorlesung die sog. »natürliche Gotteserkenntnis« im Lichte der Heiligen Schrift strikt offenbarungstheologisch: Die dem Menschen geschenkte cognitio naturalis ist nach Schlatter zugleich theologia naturalis, weil sich in der »natürlichvernünftigen« Erkenntnis faktisch Gottes Selbstoffenbarung ereignet, der dem Menschen auch als Sünder sein Dasein und seine Werke kund tut! Schlatter vertritt hier die alte kirchlich-theologische Lehre von der Schöpfungsoffenbarung bzw. revelatio generalis (oft auch – 14 –

– missverständlich – als theologia naturalis bezeichnet), welche die Kirche der Sache nach seit der apostolischen Zeit unter Berufung auf Röm 1,19f. u.a. vertreten hat.8 Diese Theologie der Schöpfungsoffenbarung verankerte alle sog. »natürliche« Gotteserkenntnis nicht (wie der Begriff nahelegen könnte) in einem offenbarungslosen »natürlichen« Erkenntnisvermögen des Menschen, sondern in der Selbstmitteilung Gottes. Wilhelm Lütgert (1867–1938), der wohl kongenialste spätere Schüler Adolf Schlatters, hat diese Einsicht 50 Jahre später (1934) in dem prägnanten Satz zusammengefasst: »Alle Erkenntnis Gottes beruht auf einer Selbstmitteilung Gottes. Wir erheben uns nicht zu Gott, wenn Gott sich nicht zu uns herabläßt.«9 Diese Feststellungen haben axiomatischen Charakter und sind wichtig, um die in der Bibel begründete kirchliche Lehre richtig zu verstehen und zu interpretieren. Sie zeigen nämlich klar, dass die Lehre von der Schöpfungsoffenbarung hat also nicht – wie es im 20. Jahrhundert vor allem Karl Barth unterstellte10 – der »natürlichen« Vernunft einen eigenmächtigen Zugriff zu Gott (an dessen Offenbarung vorbei) zugeschrieben, der Gott zum bloßen Objekt menschlichen Erkennens machen würde, sondern Gottes absolut souveräne Selbstoffenbarung voraussetzt, welche die Vernunft zum Objekt ihres Handelns macht. Der Erlanger lutherische Dogmatiker Paul Althaus (1888–1966), ein anderer später berühmt gewordener Schüler Schlatters, hat diesen Sachverhalt in die gleichfalls prägnante Formulierung gefasst: »Nicht unsere Vernunft ist der Offenbarung mächtig, aber die Offenbarung ist unserer Vernunft mächtig.«11 8 Vgl. dazu Paul Althaus, Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Gütersloh 81972, 51–56. 9 Wilhelm Lütgert, Schöpfung und Offenbarung, Gießen/Basel, (1934) 2 1984, 136. Die lutherische Orthodoxie war sich immer bewusst, dass Gott der Urheber aller (auch der sog. »natürlichen«) Gotteserkenntnis ist. Vgl. dazu Carl Heinz Ratschow, Gott existiert. Eine dogmatische Studie, Berlin 1966, 30–36. 10 Vgl. Karl Barth, KD 1,142ff., 148ff. 11 P. Althaus, aaO 34 (s.o. Anm. 8).

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Schlatter hat sich in seiner Vorlesung also – wenn auch in einer sehr eigenständigen, keineswegs »traditionalistischen« Weise – in eine alte biblisch-kirchliche Lehrtradition hineingestellt, die zu jenem Zeitpunkt zumindest von solchen Dogmatikern noch akzeptiert werden konnte und auch vertreten wurde, die sich an der Schrift und der kirchlichen Tradition auszurichten suchten. Dies gilt zum Beispiel für den leider zu Unrecht vergessenen Leipziger lutherischen Dogmatiker Christoph Ernst Luthardt (1823–1902), der in seinem damals weit verbreiteten »Kompendium der Dogmatik« (1882) ein Jahr vor Schlatters Vorlesung ähnlich pointiert wie dieser sein Kapitel über die »natürliche Gottesoffenbarung« mit der jedes Missverständnis ausschließenden Feststellung begonnen hatte: »Alles Wissen von Gott ruht auf Offenbarung.« Denn Wissen von Gott habe stets »zur Voraussetzung, dass Gott … aus s[einem] In und für sich Sein herausgetreten« ist.12 Diese sich auf Röm 1,19f. u.a. stützende Tradition einer revelatio generalis (oder manifestatio naturalis) wurde in der Theologiegeschichte und in der Geschichte der Naturwissenschaft über viele Jahrhunderte hinweg als doppelte Offenbarung Gottes im »Buch der Schrift« und im »Buch der Natur« verstanden, die beide inhaltlich übereinstimmen, auch wenn die Offenbarungsweise der beiden Bücher unterschiedlich ist.13 Diese Sicht war geeignet, die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft im christlichen Europa zu fördern, so dass sich Theologie und Naturwissenschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein meist nicht als Konkurrenten, sondern als sich gegenseitig befruchtende Ergänzung verstanden.14 Erst im 12 Christoph Ernst Luthardt, Kompendium der Dogmatik. Leipzig 6 1882, 74. Vgl. auch ders., wenig später in: Die christliche Glaubenslehre gemeinverständlich dargestellt, 1898 (=  21906), 94: »Alle Gotteserkenntnis ruht auf Gottesoffenbarung. Denn von uns selbst aus finden wir Gott nicht; nur durch Gott selbst wissen wir von ihm.« 13 Vgl. dazu die instruktive Abhandlung von Fritz Büsser: Das Buch der Natur. Grosse Theologen über Schöpfung und Natur, Stäfa 1990, die diese Tradition anhand zahlreicher Texte von Theologen und Naturwissenschaftlern bis ins 20. Jahrhundert hinein eindrucksvoll dokumentiert. 14 Die gewiss beklagenswerte, aber oft falsch interpretierte Verurtei-

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20. Jahrhundert wurde die biblisch wohl begründete und kirchlich anerkannte Lehre von der Schöpfungsoffenbarung im Protestantismus aufgrund der Dialektischen Theologie Karl Barths grundsätzlich problematisiert und infrage gestellt15 (s.o.).

4. Die Vorlesung als Synthese von biblischer Schöpfungsoffenbarung und moderner Naturwissenschaft Dennoch war es schon im ausgehenden 19. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich, dass Schlatter in seiner Vorlesung noch an der traditionellen Sicht der Schöpfungsoffenbarung festhielt, ja sogar die seit Kant scheinbar widerlegte Tradition der Gottesbeweise in eigenständiger, aber grundsätzlich positiver Weise aufgriff (s.u. § 5). Denn im Gefolge von Kants These einer prinzipiellen Unerkennbarkeit Gottes aus der Empirie schien Schlatters Konzept einer empirischen Theologie philosophisch wie theologisch gleichermaßen fragwürdig zu sein. Erst recht gilt dies für seine durchaus kritisch reflektierte Bejahung der Tradition der Gottesbeweise, die bekanntlich auch von der reformatorischen Theologie der Sache nach nie verworfen wurde und seit Melanchthon16 auch im Protestantismus vor Kant durchaus Anerkennung fand. Ähnlich gewagt und problematisch schien Schlatters prinzipielle Bejahung der überlieferten Lehre von der Schöpfungsoffenbarung, lung Galileis durch die römisch-katholische Kirche (vgl. dazu Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 6 1990, 96–117) ist für die jahrhundertelang von der Christenheit akzeptierte und von vielen christlichen Naturwissenschaftlern sogar wesentlich mitgestaltete naturwissenschaftliche Forschung nicht typisch (man denke nur an Bacon, Kepler, Newton und Leibniz)! 15 Vgl. dazu P. Althaus, aaO 51–61 (s.o. Anm. 11). 16 Vgl. dazu Günter Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497–1560), Leipzig 1595, 183–339.

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zumal die Jahrhunderte alte, lange Zeit unangefochtene Annahme einer Übereinstimmung von Naturwissenschaft und christlicher Schöpfungstheologie schließlich noch aus einem ganz anderen Gesichtspunkt: gerade zum Zeitpunkt der Vorlesung fraglich oder sogar scheinbar unhaltbar zu werden drohte: Denn ein Jahr davor war der international berühmte Biologe Charles Darwin (1809–1882) verstorben und in der Westminster Abbey ehrenvoll begraben worden, der vor allem durch seine Publikationen »Die Entstehung der Arten« (1859) und »Die Abstammung des Menschen« (1871) eine epochale Wende in den zeitgenössischen Naturwissenschaften herbeigeführt hatte. Der durch Darwin ausgelöste Paradigmenwechsel hatte nämlich zur Folge, dass viele damalige Naturwissenschaftler (und maßgebliche Teile der Gesellschaft) den biblischen Bericht von der speziellen Erschaffung des Menschen durch Gott in Frage stellten und dadurch auch die bislang allgemein vertretene Überzeugung von der absoluten Sonderstellung des Menschen gegenüber der Tierwelt zweifelhaft wurde.17 Nur wenige Jahre später (1899) publizierte der deutsche Biologe und glühende Anhänger Darwins Ernst Haeckel sein in viele Sprachen übersetztes Buch »Welträtsel«, das enorm zur Verbreitung der Evolutionslehre Darwins beitrug und der biblischen Offenbarung eine scheinbar durch Darwins Erkenntnisse begründete18 materialistisch-pantheistische »monistische 17 Vgl. zur noch immer tiefgreifenden Wirkungsgeschichte Darwins die Darstellung des bekannten Wissenschaftshistorikers Ernst Peter Fischer: Gott und der Urknall. Religion und Wissenschaft im Wechselspiel der Geschichte, Freiburg i.Br. 2017, 179–210. 18 Dass man freilich zwischen der Auffassung Darwins und der Weltanschauung des Darwinismus erheblich unterscheiden muss, ist historisch gesichert und muss wissenschaftshistorisch beachtet werden. Vgl. dazu Hans Kessler, Kein Atheist: Wie Darwin zu Religion und Schöpfungsglauben stand, in: tabularasa. Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken, (Ausgabe 39/Januar 2010) und John Hedley Brooke, Charles Darwin über die Religion, April 2013 (in: https://www. theologienaturwissenschaften.de/startseite/leitartikelarchiv/darwin-ueber-diereligion.html). Zum Streit um den Darwinismus als naturwissenschaftliche Theorie und als Weltanschauung vgl. zusammenfassend;

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Religion« entgegenzusetzen suchte. Haeckels »Welträtsel« wurde »von London bis San Franzisko und Sidney« eines der am meisten gelesenen Sachbücher der damaligen Zeit.19 Auch Schlatter nahm die damalige Entwicklung des Naturbildes von Darwin bis Haeckel aufmerksam zur Kenntnis, wies aber den evolutiven Monismus Haeckels schon am Anfang seiner Tübinger Lehrtätigkeit wegen seiner »die Grenzen der Beobachtung weit überschreite[nden]« »spekulative[n] Kühnheit« als unseriös und unhaltbar zurück.20 Bedenkt man die skizzierte geistesgeschichtliche Situation, war es jedenfalls alles andere als selbstverständlich, dass Schlatter in seiner Berner Vorlesung nicht nur an der jahrhundertelang üblichen theologischen Übereinstimmung von Glaube und Naturwissenschaft festhielt, sondern diese sogar mit originellen theologischen und philosophischen Argumenten geistreich und durchaus offensiv zu verteidigen und zugleich zu vertiefen suchte: Dass sich Schlatters Vorlesung um den Nachweis bemühte, dass sich das christliche Verständnis der Welt und des Menschen als Schöpfung Gottes und die naturwissenschaftliche Sicht in keiner Weise widersprechen müssten, solange die Naturwissenschaft frei bleibe von unsachgemäßen weltanschaulichen Überinterpretationen, war angesichts der damaligen Lage durchaus eine Herausforde-rung an die Hörer, zumal die evangelische Theologie im 19. Jahrhundert – im Unterschied zu Schlatter und nicht repräsentativen Außenseitern wie Luthardt – den Bereich der Natur weitgehend den Naturwissenschaften oder der spekulativen Philosophie überließ. Schlatter sah sich demgegenüber aus biblisch-theologischen Gründen, aber auch aus Gründen einer auf beobachtbaren Tatsachen beruhenden Naturphilosophie genötigt, einem weltanschaulich überhöhten Darwinismus ebenso Thomas Kirchhoff, Nicole C. Karafyllis u.a., Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, 68ff. 19 Vgl. Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Mit einer Einleitung von Iring Fetscher, Stuttgart 1984, V. 20 Vgl. Adolf Schlatter: Die philosophische Arbeit seit Cartesius, Ihr ethischer und religiöser Ertrag, Stuttgart 31923 (= Gießen 51981), 279.

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zu widersprechen wie dem sich damals ebenfalls verbreitenden Naturalismus, da dieser die Gottesfrage nicht nur methodisch, sondern auch prinzipiell ausblendete, so dass eine atheistische Naturbetrachtung zur unvermeidlichen Konsequenz wurde. Die vorliegende Vorlesung macht auf eindrucksvolle Weise deutlich, wie Schlatter mit beachtlichem Scharfsinn und bedenkenswerten Argumenten aufzuzeigen suchte, dass Menschsein und Natur nicht aus sich selbst heraus, sondern erst unter der Voraussetzung eines Schöpfergottes hinreichend verstanden werden können, so dass die gesamte kreatürliche Realität das menschliche Denken trotz der naturwissenschaftlichen Fortschritte noch immer unausweichlich vor die Wirklichkeit Gottes des Schöpfers stellt. Dass Schlatters Argumentation dabei auch einen in der Sicht heutiger Forschung z.T. überholten Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis widerspiegelt, ist nach über 130 Jahren nicht verwunderlich. Eher überraschend ist die Tatsache, dass viele seiner theologischen und naturphilosophischen Einsichten (z.B. seine Verdeutlichung der erstaunlichen Intelligibilität der Natur,21 ihrer verblüffenden mathematisch beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten,22 ihrer in der organischen Welt unübersehbaren teleologischen Strukturen,23 ihrer qualitativen ontologischen Stufenordnung24) durch neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse25 oder 21 Vgl. dazu die Bücher der berühmten britischen Mathematiker Roger Penrose, Der Weg zur Wirklichkeit, Heidelberg 2010 und John Lennox, Hat die Wissenschaft Gott begraben? Eine kritische Analyse moderner Denkvoraussetzungen, Witten, 82009, 83ff., 211ff. 22 Vgl. dazu außer R.  Penrose, aaO 9–37 u.ö. die Ausführungen des Physikers und Philosophen Karl Friedrich v. Weizsäcker, aaO 61ff. u. 127 (s.o. Anm. 14). 23 Vgl. dazu die philosophische Analyse von Robert Spaemann/Reinhard Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 21985, v.a. 239–296 u.a. 24 Vgl. dazu die Entfaltung der geistigen Stufenordnung der Natur durch den theoretischen Physiker und Naturphilosophen Walter Heitler, Die Natur und das Göttliche, Zug 1974. 25 Vgl. z.B. den erst in zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert von den Phy-

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eine Wiederbelebung alter naturphilosophischer Einsichten26 seither in ihrer grundsätzlichen Berechtigung bestätigt wurden! Dies kann hier natürlich nicht im Einzelnen dargestellt oder diskutiert werden. Die Publikation dieser Vorlesung könnte aber – so ist jedenfalls zu hoffen – dazu beitragen, dass die gegenwärtige christliche Theologie sich wieder neu auf die in der Heiligen Schrift bezeugte Gutheit, Lebensdienlichkeit, Sinnhaftigkeit und Herrlichkeit der uns Menschen von Gott anvertrauten Schöpfung und auf die sittlich relevante Heilsamkeit ihrer Ordnungen besinnt und sich aufmacht, diese wieder ganz neu zu entdecken!

5. Die Vorlesung als Versuch einer schöpfungsgemäßen und daher realistischen Theologie Für Schlatter war sein in zeitgenössischer Sicht provozierendes Festhalten an der göttlichen Weisheit und Liebe in der Schöpfung nicht nur erforderlich wegen der unabdingbaren Bibelgemäßheit der christlichen Theologie oder ihrer – für ihn ebenso unverzichtbaren – apologetischen Begründbarkeit angesichts der weltanschaulichen sikern entdeckten sog. Urknall, der die materialistische These der Anfangslosigkeit und Ewigkeit der Welt in Frage stellte und die biblische Sicht eines Weltanfanges bestätigte (vgl. W.L. Craig, Die Existenz Gottes und der Ursprung des Universums, Wuppertal 1989, 52–86), oder die – ebenfalls erst von der modernen Physik entdeckte –, verblüffende extrem unwahrscheinliche Feinabstimmung der kosmischen Naturkonstanten, ohne die menschliches Leben auf der Erde völlig unmöglich wäre u.a. 26 Vgl. die Rehabilitation aristotelischer Naturphilosophie durch den namhaften Wiener Philosophen Erich Heintel in: Die beiden Labyrinthe der Philosophie. Systemtheoretische Betrachtungen zur Fundamentalphilosophie des abendländischen Denkens, Bd.  1, Wien/ München 1968, 72–159 u.ö.

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Herausforderungen ihrer Zeit, sondern zutiefst auch eine Frage ihrer Wirklichkeitsadäquatheit: Die von ihm intendierte empirische »Theologie der Tatsachen« konnte sich nicht auf die in der Bibel bezeugten geschichtlichen Grundlagen des Heils in Israel und in Christus beschränken, sondern musste auch Natur und Menschsein als schöpfungsmäßige Voraussetzung christlicher Dogmatik und Ethik angemessen berücksichtigen. Schlatter hat dies später in seiner und in eindrucksvoller Weise zu realisieren versucht. Es ist von den Interpreten seiner Theologie zu Recht immer hervorgehoben worden, dass sich seine eigene systematische Theologie dogmatisch und ethisch durch eine ungewöhnlich starke Bejahung und Berücksichtigung von Schöpfung und Natur auszeichnete (s.u. 6.).27 Die betont schöpfungstheologische Ausrichtung, die für Schlatters gesamtes (vor allem systematisches) Werk kennzeichnend ist, könnte für die evangelische Theologie angesichts der zunehmenden Schöpfungsfeindlichkeit gerade heute wegweisend und impulsgebend sein, die leider heute für den Protestantismus gerade bei ethischen Fragen in hohem Maße kennzeichnend ist. Denn diese droht mehr und mehr zu einem schwerwiegenden ökumenischen Hindernis zu werden und vertieft die ohnehin schon bestehende Spaltung der einen Kirche Jesu Christi in einer bedenklichen Weise. Dass das Verständnis der Natur als Schöpfung Gottes von enormer Tragweite gerade für den ethischen Umgang mit der uns umgebenden Natur ist, hat zwar auch der zeitgenössische Protestantismus mit Hilfe der ökologischen Bewegung inzwischen verstanden und bemüht sich, dem durch eine angemessene Tier-, Pflanzen- und Umweltethik Rechnung zu tragen. Nicht hinreichend erkannt hat er aber, dass die ökologische Frage und die Schöpfungsethik nicht auf Umwelt oder Klima reduziert werden darf, sondern auch die heute höchst bedrohte, bislang aber 27 Zu Schlatters Schöpfungsethik und seiner theologischen Bejahung von »Schöpfungsordnungen« vgl. meine Dissertation: Der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik bei Adolf Schlatter. Eine Untersuchung zur Grundlegung christlicher Ethik, Gießen/Basel 1986, 123–171.

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stark vernachlässigte menschliche Natur betrifft. Dies hat Papst Benedikt XVI. in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag zur Mahnung veranlasst, in Zukunft auch die bislang zu kurz gekommene, aber dringend notwendige »Ökologie des Menschen« angemessen zu berücksichtigen, dessen Natur und sogar Existenz heute in vieler Hinsicht gefährdet sind: Papst Benedikt, sein Nachfolger Franziskus und seine Vorgänger, haben diese Bedrohung des Menschen und seiner Natur immer wieder angesprochen, die heute – um nur einige wichtige Beispiele zu nennen – durch Massenabtreibung und Euthanasie, aber auch durch die Verneinung der von Gott gestifteten, in der Gegenwart aber heftig bestrittenen Schöpfungsordnungen (beispielsweise von Ehe und Familie, Zweigeschlechtlichkeit und wesenhaft prokreativer Sexualität des Menschen).28 Auch wenn Schlatters Vorlesung die ethische Dimension der menschlichen Geschöpflichkeit nicht im Einzelnen thematisiert, hat er in ihr insbesondere durch seine Herausarbeitung der Natur als Ausdruck des Wohlwollens und der Güte Gottes (in M 80 unter Verweis auf Apg 14) eine geistige Grundlage gelegt, auf der er in seinem späteren Werk dann seine konkrete Schöpfungsethik aufbauen konnte. Noch auf einen letzten Aspekt sei abschließend in dieser theologischen Einführung verwiesen:

28 Benedikts Forderung einer »Ökologie des Menschen« wurde wenigstens skizzenhaft einzulösen versucht in der 2015 erschienenen und in mehrere Sprachen übersetzten, ökumenischen Salzburger Erklärung zur »heutigen Bedrohung der menschlichen Geschöpflichkeit und ihre[r] Überwindung«, die von zahlreichen Kardinälen, Bischöfen, Professoren, Theologen und Laien aus vielen Kirchen und Konfessionen unterschrieben wurde. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Salzburger Erklärung – Vorgeschichte, Inhalt und bisherige Rezeption eines ökumenischen Dokuments zur »Ökologie des Menschen«, in: Rivista teologica di Lugano (2/2016) 245–258.

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6. Die Vorlesung als Beispiel einer Schöpfung und Erlösung umgreifenden doxologischen Theologie Die Vorlesung Schlatters konzentriert sich aufgrund ihrer theologischen Fragestellung nach Wesen und Quellen einer dem Menschen zugänglichen Gotteserkenntnis ganz auf die Frage, ob und – wenn ja wo – in der Natur, im Menschsein und in der Religionsgeschichte eine Offenbarung Gottes – und damit die Möglichkeit einer wirklichen Gotteserkenntnis – vorliege. Sieht man einmal von Theologie und Philosophie ab, die die Gottesfrage und die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit noch nicht aufgegeben haben, wird diese Frage in der Gegenwart von den Wissenschaften gar nicht mehr gestellt, weil ihre Beantwortung als wissenschaftlich unbeantwortbar gilt. Das Ergebnis von Schlatters Vorlesung ist angesichts der allgemein vorhandenen Skepsis erstaunlich: Schlatter stellt nicht nur fest, dass diese Welt ihr Dasein einem gütigen Schöpfergott verdankt, sondern dass dieser Gott darüber hinaus die Menschheit auch in Jesus von Nazareth definitiv von der Macht des Bösen und des Todes erlöst hat und sich deshalb – allen Theodizee-Einwänden zum Trotz – als Gott der verlässlichen und universalen Liebe erweist, der aufgrund der Verkündigung des biblischen Evangeliums auch heute noch erkannt werden kann und den Menschen zur liebenden Existenz beruft und befähigt (vgl, M 58ff., 105f., 119 u.ö.). Dem von Schlatter in beachtlicher denkerischer Klarheit gezeigten liebenden Gott der Bibel gebührt daher als angemessene Antwort des Menschen Glaube und liebende Hingabe, Dank und Anbetung! Schlatters Vorlesung mündet ein in eine Theologie, die nicht nur einen Wahrheitsanspruch hat, sondern den Hörer (bzw. Leser) in seiner gesamten Existenz beansprucht und zu einer Glaubenshaltung einlädt, die man treffend als doxologisch kennzeichnen kann. In der Tat verstand Schlatter das Leben der an Gott Glaubenden zutiefst als doxologische Existenz, d.h. als ein Leben, das auf das Lob und die Anbetung Gottes ausgerichtet ist. Dieses Leben wird schon im Alten Testament sichtbar und (z.B. in den Schöp– 24 –

fungspsalmen) eindrucksvoll entfaltet, im Neuen Testament aber auf der Basis der von Christus vollbrachten Erlösung weitergeführt und trinitarisch vertieft (vgl. Eph 4,1–14): In der doxologischen Existenz von Christen und christlicher Kirche als »Salz der Erde« und »Licht der Welt« (Mt 5,13f.) wird erkennbar, dass aufgrund der Erlösung in Christus die neue Welt Gottes bereits begonnen hat, da das neue eschatologische Menschsein (vgl. 2Kor 5,17) seither schon im diesseitigen christlichen Leben zu einer ersten Erfüllung gelangt, auch wenn die von Gott verheißene Verklärung und Vollendung alles Geschöpflichen in einem »neuen Himmel und einer neuen Erde« (Offb 21,1) noch aussteht. Adolf Schlatter besaß von Kindesbeinen an eine ungewöhnlich starke Beziehung zur Natur als Erweis der Schöpfergüte Gottes und empfand daher stets eine tiefe Einheit von Schöpfung und Erlösung, Natur und Gnade. Von dieser Grunderfahrung her hatte er eine besondere Vorliebe für den Schöpfung und Erlösung vereinenden Choral »Schönster Herr Jesu«29 (der auch bei seiner Beerdigung gesunden wurde) und vertrat nicht nur aus intellektueller Überzeugung, sondern aus tiefstem »Herzen« eine doxologische Theologie, die in Jesus die Einheit von Schöpfung und Erlösung wahrnimmt und in der gesamten Welt als Werk des dreieinigen Gottes eine unversiegbare Quelle ihres Gotteslobes sieht. Daher suchte er in Lehre und Verkündigung den Blick dafür zu öffnen, dass trotz Sünde, Leiden und Sterben der vergänglichen Welt die Herrlichkeit Gottes schon jetzt in der Schöpfung erkennbar ist und in der Existenz des Christen und der Kirche in neuer und verstärkter Weise aufstrahlt. Die Christenheit soll nach Schlatters Überzeugung durch ihr Dasein und Wirken schon hier und heute sichtbar machen, dass »Gottes Glanz auf allem liegt und Gottes Lob aus allem entsteht«,30 bevor in der neuen Welt Gottes alle Kreatur sichtbar vollendet und Gott »alles in allen« sein wird. In diesem großen und ewigen Horizont darf und 29 Vgl. meine Schlatter-Biographie, aaO 818 (s.o. Anm. 1). 30 A. Schlatter, … dass meine Freude in euch sei. Andachten, Stuttgart 4 1967, 285.

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muss Schlatters Berner Vorlesung letztlich verstanden und interpretiert werden: Theologie und Kirche dürfen das Lob Gottes des Schöpfers, Erlösers und Vollenders nie vernachlässigen oder gar verdunkeln und sollen die ihnen geschenkte eschatologische Existenz als »Licht der Welt« aufleuchten lassen (Mt 5,14–16) »zum Lob seiner Herrlichkeit« (Eph 1,14), der Herrlichkeit Gottes, des Vaters, der »Vater« aller »Herrlichkeit« ist (Eph 1,17)! Wenn die Herausgabe von Schlatters Berner Vorlesung dazu einen bescheidenen Beitrag leistet, dann hat sie ihren Zweck erfüllt!

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Harald Seubert

II. Philosophische Einführung 1. Charakteristik der Vorlesung Das hier erstmals im Druck vorgelegte Vorlesung Schlatters wurde im Sommersemester 1883, also in seiner philosophisch höchst produktiven Berner Privatdozentenzeit, zweistündig gehalten. Sie bietet das fundamentaltheologisch-philosophische systematische Gegenstück zu der am Gang der kantischen und nachkantischen Philosophie orientierten, im Jahr 2016 erschienenen Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie,31 die im Kern ein Zwiegespräch mit dem Denken Franz von Baaders war. Beide Vorlesungskorpora stehen in einer engen Korrelation. Schlatter bezieht die Fragestellung des Kollegs (§  1) von vornerein auf einen Erkenntnisbegriff, der aposteriori rekonstruiert, was wir tun, wenn wir erkennen. Erkenntnis soll nicht durch Analyse erst ermöglicht werden. Die Analyse setzt faktisch geschehende Erkenntnis vielmehr voraus. Hier zieht er eine aufschlussreiche Analogie: Auch Theologie ermöglicht den Glauben nicht erst. So komplex die fundamentaltheologische Frage der Gotteserkenntnis einzuschätzen ist, sie setzt den »lebendigen Verband mit Gott« weder in noch auch außer Kraft. Die Nachordnung des Erkennens gegenüber dem Sein wird also von Schlatter von Anfang an deutlich exponiert. Schlatter betont weiter, dass 31 A.  Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie  I. Die Berner Vorlesung (1884): Einführung in die Theologie Franz von Baaders, im Auftrag der Schlatter-Stiftung hg.  v. H.  Seubert unter Mitarbeit von W. Neuer, Stuttgart 2016.

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die nachfolgenden Erwägungen in der Systematischen Theologie situiert sind. Damit betreffen sie die »theologische Prinzipienlehre« oder »Fundamentalwissenschaft«. In diesem rekonstruierenden Sinn kommt aber der Philosophie eine entscheidende Bedeutung für die Theologie zu: eine Lektion, die sich innerhalb des Protestantismus bis heute keineswegs von selbst versteht, ebensowenig wie die Notwendigkeit einer Klärung der Gotteserkenntnis.32 Schlatter klärt zunächst den Erkenntnisbegriff. Er folgt dabei einem Realismus, der auch aus anderen seiner philosophischen Gedankengänge bereits sehr bekannt ist:33 Erkenntnis setzt »Wahrnehmung« voraus. Deshalb ist sie schon in der Struktur eben nicht reine Spontaneität, sondern Reaktion auf das empirisch Vorliegende. Schlatter kann deshalb summierend, durchaus in Übereinstimmung mit Aristoteles oder Thomas von Aquin, in Abgrenzung aber von jeder Transzendentalphilosophie, konstatieren: »Die Grundform allen Erkennens ist Empirie« (M 4). Die Wahrnehmungen, von denen dabei auszugehen ist, sind freilich keinesfalls so, wie ein reduktiver Empirismus nahelegt, einfach. Sie sind vielmehr komplex und erfordern eine Verbindung von Unterscheidungsakten, die teilweise implizit und vorbewusst vonstattengehen. Erst auf der Basis der Analyse ist wiederum eine Synthesis solcher Akte möglich. Näher versteht Schlatter die Analyse so, dass von komplexen Wahrnehmungen vereinfachende Kürzel, Abbreviaturen und Erin32 Die Denkanstrengungen von Wolfhart Pannenberg sind dabei – bedauerlicherweise – kaum schulbildend gewesen. Vgl. ders., Theologie und Philosophie, Göttingen 1996. Äußeres Indiz ist schon, dass evangelische theologische Fakultäten meinen, ohne einen Lehrstuhl für Philosophie auskommen zu können. Lange Zeit war im deutschen Sprachraum die Universität Heidelberg eine Ausnahme (Lehrstuhl Picht), heute setzt im deutschen Sprachraum die STH Basel einen gegenläufigen Akzent. Synkretistische Philosophie-Theologie-Mixturen kommen gerade deshalb und dort auf, wo eine klare philosophische Schulung und Ausrichtung fehlt. 33 Vgl. A. Schlatter, Metaphysik, hg. und eingeleitet von Werner Neuer, Tübingen 1987 (Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft Bd. 7).

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nerungsbilder, also Vorstellungen, gebildet werden, die wiederum zu Begriffen und Begriffskomplexen zusammengefasst (summiert) werden.34 Dieser Erkenntnisschritt ist eine »Realabstraktion«, im besten Fall: Herauslösung der charakteristischen Züge, die ein Seiendes erfassbar machen. Allein schon diese analytische Vorgehensweise transzendiert im Sinn Schlatters das räumliche und zeitliche Gegebensein der erfahrbaren Gegenstände. Das Empirische ist geworden, es verweist also auf Ursachen. Erst wenn der Erkenntnisakt zu Ursachen gelangt ist, die sich nicht mehr weiter zergliedern lassen, können die Wirkungen der Ursachen erschlossen werden. Darin sieht Schlatter das Recht des von ihm nie bestrittenen, aber in seine Grenzen verwiesenen apriorischen Erkennens. Schlatter betont im Sinn dieser Eingrenzung, dass der »aposteriorische Gedankengang Bedingung des apriorischen« sei. Diese bislang rein systematische Entwicklung der Erkenntnisarchitektur führt Schlatter zur Abgrenzung gegenüber zwei Positionen, die er nicht so sehr epochenspezifisch als vielmehr grundsätzlich und epochenübergreifend verstanden wissen will, als philosophische Schulen und Denkarten, die in verschiedenen Epochen begegnen: Der Skepsis und dem »Apriorismus«. Unter der Skepsis fasst Schlatter nicht nur die Negation aller möglichen sicheren Erkenntnis, sondern – und insofern rechnet er Kant unter die Skepsis – auch die Behauptung, dass nur die Erscheinungen, nicht aber die Dinge an sich erkennbar seien. Schlatters Realismus zeigt sich hier in der dezidiert antiskeptischen Aussage, dass das Dasein der Welt und seine Erkennbarkeit nicht legitim bestritten werden können. Der Skeptiker muss seine Behauptungen vor diesem Hintergrund redlicherweise einschränken: Er kann legitimerweise nicht die Welt leugnen, muss sie aber ins Innere des Bewusstseins oder

34 Siehe Schlatter, Metaphysik, aaO, 7ff. (s.o. Anm.  33) Dazu auch J.  Walldorf, Realistische Philosophie. Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters, Göttingen 1999.

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der Seele verlagern,35 von der Schlatter gut aristotelisch als Organ der Wahrnehmung des Realen ausgeht. Diese Position gewinnt im Zeitalter eines neuen Realismus, der in den letzten Jahren gegenüber Konstruktivismus und Dekonstruktivismus wieder vermehrt vertreten wird, eine durchaus aktuelle, diskutierenswerte philosophische Bedeutung.36 Mit derselben Richtung korrespondiert auch Schlatters entschiedene Zurückweisung des gleichfalls als epochenübergreifendes Phänomen begriffenen Apriorismus. Er stellt ihn in Frage, indem er ihn auf seinen genetischen Impuls hin untersucht. So ist der Apriorismus nach Schlatter »Rückschlag gegen die Skepsis« – in der Antike erkennbar an der Positionierung Platons und Sokrates’ gegen die Sophisten, in der Neuzeit Kants gegenüber Hume. Gerade Kant bleibe aber in der Skepsis verhaftet. Zum anderen und systematisch tiefergehend, zeigt Schlatter, dass der Apriorismus die Fixierung bestimmter wissenschaftlicher Traditionen voraussetzt, die gar nicht mehr als Traditionen verstanden, sondern wie »Naturformen des Geistes« genommen werden. Die Beispiele machen diese Überlegung geradezu schlagend: Schlatter nennt den antiken Platonismus in seiner Wirkung auf die Dogmenbildung der griechischen Kirche, den mittelalterlichen Aristotelismus und seine Erneuerung im Rationalismus des 16.–17. Jahrhunderts oder das Paradigma der Euklidischen Geometrie bei Spinoza oder Descartes. Im folgenden Gedankenzug (M  §  3) wird die Zurückweisung des Apriorismus 35 Dazu auch Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 67–82 (s.o. Anm. 31). 36 Für die deutsche Diskussion M.  Gabriel, Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Karl Alber, Freiburg i.Br./ München 2012 und, in populärer Form, ders., Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013. Im Blick auf die avanciertesten Strömungen heutiger analytischer Philosophie und die vom späten H. Putnam ausgehenden neuen realistischen Tendenzen vgl. H. Seubert, Philosophie. Was sie ist und sein kann, Basel 2015, insbes. 70ff. und 109ff. Grundlegend H. Putnam, Von einem realistischen Standpunkt. Schriften zu Sprache und Wirklichkeit, Reinbek 1993.

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auf die entscheidende Konstellation, die Gotteserkenntnis, hin präzisiert. Wäre Gott einfach eine eingeborene Idee idea innata im menschlichen Geist, im Sinn von Descartes, so müsste eine unmittelbare anschauende Gotteserkenntnis möglich sein. Ohne dass er dies näher ausführte und theoriegeschichtlich instrumentierte, betont Schlatter, dass dem Apriorismus der Idee oftmals auch ein verfehlter Substanzbegriff zugrunde liegt, nämlich die nach wie vor populäre Auffassung von Substanz »als ruhende Masse […], überkleidet von den Eigenschaften« (M  12). Eigenschaften seien aber, so Schlatter mit Aristoteles und Thomas, als Tätigkeitsweisen und Rückwirkungen der Tätigkeit in eine Habitusbildung zu verstehen. Schlatter differenziert hier: Dadurch dass, wie die alte vorkantische Metaphysik immer festhielt, der Gedanke des Unendlichen – Schlatter thematisiert es primär als »unabschließbares Raumbild« – in die Seele gelegt sei, verweist ein umfassenderer Erfahrungsbegriff auf Gott. Doch wo es um Gott geht, beginnt, wie Schlatter pointiert bemerkt, »sofort das Mysterium« (M  13). Man könnte es auch mit Augustinus sagen: Wenn du es begreifst, so ist es nicht Gott. Eben deshalb verweist Schlatter auf zwei Seiten der einen grundlegenden Wahrheit: Es gibt sehr wohl ein apriorisches Gottesverständnis. Doch erfahrbar ist Gott nur indirekt, über die Kenntnis seiner Werke und damit der welthaften Wirklichkeit. Damit ist weiter festgehalten, dass es kein Gebiet der erfahrbaren Welt gibt, das für die Konstituierung der Gotteserfahrung nicht relevant wäre. Oder bei aller für Schlatter selbstverständlichen Zurückweisung eines Pantheismus oder Panentheismus: Es gibt dann keinen Bereich, in dem nicht Spuren Gottes präsent wären. Der metaphysisch transzendenten Gotteserkenntnis ist damit eine klare Grenze gezogen. Gott ist nicht anders denn wie er »für« oder »an uns« wirksam ist, zu erkennen, nicht in seinem An sich-sein. Es ist offensichtlich und wird von Schlatter auch reflektiert, dass die Rede von der Erkenntnis Gottes aus dem allgemeinen Erkenntnisbegriff zu gewinnen ist und keiner Spezialerkenntnis entspringt. Auch die offenbarte Erkenntnis Gottes, von der das biblische Zeugnis spricht, ist grundsätzlich mit dem gängigen Erkenntnisbegriff zu – 31 –

erfassen. Gerade den biblischen Erkenntnisbegriff, Alten und Neuen Testamentes, sieht Schlatter, auf Gotteserfahrungen bezogen, die im Kontext allgemeiner Erfahrungen aufkommen. Gotteserkenntnis ist also von einem nicht auf Gott bezogenen Erkenntnisbegriff nicht grundsätzlich zu unterscheiden. Von hier her rührt die im Gedankengang (M § 4) besonders zentrale »Kritik der traditionellen Gottesbeweise«. Seine wesentliche, radikal realistische Prämisse, die wiederum in der neueren realistischen Ontologie und Metaphysik diskutierenswert sein dürfte, besagt, dass sich Dasein gar nicht beweisen lasse, eben weil sich Dasein selbst beweist. Während die tradierten Gottesbeweise nur eine abstrakte Gottesidee fassbar machen, zeigt sich Gott in der Konkretion seiner konkreten Wirklichkeit. Eine numerische Anordnung und Systematisierung der Gottesbeweise lehnt Schlatter ab. So wie alle Erfahrungszusammenhänge Gegenstand der Theologie sein können, so gebe es so viele »Gottesbeweise« wie Wirkungen Gottes in der Welt. Man wird Schlatter durchaus zustimmen können, wenn er bemerkt, dass der postulatorische moralische Gottesbeweis gar kein Gottesbeweis im eigentlichen Sinn ist. Er ist nichts anderes als ein »vernünftiger Wunsch« und kann gerade deshalb nicht als Basis für den Glauben firmieren. Das ontologische Argument, auf das nach Kant alle Gottesbeweise zu reduzieren sind,37 weist Schlatter erstaunlich nonchalant zurück, obwohl er sich seiner Dignität und Haltbarkeit durchaus bewusst ist. Der Berufungsrahmen des ontologischen Arguments reicht von Anselm von Canterbury über Descartes und Spinoza bis zur Leibniz-Wolffischen natürlichen Theologie. Doch es wurde außerdem trotz der kantischen Destruktion in der nachkantischen Philosophie, namentlich bei

37 Kant, Kritik der reinen Vernunft (K.r.V.) B  655ff. Siehe dazu auch H. Seubert, Zwischen Religion und Vernunft. Vermessung eines Terrains, Baden-Baden 2013, 225ff., sowie die Überblicksdarstellung bei W. Röd, Der Gott der reinen Vernunft. Ontologischer Gottesbeweis und rationalistische Philosophie, München 2009.

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Hegel,38 erneuert und findet – vor allem – in den neueren Ansätzen zu einer rationalen Theologie und ausgehend von Goedels Wahrscheinlichkeitskalkül39 neue Resonanz. Nicht zu übersehen ist auch, dass gerade Karl Barth die offenbarungstheologische Fundierung und die eine apriorische Ideenkonstruktion überschreitende Tragweite des Arguments dargelegt hat. Schlatter gibt demgegenüber Gaunilo, Anselms Gegner, das letzte Wort, wobei doch zu fragen ist, ob sein Realismus damit die Tiefe des ontologischen Arguments ausschöpfen kann.40 Es bleibt dann das kosmologische Argument, das für Schlatter freilich nicht in seiner »scholastischen« Version, wie er es nennt, relevant wird. Diese lehrhafte Standardform geht ihm zufolge gerade fehl: Man kann gerade nicht von einzelnen Eigenschaften Gottes auf sein Sein schließen, vielmehr wäre das gesamte Feld der empirisch fassbaren Welt der Raum zur Bildung des Gottesgedankens selbst.

2. Der philosophische Ausgangspunkt: Skeptizismus, Transzendentalphilosophie, Schleiermacher Es ist augenfällig, dass die Hauptwege der neuzeitlichen rationalen oder kritischen Theologie von Schlatter mit großer Klarheit als un38 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, in: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II. TheorieWerkausgabe Bd. 17, Frankfurt a.M. 1986, 347–537. Dazu Pannenberg, Theologie und Philosophie, aaO 257ff. (s.o. Anm. 32) und Seubert, Zwischen Religion und Vernunft, aaO 255ff. (s.o. Anm. 37) 39 Dazu Joachim Bromand/Guido Kreis (Hg.), Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, Frankfurt a.M. 2011, 381–495, wo G. Kreis die Gottesbeweisstruktur differenziert aufnimmt. 40 Dazu K. Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms, Zürich 21986, 164ff.

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genügend charakterisiert werden. Diese Positionierung steht quer zu den gängigen Leitmarkierungen der neueren Theologie und Philosophie und sie mag zu seiner Marginalisierung, zumal als Systematiker, innerhalb der neueren Theologie beigetragen haben.41 Es ist daher aber auch und nicht zuletzt die Aufgabe dieser Nachlassedition des bislang unveröffentlichten philosophischen Werkkorpus von Adolf Schlatter, den Blick auf die argumentative Überzeugungskraft seines realistischen Ansatzes zur richten. (1) So dekretiert Schlatter § 5 ganz elementar und in Fortsetzung seiner Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie, dass von der Kantischen kritischen Philosophie her keine Theologie möglich sei.42 Der Grund liegt für Schlatter auf der Hand: Bereits die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung verhindert die Ausbildung einer Kosmologie. Der Schlattersche Realismus gibt demgegenüber klar zu verstehen: »Ohne Kosmos kein Theos«. Damit wird, wie auch im Kant-Kapitel der Vorlesung zum »Verhältnis von Philosophie und Theologie« die Implikation kantischer Philosophie zu Ende gedacht: Sie führe zu einem Verbot aller Theologie und sei daher noch nicht einmal für den Atheismus akzeptabel. Denn gerade der Atheist müsse ja »die Welt unter dem Gesichtspunkt durchforschen, was sie an Werken Gottes in sich fasse« (M 27). Ob dies dem kantischen Weltbegriff, dem er bis in die Filiationen seines »Opus postumum« nachging, gerecht wird, wird man fragen müssen. Als systematische Markierung bleibt es von Gewicht. (2) Die nachfolgend eingeführte Positionierung der »Scholastik« versteht Schlatter nicht als Kennzeichnung einer historisch definierten Position, sondern eben als Voraussetzung und Bindung 41 Auch dieser beklagenswerten Tatsache, die sich nicht einer Schwäche, sondern einer Positionierung Schlatters quer zu den gängigen theologischen Schulen verdankt, tragen wir mit den hier begonnenen Nachlasseditionen Rechnung. 42 Dazu Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 67ff. (s.o. Anm. 31).

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an ein von Wirklichkeit und Geschichte gelöstes, traditionalistisches Lehrsystem. Die theologische Arbeit werde durch einen scholastisch-dogmatischen Ansatz immer schon und jeweils »auf einen Seitenweg« abgelenkt (M 31). Das Lehrgefüge werde durch Hilfssätze abgestützt, die Systematik fixiert und undurchdringlich. Damit widersetzt sich Schlatter einerseits einer statutarisch unbefragten Geltung der kirchlichen »Tradition«, andrerseits aber der gleichfalls nicht in Frage gestellten Übernahme philosophischer Sätze in die Theologie. Im Blick auf die kirchliche Dogmenbildung wird als entscheidende Forderung festgehalten, dass die Kirche ihr Dogma »immer wieder neu zu gewinnen« habe (M 33)43 und die Dogmatik der Weg dieser Gewinnung sei; sie ist also selbst auf die Dynamik von Erfahrung und Realitätswahrnehmung zu beziehen. Zwar bestreitet Schlatter keineswegs, dass die Arbeit der Theologen der Vergangenheit von Bedeutung für die eigene Klärung bleibt. »Wir betreiben«, notiert er mit einer schönen und triftigen Formulierung (M 33), »gerade nicht eine Penelopearbeit«, in der die Späteren die Ergebnisse, zu denen die Früheren gelangt sind, auftrennen würden. Doch vergangene theologische Systeme hätten nicht eo ipso normative Bedeutung – schon weil sich ihnen viele Fragen gar nicht stellten, die sich heute sehr wohl stellen würden. Damit wendet er sich auch gegen den theologischen Hegelianismus, der, als Übernahme einer Leitphilosophie in die Theologie, selbst unter die Rubrik des »Scholastischen« fällt. Der Aufgabe der Neugewinnung des Dogmas würde ein solcher Ansatz eo ipso nicht gerecht, selbst wenn solche Einsichten philosophisch durchaus begründet wären. Damit aber plädiert 43 Vgl. dazu auch den Ansatz von Schlatter, Das christliche Dogma. Stuttgart 31977 (= 21923); John Henry Newman entwickelte einen ganz ähnlichen Begriff der Dynamik der sich erneuernden Kirche. Vgl. dazu J. Schwanke, John Henry Newmans Konversion. Sein Weg zur katholischen Kirche aus protestantischer Perspektive, Berlin/New York 2011, 223ff.

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Schlatter, der unter den Theologen seiner Zeit eine besonders tiefreichende Kenntnis und Affinität zur Philosophie gehabt haben dürfte, für die Eigenständigkeit der Theologie gegenüber jeder Philosophie. Es versteht sich bei einem philosophisch so versierten Autor wie Schlatter von selbst, dass damit keineswegs einer Ignoranz der Philosophie das Wort geredet werden soll, wie sie in der protestantischen Theologie oft begegnet, wohl aber der Trennung der Bereiche. Ein wohlbekanntes Beispiel kann diesen Ansatz beleuchten: Im 20. Jahrhundert mahnte Heidegger gegenüber Rudolf Bultmann,44 wie man aus dem Nachlass weiß mit durchaus problematischen, seinerzeit verschwiegenen Implikationen im Einzelnen,45 eine strikte Trennung von Philosophie und Theologie an, der Bultmann bekanntlich nicht folgte und weiterhin das »Kerygma« in Termini der Heideggerschen Existenzphilosophie erläuterte. Die Positionierung Schlatters zeigt sich besonders in seinem Bezug auf die spekulative Dogmatik des heute, auch aufgrund seines Hegelianismus, nur noch wenig bekannten, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aber sehr einflussreichen,

44 Einschlägig ist hier M.  Heidegger, Phänomenologie und Theologie (1927), in: Ders., Wegmarken, GA Bd. 9, Frankfurt a.M. 1976, 45ff. Der These einer Entgegengesetztheit, ja Todfeindschaft beider Disziplinen, ist Heidegger auch im Briefwechsel mit Bultmann immer wieder nachgegangen. 45 Dies zeigt sich vor allem in den umstrittenen »Schwarzen Heften«, Heideggers Nachlasstext, GA 97, Anmerkungen I–V (Schwarze Hefte 1942–1948), Frankfurt a.M. 2015, 199f., wo Heidegger unter anderem bemerkt: »Ich bin nicht Christ, und einzig deshalb, weil ich es nicht sein kann. Ich kann es nicht sein, weil ich, christlich gesprochen, die Gnade nicht habe. Ich werde sie nie haben, solange meinem Weg das Denken zugemutet bleibt. Das Denken selbst ist die Kluft zum Glauben«. Damit verbindet sich nicht nur eine dezidiert antijüdische, sondern auch antichristliche Attitüde Heideggers.

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Richard Rothe.46 Rothe setze weitgehende epistemologische und ontologische Prämissen voraus, lange bevor er sich an eine im engeren Sinne theologische Arbeit begebe. Die Abhängigkeit von der Hegelschen Logik und Hegels Lehre von der Selbstbewegung des Begriffs erweist sich mithin als die Verhinderung einer eigentlich theologischen Arbeit an der Gotteserkenntnis. Gerade der Hegelianismus Rothes führt nun nach Schlatters Darstellung in eine Zirkularität. Er kann, anders als Hegel es dezidiert am Ende seiner Religionsphilosophie gefordert hat, nicht die Versöhnung und Vermittlung des Endlichen und des Absoluten leisten, in einer von Säkularismus und »Nacht der Aufklärung« bestimmten Welt.47 Es bleibe nämlich theologische Aufgabe, Gott nicht vorauszusetzen, sondern zu gewinnen (M 39); und dies sei aufgrund der Geschlossenheit der spekulativen Logik gerade nicht möglich. Könnte von hier her zwischen dem idealisierenden Hegelianismus und der Geschlossenheit der barthschen Offenbarungstheologie gerade mit Schlatter- und einer neuen Schlatter-Rezeption ein plausibler medius terminus gefunden werden? Die Herausgeber halten dies für durchaus denkbar und fruchtbar. Einen weiteren gravierenden argumentativen Kritikpunkt gegenüber einer solchen »scholastischen« Theologie hält Schlatter primär und vor anderen fest: Dass die wechselnden Systeme der Kontingenz von Theorieformationen und Tendenzen einer Zeit unterliegen. Realität und Wissen bildeten letztlich eine Einheit, 46 Dazu Heike Krötke: Selbstbewußtsein und Spekulation. Eine Untersuchung der spekulativen Theologie Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologie und Theologie, hg.  v. Hans-Walter Schütte, Berlin/New York 1999; siehe auch W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997. 47 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Theorie-Werkausgabe Bd. 17, aaO 338ff. (s.o. Anm. 38).

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die solchen Trennungen widerstreite. Damit hängt zusammen, dass die Trennung in Weltwissen und Gotteswissen, in natürliche Erkenntnis auf der einen Seite und Offenbarung auf der anderen, künstlich und letztlich nicht haltbar sei. Sie werde an allen großen Synthesen zunichte, und sie bilde auch systematisch keine plausible Struktur ab. Denn, wie Schlatter demgegenüber nahelegt: »weder kann die Welt verstanden werden ohne Gott, noch Gott ohne die Welt« (M 43). (3) Schleiermachers Verschiebung des Gottesbewusstseins in ein Gefühl, näherhin das »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit«, wird von Schlatter gegenüber der Subsummierung unter die »dogmatische« Erkenntnisweise, prima facie durchaus positiv und als eigenständiger Weg gewertet. Er spricht in Bezug auf Schleiermacher von einer »Stellung von eminentem Wert«, die in der Emanzipation des religiösen Lebens von der Erkenntnis liege. Darin sieht er auch den Weg einer Heilung der »Krankheit« der alten Orthodoxie (M  15). Deren Mängel nimmt Schlatter unter die Habenseiten und Positiva Schleiermachers auf. Dem Rationalismus gegenüber habe dieser ebenso eine Absage gegeben wie der lutherischen Orthodoxie, da für Schleiermacher der Rationalismus letztlich nur das Produkt von deren Zersetzung sei. Doch Schlatter sieht auch umgehend die Kehrseite, die gravierende Schwäche und das Defizit des Schleiermacherschen Ansatzes. Denn die Selbständigkeit religiösen Lebens werde eben nicht in ihrer Realität gedacht, sondern auf eine bewusstseinsphilosophische Formalstruktur reduziert. An dieser Stelle konstatiert Schlatter weiter eine Überformung von Schleiermachers Ansatz durch die nachkantische Spekulation. Deshalb falle auch die Abgrenzung der Theologie von der Wissenschaftslehre, bzw. der allgemeinen Kultur, nur halbherzig und unvollständig aus. Den »Lehnsätzen« aus der Wissenschaft und Ethik und ihren Deduktionen, an denen entlang Schleiermacher bekanntlich seine Glaubenslehre aufbaut, wird daher ihre Inkonsequenz nachgewiesen. Auf diese Weise nämlich sei die – 38 –

Glaubenslehre, auch gegen Schleiermachers Absicht, bereits mitten in die Erkenntnissphäre hinein verlagert worden.48 Daran ändert es nichts, dass das »Gefühl« nicht zu einer konkreten Gegenstandserkenntnis beiträgt. Auch jene Verlagerung in die Innensphäre, die für Schleiermacher charakteristisch ist und die er mit Teilen des Pietismus teilt, die Preisgabe der Außenwelt für die Glaubensfragen, sieht Schlatter als völlig unzureichend an. Dies bedeutet aber weiterhin, dass er der Verschiebung von Religion in eine »eigene Provinz im Gemüte« selbst die Absage erteilt. Sein ontologischer und empirischer Realismus widerspricht der Behauptung, dass es eine psychologische Sonderform des Religiösen gebe. Kann es doch nur eine und dieselbe Realität geben. Das »Religiöse« ist keineswegs eine Realität eigenen Typs. Mit diesem Schleiermacherschen Mangel sei aber auch die spätere Bewusstseinstheologie in eine Falle geraten.49 Sie ist einerseits weitergegangen als Schleiermacher, wie Schlatter zutreffend diagnostiziert. Denn immerhin gelang es ihr, etwa an Hegel oder dem späten Fichte orientiert,50 immer mehr Bestandteile des materialen Glaubens 48 Es wird mithin zur Frage, inwieweit die »Glaubenslehre« überhaupt die Bestimmung der Religion als eigener Provinz im Gemüte festhalten kann. Dazu aus der unübersehbaren Schleiermacher-Literatur die umsichtigen Überlegungen von Th. Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987, 338ff. Zu den Zusammenhängen vgl. auch U. Barth, Der Weg zur absoluten Reflexion im nachkantischen Idealismus. Fichte-Schelling-Hegel, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 309ff. Vgl. dazu jetzt auch H. Seubert und S. Grosse (Hg.), Schleiermacher kontrovers, Leipzig 2018. 49 Vgl. die differenzierten Überlegungen zu dieser Problemlage bei Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie, aaO 220ff. (s.o. Anm. 46) 50 Diese Hegel-Orientierung ist im 19. Jahrhundert noch ganz und gar gängig. Sie ist im Neuprotestantismus seit Troeltsch einer zunehmenden Bezugnahme auf Kant und einer Akzentuierung der Unerkennbarkeit

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aufzunehmen. Doch ihre Durchführung sei weniger einheitlich kohärent als jene Schleiermachers. (4) Wenig überraschend aufgrund seiner Prägung durch Johann Tobias Beck ist es, dass der junge Schlatter der Gegenposition zur Bewusstseinstheologie, dem Biblizismus, mit einer grundsätzlichen Sympathie begegnet. Das Wort soll im Geist der Reformation stehen gelassen werden, die Bezeugung der Apostel und Propheten ist Teil der Offenbarung Gottes. Indes betont Schlatter, dass sich Gott nicht nur in der Heiligen Schrift bezeugt, sondern weit darüber hinaus in seinem Wirken in Natur und Geschichte. Dies bedeutet auch, dass sich der Biblizismus nicht rein begründen kann. Eine reine und ausschließliche Berufung auf die Autorität des »Es steht geschrieben« würde Erkenntnis und Erkennbarkeit von vorneherein außer Kraft setzen. Ein reiner Biblizismus, der dies verkennt, muss auf die Dimension der Erkenntnis weitgehend verzichten, er ist daher nicht in der Lage, Rechenschaft über den Glauben abzulegen.

3. Glaube und Erkenntnis im Christentum Doch wie sieht Schlatter vor dem Hintergrund dieser mehrfachen Kritik die Entsprechung von Glaube und Erkenntnis innerhalb des Christentums? Darauf gibt der §  7 seiner Ausarbeitung die Antwort. Er anerkennt und würdigt die reformatorische Bestrebung, Glauben – und das heißt maßgeblich die »fides qua« – aus ihrer dogmatisch scholastischen Versteinerung zu lösen. Doch, wie er vor allem im Blick auf das Johannesevangelium zeigt (Joh 17,3), sind Glaube und Erkennen biblisch keineswegs in einem AusschlussverGottes gewichen. Dazu G. Rohrmoser, Glaube und Vernunft am Ausgang der Moderne. Hegel und die Philosophie des Christentums, Aus dem Nachlass herausgegeben von Harald Seubert, Augsburg 2009, 19ff.

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hältnis zu sehen. Auch bereits im Alten Testament ist der Bund Gottes (aemaet) zugleich in enger Weise auf die Wahrheit und ihre Bezeugung bezogen. Schlatter versucht die Relationen so zu fassen, dass sich der Glaube zur Erkenntnis inkludierend verhalte, so wie das Ganze zum Teil. Ein Gegensatzverhältnis werde biblisch nicht zwischen Glauben und Erkennen, sondern zwischen vollständigem Erkennen als »Sehen« am Ende der Zeit und »Glauben« nahegelegt. Die visiologische Metaphorik von Sehen und Licht, die, wie Schlatter natürlich nicht entgangen sein dürfte, häufig mit der Begriffssprache der Metaphysik verbunden war,51 hat aber, wie er einräumt, ihre eindeutige Grenze darin, dass sie die Entzogenheit und das Mysterium Gottes überspringt. Schlatter diagnostiziert: »Im Gegentheil hat alle Gotteserkenntnis darin ihren Zweck und allein ihren Werth, wenn sie zum festen vertrauenden Anschluß der Person an Gott wird und also im credere deo endigt« (M 60). Dies versteht er im Sinn der Wechselseitigkeit des »credo ut intelligam« zum »intelligo ut credam«.

4. Natürliche Gotteserkenntnis? Schlatter ist gewiss nicht in der Gefahr, zum natürlichen Theologen im Modus des liberalen Protestantismus zu werden. Er akzentuiert aber sehr deutlich das Zeugnis Gottes in der Natur (M § 8). Dies tut er gerade nicht gegen das Schriftzeugnis, sondern, indem im Sinne von Römer 1 die allgemeine Offenbarung im Licht der Schrift und zu ihrer komplementären Bekräftigung herangezogen wird. Daher ist Natur als »Manifestation der Kraft« auch naturphilosophischmetaphysisch zu verstehen. Biblisch sind dem die Verweise auf 51 Dazu exemplarisch W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1985, 73ff. und 114ff.

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Gottes Macht zugeordnet, die Gestirne und Naturkräfte zusammenhält, die aber auch in einer Sorge um das Kleinste, die Haare am Haupt des Menschen, sich in ihrer Zuwendung betätigt. Die Behauptung, zur vollständigen Durchsichtigkeit der Natur sei Gott eine zu starke Hypothese, wie sie in der neuzeitlichen materialistischen Naturwissenschaft (Laplace) formuliert wurde,52 widerstreitet nach Schlatter einem auf die Wirklichkeit gerichteten Denkansatz. Naturbeherrschung und Naturausgesetztheit liegen in den Weltbildern ohne Gott in enger Nachbarschaft. Der Widerspruch werde dann offensichtlich, wenn sich mit der Gottleugnung die Aussage verbinde, dass die Natur dem Menschen »ein undurchsichtiges Mysterium« (M  64) sei. Schlatter zieht die Konsequenz, dass, wenn denn die Ursprungs- und Wesensfrage durchdacht werde, letztlich nur eine zweifache Lösung bleibe: entweder die Mythologie oder die Theologie. Damit aber kehre »immer dieselbe Frage wieder, die Elia auf dem Karmel an Israel stellt: wer ist Gott, Baal?, d.h. die phantastisch mit Göttlichkeit ausgestattete Natur, oder der Herr?« (M 66). Dass beide, Mythologie und Theologie, disjunkte Widersprüche seien, wird, gegen manche späteren EntmythologisierungsTheoreme, von Schlatter mit größter wünschenswerter Klarheit und Eindeutigkeit festgehalten. Für den Unendlichkeitsbegriff ist nach Schlatters Auffassung die Raumanschauung die wesentliche Quelle. Der Raum selbst ist eben nicht begrenzbar, nicht durch eine Schranke oder Grenze limitiert. Zugleich ist der Raum nicht in Vielheiten unterteilt, sondern er ist einer. Eben daraus sei abzuleiten, »daß die Kraft, in welcher die Welteinheit liegt, eine unendliche ist« (M 68). Im Verlauf des Argumentationsganges wird immer deutlicher, dass Schlatter die Gegenwärtigkeit Gottes in der Natur gerade nicht als einen Grenzbegriff, einen letzten Horizont, versteht, sondern dass er die Spuren der Gegenwart Gottes in der Natur aufzuweisen versucht. Dies wird gerade an der Frage der Intelligibilität der 52 Dazu mit weiteren Nachweisen K.  Mainzer, Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data, München 2014, 50ff.

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Natur sichtbar. Würde man sie verneinen, würde man Natur also schlicht als Anderes des Geistes verstehen, so wie es der Ansatz der Hegelschen Naturphilosophie war, so würde man, wie Schlatter zeigt, »zugleich die Möglichkeit des Naturwissens auf[.]heben« (M 68). Die Intelligiblität der Natur nun findet man aber nicht nur in der Zahl, nicht nur in der mathematischen Abbreviatur, in deren Schrift zumindest die Neuzeit das Buch der Natur abgefasst sieht,53 sondern gerade in der Dauer im Wechsel des Lebendigen, der, wie Schlatter notiert, Komposition der Typen und Arten und den das Lebendige durchdringenden Adaptionsverhältnissen. Von Darwin und seiner »Entstehung der Arten« ist dabei nicht ausdrücklich die Rede. Implizit setzt er sich aber, wie man unschwer bemerken wird, durchaus kenntnisreich und in die Tiefe gehend, mit der Aszendenztheorie auseinander. Die immanente Frömmigkeit großer Naturforscher, auch noch Darwins, das Erstaunen über die Harmonie der Weltverhältnisse, des Werdens, Bildens und Umbildens, ist eine Haltung, die Schlatter nicht fern ist. Dies darf nicht zu einem ideologischen Evolutionismus verhärtet werden. Auch im naturwissenschaftlichen Experiment sehe man Korrelationen, die Zuordnung von Tätigkeit und Wirkung. Dass sie möglich ist, ist für Schlatter Indiz eines in den Naturvorgängen waltenden Geistes, der allenthalben auch teleologisch wirke. Pointiert formuliert er: »Adaption der Dinge aneinander ist das erste grundlegende Faktum, das wir im Zweckbegriff ausdrücken« (M 71). Sodann hebt Schlatter, wiederum im Spiegel der biblischen »allgemeinen Offenbarung« (Röm 1) die Konstanz der Natur hervor, ihre »immerwährende Kraft«. Diese Konstanz ist in den Naturgesetzen und ihrer ausnahmslosen Wirkung zu erfassen. Dies aber 53 H. Blumenberg, Der Prozess der theoretischen Neugierde, Frankfurt a.M. 1973. Es stellt sich dabei die Frage, ob das »Buch der Natur«, wie in der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung seit Galilei und Bacon üblich, weitgehend in der Sprache der Mathematik geschrieben ist, oder ob es auch andere, etwa lebendig-lebensweltliche Codierungen kennt.

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sei nichts anderes als die verbindliche Formel für eine »intelligente Kraft«, die die Stabilität und Wirksamkeit der Naturgesetze verbürgt. Bezogen auf das alttestamentarische Zeugnis fügt Schlatter hinzu, dass sich Gott in der Natur sehr deutlich manifestiere – und sich ihr »mit gewaltigen Zügen« eingrabe (M 75). Weiterhin verweist er auf die Naturgeschichte, also auf die unleugbaren Evolutionsvorgänge im Verlauf des Naturganzen. Hier wird die Abgrenzung gegen ein evolutionistisches Lehrsystem besonders eindrücklich. Denn daraus sei nicht einfach zu erschließen, dass der Begriff von Schöpfung aus der Natur selbst gewonnen werden könne. Gerade die Naturgeschichte, von der Schlatter bevorzugt spricht, sei als empirischer Verweis auf die Schöpfung bezogen. Denn ein geplantes, auf einander abgestimmtes Werden kann selbst als Indiz für die Gegenwärtigkeit des Schöpfers verstanden werden. Schließlich manifestierten sich in der Natur selbst intrinsische Güter. In ihr zeichne sich Vollkommenheit und damit ein begründetes Wohlgefallen im bewussten Leben ab, das nicht nur Spiel der Vorstellungskräfte ist, sondern vielmehr in der realen faktischen Vollkommenheit (perfectio) seinen Grund hat.54 Dass die Teleologie nur eine vorgestellte sei, war die Position von Kants dritter Kritik, der »Kritik der Urteilskraft«.55 Schlatter hat die »Kritik der Urteilskraft« bekanntlich von allen kantischen Werken am höchsten geschätzt.56 Dies hindert ihn nicht daran, auch an dieser Stelle noch einmal explizit die Grenze deutlich zu machen, dass die Gedankenbildung über die Erfahrung des Realen nicht hinausweist (M 61). Freilich ist der Erfahrungsbegriff ungleich 54 Das Ideal der perfectio war vor allem für die vorkantische Philosophie des aufklärerischen Rationalismus grundlegend. Die perfectio galt in der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts, so bei Christian Wolff und Christian Thomasius, überdies auch als höchstes ethisches Ideal. 55 Kant, Kritik der Urteilskraft, Kant, Akademie-Ausgabe Bd. V. ND Berlin 1968, hier insbes. 354ff. Dazu W. Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, sowie die knappe Würdigung bei Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 76ff. (s.o. Anm. 31) 56 Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, 80.

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weiter zu fassen als im Sinn des Kantischen Schematismus der Bezogenheit auf Raum und Zeit. Schlatter stimmt insofern Kant zu, wenn der »die Gottesanschauung den Grenzbegriff unsrer Vernunft« nenne (M 82). Hier wird ein Limes festgehalten, den anzuerkennen eine Anforderung an die intellektuelle Redlichkeit der Theologie ist. Eine vorschnelle Synchronisierung und erpresste Versöhnung von Naturwissenschaft und Theologie würde dieses Gebot im positiven und im negativen Sinn verletzen. Hier sehen wir eine weitere Aktualitätsspur. Könnten Schlatters einschlägige Überlegungen nicht auch in gegenwärtigen eingefahrenen, auf punktuelle Einzelargumente begrenzten Debatten zwischen Kreationisten und Evolutionisten fruchtbar gemacht werden? Schlatter verschweigt indes die Problematik von Störungen der Naturteleologie nicht, des Schmerzes und der Defekte, Krankheiten, Störungen, Naturkatastrophen, all der »Felsen des Atheismus«. All dies verhindert, dass aus dem Immanenzzusammenhang der Natur unmittelbar und ungebrochen die Spur des Göttlichen abgelesen werden kann. David Hume ging in seinen Dialogen über natürliche Religion sogar so weit, dass er gerade die Bedürftigkeit als indirektes Motiv für die Annahme eines Gottes begriff.57 Freilich, stellt sich auch Schlatter die Frage, ob Schmerz und Not überhaupt naturimmanent zu begreifen sind oder ob die Schmerzquellen nicht vielmehr in der menschlichen Subjektivität liegen (M 83).

5. Geist und Gott (1) Die Gottesfrage geht also, so zeigt Schlatter, in der tieferen Annäherung keineswegs aus der Naturbetrachtung hervor. Sie muss vielmehr auf das geistige Leben rekurrieren. Dabei untersucht 57 D. Hume, Dialoge über natürliche Religion, Hamburg 1968, insbes. 84ff.

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er zunächst Gewissen und Willen. Das Gewissensurteil denkt Schlatter nicht nur, in der Linie des Sokrates, als mahnendes, warnendes Daimonion, das lediglich abrät, sondern als die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Zwar sind auch Moralurteile »aposteriorisch« orientiert. Dies verbindet Schlatters Ansatz mit einem, in der jüngeren internationalen Ethikdiskussion wieder in den Vordergrund gerückten intuitionistischen Ansatz in der Ethik, der die objektive Wertigkeit des Moralurteils an die Intuition bindet und keineswegs von apriorischen Bestimmungen ausgeht.58 Moralurteile setzen ein, indem empirisch vorliegende Sachverhalte oder Handlungen betrachtet und auf eine innerliche Intuition befragt werden. Dabei durchkreuzt nach Schlatter das Gewissensurteil die gemeinhin bestehende Relation des Möglichen und Wirklichen: Auch ein Böses, das faktisch ist, soll nicht sein. Moralurteile sind dabei aber nicht auf andere Gefühlslagen zurückzuführen: Lust- und Unlustempfindungen können nach Schlatters Analyse ausgeglichen und neutralisiert werden. Auf einen Schmerz folgt eine Lust. Anders der Gewissensschmerz, der »untröstlich« ist und durch nichts besänftigt werden kann. »Er spricht einfach sein Urtheil aus« (M  90), auch wenn der moralische Gesichtspunkt keine Aussicht auf Realisierung haben würde. Deshalb ist die Aussage: »Fiat iustitia, pereat mundus«59 eine Konsequenz des moralischen Gesichtspunkts. Schlatter wählt hier wiederum in genialer Weise einen medius terminus zwischen zwei ethischen Grundkonzepten. Er sieht, 58 Über die neueren einschlägigen Ansätze, die die Ethik aus dem Bereich des Subjektiven herauslösen und eine in Intuitionen verbürgte Objektivation annehmen, vgl. R.  Shafer-Landau, T.  Cuneo (Hg.): Foundations of Ethics. An Anthology, Blackwell, London 2006. 59 Lateinisch: »Es geschehe das Recht, und wenn dabei auch die Welt zugrunde ginge«. Ein alter Rechtsgrundsatz, der auf Papst Hadrian VI. (1459–1523) zurückgeführt wird. Er ist in der Ideengeschichte vielfach zitiert und variiert worden.

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dass Kant und Herbart60 jeweils einen Aspekt des Gewissens erkannt hätten, dass aber beide Momente, der Kantische, der das Gewissen als Imperativ, und der Herbartsche, der es als Urteilsfällung begreift, zusammengenommen werden müssten. Schlatter begreift, in Bezug auf Kant, das Gewissen als Handlung der inneren Seele und des Kerns des Ich. Es dürfe aber nicht sogleich und positiv mit der Stimme Gottes identifiziert werden. Das Gewissen zeigt sich gleichwohl, wie Schlatter festhält, als »höchst fruchtbar« zur Gotteserkenntnis (M  94). Es widerlegt nämlich die schleiermachersche Vorstellung einer »unbedingten Abhängigkeit«, die in den Naturnotwendigkeiten ihr Recht hat, nicht aber in der Sphäre der Freiheit. Überdies bemerkt Schlatter zutreffend, dass der biblische Befund zwar Abhängigkeit des Menschen von Gott, aber auch Mitwirkung zu erkennen gebe, von einer »unbedingten Abhängigkeit« also keine Rede sein könne. Auch der kantischen Rede von der »Kausalität aus Freiheit«61 erkennt Schlatter, bei aller sonstigen Kant-Kritik, eine teilweise Wahrheit zu. Er denkt diese »Kausalität aus Freiheit« freilich auf seinen schöpfungstheologischen Ursprung hin weiter. Das Gewissen müsse auf seinen Grund hin befragt werden. Es kann gerade nicht als freischwebende Willkür in Anspruch genommen werden. Dieser Grund aber verweist nun tatsächlich auf Gott, auch wenn das nur indirekt angezeigt werden kann: im Blick auf die Absolutheit des Gewissens, das sich, negativ und positiv, menschlichen Plänen und Vorhaben entgegen stellt. Der springende Punkt ist, dass die Wirkung des Gewissens auch materiale 60 Zu Herbarts ethischem Ansatz, der heute weniger bekannt ist, vgl. D.  Benner, Die Pädagogik Herbarts. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Systematik neuzeitlicher Pädagogik, Weinheim/ München 1993; sowie ders., Johann Friedrich Herbart. Systematische Pädagogik, Bd. 1: Ausgewählte Texte, Bd. 2: Interpretationen, Weinheim 1997. Dazu auch: F. Träger, Herbarts realistisches Denken. Ein Abriss, Amsterdam 1983. 61 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 71ff.

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Realität hat und einen Schmerz erzeugt, dem die menschliche Seele nicht ausweichen kann. Das Gewissen und damit die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen lassen sich mithin als erwachendes geistiges Leben des Menschen begreifen. Gut und Böse unterliegen nicht einer Naturbedingtheit. Mit der naturrechtlichen Tradition und angereichert durch Religions- und Kulturvergleiche hält Schlatter fest, dass es eine universale Normierung des Gewissens gibt, dass das Gute gut und das Böse böse ist. Zwar mögen pathologische Phänomene einer Verformung des Gewissens vorkommen; die grundsätzliche Unterscheidung ist nicht aufzuheben. Schlatter konstatiert: »Es sind ins geistige Leben der Menschen gewisse Normen hineingeschrieben, die unauslöschbar sind und über allem Wechsel stehen« (M 99). Dies gilt, obgleich die Aufmerksamkeit der einzelnen Person auf ihr Gewissen erheblich schwanken kann. Ob sich auch die Gewissensinhalte, also das Materialprinzip, objektiv erkennen lassen, lässt Schlatter in der Schwebe. Zwar (M 100) rekurriert er auf Herbarts Exposition von fünf sittlichen Ideen: Freiheit, Vollkommenheit des Wohlwollens, des Rechts und der Vergeltung. Doch er betont in Übereinstimmung mit seinem durchgehenden Realismus, dass es sich beim Gewissen nicht um ein postulierbares Prinzip handle, sondern um eine Realität, so dass auch diese Ideen erst aposteriori erkennbar sind. Ganz so fasste es übrigens schon Platon in seinem »Gorgias«Dialog auf, wenn die Sophisten primär durch ihre Physis, das Erröten und die sich aufstellenden Haare in die Grenzen ihrer Behauptungen verweisen werden.62 Schlatter selbst gelangt zu einer umfassenden Strukturbestimmung der Architektonik des Gewissens. In seiner Sicht markiert es, wie schon gesagt, die Grenze zwischen Natur und Geist 62 Platon, Gorgias 505 c 1ff. Die in der Physis sich regende Empfindung der Scham (aischyne) bildet geradezu ein Leitmotiv im Platonischen »Gorgias«-Dialog. Damit zeigt sich, dass leiblich sehr wohl eine Natur der Tugenden existiert, die die Sophisten ansonsten abgestritten hatten.

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und setzt dem Willen die Pflicht, sich nicht an die natürliche Existenz zu verlieren. Das Gewissen, das räumt Schlatter als »particula veri« des Sokratischen Gedankens ein, wirkt vorwiegend negativ. Es zeigt an, dass es dem Menschen versagt ist, seine Lust an der Befriedigung des Naturtriebs »rückhaltlos auszukosten« (M 101). Der Wille darf nicht ins Fleisch hinein ersaufen, wie Luther dies kraftvoll formulierte.63 So reguliert es auch die Gottesvorstellungen und gibt zu verstehen, dass Gott nicht als Naturgottheit angemessen vorgestellt werden kann. Schließlich reguliert das Gewissen auch die sozialen Verhältnisse der Menschen untereinander. In diesem Horizont nimmt es die Form von Rechts- und Liebesgebot an. Während die Rechtsnorm selbst primär negativen Charakter hat und die Einschränkung des eigenen Willens durch die anderen Willen beinhaltet, ist die Liebesnorm positiv verfasst. Sie lehrt zu geben und zu schenken, und sie ist immer ein Superadditum über das bloße Recht hinaus. Den Kantischen Ansatz der vielberufenen Formalität, bzw. »Leerheit« des Kategorischen Imperativs und der Autonomieforderung, wonach der Wille durch keinen konkreten Inhalt bestimmt ist, muss Schlatter zurückweisen – und er tut dies wortmächtig (M 106). Deskriptiv sei klar, dass ein Wille, der nicht durch ein Objekt seines Begehrens bestimmt ist, ganz und gar undenkbar ist. Doch Schlatter erkennt in dieser Kantischen Grenzsetzung wiederum eine »particula veri«, dass nämlich die Form des Willens und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht von den materialen Begehrensobjekten abhängig gemacht werden darf. Hier hätte auch der, von Schlatter nicht eigens genannte »naturalistische Fehlschluss« den Ort seiner relativen Berechtigung (M 107):64 Lässt sich doch aus 63 Luther, WA 23, 261, Z. 9–11. 64 Dieser sogenannte »naturalistische Fehlschluss« besagt, dass aus einem Sein kein Sollen resultieren könne. Man muss bei seiner Applikation aber immer bedenken, dass die teleologisch orientierte antike Philo-

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den Gegebenheiten der Natur allein nicht ableiten, was ethisch geboten ist. Deshalb kann aus der bloßen Betrachtung des realen Seienden niemals ein klarer und eindeutiger Hinweis darauf erfolgen, wie Handlungen sein sollten. Schlatter zeigt nun an etwas bizarren, der Ethnologie entnommenen Beispielen, dass es eine Kulturrelativität in der Applikation von Regularien geben kann, ohne dass die grundlegende, ins Herz geschriebene Gewissensunterscheidung deshalb relativiert würde. Dem Gast gemäß dem Liebesgebot Gutes zu tun, ist unbedingte, zeitlose Gewissensforderung, die aber in bestimmten Kulturen absurde Formen annehmen kann, etwa dass »der Beduine« dem Gast die eigene Ehefrau anbietet. So wie das Gewissen, zumindest bei nicht-pervertierten Menschen, dort, wo es sich meldet, Schmerz und Qual indizieren kann, so kann die Übereinstimmung mit dem eigenen Gewissen Ursache eines tiefen Friedens sein. (2) Das zweite reale Grundphänomen des geistigen Lebens, das über den Naturzusammenhang hinausweist und dadurch Indiz göttlicher Wirksamkeit wird, ist nach Schlatter die Erkenntnis. Auch hier ist ihm erkennbar daran gelegen, eine aktivisch-passivische Interaktion hervorzuheben. Erkennen muss sich an die Grundnormen der Logik halten, ihnen sich, wie Schlatter sogar formuliert, »unterwerfen«. Gleichwohl ist aber auch das Erkennen eine Selbsttätigkeit. Und es verlangt ebenso wie das Gewissen nach seinem Grund. Dass, wie auch der neue Realismus in der Philosophie wieder vermehrt betont,65 die Dinge und Sachverhalte sophie sich niemals an dieses Schibboleth hielt. Dazu der klassische Beitrag: W.F. Frankena, The Naturalistic Fallacy, in: Mind 48, 1939, 464–477 (deutsch in: G.  Grewendorf/G.  Meggle (Hg.): Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M. 1974). Siehe auch kritisch A.  Fritz, Der naturalistische Fehlschluss. Das Ende eines Knock-Out-Arguments, Freiburg (Schweiz) 2009. 65 Vgl. dazu, nicht nur auf die deutsche und europäische Seite begrenzt: W.  Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkfor-

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mit den Gedanken und Theorien über sie übereinstimmen, dass in diesem Sinn der Grundsatz des Parmenides, wonach Denken und Sein dasselbe sind,66 seine zeitlose Berechtigung hat, verweist auf eine göttliche Initiierung. Schlatter folgt eindeutig der klassischen metaphysischen Korrelierung von Sein und Erkennen in dem Gedanken, dass das Endliche, Relative aus dem Absoluten, Unendlichen hervorgehe. Umgekehrt könnte es nicht sein. In dieser Fluchtlinie begreift er die logischen Kategorien, die die Wirklichkeit angemessen erfassen, als »Spiegelungen Gottes«. Substanz- und Kausalitätsbegriff sind, vor jeder expliziten Offenbarungsschrift, gleichsam als Spuren Gottes der Erfahrung des menschlichen Geistes eingestiftet. Die transzendentalphilosophische Emphase einer möglichst reinen Erkenntnis, die sich bis in gnostische Abstraktionen erstrecken kann, teilt Schlatter allerdings nicht. Er diagnostiziert vielmehr: »Das Erkennen füllt die Leere des Lebens nicht aus« (M 112). (3) Schlatter bleibt nicht beim Befund des geistigen Lebens im Allgemeinen stehen. Auch die Weltreligionen, die – nach dem tripolaren Schema des Missions- und Religionstheologen Peter Beyerhaus eine dämonisch diabolische, eine humane und eine göttliche Dimension enthalten,67 begreift Schlatter insgesamt als universale indirekte anthropologische Indizes einer menschlichen Tendenz hin zum Göttlichen. Dabei zeigen sich wiederum gemeinsame Grundzüge in diversen Kulturen: Gotteslehre, Gottesdienst, die Vermittlung göttlicher Hilfe – nicht nur in physischen Bedürfnisbelangen, sondern gerade im geistlichen Bereich. Der Mensch ist also in allen ethnischen Ausprägungen men der Moderne, Weilerswist 2012, 409ff.; siehe auch H. Seubert, Philosophie. Was sie ist und sein kann, aaO 72ff. (s.o. Anm. 36) 66 Parmenides, Lehrgedicht, Diels-Kranz B Frg. 7–8. Dazu Th. Buchheim, Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt, München 1994, 102ff. 67 Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz P. Beyerhaus, Zur Theologie der Religionen im Protestantismus, in: KuD 15 (1969.2), 87–104 (100ff.).

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auch »homo religiosus«. Ein Menschsein, das diese Dimension nicht kennen würde, wäre in jedem Fall reduziert. Schlatter bringt dies auf den Kerngedanken, dass die Welt dem Menschen ein »Theologoumenon« werde. Er verschweigt dabei eine Ambivalenz nicht, die in der Moderne erst recht bewusst wird: dass Religion nämlich auch Quelle von Übel sein kann (M 116f). Doch in seiner intelligiblen und freien Natur steht es dem Menschen gerade nicht frei, religiös zu sein oder es nicht zu sein. Wenn man, so Schlatters Argument, davon ausgeht, dass Gott ist und dass er erkennbar ist, »ist es dann sittlich möglich, ihn zu ignorieren[?]« (M 118). Die Frage wird verneint, und Schlatter zieht eine unmittelbare Analogie zwischen der Verpflichtung zu Sittlichkeit und Religiosität. Nur wer Gott leugne, habe die Berechtigung, ein a-religiöses Leben zu führen. Dies sind starke, in heutigen Atheismusdebatten eher in den Hintergrund tretende Aussagen. Sie könnten aber gerade durch ihre Kraft eine neue Kenntlichkeit der Verständigung zwischen »Atheismus« und »Theismus« bewirken.68 Wenn Schlatter derart sittlich argumentiert, so ebnet er die Pflicht zur Religion und Gottesverehrung deshalb keineswegs in eine allgemeine Moralität ein. Gott versteht er als Urheber dieses Gebotes. Prägnant wird dies so formuliert: »Wir stehen vor dem Gott, der unsern Willen begehrt« (M 119). Von diesem Ansatzpunkt ausgehend, zeichnet sich dann die weitergehende Frage ab, ob es denn eine Religion gebe, die nicht allein von menschlicher Seite, als eine Bitte und Suche, zu verstehen ist, sondern die von Gott ausgeht. Dies ist zugleich die Frage danach, was das Kriterium einer solchen Form von Religion sein müsste, die das Kriterium der Offenbarung erfüllen würde.

68 Die Crux ist, dass Schlatter die Verpflichtung eines religiösen Lebens gerade an jedwede Stufung einer Gottesannahme bindet. Es ist nicht nur eine rituelle, sondern eine im vollen Sinne moralische Pflicht damit gemeint.

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6. Das biblische Offenbarungszeugnis Schlatter geht von der alttestamentarischen Offenbarung aus, die er auf den Alten Bund fokussiert versteht. Im Bund manifestiert sich die Erkenntnis Gottes in seinem Volk. Eine weitergehende spekulative Erfassung des Wesens Gottes als den Ansatz bei der Selbstmanifestation Gottes, hatte Schlatter bekanntlich durchgehend ausgeschlossen. Er widerspricht damit auch (M  123f) der Vorstellung, dass das jüdisch hebräische Zeugnis der Erweiterung und Ergänzung durch die griechische Philosophie bedürfe. Diese hat nach Schlatters Vorstellung immer eine sekundäre und nur explikative Bedeutung. Sie erläutere die Bedeutung des jüdischen Heilsgeschehens in der Sprachform des Hellenismus, ist diesem aber keineswegs gleichrangig, da sie selbst nur »menschlich«, endlich formiert sei. Gegenüber dem Unverständnis für das alttestamentlich jüdische Erbe im zeitlich parallelen Neuprotestantismus eines Adolf von Harnack und der Infragestellung der Verbindlichkeit des Alten Bundes für die christliche Theologie ist es bewegend zu sehen, mit welcher Intensität und Kraft Schlatter die alttestamentliche Bundesrealität freilegt:69 Er erkennt nicht zuletzt deren Universalismus, der sich in den Proselytenbewegungen manifestiert. Hier offenbare sich, wie Schlatter sagt, der wahrhaftige Gott. Veden und Home69 Die Bestreitung der Bedeutung des Alten Testamentes für christliche Theologie und Kirche, dieser markionistische Einspruch, ist jüngst wieder durch Notger Slenczka erneuert worden. Vgl. dazu ders., Die Kirche und das Alte Testament, in: E. Gräb-Schmidt und R. Preul (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie, MThSt 119, Leipzig 2013, 83ff. Über weitere aktuelle Verzweigungen der Debatte vgl. https://www.theologie. hu-berlin.de. Eine gute Gegenkritik bei B. Kilchör, »Der Fels aber war Christus« (1Kor 10,4). Überlegungen zum Christuszeugnis des Alten Testaments in Auseinandersetzung mit Notger Slenczka, in: J. Buchegger und S. Schweyer (Hg.), Christozentrik. Festschrift zur Emeritierung von Armin Mauerhofer, Wien/Zürich 2016, 29ff.

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rische Hymnen und ihre Gottesvorstellungen seien nur noch historisch von Belang. Mit den Psalmen und Gebeten der Propheten dagegen würde auch die christliche Gemeinde nach wie vor beten. Was in anderer Weise sicher auch für die griechische Ordnung gilt, wird besonders hervorgehoben: Dass nämlich die Rechtsnormen selbst »Gottes Gebote« seien.70 Schlatter betont dabei auch, dass das Doppelgebot der Liebe schon Mitte des Alten Testamentes ist, dass es darin aber eben noch nicht, wie dann in Jesus Christus, inkarniert ist. Einerseits ist der Gottesdienst damit das Zentrum des Bundes, andererseits ist es der Begriff des Reiches eben dieses Gottes, auf das sich auch die Zukunftserwartung richtet. Er entwickelt von diesem Ausgangspunkt her mit hoher Sensibilität und großer Kenntnis zentrale Begriffe einer alttestamentlichen Theologie, indem er zeigt, wie sich das Reich Gottes mit dem Gewissen verbindet, wie mithin Schuld und Übel als Abfall von dem originären Willen Gottes erscheinen. Das messianische Reich wird, vielleicht in Überbetonung,71 als »künftig« erwiesen. Doch sei es durch den von Gott in Treue gehaltenen Bund mit seinem Volk schon in der Gegenwart angebrochen. Darin werden der Begriff der Religion und die allgemeine, von Schleiermacher nochmals als letztes Residuum der Gotteserkenntnis positionierte Frage, wie man im Gefühl Kenntnis vom Göttlichen haben könne, grundsätzlich überschritten. Der wahre Gottesbund und die verschiedenen, verschwebenden und letztlich nicht Bestand habenden Gottes- und Götzenbilder können im Licht der Bundestheologie fundamental voneinander unterschieden werden. 70 Schlatter betont im Blick auf die Praeambula fidei und einen Ansatz von Naturrecht sehr stark den Bruch zwischen Griechen und Judentum, wobei das griechische Denken im Bereich der weltlich-menschlichen Aussagen bleibe. 71 Im jüdischen Denken hat es sehr stark auch die Tendenz zur Prolepsis, zum Eingreifen der Rettung schon in dieser Zeit und Welt gegeben. Vgl. dazu nur als locus classicus neuerer jüdischer Religionsphilosophie F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M. 1988, 465ff.

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Dies bedeutet auch, dass Israel, anders als das antike Griechenland, gar nicht von sich her und aus sich heraus verständlich ist. Sein Proprium: das, was es hat und ist, rührt einzig aus Gott. Die »Verheißung« und das »Versprechen« ist, im Sinne Schlatters, der Bereich allgemeiner Religiosität. Doch an Israel wird die Verheißung real. An dieser Stelle verläuft, wie in wenigen prägnanten Textpassagen gezeigt wird, (M 138ff.) die Differenz zwischen Israel und den Völkern. Damit werde auch das Königtum Israels im Verhältnis zur Prophetie definiert. Der König erhält von den Propheten seine eigentliche Autorität. Dies bedeutet aber auch eine Scheidung, die immanent durch das Volk Israel hindurch verläuft. Denn die israelische Volksreligiosität ist nicht auf der Höhe der prophetischen Religion. Schlatter bemerkt deshalb: »Das alte Test[ament] ist der Sieg der Prophetie über und wider Israels eigene Religiosität« (M 141). Erst in diesem durch die Propheten auf Gott bezogenen Israel ereignet sich eine »unmittelbare Wahrnehmung Gottes«. Schlatter konstatiert damit den Propheten eine Erfüllung, die in keiner rein-rationalen oder »natürlichen« Antizipation angelegt gewesen sei. Sie sei in diesem Sinne zwar streng »geistig«, sie sei aber zugleich in hohem Maße konkret und als direkter Eingriff in die Geschichte Israels zu verstehen. Reales und Ideales – ein Begriffspaar, das in der klassischen deutschen Philosophie vielfach korreliert wurde – gehen eine unmittelbare Verbindung ein. Von dieser Ligatur handelt letzten Endes das alttestamentliche Zeugnis. Der Wunderbegriff ist daher gerade kein Mythos, von dem man sich trennen könnte. Er führt vielmehr in die Herzmitte des alttestamentarischen Geschehens hinein. Denn, wie Schlatter pointiert bemerkt: »Der Staubhaufen Demokrits und die Idee Hegels und irgendwo in der Leere über den Dingen schwebende Naturgesetze wirken kein Wunder« (M  148). Dies bedeutet für den Wunderbegriff seinerseits, dass er gleichsam gottesunmittelbar aufgefasst werden muss. Er beschreibt die über jede kategoriale Naturgesetzlichkeit hinausreichende Dimension, der gemäß Gott der Herr der Welt ist (M 90). Daher liege im Wunder selbst eine – 55 –

allem anderen vorausliegende Gesetzlichkeit und Manifestation der göttlichen Zwecksetzungen, die aber keineswegs vordergründig der natürlichen Erklärbarkeit der Welt widerstreiten muss. Diese bleibt, wie Schlatter ausdrücklich betont, vielmehr in Kraft. Die Herrschaft Gottes über die Welt liegt auf einer anderen, tieferen Ebene. Einer schlichten Alternative zwischen Naturwissenschaft und Durchbrechung des kausalen geschlossenen Weltzusammenhangs erteilt Schlatter daher eine Absage. Die prophetisch gedeutete und sich machtvoll bewirkende Bundesrealität verweist daher proleptisch, wie Schlatter in heilsgeschichtlicher Dimension zeigt, auf ein erst zu ahnendes Pleroma in Gott, die Fülle, die in Christus real geworden ist. Diese Erfüllung und damit erst die ganze heilsgeschichtliche Erkennbarkeit Gottes expliziert sich in Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Christusgeschehens. In ihm sieht Schlatter die Verschränkung des Göttlichen und Menschlichen ihre eigentliche Tiefe erreichen. Zwar ist die Anthropologie der erfahrungshafte Ausgangspunkt der Gottesbegegnung. Doch dies bedeutet bei Schlatter zugleich, dass der Mensch aus seinem In-Gott-sein zu verstehen ist. In seinem Durchgang durch die nachkantische spekulative Philosophie und Theologie, in der Vorordnung des cogitor vor dem sich selbst setzenden cogito, des Erblicktwerdens von Gott vor jedweder Gottesprojektion, formuliert Schlatter dies prägnant, ganz in der Linie der Vorlesung »Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I«72: »Das menschliche Moment an unsrer Beziehung zu Gott kommt nicht zur Vollendung, ehe und bevor das göttliche Moment an derselben sich vollendet hat« (M 152). Von Christus her zieht Schlatter dann doch die Grenze des alten Bundes sehr scharf, überscharf in dem auf Paulus gegründeten Satz, es sei »Nomos«, »Forderung mehr nicht, nicht Gabe, nicht Kraft, nicht Leben« (M  153). Deshalb bleibe es bei Wissen und Forderung. Die lebendige Wirkung Gottes unter den Menschen bleibe aber noch aus. Die Personifizierung der 72 Siehe Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 165ff. (s.o. Anm. 31)

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Gotteskraft, ihre Verwirklichung in Jesus Christus ist daher gerade das Zentrum des inkarnatorischen Glaubens. Die große Kontinuität zum alttestamentlichen Zeugnis liegt indes in der Begründung des Reichs. Schlatter sieht in dem Christusgeschehen eine Realität, die wissenschaftliche Theologie und philosophische Begrifflichkeit niemals erschöpfen könne. Sie habe aber eben deshalb auch nicht das Recht, davor zurückzuweichen (M 157). Hier eben meldet sich das »Höher als alle Vernunft« (Phil 4,7), das nur dem im Kolosserbrief ausgesprochenen Verborgensein aller Schätze der Weisheit in Jesus Christus entspricht (Kol 2,3). Von hier her betont er, dass es eine unmittelbare, gleichsam schauende Gotteswahrnehmung auch von Christus her nicht geben könne. Dennoch gibt es im schlatterschen Sinn keinen Bruch zwischen Gott, wie er sich offenbart und wie er in seinem Wesen ist. Die Trinität ist selbst heilsgeschichtlich und als Tatsache zu explizieren: Als »Allwirksamkeit« Gottes in allem Geschehen, als »gottmenschliche« Verkörperung der Gottesidee in Jesus Christus und schließlich als Gottesbewusstsein im Heiligen Geist und in der Gemeinde. Das Spezifikum und der Erfüllungscharakter in Jesus Christus werden im Licht des biblischen Zeugnisses expliziert: Das Einmalig-Einzigartige ephapax (Röm 6,10) tritt kriteriologisch in den biblischen Berichten von Jesu irdischem Wirken durchaus und unmittelbar hervor. So wird (unter Verweis auf Mt 21,23ff.) der Bußruf als Anfang und Voraussetzung von Jesu Wirken hervorgehoben. Die Metanoia, die Umkehr zum Heil, bildet gleichsam erst den Horizont des Christuszeugnisses. Es ist also die »sittliche Herrlichkeit Jesu«, die ihn schon in seinem irdischen Wirkungskreis als wahren Gott und wahren Menschen in einer Person erkennen lässt. Ein maßgebliches Motiv ist dabei die Anerkennung der Natur als Gottes Natur. Dies ist, wie Schlatter sehr konzise herausarbeitet, wiederum eine doppelte Konstellation: die Kraft Jesu Christi ist nicht den Mächten und Gewalten der Natur unterworfen (Joh 5,26). Doch darin werde die Natur nicht depotenziert, sie werde aber als »Gottes Natur« erkennbar. Die im alten Bund eröffnete Geschöpflichkeit öffnet sich auf den neuen Bund, so dass die Erkenntnis Gottes auch zugleich Erkenntnis der Natur ist. – 57 –

Schließlich widmet Schlatter Jesu Tod und dem damit verbundenen Erleiden eingehende Auslegungen und Reflexionen. Die Stellvertretung ist nicht erst stellvertretendes Opfer und Strafleiden. Sie ist auf einer elementareren Ebene darin gegeben (M 165), dass sich Jesus »im Sterben dem Todesgesetz unterwirft«. Dass Jesus den Zorn Gottes aufgenommen hat, bedeutet, dass Jesus »Gottes Recht und Gericht bejaht auch mit der Preisgabe seines eigene Ichs« (M 167f.). Es sind also die Grundzüge der kenotischen Christologie die hier besonders deutlich hervorgehoben werden. In der Kenose unterwirft sich Jesus Christus zugleich der höheren Macht und Herrschaft Gottes. Christlicher Glaube ist ein Glaube der Deszendenz. Das Kreuz ist deshalb gleichsam die »Conditio sine qua non« der Vollendung des Reiches. Überlegungen aber, die theologisch dartun wollen, dass und weshalb Jesu Kreuzestod »notwendig« gewesen sei, gehören für Schlatter nicht in den Zentralbestand der Theologie. Hier geht es vielmehr um die Anerkenntnis des einfachen und durchgehenden Faktums des Kreuzes; seiner Gegenwart, die die Zukunft des Reiches erst eröffnet. Die Wirksamkeit des Zeugnisses im Heiligen Geist und seiner Gemeinde versteht Schlatter als die Macht, die mit Christus verbindet. Dem einzelnen gläubigen Ich und der Gemeinde selbst wird Christus zugeeignet. Sie sind daher mit Gott geeinigt und können selbst (2Kor 4,4) in Christus das eikon tou theou erkennen, das sie selbst widerzuspiegeln vermögen. Die Erfüllung des Gesetzes in Christus (Röm 9–11) versteht Schlatter als Übergang in den geistlichen Organismus der Gemeinde, und zugleich als Übergang der höchsten menschlichen Denkfähigkeit, eben des Nous, in das Pneuma (M 174). Von hierher und damit im Licht der Geisttheologie, reflektiert Schlatter das Verhältnis von Wort und Schrift. Die Schrift dürfe nicht, so betont Schlatter, von dem lebendigen Wort Gottes gelöst und abgetrennt werden. Der Verabsolutierung einer Schriftlehre in der Reformation weist er einen nur relativen, zeitbedingten Sinn zu. Sie komme vor allem aus dem überwölbenden Traditionsprinzip des römischen Katholizismus. Die Mängel und die notwendige – 58 –

Ergänzung in einem noch immer ökumenisch relevanten Sinn hatte Schlatter bekanntlich an anderer Stelle in der Vorlesung über Theologie und Philosophie in überaus differenzierter Weise expliziert.73 Die Schrift stellt das Wort Gottes auf Dauer. Doch sie wäre nicht ohne das lebendige Wort. Schrift und Wort sind mithin in ihrer Wechselbegrifflichkeit zu erfassen, keineswegs aber zu isolieren. Deshalb nimmt Schlatter eine überzeugende via media zwischen Biblizismus und einer von der Schrift gelösten abstrakten Kerygmatik ein. Schlatter hatte zwar an früherer Stelle des Textes gegenüber dem Biblizismus betont, dass die Offenbarung Gottes nicht ausschließlich und allein in der Schrift geschehe. Er hebt nun aber ebenso deutlich hervor, dass das Wort »nichts der Offenbarung Gottes zufälliges, sondern direkt in ihr begründet« sei (M 178). Das lebendige Wort Gottes behalte daher seinen göttlichen Charakter auch im Stadium seiner Verschriftlichung. Es ergibt sich damit eine Abstufung. Erste Offenbarung Gottes ist immer seine Handlung. Sie manifestiert sich am unmittelbarsten in seinem Wort. Dokumentiert und niedergelegt ist dies dann in der Heiligen Schrift. Schlatter lehrt insofern auch nicht eine unpersönlich isolierte Verbalinspiration für den oder die Verfasser biblischer Bücher, sondern ein Geistgeschehen, weil der Vorgang den Verfasser in dessen ganzer Person erfasst. Deshalb kann er klar und eindeutig vermerken: »Die Schrift übt nicht nur die Funktion eines historischen Zeugen, der beobachtend neben den Ereignissen steht, sie wächst aus dem Werke Gottes selbst heraus und bildet darum selbst einen integrierenden Bestandteil dieses Werks« (M 182). Entscheidend ist, dass Gottes Geist in Propheten und Aposteln, zentral aber in Jesus Christus wirksam ist. In diesem Licht des Pneumas erst kann, bei partieller Anerkenntnis der Ergebnisse historisch-kritischer Forschung im Sinn Schlatters, die Bibel als wahres Wort Gottes anerkannt werden. Für die Herausgeber stellt sich aber die Frage, ob nicht die Einsichten jenes mittleren Weges so tief reichen, dass sie spätere Einsei73 Dazu Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 123ff. und 138ff. (s.o. Anm. 31).

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tigkeiten liberaler Theologie und barthianischen Offenbarungspositivismus andrerseits hinter sich lassen können. Noch tiefer reicht das eigentlich inkarnatorische Prinzip, dem Schlatter das Wort redet: »Der menschliche Charakter der Schrift ist die direkte Folge derjenigen Weise, wie Gott sich bethätigt im Propheten und im Sohne« (M 187). Schlatter stellt damit die biblische Theologie und ihre hermeneutischen Fragen in den Gesamtraum der Theologie. Man wird auf den letzten Seiten des Vorlesungstextes Zeuge der souveränen Synopse der verschiedenen theologischen Disziplinen, zu der Schlatter in kraftvoller Skizze ansetzte. Avant la lettre entwickelt er so etwas wie die Theorie einer kanonischen Exegese. Die Grundlehre ist dabei, dass die Einzigartigkeit der in Jesus Christus geschehenen Geschichte allererst die Einzigartigkeit der Schrift bedinge. Schlatter spricht, in einem sehr starken Ausdruck, von einem »Kausalverhältnis« (M  189). Indem sie von dem singulären Ereignis der »Erscheinung des Sohnes Gottes im Fleisch, sein[em] Sterben und Auferstehen«, jenen »Fakta von schlechthin singulärer Bedeutung«, spricht (M 188), begründet sie die Kirche und die Vollmacht von Predigt und Verkündigung, wie Schlatter im Blick auf die Reformation und Luther hervorhebt. Die Berufung des Paulus (M  191) wird damit besonders hervorgehoben (Eph 3, Kol 1,25ff.). Auf sie könne sich das Apostolat in seinen geschichtlichen Sukzessionen bis zur Wiederkehr Jesu Christi stützen. Gegenüber Harnack und seiner Schule, heute gegenüber Theologen, die die alte Harnack-These, wonach die jüdische Bibel nicht mehr integraler und normierender Bestandteil der theologischen Verkündigung sei, neu und mit großer öffentlichen Aufmerksamkeit vertreten, trifft Schlatters Aussage gleichermaßen den Kern. Die Schriften des Alten Testaments zeigen, wie der Christus wird. Das Alte Testament sei insgesamt die Vorgeschichte des Christus und deshalb für Christen ganz und gar unverzichtbar (M 195f.). Die fundamentaltheologische Besinnung auf »Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis« mündet keineswegs zufällig in die offen– 60 –

barungstheologische Perspektive. Namentlich Autorität und Infallibiliät der Heiligen Schrift werden in Übereinstimmung mit der Reformation festgehalten. Ihre Autorität, bezieht sie aus ihrem Ursprung in Gott. Diese Autorität erfordert freilich freie Anerkenntnis. »Die Schrift erhebt nicht den Anspruch, unser Erkennen ersetzen zu wollen durch ihr Erkennen, uns ihre Begriffe einzugießen als fertige Produkte, denen gegenüber einfach [ein] Receptionsakt gefordert würde, der an die Stelle unsres eigenen Erkennens träte« (M 199). Die Schrift sei also niemals als Ersatz für eigenes Erkennen gegeben. Wohl aber – und mit Nachdruck – betont Schlatter, sie sei die normative Instanz, an der jenes Denken seinen Maßstab nehmen kann. An diesem Punkt, wir wiederholen es noch einmal, kann Schlatter auch heutigen Einseitigkeiten, sowohl liberal theologischer als auch evangelikaler Provenienz Gewichtiges entgegensetzen. Er folgt letztlich dem reformatorischen Grundsatz von der sich selbst interpretierenden Schrift. Der Mensch ist nicht als Richter über die Schrift bestellt, sondern als Hörer des Wortes. Doch alle unterscheidenden, also recht verstanden kritischen Instanzen, »die der Wahrnehmung der wirklichen Beschaffenheit des Schriftworts dienen, sind sittlich und christlich legitim« (M 203). Es sei daher auch nicht anzunehmen oder zu fordern, dass die Heilige Schrift gleichsam monoton allerorten und aus allen ihren Quellen dasselbe verlautbaren lässt. Ihre eine umfassende Wahrheit konstituiert sich vielmehr perspektivisch, in unterschiedlichen Tropen. Doch ihre eigentliche Autorität hat sie darin, dass sie diejenige Wahrheit aussagt, die ihr Sein in Gott selbst hat. So schließt Schlatters Kolleg paränetisch, mit einem Ausblick auf die Haltung, in der jene Wahrheit erst umfassend angeeignet werden und das begrenzte menschliche Ich auf sie durchsichtig werden kann. »Das ist Theologie«,74 soll Martin Heidegger, der Jahr74 Hier zit. n. W. Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, Stuttgart 1996, 607. Neuer beruft sich dabei auf eine mündliche Aussage von Prof. Günther Bornkamm in einer Ansprache vor Heidelberger und Tübinger Neutestamentlern.

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hundertphilosoph, gesagt haben, als er in eine Vorlesungsstunde des alten Schlatter geriet. Und in der Tat, von dieser Evidenz der Theologie geben gerade die Schlusssequenzen schon dieses frühen Kollegs einen intensiven Eindruck. Dabei wird schließlich noch einmal der Schlattersche Realismus prägnant fassbar. Als Erkenntnis, Erste Wissenschaft kann Theologie nur entstehen, »wenn wir uns wahrnehmend den Realitäten zuwenden […]. Den Werken Gottes gilt es sich wahrnehmend hinzugeben, dann bricht in unsre in sich selbst leere Ichheit das große göttliche Ich hinein und der Lebenskontakt stellt sich her mit ihm, und damit ist die Gotteserkenntnis geboren, in ihm ist das Leben und das Leben ist der Menschen Licht« (M 207).

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Danksagung Wir widmen dieses Buch Herrn Professor Manfred Seitz (1928– 2017), dem wegweisenden Erlanger Theologen und Seelsorger. Er hat nicht nur der praktischen Theologie und der Kirche insgesamt viele Impulse von bleibender Bedeutung gegeben, sondern auch die Aktualisierung und Pflege von Schlatters theologischem Erbe über Jahre hinweg tatkräftig unterstützt und gefördert. Darüber hinaus ist es uns eine angenehme Pflicht, einer Reihe von Personen Dank für Ihre Mitwirkung bei der Edition zu sagen: Herrn Doz. em. Dr. Helmut Burkhardt und Herrn Heinrich Ottinger für eine gründliche Korrektur der Druckvorlagen, Herrn Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, dem Doyen der Heidegger-Edition, für freundliche Mitwirkung bei der Entzifferung von Fehlstellen, Herrn Hermann Hafner für die Jahrzehnte zurückliegende Erstellung eines ersten Typoskriptes, das unerlässliches Hilfsmittel war, Herrn Daniel Gleich, Doktorand an der ETF Leuven (Belgien), für die unerlässlichen philologischen Feinarbeiten und schließlich Frau cand. theol. Anna Tabea Rohlfing für tatkräftige Mitwirkung bei der Schlussredaktion. Schallbach und Basel, Ostern 2018

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Werner Neuer und Harald Seubert

Zur Textgestalt dieser Edition Der Text wurde von den Herausgebern aus dem handschriftlichen Original transkribiert und unter Hinzuziehung einer Transkription Pfr. Hermann Hafners kollationiert. Dabei wurden in Übereinstimmung mit den anderen Nachlasseditionen zu Schlatter die folgenden Maßstäbe befolgt: 1. Offensichtliche Verschreibungen und Fehler wurden stillschweigend korrigiert. 2. Die Orthographie wurde heutiger Duden-Konvention angeglichen. Stileigentümlichkeiten wie die zahlreichen Apokopierungen wurden aber beibehalten. 3. Auch die Zeichensetzung wurde der Lesbarkeit willen, der heute geltenden Duden-Konvention angeglichen. 4. Dem Vorlesungsmanuskript fügte Schlatter eine Reihe von stenographischen Ergänzungen an. Auf deren Wiedergabe wurde in dieser Edition verzichtet, da sie nach Auffassung der Herausgeber sachlich keine wesentlichen Erweiterungen ergeben. 5. Eindeutige für das Verständnis unerlässliche Ergänzungen werden in [ ] gesetzt. 6. Die Abkürzung der Bibelstellen erfolgt nach RGG4.

Bemerkung zu den Erläuterungen zum Text Die Erläuterungen werden in die Fußnoten gesetzt und auf das Notwendigste begrenzt. Nicht verständliche oder erläuterungsbedürftige Aussagen sollten dabei erklärt und durch einen Literatur– 64 –

hinweis ergänzt werden. Dies gilt insbesondere für theologische und philosophische Sachverhalte. Es versteht sich, dass eine umfassende Kommentierung weder möglich noch notwendig erschien. Stattdessen sind vereinzelt argumentationsanalytische Hilfen zum Verständnis in die Kommentare eingefügt worden, um die Zielsetzung von Schlatters Diktion etwas klarer werden zu lassen. Auch dies geschah jedoch nur, wo es erforderlich schien. Deshalb schien es legitim, Forschungsarbeiten aus späterer Zeit heranzuziehen, um Schlatters Gedankengang besser aufzuklären. Die Herausgeber

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Adolf Schlatter

Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis

 Berner Vorlesung im Sommersemester 1883 [Archiv-Nr. 191]

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§ 1 Die Begrenzung der Aufgabe [1] Die Frage, die wir uns stellen, ist: gibt es ein Wissen von Gott, und wie entsteht dasselbe? Die Bedeutung dieser Untersuchung ist nicht die, dass durch sie Kenntnis Gottes erst möglich würde. Auf keinem Gebiete ist unser Erkennen abhängig von der Einsicht in den Modus und die Genesis desselben. Wir lernen nicht erst durch die Optik sehen, durch die Logik denken. Wir erkennen auch ohne Reflexion auf das Wie der Erkenntnis. Ebenso vollzieht der Mensch in der normalen Entfaltung seines innern Lebens seine Erkenntnisakte Gott gegenüber unmittelbar. Deshalb können auch die Schwierigkeiten unsrer Untersuchung die vorhandene Kenntnis Gottes nicht in Frage stellen. Die Optik ist noch voller ungelöster Räthsel, dadurch wird das Sehen selbst nicht zweifelhaft und derjenige wäre ein Thor, der das Sehen einstellen wollte, bis ihm wissenschaftlich lückenlos dargethan wäre, wie wir zu sehen im Stande sind. Ebenso thöricht wären wir, wenn wir unser lebendiges Verhältnis zu Gott deswegen in Frage stellen wollten, weil die wissenschaftliche Zergliederung desselben schwierig ist und uns vor viele Räthsel stellt. Vielmehr wenn wir wirklich in lebendigem Verband mit Gott stehen, so können wir mit voller Ruhe diesen Untersuchungen uns hingeben, gewiss, dass, wenn auch unsre erkennenden Kräfte den zur Untersuchung kommenden Problemen nicht gewachsen sind, unser Verhältnis zu Gott deshalb in seiner vollen Realität unerschüttert bleibt. [wohl aber besitzt das, was sich durch die wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet an Resultaten gewinnen lässt, hohen Werth].75 Wenn diese Untersuchungen zu keinem positiven Resultat gelangen, so gibt es keine Wissenschaft von 75 Der in [ ] gesetzte Satz ist im Manuskript durchgestrichen.

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Gott, keine Theologie, aber das würde noch nicht daraus folgen, [2] dass es keine Frömmigkeit gäbe, keine Religion. Für die Theologie als Wissenschaft von Gott ist die Frage von Grund legender Bedeutung, ganz analog wie für die Philosophie als Weltverständnis die Untersuchung von eminenter Wichtigkeit ist, ob und wie wir die Dinge erkennen. Ehe wir ein System theologischer Erkenntnisse aufbauen, bedürfen wir der Selbstbesinnung darüber, welche Mittel und Wege vor uns liegen, um die gesuchten Erkenntnisse zu erlangen. Es kommt hinzu der geschichtlich gewordene Gegensatz, der durch unsre Zeit geht. Sie hat nicht mehr im Gottesgedanken ihren Einigungspunkt. Die Folge dieser Zerspaltung ist der Zweifel, ob Theologie überhaupt möglich sei. Umso weniger darf dieselbe dieser grundlegenden Arbeit sich entziehen, in welcher sie sich selbst und andern ihre Legitimation darbietet. Unsre Untersuchung gehört also nach ihrer Stellung im Ganzen der theologischen Disciplinen zur systematischen Theologie im Unterschied von der historischen. Wir fragen nicht nach dem, was in dieser oder jener Zeit diese oder jene Person über Gott gedacht und ausgesprochen hat, wir fragen: was Gott selbst ist, welches das Verhältnis sei zwischen unsrer Erkenntnis und Gott selbst. Innerhalb der systematischen Theologie hat unsre Untersuchung wiederum einen vorbereitenden und darum grundlegenden Charakter. Wir könnten sie nennen: theologische Prinzipienlehre, Fundamentalwissenschaft.76

76 Die Fundamentaltheologie ist eher und primär eine römisch-katholische Disziplin. Sie ist zwar vereinzelt auch im Protestantismus angewandt worden, in jüngerer Zeit unter anderem von Wilfried Joest und Gunther Wenz; teilweise fällt sie mit den »Prolegomena« zusammen. Fundamentaltheologisch maßgeblich ist die Begründung der Theologie gegenüber anderen Wissenschaften, der Philosophie und der weltlichen Sichtweise auf Erkenntnis. Vgl. Wilfried Joest, Fundamentaltheologie. Theologische Grundlagen- und Methodenprobleme, Stuttgart 31988.

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§ 2 Das Erkennen Um zu erkennen, bedürfen wir eines Objekts, das unserm Bewusstsein irgendwie gegeben, gegenwärtig sein muss. Das Erkennen ist kein kreatorischer Akt, nicht [3] voraussetzungslos, wir schaffen auch im Erkennen nicht ex nihilo.77 Wie unser Handeln an Objekte gebunden ist, die es bearbeitet und umformt, so ist ganz analog auch unser Erkennen Bearbeitung, Umgestaltung von Objekten. Wir sind als Erkennende wie als Handelnde in Abhängigkeit gesetzt von Realitäten, die unabhängig von unserm Ich bestehen, nur mit dem Unterschiede, dass im Erkennen die Richtung unsrer Thätigkeit von den Objekten aufs Ich geht und im Handeln vom Ich auf die Objekte.78 Treten die erkennenden Kräfte in Aktivität ohne ein Objekt zu haben, so entsteht nicht Erkenntnis, sondern Traum 77 Ex nihilo: Aus dem Nichts. Angespielt wird damit selbstverständlich auf den dogmatischen Topos der creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts), die sich in der frühchristlichen Dogmenbildung gegen den klassisch ontologischen Grundsatz entwickelte: »ex nihilo nihil fit«. Dazu Gerhard May, Schöpfung aus dem Nichts: Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Berlin u.a. 1978 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 48). Schlatter gebraucht dies hier eher als Metapher. 78 Schlatter arbeitet hier das Wechselverhältnis von Subjektivität und Objektivität gemäß dem Cartesischen Grundmuster so heraus, dass dessen Dualismus durch einen ontologischen Realismus überwunden werden kann. Vgl. dazu auch die Einführung in: Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, Stuttgart 2016, 16–28. Siehe auch Schlatter, Metaphysik. Eine Skizze, hg. u. transkr. v. Werner Neuer, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 7, Tübingen 1987, Einführung von Werner Neuer, ibid., 6–10.

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und Dichtung.79 Ist unser Erkennen zwar auf ein Objekt gerichtet, doch so, dass unser Urtheil differiert vom realen Bestand desselben, so entstehen wiederum nicht Erkenntnisse, sondern Irrthum, Einbildung, Wahn. In der Grundforderung, die wir alle an unsre Gedanken stellen, nämlich, dass sie wahr sein müssen, prägt sich energisch die Gebundenheit derselben in die Realia aus. Nur durch die Kongruenz unsrer Gedanken mit dem Seienden haben jene Werth. Wir sind auch gar nicht um Objekte verlegen, die uns unmittelbar gegeben sind. Wir empfangen alle konstant eine Fülle von Wahrnehmungen, wir haben eine Welt vor uns, die uns erfahrbar ist, empirisch wird. Wahrnehmung,80 das ist das große feste Faktum, durch das uns Erkenntnis möglich wird. Und nur durch Wahrnehmung wird sie uns möglich, weil nur in ihr Objekte des Erkennens uns gegeben sind. Die Wahrnehmung ist zunächst eine Thätigkeit der Seele, doch keine spontane, so dass sie nur in der Seele begründet wäre. Sie ist Reaktion auf eine Aktion, die von den Realia um uns her ausgeht. So gewinnen wir den auch für die Theologie höchst wichtigen Satz, ohne den sie in unfruchtbare Sophisterei 79 Schlatter beschreibt in diesem Zusammenhang den Erkenntnisvorgang im cartesianischen Sinn als Wechselverhältnis von Subjekt und Objekt, wobei in der praktischen Vernunft die Gewichtung umgekehrt verläuft. Sie geht nämlich von einem Primat des Objektes, der Welt, aus. Im Hintergrund steht Schlatters Auseinandersetzung mit der Philosophie des deutschen Idealismus, die er im Horizont des für ihn konstitutiven metaphysischen Realismus entfaltet. Dazu Metaphysik, passim (s.o. Anm. 34), und Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 65–83 (s.o. Anm. 31), insbesondere zu Immanuel Kant. 80 Unter »Wahrnehmung« versteht Schlatter ganz im klassischen Sinne des Aristoteles die umfassende Bezogenheit menschlicher Realitätserfassung, die der Schlussfolgerung und Theoriebildung vorausgehen muss. In jüngerer Zeit hat diesen Topos neu untersucht Wolfgang Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987.

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[4] ausartet, dass alles Wissen Erfahrung voraussetzt. Die Grundform alles Erkennens ist Empirie.81 So ruht alles Erkennen in einem Wesensverhältnis zwischen dem Ich und dem Seienden, in einem lebendigen Verband zwischen beiden. Das Prius82 alles Erkennens ist ein Realkontakt,83 ein Wesensverband84 zwischen der erkennenden Seele und dem erkannten Gegenstand. In der Wahrnehmung allein vollendet sich der Erkenntnisprozess nicht. Sie leitet vielmehr denselben erst ein. Unsre Wahrnehmungen85 sind nicht einfache Größen, sondern reiche Komplexe und hier setzt die bewusste spontane Erkenntnisarbeit ein. Wir suchen diese Komplexe aufzulösen in ihre Elemente und so das Wahrnehmungsbild voll und ganz in 81 Dieser Verweis auf den Vorrang der Empirie, also der Erfahrung, ist charakteristisch für Schlatters realistische Denkform. Er sieht sich darin in Übereinstimmung mit der realistischen Metaphysik seit der Antike, insbesondere auch mit Aristoteles. Erfahrung zielt seiner Überzeugung nach auch in den Bereich einer »höheren Erfahrung« von Transzendenz und Gottesfrage. Sie bleibt nicht auf die Kantischen Anschauungsformen von Raum und Zeit begrenzt. Vgl. dazu Schlatter, Metaphysik, 41–42a, wo er sein Konzept einer Analogie des Seienden ausdrücklich auch auf das göttliche Sein bezieht. Diese Konzeption öffnet die menschliche Wahrnehmung zumindest potentiell für die transzendente Wirklichkeit. Vgl. auch die Einführung von W. Neuer, in: Schlatter, Metaphysik, aaO 10 (s.o. Anm. 78). 82 Prius (lat.): Das Erste oder der Vorrang, unterschieden vom posterius, dem Späteren oder Nachrangigen. 83 Durch diesen philosophisch nicht gängigen Begriff wird auf die Interaktion von Subjekt und Objekt verwiesen, die keineswegs nur scheinhaft, im Sinn eines Skeptizismus, oder transzendentaler Entwürfe im Kantischen Sinn sein sollen. 84 Auch dieser Begriff artikuliert die enge Verbindung im Wesen (to de ti) zwischen Erkennendem und Erkanntem, Subjekt und Objekt. 85 Vgl. dazu Schlatter, Metaphysik, § 8 »Der Wissende und das Gewußte«, 73A–87, wo die Komplexität des Wahrnehmungszusammenhangs gleichfalls erläutert wird. Vgl. dazu auch Jochen Walldorf, Realistische Philosophie. Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters, Göttingen 1999, insbesondere 22ff.

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unserem Ich anzueignen. Heißen wir diese das Wahrgenommene sondernde, in dasselbe eindringende, es in seine Elemente auflösende Thätigkeit Analyse,86 so können wir die Erkenntnisthätigkeit definieren als Analyse der Empirie. Solche Analyse ermöglicht wiederum eine Synthesis87, welche die erreichten Elemente wieder zusammenfügt zu einer Rekonstruktion des Wahrgenommenen. Wir können das Erkannte deduzieren88, konstruieren aus seinen Elementen. Doch geht jede[r] Synthesis die Analysis voraus. Durch sie erst wird Synthesis möglich. Analyse vollzieht sich zum Theil auch unwillkürlich in uns allen. Wir vermögen erloschene Wahrnehmung zu ersetzen durch Erinnerungsbilder, [5] reproduzieren nicht mehr den ganzen Inhalt der Wahrnehmung, sondern nur noch besonders hervorstechende Züge derselben. Diese Erinnerungsbilder heiße ich Vorstellung. Wir können nun mit bewusster Anstrengung auf die wesentlichen Züge der Wahrnehmung achten und so dafür sorgen, dass unsre Erinnerungsbilder in der That die wesentlichen Merkmale der Wahrnehmung enthalten, können weiter die gleichartigen Erinnerungsbilder zusammenfassen in ein Schema, so entsteht der Begriff.89 86 Der Begriff der »Analysis« ist hier nicht spezifisch auf eine bestimmte Philosophie bezogen verwendet, auch nicht im Kantischen Verständnis »analytischer« und »synthetischer« Urteile apriori oder aposteriori. Er benennt in einem für Mathematik und Philosophie gemeinsamen Sinn vielmehr grundsätzlich die philosophisch oder mathematisch oder allgemein angewandte Methode der Zerlegung, wohingegen »Synthesis« die nachfolgende Zusammensetzung der Gesamtheit bezeichnet. 87 »Synthesis« verweist in diesem allgemeinen und unspezifischen Sinn auf die erneute Zusammensetzung zu umfassenden Ganzheiten und Wesenheiten. 88 Hier im Sinne von »ableiten«. 89 Schlatter gibt hier im Kern einen Abriss seiner Erkenntnislehre, von der Erfahrung über das Erinnerungsbild zum Begriff, die sich auch als Gegenkonzept zu der Transzendentalphilosophie Kants und der nachkantischen Systementwürfe versteht. Dazu Jochen Walldorf, Realistische Philosophie, aaO 55ff. (s.o. Anm. 85) u.ö.

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Ich verstehe unter Begriff die Summation vieler Erinnerungsbilder gleichartiger Wahrnehmung. Die Thätigkeit, welche aus der Fülle der Wahrnehmungen einzelnes heraushebt, nennen wir Abstraktion.90 Das Erinnerungsbild ist stets abstrakt, also auch der Begriff. Die Abstraktion hilft uns, die Mannigfaltigkeit unsrer Erfahrung zu ordnen, zu überblicken, wir fassen sie so in eine beschreibende Systematik. Die Abstraktion hat umso mehr Werth, je mehr es uns gelungen ist, die charakteristischen Züge der Dinge zu erfassen. Sie hat ihre Wahrheit lediglich in den realen Wahrnehmungen, deren einheitliche Zusammenfassung sie ist. Diese beschreibende Systematik ist noch nicht das Ende des Erkennens. Unsre ganze Empirie thut sich uns allen als geworden kund, als Wirkung, die nicht in sich selbst beruht, sondern auf ein anderes weist, das sie hervorbringt. Sie redet von Ursachen. Und damit beschäftigt sich unsre analytische Arbeit an der Welt weiter. Sie [6] fragt nach den Ursachen des Erfahrenen. Wir überschreiten damit das Erfahrungsgebiet, denn Ursachen sind uns nirgends in der Erfahrung unmittelbar gegeben, die Erfahrung ist immer Wirkung. Streng genommen sind darum auch die Ursachen nicht mehr Objekt der Erkenntnis, denn sie vermögen wir nicht mehr zu analysieren, sie sind uns nicht anders gegeben als in den Wirkungen und werden uns nur an ihnen kenntlich, so dass wir wohl Kenntnis von ihnen haben, aber nicht mehr eine in sie eindringende Erkenntnis. In ihnen ruht die erkennende Arbeit als in ihrem Ziel. Einen Erkenntnisakt, der von den Wirkungen vordringt zu den Ursachen, heißen wir aposteriorisch.91 Ist er geschehen, so lässt sich nun auch 90 Die Abstraktion ist hier als Absehen von der Fülle einzelner Phänomene und Realitäten auf eine begriffliche Realität verstanden, aber nicht als vorgreifender eidetischer Entwurf. 91 Diese Begriffsprägungen sind vor allem seit Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1781) gängig. Aposteriori, unter Voraussetzung der Erfahrung wollte Schlatter seinen eigenen Denkansatz verstanden wissen; was ihn auch mit der neueren angelsächsischen Religionsphilosophie (Richard Swinburne, Alvin Plantinga) verbindet, die die Gegebenheit

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der umgekehrte Gang vollziehen, ich kann dann von der gefundenen Ursache vorwärts schreiten in meinem Denken zu den Wirkungen derselben, das ist dann apriorisch gedacht.92 Das Verhältnis beider Begriffe zum andern Begriffspaar Analysis und Synthesis ist das, dass der aposteriorische Gedankengang eine Analysis repräsentiert, der apriorische eine Synthesis. Und wie nun überhaupt die Analysis Bedingung ist der Synthesis, so auch der aposteriorische Gedankengang Bedingung des apriorischen. Dieser Auffassung der Erkenntnis stehen 2 Theorien gegensätzlich gegenüber: einmal die Skepsis,93 sodann der Apriorismus.94 Der Skepsis, welche die Möglichkeit des Erkennens überhaupt verneint, ist einfach die Thatsächlichkeit desselben entgegen [7] zu halten. Wir haben Wissenschaft, es gibt Mathematik, es gibt Naturwissenschaft; wir nehmen wahr, was in unsrer Seele vorgeht. Ob wir die Möglichkeit solchen Wissens einsehen oder nicht, einerlei – die Wirklichkeit beweist die Möglichkeit, nicht aber hebt die Unfähigkeit, die Möglichkeit zu sehen, die Thatsache auf. Das Faktum muss Herr sein über unsre Gedanken, nicht umgekehrt. Hier greife ein der Offenbarung voraussetzen und dann nach deren Rationalität fragen. 92 Apriorisch bedeutet in der älteren klassischen Metaphysik aus bloßen Begriffen, ohne Heranziehung der Erfahrung, im Sinn von Kants kritischer Philosophie aber logisch unabhängig von der Erfahrung. 93 Die Skepsis oder der »Skeptizismus« ist eine erstmals in der Antike auftretende und in der Neuzeit immer wieder begegnende philosophische Strömung, die grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit einer Erkenntnis äußert, die sich zu den objektiven Gegebenheiten der Welt verhält. Vgl. zur Übersicht über die verschiedenen Strömungen Markus Gabriel, Antike und moderne Skepsis zur Einführung, Hamburg 2008. 94 Damit charakterisiert Schlatter die gesamte spekulative nachkantische Philosophie, einschließlich Friedrich Schleiermachers. Erst beim späten Schelling bzw. bei Franz von Baader löse sich diese Prägung. Siehe Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 67ff. (s.o. Anm. 31).

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jeder mit beiden Händen zu! Seit Kant nimmt die Skepsis gewöhnlich die Form an, dass die Erkenntnis eingeschränkt wird auf Erscheinungen, hinter denen erst das wahre Erkenntnisobjekt gesucht wird, das Ding an sich.95 Allein ein verständiges Erkenntnisstreben richtet sich nicht auf Dinge, die nicht für uns existieren, sondern eben auf die Dinge, die für uns da sind, auf die empirische Welt und nicht auf eine andre. Es ist ein irriges, krankhaftes Begehren, wenn wir die uns gegebenen Erkenntnisobjekte gering achten, um uns nach anderen auszustrecken, die uns nicht gegeben sind.96 Ein solch krankhaftes Streben wird freilich nicht befriedigt und verfällt darum notwendig der skeptischen Klage. Gesetzt diese Welt wäre wirklich nur Vorstellung, hätte keine andre Existenz als in unsrer Seele, so wäre sie eben in diesem ihrem seelischen Dasein unser Erkenntnisobjekt. Das Dasein der Welt kann ja kein Kritizismus bestreiten, es kann nur der Modus und Ort derselben in Frage gestellt werden, ob sie in der Seele ist oder außer ihr. [8] Der Apriorismus emanzipiert sich von der Erfahrung und sucht ohne dieselbe im eigenen Urbesitz des Geistes die Prinzipien der Erkenntnis. Geschichtlich tritt er unter 2 Bedingungen auf. Apriorismus stellt sich immer wieder da ein, wo sich eine wissenschaftliche Tradition fixiert hat. Ihr stellen sich nun die 95 Wie auch in der Kant-Darstellung in Schlatter, Das Verhältnis von Philosophie und Theologie I, Stuttgart 2016, 67–82 tendiert Schlatter auch hier dazu, Kants Vermessung der Tektonik der Vernunft in den Zusammenhang der Skepsis einzuordnen. Diese Lesart steht unter Gegnern der Transzendentalphilosophie nicht allein, sie ist aber auch keineswegs gängig. Schlatter konnte sich hier unstrittig auf Franz von Baader stützen. Als Grundproblem Kantischer Skepsis erweist sich im Sinn Schlatters die Unterscheidung von »Ding an sich« und »Erscheinung«. 96 Die Übereinstimmung der Erkenntnis mit den gegebenen Objekten verteidigt Schlatter, wie auch in anderen Zusammenhängen seiner Kant-Auseinandersetzung, gegen die Unterscheidung der »unzugänglichen« Dinge an sich von der Erscheinung. Damit zieht er die Berechtigung des kantischen Denkansatzes insgesamt in Frage.

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überkommenen Begriffe als die gegebenen Erkenntnisquellen dar, aus denen nun die Welt konstruiert werden kann einfach durch logische Bearbeitung jener Grundbegriffe. Diesen Charakter trägt im hohen Maß schon das dogmatische Denken der griechischen Kirche, die mit den Begriffen der antiken Philosophie als feststehenden Erkenntnisprinzipien arbeitet, ebenso wieder in sehr ausgebildeter Weise der Aristotelismus des Mittelalters und der erneuerte Aristotelismus des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein höchst instruktives Beispiel ist weiter Spinoza, der die ganze Welt geometrico ordine aus Axiomen und Definitionen konstruiert,97 die er als gegebene fixe Größen behandelt, endlich die nachkantische Philosophie.98 Solch konstruierende Wissenschaft vergisst, dass die Begriffe, die ihre Basis bilden, selbst erst durch die Arbeit ihrer Vorgänger auf analytischem Wege erworben worden

97 Baruch de Spinoza (1632–1677) formulierte sein rationalistisches System, das den Gottesbegriff mit der einen Substanz gleichsetzte, more geometrico, in der Art des geschlossenen Systems der Euklidischen Geometrie und daher in einem stringenten Aufbau nach Axiomen, weiterer Ableitung nicht bedürftiger noch fähiger Grundsätze und Definitionen. Bekannt geworden wurde die »Ethica« vor allem durch den Grundsatz des Deus sive natura, eine Geschlossenheit, die allerdings zugleich als Mangel an Freiheit und als durchgängige Necessitiertheit beurteilt wurde. 98 Die »nachkantische Philosophie«, also die Philosophie des deutschen Idealismus, Fichte, Hegel und Schelling, weist Schlatter dem Spinozismus und damit einem latenten Pantheismus zu. In der Tat ist schon in der Konstitutionsphase jener Philosophie eine starke Auseinandersetzung mit Spinoza erkennbar, wie im »Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus«, das mit den Worten »Eine Ethik« beginnt. Festgehalten wird dabei aber auch, dass »eine Ethik« nur vor dem Primat der Freiheit formulierbar ist. Die Schlattersche Analogie ist insofern nicht vollständig. Heute sind die Verhältnisse zwischen Pantheismus und deutschem Idealismus differenziert erforscht. Vgl. dazu Walter Jaeschke (Hg.), Der Streit um die göttlichen Dinge (1799– 1812), Hamburg 1999.

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sind.99 Die Kategorien der griechischen Väter stammen aus der Beobachtung und Analyse der Erfahrung, wie sie die griechische Spekulation in ihren Anfängen übte. Die Axiome Spinozas sind in ihrem Ursprung vollständig deutlich, es sind die Begriffe des Cartesius.100 Die nachkantianischen Weltkonstruktionen operieren mit den von Kant aufgestellten Gedanken als ihrem Grundprinzip,101 wonach die empirische Welt entsteht als Gestaltung der Seele, welche den Empfindungsstoff formt nach den ihr innewohnenden reinen Anschauungs- und Verstandesformen. [9] Seinen Gedanken gewinnt Kant selbst durch eine Analyse des Erkenntnisprozesses, der ihm nur unter diesen Bedingungen möglich scheint. So geht ehrlicher synthetischer Wissenschaftsbildung geschichtlich die Analyse stets voran, jene wird erst durch diese möglich. Indem aber die Resultate früherer Forschung nicht als Resultate behandelt werden, die stets wiederum neu erworben und eben hiedurch berichtigt werden müssen, sondern als feststehende infallible Erkenntnisprinzipien, wird die erken99 Schlatter scheint hier nahezulegen, dass eine philosophische Begriffsbildung, die von aller Erfahrung absehen würde, gar nicht möglich ist. Dies hätte Kant auch nicht behauptet. Sein Begriff von Apriorität weicht, insofern er nur logische Unabhängigkeit behauptet, von jenem der älteren Erfahrungsunabhängigkeit ausdrücklich ab. Vgl. dazu Konrad Cramer, Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, Heidelberg 1985. 100 Die Auffassung, dass die Spinozanischen Kategorien von Descartes abhängen, ist bis heute unbestritten. Insbesondere Wolfgang Röd zeigt dies am Gottesbegriff und dem eindeutig festgehaltenen Primat des Unendlichen vor dem Endlichen, so dass die Gottesidee gerade keine Imagination des Menschen sein kann. Vgl. Wolfgang Röd, Der Gott der Philosophen. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel, München 1992, 58ff. und 80ff. 101 Vgl. zu dieser Freilegung des Kantischen »Grundprincips«, die eine kantkritische Deutungsleistung Schlatters ist, in: Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 67–85 (s.o. Anm. 31).

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nende Arbeit auf eine falsche Basis gestellt, der wirklichen Welt in ihrem Ausgangspunkt entfremdet, gerät sie mit derselben in ihren Konstruktionen in Konflikt. Die Irrungen und Trübungen, die in allen unseren Begriffen enthalten sind, vergrößern sich in den daraus gezogenen Folgerungen, und das erreichte Resultat ist doch nur dies, dass erkannt wird, wie die Welt wäre, wenn sie auf jene Begriffe gebaut wäre, nicht aber, wie die reale Welt ist. Selbstbewusster und polemischer tritt der Apriorismus auf als Rückschlag gegen die Skepsis, so in Sokrates u[nd] Plato u[nd] in Kant.102 Sokrates reagiert gegen die die Erkenntnis auflösenden Sophisten, Kant gegen die englischen Skeptiker, namentlich Hume. Indem unter dem Einfluss der Skepsis die Erfahrung als unzulänglich zum Erwerb von Erkenntnis beseitigt wird, scheint kein anderer Rettungsweg übrig zu bleiben, als Erkenntnismittel zu suchen, die von aller Erfahrung unabhängig sind. Dieser Apriorismus hat etwas Heroisches und hat denn stets großen Eindruck in der Geschichte gemacht. Aber er führt nicht zu dem Ziel, das er erstrebt. Kant bleibt dabei in der Skepsis stecken.103 Indem er die Erkenntnis von der Erfahrung ablöst, kann er nun die Brücke nirgend mehr entdecken, die zu Objekten führte. Plato verfällt der Skepsis nicht, doch nur dadurch, dass er kühn eine jenseitige Empirie statuirt.104 Die Begriffe stammen nicht aus der 102 Mit dem auf Sokrates (469–399 v.Chr.) und Platon (428/27–348/47 v.Chr.) zurückgehenden Apriorismus meint Schlatter die »Ideenlehre«, die nicht im Wortsinn auf die antike Skepsis, sondern eher auf die Sophistik und ihren Wahrheitsrelativismus bezogen wird. Vgl. Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986. Schlatter deutet eine Analogie zum Verhältnis Kants zu David Hume zumindest an. 103 Diese These vertritt Schlatter auch in: Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO (s.o. Anm. 31), mit der Zusatzbegründung, dass deshalb von Kant her die Möglichkeit von Theologie grundsätzlich ausgeschlossen würde. 104 Damit verweist Schlatter auf den kosmos noetos, die an sich seiende Ideenwelt. Diese Seite Platons sollte in der »esoterischen Platonin-

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sinnlichen Erfahrung, also existieren sie jenseits der [10] empirischen Welt und wir haben sie im Jenseits geschaut. Und wenn wir sie in den sinnlichen Dingen wieder erkennen, so geschieht es durch ἀνάμνησις durch Erinnerung an jene einstige Empirie.105 So bildet das Mißgeschick, das an den anderweitigen Erkenntnisversuchen haftet, die thatsächliche Bewährung dafür, dass wir in unserem Erkennen auf Analyse der Erfahrung gewiesen sind.

terpretation« besonders betont werden. Vgl. dazu G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der »ungeschriebenen Lehren«, Paderborn 1993. 105 Damit ist auf die Anamnesis-Lehre Platons hingewiesen, wie sie insbesondere im Dialog Menon 81a–d dargelegt wird. Rückgriffe finden sich im Phaidon 72e–77a. Zur Gesamtproblematik Harald Seubert, Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, Freiburg i.Br./ München 2017. Allerdings deutet sich dabei auch ein Bezug auf den »Arche«-Begriff im Johannes-Evangelium 1,1 an.

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§ 3 Die Beziehung des Erkennens auf Gott Die Frage, ob Erkenntnis Gottes möglich sei, hat sich uns dahin bestimmt, ob Gott uns erfahrbar ist, und wo und wie er uns erfahrbar wird. Unmittelbare Wahrnehmung Gottes haben wir nicht. Das ist die Verborgenheit Gottes, seine Unsichtbarkeit Joh  1,18. Kol 1,15. Jes 45,15: ‫ ֵר ּת ַ ּת ְסִמ ל ֵא ה ָ ּתַא ן ֵכָא‬. Auch innerhalb der Heiligen Geschichte wird diese Verborgenheit Gottes auf keinem Punkt durchbrochen. Die Gegenwart Jesu ergibt für die unmittelbare Wahrnehmung nichts als den Menschen, das Wort ward Fleisch.106 Die Theophanien,107 wie immer sie beurtheilt werden mögen, bringen jedenfalls Gott nicht als Gott zur Wahrnehmung, sondern nur unter einer der sinnlich irdischen Welt entnommenen Hülle. [11] Die gegentheilige These wurde vertreten durch Cartesius und die Cartesianischen Theologen (cf. auch Spinoza, der den Gottesgedanken als Axiom behandelt). Cartesius beschrieb den Gottesgedanken als uns angeborene idea dei innata.108 Er wollte mit 106 Erscheinungen des Göttlichen, die etwa in Mysterien oder in Visionen Gestalt gewinnen, kennt die Religionsgeschichte im Zusammenhang heiliger Orte und Gegenstände vielfach. Schlatter grenzt sie von der Inkarnation und dem zur Erscheinen-Kommen des wahren Gottes in menschlicher Gestalt ab, die in christlichem Verständnis die einzige und wahre Theophanie bedeutet. 107 Zum altgriechischen Kontext Walter F. Otto, Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Hamburg 1956 u.ö. 108 René Descartes folgt hier einem platonischen Ideenverständnis, das die Idee Gottes unhintergehbar in der menschlichen Seele verankert sieht. Dies ist in der Descartes-Forschung als scholastisches Erbe verstanden worden. Dazu W. Röd, Der Gott der reinen Vernunft, aaO 60ff. (s.o. Anm. 37).

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diesem Prädikat alle äußere und innere Verursachung des Gottesbegriffs negieren. Wir schöpfen den Gottesgedanken weder aus der äußeren Welt noch aus inneren Erlebnissen der Seele, da ihr Inhalt über alles hinaus geht, was die Empirie enthält. Also kann unsre Gottesvorstellung nur von Gott selbst herrühren, und zwar verlegt Cartesius, seiner ganzen Gottesanschauung entsprechend, den die Gottesidee begründenden Akt Gottes in denjenigen Moment, der die menschliche Person überhaupt ins Dasein setzt.109 In diesem Gedankengang ist zunächst die Weise, in der die Seele zu ihren Vorstellungen in Relation gesetzt wird, [12] zu korrigieren. Diese Relation ist als vollständige Passivität gedacht, die Seele kommt lediglich als der Ort in Betracht, in welchem die Gottesvorstellung als fertig vorhanden ruht. Es wirkt ein falscher Substanzbegriff nach, der sich die Substanz als ruhende Masse denkt, überkleidet von den Eigenschaften. Eigenschaften sind Thätigkeitsweisen, ebenso Vorstellungen Lebensäußerungen der Seele, sie stellt vor. Sie hat nicht nur Ideen, sondern die Ideen, welche sie hat, bildet sie. Wie nun der Besitz der Gottesvorstellung eine fortwährende Thätigkeit der Seele involviert, so wäre auch der sie verursachende Akt Gottes als konstant zu denken. Gott würde in der Seele konstant die auf ihn bezogene Idea bilden.110 Wir hätten unter dieser Voraussetzung eine unmittelbare Erkenntnisbeziehung zwischen Gott und uns, also direkte Wahrnehmung. Hiergegen spricht der unleugbare höchst bestimmende Einfluss, den geschichtliche Momente auf die menschliche Gottesidee haben. Wir finden Völker mit höchst ver109 Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen W. Röd, Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, München 21982. 110 Die weitergehende Dynamisierung der Gottesidee, die Schlatter hier nahelegt, könnte durchaus als eine Cartesius-immanente Korrektur firmieren. Sie könnte dann sogar geeignet sein, die Dynamik des denkenden Ich mit der eingeborenen Idee Gottes stärker zu verbinden als dies in der Struktur der Meditationen etwa der Fall ist. Vgl. dazu René Descartes, Meditation III und V; und zur Problemgestaltung: Dieter Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960, 14ff.

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kümmertem Gottesgedanken, wir haben den Polytheismus, wir haben im einzelnen Menschen selbst ein Aufsteigen und Untergehen des Gottesgedankens im Zusammenhang mit seiner innern Lebensgeschichte, [das weist deutlich darauf]111: unmittelbare Wahrnehmungen schwanken nicht. Der Grund, den Cartesius bestimmte, enthält eine unvollständige Beobachtung. Allerdings verknüpfen wir den Inhalt der Gottesvorstellung mit keiner anderen Wahrnehmung unmittelbar, deshalb ist er doch [13] nicht unabhängig von unsrer übrigen Empirie.112 Alles, was wir von Gott aussagen können, ist uns durch die Welt vermittelt. Wir haben thatsächlich nur solche Prädikate für Gott, die wir in überreichem Maße auch von der Welt, den Menschen inbegriffen, aussagen können: Geist, Macht, Weisheit, Gerechtigkeit, all diese Prädikate haben ihre Beziehung auch auf empirisches Sein. Wir denken sie uns allerdings in Gott unendlich.113 Aber auch der Gedanke des Unendlichen ist uns erfahrbar gegeben. Uns allen ist ein Raumbild in die Seele gelegt, das sich nicht schließen lässt, das jedes Endes spottet, wie denn ja die Worte infinitum114 und unendlich der Raumanschauung entnommen sind. So liegt in unserm Weltbild selbst Trieb und Aufforderung, ein Unendliches zu denken, und auch dieser Gedanke 111 Der Inhalt der eckigen Klammer wurde von Schlatter versehentlich gestrichen! 112 Wie Schlatter diese Form von »höherem Empirismus« versteht, wird weiter unten §§ 8 und 9 deutlich werden. 113 Hier wird die eigentliche Pointe des Schlatterschen Gedankengangs deutlich. Schlatter möchte die apriorische Orientierung auf einen, wie er meint, notwendigerweise gegebenen Vorrang des Aposteriorischen zurückbeziehen. Erfahrung im weitesten Sinn, sowohl aus der Natur (revelatio generalis, im Sinn von Röm 1) als auch aus der Gotteserfahrung der Völker geht der reinen Gotteserkenntnis voraus. Dies wird auch in seiner Verwerfung bestimmter Formen der Gottesbeweise widerscheinen, die sich mit der Überzeugung verbindet, dass der Welt umfassende Gottesbeweise entnommen werden können. 114 Vgl. zu Struktur aus mathematischer Sicht Herbert Beckert, Zur Erkenntnis des Unendlichen, Stuttgart 2001.

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enthält nichts, was ausschließlich nur Gott eignete. In allem Gott spezifisch eignendem beginnt für uns sofort das Mysterium. Auch im Hinblick auf ihren Inhalt bezeugt somit die Gottesvorstellung selbst ihren Ursprung aus der Empirie und nicht aus unmittelbarer Wahrnehmung. Es wäre ein voreiliger, über die Kompetenz unsers Denkens hinausgreifender Schluss, wollten wir behaupten: unmittelbare Wahrnehmung Gottes sei überhaupt nicht möglich. Umgekehrt: es ist ein tiefes, verwunderliches Räthsel, dass wir zwar die Dinge sehen, aber Gott nicht, während doch unsre Wesensrelation zu Gott eine ungleich engere ist als zu den Dingen. [14] Wer in seinem Denken apriori vom Gottesgedanken aus weiter schreiten wollte, würde auf den Gedanken des Cartesius kommen. Es hängt der Nichtbesitz der Wahrnehmung Gottes mit der Grundorganisation unsres Wesens zusammen, kraft deren wir außer uns selbst nur mit Körpern in direkter Relation stehen. Auch von Seele zu Seele findet kein direktes Wahrnehmungsverhältnis statt. Es ist sehr auffällig, dass zwar Körper auf die Seele wirken zu direkter Wahrnehmung, und Seelen nicht. Eben darum dürfen wir der Verheißung der Schrift: Ihr werdet einst Gott schauen, volle Bedeutung lassen. Für unsre gegenwärtig gegebene Organisation aber bleibt es bei dem Worte Pauli Apg 17,27: ζητεῖν τὸν θεόν, εἰ ἄρα γε ψηλαφήσειαν αὐτὸν καὶ εὕροιεν, καί γε […]. Mit der Negation unmittelbarer Wahrnehmung Gottes ist die Möglichkeit der Gotteserkenntnis noch nicht aufgehoben. Die Wirkung verkündet uns nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Ursache. Und die Frage, [in] wie fern Gott erkennbar sei, definiert sich folgerichtig dahin: wie fern Gott uns in Wirkungen, die ihn als den Wirkenden manifestieren, erfahrbar wird. Gibt es keine unmittelbare Wahrnehmung Gottes, so kennen wir Gott nur aus seinen Werken, und die theologische Aufgabe besteht in der Beantwortung der Frage: finden sich in der uns erfahrbaren Welt Werke Gottes, die sich als solche kundthun, und die uns darum nöthigen, den Gottesgedanken zu bilden? Sind Dinge und Ereignisse vorhanden in der Welt, die unwillkürlich das Urtheil in uns erzeugen: Das – 85 –

[15] hat Gott getan! Da erfahren wir das Wirken eines Herrn, der aller Dinge gewaltig ist. Die Nöthigung, die uns zu solchem Urtheil, durch welches in den Wirkungen die Ursache erfasst wird, innerlich treibt, lässt sich vorerst nicht weiter analysieren. Sie ist ein positives Faktum, das sich vorerst ebenso wenig zergliedern lässt als jene andere Nöthigung, kraft deren wir auf Ätherschwingungen Lichtempfindungen bilden. Wir können uns sagen: dies ist die Urtheilskraft der Seele, durch welche sie die Bezüge des Seienden zu einander erfasst, eine Fortsetzung der Wahrnehmung in höherer Potenz.115 Solche Nöthigung tritt nicht erst mit der Häufung von Beobachtungen ein, die auf Gott hinweisen. Es kann das einzelne Faktum den Weltherrn uns offenbar machen, so dass angesichts eines solchen Ergebnisses wir urtheilen müssen: sieh da Gott! Die Häufung solcher Fälle, die Induktion,116 gibt unsrer Erkenntnis für uns selbst Stärke und sichert uns gegen Zweifel und Schwanken. Aber die Erkenntnis selbst entsteht nicht aus der Induktion, vielmehr je aus der einzelnen Beobachtung für sich. Es ist keineswegs so, dass wir die ganze Welt durchforscht haben müssen, bis wir sagen können: Gott ist! Nein, wenn wir ihn nirgends fänden als auf einem einzigen Punkt, so hätten wir erkannt und wüssten, dass er ist. 115 Der Potenzbegriff ist hier weder in dem strikt mathematischen noch in dem Schellingschen Sinn verstanden, sondern in einer weiten, fast metaphorischen Bedeutung. 116 Im allgemeinen bedeutet »Induktion« seit Aristoteles die schlussfolgernde Abstraktion von einer Reihe von Indizien auf eine allgemeine Erkenntnisform. Schlatter wies der Induktion in der Gottesfrage eine ähnlich große Bedeutung zu, wie dies die heutigen analytischen Philosophen des »New Foundationalism« tun. Vgl. exemplarisch Richard Swinburne, The Coherence of Theism, Oxford 1977 und Alvin Plantinga, Gewährleisteter christlicher Glaube, Berlin 2015. Die »New Foundationalists« arbeiten allerdings viel stärker mit Wahrscheinlichkeitskalkülen, während Schlatter von einer »Nöthigung« spricht. Auch an dieser Stelle scheint das Motiv der Revelatio generalis, Röm 1, bestimmend.

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Wir haben kein Recht, von vornherein irgend ein Gebiet der erfahrbaren Welt auszuschließen als unfähig, uns Erkenntnis Gottes zu vermitteln. Vielmehr weist uns der Gottesgedanke von vornherein darauf, dass wir uns alles als durch Gott bedingt zu denken haben, so dass an sich von jedem Punkt der Welt aus ein erkennender Aufstieg zu Gott möglich sein muss. Freilich wir dürfen andererseits [16] auch nicht postulieren, dass jedes Ding und Ereignis der Welt in selbiger Deutlichkeit und Vollständigkeit Zeuge Gottes an uns sei. Möglich, dass, wenn wir die Welt durchschauten, dann jedes Ding uns den ganzen Gott kund thäte. Aber jene Voraussetzung ist eine irreale.117 Unser Weltverständnis ist in höchst enge Grenzen gefasst, so können wir uns auch nicht wundern, wenn wir in vielem Erfahrbaren Gott nicht wahrnehmen können. Unsre Aufgabe ist, ihn da zu erkennen, wo er uns erkennbar ist, da Theologie zu bilden, wo sie uns zugänglich ist. Allerdings, wollen wir die Aufgabe der Theologie ideal definieren, so werden wir sagen müssen: alles Erfahrbare ist ihr Objekt. Sie hat dieselbe Basis mit aller übrigen Wissenschaft: die erfahrbare Welt. Aber während die übrige Wissenschaft, die wir zusammenfassen können als Philosophie, sich mit den Dingen beschäftigt, um zu erkennen, was die Dinge sind, beschäftigt sich die Theologie mit ihnen, um zu erkennen, was Gott ist. Die Basis ist dieselbe, das Ziel ein andres, dort Weltverständnis, hier Wesenserkenntnis Gottes. Dort ist das Erkennen befriedigt, wenn es sich des Objekts bemächtigt hat, hier dringt es vorwärts durch das Objekt hindurch zu dem, auf den das Objekt weist, weil es von ihm stammt, zu Gott.118 117 Die Prämisse einer Unzugänglichkeit der Welt im Ganzen teilt Plantinga also durchaus mit Kant, er zieht daraus aber andere, nicht skeptische Konsequenzen. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 800ff., »Transzendentale Methodenlehre«. 118 Schlatter beschreibt damit einen sehr engen Zusammenhang zwischen Theologie und Philosophie, die geradezu wie eine in sich unterschiedene Einheitswissenschaft fungieren. Doch, anders als bei

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Die gewonnene Bestimmung über das Werden der Theologie macht sogleich ihre Schranke deutlich. Weil wir Gott in seinen Werken suchen müssen, kennen wir ihn nur in seiner Beziehung zu uns, in seinem Handeln an uns und für uns, nicht in seinem An-sich-sein. [17] Je mehr unsre Urtheile sich hineinwagen ins innergöttliche Wesen, um so unsicherere Erkenntnislehrer werden sie. Das hat die Kirche zu größtem Schaden ihrer Theologie vielfach vergessen. Wir können uns auch wahrhaftig darüber nicht verwundern, dass wir Gott nicht in den innern Tiefen des göttlichen Lebens kennen, sondern [nur] in seinem Verhältnis zu uns. Kennen wird doch die Dinge auch nicht anders. Und was brauchen wir denn mehr als dies, dass wir wissen, wie Gott ist für uns!119

Hegel, divergiert der Gegenstand zwischen beiden, nicht nur die Methode. Theologie ist auf Gott, Philosophie, als Einheit der Wissenschaften, auf die Welt bezogen. 119 Die Begrenzung der Erkenntnis bricht mit einem philosophischen Gottesbegriff, der wie Hegels »Logik« die »Gedanken Gottes vor der Schöpfung« zu denken versucht. In der Relationalität der Gotteserkenntnis ist nach Schlatter zwar eine Begrenzung zu sehen, aber eine, die keineswegs die Gotteserkenntnis unterbinden muss.

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§ 4 Der Begriff der Erkenntnis Gottes [Der Begriff der Erkenntnis Gottes] ist entwickelt worden aus dem Begriff der Erkenntnis überhaupt. Es dient ihm zur Bestätigung, dass er in Übereinstimmung steht mit der Weise, wie die Schrift von der Erkenntnis Gottes spricht. Allerdings spricht die Schrift, wenn sie von Erkenntnis Gottes redet, nicht von wissenschaftlicher Theologie. Allein nicht-wissenschaftliches und das wissenschaftliche Erkennen sind nicht wesenhaft von einander geschieden. Es ist eine pure Lächerlichkeit, wenn die Wissenschaft sich gebärdet, als habe sie ein total andres Erkennen als der gewöhnliche Mensch. Derjenige, welcher der Wissenschaft obliegt, betreibt die zur Erkenntnis führende geistige Arbeit mit bewusster Absicht, zusammenhängend, mit zweckvoller Umsicht. Das ergibt jedoch nur graduelle Unterschiede, seinem Wesen nach ist das Erkennen hier wie dort dasselbe. Was die Schrift von der Erkenntnis Gottes sagt, gilt darum gar sehr auch dem wissenschaftlichen Betrieb der Theologie. Nun ist schon im Alten Testament (Jes 11,9; Hos 4,1; Hos 8,2) der Begriff da‘at adonai energisch betont in sehr intensiver lebendiger Fassung: bekannt sein mit Gott, hinweisend auf lebensvolle Beziehungen zwischen ihm und uns, und was solche stiftet, Gottes Thaten. »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Aegypten ausgeführt habe«.120 Das ist die Beschreibung, die Definition Gottes für Israel. So bildet die Schrift den Gottesgedanken der Gemeinde. 120 Vgl. vor diesem Hintergrund das bis heute magistrale Werk Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970. Siehe ferner auch die zahlreichen Hinweise auf die Thematik bei Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, 2 Bde., München 91987, v.a. Bd. 1.

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[18] Der Erkenntnisbegriff, der in den Reden Jesu vorliegt, so wie sie uns Johannes interpretiert, steht hiemit in innerem Einklang. Erkenntnis ist Leben (Joh 17,3). Solches Kennen Gottes wird angeknüpft an die Person Jesu als eine geschichtliche Realität, hier kommt es zum Sehen des Vaters. (Joh  14,5ff.). Sehr merkwürdig sind die Äußerungen des Paulus. Röm  1,19 spricht er sich über den natürlichen Erkenntnisbesitz des Menschen aus, er leitet [ihn] aus den Werken Gottes ab und zwar durch Vermittlung des νοεῖν, vernünftiger Überlegung, wobei freilich nicht Gott an sich, sondern τὸ γνωστὸν τοῦ θεοῦ in die Erkenntnis tritt. Aber auch für die christliche Erkenntnis hebt Paulus scharf ihre empirische Bedingtheit hervor. So lange nur Gottes σοφία121 und des Menschen σοφία einander gegenüberstehn, kommt es zu keiner Erkenntnis Gottes (1Kor 1,21). Solche erwächst erst da, wo der Geist Gottes selbst im Menschen gegenwärtig wird. Paulus überträgt ausdrücklich die Verschlossenheit des Selbstbewusstseins anderer für uns auf Gott. (1Kor 2,11). Er ist uns ebenso verschlossen wie das Innere der Menschen um uns her, wenn er nicht in der Gabe und Lehre seines Geistes, also in einer höchsten Gottesthat sich uns öffnet. So wird dies Wissen um Gott überall uns auf ein göttliches Wirken zurückgeführt, darin das an sich Verborgene sich enthüllt, ἀποκαλύπτεσθαι.

121 Der Weisheitsbegriff bezeichnet in der frühgriechischen Philosophie und noch in den frühen aporetischen Sokrates-Dialogen Platons das Wissen um praktische Zusammenhänge. Hier liegt eine Brücke zum Weisheitsverständnis im Vorderen Orient und in Israel.

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§ 5 Kritik der traditionellen Gottesbeweise Die sog[enannten] Gottesbeweise scheinen einen andern Weg zur Gotteserkenntnis zu eröffnen, als den soeben beschriebenen.122 Wie verhält es sich damit? Die Vierzahl derselben ist nicht alt, sondern ist seit Kants Bestreitung derselben gebräuchlich.123 [19] Kant entnahm die drei, welche er bekämpft, das kosmologische, physikotheologische und das ontologische Argument, der Wolffschen rationalen Theologie124 und stellte nun selbst einen vierten Beweisgang auf, der wenigstens einen vernünftigen Glauben an Gott begründen soll: den moralischen Beweis. Die ältern Dogmatiker zählen weit zahlreichere Beweise für das Dasein Gottes, z.B. Melanchthon, und dieses ältere Beweisverfahren hat auch noch nicht die syllogistische Form jener Argumente, die durch Kants Bestreitung berühmt geworden sind. Diese Beweise denken sich zunächst Gott als Begriff. Wir denken uns Gott so und so und so. Nun entsteht die Frage: kommt diesem 122 Siehe dazu jüngst die Zusammenstellung bei J. Bromand/G. Kreis (Hg.), Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, (s.o. Anm. 39). Friedrich Hermanni, Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft, hg. v. Thomas Buchheim/Friedrich Hermanni/Axel Hutter/Christoph Schwöbel, Tübingen 2012. Es sei gegenläufig zu Schlatter nur erwähnt, dass in jüngerer Zeit auch apriorischen Gottesbeweisen wieder eine vermehrte Bedeutung zugewiesen wird, gerade in der mathematischen Logik. 123 Zu der kantischen Vierzahl Kant, K.r.V. B  647ff. Siehe die übersichtliche Darstellung bei Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 4 1996, 156ff. 124 Vgl. das Überblickswerk Werner Schneiders: Christian Wolff (1679– 1754): Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1986, sowie Michael Albrecht (Hg.), Die natürliche Theologie bei Christian Wolff, Hamburg 2011 (= Zeitschrift für Aufklärung Bd. 23).

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Begriff auch Wirklichkeit zu, und dies soll nun bewiesen werden durch ein Schlussverfahren.125 Da haben wir ein Verfahren, das nur innerhalb der apriorischen Denkweise möglich ist. Dieses Beweisverfahren gibt vor: es wisse, wie Gott, wisse aber nicht, dass er ist. Wer gibt uns das Recht zu dekretieren: Gott muss, wenn er ist, so und so sein. Bevor wir das Dasein eines Dings kennen, besitzen wir jedenfalls noch keine Definition desselben. So bemerkt man[:] auch hier wird der Apriorismus nur dadurch möglich, dass die Begriffe der historischen Tradition [20] als ein Feststehendes entnommen werden. Und die Unvernunft dieses Beweisverfahrens besteht darin, dass der traditionelle Gottesbegriff theils als Feststehendes vorausgesetzt, theils aber, und zwar gerade nach seinem wesentlichen Merkmal, bezweifelt wird. Da ist nur der radikale Zweifel vernünftig, der sich daran macht, den Gottesgedanken neu zu bilden, neu zu gewinnen, nicht aber zu einem fertigen Gottesbegriff das Dasein erst noch hintendrein anzubeweisen.126 Wie können wir überhaupt Dasein beweisen!127 Dasein beweist sich selbst, und wenn es sich nicht selbst beweist, können wir es 125 Schlatter legt also nahe, dass das auf Anselm von Canterbury (1033– 1109) zurückgehende, ursprünglich neuplatonisch fundierte »ontologische Argument« gar nicht Beweisfähigkeit habe, weil es in einer apriorischen petitio principii (Zirkelschluss) ein Vorwissen von Gottes Eigenschaften voraussetze, um dann auf Gottes Existenz schließen zu können. Dies sei aber eben kein Beweis. 126 In der zentralen Frage, ob Dasein (Existenz) Gottes ein »reales Prädikat« sei, die Kant in der K.r.V. B 627 bestritten hatte, hält sich Schlatter zurück. Zentral an seiner sehr viel grundsätzlicheren Gottesbeweis-Kritik ist das Motiv, dass deren »Apriorismus« immer Erfahrung voraussetzen müsse. Der Funktionsweise des »ontologischen Arguments« gegenüber nimmt er die Position der Skepsis ein. 127 Der Existenz-Begriff wird von Schlatter in seiner metaphysischformalen Weise, in der er in der Gottesbeweistradition vorkommt, konkretisiert, auf das faktische Sein und Wirken Gottes in der Welt, in Natur und Geschichte hin. Dies führt aus der philosophischen Tradition in die konkreten Schriftzeugnisse.

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durch keine Deduktion beweisen. Dasein ist ein höchst abstrakter Begriff. Bloßes Sein kommt keinen Dingen zu, sondern immer ein ganz bestimmtes Sein, und dieses Sein ist nichts Ruhendes, sondern eine Aktivität. Wenn nun diese Aktivität faktisch sich vollzieht, das Ding seine Wirkung ausübt, dann ist das Dasein desselben bewiesen. Lässt sich aber nirgends eine Wirkung des Dings zeigen, so wird auch keine Argumentation in der Welt uns die Überzeugung geben können: es ist da. So verhält es sich auch mit Gott: die Werke, die Gott thut, sind seine Beweise. Und unsre Beweisthätigkeit kann keine andre sein als die: Gottes Werke zu suchen, und andern zu zeigen, Gottes Wirken an uns selbst zu erleben, und andere dahin zu führen, dass auch sie die Werke Gottes sehen. Auf diesem Wege tritt uns das Dasein Gottes nicht abgesondert von seinem Wesen in die Erkenntnis, sondern beides in und mit einander, wie auch beides realiter eins und dasselbe ist. Wir kennen Gott so nicht in einem abstrakten, unbestimmten Sein, sondern in seinem bestimmten So-sein. Man hat sich gewundert, dass die Schrift keine Gottesbeweise gebe. Sie ist voll von Gottesbeweisen; vgl. die Szene auf dem Karmel.128 Es ist darum thöricht, von einer bestimmten Zahl von Gottesbeweisen zu sprechen.129 Die Gottesbeweise sind so unzählbar wie die Werke Gottes.130 Die ganze Aufgabe der Theologie, so wie sie § 3 beschrieben ist, ist in diesem Sinn nichts andres als: den Beweis fürs Dasein Gottes zu führen, mit andern Worten: ihre ganze Aufgabe ist, in uns einen Begriff von Gott zu bilden, zu erzeugen, nicht aus unsrem eignen Dichtungsvermögen, sondern an 128 Vgl. 1Kön 18,20–46, das Gottesurteil gegen die Baalspriester. 129 Vgl. zu der Kategorisierung der Gottesbeweise und der legitimen Angabe einer finiten Zahl die genannten Arbeiten von Wolfgang Röd, Der Gott der reinen Vernunft (s.o. Anm. 37); J. Bromand/G. Kreis, Gottesbeweise von Anselm bis Gödel (s.o. Anm. 39); und Dieter Henrich, Das ontologische Argument (vgl. dazu die Rezension von K. Bockmühl, in: VuF 1960/62, 143–148). 130 Schlatter bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die AreopagRede des Paulus, Apg 17,27f. »Er ist nicht ferne von einem jeden von uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir.«

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der Realität, so dass wir solchem Begriff gegenüber gar nicht mehr fragen können, ob ihm auch Realität zukomme oder nicht, eben weil wir ihn gebildet haben an realen Akten Gottes, an Erlebnissen, an unsrer Empirie. Die vier durch Kant in den Vordergrund gestellten Beweise sind nicht unter sich gleichartig. Kants eignes Argument, das sog. moralische, will das Dasein Gottes nicht beweisen, sondern nur darthun als Postulat der praktischen Vernunft.131 Dieses Postulat ergibt sich ihm aus dem Konflikt zwischen dem absoluten Charakter des sittlichen Gebots einerseits, der uns verbietet, unser Glück zum Ziel unsers Handelns zu machen, und dem uns naturhaft eingepflanzten Verlangen nach Glück andrerseits. [21] Dieser Konflikt treibt uns dazu, ein Wesen zu postulieren, das im Stande wäre, denselben auszugleichen, unser Wohlsein in Übereinstimmung zu bringen mit unserm sittlichen Verhalten.132 Wir beurtheilen hier nicht Prämissen dieses Postulats, wozu wir in die Untersuchung der ethischen Lebensphänomene eintreten müssten. Gesetzt, die kantische Ausführung sei richtig, dieser Konflikt bestehe, so befinden wir uns allerdings in einer Lage, die uns das Dasein Gottes höchst wünschbar macht. Wir haben damit erkannt, dass wir Gottes bedürftig sind. Aber die theologische Aufgabe ist damit noch nicht gelöst. Erst dann, wenn wir fänden, dass jener Konflikt realiter gelöst wird, dass jene Hülfe uns dargeboten wird, erst dann stünden wir am Ziel, 131 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe Bd.  V, 124–132. »Postulate« sind dabei theoretische Sätze, bzw. Aussagen, die in der theoretischen Vernunft aber nicht bewiesen werden können, die aber eine regulative Bedeutung innerhalb der praktischen Vernunft haben. 132 Schlatter resümiert hier das kantische Verständnis, dem gemäß die Existenz Gottes ein legitimes Bedürfnis der »reinen praktischen Vernunft« ist. Dies ist ein Bedürfnis des Menschen nicht als sinnliches, sondern als sittliches Wesen, das eine Welt einschließlich eines Welturhebers imaginiert, in die das sittliche Handeln passt. Eine Übersicht über den Gedankengang bei Otfried Höffe, Immanuel Kant, aaO 202ff. und 241ff. (s.o. Anm. 123).

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erst dann hätten wir erkannt. Das erst wäre ein Gottesbeweis. Im Bedürfnis erfahren wir nur uns selbst, in dessen Befriedigung erfahren wir Gott. Auch Kant will sein Argument keineswegs als wissenschaftlichen Beweis für das Dasein Gottes betrachtet haben, er will damit nicht mehr darthun als die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott. Aber diesen Sprachgebrauch abzuweisen, hat die Theologie guten Grund. Unser Wunsch, unser Postulat, und sei es noch so sehr Postulat der Vernunft, ein vernünftiger Wunsch ist keine Basis für unsern Glauben. Es ist Einblick in unsre Bedürftigkeit, die uns zum Glauben treibt, [22] wenn nämlich zu demselben hinzutritt der Einblick in die unserm Bedürfnis entsprechende Hülfsmacht Gottes. Ein Glaube, der nur auf unsern Wunsch, dass Gott sein möchte, sich begründet, verdient das Prädikat vernünftig nicht. Es fehlt ihm das Wesentliche an dem, was die Schrift am Glauben hervorhebt, nämlich der wirkliche Anschluss an den, der helfen kann. Eine ganz andre Tendenz besitzt das ontologische Argument.133 Es erstrebt eine zwingende Beweiskraft, die jeden Intellekt, sofern er nur vernünftig zu denken vermag, zur Anerkennung Gottes nöthigen soll. Der Beweis ist zuerst von Anselm scharf formulirt worden im Proslogion: er geht aus von Ps 14,1: »Der Thor spricht in seinem Herzen, es ist kein Gott«, und er fragt sich: gibt es denn kein Beweisverfahren, das den Thoren nöthigt, von seinem Satz abzustehen? Er antwortet: Auch der Thor denkt sich Gott, wenn er ist, als das höchste denkbare Gut (bonum quo majus cogitari non potest).134 Das Größte kann aber nicht nur in unserm Intellekt exi133 Schlatter wendet sich hier noch einmal dem Argument des Anselm von Canterbury zu, das in seiner knappsten Form besagt, Gottes Begriff schließe als Begriff dessen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden könne, seine Existenz ein. Über die Deutungsperspektiven und Anselms Auseinandersetzung mit seinem Gegner Gaunilo vgl. Wolfgang Röd, Der Gott der reinen Vernunft, aaO 34–55 (s.o. Anm. 37). 134 Schlatter resümiert das »Proslogion« Anselms hier nur sporadisch. Ungenügend war es Anselm gewesen, in seinem »Proslogion« verschiedene Wege, die zur Plausibilisierung Gottes führten, unterschei-

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stieren, es muss auch in re existieren.135 Denn das Reale ist größer als das nur Gedachte. Also existiert das summum bonum136 real. Der Beweis wird also rein und ausschließlich auf die Gottesidee selbst gestützt. Wir bedürfen, um das Dasein Gottes [zu beweisen], einzig und allein der Gottesidee. Diese beweist zugleich schon die Realität Gottes deshalb, weil zur Idee eines höchsten Wesens das Sein nothwendig gehört. [23] Cartesius hat den Beweis wiederholt137 den zu müssen. Diese Aneinanderreihung von Plausibilisierungen erinnert an die »Quinque viae« bei Thomas von Aquin. Im »Monologion« führt Anselm daher nur einen Beweis, den von Kant so genannten, ontologischen, dessen eigentliche Formel aber lautet: »das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann« (quod maius non cogitari potest). Es ist sinngemäß, aber nicht wörtlich mit dem »Guten« im Sinn der scholastischen Prädikation Gottes als summum bonum verbunden. Status und Überzeugungskraft dieses Gottesbeweises sind immer wieder bestritten worden. Zugleich ist er bis heute der Dreh- und Angelpunkt der Arbeit am Gottesbeweis. Kants »Destruktion« des ontologischen Arguments, mit dem zentralen Hinweis, dass Sein kein reales Prädikat sei, ist von Hegel widersprochen worden Wiederum ist es bemerkenswert, dass auch der ontologische, also streng apriorische Gottesbeweis in der gegenwärtig logisch-semantisch-mathematischen Gottesbeweisstruktur wieder eine maßgebliche Rolle spielt. Vgl. dazu J. Bromand/G. Kreis, Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, aaO 385ff. (s.o. Anm. 39) mit der Darstellung der mathematischen Version des ontologischen Beweises von Kurt Gödel. 135 In intellectu: im Gedanken; in re: in der Wirklichkeit. Nach dem elementaren Verständnis des ontologischen Arguments beschreibt es eben diesen Übergang. 136 Das summum bonum als »höchstes Gut« ist ein Begriff sowohl für das letzte Ziel menschlichen Strebens, die Eudaimonia, im Sinn von Aristoteles Eth. Nic. I, als auch für das Eine selbst, gemäß der Platonischen idea tou agathou (Pol. 505A 2) und damit, über den Neuplatonismus vermittelt, für den Gottesnamen. 137 Zu den Abwandlungen in der Beweisführung ist wiederum W. Röd, aaO 55ff. (s.o. Anm. 37) zu Descartes und 80ff. zu Spinoza zu vergleichen.

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und von ihm ging er über einerseits an den Spinoza,138 andrerseits an die -sche Naturaltheologie.139 Stets war aber auch dieses Argument von Widerspruch begleitet. Gegen Anselm schrieb ein Liber pro insipiente,140 die Anticartesianer haben ganz analog kritisiert, und auf die rationale Theologie des 17. Jahrhunderts antwortete . Das Gegenargument ist stets dies: dass Gott allerdings nur als seiend gedacht werden könne, wenn er überhaupt gedacht wird, dass aber daraus über das Sein oder Nichtsein Gottes schlechthin nichts entschieden sei. Schon 141 hat mit Recht geantwortet: das Argument beweise viel zu viel, es würde nämlich beweisen, dass alles, was wir uns vorstellen, z.B. ein goldner Berg, existiere. Wir stellen uns alles, was wir uns vorstellen, als seiend vor. Erst nachträglich heben wir bei willkürlichen Vorstellungen die Illusion auf durch das Urtheil: das Vorgestellte [ist] nicht wirklich. Im Besondern ist das Allgemeine enthalten, im Goldensein das Sein, im Mächtigsein das Sein. Wir bleiben dabei aber in der Sphäre des Vorstellens, und kommen niemals hinüber zum objektiv realen Sein. Wir können in der Gottesidee nie mehr finden, als was in ihr enthalten ist, eben Idee, Vorstellung. Sein finden wir nur im Seienden. Das Bedürfnis Anselms war ein edler, aber irrender Eifer. Anselm gibt damit dem Thoren, dem er damit zur Gotteserkenntnis helfen will, selbst ein wesentliches Stück seiner Thorheit zu; indem er ihm zur Erkenntnis helfen will ohne Zuwendung zu Gott selbst, lediglich durch den138 Vgl. Spinoza Ethica I, 8ff. und Röd, aaO (s.o. Anm. 37). 139 Dazu der in Anmerkung 47 genannte Sammelband von Michael Albrecht Vgl. die von Schlatter durchaus korrekt geführte Genealogie Wolfgang Röd, Gottesbeweise. 140 Buch für den Toren, also zu Gunsten von dessen Argumentation. 141 Der Mönch Gaunilo von Marmoutiers hielt Anselm von Canterbury vor, dass dessen ontologisches Argument keine Beweiskraft habe, weil man sich auch eine vollkommene Insel denken könne, die nicht existieren würde. Es gibt aber überzeugende Gründe anzunehmen, dass Anselm diesem Einwand entgeht, da er »Gott« als Anfang und Grund der Reihe der Vollkommenheiten versteht und die Denkmöglichkeit selbst an ihn bindet. Dazu im Überblick W. Röd, 45ff.

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kende Beschäftigung mit der Gottesidee. Darin besteht gerade die Thorheit des Thoren, daß er sich von dem Gott, in dem er lebt und webt und ist, dessen Wirken er konstant erfährt, abwendet, und seine Thorheit wird nur dadurch überwunden, dass er [24] auf das reelle Wirken Gottes achten lernt. Wieder eine andre Stellung kommt den unter sich verwandten kosmologischen142 und teleologischen143 Beweisen zu. Sie stellen sich auf eine empirische Basis, stellen sich auf den Boden der realen Welt und wollen an derselben diejenigen Momente aufzeigen, die uns zur Bildung des Gottesgedankens nöthigen, schlagen also das einzig mögliche solide Beweisverfahren ein. Das kosmologische Argument geht aus von der Abhängigkeit und Bedingtheit alles Wahrnehmbaren und erschließt eine letzte Ursache, da die Kausalreihe nicht unendlich sein kann. Das teleologische Argument geht aus von der Zweckmäßigkeit des Empirischen und schließt von derselben auf die Zweckmäßigkeit hervorbringende Vernunft.144 Diese Beweisgänge sind von je her bald mehr in populärer, bald mehr in schulmäßig syllogistischer Form gepflegt worden. Kant hat gegen sie eingewandt, dass sie im besten Fall doch nur einzelne Momente am Gottesgedanken, nicht aber den ganzen Inhalt desselben beweisen. Dieser Einwand trifft zu, wenn man eine 142 Vgl. wiederum die an Kant K.r.V. B 630ff. orientierte Übersicht bei Otfried Höffe, Kant, aaO 151–163 (s.o. Anm 123). Das »kosmologische Argument« ist die Beweisform, die von der Kontingenz der Welt als Allheit des Bedingten auf ein notwendiges Sein als erstes Bedingendes schließt, das selbst nicht bedingt ist. 143 Die teleologische Beweisform geht von einer finalen Steuerung und Ordnung des Seienden aus und schließt deshalb auf den Urheber und Erhalter dieser Ordnung. Gerade diese Beweisform spielt heute bei den »New Foundationalists«, Swinburne und Plantinga eine wichtige Rolle. 144 Die teleologische Argumentation hat Kant in seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, weiter entfaltet. Sie ergänzt aber nur das moralische Postulat, Gott anzunehmen, vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe Bd. V, 447–475.

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fertige Gottesidee, die alles in sich enthält, was unser christliches Denken Gott zuschreibt, beweisen will. Er verliert aber alle Kraft, wenn erkannt ist, dass das Beweisverfahren nichts anderes ist, als die Bildung des Gottesgedankens. Dieser erfolgt nicht von einer einzelnen Eigenschaft der Dinge mit einem Male ganz. Sie ist eine wachsende, und wächst, je mehr an göttlichem Wirken in den Umfang der Beobachtung einbezogen wird. Die Schulform gibt diesen Beweisen die Form eines Syllogismus,145 der aus möglichst universalen Prämissen besteht. Der Schlusssatz eines Syllogismus empfängt aber alle seine Beweiskraft aus den Prämissen. Diese selbst sind jedoch in ihrer Universalität nichts Ursprüngliches, unmittelbar Gegebenes, sondern das Resultat vielfältiger Erkenntnisprozesse, und besitzen eben darum, je allgemeiner sie gefasst werden, um so weniger Evidenz.146 Dass dies übersehen wurde und die allgemeinen Obersätze nicht als ein Gewordenes, sondern als fixer Besitz des Geistes betrachtet wurden, so dass es zur Gotteserkenntnis nur der Kombination aus der in unserm Geist gegebnen Erkenntnis bedürfte, das bildet den Irrthum der [25] scholastischen Beweisform.147 145 Der Syllogismus ist die bekannteste Schlussform. Je zwei Prämissen Untersatz und Obersatz führen zu einer Konklusion. Zu den verschiedenen Formen vgl. Wolfgang Detel, Grundkurs Philosophie, Stuttgart 2007. 146 Schlatters, wie man mit Schelling sagen könnte, »höherer Empirismus« weist immer auf das Prius der Einzel- vor der Allgemeinerkenntnis hin. Daher begründet sich die Aussage, dass Sätze, die eine größte mögliche Allgemeinheit aufweisen, dies mit einem entsprechenden Mangel an Evidenz erkaufen. 147 Schlatter folgt hier einem abwertenden Urteil über die »scholastische Denkform«, mit der er nicht eindeutig und präzise auf Thomas von Aquin oder andere klassische Denker des Hochmittelalters verweist. Der Differenzierung im Seinsbegriff des Thomas, dem Ineinander von rationaler Gotteserkenntnis und »doctrina sacra«, die auch heute wieder ernsthaft diskutiert werden müssen, wird sein Ansatz nicht gerecht. Eine solche Abgrenzung ist auch deshalb unwahrscheinlich, da Schlatter lebenslänglich eine hohe Wertschätzung für Aristoteles’

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Diese allgemeinen Aussagen über die Welt, sie sei abhängig, zweckmäßig usf. haben nur dann Werth und Evidenz, wenn sie auf ihre konkrete Basis gestellt sind, d.h., wenn sie sich als das Ergebnis darstellen, zu dem die Analyse der wirklichen Welt führt. Sie weisen uns also auf die Untersuchung unsrer Empirie auf denjenigen Weg, der sich uns als die Aufgabe der Theologie dargestellt hat. Und es bildet so der Unwerth der Gottesbeweise, sofern [sie] in ihrer Isolierung von der Empirie verharren, einen indirekten Beweis für unsre Definition der theologischen Aufgabe.

Denkansatz hegte. Vgl. dazu Werner Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, Stuttgart 1996, 65f., 533.

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§ 6 Überblick über einige andre theologische Standpunkte

1. Das kantische Verbot der Theologie Was wir bisher über die Gotteserkenntnis sagten, bestimmte lediglich die der theologischen Wissenschaft obliegende Arbeit, ohne noch eine Aussage darüber zu enthalten, ob diese Arbeit zu einem negativen oder positiven Resultate führen wird, ob sie endigen wird mit dem Satze: Gott ist oder Gott ist nicht.148 Sind wir Christen, so besitzen wir schon vor unsrer wissenschaftlichen Arbeit Erkenntnisse und Erlebnisse, die uns über das Resultat derselben nicht im Ungewissen lassen. Aber auch dem Zweifler oder dem überzeugten Atheisten liegt die skizzierte Aufgabe nicht minder ob, die Welt unter dem Gesichtspunkt zu durchforschen, was sie an Werken Gottes in sich fasse. Ja gerade der Atheismus ist verpflichtet, wenn er nicht frivol sein will, diese Aufgabe mit nicht geringerem Ernste zu betreiben als wir. Auch der Atheismus ist eine Theologie, beansprucht hinsichtlich Gottes eine Erkenntnis [26] zu besitzen, eben die, dass er ein Gebilde menschlicher Dichtung sei. Und für diese angebliche Erkenntnis hat er den Beweis zu leisten und er kann ihn nicht anders leisten, als auf dem selben Weg, auf dem wir den positiven Gottesbeweis zu suchen haben.149 Es scheint, gegen 148 Diesen Abgrund der reinen Vernunft (B 641) hielt Kant im Zug seiner Destruktion des ontologischen Argumentes für unumgänglich. Über ihn sei nicht hinauszugelangen. 149 Diese Überlegungen zum »Atheismus« scheinen auch deshalb so wichtig, weil ihr Faden begrifflich bislang kaum aufgenommen

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die Stellung der Aufgabe als solche sei keine Einsprache denkbar. Gleichwohl hat Kant die Aufgabe als solche bestritten. Nach Kant dürfen wir überhaupt keine Theologie erstreben, weder negative noch positive, denn unsre Vernunft verirrt sich sofort in eine unlösliche Dialektik von Selbstwidersprüchen.150 Die Kategorien, in denen wir denken, sind lediglich anwendbar auf die durch unsre Empfindung uns dargebotenen Objekte, jeder Gebrauch derselben über die Erfahrung hinaus führt nothwendig sofort zum Paralogismus. Die empirischen Objekte sind die Insel der Wahrheit, um sie her ist nur noch ein stürmischer Ocean, auf den die Vernunft mit einer gewissen innern Nöthigung hinausgetrieben wird, auf dem sie aber nichts findet als dialektischen Schein. Allein dieses Kantsche Verbot trifft die theologische Arbeit,151 so wie wir sie fassten, nicht. Wir begehren keineswegs, das, was Kant die Insel der Wahrheit nennt, zu verlassen, im Gegentheil, eben sie ist das, was wir erkenwurde. Die Nicht-Existenz Gottes ist in den gängigen, oftmals argumentativ allzu billigen Atheismen, eher Voraussetzung, als dass sie dargelegt würde. Dies zeigen vor allem die Vertreter des »neuen Atheismus« wie Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007. Zumindest indirekt wird deren Überzeugungskraft jedoch heute auch in Frage gestellt. Thomas Nagel hat aus agnostischer Sicht die zugrundeliegende reduktionistische Weltsicht kritisiert. Vgl. Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2012. 150 K.r.V A VIIIff., über den »Kampfplatz der Metaphysik«. 151 Kants Destruktion des ontologischen Gottesbeweises versteht Schlatter als ein Verbot der Theologie selbst. Diese pointierte Lesart findet sich auch in Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie  I, aaO 67–82 (s.o. Anm. 31). Es war den jungen Theologen und Philosophen, Zeitgenossen Schellings und Hegels, zu Beginn der Philosophie des deutschen Idealismus freilich nicht fremd. Dies hat Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus, Tübingen/Jena 1790–1794, Frankfurt a.M. 2004, differenziert gezeigt. Viele von ihnen verließen deshalb die Theologie, weil es ihnen unmöglich schien, in intellektueller Redlichkeit noch Theologe zu sein.

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nend bearbeiten wollen. Der Mensch, wie er faktisch uns gegeben ist, die Natur, wie sie uns vorliegt, die Geschichte, wie sie sich thatsächlich entfaltet hat, das sind die Objekte unsrer Theologie. Wir wollen die Kategorien unsres Denkens nicht anwenden auf Dinge, die schlechthin jenseits unsrer Erfahrung liegen, sondern gerade auf die Dinge, [27] die uns gegeben sind. Warum bleibt Kant der Gedanke gänzlich fremd, dass es eine Theologie geben könnte, die nicht einer Fahrt in einen ungekannten unzugänglichen Ozean gliche? Der Grund liegt darin, dass nach Kants Meinung jene Insel der Wahrheit diesen Namen doch nicht wirklich verdient: das Empirische gilt ihm als Schein, und in der Sphäre des Scheins können wir allerdings nicht nach Gott suchen. Und wenn wir eingewickelt sind in lauter Schein und nirgends auf ein Reelles stoßen, dann gibt es keine Theologie. Ohne Kosmos kein Theos. Dieses Verbot aller Theologie geht aus dem skeptischen Zuge in Kant hervor, der schließlich jede Wissenschaft, nicht nur die Theologie, aufhebt. Eben darum führt die Zurückweisung dieses Kantschen Interdikts auf die §  1 schon angedeuteten Erwägungen zurück. Die Kantsche Negation der Theologie scheitert einfach daran, dass sich thatsächlich Realia innerhalb unsrer Wahrnehmung finden, und wäre es auch nur unser eignes Ich. Gesetzt auch, die Außenwelt wäre Schein, in lauter Schein kann sich unsere Welt und mit ihr unser Ich wahrlich nicht auflösen. Der Schein kann ja nicht in der Luft existieren. Es gibt keinen Schein, es sei denn ein Reales da, dem’s so scheint, und am Realen ist der Schein selbst ein reeller Vorgang.152 So wie wir aber irgendwo Realitäten wahrnehmend berühren, und sei der Kreis derselben noch so klein, so steht die theologische Aufgabe vor uns. Es bedarf zur [28] wissenschaftlichen Sicherung ihres 152 In bestechender Klarheit seines eigenständigen Denkens weist Schlatter auf, dass mit dem Begriff des wahren Wesens auch der des Scheins zerstört werden müsse. Dies ist kongenial zu Nietzsches These, dass »wir« mit der wahren Welt auch die scheinbare abgeschafft haben. Vgl. Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, Kritische Studienausgabe Bd. VI, 80f.

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Rechts nicht schon einer Beantwortung der Frage, ob und wie eine Außenwelt uns zugänglich ist, sondern lediglich die Feststellung der These, dass uns irgendwelche Realität offen liegt. Denn wenn auch nur in einer einzigen Richtung die uns umhüllende Wolke des Scheins reißt, nämlich in der auf unser eignes Ich, so ist die Möglichkeit gegeben, dass eben hier Gott uns wahrnehmbar wird. Die Frage, wie weit das, was wir Natur heißen, Produktion der Seele ist, gehört in die Analysis der Seele153 und der Natur.

2. Der scholastische Standpunkt154 Die Ergebnisse der frühern Erkenntnisthätigkeit leben in der Kirche fort und bilden ihr Dogma. Wir verstehen unter Dogma die Summe derjenigen Erkenntnisse, welche als das Resultat der bisherigen theologischen Arbeit in der Kirche sich Geltung zu verschaffen vermochten. Das Dogma ist selbstverständlich ein wichtiges Objekt für unser historisches Wissen. Und zwar kann dasselbe unter einem doppelten Gesichtspunkt historisch bearbeitet werden. Wir können der Genesis des Dogmas nachgehen, so dass wir es uns in einem sukzessiven Werden vergegenwärtigen. Wir sehen in die Werkstätte des Dogmas hinein, in die theologische Arbeit, welche die Kirche vollzieht, in ihrem Steigen und Sinken in ihren Wandlungen (Dogmen- [29] geschichte). Oder wir fassen das Dogma als ein Ganzes, führen uns das System vor, das sich als Resultat aus seinem geschichtlichen Processe heraus gebildet. Das leistet mehr oder minder vollkommen die Symbolik,155 in diesem Sinn hat z.B. 153 Dies wäre das Konzept einer realistischen Seelenlehre, wie sie Schlatter in Umrissen bei Herbart fand, wie sie aber letztlich auf Aristoteles‘ Seelenschrift »De anima« zurückgeht. 154 Vgl. Anmerkung 67, wo das Verhältnis zu »Scholastik« skizziert ist. 155 »Symbolik« ist die Auslegung der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, vor allem in römisch-katholischem Verständnis. Vgl. Adam Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze

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Rothe156 den Begriff der Dogmatik gefasst, und es ist dagegen nichts einzuwenden, sofern nur das Bewusstsein unverdunkelt bleibt, dass wir in einer solchen systematischen Reproduktion des Dogmas lediglich eine historische Arbeit treiben und die speziell theologische Aufgabe noch nicht angefasst haben. Wir finden nun aber oft auch die systematische Theologie als Bearbeitung des Dogmas definiert. Dogmatik, sagt man, ist Bearbeitung des Dogmas, wobei man entweder speziell auf die Bekenntnisschriften verweist oder den Begriff allgemeiner fasst, und alle Lehrsätze einschließt, die in der Kirche zu mehr oder weniger festem traditionellen Bestand gelangt sind. Unter entgegengesetzten Verhältnissen bietet sich dieser Standpunkt als der natürliche zunächst dar dann, wenn der vorangehenden Arbeit der Kirche zunächst ungebrochnes Vertrauen entgegen gebracht wird. Dann stellt sich als das Ziel des eigenen Erkenntnisstrebens dies dar, dankend die Erkenntnisschätze durchzuarbeiten und so sie sich anzueignen, welche die Kirche in ihrer frühern Arbeit zu Tage gefördert hat. So in der mittelalterlichen Scholastik und wiederum nach der Reformation. Aber auch bei einem durchgreifenden Bruch mit der Überlieferung [30] wird dieselbe Position unwillkürlich der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften [basierend auf der 5. verm. und verb. Aufl. 1838], mit Ergänzungen zu Möhlers Symbolik aus dessen Schrift: Neue Untersuchungen der Lehrgegensätze zwischen den Katholiken und Protestanten, hrsg. von Johann Michael Raich, sowie einem Lebensbild als Beitrag zur Geschichte der Theologie der Neuzeit [J.A. Möhlers Ausgewählte Schriften Bd. 1], Malsfeld 2011. 156 Richard Rothe (1799–1867): Rothe war seit 1837 Professor für Dogmatik, Kirchengeschichte und Praktische Theologie in Heidelberg und später seit 1861 Mitglied des Karlsruher Oberkirchenrats. Er folgte in seiner »Spekulativen Theologie« eher der Hegelschen Philosophie als Schleiermacher, galt aber später als liberaler Theologe. Politisch setzte Rothe auf einen als »Theokratie« verfassten unbedingt sittlichen Staat. Bei Rothe verbindet sich spekulativer Hegelianismus mit tiefer pietistischer Frömmigkeit. Vgl. Falk Wagner, Rothe, Richard (1799–1867), in: TRE 29, Berlin 1998, 436–441.

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eingenommen. Dann stellt sich als der Gegner, dem der Kampf gilt, leicht das Dogma dar, und auf dem Wege der kantischen Zersetzung desselben soll dann als positives Resultat die Erkenntnis gewonnen werden, was Gott nun wirklich sei.157 So Strauß158 und Biedermann159. Was diesem Standpunkt entgegenzuhalten ist, ist 157 In dieser Argumentationskette zeigt sich wieder Schlatters bestechende Fähigkeit, die Zusammengehörigkeit von äußerlich divergierenden Positionen zu erkennen und namhaft zumachen. Jeweils werde das Dogma als Ganzes genommen, seine empirische Einlösbarkeit und Überprüfbarkeit werde aber zu gering gewichtet, so dass die Folge eine Affirmation des Dogmas im Ganzen oder seine Verwerfung im Ganzen sein werde. Diesen Zug betont auch Jochen Walldorf, Realistische Philosophie, aaO 55ff. (s.o. Anm. 85), ebenso habe ich ihn herausgearbeitet in: Einführung zu Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 9–63 (s.o. Anm. 31). 158 David Friedrich Strauß (1808–1874), Schüler Ferdinand Christian Baurs, erfuhr wesentliche Prägungen durch die Philosophie Hegels. Sein »Leben Jesu, kritisch bearbeitet« (1835–36) ist ein Meilenstein historischer Kritik. Er sucht darin den mythologischen Charakter des Lebens Jesu nachzuweisen und die Wunder- und Auferstehungsberichte als »absichtslos dichtende Sage« abzuwerten. 1840/41 folgte »Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft«. Strauß war erfolgloser Kandidat für das Paulskirchenparlament von 1848 und neigte in seiner Spätzeit dem Darwinismus und Ernst Haeckels Monismus zu. Für Nietzsche war er in der I. Unzeitgemäßen Betrachtung Paradigma des Philisters, Nietzsche Kritische Studienausgabe Bd. 1, 160–242. 159 Alois Emanuel Biedermann (1819–1895), ab 1850 Außerordentlicher Professor für Theologie in Zürich, ab 1864 Ordinarius. Biedermann knüpft an Hegel und Strauß an; er vertritt ein rational-spekulatives Christentum auf stark sittlicher Grundlage, für das er in der reformierten Kirche der Schweiz auch durch seine Artikel in den liberalen Zeitschriften »Zeitstimmen« und »Die Kirche der Gegenwart« federführend eintritt. Die den positiven Glauben zersetzenden Folgerungen des theologischen Hegelianismus lagen allerdings kaum in der Logik der Religionsphilosophie Hegels. Dazu Wolfhart Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutsch-

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in der Benennung desselben als des scholastischen angedeutet. Wir heißen die Naturlehre des Mittelalters scholastisch, darum weil sie nicht die Natur selbst zu ihrem Objekt machte, sondern die Naturlehre des Aristoteles. Ihr Bestreben ging dahin, die Begriffe, die sich Aristoteles über die Natur gebildet hatte, durchzudenken, logisch voll auszubilden. Ebenso stellt diese Theologie zwischen sich und ihr wirkliches Erkenntnisobjekt ein Medium, das ihre Stellung fälscht, die Begriffe früherer Lehrer, und als Ergebnis dieser Arbeit lässt sich nicht mehr gewinnen als die Einsicht in die Begriffe, die sich andre machten über Gott, nimmermehr aber Kenntnis Gottes selbst. Wir haben ein Stück Geschichte in der Hand, aber niemals Theologie. Die Betonung des kritischen Moments ändert an dieser Ergebung nichts. Diese Kritik kann ja nur eine formal logische sein, eine materielle Kritik setzt die Kenntnis des Gegenstands voraus. Aber diese soll eben erst gewonnen werden durch die Kritik des Dogmas. So sieht sich diese Kritik darauf reduziert, die logische Korrektheit des Dogmas zu prüfen, sie hält die einzelnen Begriffe desselben [31] gegen einander, ob sie sich widersprechen oder nicht. Das Resultat ist ein Urtheil über die wissenschaftliche Kraft oder Schwäche der frühern Theologen, mehr nicht. Gesetzt, das ganze Dogma ließe sich durch logische Kritik vollständig zersetzen, so wüßten wir darüber, was Gott ist, noch nichts.160 Die theologische Aufgabe wäre noch gar nicht begonnen. Wir wüssten einzig das, dass die bisherige Theologie werthlos sei. Es regt sich auch in der Scholastik am genauesten das Bewusstsein, dass sie die theologische Arbeit auf einen Seitenweg ablenkt. Sie sucht die Bedeutung, die sie dem Dogma als theologische Erkenntnisquelland. Von Schleiermacher bis Barth und Tillich, Göttingen 1997, 124ff. 160 Den deduktiv-logischen Formalismus der Dogmatik kritisiert Schlatter und macht dabei indirekt von Kants Argument des »Abgrunds der Vernunft« Gebrauch: die Existenz und die Nicht-Existenz Gottes sind gleichermaßen denkbar, wenn man bei den formalen Sätzen der Dogmatik stehen bleibt.

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le beilegt, zu stützen durch Hülfssätze. Die positive Scholastik beruft sich auf die Autorität der Kirche, sie macht diese jedoch nicht als ursprünglich der Kirche eigen geltend. Die Kirche ist ja ein Verband von Menschen, und alles, was Mensch ist, steht nicht über uns, sondern neben uns als gleichen Rechts mit uns. Die Autorität der Kirche ist eine abgeleitete, empfangene, von Gott ihr übertragene. Aber in diesem Satz, dass die Kirche die von Gott uns gesetzte Lehrautorität sei, liegt ja ein ganzes theologisches System. Diesen Satz gilt es zu begründen, den müssen wir erkennend gewinnen, und können ihn nicht aus dem Dogma herleiten, sondern nur [aus] Gott, nicht aus Zergliederung des Dogmas, sondern aus der Achtsamkeit auf das, was Gott ist und thut. Ganz analog basiert sich die kritische Scholastik in Strauß und Biedermann auf theologische Hülfssätze, welche der Hegelschen Lehre entnommen sind. Hegel hat den Begriff unmittelbar als das Sein der Dinge gefasst.161 Daraus leitet sich auch die Gleichsetzung Gottes mit dem Gottesbegriffe ab, und es begründet sich hierin die Zuversicht, dass die Bearbeitung des vorliegenden Gottesbegriffs Gotteserkenntnis ergeben müsse.162 [32] Aus der Hegelschen Identitätslehre ergibt sich weiter als Konsequenz, dass die Geschichte und die logische Bewegung des Denkens für kongruent erklärt wurde. Dies ergab wiederum die Zuversicht, dass das historisch vorliegende Dogma der korrekte logisch nothwendige Ausdruck der die Kirche erzeugenden Idee sei, so dass diese mit dem Dogma stehe und falle, eben darum, weil sie im Dogma ihre Realität hat und hinter dem 161 Vgl. dazu programmatisch Hegels Aussage: »Das Wirkliche ist vernünftig«, Vorrede Grundlinien der Philosophie des Rechts. TheorieWerkausgabe Bd. 7, Frankfurt a.M. 1986, 24f. 162 Siehe auch die kritische Hegel-Darstellung Schlatters in: Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, 110ff., bzw. Geschichte der philosophischen Arbeit seit Cartesius. Ihr ethischer und religiöser Ertrag, Gießen/Basel 51981, 198–217. Eine Schlatters Kritik zumindest nahekommende Kritik an dem »Formalismus« der Hegelschen Logik, der über die Realität Gottes nichts aussagen könne, findet man in Schellings programmatischer Unterscheidung »negativer« und »positiver« Philosophie, auf die sich Schlatter auch immer wieder beziehen kann.

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Dogma nicht noch etwas anderes zu suchen sei, als Objekt und Realität zu demselben. Weiter bot die Hegelsche Lehre zugleich die Mittel, nicht nur eine formale logische, sondern auch eine materiale Kritik am Dogma zu üben. Man maß dasselbe am Hegelschen Gottesbegriff.163 Also, auch hier beschränkt sich die Theologie keineswegs nur auf die Untersuchung des Dogmas, vielmehr werden die entscheidenden theologischen Lehrsätze zur Kritik des Dogmas fertig herzugebracht. Damit dass man diese einem philosophischen System entnimmt, hört für den Theologen die Pflicht nicht auf, diese Lehrsätze genauestens zu untersuchen. Wer dies bestreiten wollte unter dem Titel: das seien philosophische Ergebnisse, die die Theologie einfach zu akzeptieren habe, der richtet eben doch nur eine Autorität auf, die noch weniger berechtigt ist als die von der alten Scholastik geltend gemachte. Jene Prämissen zu gewinnen, den Wahrheitsgehalt derselben festzustellen, das hätte vielmehr für jene Theologen die erste und wichtigste theologische Aufgabe bilden müssen, und die Lösung derselben ließ sich [33] nicht durch Kritik des Dogmas geben, vielmehr lediglich durch eine theologische Arbeit im Sinn unsers § 3. So energisch wir es ablehnen, das Dogma als die theologische Erkenntnisquelle zu akzeptieren und unsre Gotteserkenntnis durch Bearbeitung des Dogmas anzustreben, so besteht doch zweifellos ein enger und positiver Zusammenhang zwischen Dogma und Dogmatik:164 163 Hegels Wirkung auf die evangelische Dogmatik kulminierte im 19. Jahrhundert. Durch eine linkshegelianische Verkürzung bedingte dies aber auch eine Abwendung von der Positivität von Schrift und Offenbarung, die Hegels Denken weitgehend in Verruf brachte. Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie, aaO (s.o. Anm. 159). Eine andere theologische Hegelrezeption mahnt an Günter Rohrmoser, Glaube und Vernunft am Ausgang der Moderne. Hegel und die Philosophie des Christentums, hg. v. Harald Seubert, St. Ottilien 2009. 164 Das »Dogma« ist für Schlatter definiert als das Fundament des allen Christen gemeinsamen Glaubens, das sich »am Bewußtsein aller« bewährt und diese »in derselben Überzeugung« einigt (Schlatter, Das christliche Dogma, aaO 13 (s.o. Anm. 43). Es ist die symbolische Ver-

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zunächst so, dass das Dogma das Produkt und Ziel unsrer systematischen Arbeit benennt. Wie geschichtlich die Dogmenbildung eben durch dogmatische Arbeit sich vollzieht, wie das nizänische Dogma durch die theologische Arbeit des Athanasius hergestellt wird, die Erbsündenlehre durch die theologische Arbeit Augustins, das Rechtfertigungsdogma durch Luthers theologisches Denken, so steht auch für die dogmatische Arbeit der gegenwärtigen Kirche ihr Dogma nicht am Anfang, sondern am Ende derselben als die Frucht, die aus ihr hervorwachsen soll. Die Kirche hat ihr Dogma immer wieder neu zu gewinnen, und der Weg, auf dem sie es gewinnt, ist die Dogmatik. Auf diesem Wege ist uns das, was die früheren Lehrer als Resultat ihres Denkens herausarbeiteten, eine sehr fruchtbare Wegleitung. Wir lernen von den Frühern. Ihre Arbeit ist Vorarbeit für uns. Darin kommt das, was wahr ist am scholastischen Autoritätsbegriff, zur Geltung.165 Wir treiben nicht eine Penelopearbeit,166 dass jeder wieder niederrisse, was die Frühern gearbeitet haben, im Gegentheil, es besteht eine große Gemeinsamkeit und gegenseitige Abhängigkeit. Bedenken wir nur das dichtung des Magnus Consensus der Kirche seit der frühen Christenheit. Die »Dogmatik«, deren fundamentaltheologische und -philosophische Prinzipienlehre hier vorliegt, hat diesen Bestand zu reflektieren und zu interpretieren. Schlatter, Das christliche Dogma, aaO (s.o. Anm. 43). 165 Siehe hierzu auch Schlatter, Das christliche Dogma, aaO 11ff. und 99ff. (s.o. Anm. 43). Gemeint ist damit die katholische Lehre von der Weiterbildung des Lehramtes und einem Traditionsprinzip der kontinuierlichen Lehrentwicklung und -amelioration. 166 Von Penelope, der Gattin des Odysseus, wird im griechischen Mythos berichtet, dass sie während der Irrfahrten des Odysseus von Freiern umlagert war und in dieser Zeit vorgab, am Leichentuch ihres Schwiegervaters Laertes zu weben, das erst vollendet sein müsste, bevor sie in die Ehe eintreten könnte. Nachts aber trennte sie, um dem Schicksal zu entgehen, in eine unangemessene Ehe eintreten zu müssen, jeweils das Gewebe wieder auf, das sie während des Tages zusammengefügt hatte. Eine »Penelope«-Arbeit ist also eine Arbeit, die immer wieder neu begonnen werden muss und deren erfolgreicher Abschluss nicht zu erwarten steht.

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eine, dass wir ja nicht ohne Sprache denken können, die Sprache aber ist ein geschichtlich Gewordenes, von jedem einzelnen Empfangenes. [34] Nicht nur die lösenden, Luft gebenden Gesichtspunkte, sondern auch die Probleme werden erst entdeckt. Eine Fülle theologischer Fragen, die uns beschäftigen, liegen den Alten ganz fern, die Frage war noch nicht da. Die Probleme stellen sich erst im Verlauf der gemeinsamen Arbeit. Dieser Doppelzusammenhang zwischen dem Dogma und der Dogmatik gibt der letztere[n] ihre Bedeutung und Würde. sie arbeitet mit einem großen Begriffsschatz, der ihr durch viele und ernste Beschäftigung der frühern Geschlechter mit Gott und den göttlichen Dingen zugewachsen ist. Und wie sie selbst aus dem Erbe der frühern Kirche schöpft, so hat sie auch wiederum den Beruf, der Kirche zu dienen, nicht nur einem individuellen Bedürfnis. Das Ziel der Dogmatik167 ist nicht erreicht, sie ende denn in Lehrsätzen, welche geeignet sind, Gemeingut zu werden, überzugehen in den Besitz der Kirche. Indem die dogmatische Arbeit um des Dogmas willen da ist, ist sie herausgehoben über die Sphäre bloßer Selbstbefriedigung. Und erhöht zu einer der Gemeinschaft dienenden Stellung. Darin liegt zugleich die Verantwortlichkeit dieser Funktion. Allerdings haftet die Autorität des Dogmas lediglich an seinem innern Wahrheitswerth, allein nicht alle Glieder der kirchlichen Gemeinschaft sind in der Lage, die Arbeit, aus der das Dogma entsteht, zu wiederholen, die kirchliche Gemeinschaft gliedert sich wie alle Gemeinschaft in Wissende und Lernende, in Gebende und Empfangende. Das Dogma als Resultat der Dogmatik greift bestimmend in das Leben vieler ein, die auf eine rezeptive Stellung angewiesen sind. Da gilt es wohl zuzusehen, was für ein Dogma aus unsrer Dogmatik resultiert. So besitzt in der That das Dogma für die Dogmatik eine eminente Bedeutung in beiden Beziehungen, sowohl, wie es vorhanden ist, als wie es neu zu erwerben ist.168 167 Dazu auch die näheren Bestimmungen bei Schlatter, Das christliche Dogma, aaO 12–14 (s.o. Anm. 43). 168 Schlatter entwickelt hier den Gedanken eines Sich-Fortbildens des Dogmas in seiner Geschichtlichkeit. Dies ist dem Traditionsprinzip der römischen Kirche und der neueren katholischen Dogmenherme-

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Aber Objekt der Dogmatik, Erkenntnisquelle ist es nicht, wir wollen uns nicht an Menschen wenden, sondern an Gott. [35]

3. Rothes Definition der spekulativen Theologie Rothe steht insofern der kritischen Scholastik nahe, als auch er stark von der Hegelschen Logik beeinflusst ist. Doch macht Rothe nicht das ganze Dogma, sondern das Gottesbewusstsein zum Ausgangspunkt seiner Spekulation. Nicht in einem erst historisch Gewordenen, sondern in einem unmittelbaren Gewissen will Rothe der Theologie ihren Ausgangspunkt geben. Der Fromme ist Gottes gewiss. Er hat in seinem Gottesbewusstsein die feste Basis, in welcher er ruht. Das bestimmt auch den Charakter der Theologie als derjenigen Wissenschaft, welche der Fromme als solcher betreibt. Sie hat im Gottesgedanken ihr gegebenes Prinzip, und ihre Aufgabe besteht nun darin, den Gottesgedanken zu entfalten, einmal ihn selbst von seinen eignen einfachsten Elementen aus bis zu seinem vollen Inhalt, sodann aber muss der Gedanke zum Prinzip einer Weltkonstruktion gemacht werden, in einer umfassenden Deduktion, welche die Natur, den Menschen, den Christus mit dem gesamten Gottesreich aus dem Gottesbewusstsein ableitet. Hierin liegt Verwandtschaft und zugleich Unterschied zwischen Philosophie und Theologie. Die Verwandtschaft liegt darin, dass auch die Theologie alles Seiende produktiv ergreift, Weltkonstruktion ist nicht weniger als die Philosophie. Der Unterschied liegt aber darin, dass die Theologie den Gottesbegriff voraussetzt, aus dem Gottesbegriff deduziert, während [36] die Philosophie zwar, wenn sie ihrem Begriffe genügen will, Gott nicht ignorieren kann, jedoch das

neutik nicht fern, auch wenn Schlatter eine lehramtliche Institution nicht vorsieht. Vgl. dazu die Charakterisierung der römischen Katholizität in: Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 123–138 (s.o. Anm. 31).

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ihr gegebne Prinzip im Selbstbewusstsein besitzt. Von ihm aus konstruiert sie sodann Welt und Gott.169 Zu dieser Auffassung der theologischen Arbeit ist zunächst zu bemerken, dass sie abhängig ist von der Hegelschen Logik. Rothe war Anhänger der Lehre von der Selbstbewegung des Begriffs.170 Nur darum konnte er hoffen, wenn er den Gottesbegriff habe, alles in ihm entdecken zu können, ohne irgend ein weiteres Erkenntnismittel. Der Begriff metamorphosiert sich nach Hegelscher Lehre aus sich selbst heraus, er drängt vorwärts von einer Stufe zur andern, so dass wir beim Gedanken reines Sein beginnen und beim vollen konkreten Weltbild enden können, gesetzt wir hätten auch nicht einen einzigen Blick dem Realen zugewandt. Diese Logik ist der direkte Gegensatz zu dem, was in § 1 über das Erkennen gesagt [wurde]. Fassen wir den Begriff als Summation unsrer Erinnerungsbilder, so können wir in der Summe nicht mehr erwarten als in den Summanden,171 wir werden im Begriffe nicht mehr suchen, aber auch nicht mehr finden, als diejenigen Merkmale, die wir im Begriffe vereinigt vorstellen. Wir werden also im Gottesbegriff nie die Welt entdecken, es sei denn, wir denken sie gleich von vornherein in unserm [37] Gottesbegriff mit. 169 Näheres zu dieser unterschiedlichen Methodik von Theologie und Philosophie bei Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I. Bezogen auf die Forderung einer neuen Einheitswissenschaft behandeln diese Frage auch die Beiträge in Sven Grosse, Harald Seubert (Hg.), Radical Orthodoxy. Eine Herausforderung für Christentum und Theologie nach der Säkularisierung, Leipzig 2017. 170 Diese Lehre entwickelte Georg Wilhelm Friedrich Hegel insbesondere in seiner »Logik«, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, Theorie-Werkausgabe Bd. 6, Frankfurt a.M. 1970, 245ff. Vgl. auch Michael Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970. Von der »Logik« ist dann das gesamte System bestimmt. Man muss allerdings berücksichtigen, dass für Hegel der Begriff immer »konkret« ist und die Konkreszenz (das Zusammenwachsen und Zusammenbestehen) von Begriff und nicht-begrifflicher Wirklichkeit voraussetzt. 171 Zu summierende Teilglieder oder -mengen.

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Es ist auch sehr leicht nachzuweisen, dass Rothe keinen Schritt in seiner Deduktion vorwärtskommt, ohne beständigen Hinblick auf die Erfahrung. Nur dadurch, dass er während des Denkprozesses den empirischen Inhalt seines Bewusstseins mitthätig werden lässt, rückt das Denken überhaupt von der Stelle. Es bliebe ewig im reinen Sein stecken, hätte Rothe nur die beiden Faktoren, die er der Theorie nach einzig verwendet, nämlich die Logik als die Form des Denkens und den Begriff reines Sein als dessen Objekt. Weiter ist dieser Theologie zu sagen, dass ihr Begriff bereits vor aller theologischen Arbeit höchst folgenreiche theologische Lehrsätze aufstellt, ihr zum Präjudiz172. Wir könnten den Weltprozess nur dann lediglich mit Hülfe der Logik aus Gott deduzieren, wenn im Weltprozess kein andrer Faktor thätig wäre als Logik: d.h. wenn er lediglich in Gottes Denken wurzelte. Woher weiß Rothe dies vor aller Theologie? Muss es denn so sein? Gibt es nicht noch andre Potenzen als Denken, z.B. Wollen?173 Und am Wollen hängt unabtrennbar die Freiheit, die Wahl, die sich souverän ihre Ziele setzt. Wenn die Welt Produkt göttlichen Wollens ist, [38] so ist die Möglichkeit, sie apriori zu deduzieren, dahin, sie wird ein Positives. Was der Wille setzt, das wissen wir nicht, ehe er setzt, sondern erst, nachdem er es gesetzt hat. Aber auch der Ausgangspunkt dieser Theologie ist unbefriedigend. Der Fromme sucht nicht erst den Gottesbeweis, darin hat Rothe Recht, aber soll dies nun auch sofort von der theologischen Wissenschaft gelten? Kann sie auf den Gottesbeweis verzichten? Gibt sie nicht eben damit ihre wesentliche Aufgabe dahin und damit zugleich ihren universalen Charakter? Rothes Theologie hat Gültigkeit und Werth nur für den Frommen. Wer den Gottesbegriff nicht als Voraussetzung zulassen will, wird dieser Wissenschaft gegenüber sich einfach ablehnend verhalten 172 Vorurteil, Voraussetzung. 173 Es ist Teil des Umbruchs in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, vor allem zwischen Schelling, Schopenhauer und Nietzsche, dass das Wollen zunehmend über den Begriff dominiert. Dazu nach wie vor Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, NA Hamburg 1995.

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müssen, denn sie setzt das voraus, was er nur als Resultat der Untersuchung entgegennehmen kann. Sagt uns Rothe: es ist die Aufgabe der Philosophie, den Gottesbeweis zu führen, nun dann, so heißt Rothe eben den ersten und wichtigsten Teil der Theologie Philosophie. Am Namen liegt nichts, wohl aber an der Sache. Und wenn einmal zugegeben ist, dass es eine wissenschaftliche Aufgabe ist, ein Wissen um Gott nicht vorauszusetzen, sondern zu gewinnen, so liegt hierin offenbar die wichtigste und alles Andre entscheidende Arbeit, die auf diesem Felde des Erkennens getan werden muss. [39] Immerhin scheint es ein Vortheil der Rotheschen Definition gegenüber den gegebenen Aufstellungen, dass sie eine deutliche Grenzlinie der Philosophie gegenüber gibt. Aber auch in dieser Hinsicht ist näher besehen der Gewinn gering. Wie sollen wir uns diese Parallelwissenschaften denken, von denen die eine aus dem Gottesdie andre aus dem Selbstbewußtsein die Welt konstruirt?174 Gibt es denn zwei Prinzipien für das Seiende, ist unser Selbst in analoger Weise Prinzip der Dinge wie Gott und werden sich die beiden Weltkonstruktionen decken? Das sind Fragen, auf die uns Rothe keine Antwort gibt. Es ist in Hinsicht auf die Abgrenzung der Philosophie gegenüber festzuhalten, dass an allen Eintheilungen unsrer Wissenschaften ein willkürliches Moment haftet. Das Reale ist schließlich eine große Einheit, unser Wissen ist es darum auch. Wir ziehen die Grenzlinien, die die verschiedenen Begriffsreihen von einander sondern, und wenn unsre Erkenntnisarbeit in zwei letzten abschließenden Wissenschaften endigt, in Philosophie und Theologie, so sind 174 Das Verhältnis von Philosophie und Theologie hat Schlatter auch in der gleichnamigen Berner Vorlesung 1884 grundsätzlich in ähnlicher Weise thematisiert, vgl. insbes. 153–175, siehe ferner meine »Einführung«, ibid. 9–63. An dieser Stelle votiert er durchaus in der Richtung einer grundlegenden Einheitswissenschaft, die aber methodisch und in der Sache gewisse Zweiteilungen kenne. Er verfolgt hier einen primär neuzeitlichen Philosophiebegriff, der tatsächlich mit Descartes im mit den Sachverhalten mit vorgestellten Selbstbewusstsein seinen Dreh- und Angelpunkt findet.

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an dieser Zweitheilung wesentlich historische Faktoren betheiligt, ebenso so sehr als sachliche, in der Natur der Erkenntnis liegende. Diese Zweitheilung geht nicht übers Mittelalter hinaus, sie entsteht daher, dass das Mittelalter eine doppelte Überlieferung vor sich hat, die ihm in ihren beiden Zweigen Autorität ist, die Gedankenbildung der Antike, und die Gedankenbildung der Kirche. [40] Die Antike hat ein einiges letztes Wissen. Es ging aus von der Welt, in erster Linie von der Natur, der nach Außen gewandten Richtung des griechischen Lebens entsprechend, strebt aber durchaus umfassende Befriedigung sämtlicher Erkenntnisbedürfnisse an. Der Begriff: theologia ist der Antike keineswegs fremd, sie hat vielmehr Wort und Begriff gebildet. Durch Aristoteles geht er über in den wissenschaftlichen Gebrauch. Allein sie bildet nicht ein zweites andres neben der Philosophie, ist vielmehr für Aristoteles der letzte Abschnitt, die höchste Leistung seiner πρώτη ἐπιστήμη,175 seines Grundwissens. Ja mehr noch als Erkenntnisbedürfnisse will die antike Philosophie befriedigen, sie fasst sich zunehmend als die Wegweiserin zur Seligkeit, zur Eudaimonia176. Sie nimmt also eine direkt religiöse Haltung an, und bildet ein Surrogat für die zerfallende Volksreligion. Mit der Gründung der Kirche strömt eine ganz neue Begriffsreihe in die griechische Welt hinein, die in Israel erzeugte. sie geht nicht aus von der Welt, von der Natur, sondern vom Menschen, und zwar von seinem Innenleben, vom Lebensprozess, der sich in und an seiner Persönlichkeit vollzieht. Ihr Grundstock ist Geschichte. Und hier kommt es zunächst keineswegs zu einem Nebeneinander beider. Vielmehr gestaltet sich auch in der Kirche [41] eine einheitliche Wissenschaft. Origenes z.B. hat neben seiner Theologie, wie sie 175 Philosophie ist, in ihrem Zusammenhang mit rationaler Theologie, von Aristoteles als prote episteme, erste Wissenschaft begriffen worden. Aristoteles, Metaphysik XII, das in die Theologie mündet. Aristoteles, Metaphysik, Bd.  II, griechisch-deutsch, aufgrund der Bonitz‘schen Übersetzung hg. v. Horst Seidl, Hamburg 1984. 176 Glückseligkeit: Grund- und Zielbegriff der aristotelischen Ethik. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hg. v. Günter Bien, Hamburg 1985.

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in seinen ἀρχαί177 vorliegt, keinen Raum mehr für eine gesonderte Philosophie. Augustin gibt in der »Civitas Dei«178 ein geschlossenes Weltbild, das von der Schöpfung zur Vollendung reicht: Die Mittel zu solchem wissenschaftlichen Bau wurden nicht nur der Kirche und Schrift entnommen, sondern in sehr großem Umfang wird auch mit demjenigen Begriffsmaterial gearbeitet, das sich aus der antiken Philosophie herausgebildet hat, doch wird eine Einheit beider Elemente, wenn auch nicht erreicht, so doch angestrebt, und für das Bewußtsein jener Lehrer stellt sich ihr Erkennen nicht als ein gespaltenes, theils philosophisches theils theologisches dar, vielmehr als eine einige höchste Wissenschaft. So fand das Mittelalter in seiner rezeptiven, lernenden, wiederholenden Stellung dem Alterthum gegenüber, zwei Lehrmeister vor, dort der Philosophus Aristoteles,179 hier die alte Kirche und Theologie. Beide wollte man hören, jener gab Einblick in die Natur, diese deutete das menschliche Leben. So ordnete man sie nebeneinander, dort das Weltwissen, hier das Gotteswissen, dort die natürliche Erkenntnis, hier die Offenbarung.180 Und diese Zweiheit 177 Origenes (185–254 n.Chr.), einer der wichtigsten griechischen Kirchenväter. Das Werk von den ARCHAI ist zugänglich: Herwig Görgemanns/Heinrich Karpp (Hg., Übers.): Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien (=  Texte zur Forschung. Bd. 24), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1976. (Latein-Griechisch-Deutsch) 178 Aurelius Augustinus (354–230), De Civitate Dei, Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe, Wilhelm Thimme, München 2007. 179 In der mittelalterlich scholastischen Tradition war die Benennung von Aristoteles als »Philosophus« (der Philosoph) im Singular gängig. 180 Vgl. dazu Theo Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, insbes. 26–34. Vgl. dazu jetzt auch Werner Beierwaltes, Catena aurea, Frankfurt a.M. 2017 und grundsätzlich Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996. Die Nebeneinanderordnung ist noch für Luther leitend, demzufolge die »coram deo«, in den menschlichen Dingen, die Philosophie eine zu Rate zu ziehen sei, in den eigentlich wesentlichen Fragen aber die Gotteslehre selbst.

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blieb traditionell, auch als die Grenzbestimmungen zwischen beiden, welche das Mittelalter aufgestellt hatte, längst dahingesunken waren. Doch wo immer künftig, sei es auf der philosophischen oder auf der theologischen Linie, [42] forschend gearbeitet wird, sinkt die Zweiheit zusammen. Soll es neben Spinozas Spekulation noch eine Theologie geben? Hat Kant nicht das ganze Gebiet der Theologie durchmessen?181 Er erörtert ja nicht nur die Frage, wie fern es eine Wissenschaft von Gott gebe, sondern er erörtert auch die subjektive Seite an unserm Verhältnis zu Gott, die Religiosität. Er sagt uns, was Gebet sei, was Gottesdienst sei, was Kirche sei usf. Andrerseits ist bekannt, was Luther über Aristoteles urtheilte.182 Instruktiv in dieser Hinsicht sind auch diejenigen Erscheinungen, die man zusammenfasst unter dem Begriffe Theosophie. Wohin soll man sie stellen, zur Philosophie oder Theologie? Sie zeigen, dass, wo ein intensives und umfassendes Erkenntnisbedürfnis vorhanden ist, die Schranke zwischen beiden fällt. Allerdings ist eine relative Unterscheidung beider sehr wohl möglich. Unser Interesse kann vorwiegend auf die Erkenntnis der Welt oder vorwiegend auf die Kenntnis Gottes gerichtet sein. Die verschiedene Zielbestimmung wird den ganzen Gedankengang verschieden gestalten. Aber denken wir uns die beiden Bestrebungen am Ziel, so decken sie sich. Die Gotteserkenntnis, voll ausgedacht, schließt die Kenntnis der Werke Gottes der Welt in sich, und die Welterkenntnis, voll ausgedacht, schließt die Kenntnis des Weltgrundes, d.h. Gottes in sich. Die Scheidung ist nur eine praktisch begründete, sofern sie in der [43] Verschiedenheit der das 181 Dieser Eindruck könnte in der Tat erweckt werden und ist für die Theologiegeschichte der letzten zweihundert Jahre nicht unmaßgeblich. Vgl. dazu Georg Picht, Kants Religionsphilosophie, Stuttgart 1985. Demgegenüber steht Schlatters harsches Urteil, dass Kant jedwede Theologie unmöglich mache. Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 65–82 (s.o. Anm. 31). 182 Dazu im Blick auf den jungen Luther die magistrale Monographie Theodor Dieter, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historischsystematische Untersuchung zu dem Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin 1997.

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Denken leitenden Interessen wurzelt. Sachlich aber kann weder die Welt verstanden werden ohne Gott, noch Gott ohne die Welt, und am allerwenigsten verläuft formal der Erkenntnisprozess hier anders als dort. Eine und dieselbe Logik gilt für Theologie und Philosophie.

4. [Schleiermachers dogmatischer Ansatz] Auch Schleiermacher suchte für die Dogmatik ein bestimmtes Objekt, und zwar innerhalb der Erscheinungen des seelischen Lebens und dies darum, weil er für die Frömmigkeit eine Stelle im psychischen Prozesse suchte, die ihr eigen wäre. Es leitete ihn dabei die Voraussetzung, dass, wenn die Frömmigkeit keine psychische Sonderform besäße, sie als irreal erwiesen wäre. Das Unternehmen war, verglichen mit der frühern Theologie, eine vollständige Novität und ist nur begreifbar innerhalb des Nachkantianismus,183 dem Schleiermacher neben Fichte, Schelling, Hegel angehört, als ein sehr bedeutender Vertreter der mit der Weiterbildung Kants beschäftigten Spekulation.184 Die bisherige Betrachtung suchte das Unterscheidende zwischen frommen und unfrommen Akten nicht in ihrer psychologischen Form, sondern einfach in ihrem objektiven Inhalt, in ihrer Beziehung auf Gott. Colere deum, das ist religio. Aber nachdem sich dem Nachkantianismus das Ich als 183 Eine kompetente, auf der Komplexität der heutigen Forschung sich bewegende Darstellung liegt allenfalls vor bei Walter Jaeschke/Andreas Arndt: Die klassische deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München 2012. Vgl. auch die alte Untersuchung Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, EA: Hamburg 1924. 184 Die Rolle Schleiermachers innerhalb der nachkantischen Philosophie beleuchtet Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Berlin 1986. Vgl. auch den Band: Sven Grosse/Harald Seubert (Hg.), kontrovers, Leipzig 2018. Philosophiegeschichtlich nimmt Schleiermacher, sieht man von seinen ingeniösen Platon-Übersetzungen ab, in der nachkantischen Denkgeschichte eine eher randständige Rolle ein. Für die neuprotestantische Theologie ist sein Einfluss allerdings von einer überhaupt nicht zu ermessenden Bedeutung.

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produzierende Weltursache darstellte, schien sich auch für die Theologie die Aufgabe dahin zu formulieren, dass sie die Frömmigkeit als ein Produkt des Ichs begreife, nicht als ein Verhältnis zu etwas Objektivem, sondern [44] als ein aus dem Ich herauswachsendes Moment seines eignen geistigen Lebens. Nun können wir die Frömmigkeit nicht innerhalb der erkennenden Thätigkeit des Ich suchen, denn sie ist deutlich etwas vom Wissen Unterschiedenes, noch auch in der Sphäre des Wollens, denn auch diese ist bereits von einer andern Wissenschaft in Besitz genommen, nämlich von der Ethik. So sind wir auf die Sphäre des Gefühls gewiesen und hier sagt Schleiermacher, finden wir in der That ein eigenthümliches Phänomen: absolutes Abhängigkeitsgefühl. Das ist die Frömmigkeit. Damit ist der Gottesbegriff unmittelbar gegeben. Wir bedürfen, um ihn zu bilden, keines objektiven Faktors. Unser Abhängigkeitsgefühl ist der ganze Inhalt des Gottesbewusstseins. Gott ist das Woher des Abhängigkeitsgefühls, dessen Ursache. Aber wie bestimmt sich nun die Aufgabe der Dogmatik diesen Gefühlsereignissen gegenüber? Sch[leiermacher] definiert sie sehr charakteristisch als religiöse Sprachbildung. Das Gefühl sucht nach Ausdruck, es äußert sich im Wort, zunächst im rednerischen und dichterischen Wort, aber auf dieser Stufe ermangelt die religiöse Sprache der nöthigen Schärfe und Einheit. Die dichterischen Ausdrücke für unsern Gefühlsinhalt treten mit einander in Kollision, stören sich gegenseitig. Die religiösen Gefühle bedürfen eines wissenschaftlich durchgebildeten Ausdrucks, einer dialektisch scharf abgegrenzten und darum einheitlich zusammenstimmenden [45] Sprache. Und diese Darstellung des religiösen Gefühls zu geben, ist die Aufgabe der Dogmatik. Sie hat somit ein von aller Wissenschaft völlig unabhängiges unmittelbar gegebnes Objekt, darum auch ein völlig selbstständiges Ziel, sie steht auf sich selbst. Diese Stellung war historisch von eminentem Wert. Schl[ei­ ermacher] durchbrach die Identifikation des religiösen Lebens mit dem Erkennen.185 Hierin lag wesentlich die Krankheit der alten Or185 Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube Bd. I., Hg. Martin Redeker, Berlin 1960, 169–185. Zum Status des »Gefühls« zu Wissen oder Erkennen vgl. meinen Beitrag, in: Schleiermacher kontrovers,

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thodoxie, an der sie unterging, nicht sowohl in ihren mangelhaften Begriffsfassungen als in der Weise, wie sie ihre Begriffe werthete. Dogmatik und Religion, Dogmatik und Glaube deckten sich ihr, ein fundamentaler Irrthum. Der Rationalismus bildet in dieser Hinsicht nichts als das Zersetzungsprodukt des Orthodoxismus,186 seine Wahrheit preisgebend, seine Verirrung kultivierend. Ihm verzehrte sich vollends die religiöse Beziehung zu Gott in der Begriffsbildung. Dazu kam nun die mächtige Erregung des spekulativen Denkens durch Kant. Die Einsetzung des Ichs in die Stelle des Weltschöpfers, und die Funktion des Ichs, durch welche es weltschöpferisch wurde, konnte ja nichts andres sein als Denken. Das Denken ist der einzige Akt des Geistes, in dem [er] produktiv wird. Also entwickelt sich mit ganz Deutschland durchgreifender Macht der Lehre: die Welt ist Begriff, Idee. Darin lag, dass auch die Religion nichts andres sein konnte als eine Form der Idee, der Vorstellung. Mitten in diese Intellektualisierung der Frömmigkeit tritt Schleiermacher und verkündigt die Selbstständigkeit [46] des religiösen Lebens dem Erkennen gegenüber, als ein Andres, vom Denken Unabhängiges und Unangreifbares steht es in sich selbst gegründet da. Für viele war diese Botschaft ein erlösendes Evangelium. Aber die wissenschaftliche Formulierung, in die Sch[leiermacher] seinen Gedanken fasst, ist werthlos, Denn sie ist vollständig vom Nachkantianismus beherrscht. Den richtigen, tief wahren Gesichtspunkt, der ihn leitet, überspannt er sofort unter dem Druck des Nachkantianismus.187 Unsere Lebensbeziehung zu Gott aaO (s.o. Anm. 184). Das Gefühl ist, in der Nähe zur Frühromantik eine über-epistemische, der Begrifflichkeit nicht zugängliche Größe. 186 Vgl. dazu heute mit gründlichen Einzelstudien Ulrich Barth, Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004. 187 Schlatter formuliert in Übereinstimmung mit seinen Darstellungen in: Das Verhältnis von Theologie und Philosophie  I, 65–121 und der Schleiermacher-Darstellung in: Schlatter, Die philosophische Arbeit seit Cartesius, aaO 217–237 (s.o. Anm. 162) die Aporetik Schleiermachers dahingehend, dass sein Ansatz zu sehr von der Transzendentalphilosophie überformt worden sei. Dies trifft unstrittig

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ist nicht durch Denken geschaffen, ist eben Leben, eine reale Macht, im Leben Gottes und dem Leben unsres Geists begründet, darum in der That so wenig als irgend ein anderes Faktum zerstörbar durch Denken und Wissenschaft. Aber ergibt sich aus der Selbständigkeit des religiösen Lebens auch für die Dogmatik unbedingte Selbständigkeit? Dogmatik ist Wissen um unser Verhältnis zu Gott, und kann dieses Wissen sich schlechthin gleichgültig verhalten gegenüber unserm sonstigen Denken und Wissen? Die Folgen der Schleiermacherschen Stellung sind sehr charakteristisch. Nichts Geringeres ist die Folge als dies: dass Schleiermacher direkt und ausdrücklich versichert, dass der Dogmatik nicht der Werth des Wissens zukommt. Sie ist keine Wissenschaft, sie gibt uns keinerlei Erkenntnis irgend eines Objekts. Ihr Objekt ist ja allerdings ein realer Vorgang, das Gefühl, aber sie will dasselbe nicht begreifen, sondern äußern, ins Wort übersetzen. Ihr wissenschaftlicher Charakter ist lediglich formal und besteht einzig und allein [47] in der logischen Zusammenfügung ihrer Begriffe. Die Unabhängigkeit der Dogmatik wird doch nur erzielt um den Preis ihres Erkenntniswerths. Das ist der tief skeptische Zug in Schl[eiermacher], er ist der einzige unter den Nachkantianern, der diese Seite an Kant bewahrt hat, und er ist sich desselben voll bewusst.188 In drei Formen, sagt er, lässt sich jedes Gefühl ausdrücken: als Aussage über das Ich, über die Welt, über Gott.189 Es ist lediglich die traditionelle Form der Dogmatik, die uns bewegen kann, nicht beim ersten Ausdruck stehen zu bleiben und das Gefühl nicht nur zu beschreiben als Zustand des Ichs. An sich wäre die Aufgabe der für den starken Einfluss der Fichteschen Selbstbewusstseinstheorie zu. Welchen Gebrauch Schleiermacher von ihr machte und ob seine theologischen Konsequenzen zwingend sind, ist eine andere Frage. 188 Schleiermacher, Der christliche Glaube, aaO 125–169 (s.o. Anm. 185). Vgl. dazu auch die aus einer offenbarungstheologischen Sicht hervorgehende Schleiermacher-Deutung von Rudolf Hermann, Religionsphilosophie, hg. v. Heinrich Assel, Göttingen 1995 (= Gesammelte und nachgelassene Werke Bd. V), darin insbesondere 176–215: Kolleg Schleiermacher. 189 Dazu und zur Systematik des »Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit«, Schleiermacher, Der christliche Glaube, aaO 185ff. (s.o. Anm. 185).

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Dogmatik damit voll realisiert. Also Schl[eiermacher] denkt sich eine Dogmatik, die keinerlei Aussage über Gott enthält. Was wir suchen, Erkenntnis Gottes, Beantwortung der Frage, ob uns irgendwie an der Welt Gott offenbar sei, finden (wir) auf Sch[leiermachers] Wege jedenfalls nicht. Dabei ist weiter zu beachten: Schleiermacher hält seinen Standpunkt nicht fest und kann ihn nicht festhalten, sofern es ihm schlechthin unmöglich ist, die Dogmatik von seinen nachkantischen Philosophen abzulösen. Weit entfernt, dass sie unabhängig wäre, ist vielmehr jede Bestimmung innerlichst abhängig von Schleiermachers Philosophie. Und nicht als unbewusst wirkender Faktor greifen die philosophischen Begriffe hinüber in die Dogmatik, diese beginnt vielmehr offen und ausdrücklich mit Lehnsätzen aus der Philosophie, [48] und dies zu dem Zwecke, um das absolute Abhängigkeitsgefühl zu deduzieren. Dasselbe wird hergeleitet aus der Natur des Ich als der reinen Agilität.190 Aber gibt uns diese Deduktion denn nicht Wissen? und zwar ein Wissen um Gott? Denn mit dem Abhängigkeitsgefühl ist doch eine sehr bestimmte Prädizierung Gottes gegeben. Er ist erkannt als der, von dem ich abhängig bin und zwar absolut. Entweder bleibt es dabei, dass die Dogmatik kein Wissen ist, wozu beginnt sie dann mit Lehnsätzen aus der Wissenschaft, mit der Deduktion, die als strenge, ganze Wissenschaft auftritt?191 Oder wenn diese Deduktion wissenschaftlichen Werth hat, wie hat dann der auf diese Basis gelegte Oberbau keinerlei Erkenntniswerth? Überhaupt stehen wir ja mit dem Begriff Abhängigkeitsgefühl bereits mitten in der Erkenntnissphäre drin. Das Gefühl für sich allein sagt mir nichts von Abhängigkeit. Das Gefühl ist ein Eigenthümliches und so sein, ein Unbeschreibliches: es ist mir so! Sprechen wir von Abhängigkeitsgefühlen, so ist damit eine Deutung gegeben, und zwar nicht über 190 »Agilität«: In der zeitgenössischen Seelen-und Naturphilosophie geläufiger Begriff für »Tätigkeitstrieb«, Disposition zu freiem Handeln, in allgemeinerer Begriffsverwendung auch »vis vitalis«, Lebenskraft. 191 Schleiermacher, Der christliche Glaube, aaO 47–105 (s.o. Anm. 185). Schleiermacher bedient sich der »Lehnsätze« aus Religionsphilosophie und aus der Apologetik.

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den Inhalt, sondern über die Genesis des Gefühls.192 Ich reflektiere darauf: woher kommt mir dieser eigenthümliche Gefühlszustand, und führe ihn zurück auf meine wahrgenommene Abhängigkeit; und wenn nun dieser Begriff entfaltet wird, so ziehe ich eben die [49] Folgerungen aus einem erkannten Faktum meines Innenlebens, ich treibe Wissenschaft, und die Frage ist nur die: haben wir unsrer Wissenschaft die ganze mögliche Basis gegeben, gibt es nicht noch andre Phänomene, namentlich in der Außenwelt, die auf Gott hinweisen? Der Verzicht der Theologie auf die gesamte Außenwelt und die Beschränkung derselben auf Bewußtseinsvorgänge ließe sich allerdings rechtfertigen, wenn wirklich die religiösen Phänomene eine gesonderte Gruppe von Ereignissen im Seelenleben bildeten. Allein die Bemühungen, eine psychologische Sonderform der Religion zu entdecken, sind als vergeblich zu betrachten. Unsre Religiosität vollzieht sich in denselben psychologischen Prozessen, wie alles übrige Leben, durch das ganz gewöhnliche Denken, Fühlen, Wollen, und die konstante innige Wechselwirkung zwischen beiden. Schl[eiermachers] Abhängigkeitsgefühl ist etwas Irreales. Er selbst erklärt uns, dass es sich in keinem einzelnen Moment unsres Lebens finde, da wir uns in jedem konkreten Moment nur relativ abhängig fühlen. Aber was ist denn ein Gefühl, das in keinem wirklichen Moment in unserm Bewusstsein ist?193 Antwort: eine Abstraktion. Schl[eiermacher] fasst die vielen relativen Abhängigkeitsgefühle zu192 Das »Gefühl« ist bei Schleiermacher ein in der Systematik über der epistemischen, unterscheidenden Vernunft rangierender Komplex von Selbstbewusstseinstheorie und Psychologie, der zugleich umfassend, all-menschlich und in höchstem Maß individuell ist. In dieser Doppelstruktur rangiert das »Gefühl« als Folgebegriff der Gefühlsreligion, die in den »Reden über die Religion« (1799) entwickelt wird. Dazu Ulrich Barth, Der Letztbegründungsgang der »Dialektik«. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus. Tübingen 2004, 353–389. Siehe auch Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, aaO 240ff. (s.o. Anm. 184). 193 Damit benennt Schlatter sehr treffend den transzendenten, in einem Schwebezustand liegenden Ansatz des Gefühls nach Schleiermacher.

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sammen in dem Allgemeinbegriff: Abhängigkeitsgefühl. Dieser Allgemeinbegriff enthält [50] nun nichts mehr von der Beschränkung der Abhängigkeit, davon wurde eben abstrahiert, er spricht nur noch von Abhängigkeit, also von absoluter Abhängigkeit. Allein wir haben nichts in der Hand als eine logische Größe, eine ideelle Zusammenfassung der vielen Abhängigkeitsgefühle relativer Art, und dieser Allgemeinbegriff wird als Hypostase194 gedacht, der nachkantischen Philosophie entsprechend. Darin liegt das proton pseudos195 des ganzen Systems. Es ist auch nicht schwer einzusehen, warum die Frömmigkeit nicht ein psychologisch gesondertes Ereignis ist: sie träte damit in die Stufe des Naturprozesses. Und diesen Charakter hat Schleiermachers Frömmigkeit durchaus, er hat in dieser Richtung die Konsequenzen mit großem Ernst und Klarheit gezogen. Die Frömmigkeit ist stets vorhanden, und zwar als eine selbige, mit sich identische. Natürlich: ein aus dem Wesen des Ich folgendes Gefühl muss permanent in die Erscheinung treten. Unser Verband mit Gott ist aber nicht naturhafter Art, sondern durch und durch ethisch bestimmt d.h. unser Wille stiftet unsern Verband mit Gott. Die auf Schleiermacher von den Spätern in vielerlei Formen aufgebaute Bewusstseinstheologie ist insofern reicher als Schleiermachers Dogmatik,196 als sie den christlichen Gedankenkreis umfassender aufnahm, aber ärmer als Schleiermacher, insofern als sie eben damit verzichtete auf die feste einheitliche Durchführung [51] ihres 194 Hypostase ist seit Kant der Ausdruck für eine unstatthafte Objektivierung und Verdinglichung. Schlatter kritisiert die Tendenz zu Hypostasen als Problem der gesamten nachkantischen Philosophie. 195 Proton pseudos, in der aristotelischen Logik die »erste Lüge«, also eine falsche Prämisse, aus der dann weiter gefolgert wird. Es ist zu erwarten, dass aus einem proton pseudos weitere Fehler hervorgehen, auch wenn im weiteren Verlauf korrekt geschlussfolgert wird. 196 Einen Überblick über die verschiedenen Formen dieser Bewusstseinstheologie gibt Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, aaO 25ff. (s.o. Anm. 159). Siehe auch Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II, Tübingen 1997.

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Prinzips ohne dass doch der Defekt des Schl[eiermacherschen] Denkens gründlich überwunden wird. Wird die Dogmatik beschrieben als Darlegung des christlichen Bewusstseins, so hat sie damit nicht Erkenntniswerth gewonnen, sie sinkt herab zum Bekenntnis, durch welches der Dogmatiker den Inhalt seines Bewusstseins uns expliciert, aber was hilft uns das wissenschaftlich, wenn dieser Bewusstseinsinhalt lediglich als Faktum hingestellt wird. Zweifellos ist der Inhalt unsres Bewusstseins ein sehr wesentliches Moment der Theologie, aber die Aufgabe ihm gegenüber bestimmt sich dahin, seinen Zusammenhang mit den objektiven Momenten ins Auge zu fassen, vor allem mit Gott.

5. Der Biblizismus Eine weitverbreitete Definition der theologischen Aufgabe gibt ihr ihr Objekt im Schriftinhalt. Die Dogmatik ist die systematische Reproduktion der Schriftbegriffe. Die altkirchliche Dogmatik ist stark beeinflusst durch diesen Gedanken. Sie will ihrer Ansicht nach in den einzelnen Loci nichts andres leisten als Reproduktion dessen, was die Bibel über diesen Gegenstand sagt. Aber auch unter den Neuern ist dieser Gedanke energisch vertreten, z.B. von Beck.197 Dieser Standpunkt hat um vieles mehr Wahrheit und Fruchtbarkeit als der 197 Johann Tobias Beck (1804–1878) wirkte maßgeblich im württembergischen Umkreis als positiver Theologe, Prediger und Autor von Postillen. Er hatte starken Einfluss auf die Heiligungsbewegung und auf ein positives Schriftverständnis. Auch für Schlatter war Beck, ungeachtet seines ungeschichtlichen Ansatzes, ein wichtiger Gewährsmann, vor allem hinsichtlich seiner persönlichen theologischen Entwicklung in Bezug auf die Einheit und Ganzheit der Schrift; wiewohl er die Grenze des »Biblicismus« klar benennt. Vgl. W. Neuer, Adolf Schlatter, aaO 66–77 (s.o. Anm. 147). Als erste Einführung in Becks Theologie vgl. H. Burkhardt, Johann Tobias Beck, der Bibeltheologe, in: D.A. Bloedt u.a. (Hg.), Uracher Köpfe, Uracher Geschichtsblätter Bd. 2, 2009, 33–40.

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scholastische.198 Es könnte ja scheinen, er werde vom selben Einwand getroffen wie dieser, auch hier trete ein Medium zwischen das erkennende Subjekt und das zu erkennende Objekt, nämlich Gott. [52] Statt unser Erkennen auf Gott zu richten, lenkten wir es wiederum ab auf die Gedanken der Propheten und Apostel über Gott. Allein unsre Stellung zu Propheten und Aposteln ist eine wesentlich andre als zu den Lehrern der Kirche. Mit den Letztern stehen wir in voller Koordination, sofern der Realbestand ihres Verhältnisses zu Gott kein andrer ist als der des unsrigen. Wir stehen im selben Verhältnis zu Gott wie sie, die Mittel, mit denen sie arbeiteten, sind dieselben, mit denen auch wir arbeiten können. Anders Apostel und Propheten. Sie stehen vor uns als Träger eines göttlichen Worts an uns.199 Wir stehen hier nicht nur vor einer menschlichen Thätigkeit, die das göttliche Wirken sucht und wahrzunehmen strebt, sondern vor einem Akt Gottes, der seine Erkenntnis in der Welt durch den Dienst der Propheten und Apostel begründet. Es besitzen darum das Schriftwort, die Schriftgedanken voll und ganz Würde und Werth eines Objekts der Theologie. Aber die Aufgabe ihm gegenüber besteht nicht nur darin, dass wir die Schriftgedanken reproduzieren, damit haben wir doch immer nur ein historisches Wissen, sie sollen uns nach ihrer Wahrheit erkennbar werden. Und wie geschieht dies? Durch Vergleichung des Schriftinhalts mit der außer derselben uns vor Augen liegenden Realität. Wie sollen wir dessen gewiss werden, dass das in der Schrift gezeichnete Bild vom Menschen wahr ist? Eben dadurch, dass wir [53] den Menschen, wie er faktisch leibt und lebt, neben dasselbe stellen und so die Kongruenz beider wahrnehmen. Dasselbe gilt

198 Auch hier wird wieder der abwertende und pauschale Begriff von »scholastisch« deutlich, den Schlatter gebraucht. In diesem Sinn kann er auch in diesem Kontext die »nachkantische Philosophie« insgesamt als »scholastisch« verstehen. 199 Vgl. zu dieser untrennbaren und singulären Verbindung von Gottes- und Menschenwort bei den Aposteln Schlatter, Das christliche Dogma, aaO 358–364 (s.o. Anm. 43).

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vom Gottesbild der Schrift.200 Die Frage: was ist das Gottesbild der Schrift? ist noch nicht beantwortet, wenn wir lediglich die Schriftaussagen zusammenstellen, sie ist erst beantwortet, wenn sich uns an der Schriftaussage die uns vor Augen liegende Realität aufschließt als mit jener übereinstimmend. Zu dieser vergleichenden Arbeit treibt das Schriftwort selbst konstant. Es setzt eine ihm vorgängige Gotteserfahrung voraus, an die es anknüpft, u[nd] es spricht von einem dasselbe begleitenden Gotteswirken, die es realisiert. So gewiss sich die Schrift nicht als das einzige Werk Gottes gibt, als den einzigen Punkt, auf dem uns Gott offenbar wird, so gewiss ist nicht sie allein Objekt der Theologie. Der Biblizismus ist auch faktisch stets über die Schrift hinausgegangen, theils unwillkürlich unbewusst, sofern er bei der Reproduktion des Schriftgedankens konstant das Gegebene im Auge behielt. Niemals ist die biblische Anthropologie dargestellt worden ohne beständige Reflexion darauf, was der Mensch empirisch ist. Sodann aber auch bewusst und absichtlich, indem sie einen Schriftbeweis zu führen sich veranlasst sah. Der Biblizismus stellt nun aber diesen Schriftbeweis an den Anfang der ganzen Theologie, als das Erste, was gewonnen werden muss, und er formuliert diesen Beweis [54] so summarisch als möglich. Die altkirchliche Dogmatik verwies auf das Zeugnis des heiligen Geistes d.h. auf die Thatsache, dass die Schrift am Subjekt in innerer Kraftwirkung als aus Gott stammend sich legitimirt. Da erhalten wir also ein empirisches Faktum, einen immer neu sich wiederholenden Vorgang, an dem die Schrift sich bewährt. Eine vor der Schrift vorhandene und nicht durch sie entstehende Gotteserkenntnis wird damit vorausgesetzt,201 denn diese Erfahrung setzt einen reichen Einblick in Gottes Wesen voraus. Der Begriff: heiliger Geist ist doch wahrlich nicht elementarer Art, son200 Neben Beck hat Schlatter hier auch August Tholuck (1799–1877), den großen Halleschen positiven Schrifttheologen und Gegner des neologischen Rationalismus vor Augen. 201 Die Passage »Eine vor der Schrift vorhandene und nicht durch sie entstehende Gotteserkenntnis wird damit vorausgesetzt« ist im Originalmanuskript an den Rand gesetzt und durchgestrichen.

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dern hat eine reiche Theologie in sich. Aber die Frage ist auch hier: ist die empirische Basis, welche der Theologie damit gegeben wird, nicht zu schmal? An diese eine Erfahrung wird nun der ganze Schriftinhalt angeschlossen, aber die Brücke, die von jener zu diesem führt, ist doch nur der Begriff: Autorität.202 Jener summarische Beweis konstatiert die Autorität der Schrift und damit ist nun ihr gesamter Inhalt als Wahrheit legitimiert. Die Anziehung der Autorität aber verlegt die Aneignung des Schriftinhalts aus dem Bereich des Erkennens in den des Wollens. Mit einem Willensakt der Unterwerfung des Gehorsams unter die Schrift nehmen wir so ihren Inhalt an, aber das Erkennen ist damit nicht gesättigt und befriedigt. Was nur um der Autorität der Schrift Willen in unser Denken aufgenommen ist, ist eben deshalb, solange diese Aufnahme nur durch Autorität begründet ist, [55] nicht erkannt. Auf die Begründung des Schriftinhalts durch die Schriftautorität haben wir zu verzichten. Der Autoritätsbegriff bezieht sich auf das Verhältnis der Schrift zu unserm Willen, nicht aber auf das Erkennen. Eben darum können wir das Wirken Gottes außerhalb der Schrift nicht nur auf dem einen Punkt berücksichtigen, den die alte Dogmatik einzig ins Auge fasste, mit der Lehre vom Test[imonium] spirit[us] [zu ergänzen: sancti internum].203 Zusammenschluss der Schrift mit der übrigen göttlichen Bezeugung, so dass aus jener diese und aus dieser jene hell wird und gewiss, Achtsamkeit auf das ganze Gotteszeugnis in und außer der Schrift, so bestimmt sich für uns die theologische Funktion. 202 Gerade im Blick auf Begründungsversuche der ungebrochenen Schriftautorität durch die »Inspiriertheit« der Heiligen Schrift in der heutigen evangelikalen Theologie kann diesen Überlegungen Schlatters große Bedeutung zukommen. Vgl. dazu Schlatter, Das christliche Dogma, aaO 372–375 (s.o. Anm. 43). 203 Genauer: Testimonium spiritus sancti internum. Das innere »Zeugnis des Heiligen Geistes«, bedeutsam vor allem bei Johannes Calvin, Institutio I. 7. Es spielt auch sonst in der reformierten Tradition eine große Rolle und besagt, dass die Autorität der Heiligen Schrift als Gottes Wort unabhängig von der kirchlichen Tradition durch den Heiligen Geist vermittelt wird.

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§ 7 Glaube und Erkenntnis Im Glaubensbegriff scheint das Christenthum ein Äquivalent zu bieten für das Erkennen. Wenigstens hat die Kirche schon längst den Glauben so aufgefasst, als eine Form des Wissens und daher unzählige Betrachtungen angestellt über das Verhältnis dieser beiden Wissensformen zu einander, über ihren Unterschied, über das Recht des Glaubens neben dem Wissen, über die schließliche Einheit beider. Schon die alte Kirche bietet Erörterungen über Glauben und Erkennen,204 so z.B. Augustin in seiner Abhandlung über den Nutzen des Glaubens (de utilitate credendi)205 und zwar wird dabei der Glaubensbegriff vollständig intellektualisiert, er wird ausschließlich als Denkakt gefasst, und der Unterschied desselben vom Erkennen einzig darin gesucht, dass dieser Denkakt auf Autorität hin erfolgt, [56] während das Erkennen den Einblick in die Wahrheit des denkend aufgenommenen Gegenstandes gewährt. Daher kann auch Augustin den Glauben nur bedingter Weise dem Erkennen überordnen, mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten des Erkennens, auf die Möglichkeit des Irrthums an sich ist das Erkennen das Höhere und mit seinem Dasein fällt die Glaubensnothwendigkeit

204 Dies ist sehr nahe an dem reformatorischen, insbesondere Lutherischen Glaubensbegriff, so wie ihn R.  Slenczka rekonstruiert: »[…]  wenn Glaube Gottes Tat ist, dann ist Unglaube Gottes Gericht, beides aber ist Gottes Walten und nicht bloß menschliche Entscheidung«, Reinhard Slenczka, Glaube VI. Reformation/Neuzeit/ Systematisch-theologisch, in: TRE 13, 349f. 205 Ausgabe Fontes Christiani Series 1, hg. v. Norbert Brox und Wilhelm Geerlings, München/Freiburg i.Br. 1992.

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dahin. Noch schärfer sprechen die Alexandriner206 diese Gleichartigkeit des Glaubens mit dem Erkennen und der daraus folgenden Unterordnung des Glaubens unter das Erkennen aus. Dieser intellektualisierte Glaubensbegriff geht durch das ganze Mittelalter durch und erfährt erst durch die Reformation eine allerdings nun sehr wesentliche Umwandlung. Es ist ein Hauptmoment an der Reformation, dass ihr der Glaubensbegriff aus seiner intellektualisierten Versteinerung erwachte, dass sie den Glauben wieder als eine das Innerste der Persönlichkeit in ihrem tiefsten Wollen erfassende Hingabe des Menschen gegenüber Gott, seiner Wahrheit, und seiner Gabe fasst. Und doch hat auch die reformatorische Erneuerung der Glaubenspredigt die traditionelle Verkehrung des Glaubensbegriffs nicht überwunden. Auch im Protestantismus sinkt der Glaube wieder herab zur Zustimmung zur Kirchenlehre, so geht denn der Streit um Glauben und Wissen bis auf unsre Tage fort, höchst unfruchtbar und voll [57] von Konfusionen.207 Zur Beurtheilung der Frage ist es unumgänglich, auf den originalen Glaubensbegriff zurückzugehn, wie er in der Schrift ausgeprägt ist. Zunächst ist die Thatsache instruktiv, dass innerhalb der Schrift Erkenntnis und Glaube neben einander betont werden. Das Johannes Ev[angelium] fasst die ganze Heilsbedingung sehr energisch in den Glaubensbegriff, aber daneben steht das γνωστὸν τοῦ θεοῦ208 griech durch den 206 Alexandriner: Jene Theologen der frühen Kirche, die am schon durch die Bibliothek begünstigten zentralen Standort Alexandria wirkten und sich um die Integration von Hellenismus, Platonismus und christlicher Offenbarung bemühten. Vor allem Clemens von Alexandrien (150–215 n. Chr.) und Origenes (185–254 n.Chr.), in dessen Zeit in Alexandria, gelten als wichtige Vertreter. 207 Fraglich scheint uns, ob damit die Unterscheidung von »fides qua creditur« und »fides quae creditur« in der Rezeption der Reformation von Schlatter angemessen widergespiegelt wird. Sie ist durchaus geeignet, die existenziell assertorische neben der propositionalen Glaubenssicht zu thematisieren. Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 32007, 256ff. 208 Vgl. dazu neben Konkordanzen und Kommentaren Martin Hengel,

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Glaubensbegriff in seinem Werth völlig ungeschmälert. Und wir finden die merkwürdige Gleichung: Gott kennen ist ewiges Leben [Joh] 17,3. so fällt auch bei Paulus durch die Glaubenspredigt der Begriff γνωστὸν τοῦ θεοῦ keineswegs dahin.209 Und zwar besteht kein Bedürfnis, eine Vermittlung zwischen beiden zu suchen. Es wird von der Erkenntnis Gottes und wiederum vom Glauben an Gott gesprochen, ohne dass irgendwie eine Erörterung gegeben würde über das Verhältnis beider. Dies zeigt, dass Glaube und Erkenntnis für die Schriftgedanken nicht nur zwei Formen und Stufen einer und derselben Thätigkeit sind, so dass der Glaube eine abgekürzte unvollständige Form des Wissens wäre, sie stehen nebeneinander als verschiedne Funktionen, die nicht kollidieren, in voller Selbständigkeit. Dies beruht darin, dass der Glaubensbegriff der Schrift nicht nur ein intellektuelles, sondern ein umfassendes persönliches Verhältnis, also wesentlich ein Willensverhältnis, in sich fasst zu dem, dem man glaubt. Der Glaubensbegriff [58] geht auf ‫ ןמא‬und ‫ תמא‬zurück, also auf Begriffe, die den Treuverband zwischen Mensch und Mensch ausdrücken.210 Derselbe gestaltet sich nun zweiseitig. Das eine Glied im Verband ist leistend, helfend, gebend, das andre empfangend, der Hülfe und Gabe des andern vertrauend. Daher spaltet sich der Begriff in den der Treue, die in der Hülfs- und Gebenswilligkeit fest bleibt, und in den des Glaubens, der auf die Hülfe und Gabe des andern sich verlässt in festem Anschluss an die Person des Helfers. Indem nun Christus den Menschen gegeben ist als Heiland zu göttlicher Hülfe als Geber göttlicher Gaben, gestaltet sich das Verhältnis des Menschen zu ihm, wie es normal ist, als Glaube; und zwar fällt nun Christus gegenüber Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch. Mit einem Beitrag zur Apokalypse von Jörg Frey, Tübingen 1991. 209 Bezogen auf Paulus wäre hier wiederum zentral an Römer 1 zu denken. Dazu Paul Althaus, Der Brief an die Römer, Göttingen 101966, S. 5ff. 210 Zur Bundestreue vgl. paradigmatisch Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments. Bd. I, Berlin 1965, pass.

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auf den Glauben darum aller Nachdruck, weil die Gebenswilligkeit in der Schrankenlosigkeit seiner Liebe keine andre Bedingung stellt als lediglich die der bittenden Zuversicht zu ihm, und weil andrerseits die Einhüllung der Erscheinung Christi und seines Werks in die Niedrigkeit menschlicher Ohnmacht eine auf ihn gerichtete Erwartung nur dann entstehen und bestehen lässt, wenn seiner Person Vertrauen entgegengebracht wird. Der Verband mit ihm wird, weil er sich behaupten muss über die von der unmittelbaren Wahrnehmung gegebnen Gegeninstanzen hinweg, recht eigentlich ein [59] Glaubensverband. Dadurch tritt nun allerdings schon der originale Glaubensbegriff in eine gewisse gegensätzliche Beziehung zum Erkennen, aber nicht zum Erkennen überhaupt nach seinem Ziel und Gesamtumfang, sondern speziell zum Sehen. Sehen und Glauben,211 das ist eine Schriftantithese, aber nicht Erkennen und Glauben. Und zwar ist das Seh[e]n darum des Glaubens Gegensatz, weil es die unmittelbare Wahrnehmung der göttlichen Güter und Werthe ist, während der als Glaube benannte Vertrauensakt gerade dadurch nothwendig wird, das diese unmittelbare Empirie fehlt. Das schließt aber nicht aus, das dennoch Momente bereits gegenwärtig sind, die, ob auch nicht ein Sehen doch ein Erkennen möglich machen, ohne dass dadurch der Glaube irgendwie gestört und in seinem Werth in seiner Nothwendigkeit gemindert würde. Summieren wir: Derjenige Glaube, von dem die Schrift spricht, verhält sich zur Erkenntnis wie das Ganze zum Theil. Glaube nennt unser ganzes Verhältnis zu Gott, wie es sich gestaltet gegenüber dem hülfebringenden Christus. Als ein Ganzes persönlicher Zuwendung zum helfenden Gott hat der Glaube darum Erkenntnis in sich und vor sich. Er kann nicht entstehen ohne vorangegangene Einsicht, das Gott uns in Christo Hülfe bringt. Ein schlechthin Unbekanntes ist nicht Gegenstand unsres Vertrauens. Dem uns offenbar und kenntlich gewordnen Gott [60] gegenüber entspringt erst die Glaubenspflicht. Dieser den Glauben tragende Erkenntnisakt ist nicht 211 Vgl. etwa 1Kor 13,12 und Heb 11,2. Die Stellen wären fast beliebig zu vermehren.

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selbst schon der Glaube im originalen Sinn des Worts. Credere deum, das ist nicht Glaube, und ein unnötiges. Credere deo das ist Glaube und das Errettende. Das credere deum ist vielmehr zu ersetzen durch cognoscere deum,212 das nun seinerseits das credere deo nicht aufhebt. Im Gegentheil hat alle Gotteserkenntnis darin ihren Zweck und allein ihren Werth, wenn sie zum festen vertrauenden Anschluß der Person an Gott wird, also im credere deo endigt. Andrerseits bedingt der Glaube als das Ganze unsres Verbands mit Gott, dass durch ihn auch das Erkennen gefördert und bereichert wird. Auch das alte: credo ut intelligam213 hat seine Wahrheit, ebenso wie die entgegengesetzte Verbindung: intelligo ut credam. Unser Erkenntnisleben ist vom Willen in hohem Grade abhängig, Die vertrauende Willensstellung zu Gott, wie sie der Glaube in sich schließt, ist eben darum für unser Erkennen höchst werthvoll, sofern der Glaube die Aufmerksamkeit auf Gott und sein Werk schärft. Der Glaube begehrt Gottes, und das auf ihn gerichtete Begehren lehrt ihn suchen, leitet dazu ihn zu finden.214 Aber mehr noch, der Glaube begründet ein neues und reicheres Verhältnis zu Gott, das hinausgreift über den Naturverband, bewusste Gottesgemeinschaft wird, und das Entstehen und Wachsen derselben führt unserm Erkennen neuen Inhalt, neue Erfahrung und Offenbarung zu. So ist das Verhältnis ein doppelseitiges, der Glaube vom Erkennen ebenso abhängig wie das Erkennen vom Glauben, eben darum, 212 Credere deum bedeutet das Fürwahrhalten der Existenz Gottes, in diesem Sinn den propositionalen Glauben, dagegen credere in deum das existenzielle Ineinandergreifen von Glaube, Liebe und Hoffnung bezeichnet. Vgl. etwa Augustinus, Sermo 144. 2.2., PL 28,783. Vgl. dazu Chr. Mohrmann: Credere in Deum: Melanges Joseph de Ghellinck 1, Gembloux 1951, 277–285. Henri de Lubac: Credo, Einsiedeln 1975, 95–111, 132–156. 213 Damit gibt Schlatter den originären Wortlaut des Begründungs- und Erkenntnisprogramms von Anselm von Canterbury an. 214 An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob Schlatter nicht einen reformatorischen Glaubensbegriff wiedergibt. An diesem Punkt gibt Schlatter den reformatorischen Glaubensbegriff wieder.

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weil der Glaube das Ganze unsrer Beziehung zu Gott benennt, das Ganze und der Theil als Theil215 bedingen sich aber gegenseitig und stehen in Wechselbeziehung. Darum lässt sich auch das Erkennen heraussondern für die Betrachtung und selbstständig darstellen, ohne dass irgendwie der Glaubensbegriff dadurch verkürzt werden könnte. Ein Gegensatz zwischen Erkennen und Glauben ist nur dann möglich, wenn entweder das Erkennen in Irrthum sich verirrt, also nicht Erkennen ist, oder die Herzensstellung zu Gott eine unsittliche ist, die Wahrheit zwar erkannt, aber unterdrückt wird in Ungerechtigkeit,216 d.h. wenn eben nicht Glaube, sondern Unglaube vorhanden ist. [61]

215 Am linken Rand von unten nach oben gesetzt. Die Teil-GanzesBeziehung, der Merismos, ist Schlatter aus seiner Kenntnis der klassischen Metaphysik seit Aristoteles geläufig. Dies spiegelt sich in seiner Metaphysik, aaO (s.o. Anm. 33) passim. 216 Ebenso.

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§ 8 Das Zeugnis Gottes in der Natur Auch die Schrift weist uns auf die Natur als auf das grundlegende Gotteszeugnis. Wenn Hiob den Versuch macht, das Walten Gottes im Menschenleben zu begreifen, so wird ihm die Natur entgegengehalten als dasjenige Objekt, an welchem er seine Fähigkeit, Gott zu erkennen, zu allererst zu betätigen hat. Wenn er Gott nicht einmal in der Natur fasst, wie viel weniger dann anderswo (Hi 37ff.). Paulus bezeichnet das γνωστὸν τοῦ θεοῦ dem Menschen als φανερόν,217 und dies durch die Natur (Röm 1,19.20).218 Sie ist auch dasjenige, was zunächst unsern Vorstellungsinhalt bildet. Alle unsre Vorstellungen und Worte haben eine sinnliche Basis, einen Naturinhalt. Böte uns die Natur kein Gotteszeugnis, so wäre Dasein und Erkennbarkeit Gottes eben hiedurch ernstlich in Frage gestellt.

a) Die Natur als Manifestation der Kraft Das einfachste Moment im Gottesbegriff ist das der Kraft. Ohne Kraft kein Gott. Wir denken ihn als den Mächtigen. Wo erfahren und erleben wir Kräfte? Zu aller nächst an der Natur, und zwar von unserem Ich unabhängige Kräfte, Kräfte von enormen Maßen. Als Besitzer dieser Kräfte stellen sich zunächst die Einzeldinge dar. Als Spender des Lichts erscheint zunächst die Sonne, als Produzent der nährenden Frucht das Gewächs. Und an diese Einzeldinge sehen 217 Griech.: Das Sichtbare, Manifeste. 218 Damit ist das Kernstück der sogenannten revelatio generalis oder, mit Paul Althaus, der »Uroffenbarung«, benannt, für die insbesondere Röm 1 einschlägig ist.

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wir auch vielfach göttliche Verehrung sich heften. Aber alle diese Einzeldinge, so mächtige Kraftzentren sie sein mögen, sind selbst wieder eingefügt in einen großen Weltzusammenhang, gebunden in eine reale Einheit der Welt, von [62] der sie ihrerseits abhängig sind. sie geben nicht nur Wirkungen, sie empfangen solche ebenso wohl und zwar unweigerlich. Die Natur bietet uns das Phänomen der Wechselwirkung zwischen den Dingen und zwar nicht nur auf einzelnen Punkten, sondern diese Wechselwirkung ist ein durchgreifendes, das alles Seiende umfasst und jedes an jedes bindet. Darin liegt ein Mysterium, das stets als solches empfunden worden ist. Die Weise, wie die dasselbe benennende Frage formulirt wurde, hängt vom Grade der Naturerkenntnis ab. Je feiner unser Naturbild ist, um so feiner [und] eindringender wird die Frage formuliert, die nach dem Bande forscht, das die Dinge an einander hält und aus den vielen Seienden und aus der Fülle der Kräfte und Wirkungen eine Welt bildet. Inhaltlich aber bleibt die Frage stets dieselbe. Es ist dieselbe Frage, wenn Hiob nach den Winden des Meers fragt,219 in denen es eingewickelt ist, so dass es nicht hinüberläuft über die Erde, oder nach dem Bande der Plejaden,220 das 7 Sterne zusammenhält, dass sie nie aus einander laufen oder nach dem Kanal, durch den der Regen herabfließt auf die Erde. Oder wenn 221 fragt: Warum hängen eigentlich die Körperchen, aus denen er die Welt zusammensetzt, aneinander? Sie müssen Ecken und Spitzen und Hörnchen haben, sonst könnten sie nicht aneinander festhängen 219 Hi 38,9. 220 Das Siebengestirn, das schon in der Antike bekannt und aufgrund seiner Göttlichkeit besonders hervorgehoben wird. Die einzelnen der Siebensterne sind in der Mythologie mit Göttern assoziiert. Hier Bezug auf Hi 38,31. 221 Demokrit von Abdera (460–371 v.Chr.) ist einer der Hauptvertreter des antiken Atomismus und Materialismus. Er bestreitet die Existenz eines eigenständigen geistigen Prinzips, wie des Nous, das Anaxagoras eingeführt hatte. Deshalb stellt sich die Frage der Beschaffenheit der Atome, die sich nur ihrer Form nach unterscheiden, aber so konstituiert sein müssen, dass sie einen Zusammenhang bilden.

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und das Ganze bliebe ein Staubhaufen, der in die 4 Winde zerstiebt oder wenn Leibniz222 frägt: Haben denn die Monaden Fenster? Unmöglich. Wie soll in das Innere der Dinge von außen etwas hineinfliegen. [63] Oder wenn unsre moderne Physik sagt, die Dinge ziehen aneinander. Überall ist es dasselbe Mysterium der Natur, auf das die Aufmerksamkeit sich hier richtet: die über die Einzeldinge übergreifende Kraft, welche sie zusammenschließt als Theil eines Ganzen. Das Mysterium der Wechselwirkung ist namentlich auf einem Punkt der Wissenschaft fühlbar und eindrücklich geworden, im Verhältnis von Seele und Leib. Die Heterogenität beider verschärft hier das Problem, doch nicht eigentlich das Problem selbst, sondern nur die Aufmerksamkeit auf dasselbe, das Bewusstsein um dasselbe. Es liegt eine Täuschung darin, wenn es uns scheint, als sei die Wechselwirkung zwischen zwei materiellen Dingen weniger verwunderlich, durchsichtiger als die zwischen Seele und Leib. Im Gegentheil denken wir uns zwei materielle Klümpchen,223 so wird die Sache erst recht mysteriös. Wo haben sie denn die Seele, durch welche eins das andre an sich zieht, die Arme, mit denen eines hinüberreicht zum andern, ja nicht nur hineinreicht ins andre? Und wie merken sie denn, dass das andre sie zieht. Was haben sie für ein Sensorium für die Hinneigung der andern Dinge zu ihm und was bewegt sie, dieser Zuneigung zu gehorchen? sich ziehen zu lassen? Unsre Wissenschaft hat die konstante Neigung: was als Mysterium auftritt, einfach zu leugnen. So ist auch die Wechselwirkung [64] geleugnet worden, so von den Eleaten,224 die frischweg sagten: es 222 Leibniz’ Metaphysik beruhte auf der Annahme, dass Substanzen als in sich ruhende fensterlose Monaden verfasst sind, die einander spiegeln und ihrerseits Spiegelungen der Zentralmonas sind. Vgl. hierzu Hubertus Busche: Leibniz‘ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Meiner, Hamburg 1997; Heinz Heimsoeth, Atom, Seele, Monade. Historische Hintergründe und Hintergründe von Kants Antinomie der Teilung, Wiesbaden 1960. 223 Helvetismus. 224 Die Philosophenschule aus Elea in Süditalien, die wohl um 587 v.Chr. von Xenophanes begründet wurde. Melissos, Zenon, vor allem

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gibt nicht viele Dinge, es kann sie nicht geben, es gibt nur eins. Spinoza 225 leugnet sie wenigstens für Leib und Seele. Leibniz226 und Herbart227 haben sie wieder ganz bestritten. Allein durch Negationen, welche den Thatbestand der Wahrnehmung durchstreichen und aufheben, gewinnen wir niemals Erkenntnis, sondern verrennen uns lediglich in eine Sackgasse, die sich in den Widersprüchen, in welche sich unser Denken verstrickt und zerreibt, als Irrweg kundgibt. Es ist nur ein doppeltes Verhalten rational. Entweder sagen wir: Wir anerkennen das Faktum und verzichten auf jeden Erklärungsversuch. Die Kräfte greifen von einem Seienden über auf alles andre, wie das sein kann, wissen wir nicht.228 Damit begibt man sich jedenfalls des Rechts zu behaupten, dass die Natur nichts Göttliches enthalte. Es ist eine Thorheit zu erklären: wir wissen, dass in der Natur Gott nicht ist, und gleichzeitig zu erklären, das Grundphänomen der Natur ist uns ein undurchsichtiges Mysteriaber Parmenides gelten als wichtige Vertreter dieser monistischen auf das Eine Sein bezogenen Schule. Vgl. Guido Calogero, Studien über den Eleatismus, Darmstadt 1970. 225 Spinoza, Ethica Buch IV und V. Dazu Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, wo dieser Parallelismus ohne Wechselwirkung genau herausgearbeitet wird. 226 Leibniz’ Monadologie schließt eine äußerliche physische Aufeinanderwirkung des metaphysischen Wesens der Dinge und der materiellen Seite aus. Vgl. dazu auch das Leibniz-Kapitel in Schlatter, Die philosophische Arbeit seit Cartesius, aaO 67–76 (s.o. Anm. 162). 227 Johann Friedrich Herbart (1776–1841), Philosoph und Pädagoge, der vor allem in Göttingen und gemeinsam mit Wilhelm von Humboldt in Königsberg wirkte. Sein philosophisches Hauptwerk Allgemeine Metaphysik, nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre, 2 Teile, Königsberg 1828/29 war für Schlatter von großer Bedeutung. Vgl. dazu Schlatter, Die philosophische Arbeit seit Cartesius, aaO 237–249 (s.o. Anm. 162). 228 Schlatter legt nahe, dass der Begriff einer beschreibbaren Kraft auch schon einen latenten Hinweis auf göttliche Rationalität einschließt, umgekehrt aber deren vollständige Leugnung auch zu einem kosmologischen Agnostizismus führen muss.

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um. Wie denn, wenn eben in diesem Mysterium das Wirken Gottes enthalten wäre? Solcher Verzicht nöthigt jedenfalls uns nicht, dass auch wir unser Denken auf diesem Punkte still stellen. Vergegenwärtigen wir uns, was im Verbande der Dinge mit einander enthalten ist. Das Wirken der Dinge bleibt nicht beschlossen innerhalb ihres eignen Seins. Es greift hinaus über dasselbe. [65] Also es gibt Wirkungen außer, über und zwischen den Dingen. Wirkungen sind aber ein Seiendes. Es gibt also ein Seiendes außer, über, zwischen den Dingen, eine Macht, der alles Einzelne unterthan ist. Was haben wir in der Sprache für einen Begriff zur Benennung einer Macht, der alles unterthan ist? Antwort: Gott. Es fällt kein Haar von euerm Haupte ohne euern Vater vom Himmel Mt 10,29.30, denn kein Haar fällt durch sich selbst allein. Es ist im Fallen des Haars [eine Kraft] thätig, die übergreift über das Haar. Und die Kraft ist dein! sagt man: Wir nennen die Kraft, welche die Einheit der Welt herstellt und die Wechselwirkung in ihr bedingt, Natur. Nun wohl, so ist eine solche alles Seiende beherrschende Natur nichts andres als ein Surrogat des Gottesbegriffs, ein verdunkelte[r], unvollendeter Gottesbegriff, aber eben doch ein Gottesbegriff. Was ist diese Natur? Sind es die einzelnen Dinge? Nein. Ist sie nur eine ideale Zusammenfassung in unserer Abstraktion? Nein, sie macht, sie wirkt, sie befiehlt und ordnet. Also sie ist, sie ist ein Reales über und hinter den einzelnen Dingen. Sie ist ein Gott. Man hat mit vollem Recht gesagt, dass es keinen spekulativen Atheismus gebe, dass sich in jeder Weltanschauung ein Surrogat des Gottesbegriffs finde, und wäre es als Materie beschrieben. So gewiss sie als Allmutter gedacht [ist], die alles gebiert, alles ordnet und regiert, so gewiss ist sie als Gott gedacht. Es gibt für’s menschliche Denken, gesetzt, man wolle denken und nicht auf dasselbe verzichten, nur eine doppelte Wahl: entweder Mythologie oder Theologie. [66] Es kehrt immer dieselbe Frage wieder, die Elias auf dem Karmel an Israel stellt: wer ist Gott, Baal?, d.h. die phantastisch mit Göttlichkeit ausgestattete Natur, oder der Herr?229 229 1Kön 18,19–40.

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b) Die Natur als Manifestation der Unendlichkeit Wir haben den Begriff des Unendlichen, des ἄπειρον230. Es ist zwar nicht richtig, wenn dieser Begriff zur Grundbestimmung des Gottesbegriffs erhoben wird, wie in der Hegelschen Schule geschehen ist, wo man einen wahren Kultus mit dem Worte »absolut« trieb. Der Begriff ist nur ein Maßbegriff, ein Formbegriff, für sich allein leer, es frägt sich stets: Was ist absolut? Er ist weiter nur negativ: Er entfernt Ende und Schranken, absolut, aber es frägt sich: was ist das dieser Negation entsprechende Positive? Wir finden darum sehr oft Frömmigkeit, die den Gedanken des Absoluten nicht gefasst hat oder doch nicht durchführt nach seiner vollen Bedeutung und doch keineswegs der Gotteserkenntnis ermangelt, eben darum, weil sie die inhaltlichen Bestimmungen der Gottesanschauung lebendig fasst. Dagegen ist es ein kindisches Verfahren, die im Begriff absolut enthaltene Negation dafür zu gebrauchen, um allen positiven Inhalt aus der Gottesanschauung auszulöschen als streitend mit seiner Absolutheit. »Omnis determinatio« lautet der an Folgen reiche Satz des Spinoza, »est negatio«,231 d.h. eine Beschränkung der Macht, eine Aufhebung der Absolutheit. Auf diesem Wege wird das Absolute zur leeren Form, die völlig inhaltslos wird, das reinste Gespenst. Ob nun auch diese negative Aussage [67] über Gott nicht Hauptmoment in unsrer Gottesanschauung ist, so gehört sie doch zu derselben. Und woher haben wir diesen Begriff? Die Natur vermittelt ihn uns, wir sehen ein Unendliches im Raum. Die Raumlehre ist allerdings wissenschaftlich eine sehr schwierige Materie. Die psychologische Genesis der Raumvorstellung ist ein Geheimnis, 230 Apeiron: Das Grenzenlose, Unendliche. In der Prinzipienlehre der Platoniker mit der »Unbestimmtheit« und der Zwei verbunden, im Unterschied zu der Idee, die immer auf das Eine führt. Dazu Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, aaO 120ff. u.ö. (s.o. Anm. 104). 231 »Jede Bestimmung ist eine Verneinung«, bei Spinoza in dem Brief an J. Jelles vom 2.6.1654 in einem mathematischen Zusammenhang formuliert, von Hegel in die spekulative Logik aufgenommen. Jede bestimmte Aussage schließt andere Aussagen aus.

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ebenso weiter die Korrespondenz, die zwischen unserm Raumbild und der Außenwelt besteht. Wir haben guten Grund, zwischen beiden zu unterscheiden und unser Raumbild nicht ohne weitres zu identifizieren mit dem realen Raum. Wir haben aber ebenso guten Grund, eine Korrelation zwischen beiden anzunehmen. Dieser Grund liegt vor allem [?] darin, dass unser Raumbild uns ermöglicht, auf die Dinge um uns her einzuwirken. Wir greifen die Dinge da, wo wir sie sehen, und unterwerfen sie, von unserm Raumbild geleitet und richtig geleitet, unsrer Einwirkung. Nun dieses Raumbild, das sich hiedurch als Äquivalent eines Realen erweist, können wir nicht schließen, es trägt keine Wand noch Schranke. Wir mögen uns eine solche Wand denken, die den Raum einschließt, aber die Frage erstirbt damit nicht: Und hinter dieser Wand: Was ist denn da? Ein andrer Raum! Das ist die empirische Quelle, aus der unser Begriff unendlich stammt! Wie seltsam geht der Raum mit den Prädikaten, die wir ihm geben müssen, der Gottesanschauung parallel. Er ist ein einiges, nicht in eine Vielheit Auseinanderfallendes, Unendliches, Unveränderliches, alles in sich befassend, [68] alles bestimmend, denn die Stelle im Raum, die ein Seiendes einnimmt, bedingt das Geschehen an demselben und durch dasselbe. Haben wir am Ende im Raum, wenn wir nach der Realität unsres Raumbilds fragen, nichts andres als Gott vor uns? Ist der Raum etwa die sinnliche Erscheinungsweise Gottes: die Hülle, in der er unsrer Sinnlichkeit sich verbirgt? ἐν θεῷ τὰ πάντα232: Jedenfalls zeigt uns der unendliche Raum, dass die Kraft, in welcher die Welteinheit liegt, eine unendliche ist.

c) Die Natur als Manifestation der Intelligenz Gibt es ein Intelligibles in der Natur? Man kann die Frage jedenfalls nicht verneinen, ohne zugleich die Möglichkeit des Naturwissens 232 Schlatter spielt hier auf das heraklitische Hen panta einai an: Eines ist alles und ebenso auf den Newtonschen Raumbegriff, der als göttliche Totalität erscheint.

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aufzuheben. Denn wenn es kein Intelligibles, Wissbares und Verstehbares gibt in der Natur, gibt’s auch kein Wissen und Verstehen der Natur. Was ist die Zahl? Entsteht Zahl durch Ausdehnung, durch Stoß und Attraktion?233 Wer zählt? Der Intellekt. Die Zahl ist Überschau über eine Vielheit, Zusammenordnung von vielen, Gruppierung von vielem nach bestimmtem Maß. Das ist ein geistiger Akt. Nun ist bekanntlich die ganze Natur gezählt. Die Wellenschwingungen des Lichts sind in bestimmte Zahlen gefasst, jede Welle bewegt sich genau nach derselben Zahl, ebenso der chemische Prozess, kurz die ganze Natur. Gesetzt es wäre in der Natur gar kein Intelligibles als die Zahl, so wäre sie das Produkt einer alles beherrschenden Intelligenz. Weiter: Die Natur bietet uns Genera,234 Typen in doppelter Weise. Das Seiende ist zusammengeordnet zu bestimmten Formen, denken wir an die Kristalle, oder im Gebiet des organischen Lebens [69] an die Zelle. Auch die reicheren Kompositionen halten bekanntlich bestimmte Typen in sich. Die Zellen sind wieder gruppiert zu bestimmten Pflanzenformen, Thierformen u.s.w. Diese Formen erhalten sich, so wunderbar sie geeinigt sind, mit einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit, die jeder Komposition ihre Eigenart gibt. Ebenso aber sind die Akte der Dinge, die Prozesse in bestimmten Typen befasst. Sie laufen ab in geordneten Reihen in einem bestimmten Gang, eingefasst in einen Anfang und in ein Ende. Von der Streuung des pflanzlichen Samens bis zur Neubildung des Samens in der reifen Frucht vollzieht sich das pflanzliche Leben in einem bestimmten Gang, von Akt zu Akt weiterschreitend. Das Vorhandensein dieser Typen ist absolut unleugbar, unsre ganze Begriffsbildung beruht darauf. Wir könnten keine Abstrakta bilden, wenn uns die Natur nicht an den Dingen wie an den Ereignissen solche Typen vorhielte. Typen bildet weder Ausdehnung noch Stoß noch Schwere, sondern der Intellekt. 233 Anziehungskraft. 234 Die generische Unterscheidung versteht Schlatter im Sinn seines phänomenbezogenen Realismus nicht als menschliche Festlegung, sondern als eine generische Gliederung der Natur selbst.

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Weiter: Die Dinge sind einander angepasst, stehen in Adaptionsverhältnissen zu einander. Die Wellen des Lichts treffen meine Nervensubstanz; was geschieht nun? Wunderbar: Die Bewegung pflanzt sich fort. Der Nerv zeigt sich fähig, unter dem Reiz der Lichtschwingungen ein Analogon derselben zu produzieren. Er ist dies keineswegs jeder Bewegung gegenüber fähig. Die Tonwellen fallen ebenso gut in mein Auge als in mein Ohr. Aber der Nerv bleibt völlig unthätig bei diesem Reiz. [70] Nicht einmal alle Lichtstrahlen pflanzen sich fort, das Wärmespektrum einerseits, das chemische Spektrum andrerseits ist bekanntlich größer als das Lichtspektrum. Es sind nur Bewegungen mit ganz bestimmten Schwingungszahlen, die in Nerven ihren Widerhall finden.235 Es sind also bestimmte Bewegungen ursächlich aneinander geknüpft, so dass die eine der andern folgt. Dieselbe Erscheinung kehrt wieder im Verhältnis der seelischen Empfindung zur Bewegung im Nerven. Was immer im Nerven geschieht, jedenfalls ist es etwas völlig anderes als die Empfindung. Wir haben auch hier zwei Reihen von Ereignissen, die zu einander Korrelata236 bilden. Auf diese Bewegung im Nerven folgt meine Empfindung roth. Auf solcher Adaption beruht das, was wir Organismus heißen, völlig. Es besteht darin, dass die Funktionen der Einzeldinge, welche im Organismus vereinigt [?] sind, eine beständige Relation zueinander haben. Doch nicht nur der lebendige Organismus weist diese Erscheinungen auf. Sie sind durchgreifend (von) Bedeutung. Erwärmen wir das Wasser, die Folge ist, es dehn[t] sich aus, doch nur bis die Erwärmung einen gewissen fest fixirbaren Punkt erreicht hat. Führen wir noch mehr Wärme zu, so wird es gasförmig. Das Wasser bedarf, um diejenigen 235 Die Überlegungen Schlatters zu Nerven und Licht, zu Wahrnehmung zwischen Passivität und Aktivität, berühren sich eng mit Nietzsches Faszination gegenüber diesen Erkenntnissen der damals jüngeren Naturwissenschaft. Vgl. zu den Hintergründen Olaf Breidbach, Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997. 236 Entsprechungen.

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Thätigkeiten auszuüben, um deretwillen wir es Wasser heißen, in seiner Umgebung ganz bestimmter Bedingungen. Verändern sich diese, so verändert sich auch die Funktion des Wassers, an die Stelle seiner Wassereigenschaften treten andre, diejenigen des [71] Wasserdampfs. Diese Betrachtung ist mit derjenigen verwandt, mit welcher wir die Naturanalyse begannen. Es ist wieder das Problem der Wechselwirkung, das uns beschäftigt, doch hier nicht unter dem Gesichtspunkt, sofern in derselben Kraft sich kundgibt, sondern wir vergegenwärtigen uns hier das in ihr enthaltne intelligible Moment. Nicht jede Wirkung ist an jede Thätigkeit geknüpft. Zu bestimmten Erfolgen bedarf es bestimmter Thätigkeiten, Thätigkeit und Wirkung sind zusammen geordnet in bestimmte Verhältnisse. Aber wer ordnet? Der Intellekt. Es ist eine kindische Rede, dass die Strahlen sich selbst den Nerven adaptieren. Der Strahl mit der Schwingungszahl x adaptiert ihn, derjenige mit der Schwingungszahl y adaptiert ihn nicht. Liegt nun im Unterschied der Zahl x von der Zahl y das Vermögen des einen Strahls, den Nerven sich zu adaptieren, und das Unvermögen des andern zu diesem Erfolg. Reden wir von Selbstadaption, so schaffen wir das intellektuelle Moment aus dem Vorgang nicht weg, wir legen es lediglich in die Dinge hinein, wir machen aus dem Strahl x ein intelligentes Wesen, wir mythologisieren ihn. Adaption der Dinge aneinander ist das erste grundlegende Faktum, das wir im Zweckbegriff ausdrücken. Den zweiten Akt, auf welchen ein erstes bezogen ist, als auf den durch ihn zu erreichenden Erfolg, nennen wir den Zweck des ersten. Wir haben damit den Zweckbegriff allerdings noch nicht vollständig bestimmt. [72] Wir verbinden mit diesem Gedanken gewöhnlich sofort einen Zweifel, nämlich den, dass dieser Erfolg einen Werth repräsentiere, ein Gut darstellt, in welchem die Erklärung liege für das Korrelationsverhältnis, das zwischen demselben und dem ihm vorangehenden Ereignis besteht. Diese Seite des Zweckbegriffs geht über die Sphäre der Intelligenz hinaus. Werthe, Güter gibt es erst in der Sphäre der Begehrung. Und es muss vorerst noch fraglich bleiben, ob in diesem weitergreifenden Sinn Zweckmäßigkeit in der Natur vorliegt. Aber das grundlegend intelligible Moment am Zweckbegriff lässt sich einfach nicht leugnen. Die Dinge stehen – 145 –

thatsächlich zueinander in Anpassungsverhältnissen. Ein Fisch lebt nicht in der Luft, sondern im Wasser, seine Organisation und die Beschaffenheit des Wassers entsprechen sich. Und das Band ist nicht nur ein mechanisches. Weder macht das Wasser den Fisch noch der Fisch das Wasser, das Band ist ein geistiges. Wenn wir zum Zwecke unsrer Untersuchung die einzelnen Wahrnehmungen, welche die Natur uns ermöglicht, isolieren, so fällt diese Sonderung natürlich nur in unser Denken. Realiter hält uns die Natur unterschiedne Momente als ein geeinigtes vor, nicht hier Kraft und dort von ihr gesondert Intelligenz, sondern beides in einem, von Intelligenz durchdrungen geleitete, bestimmte Kraft, und ebenso mit Kraft begabte Intelligenz und dies in einer Fülle, die keine Schranken trägt, [73] sondern eine Unendlichkeit umspannt.

d) Die Konstanz in der Natur Röm  1,20 gibt Paulus der Kraft, welche uns die Natur sichtbar macht, ein charakteristisches Beiwort: ἀΐδιος δύναμις237, immerwährende Kraft. In der That sowohl die Kräfte, als deren intelligible Formen Zahl, Typus, Adaption treten mit unwandelbarer Konstanz auf. Auf derselben beruht unser ganzes Wissen um die Natur. Man hat der Naturwissenschaft häufig entgegengehalten, dass derjenige Weg, durch welchen wir unser Naturwissen gewinnen, nämlich die Induktion, gar kein sichres Wissen ergebe, weil unsre Induktion nie vollständig ist. Die Naturwissenschaft hat sich um diese Einrede niemals gekümmert, so richtig es ist, das unsre Induktion von ferne nicht vollständig ist noch je vollständig werden kann. Und diese Unstörbarkeit derselben beruht darauf, dass sie von der Konstanz 237 Zum Kraftbegriff in der Philosophiegeschichte vgl. Alexander Aichele, Ontologie des Nicht-Seienden, Göttingen 2009, sowie Cornelis Harm Glimmerveen, The force of dialectics. On the ontological structures concerning the concepts of force in Leibniz, Kant, and Hegel, Diss. Groningen 1992.

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der Natur voll überzeugt [wurde]. Wenn ich das Goldklümpchen gestern schmolz und fand, dass es schmolz, so weiß ich, dass es auch heute schmilzt ohne neue Empirie. Wir drücken diese Konstanz aus im Begriff der Gesetzmäßigkeit. Den Gedanken Naturgesetz νόμος φύσεως238 hat schon das Alterthum gebildet. Von der Stoa aus wird er den Spätern geläufig. Es liegt ein Bild in diesem Begriff, das dem menschlichen Leben entnommen ist. Νόμοι Gesetze kennen wir zunächst im menschlichen Leben als Willensakte, durch welche eine Persönlichkeit die andre in ihrem Willen zu bestimmen sucht. Am Begriffe ändert sich thatsächlich nichts, wenn der [74] gesetzgebende Wille einer Gemeinschaft angehört, welche die einzelnen Glieder derselben in ihrem Wollen bestimmt. In dieser ursprünglichen Verwendung des Begriffs ist deutlich, wieso das Gesetz ein wirksames wird. Es steht hinter ihm als lebendige Realität der Wille und vor ihm, der Einwirkung offen und bestimmbar, wiederum ein Wille. In welchem Sinne verwenden wir nun aber den Begriff: Gesetz auch für die Natur? Diese Verwendung ist durchsichtig, wenn wir das Gesetz als die allgemeine Formel fassen, die wir den Naturvorgängen erkennend entnehmen. Aber unser Gebrauch des Begriffs geht thatsächlich weit über diese Fassung hinaus. Wir fassen das Gesetz als Macht, als Grund und Ursache der Ereignisse. Und dieser Gebrauch ist insofern ein nothwendiger, weil er unmittelbar mit dem Bewusstsein zusammenhängt, das die herausgehobene Regel wirklich in den Naturvorgängen selbst enthalten ist, nicht von uns aufgestellt, sondern lediglich erkennend herausgehoben ist. So wird nun aber die Frage unumgänglich: wie sollen wir uns diese Regeln als wirksam denken? Gewöhnlich bleibt unser Denken hiebei in mythologischem Dunkel stecken. Wir machen aus dem Gesetz eine reale, weil wirksame Hypostase und fassen es doch nur als Abstraktion. Wir denken uns so das Gesetz als seiend u[nd] nicht 238 Bekanntlich ist die Frage des von Natur her Rechten ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal der Sokrates-Schule gegenüber der Sophistik. Vgl. Robert Spaemann und Reinhard Löw, Die Frage Wozu? München 1981.

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seiend zugleich, als seiend, sofern es wirkt, als nicht seiend, sofern es doch nur [75] die Form der Naturereignisse heraushebt und benennt. Ist es wahr, dass das Gesetz wirkt, nun wohl, dann gilt es Ernst zu machen mit seiner Realität, dann steht hinter der Formel eine intelligente Kraft, welche diese Formel feststellt und sie gültig macht. D.h. das Naturgesetz ist nichts andres als Gott, genauer das Wirken Gottes in seiner Einheit von Kraft und Intelligenz und in seiner nie fehlenden Konstanz. Letzteres Moment ist auch für den Gottesbegriff von großer Wichtigkeit. Gott manifestiert sich in der Natur sehr deutlich als der in seinem Wirken beharrend[e] ‫ה ֶיְה ֶא‬  ‫ ֶר ׁש ֲא‬  ‫ה ֶיְה ֶא‬. Das steht mit gewaltigen Zügen eingegraben in die Natur.

e) Die Natur als Manifestation des Willens Kraft u[nd] Intelligenz als Einheit gedacht, sind schon nahe bei dem, was wir Wille heißen, und doch greift der Begriff Wille darüber hinaus. Wollen ist ein Akt, ein Geschehen, also Kraft, es ist weiter ein mit Intelligenz geeintes Geschehen (gedacht), es hat einen geistigen Inhalt. Wir denken aber noch an ein Plus,239 wenn wir vom Willen reden, es liegt darin der Gedanke der Wahl, der Freiheit. Wille setzt einen neuen Anfang aus sich selbst heraus. Böte uns die Natur nur das Phänomen absoluter Konstanz, so gäbe sie uns keinen Anstoß, von Willen zu reden, und das ist dasjenige Moment in der Natur, das oft als Gegeninstanz gegen Gottes Dasein sich geltend macht. [76] Der Mensch sucht in Gott zuvorderst den Willen, und die Natur hält ihm zuvorderst eine unwandelbare Konstanz des Wirkens vor. Und dabei wird nicht bedacht, dass diese Konstanz des Wirkens nicht minder ein wesentliches Moment der Gottesanschauung ist als die Beweglichkeit des Willens, dass wir überhaupt unsern Gottesgedanken zu bilden haben nach dem Seienden. Übrigens hat die Natur nicht nur beharrende Konstanz. Sie repräsentiert uns eine Stufung 239 Sein Recht, im Sinn des Eigenrechtes.

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der Gebilde, die unverkennbar eine fortschreitende, aufsteigende Linie ergibt. Ja die untere Stufe wird in die höhere aufgenommen, aber es treten neue Kräfte hinzu. Die Basis des ganzen Naturlebens bilden die materiellen Phänomene im engern Sinn: Attraktion,240 Bewegung, Ausdehnung, dann der Chemismus,241 dann das organische Leben wiederum in der Stufung des Pflanzlichen und Thierischen, von denen jedes wiederum in eine Fülle von Formen sich gliedert, die ihrerseits zu höhern, reichern Bildungen fortschreiten. Und diese qualitative Stufung ist zugleich zeitliche Sukzession. Es gab eine Zeit, da der Mensch nicht war, nun ist er. Also: die Natur hat eine Geschichte, Geschichte aber entsteht durch That, und die ein Neues anhebende, Neues setzende That ist Wille. Es kommt damit kein größeres Mysterium in die Natur hinein als durch das Dasein der Wechselwirkung oder durch das Dasein der Zahl oder der Typen in ihr gegeben ist. Aber ein Mysterium, das auf die jenseitige Ursächlichkeit [77] der Natur weist, ist dieser Geschichtsverlauf in der That. Es erging diesem Mysterium wie allen übrigen, man hat versucht, es wegzuschaffen durch Negation. Die modernen Aszendenztheorien tendieren dahin, und soweit sie die Unterschiede zwischen den Wesen negieren, sind sie unwahr und Selbsttäuschung. Sie haben ein sehr berechtigtes Element in sich, sofern sie die Zwischenglieder aufsuchen, durch die sich dieser geschichtliche Prozess hindurchbewegt haben mag, unwahr aber werden sie, sofern sie negieren, das ein Neues, Höheres in den vorangehenden Bildungen noch nicht Enthaltenes zu stande kam. Die Aszendenztheorien242 neigen aber dazu, die Unterschiede möglichst zu verwischen. Der Satz, dass der 240 Anziehungskraft: Eine der wichtigsten Zentralbegriffe verschiedener Naturwissenschaften und der Naturphilosophie im 19. Jahrhundert. 241 Die Gesamtheit der Vorgänge bei stofflichen Umwandlungen und die dabei auftretenden Regelmäßigkeiten und Gesetze. 242 Theorien der Abstammung, wobei sowohl auf Darwin als auch auf den seinerzeit sehr populären Monismus von Ernst Haeckel verwiesen wird. Vgl. dazu W.  Neuer, Theologische Einleitung in diesem Band weiter oben (S. 7).

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Mensch vom Affen stamme, treibt seine Vertreter vorwärts zu dem andern, dass der Mensch ein Affe sei.243 Der erstere ist wissenschaftlich diskutierbar, der zweite ist eine Narrheit, die nicht mehr diskutierbar ist. Übrigens ist es eine Selbsttäuschung, wenn man das Mysterium Neuschöpfung der beseitigt zu haben glaubt, dadurch dass man sie in unzählige kleine Schrittlein zerlegt, von denen jedes ein klein wenig vorwärtsschreitet. Das ist ein kindliches Beruhigungsmittel. Das Räthsel kehrt auf jedem Punkt des Weges in derselben ungemilderten Schärfe wieder. Dass es überhaupt vorwärts geht, dass überhaupt ein Neues kommt, das ist das Wunderbare. Und dasselbe bleibt völlig ebenso unbegreiflich, ob das Neue viel oder wenig über das Vorhandene [78] übergreift. Schließlich ist es, wenn einmal ein Fortschritt stattfinden soll, ebenso begreiflich, dass es gleich einen tüchtigen Schritt vorwärts geht. Das ist diejenige Seite in der Natur, durch die sie auf den Kreationsbegriff hinweist.244 Ich sage nicht, dass die Natur den Kreationsbegriff selbst uns biete. Er stammt aus andrer Wurzel, nicht aus Naturbetrachtung. Er ist die Folgerung aus der absoluten Herrscherstellung, die Gott uns gegenüber hat, und die auf ein ebenso unbedingtes Verhältnis der Natur zu ihm hinweist, aber eine Seite hat die Natur auch ihrerseits, durch die sie auf die Schöpfung hinweist, das ist eben die Geschichte, die sich in ihr vollzieht, das Werden ihrer einzelnen Gebilde. Darin dass sich innerhalb des Naturlaufs Thaten Gottes finden, die ein Neues setzen, weist sie auch in Bezug auf das Entstehen des Ersten und Grundlegenden auf [eine] That Gottes hin als auf ihren Entstehungsgrund. 243 Eine ähnliche, freilich nicht christlich motivierte Auseinandersetzung mit dem Darwinismus führte fast in derselben Zeit Nietzsche, bei dem Schlatter ja Vorlesungen gehört hatte. Dazu Edith Düsing, Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, München 2006, 201–353. 244 Schlatter begreift das »Auftreten von Neuem« als ein Anzeichen dafür, dass die reduktionistische Sicht auf die natürliche Welt mit großer Wahrscheinlichkeit falsch sein dürfte. Dies kann nach wie vor als ein antireduktionistisches Indiz gelten.

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f) Die Natur als Manifestation der Güte Sowie von Wille die Rede ist, entsteht die Frage: ist dieser Wille gut? Absolut grundlos können wir uns den Willen nicht denken. Das Intellektuelle am Willen bietet ihm sein Motiv, nur dass die wirksame Kraft des Willensaktes nicht nur aus dem Motiv entspringt, sondern aus der selbst eignen Bewegung des Willens selbst. An das Willensmotiv stellen wir den Anspruch, dass es dem Willen ein Gut vorhalten soll. Er soll sich auf etwas in sich Wertvolles richten. Sonst unterliegt er unwillkürlich einer tadelnden Beurtheilung. Warum wir [79] so denken müssen, wird sich bald ergeben. Vorerst bleiben wir bei der Thatsache stehen, dass jeder Mensch in der That so denkt. Es entsteht also die Frage, ist die Natur Manifestation eines guten Willens, der Güte? Und damit kommt nun die andre Seite des Zwecksbegriffs zur Erörterung, diejenige, durch welche er hineinreicht in die Sphäre des Willens, diejenige, welche zunächst gedacht wird, wenn von der Zweckmäßigkeit der Natur die Rede ist. Man denkt sie sich dann als Mittel zur Verwirklichung irgendwelcher Güter. Dabei ist festzuhalten, dass es Güter nur innerhalb des bewussten Lebens gibt. Ein Gut muss genossen sein, sonst ist‘s kein Gut. Der Unterschied zwischen Gütern und Übeln existiert außerhalb des persönlichen geistigen Lebens nicht. Er setzt ein empfindendes Subjekt voraus. Haben wir uns Gott als das die Natur genießende Subjekt zu denken? Nach dieser Seite hin in ihrer Beziehung auf Gott ist uns Teleologie der Natur jedenfalls ein schlechthin Verborgenes. Wir müssten dann Einblick haben ins Selbstbewusstsein Gottes, der uns fehlt. Und eine Offenbarung der Güte wäre damit noch keineswegs gegeben. Eine ausschließlich auf Gott zurückgreifende Naturteleologie ergäbe vielmehr ein selbstisches Wollen. Die Frage bestimmt sich also dahin: gibt es neben und außer Gott Geister, zu denen die Natur in ein solches Verhältnis gesetzt ist, dass Güter für sie aus demselben entspringen. [80] Die Frage ist zu jeder Zeit höchst einstimmig bejaht worden; denn kein Zweifel, der Mensch genießt die Natur. Vgl. den einfachen Ausdruck, den Apg 14,17 diesem Verhältnis gibt. Auch der – 151 –

Pessimismus negiert diese Wahrheit nicht. Er betrachtet die Übel als vorwiegend, aber das Dasein von Naturgütern zu bestreiten, ist darum schlechthin unmöglich, weil sie in eines jeden Erfahrung da sind. Die Bewegung der Lichtquelle findet ein Auge, in welchem sie zum Leuchten wird, in das sie sich überpflanzt als der glänzende Strahl, der die ganze Pracht der Lichtwelt in die Seele wirft. Die materielle Welt bietet unserm Ich die Lebensbedingungen, und zwar die Bedingungen zu einem Leben, das von uns als wertvoll empfunden wird. Ob dies der einzige Zweck der Natur ist?245 Diese Frage lässt sich nicht bejahen. Aber wir bedürfen auch für unsre Beweisführung nicht den Überblick über die gesamte Gütersumme, die etwa aus der Natur entspringen mag. Genug, dass im Verband der menschlichen Seele mit der Natur Güter begründet sind. Wo aber Güter sind, da hat sich Güte offenbart.

g) Die der Natur entnommenen Gegeninstanzen gegen das Dasein Gottes Dieselben sind teils sachlicher Art der realen Gestalt der Natur entnommen, theils logische Instanzen aus der Schwierigkeit, das Zusammensein und Zusammenwirken Gottes zu denken. Was zunächst die letztere betrifft, so stellt sich uns nunmehr der gesamte Naturlauf nicht mehr als ein einheitlicher, sondern [81] als Resultat einer konstanten Doppelwirkung dar, sofern ja Gott einerseits, die Dinge andrerseits als seiend und wirkend gedacht wurden. Eine Verhältnisbestimmung aufzustellen, welche dieses Mit- u[nd] Ineinanderwirken Gottes u[nd] der Kreatur denkbar macht, ist unmöglich. Und alle hieher gehörigen Begriffe, z.B. auch derjenige 245 Vgl. dazu das Kant-Kapitel in Schlatter, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie I, aaO 67–82 (s.o. Anm. 31), wo Schlatter die dritte Kritik, also die Kritik der Urteilskraft, mit ihrer Teleologie der Natur als bemerkenswertestes Zeugnis des Kantischen Denkens begreift.

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Begriff, durch welchen die kirchliche Dogmatik dieses Verhältnis zu bestimmen versucht, nämlich der des göttlichen concursus,246 sind leicht zu kritisieren, sind ungenügend und dunkel. Allein diese Denkschwierigkeiten könnten nur dann das gewonnene Resultat erschüttern, wenn wir in unserem Denken das Maß aller Dinge zu haben glaubten. Wir reichen aber mit unsrer Gedankenbildung nicht über unsre Erfahrung [hin]aus. Das Innenverhältnis der Dinge zu Gott, das Innesein der Dinge in Gott und Gottes in den Dingen ist aber nicht Gegenstand unsrer Empirie, die Empirie zeigt uns, dass die Dinge nicht auf sich selbst stehn, sondern in einem andern sind, und zwar in Gott, aber das Wie dieses In-Gott-sein[s], werden wir von den gegenwärtigen Wesensverhältnissen unsres Geistes aus niemals deuten. Es ist nämlich, vom eignen Ich abgesehen, nichts für uns Objekt unmittelbarer Wahrnehmung als das in den Raum gefasste Sein und Wirken, damit ist gegeben, dass wir uns kein Ineinander denken können, sondern nur ein Nebeneinander, das ist auch der Mangel am Begriff concursus. Er stellt [82] Gottes und der Dinge Wirken nebeneinander, als zwei nebeneinander herfließende Strömungen, das sind sie (aber) nicht. τὰ πάντα ἐν θεῷ. Insofern hat Kant Recht, wenn er die Gottesanschauung den Grenzbegriff unsrer Vernunft nennt. Das ist ihr letztes, höchstes Ergebnis. Weiter hinein nämlich in die Analyse des göttlichen Wesens und Wirkens können wir nicht hinein. Solche Undenkbarkeit aber hebt die Gewissheit des Gottes, der sich in Werk und That bezeugt, nicht auf. Wichtiger sind die der empirischen Gestalt des Naturlaufs entnommenen Gegeninstanzen. Wir können uns ein Ideal von Kraft, von Intelligenz, von Güte bilden, das weit hinaus reicht 246 Concursus Dei oder Concursus Divinus die Lehre von Gottes Mitwirken an der Welt auch nach der Schöpfung, ein zentrales Element des Theismus, die sowohl bei Descartes wie auch bei Spinoza und Leibniz vorkommt. Mit biblischer Begründung spielt dieses Moment auch in der Lutherischen Orthodoxie eine wichtige Rolle. Vgl. zu letzterem Carl Heinz Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, Teil II, Gütersloh 1966, 219–222.

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über das, was der Thatbestand der Natur uns thatsächlich vorhält. Warum bietet uns die Natur so viel Todtes? Diese ganze Masse von Materie! Wäre es nicht eine höhere Kunstentfaltung, wenn die Natur aufgebaut wäre aus lauter Leben? [Und wäre es] nicht eine höhere Bethätigung der Intelligenz, wenn die Anpassungsverhältnisse der Dinge aneinander derart wären, dass die Erhaltung der Dinge durch dieselben gesichert wären [sic!], statt dieses konstanten Wechsels von Entstehen u[nd] Vergehen? Und ist nicht die Teleologie der Natur eine beschränkte, nicht nur in dem Sinn, dass das Todte, Materielle, als das Empfindungslose ihr entzogen ist und zu keinem Genusse seines Daseins kommt. Auch da, wo im menschlichen Ich die Natur sich als Gut manifestiert, ist diese Teleologie augenscheinlich. [83] Nicht nur Lust, auch Schmerz entspringt aus dem Naturverband, sehr intensiver Schmerz. Also nicht nur als Gut, sondern auch als Übel offenbart sich die Natur in uns. Hiebei ist zunächst festzuhalten, dass Art und Maß dieser Defekte der Natur uns keineswegs überschaubar sind. Die Materie scheint uns absolut todt. Aber ist sie’s wirklich? Ich halte dies für eine Frage, die sich weder verneinen noch bejahen lässt. Was wissen wir vom Innenleben der Dinge? Weiter: Die Natur scheint ebenso sehr auf Zerstörung als auf Erzeugung ihrer Kinder angelegt. Aber gibt es wirklich eine Zerstörung? In der materiellen Sphäre nicht, denn der Wechsel der Formen ist nur Wechsel der Beziehungen zwischen den Dingen, aber nicht Zerstörung derselben. Und an der einzigen Stelle, wo empirisch Zerstörung vorzuliegen scheint, nämlich in Bezug auf die Seele, findet hier wirklich Zerstörung statt? Unser Verband mit der Natur verursacht uns viel Übel. Zweifellos, aber wissen wir, was an diesem Übel wirklich aus unserm Naturverband erfolgt? Er ist jedenfalls nicht die einzige Schmerzquelle, eine große Summe von Schmerz entsteht aus unsrer Persönlichkeit selbst. Und wer will uns hier scheiden? Wer will bestimmen, welches Maß von Schmerz übrig bliebe, kraft der Natur, auch nachdem die Schmerzquelle im eignen Ich verstopft wäre? Wenn der Mensch thäte, was er sollte, sagt ein alter Spruch, so thäte Gott, was er wollte. Aber gesetzt, die Gegeninstanzen seien richtig, ist es ein vernünftiges Verfahren, an – 154 –

einem selbst [84] gebildeten Ideal die Wirklichkeit der Natur zu kritisieren? Haben wir ein Recht zum Postulat, dass an der Natur die ganze Herrlichkeitsfülle Gottes sich offenbaren müsse, seine ganze Kraft, seine ganze Intelligenz, seine ganze Güte. Ist denn die Natur die einzige Sphäre, in der sich Gottes Schaffen kundgibt? Weiter: Die Natur hat thatsächlich eine Geschichte, aber ist sie abgeschlossen? Wissen wir, was der Natur noch werden kann und soll? Es ist nicht Sache der Wissenschaft, um einer von uns selbst ausgesonnenen Möglichkeit höherer Kraftentfaltung [willen] die Kraft zu übersehen, die vorhanden ist, um der Möglichkeit einer reichen Zweckmäßigkeit willen den Zweck zu negieren, welcher der Welt thatsächlich innewohnt. Was uns zu fehlen scheint, hebt nicht auf, was vorhanden ist. Ein Unbefriedigendes wird an jeder theologischen Naturbetrachtung haften bleiben, und dies mit innerer Nothwendigkeit darum, weil die Zuwendung unsers Denkens auf Gott, eben nie nur aus Naturmotiven erfolgt, sondern aus dem geistigen Leben zugehörenden Motiven und Bedürfnissen. Wir suchen den persönlichen Kontakt mit Gott und den helfenden Gott, und ihn finden wir in der Natur nicht, diese Bedürfnisse deckt sie nicht und soll und kann sie auch nicht decken. Denn die Natur vermittelt eben unsern Naturverband mit Gott und nicht eine Lebensgemeinschaft, die das göttliche und menschliche Ich aneinander knüpft. Eben darum wird, wo dieser religiöse Grundtrieb erstorben ist, die Natur allein ihn nicht wecken. Aber das schließt nicht aus, dass die Naturbetrachtung zu dem gebraucht [wird], wozu sie allein trägt und bewegt, ihren Werth und ihre Unentbehrlichkeit hat, für das theologische Erkennen. Die Gottesanschauung müsste eine wesentlich andre sein, wenn nur das geistige Leben Zeuge Gottes wäre und die Natur uns nichts von Gott kundgäbe. Es ist für unser ganzes theologisches Denken von großer Bedeutung, wenn uns zum festen, hellen Ergebnis unsres Erkennens wird, dass es Gott ist, der die ganze Natur trägt und bewegt. [85]

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§ 9 Das Gotteszeugnis im geistigen Leben Das geistige Leben steht der Natur nicht als ein absolut anderes gegenüber, wie es je schon durch unsre leibliche Organisation in den engsten Zusammenhang mit derselben gesetzt ist. Es kehren darum im geistigen Leben dieselben Momente wieder, die uns die Natur bot. Wir haben auch hier eine Gemeinschaft stiftende Wirkung, nicht nur darin, dass die geistigen Ereignisse parallel verlaufen mit natürlichen Ereignissen sondern auch darin, dass Geist mit Geist in Wechselwirkung steht, das eine Ich ist dem andern geöffnet. Es sind höchst wunderbare System[e] von Mitteln der Seele die Bahnen geöffnet zu den andern, sie lebt ihr geistiges Leben in der Gemeinschaft mit den andern; in welchem Umfang, zeigt das Phänomen der Sprache und ihr Verhältnis, kein Wort existiert in meinem Geiste, das nicht von Andern geprägt, von mir nur empfangen wäre. Nun aber ist uns im Wort, unablösbar von dem selben auch der Gedanke gefasst, und mein ganzes Denken eben damit in Abhängigkeit gesetzt vom geistigen Leben der andern. Wie nun der Kosmos eines realen Einigers bedarf, damit er als Kosmos, als Zusammenhang aller Dinge mit allen zu Stande kommt, so manifestiert auch das Geisterreich als Reich, als zusammenlebende Gemeinschaft der vielen unter einander, den Herrn der Geister. Weiter zeigt sich [86] auch das geistige Leben durchdrungen von durchdachter Gesetzmäßigkeit. Zwar ist es bisher noch nicht gelungen, das einfachste intelligible Moment, die Zahl, auch in den seelischen Vorgängen nachzuweisen. Der Versuch Herbarts, Mathematik auf Psychologie zu übertragen,247 hat zu keinem bleibenden Ergebnis geführt. Aber 247 Vgl. das Herbart-Kapitel, bei Schlatter, Die philosophische Arbeit seit Cartesius, aaO 237ff. (s.o. Anm. 162) Die wissenschafts- und ideen-

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an sich unsinnig ist der Gedanke keineswegs. Es ist sehr wohl möglich, dass auch im seelischen Leben bestimmte Zahlen vorliegen, das wir einst werden sagen: beim Stärkegrad X ist die Vorstellung z.B. erinnerlich, beim Stärkegrad Y nicht; wie wir jetzt sagen können: beim Wärmegrad X ist das Wasser flüssig, beim Wärmegrad Y ist es fest. Der Typus dagegen und die zweckvolle Adaption der Ereignisse aneinander eignet auch im vollen Maß dem geistigen Leben, und dies in fester Beharrung als Gesetz. Von jedem Reize aus verlaufen die seelischen Ereignisse in bestimmter geordneter Abfolge, und die parallelen Linien der Vorstellungen, Gefühle und Begehrungen sind in konstante Beziehung zueinander gesetzt. Und diese Gesetzmäßigkeit ist zugleich durchwoben von Zweckmäßigkeit. Hier bricht erst der Zweckgedanke nach seiner ganzen Bedeutung auf. Hier finden wir das genießende Subject, das, wie es die Natur sich zum Gut zu gestalten vermag, so auch seine eignen Lebensumstände als Gut genießt [und] im Selbstbewusstsein den eignen [87] Zustand als Glück u[nd] Freude zu empfinden vermag. Es folgt aus dieser Wiederkehr derjenigen Momente, welche wir in der Natur als göttliche heraushoben, in dieser neuen Sphäre des Daseins, dass wir die Resultate der der Natur zugewandten und der auf den Geist gerichteten Untersuchung in eins zusammenzufassen haben. Zeigt uns die Natur eine Allmacht, die alles Geschehen beherrscht, so wird diese Allmacht durch das Geistesleben umsponnen, und jeder Akt der Seele in analoger Weise bedingt sein durch die Wirksamkeit Gottes, wie es jede Bewegung des materiellen Atoms ist. Anderseits haben wir aber auch das Ergebnis der Geistesanalyse mit unsrer auf die Natur bezüglichen Gottesanschauung zu einigen, und wenn uns nun hier Gott als die Gerechtigkeit und die Liebe begegnet, so ist dies zugleich eine Aussage über den Grund, aus dem die Schwingungen der Atome hervorgehen und die Dehgeschichtliche Position bestimmt näher Thomas Borgard, Immanentismus und konjunktives Denken: die Entstehung eines modernen Weltverständnisses aus dem strategischen Einsatz einer »Psychologia prima« (1830–1880), Tübingen 1999.

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nung des Raums ins Unendliche. Ein Kosmos, aus Natur und Geist bestehend, ein Gott. Es bietet nämlich das Geistesleben Momente dar, die der Natur fremd sind.

a) Das Gewissen nach seinem formalen Verlauf Jene Vorgänge, die wir Äußerungen unsers Gewissens nennen, sind sehr komplexer Art. Sie bauen sich aus ineinander greifenden Reihen von Erkenntnis- und Gefühls- und Willensbewegungen auf. Als den Erreger und Träger des ganzen Processes werden wir ein eigenartiges Gefühl zu betrachten haben [88] eine Erregung von Lust und Schmerz, eigentümlich von jedem andern Gefühl. Das Charakteristische derselben liegt nicht in ihrem Stärkegrad, der sehr wandelbar und gewöhnlich minimal [ist]. Irgend ein geringer physischer Schmerz kann sich grell u[nd] voll zur Perzeption vordrängen, während die Gewissensregung nur dunkel im Hintergrund anklingt. Aber qualitativ ist das Gewissensgefühl ein Ganzes bedingungs- und schrankenloses; reiner Schmerz, der nichts als Missfallen ist, reine Lust, die nichts als Wohlgefallen ist. Der sinnliche Schmerz lässt sich verringern durch Hinzutritt von Lust, er stellt sich als begrenztes Quantum dar, der Steigerung und Abnahme fähig. Der Gewissensschmerz ist ein untröstbares Leid, das des bestimmtesten empfindet, dass sein Objekt immer unter allen Umständen zu aller Zeit, Gegenstand eines absoluten Missfallens bleibt. Ebenso ist die Gewissenslust eine ganze Zustimmung, an kein Wenn gebunden, frei von jeder Befürchtung, dass ihr Objekt je ihr missfallen könnte. Fiat iustitia pereat mundus, das ist der korrekte Ausdruck für das Gewissensgefühl. Und wenn die Welt untergienge ja nicht nur die Welt, wenn das eigne Ich unterginge, infolge der Gerechtigkeit, dies Wohlgefallen an derselben bliebe. Nun bleiben aber diese Gefühle, des Wohlgefallens und Missfallens, die das Urphänomen des Gewissens bilden, bei der konstanten Gegenseitigkeit der seelischen Funktionen nicht isoliert, regen vielmehr [89] einerseits das Urtheil, andrerseits den Willen zur Thä– 158 –

tigkeit an. Das Urtheil bildet aus dem Gefühl ein Prädikat für das Objekt, welches dasselbe erregt. Es entsteht das Urtheil: dies ist gut, jenes böse; logisch mit einer ganz analogen Funktion wie wenn die Wärmeempfindungen auf deren Veranlassung übertragen werden im Urtheil: dies ist warm und jenes kalt. Auch die Gewissensurtheile sind somit aposteriorisch, empirisch, sie sprechen eine Erfahrungsthatsache aus, abgesehen von der Gewissenslust und dem Gewissensschmerz blieben sie völlig inhaltsleer. Der bedingungslose Charakter der Gewissensgefühle überträgt sich nun auch auf die Urtheile, das Urtheil böse trifft sein Objekt nach seinem ganzen Bestand und mit einer alle Zeit überragenden Gültigkeit. Eben daher die Souveränität dieser Urtheile gegenüber den Kategorien der Wirklichkeit und Möglichkeit. Gesetzt das Böse sei noch so real, noch so machtvoll, das Urtheil böse erklärt es als schlechthin unzulässig, und gesetzt, das Gute wäre realiter nicht vorhanden, und unmöglich, wir könnten doch nicht anders urtheilen, als das mir das Gute werthvoll sei und alles andre werthlos. Das ist die richtige Einsicht in der Kantschen Folgerung aus dem sittlichen Gebot: »Du kannst, denn du sollst«,248 nur ist sie wie alle Kantischen Thesen missverständlich halbwahr formuliert. Das Gewissen gibt keine Aussage über das, was möglich ist oder nicht. Es kümmert sich nicht um Möglichkeit oder Unmöglichkeit. [90] Es spricht einfach sein Urtheil aus. Der Kantsche Satz geht also über die Gewissensaussage hinaus. Aber wahr ist, dass das Gewissensurtheil um unser Können sich nicht kümmert, und dasselbige bleibt, ob wir können oder nicht. Dem Urtheile parallel gehen nun Bewegungen im Willen vor sich. Das Gewissen erregt nicht nur unser Urtheil zur Kritik, sondern auch unsern Willen zum Gebieten. Merkwürdig ist, wie sich Kant und Herbart in die beiden Funktionen des Gewissens theilen. Für Kant ist das Gewissen ein Imperativ, er deutet es mit dem Wort: du sollst. Für Herbart ist es Urtheilsfällung: es spricht im Indikativ: das ist gut, jenes böse. Das Gewissensgefühl erregt eben beide Processe, zunächst diejenige Seite, die Herbart mit vollem Recht Kant gegenüber hervor248 Kant, Kritik der praktischen Vernunft A 171 und A 283.

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gehoben hat.249 Vermöchte das Gewissen nicht im Indikativ zu reden, und so könnte es nimmer einen Imperativ bilden. Die Beurtheilung des vorhandenen Willens ergibt die Norm für einen künftigen Willen. Wie entsteht nun dieser Imperativ? Wenn Kant von einem Imperativ der praktischen Vernunft sprach,250 so diente dies nicht zum Vortheil einer deutlichen Einsicht in diese Vorgänge. Ein Imperativ kann sich natürlich nur im Bereich des Willens finden. Eine gebietende Vernunft ergibt die Vorstellung einer wollenden [91] Vernunft, und damit sind zwei zu sondernde seelische Akte vermischt. Ein Imperativ ist ein auf einen andern Willen gerichteter Wille, und sofern nun in uns selbst ein Imperativ entsteht, ist damit eine Spaltung im Ich gesetzt. Lust und Schmerz versetzen die Seele alsbald in Aktivität,251 sie streckt sich nach der Gewissenslust begehrend, und wendet sich vom Gewissensschmerz ab. Aber diese sind ja durch Willensakte selbst erregt, so steht nun Begehrung gegen Begehrung; und eben damit sind die Bedingungen aber auch die Nöthigung gegeben zu einem Akt der Wahl, zu einem Willensakt im engern Sinn. Und dies Bewusstsein, dass ich wollen muss, was ist es andres, als ein Imperativ? Und zwar enthält derselbe nicht nur, dass, sondern auch, wie ich wollen muss. Die aus dem Gewissensgefühl entspringende Strebung greift nach der Hegemonie. Auch hier bewährt sich die innere Macht der Gewissensgefühle. Das innerste Ich streckt sich nach den Gewissenswerthen aus, und richtet an den wählenden Willen einen kategorischen Imperativ, der keine Hypothese 249 Schlatter arbeitet hier Herbarts eher deskriptiv realistische Auslegung des Willens gegenüber der strikten Normativität des Kategorischen Imperativs bei Kant heraus. Erstere kann allerdings Gefahr laufen, in einem allgemeinen Psychologismus sich zu verlieren. 250 Dem Kategorischen Imperativ in seinen verschiedenen Formeln. 251 Herbart Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, 2  Bde., Königsberg 1824/25. Vgl. zur Rekonstruktion und Untermauerung dieser Schlatterschen Darstellung Franz Träger, Herbarts realistisches Denken. Ein Abriss, Würzburg 1982. Systematisch stellt Schlatter hier die bis heute in der Moralphilosophie bedeutsame Frage, inwieweit die Normativität der Ethik deskriptiv rekonstruiert werden kann.

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zulässt, kein Wenn und Aber duldet. Du sollst. Und doch an Macht bleibt das Ich in seinem Begehren ihm übergeordnet, nun erst folgt der Akt der Wahl, und er kann ausfallen für oder gegen die am Gewissen haftende Strebung. Man hat Kant oft bestritten, [92] dass es einen Kategorischen Imperativ gebe. Und Kant hat dergleichen Einreden dadurch [hervor]gerufen, dass er mit seiner Formel eine Nebenvorstellung mischt. Kant hat eine Vorstellung von Gewissen wenigstens begünstigt, die dasselbe gänzlich isoliert vom übrigen Seelenleben als einen in sich geschlossen, von allem Kausalzusammenhang abgelösten Akt; die reine Vernunft ruft bei ihm aus ihrer Transzendenz einen Imperativ ins empirische Seelenleben hinein. Ein solches Gewissen gibt es nicht. Jede Gewissensäußerung ist ein Individuelles, das so nur in diesem Individuum und nur auf diesem Punkt seines Lebens vorkommen kann, denn sie setzt einen realen Willen voraus, und dieser beurtheilte Wille ist von hundert und hundert Hypothesen abhängig. Allein inhaltlich ist die Forderung in der That bedingungslos. Und wer die Begriffe gut und böse, an Bedingungen knüpfen wollte: so dass derselbe Willensakt unter gewissen Umständen gut, unter andern Bedingungen böse wäre, und die beiden Imperative: du sollst und du darfst nicht wechselweise Geltung haben würden je nach den Bedingungen, der leugnet einfach das Gewissensphänomen und hebt den sittlichen Unterschied in seinem Grundwesen auf. Gegen den offnen Protest unsres sittlichen Bewusstseins, kraft dessen das, was böse ist, niemals gut sein kann. [93] Wir haben noch das Objekt der Gewissensfunktion ins Auge zu fassen. Sein Imperativ richtet sich an unsern Willen, und zwar nicht auf das Resultat des Wollens, sondern auf den Akt des Willens selbst. Denken wir an einer Handlung das Wollen weg, der Effekt aber bleibe unverändert, so hört sofort die Gewissensbeurtheilung auf. Nemo invitus facit etiamsi bonum sit quod facit.252 Aber auch der fremde 252 »Denn niemand handelt gegen seinen Willen gut, selbst wenn sein Tun gut ist« Aurelius Augustinus Confessiones I, 12. Dieser Grundsatz ist von großer Bedeutung für die Betonung einer Gewissensethik gegenüber einer nur auf die Tatfolgen orientierten konsequentialistischen Ethik.

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Wille wird Objekt solcher Beurtheilung nach Analogie unsers eignen, und es bewährt sich auch hierin wieder die Souveränität des Gewissens. Wir wissen uns alle einem und demselben Urtheil unterstellt. Was bietet die Thatsache der Gewissensvorgänge unsrem theologischen Erkennen? Das Gewissen selbst ist Akt der Seele, es vollzieht sich innerhalb unsers geistigen Lebens. Eine voreilige Einmischung Gottes kann die richtige Auffassung und Würdigung derselben nur trüben. ἑαυτοῖς εἰσιν νόμος Röm 2,14.253 Auch der Imperativ des Gewissens ist zunächst nicht Gottes Imperativ, sondern der von uns an uns gerichtete, und wir sind uns auch dessen wohl bewusst, daß unser eignes Wollen auf die Gewissenswerthe gerichtet ist, mag auch dasselbe [94] noch so ohnmächtig andern stärkern Begehrungen erliegen. Gleichwohl ist das Gewissen zur Gotteserkenntnis höchst fruchtbar. Einmal negativ dadurch, dass es uns zeigt, dass unser Verhältnis zu Gott nicht das unbedingter Abhängigkeit ist, wie bei der Naturbetrachtung allein dies scheinen könnte. Hier tritt uns die Persönlichkeit entgegen in ihrer Selbständigkeit, in ihrer Macht zu wollen, auch absolut Verwerfliches zu wollen. Die Natur allein könnte unsrer Gottesanschauung eine pantheistische Haltung geben. Die Naturwesen folgen widerstandslos dem Gesetz, dem sie unterstellt sind, der Kraft, die sie bewegt. Wir könnten zum Gedanken kommen, es gibt nur eine Ursache, nur eine Kraft. Dass diese Deutung der Naturempirie falsch ist, erhärtet der Einblick ins Gewissen. Da begegnen wir einer Kausalität, die nicht Gott ist, sondern mein Ich, und doch Kausalität, produktiv in Gutem und Bösem. Unser Sein in Gott, als der Kraft, die alles wirkt, als dem Gesetz, das alles regelt, hört damit nicht auf. Aber wir sehen, dass unser Sein in Gott so bestimmt ist, dass Persönlichkeiten Raum haben in ihm, dass es unter sich eigne, spontane, freie Aktivität der Geister nicht nur zulässt, sondern begründet und trägt. Das ist der Punkt, an dem der Pantheismus stets scheitert.254 Er muss das Böse 253 Bezogen auf die Heiden: Sie sind sich selbst Gesetz. 254 Zugrunde liegt der Gedanke, dass, wenn Gott alles in allem ist und Gott gut sein soll, schlechterdings nichts Böses angenommen werden

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leugnen, der Empirie zum Trotz. [95] Er kann nichts als reell, als existierend zugeben, was nicht sein soll, was verwerflich ist. Die Gewissensvorgänge zeigen aber nicht nur unsre Selbstständigkeit, sondern auch unsre Abhängigkeit von Gott. Gott tritt uns nicht innerhalb des Gewissensverlaufs selbst in die Wahrnehmung, wohl aber dann, wenn wir nach dem Grunde des Gewissens fragen. Solange wir uns diese Frage nicht stellen, ist es allerdings möglich, ja nothwendig, das Gewissen rein als menschlichen Akt aufzufassen, und keine Beziehung zu Gott in demselben wahrzunehmen. Aber gerade das Gewissen stellt dringend die Frage nach seinem Grund. Wie auffallend räthselhaft tritt hier ein Absolutes in unser geistiges Leben! Ein absolutes Urtheil, ein unbedingtes Gebot! Tritt uns draußen im Raum ein äußerliches Unendliches entgegen, so hier im Gewissensgebot ein innerlich Unendliches, ein Ewiges. Woher dieses Ewige in unsrem übrigen geistigen Leben, das sonst keineswegs ewigen Charakter besitzt? Zudem tritt das Gewissensgebot unbeugsam starr unserm eignen Gelüsten und Wählen gegenüber, souverän wider all unsre Willkür, uns spaltend in uns selber, wir gebieten uns, wir verurtheilen uns. Kein Schmerz entsteht ohne einen realen Reiz auf die Seele, es muss also zwischen dem bösen Willen und der Seele ein Wesensgegensatz bestehen, sonst könnte er uns nicht schmerzen, sonst müssten wir nicht gebieten: das darf nicht sein. [96] Alles Reale kommt aus Gott. Nicht unser Fühlen, unser Urtheilen, unser Befehlen ist Gottes Akt, aber die Realverhältnisse, die uns zu solchem Fühlen und Urtheilen und Wollen nöthigen, setzt er. Wir erfahren eine konstante Aktivität Gottes, [die?] [in] uns scheidet zwischen Wollen und Wollen, den einen Willen in uns absolut negiert, den andern billigt, und zwar nun nicht in Analogie einer mechanischen Kraft, die das Verworfene auch physisch verunmöglicht. Der böse Wille ist möglich, denn er kann, auch kein böser Wille. Am tiefsten führte in der Problemgeschichte Schelling mit seiner »Abhandlung über die menschliche Freiheit und damit zusammenhängende Gegenstände« (1809) das Problem des Bösen mit der Gottes- und der Theodizeefrage zusammen.

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ist wirklich und bleibt intakt in seinem physischen Bestand trotz der auf ihm liegenden Verbote, d.h. wir stehen vor dem gebietenden und richtenden Gott. Was gebietet er? Diese Frage ist für unsre Kenntnis Gottes natürlich von höchster Bedeutung. Wir haben zu ihrer Beantwortung ins Auge zu fassen:

b) Der Inhalt des Gewissens Lassen sich bestimmte Normen aufzeigen, nach denen die Gewissensbeurtheilung vor sich geht? In unübersehbarer Vielzahl bilden sich in uns die Gewissensurtheile, und jedes derselben ist ein vollständig individuell bestimmtes. Das schließt aber keineswegs aus, dass nicht wenige Gesetze, vielleicht ein einziges, die ganze Funktion des Gewissens beherrscht, ganz analog, wie in der Natur die bunte Fülle ihrer Erscheinungen von höchst wenigen Gesetzen regirt erscheint. Dass in der That bestimmte Normen im Gewissen liegen, zeigt die ethische Begriffsbildung: wir fassen eine Vielzahl von ethischen Urtheilen in einen Gemeinbegriff, was wir [97] nicht vermöchten, wenn nicht in den individuellen Urtheilen ein gemeinsames enthalten wäre. Wir beurtheilen ferner auch den Fremden, der uns ja niemals nach seiner ganzen individuellen Eigenart vorliegt. Es entsteht nun aber weiter die Frage nach der Variabilität des Gewissens. Wenn es Gewissensgesetze gibt, so müssen die Gewissensurtheile konstant mit sich identisch sein. Sind sie das? Variabel ist jedenfalls unsre Aufmerksamkeit aufs Gewissen, unsre Gewissenhaftigkeit, das ist aber noch nicht Variation des Gewissens selbst. Im Zusammenhang damit, aber doch nicht identisch, ist weiter der Wechsel in der Intensität der Gewissensgefühle, wir empfinden oft lebhaft, oft nur schwach. Aber auch das ist noch keine Variation im Inhalt des Gewissens. Weiter ist variabel der Umfang der Gewissensfunktion, sie wächst, damit, dass neue Objekte in unsren Gesichtskreis treten und zu möglichen oder wirklichen Zielpunkten unsres Begehrens werden. Auch damit ist eine inhaltliche Veränderung noch nicht gegeben, vielmehr zeigt sich hierin die – 164 –

Stetigkeit des Gewissens, das es die Ausdehnung unsres geistigen Lebens mit seinen Urtheilen begleitet. Eine Variation im Gewissensinhalt läge dann vor, wenn es ein irrendes Gewissen gäbe. Ich bin geneigt, das Vorkommen eines solchen zu verneinen. Auf den ethischen Werth des Handelns bezügliche Irrthümer gibt es natürlich reichlich. Aber das sind falsche Schlüsse, deren Ausgangspunkt ein richtiges Gewissensmoment bildet, das aber falsch kombiniert wird. [98] Z.B. die indische Witwe erklärt sich für verpflichtet, sich verbrennen zu lassen: sie schaut darin einen Akt der Liebe, der Hingabe, und diese nennt sie gut und ihre Pflicht. Die Form, in der sie dieselbe vollziehen will, ist ihr traditionell gegeben, und ist absurd, aber das Motiv, weshalb sie dieselbe hoch schätzt als ihre Pflicht, geht auf ein Gewissensurtheil zurück, das mit sich selbst identisch durch die Menschheit durchgeht. Auch wir loben die Liebe, die für den Andern sterben kann. Oder der Beduin[e] gibt dem Gast sein Weib, ein absurder, ein schlechter Akt. Er findet ihn gut, denn er schaut das Wohlwollen an, das in ihm liegt. Er will dem Gaste Lust bereiten. Dass er es auf diese Weise thut, ist schlecht, das Wohlwollen aber ist in der That gut, darin irrt sich sein Gewissen nicht. Die menschlichen Akte werden ebensofort ein sehr Kompliziertes. Vielfältige Faktoren des geistigen Lebens wirken auf dieselben ein, und nichts ist häufiger als Selbsttäuschung über die Motive unsrer eigenen Handlungen. Wie immer die Frage beantwortet werde, gesetzt, es gebe wirklich abnorme Verbildungen des Gewissens, so dass wirklich das Böse als gut und Gutes als böse beurtheilt würde, jedenfalls treten die ethischen Begriffe mit merkwürdiger Konstanz in der Geschichte auf. Man hat mit vollem Recht längst schon darauf hingewiesen, dassder bunten Mannigfaltigkeit der Religionssysteme eine große Übereinstimmung in den ethischen Vorschriften derselben zur Seite gehe. Es sind ins geistige Leben [99] der Menschen gewisse Normen hineingeschrieben, die unauslöschbar sind und über allem Wechsel stehen. Was ist nun Norm? Kant hat eine einheitliche Formel für den Kategorischen Imperativ gesucht und denselben darin gesetzt, dass die Maxime unsers Handelns geeignet sein müsse, Gegenstand allgemeiner Gesetzgebung – 165 –

zu werden. Das ist nun insofern missverständlich, da unser Handeln niemals seine volle individuelle Bestimmtheit verlieren kann noch soll. Wir können nicht als Allgemeinmenschen handeln, sondern lediglich als die eigenartig bestimmten Individuen, die wir sind; richtig aber ist die Kantische Formel,255 sofern sie nichts andres meint, als die inhaltliche Unbedingtheit des Gebots, woraus allerdings folgt das dasselbe Gebot stets identisch an alle sich richtet, die vor derselben Willensentscheidung stehn. Wäre derselbe Willensakt in einem andern Subjekt denkbar, so wäre das Urtheil über ihn ganz identisch, und die auf ihn bezügliche Weisung ganz dieselbe. Aber es ist damit, dass das sittliche Gebot nach seiner Allgemeingültigkeit beschrieben wird, über den Inhalt desselben noch nichts ausgesagt. Wir haben ein heuristisches Prinzip, das uns anleiten kann, das sittliche im gegebenen Fall richtig zu bestimmen, aber nicht ein Materialprincip,256 das inhaltlich die sittliche Norm angäbe. In dieser [100] Hinsicht hat Herbart aufmerksam beobachtet;257 er glaubt, dass sich das Gewissen in fünf sittlichen Ideen beschreiben lasse: Freiheit, Vollkommenheit des Wohlwollens, des Rechts und der Vergeltung benannt. Etwas gehemmt ist er dadurch, dass er als Objekt der Gewissensbeurtheilung nur Willensverhältnisse gelten läßt. Dadurch geht ihm das Sittliche erst da [auf], wo zwei Willen zueinander in Beziehung treten, und das ganze Gebiet der natürlichen Begehrungen steht außerhalb des Gewissens. Das aber ist kein triftiger Einwand gegen Herbart, dass die Gewissensnorm nothwendig nur eine sein müsse. Die Forderung eines einheitlichen Prinzips ist schon als Postulat eine Ungebühr, wir haben nichts zu postulieren, sondern aufzufassen, was ist, und 255 Vgl. die Begründung der praktischen Vernunft, Kant, Kritik der praktischen Vernunft AA V, 42–50. 256 Das stofflich Erste und Grundlegung in Abhebung vom Formalprinzip. Im Hintergrund stehen hier die causa materialis und causa formalis der aristotelischen Vier Causae-Lehre. 257 Johann Friedrich Herbart, Umriss pädagogischer Vorlesungen, Göttingen 21841.

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nichts ist schädigender für eine ruhige Betrachtung des Thatbestands als voreilige Zurückführung des Mannigfaltigen, das in ihm in die Erscheinung tritt, auf eine erkünstelte Einheit. Um die Gewissensnormen zu überblicken, haben wir zu allernächst die Mannigfaltigkeit der Begehrungen zu überschauen. Denn die Gewissensäußerung gibt zum sittlichen Urtheil zwar das Prädikat, das Objekt aber, auf welches sich dasselbe bezieht, bildet unser Wollen nach seiner ganzen Mannigfaltigkeit. Eine erste große Gruppe verwandter Begehrungen ist auf die aus dem Naturverband entstandenen Werthe gerichtet. [101] Hier agiert das Gewissen vorwiegend negativ; die Befriedigung des natürlichen Bedürfens ist nicht mit kräftiger Gewissenslust verknüpft, wohl aber erregt das Übermaß solcher Begehrung energische Gewissensreaktionen in Bezug auf die natürlichen Werthe, wie sie Nahrung, Geschlechtsgenus, Besitz bilden, ist dem Menschen in seiner Organisation eine Schranke gesetzt, die ihm verwehrt, die aus diesen Verhältnissen entspringende Lust rückhaltlos auszukosten. Suchen wir die Grenze, jenseits welcher solche Lust einen bösen Charakter erhält, so bestimmt sich der Grenzpunkt natürlich in vollster individueller Mannigfaltigkeit. Das Gemeinsame aber in all diesen individuellen Grenzlinien wird sich finden im Verhältnis dieser Begehrungen zum übrigen Wollen. Wo dieselben dominierend auftreten, das übrige Wollen absorbierend, das Ich in seiner Gesamtkraft in sich ziehen, da [hinein] verfallen sie der Gewissensregung. Das ethische Moment, das der epikureischen Ethik geblieben ist, so arm sie ist, ἔχω ὀυκ ἔχομαι, wird sich am Gewissen aller bewähren, wie denn auch jenes Axiom seinen biblischen Ausdruck gefunden hat: πάντα μοι ἔξεστιν ἀλλ᾽ οὐκ ἐγὼ ἐξουσιασθήσομαι ὑπό τινος 1Kor 6,12. Wir stehen also vor der Thatsache, dass dem Menschen die Sphäre der Naturgüter als diejenige bezeichnet ist, in die er nicht sein ganzes Wollen hineinsenken darf. [102] Das Ich ist fortwährend zurückgehalten durch göttliche Aktivität vor der Hingabe an die sinnlichen Werke, und muss sich selbst verurtheilen, sowie dieselben sein Begehren dominierend ausfüllen, mögen sie auch noch so sehr Lust und Vergnügen bieten. Auch theologisch ist die Thatsache, sie treibt hinaus über – 167 –

den bloßen Naturgott, wie denn eine Gottesanschauung, die ihn nur als Naturgott fast, diese Schranke niemals anerkennt. Baal wurde stets im Taumel des Rausches und der Unzucht verehrt.258 Allerdings ist Gott die Kraft der Natur und vermittelt uns konstant das Naturleben und den Naturgenus, er begrenzt diese aber auch konstant innerhalb des Geistes, und hebt diesen empor über die Naturgüter, darin seine eigne Erhabenheit bekundend über das, was die Natur an Gotteskraft in sich schließt. 2. Eine zweite Reihe von Begehrungen entspringt aus dem Verbande, in den wir untereinander gestellt sind. Hier treten die Gewissensurtheile nun sehr bestimmt, sowohl negativ als positiv gebietend auf. Sie fassen sich zusammen in die Rechts- und Liebesnorm. Die Weise, wie Jesus in der Bergpredigt das Gesetz Gottes positiv zusammenfast in die beiden Worte: »Aug um Auge«259 und: »Du sollst deinen Nächsten lieben!«,260 also ins Rechtsgebot und ins Liebesgebot [103] wird sich an jeder Beobachtung des Gewissens bewähren. Die Ausbildung eines Rechtssystems finden wir unter allen Völkern wieder, so inhaltlich mannigfaltig sein Inhalt sein mag, und so korrumpiert. Der Begriff Recht, und die Verpflichtung, dasselbe zu handhaben in der Rechtspflege und Gerichtsverwaltung ist universal. Woher das Recht? Aus dem Volksgewissen, und das Volksgewissen ist wiederum nichts andres als das gleichartig bestimmte Gewissen der vielen Einzelnen. suchen wir das Grundmoment im Recht. Wir werden es in der Anerkennung des fremden Willens finden dürfen als einem dem unsrigen an Werth 258 Eine Analogie zum Baalskult stellt hier der Dionysoskult in der vorklassischen griechischen Antike dar. Zum Baalskult: Herbert Niehr, Ba‘alšamem. Studien zur Herkunft, Geschichte und Rezeptionsgeschichte eines phönizischen Gottes, Peeters, Leuven 2003. 259 Ex  21,23–25. Christlich als Talionsgesetz im Sinn der symmetrischen Wiedervergeltung aufgefasst. Die rabbinische Auslegungstradition spricht hingegen nur von einer angemessenen Vergeltung. 260 Dtn 6,4: Kern des im Judentum zwei Mal täglich zu betenden »Schema Israel«.

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gleichstehendem. Wir fordern für unsern eignen Willen und die von ihm angeeignete Gütersumme Anerkennung, aber wir fühlen uns verpflichtet, dieselbe Anerkennung auch den andern zu leisten. Daraus leitet sich sofort die Forderung der Vergeltung ab; da, wo ein Eingriff in die fremde Willenssphäre stattgefunden hat, soll er ausgeglichen werden durch ein Äquivalent, sowohl wenn diese Einwirkung wohlthuend ist, dann ist das Äquivalent Dank, als wenn sie wehtuend ist, dann ist dasselbe Strafe. Damit bestimmt sich die zwischen den Geistern Gemeinschaft stiftende Thätigkeit Gottes näher. Er hat uns verbunden zu einem Geisterreich, er bahnt uns die Wege zueinander, [104] doch dies so, dass innerhalb dieses Reichs jedem Ich seine selbständige Stellung, sein unantastbarer Werth gegeben ist, keines nur Mittel des andern wird, jedes im Besitz eines Güterkreises steht, der die Sphäre seines Rechts ausmacht. Gott ist wirksam im Geisterreich in Rechtsbegründung, und dies [ist] im eminenten Sinn ein gerechter Akt. Wir stoßen auf den gerechten Gott. Es sind keineswegs leere Anthropomorphismen, wenn die dem Rechtsleben entnommenen Begriffe: Gerechtigkeit, Gerecht, Lohn, Strafe usf. auf Gott übertragen werden. Vielmehr sind sie entnommen aus Verhältnissen, die in sich selbst ein göttlich Begründetes sind. Im Rechtsgebot erschöpft sich die Gewissensnorm, die sich auf das Verhalten des Menschen zum Menschen bezieht, nicht. Auch im Rechtsgebot überwiegt das negative Moment, weshalb die Rechtsgebote vorwiegend Verbote sind. Wir schränken unser Wollen ein, halten es zurück von dem dem anderen Ich gehörenden Gut. Es gibt aber auch Übergriffe über die Rechtsnorm in das Leben der andern, die nicht der Verurtheilung des Gewissens unterliegen, im Gegentheil allerhöchste Gewissensbilligung finden. Zur Rechtsforderung [105] tritt das Gebot des Wohlwollens, und wenn wir das Wohlwollen in seiner Reife fassen, wie es die Gesamtkraft der Person in sich aufgenommen hat, so ist es Liebe. Sie liegt über das Recht hinaus, ist nicht wider dasselbe, aber nicht über demselben; damit ist die positive Förderung des andern Ichs von uns gefordert. Die im Rechte gesetzte Gleichstellung wird durchbrochen, aber – 169 –

nicht zu Gunsten des eignen Ichs sondern des andern. Will man beide Normen auf eine Einheit bringen, so ist nicht die Liebe aus dem Recht, wohl aber das Recht aus der Liebe ableitbar als deren Anbahnung und erste Begründung. Also das Geisterreich ist auf einen Liebesverband hin angelegt. Was aber Liebe begründet, ist Liebe ὁ θεὸς ἀγάπη ἐστίν 1Joh 4,16. Das ist ein Satz, der auch dem Gewissensstandpunkt keineswegs völlig fremd ist, vielmehr bildet er das Letzte, Höchste, was uns der Einblick ins geistige Leben theologisch bieten kann.261 Überblicken wir die Normen, die das Gewissen bietet, ein geschlossenes Ganzes, das eine deutliche Antwort auf die Frage gäbe: was sollen wir thun? Wofür leben? sind sie nicht. Es haftet an ihnen eine innere Leere, es sind Formen, aber der Inhalt fehlt. Die Idee des Rechts heißt uns den andern bewahren in seinem Güterbesitz, diejenige der Liebe ihn fördern [106] in demselben, aber was sind das für Güter, die Recht und Liebe mit Inhalt füllen? Zunächst doch nur die Naturwerthe, also Genüsse, denen im Gewissen selbst Schranken gesetzt sind, die innerhalb des Gewissens nicht als absolut werthvoll bezeichnet sind. Wir sind unbedingt verpflichtet zu einer Thätigkeit, deren Ergebnis doch nicht unbedingt werthvoll ist. Wir stoßen hier wieder auf eines der tiefen Räthsel des Lebens, es fehlt ihm an Inhalt, es ist eine ungesättigte unbefriedigte Existenz, daher die lange Weile, daher die Verlegenheit der Ethik, etwas zu nennen, was ein Lebensziel ergäbe, daher so banale Formen der Ethik, wie die Kantische, der uns allen Ernstes erklärt: der Wille dürfe sich schlechterdings nicht bestimmen lassen durch seinen Inhalt. Ich darf zu einem Wollen nicht bewogen sein durch das, was ich will, das Motiv meines Wollens muß die reine leere Form des Gesetzes sein. Natürlich ein Unding, der Wille ist stets durch sein Objekt bestimmt. Aber auch diese Seite an der Kantischen Ethik beruht auf einer sehr richtigen Wahrnehmung, 261 Vgl. dazu Schlatter, Das christliche Dogma, aaO 186–198 (s.o. Anm. 43), sowie Schlatter, Die christliche Ethik, Stuttgart 31929, 116–135 (text- und seitenidentisch mit 51986.)

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nämlich derjenigen, dass der unbedingt geforderten Form unsers Willens kein unbedingt werthvoller Inhalt entspricht. Auch diese Begrenzung des Gewissensinhalts hat natürlich [ihre] theologische Bedeutung. Gott hat uns in einen [107] unbefriedigenden Status hineingestellt, und dies nicht nur insofern, als unser Wille thatsächlich der Gewissensnorm vielfach wiederstreitet, also von uns selbst als böse verworfen werden muss, sondern auch darum, weil das Gewissen uns, solange die Betrachtung das naturhaft Gegebene ins Auge fasst, kein Gut und Ziel nennt, in das sich unser Wollen ohne Abzug und Einsprache hineinsenken könnte. Wir stehen vor derselben Thatsache, die uns auch schon die Natur in ihrer Weise bot. Ascendenz. Geschichte. Es erschöpft sich das göttliche Wollen und Wirken nicht in seinem ersten Akte, derselbe hat vielmehr nur den Charakter eines Anfangs, das göttliche Schaffen schreitet weiter, es folgen höhere Bildungen auf niedrigere. so auch im geistigen Leben, es bietet sich eine Stelle, die noch leer ist, es weist über sich selbst hinaus auf höhere Füllung. Wo findet sie dieselbe?

c) Das Erkennen Es wurde bisher das Gebiet unsrer Begehrungen ins Auge gefaßt, mit denselben im engsten Wechselverband entfaltet sich in der Seele die erkennende Thätigkeit. Es kommt uns hier unter anderm Gesichtspunkt als in der Einleitung nochmals zur Betrachtung. Dort fragten wir, wie es [das Erkennen; W.N.] beschaffen sein müsse, wenn es Gott zu seinem Objekte haben soll. Hier fragen wir, wie es sich nach seinem [108] [Verhältnis] zu Gott verhält. Unser Erkennen ist ebenso wenig unmittelbar eine Thätigkeit Gottes in uns, als unser Begehren und unser Gewissen. Wir begegnen im Erkennen derselben Werthschätzung der menschlichen Persönlichkeit, sie ist zu eigner Thätigkeit berufen, wie im Gebiet des Willens. Das Weltbild ist uns unmittelbar gegeben, es fällt, nicht an unsere bewusste Arbeit gebunden, in unsre Sinne, und doch ist‘s uns wiederum nicht gegeben, sondern muss erst in eignem Aufmerken, in – 171 –

einer Analyse der uns gegebnen Wahrnehmung von uns angeeignet werden. Weil unser Erkennen Selbstthätigkeit ist, findet sich innerhalb desselben ein dem ethischen Gegensatz analoger Unterschied, der von wahr und falsch, von Erkenntnis und Irrung. Im Irrthum werden wir handgreiflich davon überführt, das unser Wollen am Erkennen mitbeteiligt ist, und es bildet wiederum ein Faktum, an dem alle pantheistische Gotteslehre scheitert. Unsre Selbständigkeit im Erkennen ist aber verbunden mit Unterthänigkeit unter Normen, die den ganzen Denkprozess beherrschen und deren wir uns nicht entschlagen können. Es sind vor allem deren zwei, das Identitäts-262 und Kausalitätsprincip. Sie sind nicht als angeborene Ideen im Geiste [zu betrachten], von ferne nicht! sie werden vielmehr als Formel erst durch Abstraktion aus der [109] Beobachtung des Verlaufs des Denkens gewonnen. Aber diese abstrakten Regeln drücken in der That die Form aus, nach der sich unser Denken konstant bewegt, und nach der wir auch die Scheidung zwischen wahren und falschen Urtheilen vollziehn. Beide Principien verhalten sich eigenthümlich zueinander, sie bilden einen gewissen Gegensatz. Das eine spricht von fester Beharrung in seiner eignen Qualität, das andre von Wandelbarkeit von Veränderung, von Einwirkung auf andres. Das eine nöthigt uns, ein festes Sein zu denken, das andre ein beweglich Wirkendes. Stammt diese logische Gesetzgebung aus dem menschlichen Ich? Damit verfallen wir der Skepsis. Aber wir erkennen. Also stehen wir vor einem höchst wunderbaren Ineinandergreifen des Geists und der Dinge, vor einem Adaptionsverhältnis beider aneinander, das undenkbar ist ohne Gott. Ohne ihn keine Wahrheit, kein dem Denken aufgeschlossenes Sein, und kein dem sein konformes Denken. Er ist die Wahrheit, ganz ebenso wie er die Gerechtigkeit und die Liebe ist. Von hier aus wird auch die logische Gesetzgebung bedeutsam, sie wird als die Spiegelung Gottes offenbar, des Gottes, der sich selbst gleich beharrende Sub262 Schlatter führt die logischen Urteile und ihre Formen auf Realprinzipien zurück, deren wichtigste er hier nennt. Vgl. dazu Schlatter, Metaphysik, aaO 91–98 (s.o. Anm. 33).

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stanz ist, und darum auch den Substanzbegriff unserm Denken eingesenkt hat, und des Gottes, der Kausalität ist und darum auch [110] nach Kausalität uns fragen heißt. Diese Grundkategorien sind ja auch diejenigen, welche die Elemente zur Gottesanschauung geben. Müssten wir nicht nach dem Grunde der Dinge fragen, wenn wir denken wollen, und müssten wir die Ursache derselben nicht als seiend denken, welches ist, das es ist, so käme es niemals zum Gottesgedanken. Das die Menschheit in die Nothwendigkeit gestellt ist, Mythologie zu bilden oder dann Theologie, das ist, von allem übrigen abgesehen, schon logisch begründet, darin, das die Herrschaft jener beiden Kategorien unweigerlich ist, und die Frage darum nie aussterben wird nach dem ὄντος ὄν, aus welchem alles ist.263 Wie verhält sich nun das Gewissen gegenüber dem Erkennen? Auch hier vorwiegend negativ. Zweifellos ist mit dem Streben nach und dem Besitz von Erkenntnissen Lust verbunden, aber nicht jene ganze Befriedigung, die im Urtheil: das ist gut zum Ausdruck [kommt], nicht jene Sättigung des Ichs, die ein absolut Werthvolles gefunden zu haben gewiss ist. Wo der Wille in Gegensatz zur Wahrheit tritt, direkt deren Verhüllung und Verkehrung bezweckend, da erhebt sich energischer Gewissensprotest. Neben dem Begriff Irrthum steht der andre Begriff Lüge, von demselben deutlich geschieden durch die in ihm enthaltene Gewissensverurtheilung. [111] Es gestaltet sich somit das Verhältnis zwischen Gewissen und Erkennen demjenigen analog, das zwischen den sinnlichen Begehrungen und Lustempfindungen und dem Gewissen besteht. Die Verkehrung der erkennenden Funktion wird gestraft, sie wird damit anerkannt als ein wesentlicher, unablösbarer Bestandtheil der Lebensbewegung, aber ein positives Gebot, das dieser Funktion einen in sich selbst ruhenden unbedingten Werth gäbe, richtet sich 263 Für Platon und den Platonismus ist das ontos on, das eigentlich und im höchsten Maße Seiende die Idee, insbesondere die Idee des Guten (idea tou agathou) Platon, Politeia 505 b 6. Dagegen bezieht sich Aristoteles nur auf die Formalstruktur des Seienden, das on he on.

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nicht auf sie. Zwar hat sich die außerchristliche Ethik oft genug in ihrer Verlegenheit, einen umfassenden Lebenszweck namhaft zu machen, zum Erkennen geflüchtet. Aristoteles stellt hoch über die praktische Tugend die theoretische Tugend,264 die uns auch diese Haltung, das Erkennen, preist, das zur Tüchtigkeit gesteigerte Erkenntnisvermögen als dasjenige, was keine Bedürftigkeit und Abhängigkeit in sich schließt. Sein Gott ist nur Erkennen und hat darin, dass er das vollkommene Erkennen ist, vollkommene Seligkeit. Ebenso wieder Spinoza,265 der uns auch als den Heilsweg das Erkennen preist. Allein gesetzt unser Geist wäre der vollkommenste Spiegel alles Seiende[n], der gesamte Weltlauf fände in unsren Vorstellungsreihen sein genau entsprechendes Gegenbild, die Frage wäre damit nicht beantwortet, würde sich vielmehr mit unausrottbarer Kraft immer wieder stellen: wozu denn diese Reproduktion des Seienden? Nur dazu, damit es zweimal vorhanden sei, einmal in seinem eigenen Bestand und nochmals in unsrem Bilde? Das Erkennen füllt die Leere des Lebens nicht aus. [112]

d) Die Religionen als nach Gott suchendes Streben Der Mensch steht auf allen Punkten seines Lebens in konstanter Realbeziehung zu Gott, und durch das Gewissen gewinnt dieselbe nicht nur einen physischen, sondern einen persönlich-geistigen Charakter. Allein es liegt in großartigen, die menschliche Geschichte höchst effektiv bedingenden Erscheinungen die Thatsache vor uns, dass sich der Mensch nicht genügen lässt an dieser unmittelbaren Beziehung zu Gott. Er sucht einen Konnex mit Gott, der über diese unmittelbare naturhafte Beziehung zu Gott – und auch das Gewissen als unsrem geistigen Leben naturhaft eingepflanzter Vorgang 264 Vgl. Aristoteles, Metaphysik Buch XII. 265 Spinoza, Ethik I und II setzt die in de göttlichen Einen kulminierende Kontemplation über alle Aktivitäten. Dazu wieder Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, aaO (s.o. Anm. 225).

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setzt ein Naturverhältnis zu Gott – hinausgreifen soll. Dieses Streben nach einer der Natur jenseitigen Gottesgemeinschaft liegt vor uns in den Religionen. Die analytische Richtung unsrer Untersuchung stellt uns nicht die Frage, wie etwa die Religionen aus dem menschlichen Wesen abzuleiten und zu begreifen sind, noch auch verlangt sie von uns die Bildung eines Allgemeinbegriffs, eine Definition, was Religion als das Allgemeine der realen einzelnen Religionen und Religiositäten sei. Dasjenige, was unsre Untersuchung ins Auge zu fassen hat, ist das Thatsächliche der Religionen. Was ist und geschieht denn wirklich in derjenigen Sphäre der Geschichte, die wir abgrenzen als ein eigenthümliches Sondergebiet mit dem Wort: die Religionen? Und von diesem Gesichtspunkt aus stellen sie sich zu allernächst als ein menschliches Streben dar, und zwar als ein Streben, das auf Gott gerichtet ist. Gesetzt: die Religionen seien noch mehr als dies, [113] sie seien wenigstens nicht überall nur Streben und Begehrung, Strebung der Menschen empor zu Gott sind sie jedenfalls. Diese Strebung bestimmt die Gedankenbildung der Völker. Es gibt Religionen, das heißt zu allernächst, die Völker haben die Gottesanschauung vollzogen, sie denken den Gottesgedanken und fixiren ihn im Wort, und um denselben herum lagert sich ein mehr oder minder ausgebildeter, mehr oder minder fixierter Lehrkreis,266 dessen Tradition als eine wesentliche Aufgabe der Religionen gilt diese theoretische Seite an den Religionen tritt historisch in sehr mannigfaltiger Ausbildung auf, aber ganz fehlt sie nirgends. Überall finden wir einen Mythos, eine Gotteslehre, bestimmte Vorstellungen über Dasein und Wirkungsweise der Gottheit, und diese Vorstellungen sind Bedingung und Träger alles dessen, was sonst noch die Religion eines Volkes ausmacht. Sie erschöpft sich aber nirgends in der Tradition von Doktrinen, sie ist nirgends nur Lehre. Zur Gotteslehre tritt der Gottesdienst. Wir sehen überall die Völker mit großem Kraftaufwand bemüht, der Gottheit Dienste zu erweisen, ein Dienst, der ihnen unter 266 Vgl. zum Hintergrund dieser typologischen Einsichten Martin Persson Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, 2 Bde., München 1967 und 1974.

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den Gesichtspunkt der Pflicht tritt, des unbedingt Geforderten. Der ἀσεβής, der den Göttern das σέβεσθαι [ver]weigert, verfällt der Gewissensverurtheilung. Dieser Dienst gestaltet sich nach den beiden vom Gewissen dargebotnen Grundideen, derjenigen des Rechts und derjenigen der Liebe. Die Rechtsidee [114] wird von den Völkern auf die Gottheit übertragen, sofern sie sich für gebunden halten zur Anerkennung der göttlichen Willens- und Machtsphäre. Mit heiliger Scheu wird diese respektiert. Der Übergriff in dieselbe, die ὕβρις,267 welche die Gottheit nicht achte[t], eingreift in ihren Willen und ihr Eigenthum wird verflucht. Je ärmlicher, schwächer die Religionsbildungen sind, umso mehr bleibt der Gottesdienst derselben im Rechtsbegriff beschlossen, wodurch er eine vorwiegend negative Haltung gewinnt. Aber ganz fehlt doch auch das zweite nirgends, dass sich der Mensch bestrebt, der Gottheit Liebesübung darzubringen. Überall tritt in den Religionen die den Göttern geschenkte Gabe auf, der Kultus wird Opfer in mancherlei Formen, Tieropfer, Zeitopfer, das Opfer des preisenden Worts. Geben aber ist Liebe. Liebe gibt, darin hat sie ihr eigenstes Wesen. Beide Bestrebungen, die Furcht vor dem, was Gottes ist, und Liebe, die Gott opfert, gewinnen eine unbegrenzte, unbedingte Tragweite. Die Antastung der Gottheit sühnt nur der Tod. Und wiederum der höchsten Gabe ist sie werth, daher das Blutopfer, d.h. das Lebensopfer in seiner überaus großen Ausdehnung durch die Religionen, und es hat sich dasselbe bekanntlich oft zum Menschenopfer gestaltet. Es gibt nichts, was den Göttern verweigert würde. Die beiden Motive des Gottesdiensts erzeugen268 [115] natürlich nicht gesonderte Reihen von Erscheinungen, sie verflechten sich aufs mannigfaltigste zu einem einigen Handeln, das 267 Auch in Platons Spätwerk »Nomoi«, die Gesetze, spielt der Frömmigkeitsfrevel eine herausragende Rolle. Dazu Harald Seubert, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre, Berlin 2005, 470ff. 268 Diese Einsichten Schlatters können durch die jüngere religionsphilosophische und -phänomenologische Forschung vielfach bestätigt werden. Vgl. etwa Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, 5 Bde., Freiburg i.Br. 1978.

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Gott lassen und leisten will, was Gottes ist. Aber auch der Gottesdienst nennt noch nicht alles, was die Religionen in sich fassen. Es kommt noch ein drittes, und wesentliches Moment überall hinzu, die Religionen fassen sich selbst auf als Vermittlung göttlicher Hülfe. Nicht der Mensch nur gibt Gott Gaben, er erwartet seinerseits von den Göttern Gaben, und zwar Güter, die der Naturlauf nicht durch sich selbst schon brächte, die vielmehr aus einem neuen, über die Natur hinausgreifenden Handeln der Gottheit erwachsen können. Inhaltlich liegen diese Güter freilich vielfach auch ihrerseits in der Natursphäre, nur dass sie durch die Gottheit ausdrücklich für den Bittenden hergestellt werden. Um das Gedeihen der Herden und der Feldfrucht, um Hülfe in der Krankheit und Sieg im Kampf beten die Völker. Aber die göttliche Hülfeleistung, die begehrt und angestrebt wird, erstreckt sich auch auf die innern Gebiete des geistigen Lebens. Es wird von den Götter erwartet, dass sie Lehre geben, von ihnen stammt Weisheit, und vor allem […] das auf die Gottheit selbst bezügliche Wissen stellt sich dar als Geschenk und Gabe der Gottheit, zu deren Empfang die Religionen befähigen. Daher Mysterium, priesterliche Überlieferungen, heilige Bücher. Noch häufiger und allgemeiner wird göttliche Hülfe angestrebt für die Leitung [116] des menschlichen Willens. Die Gottheit soll dem Menschen seinen Weg weisen, ihren Willen kundthun, damit der Mensch daran erkenne, was ihm heilbringend ist, daher das Zeichen- und Orakelwesen.269 Weiter richtet sich der Blick [der] Völker oft auf den Tod. Die Götter helfen im Tode und nach dem Tode; und sich diese Hülfe fürs Jenseits zu verschaffen, ist Zweck der Religionen. Endlich tritt überall auch die am Bösen haftende Belastung mit unter die Dinge, für welche die Hülfe der Götter gesucht wird. Stillung ihres Zornes, Abwendung der Strafe, Sühnung der Schuld, das sollen die Religionen gewähren. Wie haben wir die Bestrebungen der Völker zu beurtheilen? Sie kennzeichnen sich deutlich als der Völker eigne That, nicht sofort 269 Vgl. dazu Stefan M.  Maul, Die Wahrsagekunst im alten Orient, München 2013.

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als Gottes Werk, denn sie sind reichlich mit Verirrungen gemischt, ihre theoretischen Bestandtheile sind vielfach überaus dunkel und trüb, falsch, man denke doch nur an den Polytheismus; ihre Praxis durchbricht vielfach die grundlegenden Gewissensnormen, Thaten, die an sich selbst böse sind, wie Mord im Menschenopfer, Unzucht, im Keuschheitsopfer treten auf als Gottesdienst, und diese falschen und bösen Elemente durchdringen auch die Hülfsbegehrung und Hülfsvermittlung, welche die Religionen anstreben. Sie sind, das ist nicht zu leugnen, nicht nur als ein Segen sondern zugleich, als ein Quellpunkt großer Übel für die Völker, einer der wirksamsten Faktoren in deren Ruin. So gewiss die Religionen in großem Umfang falsch sind, und den Unterschied zwischen falscher und wahrer [117] Religion aufgeben, heißt den Religionsbegriff überhaupt negieren, so gewiss geben sich dieselben als Produkt des Menschen kund. Aber damit, dass sich ein Streben erfolglos verirrt, ist noch kein Urtheil gegeben über seinen ursprünglichen Werth. Die theoretische Seite an den Religionen hat in unsrer bisherigen Darlegung ihre volle Beleuchtung gefunden; sie kann sich uns nicht mehr als ein Räthsel darstellen, wenn wirklich die Welt auch uns zum Theologoumenon treibt. Der Akt des alten Griechen, der sich die Sonne gestaltet zum handelnden Gott, der sie göttlich beseelt als Helios, der den Himmel auf seinem Wagen befährt, und derjenige Akt in uns, kraft dessen wir Gott erfassen als Band zwischen Sonne und Seele, zwischen ihrer Bewegung und dem leuchtenden Strahle in uns, und mit Jesus sagen: Gottes Sonne ὁ ἥλιος αὐτοῦ Mt  5,45 beide Akte sind innerlich verwandt. Des Griechen Gedanke ist trübe, irrend darin, daß er die Sonne herauslöst aus dem Kosmos als für sich eine Gottesmacht und Gottesperson, unser Gedanke ist heller, mehr Erkenntnis als der seinige aber in ihren Motiven ist unsre Thätigkeit der seinigen analog, und es gereicht unserer Untersuchung zur Bestätigung, dass sie in Einklang steht mit dem, was die Völker allezeit thaten, wie wiederum unser eignes Thun uns das Verständnis verschließt für das theoretische Element in den Religionen. Oder lag im Gottesdienst der Völker eine Selbsttäuschung? Liegt im Begriff: religiöse Pflichten eine Gewissensverirrung? Lässt – 178 –

unser Gewissen unser Verhalten Gott gegenüber [118] unbeurtheilt? Verspüren wir keinen Imperativ hinsichtlich Gottes?270 Die Frage zielt auf ein Faktum, worüber nur Beobachtung entscheiden kann. Gesetzt Gott sei, und dies so, dass er mir erkennbar ist, dass ich in solchem Verhältnis zu ihm stehe, das Kenntnis Gottes aus demselben erwächst, ist es dann sittlich möglich, ihn zu ignorieren, ergeht damit nicht unmittelbar ein Anspruch an unsern Willen? Die Gewissensnormen übertragen sich unmittelbar auch auf Gott, die Sphäre unsers vom Gewissen aus normierten Handelns dehnt sich aus auf das Phänomen, das den Gottesdienst der Völker erzeugt hat, die Verknüpfung von Gewissensimperativen mit der Gottesanschauung wiederholt sich in uns allen, so wie die Überzeugung sich ins Bewusstsein stellt: Gott ist. Man kann Gott ohne Gewissensbestrafung nur ignorieren, wenn man ihn leugnet. Zwar hat sich die Unterscheidung von Religiosität und Sittlichkeit unter uns festgesetzt und sie ist relativ berechtigt, denn zwei Erreger fassen unsre Seele, Welt und Gott. Dort stehn die Triebe, die auf die Aneignung der Welt gerichtet sind, hier die Triebe, die auf Gott sich wenden, beiden sind ihre Normen gegeben. Die Gesetze unsres Weltlebens nennen wir die sittliche Pflicht, die Gesetze unsres Gotteslebens die religiöse. [...] Sind unsre auf die Welt gerichteten Triebe den Gewissensnormen unterthan, so sprechen wir von sittlicher Tugend. [119] Ist unser auf Gott gerichteter Wille den Gewissensnormen unterthan, so sprechen wir von religiöser Tugend. Aber der Unterschied zwischen beiden, Pflichten und Tugenden, liegt im verschiednen Objekt, auf das sich die Thätigkeit bezieht, und nicht in der Weise, wie beides Pflicht und Tugend ist, als wäre das eine mehr Pflicht als das andre oder in anderer Weise Pflicht als das andre. Wir sind zur Religiosität genau ebenso verpflichtet als zur 270 Schlatter behandelt in diesem Zusammenhang Religionen auch als Erkenntnissysteme mit der entsprechenden ethischen Implikation. Entscheidungspunkt ist aber nicht eine theoretische Evidenz, sondern nur das Faktum selbst. Daher ist auch das Gewissen letztlich nur als Faktum zu begründen und zu verstehen.

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Sittlichkeit, und das Leben ist ebensowenig normal, wenn die eine als wenn die andre fehlt. Dies bestätigt sich darin, dass beide Triebe nur miteinander sich normal entfalten. Falsche Stellung des Willens zu Gott erzeugt aus sich selbst Unsittlichkeit, und Unsittlichkeit erzeugt aus sich selbst Korruption der Religiosität. Ist dem so, so begegnet uns im Gewissen eine Aktivität Gottes, die das menschliche Wollen und Handeln auf ihn hin richten. Wir stehen vor dem Gott, der unsern Willen begehrt, d.h. der unsere Liebe begehrt für sich. Das ist das Moment der Gnade im Gewissen. Es ist Gnade, wenn der Kosmokrator uns sagt: »Liebe mich!«271 Aber die Hülfsbegehrung und Hülfsvermittlung, welche die Religionen bieten, ihr Mysterion, wie ist dasselbe zu beurtheilen? Die Hülfsbedürftigkeit des Menschen ist unleugbar. Wir hatten der Natur gegenüber keine Möglichkeit, das Naturübel zu negieren. Wir begegnen im geistigen Leben dem Faktum eines absolut verwerfenden Urtheils [120] über unser Wollen, das keineswegs nur angedrohte Möglichkeit bleibt, sondern nur zu oft Wirklichkeit wird. Unser Wollen ist uns oft genug gekennzeichnet als schlechthin verwerflich. Und gesetzt auch, unser Wollen wäre ganz normal, so liegt doch innerhalb der unserm Leben durch die Natur gegebenen Grenzen kein Inhalt, der uns voll befriedigte, keine Seligkeit. Wie nun, wenn Gott in unsre Erkenntnis tritt, und der Gewissensimperativ sich auch auf ihn erstreckt, ist damit diese Lehre nicht ausgefüllt, erschließt sich uns eben hiemit ein summum bonum,272 das sich als Hülfe erweisen wird für unsre Übel? Freilich zunächst sind die Religionen nichts mehr als der bittende Aufschrei der Menschheit um solche Hülfe. Wir stehen vor der Frage: ist das in ihnen liegende Streben irgendwo befriedigt? Gibt es Religion, die nicht nur Bitte um göttliche Hülfe, sondern Empfang göttlicher Hülfe ist? Gibt es gesättigte, befriedigte Religion, die nicht nur Hülfsgesuch des Menschen an Gott, sondern auch Hülfsthat Gottes für 271 Sinngemäß Spr 8,17. 272 »Höchstes Gutes«, ethischer Maximalbegriff, der auch zum Gottesbegriff werden kann.

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den Menschen ist? Das wäre [ein?] höchst wichtiges theologisches Prädikat, wenn sich uns Gott ergäbe als der Gott unsres Heils: Diese Frage treibt die Erwägung dessen, was in Israel im besondern durch Jesus geschehen ist. Denn wenn irgendwo, so finden wir hier Religion, die mehr als nur Begehrung ist. [121]

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§ 10 Die Selbstbezeugung Gottes in der Prophetie Israels und in Christus a) Ergebnis der Geschichte Israels Schon die Untersuchung der Religionen führt uns in die Geschichte hinein, doch noch nicht nur in vergangene Geschichte, sondern in noch gegenwärtige Geschichte. Das Religionsexperiment wird von den Völkern auch heute noch vor unsern Augen überall versucht. Überall finden wir Kirchen, Tempel und Altäre, und es wird zur Gottheit gebetet um ihre Hülfe und ihre Güter. Die Geschichte Israels jedoch ist vergangene Geschichte, und es entsteht die Frage: ob sie gleich wohl für uns Grund einer gewissen Erkenntnis werden kann; das Vergangene vermittelt sich mit unsrer Kenntnis nur durch viele Zwischenglieder, wodurch nicht nur die Vollständigkeit, sondern auch die Sicherheit unsrer Kenntnis beeinträchtigt wird, zumal wenn die Vergangenheit, um die sich’s handelt, eine so weit entlegene ist. Ist nicht der Verlauf der Geschichte Israels uns vielfach dunkel, problematisch? Was geschah in Abrahams Geschichte wirklich? Was geschah wirklich zu Moses’ Zeit in Ägypten? Sind das nicht Fragen, von denen wissenschaftlich eine gewisse Unsicherheit nicht zu entfernen ist, zumal ja unsre Berichte deutlich die Mannigfaltigkeit der Vermittlungen zeigen, durch welche sie hindurchgegangen sind[?] Und können uns Fakta, auf denen immer eine gewisse Ungewissheit liegen bleibt, Basis werden für dogmatische Erkenntnisse? Wir haben zu unterscheiden zwischen dem Ergebnis und Resultat der Geschichte Israels einerseits, dem Verlauf derselben andrerseits [122] nach dem allgemein gültigen Kanon, dass das, was ist, nicht in Frage gestellt wird durch die Ungewissheit – 182 –

über die Weise, wie es ward. Das Endergebnis dieser Geschichte, das, was in Israel sich schließlich herausgebildet hat als seine Religion, liegt uns in den Grundzügen klar und zweifellos vor. Wir haben einen Zeugen, der uns dieses Endergebnis unmittelbar [vermittelt?], das Alte Testament. Darin findet die Entwicklungsgeschichte Israels ihren Abschluss, dass das Alte Testament und eben dies Alte Testament, das wir haben, und kein anderes, die heilige Schrift Israels ward. Die Kontroverse bezieht sich auf den Werdeprozess, aus dem dieses Endergebnis erwachsen ist, aber die Unsicherheit, die für uns noch über dem Werden und Bildungsgang der Religion Israels liegen mag, dispensiert uns nicht von der Würdigung dessen, was thatsächlich in diesem Volke zustande gekommen ist. Da ist Religion, die mehr als Begehren und Streben ist, nämlich Empfang und Besitz göttlicher Güter. In theoretischer Hinsicht steht die alttestamentliche Gemeinde in einem festen Wahrheitsbesitz, der ihrem Erkennen Befriedigung bot, woraus die Schrift wird. Der religiöse Sammelort der Gemeinde wird die Schule, mit ihrer sabbathlichen Unterweisung des Volks [123] in der Erkenntnis Gottes aus und nach der Schrift. Und dies nicht etwa in Abweichung von der alten Richtung der israelitischen Religion, das Gesetz nennt sich Tora = Lehre,273 Volkslehre; man betrachte das Bild, welches das Deut[eronomium] von Mose zeichnet, vor versammelter Gemeinde in Lehr- und Mahnrede auftretend, predigend, der Begriff Predigt ist vollständig ausgebildet. Ebenso ist die Prophetie »Lehre«. Schon der alte Jesaja 274 hat seine ‎ ‫ם ִדּוּמ ִל‬. Diese Betonung und Pflege der Lehre und Schule zeigt an, daß eben ein Begriffskreis vorhanden ist, welcher der Gemeinde werth ist, weil er ihr Licht gibt, das sie als erleuchtende Wahrheit schätzt. Vgl. das Griechenthum, re273 Frank Crüsemann, Die Tora. Sonderausgabe: Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, Gütersloher Verlagshaus (11992), Neuauflage 2005; ders., Maßstab: Tora. Israels Weisung für christliche Ethik, Gütersloher Verlagshaus, 12003. 274 Vgl. grundlegend Otto Kaiser, Jesaja/Jesajabuch, in: TRE 16, 198, 636–658.

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defertig, denklustig, und ein Analogon zur religiösen Rede Israels, wo findet es sich? Beachten wir ein zweites Phänomen. Der religiöse Gedankenkreis treibt in Israel zur Theologie, das zur Wissenschaft ausreifende Denken fühlt sich nicht abgestoßen vom religiösen Gedankenbesitz des Volks, im Gegentheil dieser bietet sich ihm als die Wahrheit dar, die es mit aller Anstrengung der Denkkraft sich anzueignen gilt. Das Phänomen tritt besonders charakteristisch und augenfällig da auf, wo jüdisches und griechisches Leben zusammenstößt. Es ist ja keineswegs Philos Meinung, dass die Gotteserkenntnis Israels der Ergänzung bedürftig sei aus griechischer Wissenschaft. Im Gegentheil, wenn er die Ergebnisse des griechischen Denkens sich dienstbar macht, so ist sein Zweck lediglich der, vermittelst der [124] griechischen Begriffe voll auszudenken und auszusprechen, was das Alte Test[ament] in sich schließt. Ob er sich hiebei nicht selbst täuscht, ob das Resultat seiner Arbeit nicht ein andres war, ist eine andre Frage. Es handelt sich um die prinzipielle Stellung, die er sich zur Schrift gibt, um die Tendenz, die seine Arbeit in seinem eignen Bewusstsein hat, und dieses ist festgebunden an die Überzeugung: Israel kennt den wahrhaftigen Gott, Israel hat die höchste von allen die Wahrheit bildenden Wissenschaft[en]. Wie ganz anders verlief die geistige Bewegung des Griechenthums: Die Anfänge der wissenschaftlichen Arbeit fingen auch dort mit den religiösen Überlieferungen zusammen an. In den ersten Philosophengestalten ist dieser Zusammenhang noch wirksam, Pythagoras,275 Empedokles.276 Aber dann erfolgt der Bruch scharf und bewusst. Es er275 Pythagoras (570–510), der durch den berühmten mathematischen Lehrsatz bekannt geworden ist, hat selbst keine Schriften hinterlassen. Ihm wurden später die sogenannten »Goldenen Verse« zugewiesen. Die Pythagoreer, deren Prägung vermutlich nach Ägypten zurückreicht und die für Platon eine zentrale Rolle spielten, waren mit einiger Sicherheit nicht nur eine philosophische, sondern auch eine religiöse Gemeinschaft. 276 Empedokles (495–430 v.Chr.) lehrte im Unterschied zu Parmenides, dass das All aus Gegensätzen und dem Verhältnis von Liebe und

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scheint als die Aufgabe der Wissenschaft, die religiösen Überlieferungen zu reinigen, zu beseitigen, zu ersetzen. Und die religiösen Überlieferungen sind hiegegen machtlos, sie zersetzen sich, die spätern Philosophenschulen suchen sie zu beleben, aber doch nur mit halbem Herzen, mit künstlicher Überdeckung des Zwiespalts, der zwischen der eignen Überzeugung und der religiösen Überlieferung besteht; nirgends das fröhliche, gewisse Bekenntnis, das Israel besitzt: wir kennen Gott. Wie charakteristisch scheiden sich die Wege beider [125] Völker schon in der Spruchweisheit. Sie bietet eine sehr entsprechende und eben darum lehrreiche Parallele. Hier wie dort tritt sie mit Ruhm bedeckt auf, als ein neuer großer Gewinn, den sieben Weisen und ihrem Ruhm dort entspricht hier der Ruhm Salomos,277 und doch erscheinen sie ein relativ armes dem gegenüber, was beide Völker schon besitzen. Mythos und Heldensagen der Griechen enthalten ebenso viel Weisheit als die Sentenzen der Weisen, Genesis und Richterbuch ebenso viel Weisheit als das Spruchbuch. Aber der Werth des Spruchs liegt darin, dass die Reflexion in ihm sich geltend macht, welche die Lebensbeobachtung zusammenfasst in ein allgemeines Gesetz, in eine durchgreifende Regel. Es ist der Anfang der Wissenschaft mit ihren Allgemeinbegriffen, der hier wie dort vorliegt und als ein neues und höchst Werthvolles von den Völkern empfunden wird. Aber nun wie verschieden der Inhalt dieser Reflexion! Die griechische Spruchbildung ist weltlich, dem Menschen zugewandt, der Gottesgedanke tritt zurück. Der israelitische Spruch ist vom Gottesgedanken durchzogen. Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang. So tritt schon im Erwachen der denkenden Funktion die verschiedene Stellung zutage, in die der religiöse Gedankenkreis hier und dort zum DenHass beschaffen sei. Sein Tod, der Legende nach als Opfer im Ätna, zeigt ebenso wie sein Leben eine geradezu prophetische Sendung. 277 Zur Weisheitsliteratur Israels, die Schlatter hier in Analogie zur vorsokratischen Philosophie behandelt, vgl. die noch immer wegweisende Studie von Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, NeukirchenVluyn 1970.

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ken tritt, dort wendet sich das Denken unbefriedigt von ihm ab, hier bleibt es in ihm haften, befriedigt, weil es in ihm Wahrheit besitzt. Daher entspringt auch die ganz neue einzigartige Stellung, die sich [126] Israels Religion zu den übrigen Völkern gibt. Hier löst sich die Religion von der nationalen Schranke ab, in doppelter Beziehung einmal so, dass die Auflösung der Nationalität nicht auch den Untergang der Religion nach sich zieht. Vielmehr tritt an Stelle der zerstörten nationalen Bande der religiöse Besitz und erhält den Juden in seiner Nationalität. Was schied den Diasporajuden von seiner Umgebung und verband ihn mit seinen Volksgenossen zu einer festen Einheit? Nichts als die religiöse Differenz, die ihn von jenen trennte und die religiöse Einheit, in der er mit diesen stand. Sodann aber bietet Israel seine Religion auch den übrigen Völkern an als das auch für sie Werthvolle. In Gesetz, Propheten und Psalmen lebt ein gewaltiges Stück Universalismus. »Preist Jahwe alle Völker«: zunächst nur als ideelle Wahrheit, und darum Ziel der Hoffnung, aber die spätere Gemeinde macht auch praktisch damit Ernst, sie missioniert. Überall an die Synagogen heftet sich der Proselytismus.278 Das Bewusstsein des Juden in dieser Hinsicht hat uns Paulus Röm 2 mit großer Kraft geschildert: es trifft vor den Heiden auch diejenigen, die an äußrer Civilisation und an Weltwissen [ihn] weit überragen, als der Lehrer der Unmündigen, als der Leiter der Blinden, als der, welcher die Ausgestaltung der Wahrheit und der Erkenntnis hat im Gesetz und sie den andern Völkern darbieten kann. Die Wahrheit ist universell. Ein das religiöse Denken befriedigender Erkenntnisbesitz [127] steht an keiner nationalen Grenze still. Dass aber in Israel, in welchem doch andrerseits der 278 »Proselyten« wörtlich »Die Hinzugekommenen«, bezeichnet eine Bewegung der Annäherung von nicht-jüdischer Bevölkerung an das Judentum, die nie zur völligen Adoption führen, wohl aber bei Männern die spätere Beschneidung vorsehen konnte. Über die Einzelheiten und biblischen Referenzen unterrichtet David Max Eichhorn (Hg.), Conversion to Judaism. A History and Analysis, New York 1965.

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nationale Verband so energisch betont und gestärkt war und dies von den Grundgedanken seiner Religion aus, der Universalismus ausgeboren wurde, das zeigt, wie tief und voll es durchdrungen war vom Bewusstsein: der wahrhaftige Gott ist uns offenbar. War dieses Bewußtsein Selbsttäuschung? Gegenfrage: Kennen wir einen andern? Veden und Homerische Hymnen können wir nicht mehr beten. Mit Israels Psalmen beten auch wir. Wir mögen einzelnen Stellen des alt[testamentlichen] Texts gegenüber den Eindruck haben, dass hier die Gottesanschauung noch Schranken und Trübungen an sich habe. Fassen wir aber die Gottesanschauung ins Auge, wie sie sich aus der alttest[amentlichen] Schrift als Ganzem ergibt, so ist augenscheinlich unserm eignen Denken in derselben Weg und Ziel gewiesen, und alle Theologie der Kirche hat stets wieder in denselben Gedanken geendet, deren Grundlinien hell und fest in der alttestamentlichen Schrift uns vorgezeichnet sind. Blicken wir auf das gottesdienstliche Moment, so ist zunächst höchst charakteristisch, welche Werthschätzung hier der Gottesdienst erfährt. Er steht da als erstes und höchstes Gebot, als die absolute Pflicht, der alle andern Güter untergeordnet werden. In Israel tritt das religiöse Martyrium auf, lieber wird das Leben preisgegeben als die gottesdienstliche Pflicht verletzt. Und zwar in weiten [128] Kreisen des Volks. Dieser Intensität, mit der die gottesdienstliche Verpflichtung empfunden und anerkannt wird, entspricht, dass ihr ein das gesamte Leben umfassender Inhalt gegeben wird. Israels Gottesdienst steht nicht neben seinem übrigen Leben als eine einzelne abgesonderte Sphäre. In der Ausgestaltung des Gesetzes, wie es in der Gemeinde des zweiten Tempels thatsächlich durchgeführt ist, gibt es gar kein Thun, das nicht in Beziehung auf Gott gesetzt wäre, das ganze Naturleben und das menschliche Gemeinschaftsleben ist alles unterthan gemacht der einen obersten Norm alles Handelns, dass Israel heilig ist, d.h. zugeeignet seinem Gott. Auch die Gewissensnormen erhalten dadurch ihre feste, kräftige Ausprägung. Sie bleiben nicht außerhalb der gottesdienstlichen Pflicht, treten vielmehr mit in dieselbe ein. Die Rechtsnormen sind Gottes Gebote, und Grundlage des – 187 –

Bunds, also Grundbedingungen der Heiligkeit, ebenso die Liebesnorm. Und zwar bilden diese Gewissensnormen nicht nur einen Bestandtheil der religiösen Pflicht neben den andern, sie enthalten vielmehr eine zentrale, den ganzen Kultus beherrschende Stellung. ἀδικητέον καὶ θυτέον lässt Platon seinen Athener sagen, ein Satz, der in Israel nicht aussprechbar war [129] ohne seinen Urheber unter die Anklage der Ruchlosigkeit zu stellen.279 Wo Recht und Liebe zertreten werden, gibt es keinen Gottesdienst, und alles, was an kultischen Gaben Gott gespendet werden mag, ist werthlos. Wenn Jesus das eine höchste Gebot als die Liebe Gottes und des Nächsten benennt, worin das ganze Gesetz enthalten ist, so thut er es mit alttestamentlichen Worten, und der Schriftgelehrte antwortet ihm: »Meister, du hast recht geredet!« Das ist der Kultusbegriff, der sich in Israel durch sein Gesetz und seine Schrift herausgebildet hat. Allerdings, auch der Kultus Israels hat vergängliche Elemente in sich. Aber sind dieselben absolut werthloser Art? Dem Wesen des Kultus innerlich gegensätzlicher? Der Gottesdienst Israels war so beschaffen, dass Jesus an demselben voll und ganz theilnehmen kann. Denken wir ihn in Korinth; seine Stellung zum Kultus wäre keine andre gewesen als diejenige eines Paulus: »Ihr könnt nicht theilnehmen an des Herrn Tisch und an der Dämonen Tisch zugleich!« 1Kor 10,21: absolute Negation dieses Kultus, als Gegentheil wirklichen Gottesdiensts. Dagegen im jerusalemischen Tempel hat er Platz und Raum. Allerdings bedürfen diese Kulturelemente der Interpretation, es gilt sie richtig einzugliedern ins Ganze des Gottesdiensts, der Markt wird aus dem Tempel hinausgeworfen, er ist Bethaus für alle Völker, [130] der Sabbath wird interpretiert, ist dazu da, dass man das Gute thue, dem Händewaschen wird entgegengestellt: was aus dem Herzen kommt, verunreinigt. Die Beschneidung, um mit Paulus zu reden, Siegel der Glaubensgerechtigkeit. Und über dieser Interpretation löst sich die äußere 279 Damit spielt Schlatter auf die platonischen Nomoi an, in der »der Athener« den leitenden Part übernimmt. Vgl. zur Asebieanklage in den platonischen Nomoi, X 907 dff.

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Form dieser Kultuselemente auf. Ist der Tempel Bethaus, nun die Anbetung geschieht in Geist und Wahrheit und ist nicht naturhaft gebunden in Raum und Zeit, der Sabbath hat Raum zum guten Werk, damit löst sich die Siebenzahl der Tage auf. Aber solche Interpretation war dem äußern Kultusakt nichts Fremdes, vielmehr aus ihm selbst Herausgebildetes, und derselbe konnte eben darum als Form diesen Inhalt in sich fassen. Der Tempel konnte Ort wahrhaftiger Anbetung sein, der Sabbath konnte Gott ebenbildliches Ruhen und Wirken sein, man konnte die Beschneidung an sich tragen als Siegel der Glaubensgerechtigkeit. Eben darum weil diese Formen einen wahrhaftig gottesdienstlichen Inhalt hatten, und nach der Werthung und Bestimmung, die sie in der Schrift besitzen, haben sollten, so dass da, wo er ihnen fehlte, Verkehrung ihrer originalen Bedeutung vorliegt, werden auch diese vergänglichen Elemente das Urtheil nicht aufheben: Israel hat seinem Gott gedient, und dies mit einem Dienst, der sich als werthvoll und gut am Gewissen der Menschheit fort und fort bewährt. Israel hat aber weiter Güter gesucht, jenseits der Natur liegende, die ihm von seinem Gott zufließen sollten durch Gottes That und Gabe. Was hat es erlangt? Schlechthin [131] negativ kann diese Frage nach dem Gesagten nicht mehr beantwortet werden. Hat es Wahrheit erlangt und Gottesdienst, nun auch dies sind Güter. Wahrheit ist ein Gut allerhöchsten Werths, und Gottesdienst ist es auch, ob es auch zunächst unsre Thätigkeit und Leistung ist, darum weil er sich als Pflicht mit der kategorischen Forderung eines heiligen Gebots auf uns legt, darum aber enthält er auch da, wo er zustande kommt, jene volle intensive Befriedigung des Geists, die aus dem gethanen Guten entspringt. Aber allerdings alle Religion, und so auch Israels Religion, sucht mehr, nicht nur den lehrenden Gott und den gebietenden Gott, sondern auch den helfenden, gebenden. Nun finden wir in Israel vorerst einen hellen klaren Einblick in Art und Umfang der von Gott zu erwartenden Güter. Dunkel, zersplittert, je der momentanen Noth angepasst, treten die religiösen Zweckbegriffe in den übrigen Religionen auf. Hier in Israel finden wir als das Ergebnis seiner Geschichte den – 189 –

Reichsbegriff.280 Er wird nicht erst neu durch die Predigt des Täufers oder Jesu ins Volk hineingeworfen. Das Neue der Taufpredigt lag im ἤγγικεν. Der Reichsbegriff fasst zusammen, was Israel von seinem Gott erwartete. Wird das summum bonum als Reich und Königthum Gottes definiert, so ist einmal die Gottesanschauung in ihrer Wahrheit festgehalten, auch in der auf Gott gerichteten Begehrung und Erwartung. Dass Gott regiert, als König handelt in seiner aller menschlichen Beeinflussung und Abhängigkeit entzogenen Majestät, das ist Ziel und Gut der Religion. Gott ist als der Gebende und Helfende [132] erfasst und doch nicht als des Menschen Knecht. Der Neger prügelt seinen Gott, wenn er ihm nicht Regen gibt, und solche Verknechtung Gottes an den Menschen liegt als Verkehrung und Fälschung allem religiösen Streben sehr nah. Es will ja auf Gott wirken, Gott erscheint als der durch den Menschen bewegte, aufgerufen, zur Thätigkeit und Gabe veranlasste. Daher die Völker in ihren Religionen ein Element haben, das als Gottesmagie zu benennen ist, auf Gott ausgeübter Zauber, dem er gehorchen muss. All dies das Gottesrecht innerlichst antastende Treiben ist weggewischt damit, dass das Gut, welches Gott gibt und der Mensch erwartet, festgestellt ist als Gottes Reich. Da ist beides geeinigt, die zum Dienst des Menschen sich herablassende Hülfe und die volle Souveränität Gottes. Das höchste Gut besteht eben darin, dass Gott souverän wird im Menschen und in der Welt. Reich Gottes, damit ist weiter auch die Erwartung fest mit den Gewissensnormen verknüpft. Der König übt sein Königthum in Gebot und Gericht. Er ist Gebieter und Richter, und dies beides in Macht, so dass sein Wille geschieht, sein Urtheil sich vollzieht in unerschütterlicher Gültigkeit. Das Übel, von dem der Mensch befreit sein muss, liegt also in seinem Gegensatz zum Willen Gottes, ein Gegensatz, der sich primitiv und originär auch auf Seite 280 Das Reich und der Messianismus werden hier in engsten Zusammenhang gerückt. Vgl. dazu Ernst-Joachim Waschke, Der Gesalbte (= Studien zur alttestamentlichen Theologie: Beihefte zur Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft, 306), Berlin 2001.

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des Menschen in seinem Willen [133] findet. Die Noth, von der ihm geholfen werden muß, ist die Willensnoth, die gottwidrige Beschaffenheit seines Willens. Dein Wille geschehe, der meine geschehe nicht, das ist unabtrennbar mitgesetzt als höchstes Begehren in der Reichshoffnung. Für diese Noth wird die Hülfe gefunden in einer alles mit königlicher Obmacht281 sich unterthan machenden Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit, welche richtet, und des göttlichen Gebietens, das sich Gehorsam schafft. Weiter ist damit ein Zweckbegriff gewonnen, der ein bleibendes, allumfassendes Gut nennt, nicht nur Theilgüter, die in ihrem beschränkten Maß und Werth den Grund einer nur beschränkten Dauer haben. Und umfassend ist dieser Zweck darum, weil er nichts Sachliches erstrebt, was doch wieder nur dem Bereich des Naturlebens angehört. Im Reich ist ein persönliches und darum bleibendes Verhältnis zu Gott gedacht, ein Verband mit Gott. Gott selbst ist damit als summum bonum erstrebt, in die Gemeinschaft mit ihm ist es gesetzt, in die An- und Eingliederung des Menschen in Gottes Willen, Wirken und Besitz; nicht im Sinn eines Untergehens des Menschen in Gott oder der Vermischung des Menschen mit Gott. Wie Gott seine Gottessouveränität bleibt, so dem Menschen der Werth einer freien, selbständigen Persönlichkeit, aber nun eingeschlossen und in Übereinstimmung gesetzt mit Gott. Und zwar greift dieser Zweck über Einzelleben hinaus. Die Einzelpersönlichkeit ergibt noch kein Reich. Wie dasselbe den Einzelnen in Verband setzt mit Gott, so stiftet es auch von Gott aus Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch, [134] einen verbundenen Organismus, der in Gott seine Einheit hat, in ihm den besitzt, der alle Einzelnen bestimmt, ordnet, begabt, eine Menschheit, die Gottes eigen geworden ist und darin auch unter sich verbunden, die volle Auswirkung eines allumfassenden göttlichen Liebeswillens. Was war doch das für eine umfassende Teleologie! Wie hoch war das Leben des Israeliten emporgehoben über alles, was außerhalb Israels vorhanden war, er lebt für Gottes 281 Übermacht.

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Reich. Wem der Reichsgedanke aufgeht, dem ist des Lebens Leere ausgefüllt. Nun hat das Reich eine doppelte Seite, es ist theils Zukunft, theils Gegenwart. Sofern es Zukunft ist, ist es aber nicht nur Hoffnung, sondern Israel besitzt den Reichsbegriff als eine Verheißung, als feste Zusage Gottes. Da stoßen wir auf die Ergänzung zu demjenigen, was in der gottesdienstlichen Sphäre als das Charakteristische der Religion Israels sich herausgestellt hat. Zeigte sich dort das ganze Leben Israels als gefasst in ein Gesetz, das ihm den Charakter einer Gott zu leistenden Pflicht aufdrückt, so stellt sich hier neben das Gesetz eine göttliche Zusage, die einem künftigen Güterbesitz feste Sicherheit und Gewissheit verleiht. Hoffnung aber, die auch Verheißung ist, ist an sich selbst schon ein Gut, ein befreiendes Element wie Schmerz und in der Bewegung des Lebens. [135] Die Reichsverheißung gründet sich aber auf einen gegenwärtigen Besitz. Der Verband mit Gott, der im Reich erhofft wird, ist in seinen Maßen und Grenzen ein schon bestehender. Alle die Begriffe, die als die Grundprincipien des Alten Testaments vorliegen: Israel, Volk Gottes, Gemeinde, Erbe, Eigenthum Gottes, Gott Israels, Herr, König, Mann usf. was sind sie andres als Entfaltung des Reichsbegriffs? Nach der objektiven göttlichen Seite wird das Bestehen des Reichs ausgedrückt im Bundesgedanken, der ein gegenwärtiges nennt, den Besitz, den Israel hat. Gott hat sich ihm verbunden zu einer festen Gemeinschaft, kraft derer ihn das Volk seinen Gott nennen kann. Und es scheidet auch dieser Begriff das Alte Testament sehr tief vom übrigen religiösen Streben des Menschen. Eine Verbundenheit der Götter mit den Völkern wird überall gemacht. Ammon282 ist das Volk des Kamosch, Dagon283 282 Schlatter meint das Volk der Moabiter, schreibt aber versehentlich Ammon. 283 Dagon, Gottheit sumerischer und hethitischer Herkunft, die im 3. und 2. Jahrtausend v.Chr. verehrt wurde. Vgl. den biblischen Beleg 1Sam 5,1–7. Lluís Feliu: The God Dagan in Bronze Age Syria, Brill, Leiden u.a. 2003

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ist der Philister Gott,284 ihr Gott, der ihnen gehörte usf., aber diese Zusammengehörigkeit ist naturhaft gedacht, wie Land und Volk zusammengehören, so Gott und Volk. Der Bund ist kein Naturzusammenhang. Er ist durch Wille und Wahl Gottes gestiftete Gemeinschaft. Das liegt im Wesen des Bunds, dass er da Gemeinschaft stiftet, wo ohne ihn keine bestand. Der Verband mit Gott ist also zurückgeführt auf eine göttliche Willenszuwendung zu Israel, er beruht in einer Liebesthat. Nach der menschlich subjektiven Seite fasst sich das Gut, das den gegenwärtigen Besitz der Gemeinde [136] bildet, zusammen im Glaubensbegriff. Auch er ist nicht erst christlich. Glaubensweckung und -erhaltung ist vielmehr wesentlicher Zweck der Propheten wie des Psalms, wie denn der sprachliche Ausdruck für den Glaubensbegriff alttestamentlich ein sehr reicher [ist]. Im Glauben vollzieht sich der Verbund mit Gott nun auch auf des Menschen Seite in seinem bewussten Personleben. Er gliedert sich ihm an, hängt und hält sich an ihn, und ist befriedet, beruhigt, beseligt darin, dass er sich an Gott halten kann als an seinen Gott. Vgl. Hebr 11. Resümieren wir: es kommt in Israel zu einer Wahrheitsbegründung, welche Erkenntnis Gottes pflegt und erhält, zur Begründung eines Gottesdiensts, der wahrhaft Dienst Gottes ist [ein?] Thun seines Willens zu einem göttlichen Güterbesitz, der Gegenwart und Zukunft umfasst, für die Gegenwart in einem festen Zusammenschluss des Menschen mit Gott in Bund und Glaube, für die Zukunft in einer Verheißung, die eine umfassende Teleologie aufstellt in Gottes Reich und Königthum.

284 Die Philister gelten als Seevolk, das seit dem 12. Jahrhundert v.Chr. die Küsten Palästinas besiedelt. Vgl. Trude und Mosche Dothan, Die Philister. Zivilisation und Kultur eines Seevolkes, Diederichs, München 1999.

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b) Die Genesis der alttestamentlichen Religion Wir stehen nun nicht mehr vor der Frage, wie religiöses Streben entsteht, sondern vor der andern Frage: wie Erfüllung dieses Strebens zustande kam. Denn nicht als ein fruchtloses, leer bleibendes Streben steht die Religion Israels vor uns, sondern als erfüllt mit Kenntnis Gottes da‘at jahwe, mit Gottesdienst jir‘at jahwe, mit einem Verband mit Gott, der für Zukunft und Gegenwart Gott zum Gut des Menschen [137] macht: (Jahwe mein Theil und mein Erbe). Das Alte Test[ament] selbst beantwortet die Frage, wie solche Erfüllung des religiösen Strebens zu Stande kommt, sehr energisch dahin: aus Gott. Gottes ist die Lehre, Gottes das Gesetz, Gottes die Verheißung, Gott ruft die Väter, Gott stiftet den Bund. Ein produktives Mitwirken des Volks am innern Werth seiner Religion wird durch die Schrift schlechthin verneint. Alles was Israel hat, ist es nur und allein durch Gott. Dieses Selbstzeugnis des Alten Testaments legitimiert sich an unserm Erkennen dadurch, dass dasselbe in Einklang steht mit den Grundlinien der Gottesanschauung. Wir können die Befriedigung des religiösen Strebens nicht anderswoher ableiten als aus Gott. Eine Beziehung zu Gott, die nicht durch ihn gestiftet wäre, eine Gottesgemeinschaft, die nicht Gottes Gabe wäre, setzt[e] Gott in Abhängigkeit von uns. Wir kennen ihn als die Kraft, als den Gebietenden, der unsern Willen unbedingt bindet an sich. Damit steht im innern Einklang, dass wir auch in der religiösen Sphäre ihn als den Aktiven, Wirksamen wiederfinden. Steht dies fest, dass es befriedigte Religion gibt, so ist apodiktisch gewiss, dass wir damit vor einem Werk Gottes stehn, aus dem sich nun ein höchst bedeutsames Prädikat Gottes ergibt, eine Erweiterung unsrer Erkenntnis Gottes, weit über das hinaus, was Natur und Gewissen bieten. Nun kennen wir den helfenden Gott, den θεός σωτήρ. Welcher Art ist [138] die Thätigkeit Gottes, aus der der religiöse Besitz Israels sich ergibt? Die wesentlichen Momente im Verlauf dieses Processes liegen klar und zweifellos zutage: Israel verdankt seinen religiösen Besitz der Prophetie. Die Neubildung der Gemeinde nach der – 194 –

babylonischen Katastrophe285 ist Folge der Prophetie. Die Motive, die zur Rückwanderung führten, waren ihre Frucht. Aber auch der Werdemoment des Volks, die ägyptische Errettung, empfängt seine Eigenart, kraft deren er zum bundstiftenden Ereignis wird, durch Mose, also durch die Prophetie. Wir mögen uns die ägyptische Errettung noch so analog denken den Befreiungen, die andere Völker erlebten, etwas Unterschiednes muss ihr anhaften, denn sie hat ganz eigenartige Wirkungen hervorgebracht, und das Unterschiedliche liegt deutlich in Moses’ Persönlichkeit. Durch die Mitwirkung der Prophetie erhält jenes Ereignis für Israel seine bleibende Bedeutung, als eine That seines Gottes, die es für immer zum Eigenthum seines Gottes macht, zum Volk des Herrn. In der Prophetie dokumentiert sich der Bund innerhalb der Empirie. Die beiden andern Stände, Priesterthum und [Königthum], die aktiv auch in die innere Geschichte Israels eingreifen, empfangen ihren geistigen Inhalt aus der Prophetie. Das Gesetz ist in seiner Ausbildung wesentlich priesterliches Werk. Aber schon darin, dass es unablöslich auf allen seinen Stufen mit Moses’ Namen verknüpft bleibt, zeigt sich die innere Abhängigkeit desselben von der Prophetie. Das Deu­ teronom[ium] hängt mit derselben sehr eng zusammen, und auch die im engern Sinn priesterliche [139] Gesetzgebung ist in ihren Prinzipien prophetisch bedingt. Ihr Verhältnis zur Prophetie drückt sich sehr charakteristisch in demjenigen Arons zu Mose aus. Das gesamte Priesterthum und Priesterrecht erscheint als Stiftung der Prophetie286 und leitet daraus seine Heiligkeit ab, dass es zurück285 Das babylonische Exil oder die babylonische Gefangenschaft wird allgemein zwischen 597 und 539 v.Chr. datiert. Vgl. dazu: Martin Sasse, Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels. Historische Ereignisse, Archäologie, Sozialgeschichte, Religions- und Geistesgeschichte, Neukirchen-Vluyn 2004, ebd. 22009, sowie Werner H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament. 5., erweiterte Auflage, de Gruyter, Berlin u.a. 1995. 286 Hinsichtlich der Deutung der Geschichte Israels aus dem Geist der Prophetie vgl. Alfred Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des alten Orients, Leipzig 41934. Diese Deutung wirkte sowohl auf Max

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geht auf die Thora Gottes durch Mose. Wie hoch die Einwirkung des Königthums auf die innern Verhältnisse Israels anzuschlagen ist, vergegenwärtigt uns der eine Name Jerusalem. Was bedeutet nicht Jerusalem fürs Alte Tes[tament], und J[erusalem] ist alles, was es war, geworden durch das Königthum. Aus ihm wächst die speziell messianische Weissagung heraus. Der Erwartete heißt nicht umsonst Davidssohn. Aber nicht für sich allein war das Königthum für Israels inners Leben fruchtbar, sondern dann und dadurch, dass es sich subordinierte unter die Prophetie. Die Prophetie stellt an das Königthum die Forderung, dass es gehorche, sich Ziel und Weg bestimmen lasse durch die Prophetie. Gegen ein autokratisches Königthum, das eigenmächtig sein Recht bestimmt, namentlich Gott gegenüber, steht die Prophetie in energischem Kampf, und darin liegt ein wesentliches Motiv der Königsweissagung, dass sie diesen Gegensatz für die Zukunft überwindet. Auf dem Verheißenen ruht Jahwes Geist mit allen seinen Gaben. Er ist der König nach dem Herzen der Prophetie, der verheißen wird. Nun steht Israels Prophetie in einem scharfen Gegensatz zur Volksreligiosität. Die Geschichte Israels verläuft in einem großen Kampf, hier der prophetische Gedankenkreis, dort der volksthümliche Gedankenkreis, der ebenfalls ein religiöser ist, eine von der Prophetie gerichtete und verworfne Religiosität. Der Kampf endigt erst mit dem Untergang des Volksthums und der Neubildung einer [140] Gemeinde aus dem prophetisch religiösen Motiv selbst heraus. Dieser innere Kampf, der der alttest[amentlichen] Geschichte ihre wunderbare Typik gibt, ist eine keinem Zweifel unterliegende weil unmittelbar durchs Alte Testament selbst festgestellte Thatsache. Die prophetischen Regeln stellen uns mitten in denselben hinein, und die Geschichtsauffassung der historischen Bücher ist vollständig durch denselben bedingt. (Mose, Elia, die ganze Pragmatik). Was die moderne Geschichtsschreibung Neues zu der im Alten Test[ament] selbst gegebnen Darstellung hinzubrachte, ist dies: sie sistierte vorWeber als auch auf Thomas Mann und seine Josephsromane stark ein.

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erst das alttest[amentliche] Urtheil über die der Prophetie entgegenstehende Religiosität, und suchte sich diese zu vergegenwärtigen nach ihrem Bestand und relativen Werth. Das ist eine werthvolle, berechtigte Arbeit. Weiter: sie machte auf die verwandtschaftlichen Bezüge und vermittelten Erscheinungen zwischen beiden aufmerksam und dass es an solchen nicht fehlt, wenn zwei Gedankenkreise innerhalb eines Volkes miteinander ringen, ist zweifellos. Schon die Gemeinsamkeit der Sprache, des ganzen Naturlebens, bedingt sie. Weiter machte sie auf die Entwicklung aufmerksam, welche der Prophetismus selbst durchlaufe, gegenüber der Rückdatierung seines schließlichen Ergebnisses in die ihn begründende mosaische Epoche, auch das mit Recht. Aber alle diese Erweitherungen, zum Theil Korrekturen, der alttest[amentlichen] Geschichtsbetrachtung mit ins Auge gefasst, so wird das Grundfaktum selber dadurch nur heller beleuchtet, dass der religiöse Besitz Israels nicht schon das ursprüngliche Gemeingut der Nation war, nicht Produkt des Volksgeists ist, das er vielmehr zunächst auftritt als Besitz einzelner Persönlichkeiten, der Propheten, um von [141] ihnen aus hineingebildet zu werden in den Besitz des Volks, und diese Hineinbildung des Alten Test[aments] ins Volkstum Israels vollzog sich nicht ohne Beseitigung einer ihr entgegenstehenden Religiosität. Das Alte Test[ament] ist der Sieg der Prophetie über und wider Israels eigene Religiosität. Dieser Kampf beruht darin, dass in Israel ganz dieselben religiösen Vorstellungen und Strebungen vorhanden und wirksam sind, wie in der Völkerwelt, z.B. im Ps 19,4 liegen alle Elemente der Baalsvorstellung, im Ps[alm] selbst vollständig beherrscht und innerlichst durchdrungen von der prophetischen Gotteserkenntnis. Jahwes Herrlichkeit erzählen die Himmel, und die Sonne ist der Bote der Herrlichkeit Jahwes. Aber denken wir uns dieses prophetische Element nur schwach oder erloschen, so nennt der Psalmvers eben diejenigen Elemente, die den Israeliten zum Altar des Baal hinzogen. Er trat vor denselben, um dem Gibbor,287 der

287 Der Mächtige oder Allmächtige.

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alle Morgen in Zeugen der Frische aus seiner Chuppa 288 tritt, zu huldigen. Oder erwägen wir eine gottesdienstliche Willigkeit wie sie Mi 6,6ff. zum Worte kommt, sie ist überaus fromm zu jedem Opfer bereit, und will Jahwe dienen, aber vollständig im Sinn der Gottesmagie, die die willkürlich hereinbrechenden Verderbensmächte in Gott fürchtet, denen sie nun ihrerseits Band und Zügel anlegen will im Opfer. Solcher Kultus versank auch sittlich. Den Attentaten auf die Herrlichkeit Gottes geht stets parallel das Attentat auf die Natur- und Rechtsordnung. Sittlich, d.h. göttlich gerichtete Erregung der sinnlichen Triebe, stellen sich als Kultus dar, vergleiche die Aussagen über das was auf dem Bamot289 geschah und z.B. Jes 28,7 über jerusalemitisches Priesterthum. [142] Welches ist die Kraftquelle der Prophetie, die sie befähigt zur Verurtheilung der sie umgebenden Religiosität und zur fruchtbaren Begründung einer reineren Beziehung zu Gott? Diese Frage wird durch das Selbstzeugnis der Prophetie sehr bestimmt beantwortet. »so spricht der Herr!« Die Prophetie tritt vor Israel als der Bote Gottes, und zwar nicht nur als Empfänger eines inhaltlich unbestimmt bleibenden Auftrags, der aus dem eigenen Urtheil des Propheten seine konkrete Gestalt empfangen musste, sondern der den Propheten in den Dienst Gottes stellende Auftrag zieht nach sich, dass sich in ihm ein Reden Gottes hörbar macht, das ihm inhaltlich Ziel und Weg seiner Thätigkeit bezeichnet in lebendig den Geschichtslauf begleitender und durchdringender Gegenwärtigkeit. Dieses Innewirken Gottes im Propheten kennzeichnet sich, da es im geistigen Leben des Propheten vor sich geht, selbst als ein geistiges und wird auch ausdrücklich von der Prophetie zurückgeführt auf den Geist Gottes. Er gießt seinen Geist aus, so weissagt Jo 3,1. Dieses Selbstzeugnis der Prophetie hat seine Legitimation in seiner Leistung nach dem Kanon Mt 7, das der Prophet an seiner Frucht 288 Hier im allgemeinen Sinn als »Zelt«, sonst spezifisch »Traubaldachin«. 289 Num 21,19–20. Der Ort, den die Israeliten durchzogen, bevor sie zum Berg Pisga kamen.

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erkennbar sei, und diese Frucht ist dies, das durch sie ein göttlich Gutes in der Welt begründet wird. Hier in der Inspiration der Prophetie öffnet sich der Quell, aus welchem geflossen ist alles, was in der Welt an befriedigter Religion an Wahrheit und Gemeinschaft Gottes vorhanden ist. [143] Er stellt uns vor ein Mysterium, denn unsre Analyse ist auf diesem Punkt sehr bald zu Ende, aber damit ist die Thatsächlichkeit der prophetischen Inspiration nicht im mindesten in Frage gestellt. Es fehlt ihr einerseits nicht an einer Analogie die sie einigermaßen verdeutlicht, sofern auch das gemeinmenschliche Geistesleben ein Innewirken290 Gottes aufweist zur Gewissensbegründung. Der Unterschied liegt aber darin, dass im Gewissen Gott allerdings in der Seele aktiv wird, doch nur als der verborgen bleibende Hintergrund dessen, was geschieht. Alles das, was im Gewissen unmittelbar in unser Bewusstsein tritt, ist unser Akt. Hier aber finden wir Vorgänge, die wir unmittelbare Wahrnehmung Gottes nennen müssen, ein Hören Gottes, dem in einzelnen Momenten auch ein Analogon des Sehens zur Seite tritt Jes 6,1. Das Räthselhafte in der Erscheinung ist schließlich nicht wesentlich verschieden von derjenigen Unbegreiflichkeit, die in allem Geschehen haftet, sofern der Weltlauf überall die Aktivität Gottes geeint zeigt mit der Aktivität der Dinge. Auch hier in der prophetischen Erleuchtung haben wir in die Einheit gefasste Zweiheit, die menschliche geistige Thätigkeit wird durch das Innewirken des göttlichen Geists nicht aufgehoben. Nur die unvollkommenen anfänglichen Stufen der Prophetie erfahren die Inspiration als Hemmung und Bindung der natürlichen Geisteskraft. In ihrer Reinheit ist Prophetie ebensowohl Selbstwollen [144] als göttliches Denken und Wollen im Propheten. Die Einigung beider besteht darin, dass die göttliche Aktivität weckt, leitet, regiert, aber andrerseits wiederum der menschlich individuellen Eigenart des Geisteslebens sich einfügt. Wir haben damit wiederum ein Prädikat Gottes von großer Tragweite: Dieu des prophetes non des philosophes stand auf Pas-

290 Innewirken: Einwirken, bzw. innerliches Wirken.

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cals Zettel.291 Als der Prophetengott ist [er] der rettende Gott. Die von Gott aus dem Menschen zufließende Hülfe vollzieht sich dadurch, das Gott nach seiner souveränen Wahl einzelne Persönlichkeiten in ein singuläres Verhältnis zu sich stellt, dadurch, dass er als Geist Wahrheit, Befehl und Kraft gebend in sie hineinwirkt, und zwar nicht sporadisch, hier und dort, sondern in einem zusammenhängenden fortschreitenden Geschichtslauf, und der Zweck solcher Aussonderung ist dienstliche Stellung und Arbeit zunächst in Israel zur Herstellung eines in Wahrheit und Gerechtigkeit sich vollziehenden Verbandes mit Gott, also zur Reinigung und Befriedigung seiner Religion. An der Prophetie tritt Weissagung und Wunder auf. Eine Steigerung des Erkennens ist mit der Prophetie unmittelbar gegeben von ihrer Geistigkeit aus. Die Inspiration bethätigt sich in Erschließung von Wahrheit an die Propheten, aber ihr nächstes und erstes Objekt ist Kräftigung des Gottesbewusstseins. Dieses höhere Wissen bleibt aber nicht in der Abstraktion gefangen in einem von der Realität abgelösten Begriff, [145] sondern heftet sich an bestimmte Momente des Geschichtslaufs, und das in ihnen sich kundgebende Göttliche, und zwar nicht nur in Bezug auf vergangene, sondern auch auf künftige Ereignisse. So wird die Prophetie zum Vorauswissen. Die einfachere Form desselben liegt dann vor, wenn der Prophet eine bestimmte Weisung an das Volk zu richten hat. Dieses setzt voraus, dass er über das Geschehende helle sichere Gewissheit erlangt hat. Mose kommt mit dem Wissen nach Ägypten: »Wir werden ausziehen!« Jesaja tritt mit dem Wissen vor Ahas292: Die Feinde kommen nicht in die Stadt, Jes 7. Elia errichtet den Altar auf dem Karmel, wissend, dass der Blitz nicht ausbleiben wird. Die291 Evokation der Pascalschen Antithese zwischen dem lebendigen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und dem Gott der Philosophen. Blaise Pascal nähte diesen Zettel des »Memorial« in sein Mantelfutter ein, damit er durch das Knistern an die Evidenzerfahrung Gottes erinnert wurde. 292 Ahas: König des Südreiches Juda, ca. 740 v.Chr.

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ses Wissen ist unmittelbar der praktischen Aufgabe des Propheten dienstbar und wird darum auch nur insoweit sein Besitz, als es diese praktische Aufgabe erfordert. Einen höhern, umfassenderen Gehalt gewinnt die Vorschau der Propheten dadurch, dass sie zur Überschau wird über den gesamten Geschichtsverlauf Israels. Aber auch solcher Vorblick ist praktischen Zielen dienend, auch er gehört unmittelbar zu der der Gemeinde der Gottesfürchtenden dargebotnen Hülfe. Ihnen wird im kritischen Moment der Einblick geöffnet in die bleibenden Endziele des göttlichen Handelns und eben damit eine Verheißung begründet, die mehr ist als Hoffnung, weil sie Wort Gottes ist. Wie die Inspiration überhaupt ihre Analogie im göttlichen Moment am konstant vorhandenen Geistesleben hat, so ist auch hier die Divination auf dem Gewissensgebiet ihr Analogon. Nicht nur die Naturgesetzmäßigkeit [146] wird uns erkennbar, sondern vom Gewissen aus gewinnen wir auch Einblick in die innere geistige Gesetzmäßigkeit des menschlichen Lebens und können darum die Linien weiterziehn vom gegenwärtigen Bestand desselben aus auf die ihm entspringende Frucht. Aber auch nur Analogie, nicht Identität besteht zwischen dieser Divination und der Prophetie. Denn diese spricht von künftigen Gottesthaten, einer Kette göttlicher Akte, die, so einstimmig sie mit Natur und Gewissen sind, doch nicht in denselben inbegriffen und durch ihre Normen reguliert sind. Es bethätigt sich in der Möglichkeit der Weissagung auch auf diesem Gebiet das Bestehen eines göttlichen Rathes und Planes, welcher auch diese höchste Sphäre des göttlichen Handelns zu einer festen Gesetzmäßigkeit verknüpft. Die Prophetie lebt nicht nur in der Sphäre der Rede,293 sie greift handelnd in den Nothstand, des Volks oder einzelner aus dem Volke, die sich bittend an sie wenden. Daran knüpft sich das Wunder, d.h. die Bethätigung von Kräften, die weder dem Naturlauf noch dem Innenleben des Menschen eigen sind. Wie der Prophet der 293 Vgl. zum Thema auf der Basis heutiger Forschung M.J. Boda/McConville, J.G. (Hg.), Dictionary of the Old Testament: Prophets, Downers Grove, Illinois 2012.

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Weissagung gegenüber in einer rein dienstlichen Stellung steht, als Überbringer einer Botschaft, die ihm übertragen ist, so verhält er sich analog zum Wunder passiv. Er kündigt es an, (Mose in Ägypten), er bittet um dasselbe (Elia auf dem Karmel). Im Zusammenbestehen beider [147] Elemente, des Ideellen im prophetischen Wort und des Reellen in der begleitenden Machtwirkung dokumentirt sich der göttliche Charakter der letztern, wie das Wunder wiederum die göttlichen Ursprünge des prophetischen Worts ins Licht setzt. Wegen der Grenzen unsrer Naturerkenntnis die Erkennbarkeit des Wunders in Frage zu stellen, ist ein Sophisma.294 Die Konstanz der Natur vermittelt unserm Bewusstsein bestimmte Grenzlinien über das, was der Mensch kann und nicht kann. Das ist gerade der Erfolg des Naturgesetzes, dass das Kraftmaß der Natur kein unbestimmbares, sondern ein bestimmbares ist. Die Verweisung darauf, dass es ja auch teuflische Zeichen gebe, setzt, wenn aus ihr die Unerkennbarkeit des Wunders folgen soll, eine totale Zerrüttung in der menschlichen Erkenntnis und Willensbeurtheilung voraus. Es wäre erst noch zu beweisen, dass der Mensch einen göttlich guten oder einen teuflisch bösen Willen schlechthin nicht mehr von einander scheiden kann. Ernster ist die Frage nach der Möglichkeit des Wunders: Ein Grund- und Ursachloses kann auch das Wunder nicht sein. Es bedarf einer causa sufficiens.295 Und die ist nicht vorhanden, wenn die Gottesanschauung negiert ist. Das ist gerade das den biblischen Wunderbegriff auszeichnende, dass er keinen andern Wunderthäter kennt als Gott. Es muss zugegeben werden, dass sich an einzelnen Stellen diese Grenzlinie etwas verwischt in den biblischen Überlieferungen, z.B. wenn die Gebeine Elisas oder der Schatten des Petrus wunderkräftig sind. In solcher Überschreitung des [148] Kanons, dass Gott Wunder thut 294 Ein Scheinbeweis, der den logischen Anforderungen an einen Beweis nicht genügt. 295 Eines »hinreichenden Grundes«, auch ratio sufficienter. Nach Leibniz’ Metaphysik geschieht nichts ohne einen solchen zureichenden Grund.

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und keiner sonst, werden wir die Anzeichen zu finden haben, dass die Tradition sich trübt und über das Maß des Wirklichen hinaustreibt. Wir kritisieren damit die Schrift nicht mit einem der Schrift fremden Maß, sondern mit dem Kanon, den sie selbst darbietet. Sie macht selbst das Wunder in jedem einzelnen Fall geltend, als Wirkung und Gabe Gottes, in dem das Wunder alleine seine causa sufficiens hat. Wird Gott in Frage gestellt, so lässt sich übers Wunder nicht mehr diskutiren. Der Staubhaufen Demokrits und die Idee Hegels und irgendwo in der Leere über den Dingen schwebende Naturgesetze wirken kein Wunder, doch nicht nur dies, sie wirken eben überhaupt nichts. Der Defekt an der Wunderleugnung ist nicht der, dass sie das Göttliche in jenen einzelnen Ereignissen, die wir Wunder nennen, negiert, sondern der, dass ihr das ordnende Geschehen ein ungöttliches geworden ist, dass sie Natur und Geist in ihrem konstanten Kraftbesitz und in ihrer stets vorhandenen Wirkungsweise von Gott losgerissen hat. Darin ruht auch die Bedeutung der Frage. Es handelt sich nicht nur um ein paar vergangne Ereignisse, sondern die Wunderfrage greift ins ganze Weltbild ein, sie hängt ab von unsrer Beurtheilung des konstanten Geschehens und wirkt wiederum auf diese zurück. Die Frage bestimmt sich also dahin: enthält das Wunder [149] Momente, die der Gottesanschauung widerstreiten? Aber unsre Gottesanschauung ist ein Werdendes, an der unzugänglichen Manifestation Gottes sich Bildendes. Ein apriorisches Urtheil über das, was den Kraft- und Lebensbesitz Gottes ausmacht, also sein Vermögen und Können ergibt, ist nicht Wissenschaft, sondern Narrheit. Die Frage nach der Möglichkeit des Wunders bestimmt sich also nochmals genauer dahin: stehen die sonstigen Manifestationen Gottes in Widerstreit mit dem Wunder, erweist sich das Wunder durch den Konflikt mit den übrigen Gottesereignissen als ungöttlich? So wie die Frage genau gestellt ist, beantwortet sie sich selbst. Der Punkt, der in Frage kommt, ist die Gesetzmäßigkeit des göttlichen Wirkens, wie die Natur es uns vor Augen hält. Dem Wunder fehlt diese Konstanz, es hat den Charakter eines einmaligen momentanen Akts. Es ist ein anderes Neues gegenüber dem stetigen – 203 –

Naturwirken Gottes, aber folgt daraus, dass es ein Gegensatz ist gegen dasselbe? Vom Durchbruch der Naturgesetze zu reden, ist thöricht. Das Gesetz bleibt in seiner Sphäre vollständig unangefochten, aber das Wunder ist ein Andres, Höheres, was nicht unter die dem sonstigen Geschehen entnommene Regel fällt, so wenig das Dasein von Organismen ein Durchbruch ist durchs Gesetz der anorganischen Materie, so wenig das Reden des Menschen ein Durchbruch ist durchs Gesetz, dass Thierseelen nicht reden. Bietet uns die Natur selber nur unwandelbare Konstanz, welche Mannigfaltigkeit des göttlichen Wirkens die auch zeitlich eine andre wird, [150] neue Anfänge setzt. Wie wesentlich ist z.B. der Akt der Gewissensbegründung im Menschen, der Akt der Gravitationsbegründung in der Materie, dort eine Wirkung, die stillsteht beim Imperativ und dem Menschen die volle eigne Kausalität frei lässt, hier eine Wirkung, die unbedingte Hochachtung [?] sich verschafft, in einer Mathematik, die jederzeit [?] absolut dieselbige bleibt. An das Wirken Gottes innerhalb des persönlichen Lebens schließt sich das Wunder nicht als ein widersprechendes sondern sehr harmonisch an. Jenes befähigt den Menschen zum eignen Handeln, aber auch in diesem eignen Handeln in der geschichtlichen Sphäre verlässt ihn Gottes Wirken nicht. Dem Handeln des Menschen gegenüber bestimmt sich nun auch das Wirken Gottes zum Handeln im Vollsinn des Worts zum momentanen Akte, ein Neues Setzen, in Korrelation zu dem, was der Mensch in seinem Handeln seinerseits gesetzt hat. Ein schlechthin Willkürliches, Regel- und Gesetzloses ist das Wunder nicht, nicht in dem Sinne, als sollte nun doch das Wunder aus einer uns verborgnen Naturgesetzmäßigkeit abgeleitet werden, eine Aushülfe, die den Wunderbegriff schädigt, ohne doch irgendwie den Akt aufzuhellen. Gesetzmäßigkeit haftet am Wunder insofern,296 als es durch ein System göttlicher Zwecke 296 Erstaunlicherweise ist der Wunderbegriff in seinen Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, weit über die Historizität der Heiligen Schrift hinaus wieder ins Zentrum der logisch-analytischen Religionsphilosophie getreten. Vgl. dazu Daniel von Wachter, Die kausale

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bedingt ist, das Ausdruck der helfenden Liebe Gottes ist, dies auch dann, wenn die im Wunder geleistete Hülfe zunächst nur einer einzelnen Persönlichkeit ein Gut darreicht, denn das ist gerade das [151] Wesen der Liebe, dass die Person des Andern, und diese ist eben ein Individuelles, Einzelnes, einer absoluten Werthschätzung theilhaftig wird. Aber eben darin, dass im Wunder ein Helfen offenbar wird, das geeint ist mit einer schrankenlosen Macht, gewinnt dasselbe nun weit über das unmittelbar die Veranlassung des Wunders bildende Bedürfnis hinausgreifende Bedeutung. Es wird zu Realweissagung, die ein Pleroma297 in Gott ahnen lässt, eine Gebenswilligkeit und Gabenfülle, die weit hinausliegt über das, was dem Naturleben und Geistesleben als sein konstanter Besitz eingepflanzt ist.

c) Das Gotteszeugnis in Christo Das religiöse Verlangen der Völker gelangt in Israel zur Befriedigung, doch nur zu einer relativen. Diese Schranken am empfangenen Besitz dokumentieren sich schon darin, dass das religiöse Gut wesentlich in der Form der Verheißung vorhanden ist. Und hängen die drei Momente, die wir am religiösen Streben unterschieden, sachlich innig ineinander, sie entfalten sich nicht gesondert, sondern in wechselseitiger Abhängigkeit. Der Mangel an Gottesgemeinschaft ist unmittelbar auch Mangel an Gotteserkenntnis, so gewiss unser Erkennen auf empirischem Grunde ruht und jedes intensivere Struktur der Welt: eine philosophische Untersuchung über Verursachung, Naturgesetze, freie Handlungen, Möglichkeit und Gottes Wirken in der Welt, München 2009. Aus exegetischer Sicht vgl. Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, Göttingen 1990. 297 Ursprünglich der Begriff der Gnostiker für das Lichtermeer. Nach Irenäus von Lyon, Adversus haereses. I, 17, 2 auch der Thron und die Fülle der Gottheit. In diesem Sinn geht der Pleroma-Begriff in die christliche Dogmatik ein.

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Erleben Gottes eine hellere Gotteserkenntnis in sich schließt, sie ist aber zugleich auch Mangel des Gottesdiensts, so gewiss der Dienst Gottes als Aktivität Kraft voraussetzt und erfordert. Unser geistiger Besitz bedingt unser Vermögen. [152] Wo das Reich Gottes noch Verheißung [ist], da ist auch die Gotteserkenntnis und der Gottesdienst erst noch ein Verheißenes. Das menschliche Moment an unsrer Beziehung zu Gott kommt nicht zur Vollendung, ehe und bevor das göttliche Moment an derselben sich vollendet hat. Das Neue Testament hat diese Schranke des alten sehr scharf herausgehoben, es wird im N[euen] Test[ament] einer durchgreifenden Kritik unterstellt, bei voller Anerkennung seines göttlichen Grundes und Wertes. Diese Kritik trifft zunächst das Wollen und Verhalten des Menschen innerhalb der alttest[amentlichen] Gemeinde, sein Wollen wird als Gott entgegengesetzt, somit als böse und damit als Unseligkeit in sich tragend verworfen, so wenn Jesus mit dem Imperativ μετανοεῖτε beginnt,298 so wenn Paulus den Römerbrief damit beginnt, das er den Juden des Mangels an Gerechtigkeit beschuldigt, und dies darum, weil er nicht thut, was das Gesetz ihm sagt. Mit dieser Verurtheilung des israelitischen Wollens geht immer die Anerkennung Hand in Hand, dass dem Israeliten in seiner Erkenntnis das göttlich Gute erschlossen ist. »Halte die Gebote!«, sagt Jesus, dem, der ihn frägt: »Was muss ich thun?« »Du kennst sie ja!« Israel ist ein Hörer des göttlichen Gesetzes geworden und hat in seinem Gesetz die Ausgestaltung der Wahrheit und der Erkenntnis vor sich. Die Bindung des Erkennens an Gott ergibt jenen Zwiespalt im menschlichen Wesen, den Jesus so scharf [153] heraushob in seinem immer wiederkehrenden ὑποκριτής, den von Paulus so mächtig ausgesprochnen [Sachverhalt] in der Analyse der jüdischen Frömmigkeit Röm 7.299 Was nun an solcher Beschränkung des Got298 »Kehrt um!« Auch übersetzt mit: »Tut Buße!«, häufig mit den Wundererzählungen Jesu und ihrer gläubigen Annahme verbunden. Vgl. etwa Mk 1,15 und Mt 4,17. 299 Eine Heuchelei, die aus der Suggestion resultiert, man erfülle das Gesetz, obgleich man es streng genommen nicht erfüllen kann.

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tesverbundes in Israel schuld ist, das fällt natürlich voll und ganz auf Seite des Menschen, allein sie zeigt die objektive Beschränkung der Israel zugänglichen göttlichen Hülfe an. Das synoptische Wort Jesu deutet diese objektiven Schranken nur an, darum, weil es zu allernächst Bußruf ist. Wenn er sagt, der Zweck seines Kommens sei πλήρωσις des Gesetzes,300 so ist damit zunächst der positive Zusammenhang ausgedrückt, der zwischen seinem Wirken und dem Gesetz besteht, aber doch auch hingedeutet auf die objektive Grenze des in Gesetz und Propheten Gegebnen. Sie sind noch Leeres, was noch Erfüllung erhalten muss, das Gesetz vermochte sich nicht selbst zu realisieren, es überwand die ihm entgegenstehenden Momente nicht, es bedarf desjenigen, der ihm nun die Erfüllung gibt. In der Form different, in der Sache sehr einig ist die Formel, in der Paulus die Grenze des Alt[en] Test[aments] benennt, es ist νόμος Forderung, mehr nicht, nicht Gabe, nicht Kraft, nicht Leben. Eben darum begründet es nur ein Wissen, und lässt den Willen und damit das Wesen des Menschen widergöttlich. Wenn nun eine Erscheinung in Israel auftritt, welche sich als Vollendung seines religiösen Besitzes kundgibt, [154] so ist in dem, was den Defekt Israels ausmacht, zugleich auch schon der Punkt angegeben, in welchem der neue Inhalt dieser Erscheinungen gesucht werden muss. Es tritt auch faktisch in der Geschichte Israels eine Wendung ein, die sich als Erfüllung all dessen kundgibt, was Israel fehlt: Der Christus kommt. Wir stehen vor der Frage, was Jesus ist, und haben uns sein Selbstzeugnis zu vergegenwärtigen. Er trat als der Christus auf, kein Zweifel. Als der Christus wird er gekreuzigt, als der Christus zieht er in Jerusalem ein, seine Jünger halten ihn für den Christus, und (er) antwortet ihnen: »Das hat euch Gott gesagt!« Der Täufer frägt ihn: »Bist du der, der kommen

300 Zur »Erfüllung des Gesetzes« in Christus vgl. insbesondere Röm 9–11, siehe zur Orientierung über die jüngeren Debatten: Martin Stowasser, Christus, das Ende welchen Gesetzes? Eine Problemanzeige, PzB 5/1 (1996), mit weiterer Literatur.

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soll?«301 und er antwortet affirmativ. Damit ist die Sphäre seiner Thätigkeit bezeichnet, einmal negativ: sie ist nicht Lehre, Gedankenbildung, sondern That, Eingriff in den Realbestand der Welt und des Menschen. Der Christusbegriff ist vom Reichsbegriff unablösbar. Das Königthum, welches der Name Christus dem zueignet, der ihn führt, ist die Erscheinung und Verwirklichung des Reichs. so wenig nun das Reich Gottes identisch mit einer bestimmten Gestaltung des menschlichen Denkens [ist], so wenig kann die Thätigkeit dessen, der sich als König dieses Reiches kundgibt, sich erschöpfen in Lehre und Wort. [155] »Was wirkest Du?«, fragen ihn die Juden mit Recht, denn als der Wirkende, welcher den gesamten Bestand des Menschen und der Welt erneuert, tritt der auf, der sich Christus nennt. Dieser Eingriff in den Realbestand der Welt bezieht sich auf ihr Verhältnis zu Gott, wie denn Jesus als Ziel seiner Thätigkeit ausdrücklich das Reich Gottes benennt, damit ist gesagt: Das das Wirken Jesu ein Wirken Gottes ist, denn das Reich kann ja nicht anders entstehen als durch Gottes eigne Aktion. Indem sich Jesus als Christus bezeichnet, bezeugt er sich als Subjekt und Träger göttlicher Wirkung, sein Wirken ist damit als ein Wirken Gottes geltend gemacht. Worin bestand Jesu Thätigkeit? Er sammelt sich einen Jüngerkreis. Er setzt Menschen in einen persönlichen Verband des Vertrauens und der Liebe mit sich selbst. Er gibt diesem Verbande seinerseits eine Festigkeit und Innigkeit, die alle Naturgemeinschaft überragt: sie sind mir Mutter, Bruder, Schwester, fordert aber vom Jünger eine Intensität der Liebe, die jede andre Liebe überwiegt: »Wer Vater oder Mutter oder Bruder mehr liebt als mich, ist mein nicht werth.«302 Beide Aussagen sind einander korrelat[iv]. Diese Sammlung einer ihm verbundenen Jüngergemeinde stellt sich als der alleinige Effekt seiner irdischen Thätigkeit heraus. Alle übrige Wirksamkeit Jesu ist ihm untergeordnet. [156] Dieser Thatbestand, wie er in den Ev[angelien] höchst anschaulich zu Tage liegt, ist be301 Mt 11,2–6. 302 Mt 10,37.

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gleitet und gedeutet von Jesu ausdrücklicher Erklärung: welche den Personalbund mit ihm als das bezeichnet, was er stiften will. Δεῦτε πρός με πάντες. Als höchstes Gebot richtet sich an den, der vollkommen sein will: »Folge mir nach!« Wie die Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel, so er Jerusalem um sich. Jesus bezeugt sich als Träger göttlicher Wirkung nicht nur im Sinne dienstlicher Vermittlung. Die Gotteskräfte und Gottesgüter, die er bringt, sind Inhalt seines Personlebens, er ist die Gotteskraft und die Gottesgabe, die der Welt nunmehr zutheil wird, [die] That Gottes, die Jesus im Christuszeugnis mit seinem Erscheinen verknüpft, besteht principaliter darin, dass er in Eigenart seiner Person vorhanden ist, das ist die Offenbarung Gottes, sie geschieht nicht nur durch ihn, er ist sie, weshalb sie angeeignet wird in der Herstellung des Personalverbands mit ihm. Der Reichsbegriff konzentriert sich, identifiziert sich mit seiner Person. Seine Gegenwart ist Gegenwart des Reichs, seine Geschichte die Geschichte des Reichs, der ihm eignende Lebensbesitz das Reichsgut. Wie persönlich sind all diese Gleichnisse, die das Reich darstellen: Wenn die johanneische Wiedergabe des Wortes Jesu ihren Bildern jenes: »Ich bin!« voranstellt,303 das ist nicht minder synoptisch: »Ich bin der Säemann«, »ich bin das Senfkorn«, »ich bin der Schatz im Acker« usf. Wir stehn vor einer Persönlichkeit, die einerseits in voller Menschlichkeit sich uns darbietet, andrerseits sich ebenso bestimmt göttliche Werthschätzung beilegt, so dass sie nicht nur einzelne Momente an ihrem Leben, [157] einzelne Gedanken, einzelne Thaten, sondern ihren Personbestand als göttlich geltend macht. Zweifellos, wir stehen vor einem Mysterium, einerlei. Es frägt sich lediglich: ist‘s so? Hat sich Jesus als gottmenschliche Persönlichkeit bezeugt? Und diese Thatsache hätte man nie geleugnet, würde man nicht erschrecken vor den Konsequenzen, die in logischer und sittlicher Beziehung daraus folgen. Es kann aber nicht Aufgabe wissenschaftlicher Theologie 303 Vgl. zu Jesu »Ich bin«-Worten, denen seit jeher eine besondere Dignität zukommt jetzt Michel Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg i.Br./München 2010.

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sein, vor dem in Jesu Selbstzeugnis ausgesprochnen Thatbestand zurückzuweichen darum, weil unsre Gedanken nicht heranreichen an denselben, noch weniger freilich darum, weil er uns stört in unsrer defekten und korrupten Ethik, weil er in unsre niedrige Interessenssphäre einen absoluten Imperativ an unser Wollen, unser Leben stellt, der jene zerreißt. Mit der Bezeugung seiner Einheit mit Gott verbindet sich unmittelbar der Begriff einer Unterscheidung in Gott selbst. Denn nicht so stellt sich Jesus als Manifestation Gottes dar, als wäre nun nur in ihm, diesem menschlichen Ich, die Gotteskraft, das Gottesleben, die Gotteswahrheit vorhanden, dasselbe bestehe wie in ihm so auch über ihm in seiner eignen Gottesgestalt, und zwar selbstverständlich in der absoluten Vollendung zur Person. Jesus hat die Unterscheidung in Gott in die Begriffe Vater und Sohn gefaßt. Er stellt sich damit in die vollste Abhängigkeit vom Vater, denn der Sohn ist alles, was er ist und hat, aus dem Vater, zugleich spricht aber gerade der Sohnesbegriff die Gleichstellung mit dem Vater aus; er unterscheidet sich von Gott nicht anders als wie der Sohn vom Vater. [158] Hier ist eine Stelle, wo sich ein Einblick ins innergöttliche Wesen uns ermöglicht, und dies darum, weil in Jesus nicht nur göttliches Wirken, göttliches Reden, aus Gott heraustretende Akte hineinwirken in die Welt, sondern göttliches Leben sich innerhalb der Welt Dasein gibt, ein göttliches Ich innerhalb eines menschlichen Ichs sich wahrnehmbar macht. Da stehn wir vor dem empirischen Moment, das unsre Gottesanschauung trinitarisch gestaltet. Auch die Trinitätslehre hat empirische Basis, sie ruht in der Dreiheit der göttlichen Wirkungen, wie sie innerhalb der Geschichte die Reichsgründung herstellt. Wir stoßen auf eine Allwirksamkeit Gottes, die das gesamte Geschehen durchdringt und ihren Ausgangspunkt außer und über demselben hat, auf Wirksamkeit Gottes, die ihren Ausgangspunkt im gottmenschlichen Ich Jesu hat, und endlich auf eine Wirkungsweise Gottes, die ihren Ausgangspunkt im Innern der menschlichen Persönlichkeit hat als ihnen einverleibter Gottesgeist, wie diese Aktivität Gottes an den Propheten begegnete. Und zwar hat diese Dreiheit göttlicher Existenzweise in sich selbst – 210 –

das Zeugnis der Einheit, aber auch der Wahrheit, und wird darum mit der Kategorie Erscheinung nicht erledigt, sondern weist zurück auf eine dreieinige Wesensbestimmtheit in Gott. Gott ist das, als was er erscheint, die Offenbarungstrinität bezeugt die Wesenstrinität. Nun ist aber das Gottesleben in Jesu eingeschlossen in unlöslicher Einigung mit dem Menschheitstypus an ihm, und bringt sich nicht für sich zur Anschauung. Eine unmittelbare Wahrnehmung Gottes ist uns auch in Jesus nicht gegeben. Daher die Unfähigkeit, eine adäquate Trinitätslehre auszubilden, von ihr gilt erst recht, was vom Gottesbegriff überhaupt seine Wahrheit hat, dass er der Grenzbegriff unsres Denkens sei, das Äußerste, das menschlicher Gedankenbildung möglich ist. Wir haben beim Selbstzeugnis Jesu weiter darauf zu achten, welche Bedingungen er dem Verband [159] zwischen sich und die Menschen stellt. Die Thätigkeit Jesu in dieser Hinsicht einigt in höchst merkwürdiger Weise zweifaches, ein vollständiges Übergreifen über alle ethischen Bedingungen, und zugleich ein absolutes Geltendmachen der ethischen Norm. Auch der ethisch korrupten Person bietet Jesus den Jüngerverband an, und er macht diese Bedingungslosigkeit desselben energisch geltend: »Ich bin gekommen, Zöllner und Sünder zu rufen!«304 Das verlorene Schaf wird vom Hirten gesucht.305 Von dem der Unzucht verfallenen Weibe nimmt er die Salbung an und schätzt ihre Liebe: »sie hat viel geliebet.«306 Wir hören nichts von irgendwelcher Heiligkeit, die als Bedingung der Christusgemeinschaft geltend gemacht würde. Die Christuspersönlichkeit steht vor uns im Bewusstsein einer Macht, die auch für die tiefste sittliche Korruption Hülfe hat, und einer Liebe, die auch den verwerflichsten Willen in Gemeinschaft setzt mit sich. Andrerseits aber die unbedingte Geltendmachung der sittlichen Norm und zwar als Bedingung des Jüngerverbands. Das Entstehen der Jüngergemeinschaft mit ihm wird gebunden an die Bindung des Willens 304 Anlehnung an Mt 9,36 und Lk 5,32. 305 Lk 15,4–7. 306 Lk 7,47.

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an die sittliche Norm: Jede Selbstoffenbarung wird strikt verweigert, wenn das Verlangen nach derselben nicht die Einfügung in die Gerechtigkeitsnorm in sich schließt. Das unbußfertige Geschlecht erhält kein Zeichen Mt 21,23ff. Vor das Christuszeugnis tritt der Bußruf. Das ist das erste Wort, das der Christus an die Menschen richtet, und wo dasselbe ungethan bleibt, unterbleibt alle weitere Kundgebung, [160] Mt 16,20. Was immer daraus folge, Jesus hat festgehalten an dem, was die Prämisse seiner ganzen Thätigkeit bildet, dass ohne μετάνοια das Christusbekenntnis werthlos sei, und dass, wo die μετάνοια zustande kommt, die Wahrnehmung seiner Christusstellung die unmittelbare Folge sei. Die Zeichen der Zeit sind jedem offenbar, nur dem ὑποκριτής nicht, Mt 16,2ff. Ebenso Johannes: »Wer den Willen Gottes thun will« 7,16f. Nikodemus. Wie der Jüngerverband auf sittlichem Wege entsteht, so wird er auch nur durch Gerechtigkeitsübung erhalten. Mt 12,50; 7,21 usf. Ja, Jesus kann aus dem Gesamtzweck seines Kommens dies aufstellen, dass Gottes Gesetz zur Erfüllung kommt, 5,17. Sittlich verwerflichem Wollen, vor allem aus unsittlicher Frömmigkeit, steht er mit unerbittlicher Verurtheilung gegenüber. So einigt er in sich in wunderbarer Einheit Rechtsvollzug und Liebeserweisung, Gesetz und Freiheit vom Gesetz in immer übers Gesetz hoch übergreifender Gnadenmacht. Diese sittliche Herrlichkeit Christi ist zugleich das Gotteszeugnis für seinen Sohnesverband, ein Gotteszeugnis, das nicht von außen her zur Thätigkeit Christi hinzutritt als ein äußerlich ihm angehängtes, sondern der Thätigkeit selbst immanent ist und darum unabtrennbar von ihr. Ein Gotteszeugnis ist diese δόξα des Wollens Jesu, nicht nur seines Könnens, darum, weil sie in heller, Erkenntnis zeugende[r] Korrelation steht zu dem gotthaften Moment, das unsrem eignen Ich eingepflanzt ist. Erwägen wir weiter das Verhältnis Jesu zur Natur. Er einigt auch hier höchst wunderbar Gegensätzliches. Zunächst bietet er die volle Anerkennung der Natur als eines Produkts göttlicher Thätigkeit. Die Sonne ist Gottes Sonne, Mt 5,45, er kleidet die Lilien, 6,25f. [161] und lässt die Vögel sterben Mt 19,29. Die Naturwerthe werden geltend gemacht als aus Gottes Güte fließende Güter. Da– 212 –

her zeigt uns auch seine Lebensführung praktisch ein volles Eingehen in den Naturlauf. Er isst und trinkt mit den Menschen; er anerkennt die Ehe unumwunden nach ihrem natürlichen und darum göttlichen Recht. Aber mit dieser Anerkennung der Natur nach ihrem göttlichen Ursprung und ihrem Werth für den Menschen verbindet sich eine Loslösung des Ichs von demselben, welche sich dieser Gütersphäre gegenüber schlechthin frei verhält. Die der Natur angehörenden Güter sind kein des μεριμνάω würdiges Objekt.307 Die auf sie gerichtete μέριμνα ist heidnisch, nur dann motiviert, wenn Gott nicht gekannt wird. Er selbst verzichtet vollständig auf dieselben als Basis und Mittel seiner Thätigkeit und er fordert ebenso unbedingten Verzicht von seiner Jüngerschaft, dann wenn der Naturverband irgendwie ihrem Verhältnis zum Reich gegensätzlich wird. »Verkaufe was du hast«, so lautet im gegebnen Falle das Gebot, welches das sittlich Vollkommene benennt. Bis zur Lebenshingabe wird diese Forderung auf Verzicht der Natur gegenüber ausgedehnt Mt  16,24ff., sollte von diesen Negationen aus apriorisch das Verhältnis des Christus bestimmt werden, dass sich seine helfende Thätigkeit nicht auf Naturübel beziehe, dasselbe ignorire als nicht die wirkliche Gütersphäre betreffend. Aber nun liegt uns doch wieder ein Eingehen [162] in das Naturleiden vor mit einem Erbarmen, welches dasselbe voll als Übel empfindet und mit einer Hülfsmacht, die ihm schlechthin überlegen ist. Der, der von den Seinigen das Sterben fordert, weckt Tote wieder ins Leben und heilt die Kranken, und lässt sich hinein ins Naturübel mit schrankenloser Liebesmacht. Es vollendet sich hierin die sittliche Herrlichkeit Jesu. Denn diese Stellung zur Natur ist wiederum ein Korrelat zu den Normen, die unsrem eigenen Seelenleben eingepflanzt [sind], und bringt dieselben zur Plerosis. Zugleich manifestiert sich hierin Inhalt und Umfang der in der gottmenschlichen Persönlichkeit enthaltenen Kraft. Sie steht als die der Natur gegenüber freie vor uns, als ein in sich selbst Lebendes, in sich selbst 307 Merisma: Gattung, Art. Grundsätzlich bezeichnet der Merismos das Verhältnis von Teil und Ganzem.

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Seliges, in sich selbst Wirksames, in sich selbst, nämlich der Natur gegenüber, nicht aber Gott, cf. Joh 5,26. Er stellt die Quelle seiner Kraft und den Ursprung seiner Güter der Natur gegenüber als ein ihr fremdes und anderes, demgegenüber die Naturfaktoren kraftlos und werthlos sind. Aber diese Freiheit von der Natur bedingt nun nicht, dass dieselbe als das seiner Einwirkung Verschlossene erschiene. Das Leben, das er in sich trägt, steht nicht still an der Grenze der Natur, greift vielmehr erneuernd und vollendend in das Naturleben ein. Und es tritt am Verhältnis Christi zur Natur hell und deutlich das durchgreifende Wesensverhältnis zwischen Gott und Natur ans Licht, bestätigend, [163] was uns der Charakter des Naturprozesses selbst über dasselbe bezeugt. Der Schluss der Thätigkeit Jesu war Tod, und zwar ein Tod, welcher That des Menschen war in gerichtlicher Verurtheilung seines Christusanspruchs. Das Sterben Jesu kann, wenn wir das Selbstzeugnis über seine Person richtig würdigten, nicht mehr als ein Widerfahrnis erscheinen, an dem Jesus lediglich passiv beteiligt wäre als eine Katastrophe, die über ihn hereinbrach von außen, seinem Werk ein Zufälliges, so sehr sie im Mechanismus des Geschichtslaufs als ein Nothwendiges begründet war. Wenn der Gottmensch seine Gegenwart auf Erden durch Sterben schließt, so ist sein Sterben schon durch das Subjekt, welches stirbt, gekennzeichnet als ein innerlich bedeutsamer Akt. Schon die Augenzeugen seines Todes geben sehr deutlich den Eindruck wieder, dass derselbe in seinem Verhältnis zu seinem Leben ein Mysterium bildet. [Den Jüngern] scheint dieses Ende ein völliger Abbruch derjenigen Linie, in der sich sein Leben entfaltete. Die Gegner Jesu stehen unter dem Eindruck derselben Antithese: Andern hat er geholfen, sich selbst hilft er nicht. Jesu eigne Aussagen über sein Sterben zeigen, dass sein Sterben eintritt in den Bereich der Ziele, die er mit bewusstem Willen als die seinigen erfasst. [164] Das Sterben Jesu ruht auf Sterbenswilligkeit. Was liegt somit in seinem Sterben? Er unterwirft sich der Gesetzmäßigkeit des menschlichen Lebens auch auf dem Punkt, wo dieselbe als Übel hineingreift in sein Ich, als Aufhebung seiner Thätigkeit, als Bindung der Kraft, als Knechtung seines Ichs, – 214 –

der [] sein Ich erfüllendes Leben erliegt. Nun ist das Sterbensgesetz, das unserm Personleben eingepflanzt ist, nicht unabhängig von der übrigen Beschaffenheit desselben. Es bildet ein einstimmiges Ganzes mit dem sonstigen Status, in dem unser Geistleben steht, es entspricht der Gebundenheit desselben an die Natur, und ebenso wie mit unsrem Verhältnis zur Natur bildet es mit unsrem Verhältnis zu Gott ein einstimmiges Ganzes. Es entspricht der Lösung aus dem Gottesverband, in der wir thatsächlich stehen. Diese Aussage über das Sterben drückt insofern eine elementare Einsicht aus, als sie sich unmittelbar aus dem Vorhandensein einer intelligibeln Ordnung in der Natur und Geist ergibt. [Wir] verwenden nicht mehr als den Begriff: Typus auch für die in die Einheit eines Personlebens zusammengefassten Prozesse. Die Schrift geht über diese Aussage hinaus: sie sagt nicht nur, dass der Gegensatz gegen Gott in bedachter Korrelation stehe zu unserm Sterben, sondern sagt, dass dieses Verhältnis ein ursächliches sei, vgl. Röm 8,6; 6,23; 5,12. Dieser Gedanke wird sich der Analyse keineswegs als phantastisch erweisen, aber bleiben wir vorerst bei dem leichtern Gedanken, zu dem uns die Empirie allernächst verhilft, dass sich unser [165] Sterben mit unsern natürlichen und sittlichen Verhältnissen zur Einheit eines ineinandergschlossenen Ganzen zusammengefügt, so tritt der Christus doch mit seiner Sterbenswilligkeit in eine Stellung, die nicht die seinige ist, weder in natürlicher noch in sittlicher Hinsicht dies dem Verlauf seines eignen Lebens entspricht, weder seinem Verhältnis zur Natur noch seinem Verhältnis zu Gott, und letzteres ist das Hauptmoment. Es liegt im Sterben des Christus ein Akt der Stellvertretung, die nicht erst auf formal äußerlichem Wege durch Zurechnung und dgl. zustande kommt, sondern faktisch dadurch, dass er sich im Sterben dem Todesgesetz unterwirft, darum weil dasselbe dem Typus des menschlichen Lebens außer ihm angehört, ob es auch nicht dem Typus seines eignen Personlebens eigen ist. Dabei ist natürlich nicht das Gesetz als Abstraktion Objekt der Anerkennung, im Gesetz wird der anerkannt, in welchem das Gesetz seinen Grund und Vollzug hat. Und um Gottes Willen, der das menschliche Leben in das Todesgesetz eingeschlossen hat, macht – 215 –

sich auch Jesus im eigenen Sterbensakt demselben unterthan. Heißen wir das Wirken Gottes, das Güter schafft, Güte, dann ist Zorn der parallele Name für das Wirken Gottes, das uns die Güter beschränkt und entzieht, Schmerz und Lebensverlust wirkt. Und der Satz, dass Christus den Zorn Gottes auf sich genommen, ist der korrekte Ausdruck für das unmittelbar [166] in der Thatsache des Todes Jesu uns vor Augen Liegende. Der Anstoß an solcher Aussage stammt lediglich aus einer abstrakten Fassung des göttlichen Zornes, welche denselben als ein zunächst in Gott Ruhendes und dann lediglich zum Sterben Jesu Hervorbrechendes denkt. Gottes Zorn ist wirksame Macht im Weltlauf, nicht minder als Gottes Güte, Röm 1,18, und wie der Christus darin, dass ihm wie allen Gerechten und Ungerechten Gottes Sonne scheint, die Güte Gottes genießt, so erlebt er [diese] in seinem Sterben, so gewiss es für sich allein genommen nicht Seligkeit, nicht Lebensförderung ist, sondern deren Gegentheil, Gottes Zorn. Wir haben aber weiter die konkrete Form seines Todes ins Auge zu fassen. Er ist die direkte Folge seines Christusamts.308 seinem Christuszeugnis309 stellt sich Unglaube entgegen, der sich fortgetrieben sieht zur eignen Selbsterhaltung, zu dem Hass, der ihm das Todesurtheil spricht. Dieser ganze Prozess aber ist gefasst [in] die freie Gesetzmäßigkeit des ethischen Lebens, die Wille an Wille reiht in ursächlicher Abhängigkeit, eben darum auch Sünde aus Sünde erwachsen lässt, und dieselbe nöthigt, sich auszugestalten zu ihrer Reife. Die Konsequenz, in die das menschliche Sündigen gefasst ist, die zunehmende wachsende Gravitation des Geistes von Gott weg, führt uns wiederum in den Bereich der göttlichen Sorge, sofern sie als eine furchtbare Kette unser geistiges Leben umschlingt [167] und zerstört. In seinem Sterben beugt sich Jesus in und mit dem Todesgesetz zugleich unter das Sündengesetz, wie es als richtende Macht, als Strafmacht auf der Menschheit liegt, dies darum, weil 308 Vgl. dazu Schlatter, Das christliche Dogma, aaO 285–293 (s.o. Anm. 43), und: Die Geschichte des Christus, Stuttgart 1923, 429–436. 309 Schlatter, Die Geschichte des Christus, aaO 253ff. (s.o. Anm. 309).

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sein Sterben direkt die Frucht der menschlichen Sünde ist. Nun ist die Geltung dieser Nothwendigkeit, kraft der das Böse ausreift in bittrer Frucht, eine richterliche Aktivität, sie ist es auch dann, wenn diese eintritt in Jesu Erleben. Und der sterbende Christus stellt sich somit selbst unter Gottes Richten, und stimmt demselben bedingungslos zu als gerecht. Aber diese Einpflanzung Jesu in den Todes- und Sündenzusammenhang innerhalb der Menschheit zerreißt seinen Liebesverband mit der Menschheit nicht, derselbe wird von ihm festgehalten durch die Erfahrung ihrer Sünde und ihres Sterbens hindurch, mehr noch, diese wurzelt in seinem Liebesverband, ist selbst ein Liebesakt und dies nach dem Vollbegriff der Liebe, wie sie die Hingabe des Ichs an Gott und an die Menschen zugleich in sich schließt. Seine Sohnesliebe bethätigt Jesus in seinem Sterben Gott gegenüber, indem er Gottes Recht und Gericht bejaht, auch mit der Preisgabe seines eignen Ichs, seine Bruderliebe bethätigt er an den Menschen darin, daß er seine Gleichstellung mit ihnen durchführt, bis zur Preisgabe seines eignen Ichs. So einigt sich in diesem Abschluß des Lebens Jesu Rechtsvollzug und Liebeserweisung zu einer wunderbaren Einheit, [168] die absolute Negation der Sünde schließt unmittelbar in sich eine ebenso unbedingte Werthschätzung des Sünders. Der höchste Gerichtsakt wird eines mit dem höchsten Gnadenakt. Es vollendet der Tod Jesu jene Einheit, [die]310 in seiner ganzen Thätigkeit zutage tritt zwischen der richterlichen Handhabung der ethischen Norm einerseits, und dem Übergriff über dieselbe in gesetzesfreier Gnade andrerseits. Liebe kann sich dem sündigenden Menschen nur als Gnade zuwenden, d.h. dadurch, dass sie ihm vergibt. Ist die Sterbenswilligkeit Jesu Liebeserweisung, so liegt in ihr Anbietung der Vergebung, mehr noch Vergebung selbst, sofern in jener diese, was Gott betrifft, bereits negativ enthalten ist. Aber darin liegt das Bedeutsame dieser Vergebung, dass sie nicht Auflösung der richterlichen Thätigkeit Gottes ist, sondern im Vollzug derselben sich begründet. Denn 310 Im Original »das«, nicht gestrichen. Das Manuskript ist an dieser Stelle zudem schwer lesbar.

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dass die ganze Gottesaktivität sich hier in eine That zusammenfasst: Zorn, Vergeltung, Strafe zusammen mit Güte, Vergebung, Hülfe, und zwar so, dass die letztere das Endergebnis bestimmt, das sondert das Sterben Jesu von allem andern Geschehen und gibt ihm seine einzigartige, wesentliche, ewige Bedeutsamkeit. Sie bemerken, das Ergebnis dieser Erwägungen ist nicht eine Konstruktion der Nothwendigkeit des Todes Jesu. Darin liegt ihr Unterschied von den kirchlich-traditionellen Vorstellungen über die Versöhnungslehre. Das Recht solcher Versuche soll ja nicht bestritten werden, aber die erste Aufgabe, die dem theologischen Erkennen durch das Kreuz Jesu gegeben ist, ist Wahrnehmung dessen, was hier faktisch geschah. Doch nicht nur den Liebeswillen, sondern auch seinen Realverband mit seinem Jüngerkreise hält Jesus aufrecht durch sein Sterben hindurch. Alle Aussagen Jesu über die Reichsvollendung311 schließen in sich, dass seine Beziehung zu den Jüngern eine wirksame bleibt auch über sein Sterben hinaus. Und dieser Voraussage entspricht der nachherige Verlauf der Ereignisse. Es ist das feste Zeugnis der ältesten Gemeinde, dass Jesus nach seinem Sterben wieder als Auferstandener mit seinen Jüngern in Verkehr und Gemeinschaft trat. In seiner Befreiung von den naturhaften Schranken und Schwächen ist er nun im Besitz eines Menschentypus, [169] der seinem Gottesleben als Organ ungeschmälerter Offenbarung dient. Damit schließt Jesus sein Selbstzeugnis ab, es vollendend. Jetzt erst ist die Christuspersönlichkeit zu voller Bezeugung gebracht, nun steht er da als der Träger göttlicher Kraft, die den Wesensbestand von Mensch und Welt erneuert, und diese Gotteskraft zeigt sich nicht als ein seinem Ich Fremdes, sondern als der eigne Besitz seiner Person. Nun erst ist auch die in seinem Sterben geschehene Anbietung der Vergebung zur Vollendung gelangt, denn in diesem 311 Auch hier wird wieder deutlich, dass Schlatter den Reichsbegriff, im Sinne der βασιλεία τοῦ θεοῦ, aufs engste mit der Endzeiterwartung und dem messianischen Zeitalter verknüpft denkt. Vgl. dazu Schlatter, Die Geschichte des Christus, aaO 144–153 (s.o. Anm. 309).

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Ausgang des Todes Jesu tritt vollends zutage, dass der göttliche Rechtsvollzug, die Auswirkung des Todesgesetzes im Christus, nicht Repulsion312 des Menschen von Gott weg bedeutet, sondern Berufung des Menschen zu Gott hin, nicht Entzug der Gottesgüter, sondern ihre Mittheilung.

d) Die Stellung der Apostel zu Gott Der religiöse Besitz der apostolischen Gemeinde, wie er sich in den apostolischen Zeugnissen ausspricht, bildet eine genau entsprechende Parallele zu dem, was uns die Evangelien zeigen. Und zwar wird das Verhältnis, welches zwischen beiden besteht, nicht erschöpft in der Kategorie: Anfang und Erfüllung, denn das, was sich im Werk Jesu kundgibt, ist nicht ein ärmeres, beschränkteres als das, was im apostolischen Werk sich kundgibt. Vielmehr verhält sich Jesu Werk zum Besitz der Gemeinde wie die Anbietung zum Empfang. Die apostolische Gemeinde sammelt sich im [170] Bekenntnis: Jesus, der Christus, der Herr, Röm 10,9; 1Kor 12,3. Der persönliche Verband, den Jesus zwischen sich und der Jüngerschaft stiftet, und von dem er erklärt, dass er ihn über sein Sterben hinaus fort erhalten werde, besteht hier faktisch. Es sind nicht seiner Person äußerlich bleibende Momente, welche den Anschluss der Gemeinde an ihn bedingen, etwa Lehre, Erkenntnisse, die, zuerst von ihm ausgesprochen, nun fortexistieren und fortwirken und so eine gewisse Relation zu ihm herstellen, die aber doch nicht an seiner Person haftete, sondern an den sachlichen Ergebnissen seiner Thätigkeit. Er selbst ist Inhalt aller Lehre, alles Glaubens, aller Liebe der Gemeinde. Er bildet ihren Besitz, das einzige Objekt aller ihrer Religiosität, das, was sie unterscheidet von allen frühern religiösen oder natürlichen Gemeinschaftsbildungen. Dieser Anschluß an ihn wird als Werth und Gut vor allem in Hinblick auf die Zukunft empfunden. Es begründet sich aus demselben eine ἐλπίς 312 Repulsion: Abstoßung.

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ζῶσα. Allein ausschließlich zukünftig ist der in den Verbund mit dem Christus eingeschlossene Güterbesitz nicht. Es tritt vielmehr ein Zwiefaches, was wieder unter sich verbunden ist, als gegenwärtiges Gut der Gemeinde heraus, nämlich einmal die Beseitigung der Schuldverhaftung und sodann die Beseitigung der Willensknechtung an das Böse. Wir sind gerecht gesprochen von Gott, und damit unmittelbar verbunden, wir sind der Sünde gestorben, so formulirt Paulus das, was er aus seiner Christusgemeinschaft als Gut [171] und Gabe besitzt, und zwar nicht in dem Sinne, als wäre damit lediglich der individuelle Besitz einzelner ausgedrückt, vielmehr ist damit benannt, was im Anschluss an Christo stets und universell gegeben ist. Jene Einheit, die das Wirken Jesu auf Erden charakterisiert, sofern dasselbe zugleich Handhabung der ethischen Norm und liebende, vergebende Deckung des ethischen Mangels ist, kehrt also wieder im Verhältnis des verklärten Christus zur Gemeinde. Aber das in demselben liegende Gut bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis unsres Willens zu Gott, sondern auch auf unser Wesensverhältnis zu ihm. Die Gemeinde erfährt den Christusverband als Innewirken des Heiligen Geists, d.h. als wesenhafte Aneignung der Persönlichkeit an Gott in Christo, so dass ins menschliche Personleben eine göttliche Potenz eintritt als ein neues Realprinzip, das den Gottesverband als Wesensbesitz ihm einverleibt. so gestaltet Christus die Gemeinde sich selbst zum Abbild, zum urbildlichen Gottessohn tritt eine Vielzahl von Söhnen Gottes, deren Sohnschaft im selben Prinzipe beruht wie die urbildliche Sohnschaft des Gottmenschen, nämlich in Gottes Geist. Dem alttest[amentlichen] religiösen Besitz gegenüber stellt sich das in Christo Gegebene und in seiner Gemeinde offenbar gewordene Gut als dessen Erfüllung dar, hinausgreifend über dasselbe, aber alles bewahrend, in sich aufnehmend, was Israel seinerseits besitzt. Was zunächst [172] den vermittelnden Akt Gottes betrifft, der die alte und die neue Gemeinde erzeugt, so besteht zwischen beiden eine wesentliche Analogie und Harmonie. Hier wie dort besteht die Offenbarungsthat Gottes darin, dass er menschliche Persönlichkeiten in ein sonderliches Verhältnis zu sich setzt durch ein Innewohnen – 220 –

in denselben. Aber was der Prophet nur anfangsweise hat, ist im Gottmenschen in Vollendung vorhanden. Die Scheidung, die im Leben der Propheten vorliegt, zwischen göttlich und menschlich bedingten Lebensmomenten, ist überschritten. An ihre Stelle tritt eine volle Einigung, ein menschliches Ich, das nach seinem ganzen Bestand und Leben ein gottgeeinigtes, gotthaftes ist. Der Christus ist der vollendete Prophet. Und indem er nun seinerseits der Gemeinde die Gemeinschaft des Geistes vermittelt, kehrt auch in ihr auf höherer Stufe das Analogon der Prophetie wieder, auf höherer Stufe insofern, als hier die Geistesgabe nicht nur eine christliche Abzweckung hat, Ausfluss eines besondern Berufs ist, an welchem sie ihre Grenze hat, sondern sie entspringt dem Grundverhältnis, in welchem die Gemeinde zu Gott steht, und greift eben darum erneuernd in das gesamte Personleben ein. Es erfüllt sich damit das der Prophetie selbst eignende Bewußtsein, dass sie in ihrem Dasein eine Realweissagung sei auf denjenigen Zustand, welcher das Ziel der Gemeinde Gottes bilde, Jo 3, Jer 32. Inhaltlich ist die Kenntnis Gottes, die Israel besitzt, zur Erfüllung gelangt darin, das nunmehr in Christus [173] eine abbildliche Selbstdarstellung Gottes vorliegt, ein εἰκὼν τοῦ θεοῦ, 2Kor 4,4,313 das ihn nicht nur nach einzelnen Äußerungen seines Wirkens, sondern nach dem Grundcharakter seines Gotteslebens zur Anschauung bringt. In der Benennung Gottes als des Vaters Jesu Christi ist uns ein Gottesname gegeben, weit konkreter und inhaltsreicher als die Gottesnamen Israels. In gottesdienstlicher Hinsicht ist wiederum die Mannigfaltigkeit und Vereinzelung des Gesetzes zusammengefasst in einen einigen Gotteswillen, eben in den, der den Glaubensanschluss an den Christus fordert, νόμος πίστεως, ohne dass durch diese Konzentration alles Gottesdienstes in die Zuwendung zum Christus irgendeine Sphäre des Lebens ohne göttliche Regelung bliebe. Vielmehr erweist sich dieses eine Gebot als ein allumfassendes, als ein Realprinzip, das 313 Damit wird die Gottebenbildlichkeit aus dem »Erstling« ihrer Stiftung, eben aus Christus deutlich gemacht. Vgl. Schlatter, Die Geschichte des Christus, aaO 15–21 (s.o. Anm. 309).

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die gesamte Lebensbewegung definiert, eben darum, weil in demselben das Innerste der Person ihr Glauben und Lieben bestimmt und bindet. Und nun bleibt uns sowohl jene Darstellung Gottes für unser Erkennen als seine Willenserklärung für unsern Willen nicht nur äußerlich, sondern sie gibt sich Bestand und Kraft im eigenen Innenleben des Menschen, in der Geistesgemeinschaft mit Christus. Damit ist nun auch das überwunden, was das Neue am Alten Test[ament] heraushebt als dessen Mangel und Schranke, dass es nur Forderung sei, νόμος, in Christus ist nunmehr ein Organismus göttlichen Lebens vorhanden, der die Beziehung zu Gott über die ideelle Sphäre hinausführt, aus dem νοῦς ins πνεῦμα hineinversetzt.314 [174]

314 Dem menschlichen Geist in die Sphäre des göttlichen Geistes.

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§ 11 Das Gotteszeugnis durch die Schrift a) Das Verhältnis der Schrift zum Wort Die Bedeutung der Schrift bemisst sich nach derjenigen des Worts, dessen schriftliche Fixierung sie ist. Nicht an ihrer Form, sofern sie geschrieben ist, haftet ihre Bedeutung, sondern an ihrem Inhalt, an dem Erkennen das sich in ihr Darstellung gibt, und eben darum bildet der hörbare Ausdruck dieses Erkennens und das sichtbare Zeichen desselben ein zusammengehörendes Ganzes gleichen Werths. Es ist ein Fehler der alten Inspirationslehre,315 dass sie die Schrift ablöste aus ihrem Zusammenhang mit dem lebendigen Wort und darum den Akt der Niederschrift isolierte von allen übrigen ihn bedingenden Faktoren als einen besondern göttlichen Offenbarungsakt. Der Anlass zu dieser Fassung der Schriftlehre lag in dem Gegensatz zu einer kirchlichen Tradition, die sich neben das Schriftwort stellte als ein von ihr Unabhängiges und dies mit dem Anspruch göttlicher Autorität. In dieser historisch bestimmten Beziehung war der Gegensatz nicht Wort, sondern Schrift, voll berechtigt, aber er wird über sein Recht hinaus überspannt, wenn er zur Isolierung der apostolischen Schrift von der apostolischen Rede und der prophetischen Schrift vom prophetischen Worte führt. Die neutest[amentliche] Schrift selbst gibt sich als einen 315 Schlatter verdeutlicht hier nicht, ob er die altprotestantische Inspirationslehre oder die altkirchliche Konzeption von Inspiration meint. Vgl. Norbert Lohfink, Über die Irrtumslosigkeit und Einheit der Schrift, in: Stimmen der Zeit 174 (1963–64), 161–181 und Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testamentes, Göttingen 1979, 47ff.

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Ausschnitt aus dem apostolischen Wort. Keine einzige der [175] neutest[amentlichen] Schriften wendet sich an den Nichtchristen, um demselben den christlichen Gedankenkreis als ein Ganzes von seinen Elementen aus schriftlich darzulegen. Alle setzen im Leser die christliche Unterweisung als eine vorhandene voraus. Keine macht weiter den Anspruch, das Ganze der christlichen Wahrheit zur Darstellung zu bringen, so dass sie als ein Ersatz des der Gemeinde übergebnen Worts aufträte. Die Lehrschriften des N[euen] T[estaments] sind Briefe, d.h. durch einen konkret individuellen Zweck bestimmt. Auch der Römerbrief macht keine Ausnahme hievon. Die Evangelienschreibung ist weniger gebunden an solch konkrete Zwecke. sie dient einem Interesse, das stetig und gleichartig überall in der Gemeinde vorhanden [ist]. Allein die gegenseitigen Beziehungen der Evangelien untereinander zeigen, dass jedes derselben in eigner freier Zusammenstellung aus den in der Gemeinde resp. den Evangelisten vorhandenen Erinnerungen an Jesu Person schöpft, keines derselben ist vom Gesichtspunkt beherrscht, Wort und That Jesu nach seiner Gesamtheit darzustellen, keines macht sich als das alleinige, alle Kunde von Jesus in sich fassende Evangelium geltend, jedes lässt neben sich der übrigen Tradition über ihn vollen Raum. Ebenso hat die alttest[amentlichen] Schrift das lebendige mündliche Wort vor sich. Aus den im Volke sich fortpflanzenden Überlieferungen über die Geschichte erwachsen die Geschichtsbücher, aus dem prophetischen Wort in summarischer Wiedergabe des gesprochnen [176] Worts die prophetische Schrift, aus der Gesetzestradition das Gesetz. Die Zusammengehörigkeit von Wort und Schrift prägt sich sehr deutlich darin aus, dass beide Gemeinden, die alte und die neue, älter sind als die Schrift und zunächst ohne sie bestehen. Allerdings hält die neutest[amentliche] Gemeinde von Anfang an mit großer Energie das alte [Testament] fest. Fest als auch ihre heilige Schrift, allein es ist deutlich, dass sie nicht durch das Alte Test[ament] entsteht und besteht, das ja vielmehr das gemeinsame Gut ausdrückt zwischen der alten und der neuen Gemeinde. Letztere besteht durch das, was sie das εὐαγγέλιον nennt, und dieses ist zunächst nur Wort und – 224 –

auch nachdem die apostolischen Schriften längst vorhanden und natürlich auch benutzt waren, wird als das die Kirche Bildende das Wort betrachtet. Relativ sehr langsam bildet die Kirche ihr Wort an die apostolische Schrift als ihre heilige Schrift, als an ihren Kanon. Ebenso deutlich ist, dass der Charakter Israels, Volk Gottes zu sein, nicht durch seine Schrift entsteht. Kommt der Schrift keine höhere und andersartige Bedeutung zu als dem Worte, so nun aber auch keine geringere. Was vom Worte gilt, gilt nun auch voll und ganz von der Schrift. Da ist der erste und einfachste Satz, in welchem wir die Bedeutung der Schrift fassen können, dass sie dem prophetischen und apostolischen Worte einen dauernden unvergänglichen Bestand gab, der auch uns desselben theilhaft[ig] macht.

b) Der göttlich-menschliche Charakter des Schriftworts Geschichte hat ihre Fortexistenz im Wort, in welches alles menschliche [177] Gemeinschaftsleben gefasst ist und welches allein Erlebnisse der frühern Generationen den Spätern übermittelt und den Zusammenhang herstellt zwischen einst und jetzt. Nun gliedert sich die Geschichte, die in Israel verläuft, durch den Prophetismus und durch dessen Vollendung in Christus als dem Sohne Gottes, dem natürlichen Geschichtsverlauf vollständig ein, wird selbst ein Glied und Moment in demselben. Das menschliche Ich des Propheten wird Stätte der Geistwirkung und hört nicht auf, ein menschliches Ich zu sein, infolge der ihm zuteil gewordnen Inspiration, das menschliche Ich Jesu trägt in sich das Pleroma Gottes, und wird wesenhaft eins mit dem Ich des ewigen Gottessohns, ohne dass damit seine naturhaft menschliche Art zerstört würde. Mit dieser wesentlichen unlöslichen Einigung des Göttlichen mit dem Natürlich-Menschlichen ist gegeben, dass das Mittel, durch welches die Geschichte sich forterhält und bleibende Bedeutung gibt, kein andres ist als das, was allen Gemeinbesitz der Menschen vermittelt, nämlich das Wort. Der Prophet spricht und hat in der Regel das Mittel zu seiner Thätigkeit. Aufs Wort gründet Jesus das – 225 –

Reich (Mt  13,19). Und zur Sammlung der Gemeinde sendet er apostolische Boten, die als Mittel ihrer Thätigkeit wiederum aufs Wort gewiesen sind. Auf dem Wort steht die Kirche. Aber nun ist in dieser Geschichte der Handelnde Gott. Er eignet sich in seiner Geistwirkung den Propheten an als sein Organ, er sendet als Vater den Sohn, und mit ihm bleibt der Sohn auch als Mensch der willig Geeinigte. Darin liegt, daß hier ein Wort zustande kommt, das Wort Gottes. »So spricht der Herr!«, sagt uns der Prophet, so ist vor allem Jesu Wort Gottes Wort Joh 12,49ff., cf. Mt 21,28ff., und dasselbe Bewusstsein erfüllt die apostolische Predigt τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ 1Thess 2,8; 1Kor 2,6ff., Heb 1,1. Wir haben dabei auf den Zweck und auf die Art der göttlichen Wirksamkeit zu achten. Der Zweck dessen, was Gott im Propheten und im Sohn thut, greift ja [178] über die Personen hinaus, welche den ersten nächsten Ort dieser Aktivität Gottes bilden. Nicht um seiner selbst willen wird der Prophet berufen, noch um seiner selbst willen der Sohn Gottes gesandt. Der Zweck ist universal. Was ihr göttliches Gut bildet, ist bestimmt zur Mittheilung an eine Gemeinde, die von ihnen aus erstehen soll. Eben darum ist das Wort nichts der Offenbarung Gottes Zufälliges, sondern direkt in ihr begründet, selbst ein wesentlicher und nothwendiger Theil derselben. Wir erhalten hier nicht nur eine Rede über Gott, sondern eine Rede, die direkt in Gottes Wollen und Handeln begründet ist, eben darum nicht nur uneigentlich, sondern eigentlich Rede Gottes heißt. Weiter kommt die Art der Innewirksamkeit Gottes im Propheten, im Christus und wiederum in den von Christus als seine Boten bestellten Männern in Betracht, sie bleibt der Sphäre ihres Erkennens nicht jenseitig, sie ist vielmehr Erkenntnis wirkend, erleuchtend. Ihre Gedankenbildung ist göttlich bedingt und bestimmt, damit auch ihr Wort, in dem sich ihre spezifisch prophetische und apostolische Erfahrung und Erkenntnis Ausdruck gibt. Ihr Wort repräsentiert eine Gabe Gottes an sie und durch sie an die Welt. Und dieser göttliche Charakter geht ihrem Worte dadurch nicht verloren, dass es Schrift wird, haftet vielmehr auch voll und ganz an ihrer Schrift. so macht denn ja Paulus für sei– 226 –

ne Briefe seine volle Apostelbefugnis geltend: Παῦλος ἀπόστολος usf.316 und es ist deutlich, wie wichtig und werthvoll es für die [179] Erhaltung des göttlichen Wortes ist, das es sich fixirte in der Schrift. Wir brauchen in die Möglichkeitsfrage nicht einzutreten, ob das Bild Jesu sich hätte in der Kirche erhalten können auch ohne Evangelienschreibung, ob die apostolische Predigt sich hätte fortpflanzen lassen, auch ohne apostolische Schrift. Thatsache ist, dass sie sich durch die Schrift erhalten haben und nur durch die Schrift. Wir wissen über Jesus auch nicht ein Jota, abgesehen von den Evangelien. Die kirchliche Predigt des zweiten Jahrhunderts ist dem apostolischen Zeugnis gegenüber ein überaus armes, verunreinigtes [Zeugnis]. Sich selbst überlassen, zeigt die kirchliche Tradition die entschiedene Neigung zu degenerieren, und die Reinigung kommt ihr thatsächlich immer wieder von der Schrift aus. Nicht anders verhält es sich in der synagogalen Gemeinde. Das Bindeglied, welches die fünf Jahrhunderte zwischen der Generation Jesu und dem Erlöschen der Prophetie überspannt, und diese auch für jene noch fruchtbar macht, ist letztlich die Schrift, während gerade die Tradition die störenden verunreinigenden Elemente im religiösen Leben der Synagoge in sich fasst und sanktioniert. Indem das göttliche Wort hinausgreift über den Gemeinbesitz des menschlichen Geistes, ein Neues bietet, das für das Erkennen ein Mysterium bildet, für die traditionell menschlichen Gedanken Korrektur, welche dieselben bestreitet und aufhebt, für den Willen in seiner sündigen Art den scharfen, ihn verurtheilenden Gegensatz, ist dasselbe konstanter Alternative ausgesetzt, und das Dasein desselben in der fixierten Form der Schrift, die es als unwandelbare Objektivität [180] der eignen Gedankenbildung der Kirche gegenüberstellt, von unschätzbarem Werth; eben darum ist auch diese Inspiration nichts Zufälliges, sondern auch dies eine That göttlicher Hülfe und Gabe, welche die Kirche dankbar als 316 Hier tritt wieder die Besonderheit der Apostolizität zwischen Gottes- und Menschenwort hervor. Vgl. dazu Schlatter, Das christliche Dogma, aaO 357ff. (s.o. Anm. 43).

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solche anzuerkennen hat und auch anerkannte dadurch, daß sie diese Schrift zu ihrem Kanon317 erhob. Es liegt im Gesagten, dass die Stellung der Schrift zu der in Christo vollbrachten Gottesthat nicht hinreichend beschrieben ist im Begriff der Urkunde. Berechtigt ist an dieser Definition die Scheidung der beiden Begriffe: Offenbarung und Schrift. Wie die Schrift nicht mit dem Wort Gottes sich deckt, so auch das Wort Gottes nicht mit der Offenbarung Gottes. Das Gott Offenbarende ist zu allernächst seine That, und erst aus dieser wächst das Wort heraus. Dasein und Wirken des Christus, nicht erst sein Reden, offenbart Gott. Die Offenbarung Gottes ist nicht nur Licht, sondern Leben, nicht nur Wort, sondern Kraft. Diese Unterscheidung ist nicht unwichtig gegenüber einer Schriftlehre, welche das Verhältnis zu Gott und Christo identifiziert mit dem Verhältnis zur Schrift, und darum für die Schrift fordert, was allein Gott und Christo zukommt. Aber wenn nun Gottes Offenbarung und die Schrift so voneinander gesondert werden, dass die Schrift zur Offenbarung hinzutritt als deren Urkunde, so ist das Verhältnis viel zu äußerlich gedacht. Damit ist die Vorstellung gegeben, als sei die Offenbarung auch ohne das Wort ein in sich Fertiges, Vollendetes; die Schrift kommt nachträglich hinzu, Bericht gebend über das, was [181] auch ohne sie vollständig vorhanden ist. Damit ist das Verhältnis von Offenbarung und Wort viel zu äußerlich gefasst. Der Gott offenbarende Gottesakt vollendet sich erst im Wort, kommt im Worte erst zu seinem Ziel. Und diese Vollendung wird ihm nicht von außen her gegeben, er gibt sie sich 317 Vgl. zur Kanonbildung und der kanonischen Ausformung des Neuen Testamentes: Karl-Heinz Ohlig, Die theologische Begründung des neutestamentlichen Kanons in der Alten Kirche, Düsseldorf 1972 (eine m.E. theologisch eher problematische Arbeit; Ernst Käsemann, Hans Freiherr von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968, sowie Christoph Dohmen/Martin Oeming, Biblischer Kanon. Warum und wozu?, Freiburg i.Br. 1992.

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selbst, führt sich selbst hiedurch in seiner eignen Kraft zu diesem Ziel. Er wird nicht beurkundet, sondern er beurkundet sich selbst in einem von ihm selbst hergestellten Zeugnis. Δύναμις und λόγος,318 die That Gottes und das sie deutende, nach ihrem geistigen Inhalt erschließende Wort lassen sich unterscheiden, aber nicht trennen. Wie wenig der Begriff der Urkunde genügt, um das Wesen des Schriftworts auszudrücken, zeigt sich sehr charakteristisch an denjenigen außerbiblischen Dokumenten, die ebenfalls Urkunden der biblischen Geschichte sind. Für die alttest[amentliche] Geschichte häufen sich ja die außerbiblischen Urkunden, Mesasäule,319 Sanheribsbericht 320 usf. Josephus321 hat es für passend gefunden, nicht von Jesus zu sprechen. Aber er spricht doch vom Täufer, nun der Bericht des Josephus über den Täufer lag der Kirche vor, als sie den Kanon sammelte, sie setzte ihn nicht hinein, und niemand wird ihn hineinsetzen. Und wenn uns Josephus von Jesus erzählt hätte, nicht lästernd, sondern eben analog wie er vom Täufer spricht, in ruhiger Objektivität, mit vielen historisch werthvollen Einzelheiten, wie er uns ja auch über den Täufer wenigstens eine solche gibt, so hätten wir zweifellos [182] eine Urkunde, für das Leben Jesu, aber niemals ein Evangelium. Worin besteht der faktische Unterschied solcher Dokumente von der Bibel? Er liegt in dem innen Kausalzusammenhang, der zwischen dem Schriftwort und 318 Dynamis und Logos als Formen der Ermächtigung des biblischen Zeugnisses hängen für Schlatter eng zusammen. Vgl. ders., Der Glaube im Neuen Testament, Stuttgart 41927. 319 Vgl. dazu den Artikel »Mesa-Stele« in: Das Große Bibellexikon, Bd. 2, Wuppertal/Zürich 1988, 962f. 320 Zeugnisse über den assyrischen König, der in die Zeit zwischen 745–680 v.Chr. datiert wird. Dazu Rykle Borger und Wolfgang Schramm: Einleitung in die assyrischen Königsinschriften, 2 Bde., Brill, Leiden 1961 und 1972. 321 Flavius Josephus (37/38–100 n.Chr.): Verfasser der »Geschichte des jüdischen Krieges«, die eine der wichtigen teilweisen Parallelüberlieferungen zum neutestamentlichen Zeugnis darstellt.

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der Geschichte, von der dasselbe zeugt, besteht. Die Schrift übt nicht nur die Funktion eines historischen Zeugen [aus] , der beobachtend neben den Ereignissen steht, sie wächst aus dem Werke Gottes selbst heraus und bildet darum selbst einen integrierenden Bestandtheil dieses Werks. Mit dem Begriff Urkunde erhalten wir nur den Gedanken, dass ein Wort über Gott und sein Wirken uns vorliege. Die Schrift ist mehr: Gottes Wort, wie sie sich selbst benennt: torat jahwe [‎ ‫ה ָוה ְי‬ ‫]ת ַרֹוּת‬, εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ. In der Inspiration der Prophetie, in der Gottessohnschaft Jesu und in der durch sie bedingten göttlichen Sendung des Apostolats beruht der Zusammenhang des Schriftworts mit Gott. Die alte Inspirationslehre fasst diesen Zusammenhang anders; sie setzt einen besondern göttlichen Akt voraus, der den Verfasser eines biblischen Buchs zum Schreiben bewegt und ihm das geschriebene Wort darreicht. Diese Aufstellung ist darum unhaltbar, weil sie einen Akt Gottes lediglich aprioristisch syllogistisch erschließt, ohne dass eine thatsächliche Bezeugung vorläge. Wo ist in den n[eu]test[amentlichen] Briefen von einer solchen Wirksamkeit Gottes die Rede, die dem Verfasser im Moment des Schreibens den Brief darreichte? Die Briefe sprechen sich über die Motive ihrer Entstehung jeweilen aus, sie gehören dem eignen Leben des Schreibenden an. Eine solche Aktivität Gottes, in der ausschließlich die Entstehung des Briefs zu suchen wäre, wird nirgends geltend gemacht. [183] Über die Entstehung der Evangelien liegt uns im Lukasprolog ein anschaulicher Bericht vor, ebenso über die des vierten Ev[angeliums] [Joh] 20,30.31. Der Erwiderung, dass diese menschliche Thätigkeit durch den göttlichen Akt nicht ausgeschlossen sei, dass diese vielmehr eine vorbereitende Bedeutung [habe], wozu nun der Gottesakt hinzutrete als die eigentliche produktive Ursache der Schrift, ist zu antworten, dass wir nicht befugt sind, Akte Gottes zu postulieren, wenn sie sich nicht selbst bezeugen. Wir haben sie wahrzunehmen da, wo sie sich bezeugen, aber zu postulieren haben wir hier nichts. Diese Inspirationslehre ist zu beurtheilen als ein unrichtiges Theologoumenon, das einen richtig wahrge– 230 –

nommenen Thatbestand, nämlich den, das die Schrift sich als Wort Gottes bezeugt, durch eine unbefugte Hypothese erklären will. Sie ist älter als die Kirche (Philo),322 und zunächst dadurch entstanden, daß der Begriff der prophetischen Inspiration von der Rede auf die Schrift übertragen wurde. Nun ist die Gleichstellung von Rede und Schrift eine vollberechtigte, aber es ist übersehen, dass die göttliche Geistwirksamkeit ebenso wenig mit dem einzelnen Redeakt unmittelbar verknüpft ist als mit dem Akt des Schreibens. Sie kann zusammenfallen mit einem bestimmten Redeakt (z.B. die Anbietung des Zeichens Jes  7), sie muss es nicht. Die Geistwirksamkeit Gottes im Propheten setzt in demselben einen bleibenden Besitz [von] Gott gewirkter Erkenntnis, die ihn [nicht] nur momentan, sondern bleibend befähigt, als Bote Gottes Gottes Wort zu reden. Aber das ist nicht zu übersehen, dass mit der Beseitigung dieses Versuchs, die Genesis des Wortes Gottes festzusetzen, der Thatbestand selbst, der hiedurch abgeleitet werden soll, nicht in Frage gestellt ist. [184] Der Charakter der Schrift, Wort Gottes zu sein, wird erst in Frage gestellt, wenn die Inspiration überhaupt problematisch wird. Haben wir die Wirksamkeit Gottes als des Geistes in der Prophetie, in Jesus und seinem Apostolat erkannt, so ist eben damit auch die Schrift als Wort Gottes erkannt.323

322 Philo von Alexandrien (15/10 v.Chr. – 40 n.Chr.). Philo sucht durch Allegorese das Zeugnis der hebräischen Bibel mit der antiken Philosophie, vor allem mit dem Platonismus und der Stoa, in Übereinstimmung zu bringen. Vgl. dazu u.a. Peder Borgen: Philo of Alexandria. An Exegete for His Time (= Supplements to Novum Testamentum, Bd. 86), Brill, Leiden u.a. 1997. 323 Eine ausdrückliche dogmatische Begründung, dass die Heilige Schrift das wahre Wort Gottes ist, findet sich in zahlreichen Arbeiten von Reinhard Slenczka, u.a.: Heilige Schrift – Wort Gottes, in: ders., Neues und Altes. Ausgewählte Aufsätze, Vorträge und Gutachten, Bd. 1, Neuendettelsau 2000, 13–69.

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Wir haben weiter den menschlichen Faktor an der Schrift ins Auge zu fassen und gehen hiebei wiederum empirisch zuwege.324 Die Erhaltung der biblischen Schriften geschieht durch dieselbe menschliche Vermittlung, wie sie die Erhaltung sonstiger Schriften ermöglicht, daher auch mit denselben störenden Einwirkungen auf dieselben, die solcher Überlieferung naturgemäß anhaften. Der biblische Text schwankt für das Neue Test[ament] ganz offenkundig, und für das Alte Test[ament] ist die Festigkeit desselben nur Schein, darauf beruhend, das ein textus receptus uns vorliegt;325 das demselben sehr beträchtliche Textschwankungen und Textverderbnisse vorangegangen sind, ergibt die Vergleichung der Paralleltexte. Das menschliche Moment in der Erhaltung der biblischen Bücher zeigt sich weiter darin, dass diese Erhaltung sich nicht auf das ganze apostolische Schriftthum erstreckt hat. Mehr als was uns erhalten ist, ging verloren; ebenso die Evangelien, und die prophetischen Schriften. Es mögen ja sachliche Gründe, die dem Inhalt der verlornen Schriften angehören, mitwirken, aber die Voraussetzung, dass ein geringeres Geistesmaß in allem Verlorenen vorhanden gewesen, ist unbefugt. Wir sehen hier deutlich die menschliche Kausalität wirksam in ihrer Willkür und Zufälligkeit. Weiter: nicht als Kanon entstehen die biblischen [185] Bücher, sondern als einzelne. Die Sammlung derselben vollzieht sich langsam, unter Schwankungen, als ein Akt der Kirche, resp. der Synagoge.326 Das die Samm324 »Gehen zuwege«: Helvetismus für »gehen vor«. 325 Die Textvariante des griechischen Neuen Testamentes, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts in der Regel den Textausgaben zugrunde lag. Die Frage nach der Verbindlichkeit und Bedeutung des textus receptus wird heute teilweise zu einem dogmatischen Ausschlusskriterium gemacht. Vgl. zu allgemeinverständlicher Klärung: Martin Heide, Der einzig wahre Bibeltext? Erasmus von Rotterdam und die Frage nach dem Urtext, Nürnberg 22006. Über die weiteren exegetischen Probleme Kurt Aland, Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes (= Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung, Berlin 21967. 326 Schlatter greift hier, bei aller Überzeugung von der Verlässlichkeit der Heiligen Schrift, die für ihn leitend war, auf die Maßstäbe der

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lung Bedingende ist deutlich das Bedürfnis der Kirche, daher der Evangelienkanon im N[euen] T[estament], das Gesetz im A[lten] T[estament] ist der zunächst und am festesten fixierte Teil des Kanons. Denn hier war das Bedürfnis nach Schriftlicher Eingrenzung des Worts am dringendsten, hier empfand man die Schwankungen der mündlichen Überlieferung zuerst und zumeist als Verlust. Auch die Entstehung der einzelnen Schriften ist Frucht und Resultat des individuellen Lebens ihrer Verfasser, ein Werk derselben, das voll und ganz in ihrer Persönlichkeit die dasselbe gestaltenden Bedingungen hat. Individuelle Anlässe und Zwecke erzeugen die Brieflitteratur, es ist das Verhältnis der Schreibenden zu bestimmten konkreten Ereignissen und Personen, das sich darin ausdrückt. Kein Wort in den Paulinischen Briefen, in dem nicht Paulus im Vollsinn des Wortes, er mit seiner eigenartigen Lebensführung, seiner ihm eigenthümlichen Gedankenrichtung und Begriffsbildung spricht, dasselbe gilt für die Prophetie, sie wurzelt ebenso in konkreten Erlebnissen der Propheten und ihrer Zeitgenossen, hat in ihren Hoffnungen und Befürchtungen ihren Anlass, gibt ihrem persönlichen Urtheil Ausdruck. [186] In etwas andrer Weise ist die eigne Arbeit der Verfasser an den Geschichtsbüchern betheiligt. Während diese Arbeit an den Lehrschriften eine innerliche ist, Verarbeitung der persönlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen, ist sie hier mehr eine Sammelthätigkeit. Dass sie aber vorliegt, dass diese Geschichtsdarstellungen nicht mühelos zustande kommen, sondern Ergebnis einer Arbeit seitens ihrer Verfasser [sind], bezeugen sie dadurch selbst, das sie auf Quellen sich beziehen (Prolog zum Lukas Ev[angelium]). Und greifen wir aufs Wort selbst zurück, so gilt zunächst von demselben nicht minder, was soeben von den Schriften gesagt wurde, es ist nicht ein Unabhängiges von der Person, dem Lebensgang und der Lebensarbeit der Redenden, vielmehr gestaltet durch diese und dabei wirken zwei innere Faktoren zusammen, der individuelle, die produktive Arbeit des Redenden, und historischen Rekonstruktion zurück. Vgl. ders., Geschichte der ersten Christenheit. Stuttgart 61983 (= Gütersloh 1926), 370–374.

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sodann das Gemeingut seines Geschlechts. Die Sprache, in welcher sich das inn[e]re Erkennen der Apostel fasst, ist eine von außen ihnen gegebene. Sie ist der Gemeinbesitz ihrer Zeit. Kein Begriff, der nicht außerhalb des Neuen Test[aments] herangewachsen wäre, seine Zubereitung erhalten hätte. Wort und Begriff lassen sich ja nicht trennen. Wir arbeiten nicht nur mit einem gegebenen Wortschatz sondern eben darum auch mit einem [187] uns gegebnen Begriffsmaterial, in einem gemeinsamen geistigen Horizont. Das gilt auch von den Männern der heiligen Schrift. Dieser ungebrochen durchgreifend menschliche Charakter der Schrift entspricht vollständig der Weise, wie sich Gottes Wirken im Propheten, in Jesus und von ihm aus im Geistbesitz des Apostolats gestaltet. Es ist eben nicht Aufhebung, Gegensatz zum menschlichen, vielmehr Eingang des Geistes Gottes ins menschliche Wesen und Leben. Der menschliche Charakter der Schrift ist die direkte Folge derjenigen Weise, wie Gott sich bethätigt im Propheten und im Sohne. Aus der Person des Gottmenschen folgt ein gottmenschliches Wort, wie die menschliche Person von Gott angeeignet wird als Ort seiner Gegenwart und Wirksamkeit, so auch ein menschliches Wort als Organ seines Redens. Und der menschliche Charakter der Schrift ist so wenig eine Gegenrichtung gegen deren Zusammenhang mit Gott, dass vielmehr an der Art dieses göttlichen Handelns sich nichts anderes erwarten, nichts anderes postulieren lässt als ein schlechthin menschliches Wort, das eben darum ein göttliches ist, so gewiss die menschliche Person Jesu zugleich die gottmenschliche ist.

c) Die Grenzen des Kanons Es stellt sich weiter die Frage: sondert sich wirklich die Bibel als ein einzigartiges Schriftthum [188] von der übrigen Litteratur?327 Gibt es objektive Grenzen, die einen Unterschied begründen zwischen der Bibel und sonstigem Wort? Diese Frage stellt sich zunächst in 327 Vgl. dazu Schlatter, Hülfe in Bibelnot, Velbert 1926.

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Bezug auf das an den Kanon sich anschließende kirchliche Zeugnis. Dieser Unterschied kann nicht so definiert werden, dass in der Schrift nicht der Mensch, wohl aber im kirchlichen Zeugnis der Mensch aktiv sei, denn auch die Schrift ist voll und ganz Wort von Menschen. Aber auch so ist die Definition nicht zutreffend, dass das Wort der Schrift auf Gott ursächlich zurückgehe, dasjenige der Kirche nicht. Denn auch das fortgehende Zeugnis der Kirche ist ein göttlich begründetes. Es kommt nicht losgelöst von der Thätigkeit des erhöhten Christus zustande, es ist auch seinerseits pneumatisch begründet, verbum divinum328 im weitern Sinne des Worts. Wir haben auf die konkrete Eigenart des der Schrift zugrundeliegenden göttlichen Wirkens zu achten, nur dass wir dasselbe nicht in einer speziell den Schreibakt erzeugenden That Gottes zu suchen haben, sondern in der Grund und Inhalt des Schriftworts bildenden Geschichte. Die Einzigartigkeit der Geschichte bedingt die Einzigartigkeit der Schrift, die aus ihr hervorgegangen ist. Die Erscheinung des Sohnes Gottes im Fleisch, sein Sterben und Auferstehn, sind Fakta von schlechthin singulärer Bedeutung; der folgende Geschichtslauf wiederholt sie nicht. [189] Wir mögen in einem noch so lebendigen Gottesverband stehn, diese Gotteswerke liegen nicht in unsrer Empirie. Eben darum ist auch das aus diesen Ereignissen erwachsene Wort ein schlechthin singuläres. Wie das gesamte Verhältnis der Kirche durch Christus zu Gott auf Jesus beruht, und zwar auf seinem irdischen Leben und Sterben, so beruht auch das gesamte kirchliche Zeugnis folgerichtig auf dem aus jenem erwachsenen und dasselbe bezeugenden Wort. Der Vorrang der Schrift ist damit noch nicht bezeichnet, dass sie als zeitlich Erstes dem folgenden kirchlichen Zeugnis vorangestellt wird, auch die Hinzunahme des Begriffs Original gegenüber der Reproduktion erschöpft den Sachverhalt nicht. Es ist strikte ein Kausalverhältnis. Erst durch die Schrift gewinnt die Kirche ihr eignes Wort, denn erst durch die Schrift tritt sie in dasjenige Verhältnis zu Gott, das sie charakterisiert und ihr Eigenthum und ihre Kraft bildet. Ein 328 Göttliches Wort.

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Beispiel zur Veranschaulichung: was Luther an Verständnis Gottes und Christi besitzt, ist nicht nur Repetition des Schriftworts, vielmehr ein relativ reicheres. Die Erlebnisse der Kirche im Guten und schlimmen, ihr Erarbeitetes und ihre Verirrungen, sind ein auf sein Wort höchst wirksam Influierendes329 und geben ihm der Schrift gegenüber einen eigenartigen Werth. [190] Allein der ganze Christus- und Gottesglaube Luthers, aus dem all sein Verständnis für Gott und sein Reich erwächst, kommt ihm erst zu durch die Schrift. Von ihr aus gelangt er realiter in seinen innern Besitz. Sie ist der zeugende Faktor, und sein eignes Wort ist nicht nur die Repetition desselben, wohl aber ein erst durch das Schriftwort resp. durch den im Schriftwort ihm vermittelten Glaubensverband mit Gott ihm ermöglichtes: von hier aus ergibt sich die kanonische Bedeutung des Ev[angeliums] unmittelbar, und es ist leicht einzusehen, wie singulär, wie gesondert von aller übrigen auch von der denselben Stoff behandelnden Literatur sie sind. Die ganze moderne Literatur könnte, ohne dass das Gedeihen der Kirche in Frage stünde, untergehen. Warum? Diese Arbeit kann von jeder Generation ebenso gut wieder vorgenommen werden, als von uns, sie ist nichts unersetzliches. Die Evangelien dagegen sind unersetzlich, für die Kirche wie für den einzelnen Christen, denn sie und nur sie vermitteln uns die Kenntnis Christi als Menschen. Aber auch die Kanonizität der apostolischen Litteratur beruht auf demselben Realgrund. Denn die Sendung und Ausrüstung des Apostolats gehört mit zu den das Dasein und den Besitz der Kirche begründenden Akten Gottes. Der irdische Christus beginnt die Zubereitung des Apostolats, der erhöhte Christus vollendet sie. Auch dies sind Vorgänge, [191] die sich in der Geschichte der Kirche nicht wiederholen, aber eine grundlegende und deshalb fortwirkende Bedeutung haben für ihr Dasein. Eben darum, weil, wie ausgeführt wurde, die apostolische Gemeinde zur Thätigkeit Jesu auf Erden sich verhält wie der Empfang zur Anbietung, bildet Bestand und Arbeit des Apostolats und die durch dasselbe herbeigeführte Gemeindegründung das letzte 329 Einfluss nehmend.

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abschließende Glied der mit dem Kommen des Christus beginnenden Geschichte. Insbesondere der Apostel Paulus hat durch die singuläre Weise seiner Berufung und im unlöslichen Zusammenhang damit, in seiner speziellen Gabe und Aufgabe, eine singuläre Stellung, und dies liegt auch sehr kräftig in seinem eignen Bewusstsein und in seinen Äußerungen über sich selbst Eph 3; Kol 1,25ff. In seiner Berufung und innern Ausrüstung bringt Christus den Universalismus seines Werks in einzigartiger Weise zur Geltung. Es haftet darum an der Persönlichkeit und folgerichtig auch an der Schrift des Paulus ein singuläres Offenbarungsmoment, das seine Briefe sondert von allen spätern Ereignissen der Kirche. Feste Grenzen für das Neue Test[ament] nach vorn hin ergeben sich aus dem innern Zusammenhang desselben mit dem die Kirche erzeugenden Wirken Gottes, mit der göttlich begründeten [192] Geschichte, deren Resultat sie ist. Und dies war nun auch der Gesichtspunkt, der die den Kanon bildende Sammelthätigkeit der Kirche geleitet hat. Diese ist einmal offenbar beherrscht von der Rücksicht auf die apostolischen Namen. Sie will die Apostelschriften zur Heiligen Schrift machen. Nicht umsonst ist nur eine namenlose Schrift im neutest[amentlichen] Kanon, nicht umsonst unter den Briefen nur zwei, die nicht auf den apostolischen Kreis zurückgehn und auch sie, Jakobus und Judas, gehören Männern an, die der Kirche wichtig waren nicht nur durch ihre eingreifende Thätigkeit, sondern zumeist wegen ihres besondern einzigartigen Verhältnisses zu Jesu als dessen Brüder. Dass das bei der Kanonbildung ein Hauptgesichtspunkt war, zeigt sehr handgreiflich die altchristliche Pseudonymliteratur.330 Wer seiner Schrift universale Geltung geben wollte, setzte ihr einen Apostelnamen vor. Aber dies ist nun nicht der einzige Gesichtspunkt. Der Hebräerbrief dringt durch, die Lukasschriften, Markus ebenfalls. Da sind es nun doch wieder von der Person des Verfassers relativ abstrahierende auf die inhaltliche Beschaffenheit der Schrift gegründete Erwägungen,

330 Vgl. zu diesem Komplex TRE 27, 662–670.

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die deren kanonischen Gebrauch bedingten, d.h. primitiv331 sind nicht Personen, sondern die Ereignisse, die Geschichte, dasjenige, was den kanonischen [193] Werth dieser Schriften für die sie sammelnde Kirche bedingt, auf die Personen fällt der Nachdruck, insofern ihre Stellung und Thätigkeit selbst einen Bestandtheil jener Geschichte bildet. Wir haben auch ein direktes Zeugnis aus der Sammelzeit des Kanons, das sehr anschaulich die Gesichtspunkte der Kirche ausspricht. Der Gewährsmann des Papiers hat sich darüber ausgesprochen, warum Markus als kanonisch zu gelten habe. Er reflektiert auch auf die persönlichen Verhältnisse des Markus, dass er mit Petrus verbunden gewesen. Aber die Hauptfrage ist die: Erzählt Markus richtig, was der Herr gesagt und gethan hat? Dies bejaht der Presbyter, und darum steht seine Schrift im Kanon der Kirche. Daher erklären sich auch die Schwankungen in der Abgrenzung des Kanons. Würde es sich lediglich darum handeln, die Schriften bestimmter Persönlichkeiten zu sammeln, nun so wären Schwankungen nicht denkbar. Aber die sachliche und persönliche Frage besteht gleichzeitig neben- und ineinander und jene ist die dominirende. Die mit dem Leben Jesu und der Gemeindegründung innerlich verwachsene Litteratur, das war nicht eine Sphäre, deren Grenzen äußerlich handgreifliche waren. Das Apostolat selbst war ja von Anfang an nicht ein absolut umgrenztes. Neben den Zwölfen standen schon während Jesu Lehrthätigkeit andre Männer, auch im engen Anschluss an ihn, auch von ihm gebraucht zu Dienst und Evangeliumsverkündigung, doch nicht zum umgrenzten Kreis [194] der Zwölfe gehörend. so stehn auch in der Gemeindegründung Männer wie Barnabas usf. neben den ἀπόστολοι im engern Sinn, ihnen nahestehend in ihrer Begabung und Arbeit, wie sie auch denselben Namen führen. Diesen Übergangsformen im Apostolat entsprechen auch im Kanon Übergangsformen. Aber dieselben beeinträchtigen den singulären, von jedem andern Worte 331 Bei Schlatter hat »primitiv« in der Regel die Bedeutung von »ursprünglich«, nahe dem Anfang, keineswegs aber eine pejorative Bedeutung.

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stricte unterschiednen Werth des neutestamentlichen Wortes nicht, sie zeigen nur, das derselbe aus dem göttlich in der Geschichte hineingestellten Lebensorganismus stammt, und wo Leben agiert, fehlen die Übergangsformen nie. Die Frage nach den Grenzen des Kanons bezieht sich aber auch aufs Alte Testament. Wie fern gehört dasselbe zum christlichen Kanon, während doch die Kirche in Christo eine reichere, über den Inhalt des Alten Testaments hinausreichende Gotteserkenntnis besitzt? Nur äußerliche Erwägungen wie etwa die, dass Jesus das Alte Test[ament] als Kanon brauchte, ebenso die Apostel, genügen zur Beantwortung der Frage nicht. Darin mag wohl ein Merkzeichen liegen, das uns aufmerksam macht auf den bleibenden und einzigartigen Werth des Alten Test[aments], aber dieser muß aus demselben selbst dargethan werden. Denn wenn das Alte Test[ament] diesen Werth nicht in sich selbst hat, er- [195] hält es ihn durch keine Autorität. Es ist auch hier der innere geschichtliche Zusammenhang mit dem Gottmenschen, welcher diesen Schriften eine von allem übrigen Schriftthum abgegrenzte und unersetzbare Stellung gibt. sie zeigen uns, wie der Christus wird. Er ist vollständig bedingt durchs Alte Test[ament]. schon der Christusbegriff mit allen ihm Verwandten: Reich Gottes, Gesetz Gottes usf. ist voll und ganz Produkt desselben. Für die Völker um Israel her war er ein Räthsel, für Israel erfüllt mit dem intensivsten Gehalt. So wird also die geistige Form, in die Jesus sein Wollen fasst, der Zielbegriff, der seine Thätigkeit bedingt, ihm alttestamentlich präpariert. Aber weiter noch: Alle geistige Thätigkeit setzt Empfänglichkeit voraus, und die Bedürfnisse, in die seine Thätigkeit eingreift, denen sie antwortet, in welchen sie die ihr entsprechende Empfänglichkeit findet, sind in dem Volke umher durch das Alte Test[ament] u[nd] die in ihm sich bezeugende Geschichte entstanden und gewirkt. Und dies greift bis in innerste ethische Gebiet hinein. Eine Maria, welche spricht: siehe, ich bin des Herrn Magd, ist Frucht des Alten Test[aments]. Es schuf die geistige Atmosphäre, in der ein gottmenschliches Ich sündlos heranwachsen konnte. Darum weil das Alte Test[ament] die Vorgeschichte des Christus ist, kann die Kir– 239 –

che auf dasselbe nicht verzichten. Die Singularität Christi überträgt sich auch auf die ihn bedingende Geschichte, und darum auch auf die aus ihr erwachsende Schrift. Sofern nun die Prophetie [196] in dieser Geschichte der bewegende Motor ist, ist auch die Thora in ihren beiden Formen Gesetz und Weissagung der Grundbestandtheil des alttest[amentlichen] Kanons, aber auch die Geschichtsbücher gehören unentbehrlich zu demselben, denn die Prophetie ist nicht nur Lehre, sondern sehr wesentlich als geschichtsbildender Faktor die Bedingung des Christus. Dass übrigens auch hier der Kanon Schwankungen unterliegt, Grenzgebiete hat, deren Zusammenhang mit dem Prinzip des Kanons lockerer ist, beruht wie beim N[euen]T[estament] auch hier darin, dass es ein Geschichtsverlauf ist, der dem Kanon seine Bedeutung und Begrenzung gibt.

d) Autorität und Infallibilität der Schrift Mit diesen beiden Begriffen bestimmen wir nunmehr materiell den Werth der Schrift für uns, kraft dessen sie Kanon ist, mit beiden, nicht nur mit dem der Autorität, denn der Begriff Autorität gehört der Willenssphäre an, da er einen Imperativ in sich schließt, und es ist dienlich, dass das Verhältnis der Schrift zum Erkennen und zum Willen unterschieden wird. Im Zusammenhang der Schrift mit Gott ist unmittelbar mitgesetzt, dass die Schrift Autorität ist. Am göttlichen Wollen und Handeln haftet absolut normierende Kraft, zumal an demjenigen Gottes Willen, wie er im Werke Jesu sich manifestiert, welches den Gottesverband in uns stiften will. Das schließt die ethische Gleichgestaltung [197] unsres Willens mit Gottes Willen in sich. Darum haftet am Schriftwort ein absoluter Imperativ, der Gehorsam fordert: »Wer mein Wort höret und es thut.«332 ὑπακοή πίστεως, nicht nur ἀκοή. Allein dieser den Willen bindende Anspruch des Schriftworts hebt die eigne Willensbeteiligung des Menschen nicht auf. Im Gegentheil, es bietet sich dem 332 Mt 7,24.

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Menschen zur Bejahung in selbsteigner Willensentscheidung. »Wer mir nachfolgen will«: sagt der Herr, den bindet er mit seinem Wort, für den ist es Gebot [und] Autorität, aber nur für ihn. Es einigt sich in der Weise, wie das Schriftwort Autorität für sich geltend macht, Freiheit und Bindung, wie der Jakobusbrief es tiefblickend sagt: νόμος ἐλευθερίας.333 Das hat er an Jesus gesehen, dort gelernt. Und es sind nicht nur die beiden Worte äußerlich zusammengestellt, es sind in der Weise, wie Jesus gebietet, realiter beide Momente zusammen. Das hat die Kirche mit ihrem Bestreben, gleich zum Beginn ihrer Dogmatik die Autorität des Schriftworts festzustellen, übersehn. Sie hat dieselbe oft in einem nomistischen Sinne gefasst, als ein Zwangsgebot, das den Menschen an den Inhalt des Schriftworts binde, ganz abgesehen von seiner Willensstellung. Dies ist der Nomismus334 in der alten Schriftlehre. Die Reformation brach ihn [198] auf dem praktischen Gebiet, er blieb aber vorerst noch unüberwunden auf dem intellektuellen Gebiet. In ihrem Zusammenhang mit Gott ist der Schrift auch Infallibilität gegeben. Ist die Schrift Gottes Werk, Gottes Gabe an uns, so täuscht sie uns nicht, noch kann sie täuschen. Die Möglichkeit einer Irreleitung durch die Schrift ist ausgeschlossen. Aber auch hier kommt nicht nur der Allgemeinbegriff des göttlichen Ursprungs in Betracht, sondern der konkrete Zweck des göttlichen Wirkens, aus dem die Schrift entsteht. Die Ansied[l]ung] des Menschen in Gott kann unser Erkennen nicht unberührt lassen, sie hat in der Wahrheit ihre Bedingung. Wie sich Erkennen und Wollen zwar unterscheiden lässt, aber nicht trennen, so lassen sich Autorität und Infallibilität an der Schrift wohl unterscheiden, aber sie sind nicht ohne einander, so wenig als ein Gutes im menschlichen Geiste zustande 333 Jak 2,12. Siehe dazu Peter H. Davids, The Epistle of James. A Commentary on the Greek Text. The New International Greek Testament Commentary. Eerdmans, Grand Rapids u.a., 4th Pr. 2002. 334 Eine starke Gesetzlichkeit, die damit einhergeht, dass der Schrift in verabsolutierender Weise Unfehlbarkeit und Normativität zugewiesen wird.

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kommt, ohne Wahrheit, und vor allem in Gott lässt sich beides nicht trennen: Er ist zur Wahrheit und Güte in unlöslicher Einigung die Realität. Die normierende Kraft der Schrift für unsern Willen wohnt ihr darum und dann bei, weil und soweit sie uns Wahrheit vermittelt und die Anerkennung ihrer Autorität erwächst aus und beruht in der Zuversicht zur Schrift, dass sie uns nicht täuscht, also in der Anerkennung ihrer Infallibilität. Aber auch nach der [199] intellektuellen Seite macht das Schriftwort seinen Werth335 nicht in nomistischer Weise geltend. Es gibt auch einen gesetzlich-falschen Unfehlbarkeitsbegriff, der uns die Bethätigung unsres eigenen Erkennens sistiren heißt, während die Schrift dasselbe vielmehr nach aller in uns liegenden wahrnehmenden und denkenden Kraft aufruft und in Aktivität versetzen will. Die Schrift erhebt nicht den Anspruch, unser Erkennen ersetzen zu wollen durch ihr Erkennen, uns ihre Begriffe einzugießen als fertige Produkte, denen gegenüber einfach Receptionsakt gefordert würde, der an die Stelle unsres eigenen Erkennens träte. Beachte man doch die Lehrweise Jesu,336 die Gestalt seines Worts – sie ist das konträre Gegentheil zu einem Vorsagen, das auf ein Nachsagen berechnet ist. Er stellt sich selbst in Wort und Werk dem Volke zur Anschauung dar, aber nun bleibt alles andre der Erkenntnis der Hörer überlassen. sie haben nun selbst das Erlebte innerlich zu verarbeiten. Jesus anticipiert das Resultat dieser Arbeit nicht. Er ruft nicht ins Volk hinaus: »Ich bin der Christus!« Er sagts nicht einmal den Jüngern vor. Er lässt sie sich innerlich sammeln, ihre Eindrücke sich klären, dann fragt er sie: »Wer 335 Der Wertbegriff spielte in der klassischen zeitgenössischen Philosophie eine maßgebliche Rolle, sowohl im ontologischen als auch im ethischen Sinn. Dies zeigt sich bei den Neukantianern Wilhelm Windelband oder Heinrich Rickert und insbesondere im Begriff der »Wertlehre«, der auch noch auf Nietzsche eine große Ausstrahlung ausübt, was sich etwa am programmatischen Titel der »Umwertung aller Werte« zeigt. 336 Vgl. dazu Adolf Schlatter, Pädagogisches aus den Evangelien, in: Blätter für die christliche Schule 18 (35), 153f.

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bin ich?« Und gibt auf ihr Bekenntnis die besiegelnde Antwort. Selbst [200] Zweifeln inneren Erschütterungen gegenüber bleibt er in seiner Zurückhaltung. Der Täufer wankt. Doch wird die Antwort auf seine Frage nicht von Jesus an seiner statt gegeben. Er wird auf Jesu Werk verwiesen, daran soll er wahrnehmen, ob er auf einen andern warten soll oder nicht. Der unempfänglichen Menge wird das Wort ins Gleichnis eingehüllt, und je mehr die Unempfänglichkeit sich steigert, um so dichter wird die Verhüllung. Der ungläubigen Frage wird das Paradoxon zur Antwort, das ihr unverständlich ist. Wie nun Christus als Mensch sein Wort gestaltet, so gestaltet sich ganz analog die erleuchtende Thätigkeit des Geiste[s]. Das durch ihn im Apostolat begründete Wort ist nicht in allem ein mit sich selbst identisches, das eben darin, dass es in allem dasselbe wäre, sich kundgäbe als ein ihnen fremdes, lediglich von außen her gegebenes. Es ist ein Folgesatz der falschen Infallibilitätslehre, daß überall in der Schrift dasselbe stehe, weil stehn müsse. In Wahrheit verhält es sich ganz anders. Bis zu relativen Gegensätzen gestaltet sich die individuelle Verschiedenheit der apostolischen Tropen.337 Dort ein Jakobus, hier ein Paulus. Nicht in der Werthschätzung des Werks besteht der prinzipielle Unterschied, sondern in der Betrachtung Christi. Jakobus schaut [201] in die Zukunft, dort liegt ihm das Werk Christi.338 Paulus hat den Angelpunkt seines Lebens 337 Der Tropenbegriff hatte für die protestantische Exegese eine ausgezeichnete Bedeutung in der Theologie des 18. Jahrhunderts, insbesondere bei Zinzendorf, der damit die unterschiedlichen evangelischen Erscheinungsformen benannte und den lutherischen, reformierten und mährischen Tropus voneinander unterschied. Vgl. Peter Zimmerling, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. Geschichte, Theologie und Spiritualität, Hänssler, Holzgerlingen 1999. 338 Damit leistet Schlatter eine Rehabilitation des Jakobus-Briefes und arbeitet dessen eigentümlichen Skopus heraus, in klarer Kontrastierung zu Martin Luthers Abqualifizierung jenes Briefes als einer »strohernen Epistel«. Zu Schlatters Wertschätzung des Jakobusbriefs vgl. seinen bedeutsamen Kommentar: Der Brief des Jakobus. Mit einem Geleitwort von Franz Mußner, Stuttgart 31985 (= 11932).

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im Kreuz. Welche Differenzen im Christusbild, dort Matth[äus]: der sich verhüllende Christus, der sich verbirgt vor dem verkehrten und ungläubigen Geschlecht, hier Johannes: der sich offenbarende Christus, der seine ganz Lichtfülle allen entgegenstrahlen lässt, Freund und Feind. Diese Unterschiede greifen hinab bis in die prinzipiellsten Gedanken, bis auf die Gottesanschauung und die Christologie, und sie dehnen sich wiederum aus bis in die letzten praktischen Ergebnisse der Gedankengänge. Wie different sind in letzterer Hinsicht die Evangelien. Matthäus sammelt mit großem Nachdruck die Worte Jesu über die natürlichen Lebensverhältnisse. Wie es mit Geld und Gut zu halten ist, wie mit der Ehe, wie mit dem Schwören usf., das sind ihm ernste, bedeutende Fragen. Johannes hat auch nicht ein Wort über solche Dinge: Mit dem einen, an den Sohn glauben, ihn kennen, ihn lieben ist ihm alles gegeben. Wer aus Gott geboren ist, der kann nicht sündigen. Auch das Alte Test[ament] hat sehr verschiedne Individualitäten, der priesterliche Typus neben dem prophetischen, die ältere Geschichtsschreibung mit ihrem romantisch epischen Ton, und der tragische Ernst in der Schlussbetrachtung des Königsbuchs, und wieder die gottesdienstliche Skrupulosität des Chronisten. Die überströmende Hingabe an Gott [202] Ps[alm]  73 und wieder die praktisch berechnende Klugheit der Sprüche. Hat die Inspiration in ihren Empfängern die eigne geistige Arbeit und Bewegung nicht aufgehoben, vielmehr erzeugt, so ist auch uns die Schrift nicht als Ersatz gegeben fürs eigne Erkennen, sondern vielmehr als Quelle für dasselbe, ihm zur Leitung und Reinigung. Es gilt für die Schrift dasselbe Gesetz, in das Jesus sein eignes Wirken gefasst hat: sich nicht dienen lassen, sondern dienen.339 Auch die Schrift will nicht eine Herrschaft über den Menschen, die ein Dienst wäre für sie, ihr Herrschen besteht darin, dass sie dient, nämlich in die Wahrheit führt. In der unsrer erkennenden Arbeit von der Schrift gegebnen Freiheit ruht das christliche Recht der Bibelkritik. Zweifellos hat uns Christus nicht zu Richtern über sein Wort bestellt, sondern als 339 Mk 10,45.

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μαθηταί unter sein Wort gestellt. Und das ist die Grenzlinie zwischen berechtigter und unzulässiger, ethisch verwerflicher Kritik. Eine Kritik, die das Verhältnis des μαθητής zur Schrift aufgibt,340 ist Unglaube, also sündig. Aber das Hören, welches dem μαθητής obliegt (ἀκηκόειν καί […] Mt 13 [22 und 37]) haben wir nun auch wirklich zu vollziehn, ein solches Hören, das sich dem Gegenstand [203] hingibt, wie er ist, das ihn nicht mit Fiktionen umgibt, nicht nach einer selbstgeformten Idee sich gestaltet, sondern ihn nimmt in seiner eignen Wesenheit, und alle wissenschaftlichen Funktionen, die der Wahrnehmung der wirklichen Beschaffenheit des Schriftworts dienen, sind sittlich und christlich legitim. Eine Schädigung der Autorität der Schrift liegt in solch prüfender Thätigkeit an der Schrift nicht, deshalb nicht, weil dieselbe nicht nomistischer Art ist, vielmehr sich in und mit der Bezeugung der Wahrheit an uns bethätigt. Die bisherige Erörterung ging aus von dem Zusammenhang der Schrift mit Gott, und von ihm aus ergeben sich Autorität und Infallibilität als unveräußerliche Bestandteile des Schriftbegriffs. Aber mit dieser Betrachtung sind diese Begriffe noch nicht begrenzt. Die Schrift stellt uns vor ein Gottmenschliches und wie sich nun innerhalb desselben Infallibilität und Autorität gestaltet, das lässt sich nicht apriori aus der Gottesanschauung deduziren. Nun ist auch in den Trägern des göttlichen Worts das Menschliche als ein Sündliches vorhanden. Paulus hat für sich dies in mächtigem Selbstzeugnis festgestellt, ebenso das übrige Apostolat und die Prophetie, cf. Jes 6. Und es lässt sich nicht postulieren, dass [204] die Sündigkeit der Verfasser nicht auch eingewirkt habe auf die Gestaltung des Schriftworts. Z.B. in der Beurtheilung der alttest[amentlichen] Geschichten, auch was an Pseudepigraphen im Kanon vorliegt, gehört hieher, denn wenn auch die gute Absicht der Schreibenden voll anzuerkennen ist, eine fraus ist doch immer, wenn auch noch so 340 Hier zeigt sich die Selbstbezeichnung als »Schüler«, wie sie auch im Diognet-Brief und anderen frühchristlichen Zeugnissen charakteristisch ist.

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sehr eine pia fraus,341 ein Mangel an Vertrauen zur Kraft des Worts in seiner nackten, unverhüllten Gestalt. Aber auch abgesehn von der Sündigkeit der Verfasser und deren Einwirkung auf die Schrift, jedem Menschen gegenüber gilt: οὐδεὶς ἀγαθός Mk 10,18. Innerhalb einer menschlichen Persönlichkeit hat keine allumfassende, allseitige Ausprägung des Guten Raum. Noch begrenzter als der Wille ist das Erkennen. In der individuellen Gestaltung des geistigen Lebens, und was damit in Zusammenhang steht, im geschichtlichen Wachsthum desselben liegt zwar noch nicht das Dasein des Irrthums, sondern zunächst nur eine Begrenzung der Wahrheit, die nicht allseitig, sondern nur in bestimmten Schranken der individuellen Lebensgestalt zugänglich wird. Doch ist damit der positive Irrthum bereits sehr nah. Und auch solcher liegt zweifellos in der Schrift vor. Ein absolutes Ge- [205] dächtnis eignet der biblischen Geschichtsschreibung nicht, auch nicht ein absoluter Einblick in Gottes Rath, auch die Weissagung hat ihre sehr wahrnehmbaren Schranken, und dieselben tragen, weil sie dem Propheten nicht als solche bewusst sind, vielmehr für ihn sich sein Gedanke zusammenschließt zu einem geschlossnen Bilde, auch in der Weissagung den Irrthum. Wie fern bleibt nun die Schrift dennoch Autorität und Untrüglichkeit? So menschlich das Schriftwort ist, Gott ist in demselben der Dominierende. Es ist dennoch trotz allem irrigen und dunkeln und beschränkten, was im Gedankenkreis der heiligen Schriftsteller liegen mag, in ihnen zu einer Erfassung des wahrhaftigen Gottes gekommen und er ist die Wahrheit, und zur Ausprägung seines guten Gotteswillens, und dieser ist die Autorität. Hätte die Wahrheit ihre Existenz nur im Wort, wäre sie nur eine verbale Größe, so würde die Fehlbarkeit der Schrift ihre Unfehlbarkeit aufheben. Nun aber hat die Wahrheit ein lebendiges Sein in Gott, und darum eignet der Schrift auch so, wie sie ist, Untrüglichkeit, sie setzt uns in wahrhaftigen Kontakt mit Gott, und damit zur ganzen vollen 341 Frommer Betrug. Eine Täuschung in – zumindest vermeintlich – guter Absicht.

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untrüglichen Wahrheit, sie ist als Weisung zu Gott Leiter in alle Wahrheit πᾶσα ἀλήθεια. [206] Es gehört zur Untrüglichkeit der Schrift auch das, was die Dogmatik ihre perspicuitas342 nennt. Diese besteht darin, das die Schrift in ihren elementaren Grundbegriffen unmittelbar eingreift in das dem Geistesleben eingepflanzte Gottesmoment, weiter darin, dass mit diesen elementaren Grundforderungen der Schrift ihr über dieselben hinausgreifender Inhalt in organischem Zusammenhang steht, so dass sich der Gott suchenden Treue, die haushälterisch die ihr zugängliche Wahrheit und das ihr einleuchtende Gute festhält, die ganze Schriftwahrheit wachsthümlich erschließen wird. Blicken wir zurück: Es gibt ein Gotteszeugnis in der Natur, unser eignes Geistesleben weist vielseitig auf göttliche Kausalität, das religiöse Streben der Völker blieb nicht unbefriedigt, es kam in Israel zur Vernunft, zum Recht und zu einer Verheißung, und aus der Religion Israels tritt der Christus heraus, Gott geoffenbart im Fleisch und aus dieser göttlich begründeten Geschichte wächst ein Wort heraus, das, so voll und ganz es Menschenwort ist, doch in seiner Gotteserkenntnis erzeugenden Kraft seinen Ursprung aus Gott nicht verleugnet. Besitzen wir die Möglichkeit, eine Gottesanschauung zu bilden, [207] oder besitzen wir sie nicht, muss unsre Gottesanschauung ein leerer Schatten bleiben, oder kann sie sich füllen mit konkretem Inhalt? Es gibt eine Theologie, die Erkenntnis ist, Wissenschaft, und sie entsteht, sowie wir uns wahrnehmend den Realitäten zuwenden. Wenn der Mensch sich einspinnt in seine eignen Vorstellungsketten, im Wahn, er sei sich selbst Licht, er sei Quell und Produzent der Wahrheit, bleibt er in seiner Ichheit begraben, dem Du Gottes fern, und erreicht dieses nicht. Den Werken Gottes gilt es sich wahrnehmend hinzugeben, dann bricht in unsre in sich selbst leere, der ματαιότης verfallene Ichheit das große göttliche Ich hinein und der Lebenskontakt stellt sich her mit ihm, und damit ist die Gotteserkenntnis geboren. In ihm ist das Leben und das Leben ist der Menschen Licht. 342 Klarheit, Durchsichtigkeit.

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Anhang343 Adolf Schlatter

Habilitationsrede zum Zusammenhang von Dogma und Geschichte Bern: 6.5.1881 [193/1]

[1] Die christliche Lehrbildung hat die begriffliche Erkenntnis, welche sie vermitteln will, unter der Einwirkung und in Abhängigkeit von bestimmten geschichtlichen Tatsachen gewonnen. Das Urbekenntnis durch welches die Gemeinde sich konstituiert hat, besagt, dass Jesus der Christus sei. schon dieser kürzeste Ausdruck des christlichen Gedankenkreises verknüpft ein historisches und ein begriffliches Moment, und dies so, das der Gemeinde das Hauptgewicht auf das erstere fällt. Nicht der messianische Gedanke an sich löste die neue Gemeinde von der Synagoge ab. Der Christusbegriff wird ihr vielmehr schon in rauher Entfaltung von der Synagoge dargeboten. Das Scheidende lag im Anschlusse der Gemeinde an die konkret historische Gestalt Jesu. Die Kenntnis Jesu und die tiefgreifenden Eindrücke, welche von den Ereignissen seines Lebens ausgingen, bilden den neuen geistigen Besitz, der die Gemeinde in sich zusammenschloss und von Israel schied. Bezeugung und Darstellung jener Ereignisse ist darum die Erstlingsgestalt des christlichen Lehrworts; als Geschichte trat es in die Welt. Allerdings betrachtet die Gemeinde diese Geschichte nicht nur nach 343 Wir danken Herrn Doz. Dr. Andreas Loos (Basel, St. Chrischona) für die freundliche Überlassung seiner Transkription der Habilitationsvorlesung Schlatters.

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ihrem äußern Verlauf; ihr Werth besteht für sie in ihrer innern Bedeutsamkeit, welche sie sich verständlich zu machen sucht. Das Urbekenntnis enthält auch ein begriffliches Moment, den Christusbegriff. Dasselbe geriet in der Gemeinde sofort in lebhafte Beziehung und empfängt, verglichen mit seiner jüdischen Gestalt, eine gründliche Reinigung und Vertiefung. Doch nicht die Neubildung des Christusgedankens ist das erste und ursprüngliche, wodurch die neue Gemeinde ins Leben gerufen wird. Sie wird vielmehr nur darum unternommen, weil die geschichtliche [2] Erscheinung Jesu zu derselben nöthigt. Im historischen Elemente liegt die produktive Kraft, welche den spezifisch-christlichen Christusgedanken und im fernern den gesamten Prozess christlicher Gedankenbildung hervorgerufen hat. Wie nun durch die apostolische Arbeit die christliche Begriffsbildung sofort zu überraschendem Reichtum heranwuchs, war auch faktisch der Erfolg keineswegs der, dass das geschichtliche Moment als weniger bedeutsam in den Hintergrund gestellt worden wäre. Die epistolische Literatur344 des neuen Testaments zeigt vielmehr überall, wie die Begriffsreihen der apostolischen Lehrfragen konzentrisch auf jene Geschichte hinstreben, aus der die Gemeinde hervorgewachsen ist, und sich kein anderes Ziel setzen als dies: diese Thatsachen in ihrem innern Verlaufe zu beleuchten. Ein Versuch, z.B. aus dem Römerbrief dessen historische Sache auszusondern, würde von demselben nichts übrigbehalten. Die Dialektik Pauli bleibt, ob es sich um den Begriff der Sünde handelt, oder um denjenigen des Glaubens, um Beleuchtung der »Gerechtigkeit« Gottes, oder der absoluten Freimacht göttlicher Wahl und Berufung, konstant am geschichtlichen Faktum haften. Nicht weniger lebendig und innerlich ist die Verbindung beider Momente in johanneischen Lehrkorpus. Wie die spätere Kirche das historische Moment in ihrem Gedankenkreise würdigte, dafür ist ihr Symbol ein allbekanntes und sprechendes Dokument, das um so bedeutsamer wird, wenn wir berücksichtigen, wie allmählich und langsam die meisten jener Fak344 Briefliteratur.

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ten, welche die Kirche als Centrum ihres Lehrworts heraushob, zu einer begrifflichen [3] Entwicklung gelang(t)en. Es ist bedeutsam, dass wir tief ins Mittelalter hinabgehn müssen, bis wir die historische These »welcher gelitten hat« zu einer Versöhnungslehre entfaltet finden, die irgendwie eine helle und geordnete Begriffsreihe darstellte. Ob aber noch kein Versöhnungsbegriff in der Kirche existiert, das Faktum gilt konstant als ein Hauptpunkt des christlichen Lehrworts, und die Kirche betrachtet ihre nächsten Bedürfnisse durch dies ihr historisches Wissen als gedeckt. Erst spät erwacht das Verlangen, dasselbe zu spekulativer Erkenntnis weiter zu führen. Der Verlauf des dogmenhistorischen Prozesses fördert allerdings Begriffsreihen zu Tage, die den Boden des erfahrbaren, irdischen Geschehens gänzlich zu verlassen und einen rein spekulativen Charakter zu besitzen scheinen. Die Theologie der griechischen Kirche hat in der That reichlich Anteil an jener Zuversicht, welche alle egoistische Wissenschaft, dass wir, um uns die Welt erkennend aufzuschließen, keines andern Schlüssels bedürften, als nur der Logik, dass der stets mit sich selbst identische Allgemeinbegriff und der Syllogismus in seiner geschichtslosen Nothwendigkeit alles Sein und Geschehen aufzuhalten vermögen, dass wir darum in einer großartigen Synthese von dem, was Anfang und Ursache sei, vorwärts schreiten könnten zu jeder einzelnen Erscheinung herab. so treffen wir auch die trinitarische und christologische Spekulation der Griechen reichlich auf aprioristisch deduktiven Wegen, nicht in die Geschichte sich vertiefend, sondern suchend, was sein müsse Kraft logischer Nothwendigkeit, keinem Zweifel zugänglich, [4] ob wohl die Wesenheit Gottes und Christi durch eine Syllogismenkette erschließbar sei. Doch zeigt eine kurze Überlegung, dass auch diese Spekulation im geschichtlichen Faktum ihren Ausgangs- und Zielpunkt hat. Sie sucht im Grunde doch nichts anderes als das Verständnis des geschichtlichen Jesus. Abgelöst von der geschichtlichen Erscheinung Jesu, ist dem Athanasium sein Zweck genommen, sein Gehalt zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt, die Bedingung seiner Genesis annuliert. Ebenso genügt Anselm, wenn er an die Frage: »Warum Gott Mensch geworden sei«, herantritt, der Positivismus – 251 –

des Faktums nicht, er verschmäht die Sprache der Geschichte, die nur ein »Dass«, doch kein »Warum« bezeugt. Allein wie deduktiv er verfahren mag, wie sehr er auch [nach] unzerbrechlicher Nothwendigkeit ringt, die aus Gottes innerster Wesenheit sich ergeben soll, könnte Anselm345 die Passionsgeschichte vergessen, wo bliebe diese ganze Deduktion?346 Er kann nicht nur nicht, er will nicht von derselben abstrahieren. Aus ihr sprosst seine Spekulation als aus ihrer Wurzel hervor. Die Form nur ist Synthese, in Wahrheit unternimmt er eine Analyse, welche die Voraussetzungen des wirklichen Kreuzes ergründen will. Überall bleibt das kirchliche Denken, auch da, wo es spekulativ wird, nicht nur beeinflusst, sondern dominiert von der Geschichte. Und es ist klar, dass das Verhältnis beider Mächte, vorausgesetzt, dass sie überhaupt zur Einheit eines Lehrbegriffs verknüpft werden sollen, keiner anderen Gestaltung fähig war. Die Geschichte ist ein Reelles und eben darum Gegebenes, nicht erst durch unser Denken zu bilden. [5] Der Begriff ist das Gesuchte, muss erst erarbeitet werden, und ist bildsam. Hätte nicht der Begriff im Faktum seinen Kanon gefunden, wäre er vielmehr dem Faktum zum Maß und zur Regel gesetzt worden, so hätte die kirchliche Gedankenbildung mit Bewusstsein darauf verzichtet, Wahrheit zu gewinnen. So viel Anlass zu Kritik der dogmengeschichtliche Prozeß auch gibt, diese Anerkennung kann ihm nicht versagt werden: um Wahrheit war es ihm zu thun. Die Verknüpfung historischer Ueberlieferungen und begrifflicher Lehrbildung scheint die Theologie in eine überaus missliche Lage versetzt zu haben. Geschichtliche Thatsachen der Vergangenheit gewinnen nur durch viele Mittelglieder Beziehung zu uns, und besitzen keine unmittelbare Gewissheit und Evidenz. Die theologische Erkenntnis scheint in ihrer unabhängigen, hellen Durchsichtigkeit schwer beeinträchtigt, wenn ihr eine Begründung gegeben 345 Anselm von Canterbury (v. Aosta). Angespielt ist hier wiederum auf das ontologische Argument. 346 Deduktion verweist im gängigen Sinn auf die Entwicklung des Einzelnen aus dem Allgemeinen.

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wird, die nie Gegenstand eigener Wahrnehmung werden kann. Wir dürfen uns ferner die Mittelglieder, welche uns irgendeine geschichtliche Tradition überbringen, niemals völlig passiv denken, so dass sie uns das Faktum mit photographischer Form ohne irgendwelche Modifikation überlieferten, weshalb jede geschichtliche Tradition mit prüfender Vorsicht ins Auge gefasst werden muss. Diese kritische Bearbeitung ist denn auch sämmtlichen Ereignissen, aus denen Mosaismus und Christenthum hervorgingen, reichlich zu Theil geworden, und es ist derselben dankbar zuzugestehen, dass sie an mancher herkömmlichen Vorstellung bedenksame Korrekturen angebracht hat. Überträgt sich aber die Bezeugung, in welche die historischen Bestandteile des christlichen Lehrworts versetzt worden sind und werden müssen, nicht sofort [6] erschütternd auf den Lehrbegriff, der auf denselben steht? Und wird uns nicht der Zugang zur begrifflichen Gotteserkenntnis überaus erschwert, wenn dieselbe aus einer Geschichte resultieren soll, über deren wirklichen Verlauf ins Unübersehbare anschwellende Untersuchungen kritischer Art im Gange sind? Gesetzt die Ablösung der Theologie von ihrer geschichtlichen Basis verletzte deren Existenzbedingungen nicht, so scheint eine geschichtslose Gestaltung derselben ihr fassliche Erreichbarkeit, unmittelbare Evidenz, auf sich selbst stehende Festigkeit zuführen zu müssen, ein Gewinn, der die Abweichung von der bisherigen Linie christlicher Gedankenbildung voll rechtfertigen würde. Es ist uns somit durch die gegenwärtige Situation der Theologie die Aufgabe nahe gelegt, die Verbindung historischer Überlieferung und begrifflicher Gotteserkenntnis daraufhin zu prüfen, ob sie in einem Realzusammenhang begründet, somit notwendig unlösbar und bleibend ist. Wenn die theologische Arbeit in keinerlei Erkenntnis Gottes zu endigen vermöchte, so wäre der Begriff »Theologie« sichtlich gegenstandslos geworden. Nicht als sollten Untersuchungen, welche den illusionären Charakter der Gottesanschauung zu erweisen unternehmen, von vornherein aus dem Bereich der Theologie ausgeschieden werden. sie sollen uns ja ein sehr bestimmtes Wissen von Gott vermitteln. Wo aber ein solches, sei es nun Negation oder Position, – 253 –

nicht mehr erreicht oder überhaupt nicht mehr erstrebt wird, da hat die Theologie doch wohl ein Ende. [7] Geschichtslose Theologie würde also besagen, dass wir abgesehen von der Geschichte überhaupt und der biblischen Geschichte insbesondere Erkenntnis Gottes zu gewinnen im Stande sind. Die gestellte Frage fordert offenbar von uns Besinnung über den Weg, auf dem Gott unsrer Erkenntnis zugänglich wird. Lösen wir die Theologie nicht nur von der Geschichte ab, stellen wir sie gleich auf jenen Gipfel der Abstraktion hinaus, wo wir z.B. Anselm finden, damals als er sich in seine Zelle einschloss, von Natur, Geschichte, der psychischen Welt mit ihren ethischen Phänomenen insgesamt abstrahierte, sein Denken an kein empirisches Objekt mehr anschloss, und doch hoffte, nicht nur den Gottesgedanken in seinem inhaltlichen Reichtum behalten, sondern auch Gott als daseiend beweisen zu können. Das Resultat seiner Bemühung war ein Paralogismus und konnte nichts andres sein, denn in jenem geistigen Vakuum erlischt jedes Wissen, auch die Theologie. Die Hoffnung, dass wenn wir alle reellen Verhältnisse unsres Lebens ignorieren, und, was wir von der Welt und von uns wissen, durch eine That hochgespannter Abstraktion vergessen, dann im leergewordenen Bewusstsein uns des Geistes eigener Schatz die Gottesanschauung hervorstrahlen werde, ist eitel. Unter dieser Voraussetzung, wäre die Theologie voll und ganz eine schöpferische That. Doch aus unserm Intellekt lösen sich keine Schöpfungsakte los, die aller Bedingtheit entnommen, nicht rezeptiv sondern in freier Produktion das leere Bewusstsein mit Erkenntnis füllten. Die Sphäre unserer Erkenntnis ist innerhalb derjenigen unsrer realen Lebensbezüge beschlossen. Isolierung von der Realität hat noch nie Wissen erzeugt, und unsre sämtlichen in lichtvolle Vorstellungen endigende Wahrnehmungen wurden uns nur dadurch möglich, das ein Realkontakt zwischen [8] uns und den Objekten statt hatte. In diese Gebundenheit unsres Erkennens an die Lebensbedingung des erkennenden Ichs ist auch das theologische Denken ohne Vorbehalt mitbefasst. »Das Leben war das Licht der Menschen.« Nur was zuerst Moment unsres Lebens ist, – 254 –

kann Moment unsres Denkens werden. Auch unsre theologische Gedankenarbeit erlässt keine schöpferischen Befehle: »es werde!« als würden sich nun sofort auch ohne Realbasis die erkennenden Bezüge zu Gott herstellen. Sie bedarf eines Objektes, das ihr gegeben ist, in welches sie verstehend einzudringen hat, in der Wirkung die Ursache erfassend, die Erscheinung analysierend auf ihre Realprinzipien. Objekte werden aber dem Denken nur aus der realen Wechselwirkung zwischen dem Seienden und dem Geiste d.h. durch Empirie zugeführt. Fände sich irgendwo eine direkte Empirie Gottes, so läge offenbar dort der Quellpunkt der Theologie. Der Geschichtslauf bietet eine solche nirgends, auch im Wunder nicht, da es eines geistigen Sehaktes bedarf, der dem Menschen durch kein äußeres Geschehen abgenommen werden kann, damit dasselbe als Wirkung Gottes erkannt werde, auch in Jesu nicht, da was an Jesus in die Erscheinung tritt, eine volle, ganze Menschheit ist, und nichts mehr. Würde uns dagegen Gott anderswo z.B. in der Sphäre des Innenlebens, ohne Medium wahrnehmbar, so bedürften wir offenbar der Geschichte nicht. Hiermit begründet sich die Abneigung gegen die Geschäfte, welche die Mystik in ihren mancherlei Formen charakterisiert. Abstrahiert immerhin von der Geschichte, und von der gesamten empirischen Welt, sagt sie uns, so ist ja damit die Beziehung zu unserem Objekte nicht gelöst. Nicht die Welt ist Objekt der Theologie. Unmittelbare Aktivität Gottes in der Seele, damit ist er uns erkennbar geworden. Auch diese Hoffnung, [9] dass wir in völliger Passivität durch Gottes Schöpferthat Gotteserkenntnis empfangen könnten, ist träumerisch, wie die andere, dass wir sie durch einen Akt schöpferischer Selbstthat zu erzeugen vermöchten. Es handelt sich dabei nicht darum, ob unser unter oder über unserm Bewusstsein liegendes Sein ohne Media göttlicher Einwirkung zugänglich sei, sondern ob sich innerhalb der Bewegung unseres Bewusstseins Ereignisse finden, die Gott zu unvermittelter Wahrnehmung brächten. Alles, was in uns geschieht, ist, so objektiv es begründet sein mag, ist zuvörderst Akt der Seele selbst. Die Dinge ragen nicht in unser Ich hinein, so kräftig sie auf dasselbe wirken. So schiebt sich – 255 –

auch Gott nicht in unsern Bewusstseinsprozeß hinein, so lebendig wir unsern Kontakt mit ihm zu denken haben. Was aus demselben in unser Bewusstsein eingreift, ist auch und zuvörderst unser Akt. Gott manifestiert sich dem Menschen nur durch Medien, in der Welt des Ichs, wie in der äußern Welt. Wollen wir Theologie, Gotteserkenntnis gewinnen, so werden wir diese Medien, die als Wirkungen von dem sie Wirkenden zeugen, aufzusuchen, ihr Zeugnis zu vernehmen, zu sammeln, zu einer Gesamtanschauung zu vereinigen haben. Dies wird die Arbeit, die Leistung sein, welche der Theologie obliegt. Doch ehe wir uns der Realität zuwenden, treten wir noch einen Moment in jene Schatzkammer ein, die unter der Aufschrift »christliches Bewusstsein« der Theologie vielfach als Herberge aller von ihr gesuchter Erkenntnisse, als ihre wahre Heimath empfohlen wird. Nach dem Zusammenbruch der altkirchlichen Theologie hat sich der Wiederbeginn theologischer Arbeit dadurch vollzogen, dass man sich an das Faktum anklammerte, dass es ein jeder theologischen Arbeit vorgängiges [10] und von ihr unabhängiges Gottesbewusstsein gibt. Das Faktum selbst ist zweifellos. Die Kirche verdankt ihr Wissen von Gott nicht erst ihren Theologen. sie unternahm und schätzte theologische Arbeit nicht deshalb, weil ihr ohne dieselbe ihr Gottesbewusstsein dunkel oder zweifelhaft und schwankend wäre. Die Theologie ist primitiv des Glaubens Kind, das seinen Gott kennt, und eben darum, weil es ihn kennt, seine Kenntnis durch bewusste wissenschaftliche Arbeit zu erweitern strebt. Weiter ist diese Thatsache unverkennbar ein eminent bedeutsames Objekt theologischen Denkens. Es ist von Belang, dass die Gottesanschauung mit den fundamentalen Funktionen des seelischen Lebens zusammenhängt, und darum vorhanden ist, längst ehe die Fähigkeit zur voraussetzungsreichen und komplizierten wissenschaftlichen Thätigkeit gewonnen wird. Wir werden dieses Faktum in seiner Genesis zu erkennen, seine Bedingungen zu bestimmen, den Regress anzutreten haben von der in der Menschheit und in der Kirche vorgefunden[en] Gotteserkenntnis aus zu den realen Faktoren, aus denen dieselbe entsprungen ist, und immer – 256 –

neu entspringt. Dies führt uns aber sofort in die Geschichte hinein. sollte die Theologie in Abstraktion von der Geschichte verbleiben und gleichwohl im christlichen Bewusstsein ihr Objekt besitzen, so konnte ihre Aufgabe nur dahin bestimmt werden: sie habe dem christlichen Bewusstsein seinen Inhalt zu entnehmen und darzustellen, und damit sei alles erschöpft, was sie zu leisten vermöge. Was werden wir aber unserm Bewusstsein entnehmen können? Nichts, was nicht in demselben enthalten ist. Um an dieser sehr einfachen Antwort [11] zweifeln zu können, müssten wir im Stande sein, uns rückwärts zu datieren in jene Frage, da die Botschaft von dem sich selbst bewegenden Begriff noch gläubige Hörer fand. Nur damals konnte man hoffen: wenn nur einmal der Gottesgedanke gesagt sei, werde sich derselbe schon in eigener Bewegung zu immer neuem und höherem Inhalt fortgestalten. Wir können unsern Bewusstseinsinhalt in seine Momente sondern; jedes einzelne für sich hervorheben; so den Inhalt desselben inventarisieren, seine Elemente ordnen, in logische Zusammenhänge stellen – gewiss nicht ohne, doch nur mit formalem Gewinn. Inhaltlich wissen wir am Schlusse dieser Arbeit nicht mehr, als uns schon jenes vorausgesetzte Bewusstsein enthält. Die Theologie wäre eine seltsame Wissenschaft, wenn sie mit demselben Erkenntnisbesitze anfinge und endigte. Weiter werden wir der Frage nicht ausweichen können: welches Bewusstsein denn als gegeben betrachtet werden soll? Das Gottesbewusstsein ist keine unveränderliche Größe, es ist der Verdunkelung zugänglich bis zu einem Minimum hinab und kann sich wiederum füllen mit einem Reichtum von Erkenntnissen. Ein Gottesbewusstsein, wie das des Paulus, wie er es aus der Versenkung seines Denkens in Christum gewonnen hat, wie es sich z.B. im Römerbrief darlegt, kraft dessen er seine Ausführung über eines der peinlichsten Rätsel seines Lebens mit dem anbetenden Worte schließen kann: »welch eine Tiefe der Weisheit und Erkenntnis Gottes!« – ein solches Gottesbewusstsein ist wahrlich nicht sofort jedermann’s Eigentum. Welches Bewusstsein ist also Objekt der Darstellung? Es gibt für jedes Ich nur ein Bewusstsein, sein eignes. Die Theologie wäre aber eine seltsame Wissenschaft, wenn sie darin bestände, dass – 257 –

ihre Vertreter ihr individuelles Gottesbewusstsein replizieren. Wir sollen weiter unser christliches Bewusstsein [12] als ein Gegebenes betrachten. Allein »fiunt, non nascuntur christiani«.347 Unser christliches Bewusstsein ist geworden, ehe wir Theologen wurden, aber geworden ist dasselbe darum doch, in einer Bewegung unsers geistigen Lebens, an der unser bewusstes Denken und Wollen reichlich Antheil hat. Doch nicht von dem aus, was wir sagen, öffnet sich der Weg zur Wahrheit, sondern was uns gesagt worden ist, dies gibt Prinzipien der Wissenschaft. Und wenn wir uns auch alle diese Einreden beschwichtigen könnten: beschäftigen wir uns lediglich mit unserm Bewusstsein – nun, unser Bewusstsein von Gott ist nicht Gott. Darstellung unsres Bewusstseins fällt in den Bereich der Theologie, ist aber nimmer Theologie. So förderlich in bestimmter historische Situation die Erinnerung an das vorphilosophische und vortheologische Gottesbewusstsein war, so musste sich doch die Einkerkerung der Theologie in die Bewusstseinssphäre als überaus schädigend erweisen, denn auf diesem Boden wächst weder das eine, noch das andre, weder Wissenschaft, noch Theologie. Die Abhängigkeit der Theologie von empirischen Momenten hat sich als unlöslich herausgestellt. Um erkennend zu einem realen Objekt – und Gott ist, wenn er ist, eine Realität – zu gelangen, müssen wir von solchem ausgehen. An den Punkten und nur an ihnen, wo sich unsre Lebensbezüge zu Gott knüpfen, kann sich Gotteserkenntnis vollziehen. Und dieses Abhängigkeitsverhältnis ist so wenig eine Hemmung und Hinderung der Theologie, dass sie allein in demselben die Gewähr besitzt, nicht Traum und Dichtung sondern Wissen und Wahrheit zu sein.

347 »Sie werden [durch Konversion], aber sie werden nicht geboren, die Christen«. Ein gängiger Satz in der alten Kirche, der vor allem auf Tertullian zurückgeführt werden kann. Apologeticum, Kapitel XVIII.

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Personenregister* Abraham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Ahas (König von Juda) . . . . . . . . 200 Aichele, Alexander . . . . . . . . . . . . 146 Aland, Kurt . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Albrecht, Michael . . . . . . . . . . . . . 91 Althaus, Paul . . . . . . . . . . . . . 15, 132 Ammon (Amun) . . . . . . . . . . . . . 192 Anaxagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Anselm von Canterbury (von Aosta) . . . 33, 92, 95–98, 134, 252 Aristoteles . . . . 28, 31, 96, 104, 116, 117, 174 Arndt, Andreas . . . . . . . . . . . . . . 119 Aron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Augustinus, Aurelius . . . 31, 117, 130, 134, 161 Baader, Franz von . . . . . . . . . . . . . 27 Baal (Gott) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Bacon, Francis . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Barnabas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Barth, Karl . . . . . . . 8, 15, 17, 33, 121 Barth, Ulrich . . . . . . . . . . . . . 39, 124 Bartuschat, Wolfgang . . . . . . . . . 174 Bayer, Ulrich . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Beck, Johann Tobias . . . 40, 126 ff., 126 Becker, Herbert . . . . . . . . . . . . . . . 84 Beierwaltes, Werner . . . . . . . . 41, 117 Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) . . . 23 Benner, Dietrich . . . . . . . . . . . . . . 47 Beyerhaus, Peter . . . . . . . . . . . . . . 51 Biedermann, Alois Emanuel . . . . 106 Blumenberg, Hans . . . . . . . . . . . . . 43 Bockmühl, Klaus . . . . . . . . . . . . . . 93 Borgard, Thomas . . . . . . . . . . . . . 156 Borgen, Peder . . . . . . . . . . . . . . . 231 Borger, Rykle . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Bornkamm, Günther . . . . . . . . . . . 62 Breidbach, Olaf . . . . . . . . . . . . . . 144 Bromand, Joachim . . . . . . . . . . 33, 91 Brooke, John Hedley . . . . . . . . . . . 18 Brox, Norbert . . . . . . . . . . . . . . . 130 Buchheim, Thomas . . . . . . 51, 80, 91 Büsser, Fritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Bultmann, Rudolf . . . . . . . . . . . . . 36 Burkhardt, Helmut . . . . . . . . . . . 126 Calogero, Guido . . . . . . . . . . . . . 139 Calov, Abraham . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Calvin, Jean . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Campenhausen, Hans Freiherr von . . . . . . . . . . . . . . 228 Clemens von Alexandrien . . . . . . 231 Craig, William Lane . . . . . . . . . . . 21 Cramer, Konrad . . . . . . . . . . . . . . . 79 Crüsemann, Frank . . . . . . . . . . . . 183 Cuneo, Terence . . . . . . . . . . . . . . . 46 Darwin, Charles . . . . . . . . . . . . . 18f. Davids, Peter H. . . . . . . . . . . . . . 241 Dawkins, Richard . . . . . . . . . . . . 102 Demokrit von Abdera . . . . . 137, 203 Descartes, René (auch Cartesius) . . . . 30f., 32, 79, 82ff., 96f., 115 Detel, Wolfgang . . . . . . . . . . . . . . 99 Dieter, Theodor . . . . . . . . . . . . . . 118 Dohmen, Christoph . . . . . . . . . . 228 Dothan, Mosche . . . . . . . . . . . . . 193 Dothan, Trude . . . . . . . . . . . . . . . 193 Düsing, Edith . . . . . . . . . . . . . . . 150 Eichhorn, David Max . . . . . . . . . 186 Elia (Prophet) . . . . . . . . . . . . . . . 200 Eliade, Mircea . . . . . . . . . . . . . . . 176 Elias (Prophet) . . . 140, 196, 200, 202 Empedokles . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

* Der Name von Adolf Schlatter wird im Register nicht getrennt angeführt, da er durchgehend genannt ist. Namensnennungen, die nur in den Fußnoten vorkommen, werden im Register kursiv gesetzt.

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Feliu, Lluís . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Fichte, Johann Gottlieb . . . . . . . . 121 Fischer, Ernst Peter . . . . . . . . . . . . 18 Flavius Josephus . . . . . . . . . . . . . 229 Frank, Günter . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Frankena, William F. . . . . . . . . . . . 50 Franziskus (Papst) . . . . . . . . . . . . . 23 Frey, Jörg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Fritz, Alexis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Gabriel, Markus . . . . . . . . . . . . . . . 30 Galilei, Galileo . . . . . . . . . . . . . . . 17 Gaunilo von Marmoutiers . . . . 95, 97 Geerlings, Wilhelm . . . . . . . . . . . 130 Gleich, Daniel . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Glimmerveen, Cornelis Harm . . . 146 Gräb-Schmidt, Elisabeth . . . . . . . . 53 Grewendorf, Günther . . . . . . . . . . 50 Gödel, Kurt Friedrich . . . . . . . 33, 93 Görgemanns, H. . . . . . . . . . . . . . 116 Grosse Sven . . . . . . . . . . 39, 113, 119 Hadrian VI. (Papst) . . . . . . . . . . . . 46 Haeckel, Ernst . . . . . . . . . . 18ff., 106 Hafner, Hermann . . . . . . . . . . . . 63f. Harnack, Adolf von . . . . . . . . . . . . 53 Hegel, George Wilhelm Friedrich . . . 33, 37, 39f., 78, 88, 96, 102, 106, 108ff., 113, 141, 203 Heide, Martin . . . . . . . . . . . . . . . 232 Heidegger, Martin . . . . . . . . . . 36, 61 Heintel, Erich . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Heitler, Walter . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Hengel, Martin . . . . . . . . . . . . . . 131 Henrich, Dieter . . . . . . . . 83, 93, 102 Henry, Michel . . . . . . . . . . . . . . . 209 Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Herbart, Johann Friedrich . . . . . 47f., 104, 139, 156, 160, 166 Hermann, Rudolf . . . . . . . . . . . . 122 Hermanni, Friedrich . . . . . . . . . . . 91 Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Höffe, Otfried . . . . . . . . . . . . . 91, 94 Homer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Humboldt, Wilhelm von . . . . . . . 139 Hume, David . . . . . . . . . . . 30, 45, 80 Hutter, Axel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Irenäus von Lyon . . . . . . . . . . . . . 205

Isaak (Abrahams Sohn) . . . . . . . . 200 Jaeschke, Walter . . . . . . . . . . . 78, 119 Jakobus . . . . . . . . . . . 200, 241, 243f. Jelles, Jarig . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Jeremias, Joachim . . . . . . . . . . . . 195 Jesaja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Jesus Christus . 11, 13f., 22, 54, 56ff., 132f., 188, 208ff., 210ff., 220ff., 226ff., 235ff., 243ff., 249ff. Joest, Wilfried . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Johannes (Evangelist) . . . . . . 90, 131 Kant, Immanuel . . . . 17, 32, 44f., 47, 49, 75, 76, 77, 79f., 87, 90, 92, 93f., 98, 101–104, 107, 118, 122, 125, 153, 159ff., 166 Karafyllis, Nicole C. . . . . . . . . . . . 19 Kaiser, Otto . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Karpp, Heinrich . . . . . . . . . . . . . 116 Kepler, Johannes . . . . . . . . . . . . . . 17 Kessler, Hans . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Kilchör, Benjamin . . . . . . . . . . . . . 53 Kirchhoff, Thomas . . . . . . . . . . . . . 19 Kobusch, Theo . . . . . . . . . . . . . . . 117 Kreis, Guido . . . . . . . . . . . . . . 33, 91 Krötke, Heike . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Kroner, Richard . . . . . . . . . . . . . . 119 Laplace, Pierre Simon . . . . . . . . . . 42 Lehnerer, Thomas . . . . . . . . . . . . . 39 Leibniz, Gottfried Wilhelm . . 17, 32, 138, 139 Löw, Reinhard . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Löwith, Karl . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Loos, Andreas . . . . . . . . . . . . . . . 249 Lubac, Henri de . . . . . . . . . . . . . . 134 Lütgert, Wilhelm . . . . . . . . . . . . . . 15 Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Luthardt, Ernst . . . . . . . . . . . 16, 19f Luther, Martin . . . . . . . . . . . . 49, 243 Mainzer, Klaus . . . . . . . . . . . . . . . 42 Mann, Thomas . . . . . . . . . . . . . . 196 Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Markus (Evangelist) . . . . . . . 238, 244 Matthäus (Evangelist) . . . . . . . 244ff. Maul, Stefan M. . . . . . . . . . . . . . 177 May, Gerhard . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Meggle, Georg . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Melanchthon, Philipp . . . . . . . 17, 90

– 260 –

Melissos aus Samos . . . . . . . . . . . 138 Möhler, Adam . . . . . . . . . . . . . . . 104 Mohrmann, Chr. . . . . . . . . . . . . . 134 Moses . . . . . . . . . . . . . 182f., 195, 196 Nagel, Thomas . . . . . . . . . . . . . . . 102 Neuer, Werner . . . . . 7, 11, 23, 25, 27, 28, 61, 71, 73, 100, 126, 149 Newman, John Henry . . . . . . . . . . 35 Newton, Isaac . . . . . . . . . . . . 17, 142 Niehr, Herbert . . . . . . . . . . . . . . . 168 Nietzsche, Friedrich . . . 103, 106, 114 Nilsson, Martin P. . . . . . . . . . . . . 175 Odysseus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Oeming, Martin . . . . . . . . . . . . . 228 Ohlig, Karl-Heinz . . . . . . . . . . . . 228 Origenes . . . . . . . . . . . . . . . 116, 131 Otto, Walter F. . . . . . . . . . . . . . . . 82 Pannenberg, Wolfhart . . . . . . 28, 33, 37, 39, 106, 117 Parmenides . . . . . . . . . . . . . . 51, 139 Pascal, Blaise . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Paulus . . . . . . 60, 85, 93, 132ff., 136, 146, 167, 186, 206f., 215, 250 Penelope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Penrose, Roger . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Philo von Alexandrien . . . . . . . . . 231 Picht, Georg . . . . . . . . . . . . . . 28, 118 Plantinga, Alvin . . . . . . . . . . . . 75, 98 Platon . . . . . . . . . . . 30, 48, 80, 141, 173, 176, 188ff. Pleger, Wolfgang H. . . . . . . 119, 124 Preul, Reiner . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Putnam, Hilary . . . . . . . . . . . . . . . 30 Pythagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Rad, Gerhard von . . . . . 89, 132, 185 Raich, Johann Michael . . . . . . . . 105 Ratschow, Carl Heinz . . . . . . . . . 153 Reale, Giovanni . . . . . . . . . . . 81, 141 Röd, Wolfgang . . . . . . . . 32, 79, 82, 83, 95, 96, 97 Rohlfing, Anna Tabea . . . . . . . . . . 63 Rohls, Jan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Rohrmoser, Günter . . . . . . . . 40, 109 Rosenzweig, Franz . . . . . . . . . . . . . 54 Rothe, Richard . . . 37, 105, 112–119

Sasse, Martin . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph . . . . . 78, 102, 114, 162ff. Schlatter, Christine . . . . . . . . . . . . 10 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst . . . . . . . 38ff., 120ff. Schmidt, Werner H. . . . . . . . . . . 195 Schneiders, Werner . . . . . . . . . . . . 91 Schopenhauer, Arthur . . . . . . . . . 114 Schramm, Wolfgang . . . . . . . . . . 229 Schütte, Hans-Walter . . . . . . . . . . 37 Schwanke, Johannes . . . . . . . . . . . 35 Schwöbel, Christoph . . . . . . . . . . . 91 Seidl, Horst . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Seitz, Manfred . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Seubert, Harald . . . . . . 9, 27, 30, 32, 39f., 81, 109, 113, 119, 176 Shafer-Landau, Russ . . . . . . . . . . . 46 Slenczka, Notger . . . . . . . . . . . . . . 53 Slenczka Reinhard . . . . . . . . 130, 231 Sokrates . . . . . . . . . . . 30, 46, 80, 147 Spaemann, Robert . . . . . . . . . 20, 147 Spinoza, Baruch de . . . . 30, 32, 78f., 82, 96, 97, 139, 141, 174 Stowasser, Martin . . . . . . . . . . . . 207 Stuhlmacher, Peter . . . . . . . . . . . . 223 Swinburne, Richard . . . . . . 75, 86, 98 Theißen, Gerd . . . . . . . . . . . . . . . 205 Thomas von Aquin . . . . . . 28, 31, 99 Thomasius, Christian . . . . . . . . . . . 44 Tholuck, August . . . . . . . . . . . . . 127 Träger, Franz . . . . . . . . . . . . 47, 160, Wachter, Daniel von . . . . . . . . . . 204 Wagner, Falk . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Walldorf, Jochen . . . . 29, 73, 74, 106 Waschke, Ernst-Joachim . . . . . . . 190 Weber, Max . . . . . . . . . . . . . . . . 195f. Weizsäcker, Carl Friedrich von 17, 20 Welsch, Wolfgang . . . . . . . . . . 50, 72 Wieland, Wolfgang . . . . . . . . . . . . 44 Wolff, Christian . . . . . . . . . 32, 44, 91 Zenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Zimmerling, Peter . . . . . . . . . . . . 243 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

– 261 –

Sachregister Aktion-Reaktion . . . . . . . . . . . . . 72f. Analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74f. Anamnesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Anziehungskraft . . . . . . . . . . . . 149f. Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 21ff. Apostolat (Apostelamt) . . . . . . 219ff. Apriorismus . . . . . . . . . . . . . 76f., 92f. Atheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 101f. Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . 37f. Autorität (der Hl. Schrift) . . . . 240ff. Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . 11ff. Biblizismus . . . . . . . . . . . . . . . 126ff. Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131f. Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . 13ff. Christliches Bewusstsein . . . . . . 11ff. Christusamt . . . . . . . . . . . . . . . . 216f. Christusgeschehen . . . . . . 56f., 202ff. Christuszeugnis . . . 202ff., 216f., 239ff. Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 112f. Dogma (Dogmatik) . . . . 35ff., 105ff., 108ff., 125f. Doxologische Existenz . . . . . . . . 24ff. Empirische Theologie . . . . . . . . . 11f. Erfahrung . . . . . . . . . . . . . 87f., 112f. Erkenntnis . . . . 28ff., 40ff., 50f., 71f., 85ff., 89ff., 130ff., 171ff. Erkenntnisprozess (Erkenntnisakt) . . . . . . . . . . 70ff., 75f., 79ff., 85ff. Erkenntnistheorie . . . . . . . 28ff., 72f. Evolutionstheorie . . . . . . . 18f., 146ff. Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47f. Fundamentaltheologie . . . . . . . . . 60f. Fundamentalwissenschaft (Theologie und Philosophie) . . . . 8, 24f., 70f. Geist . . . . . . . . . . . . 45ff., 59f., 157ff. Geistgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . 59 Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (Schleiermacher) . . . 124ff. Geometrico ordine . . . . . . . . . . . . 78f.

Gericht (Gott als Richter) . . . . . . 61f. Gesetz . . . . . . . . . . . . . . 54ff., 224ff. Geschichte (Geschichtlichkeit) . . 14f. Gewissen – Gewissensurteil . . . . 46f., 48f., 158ff., 164ff., 171ff., 179ff. Gewissensnorm . . . . . . . 169f., 179ff. Glaube . . . . . . 19ff., 37ff., 40f., 130ff., 133ff., 189f. Glaubensgerechtigkeit . . . . . . . . 189f. Glaubenslehre . . . . . . . . . . . . . . . 38f. Gott . . . 7ff., 24, 27f., 31ff., 42ff., 45ff., 51f., 55f. 56f., 69f., 87ff., 152f. Gott der Philosophen . . . . . . . . . 199f. Gottesbeweis . . . . . . . 32f., 91ff., 98ff. Kosmologisches Argument . . 98ff. Teleologisches Argument . . . . 98ff. Gotteserkenntnis . . . . . . 10, 15, 27ff., 31f., 40ff., 47f., 69ff., 85ff., 89ff., 122ff., 133f. Natürliche Gotteserkenntnis . 41f., 89ff., 122ff. Gotteszeugnis . . . . . . . . . . . . . 205ff. Gottsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . 175f. Gutes (summum bonum) . . . . 191ff. Güte, Gutsein (in der Natur) . . . 151f. Harmonie (in der Natur) . . . . . . . 43f. Heilsgeschichte . . . . . . . . 9, 13f., 57f. Heilsgeschichte als Tatsache . . . . . 57, 198ff., 200ff., 249ff. Herrlichkeit Gottes (hebr. Kabod) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25f. Idea Dei innata . . . . . . . . . . . . . . 82f. Imperativ, Kat. Imperativ (Kant) . . 160f. Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Inspiration . . . . . . . . . . . . . . . . 128ff. Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 142f. Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234ff. Kanonisierung . . . . . . . . . . . . . 236ff. Kausalität (aus Freiheit) . . . . . . . 47ff.

– 262 –

Kerygma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Kirche . . . . . . . . . . 98f., 108ff., 251f. König (von Israel) . . . . . . . . . . 190ff. Konstanz (Stetigkeit) . . . . . . . . . 146f. Kosmologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 34f. Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . 136f., 161f. Kreuzestod . . . . . . . . . . . . . . . . 214ff. Kritik (Kritische Philosophie) . . . 44ff., 107ff. Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . 38ff., 50f. Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . 5ff., 100ff. Geistiges Leben . . . . . . . . . . . 156ff. Liebe (Liebesgebot) . . 49f., 187ff., 210ff. Maieutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80f. Materialismus . . . . . . . . . . . . . . 54ff. Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . 31f. Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 42f. Natur . . . . . . . . . 136ff., 143ff., 152ff. Natur (als Manifestation der Gegeninstanzen zu Gott) . . 152ff. Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . 17ff. Ökologie des Menschen . . . . . . . . . 23 Offenbarung . . . 13f., 16f., 43ff., 51f., 53ff., 185f., 226ff. Doppelte Offenbarung (Heilige Schrift und Buch der Natur) . . 16f. Offenbarungszeugnis . . . . . . . . . 53ff. Ontologischer Gottesbeweis (Ontologisches Argument) . . . 95f. Organismus . . . . . . . . . . . . . . . 144ff. Panentheismus . . . . . . . . . . . . . . . 31f. Pantheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Paralogismus (Fehlschluss) . . . 102ff. Philosophie . . . . . . . . . . . . . 8ff., 35ff. Positive Theologie . . . . . . . . . . . . . 12 Postulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94ff. Prophetie (AT) . . . 182f., 196ff., 200ff. Proslogion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95f. Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . 38ff. Religion, Religiosität . . . . . . . . 120ff. Säkularisierung (Säkularismus) . . 37f. Rationalismus . . . . . . . . . . . 35f., 77f. Realistische Theologie . . . . . . . . . . 21 Recht . . . . . . . . . . . . . . . 167ff., 197ff.

Recht und Gerechtigkeit . . . . . . 197f. Religion (Religionen) . . . . . . . . . 175f. Religionsgeschichte (Israels) . . . 194f. Repulsion . . . . . . . . . . . . . . . . . 149ff. Schöpfung . . . . . . . . . . . . . 14f., 20ff. Schöpfungsoffenbarung . . . 14ff., 17ff. »Scholastik« (bei Schlatter im transhistorischen Sinn) . . . 34f., 104ff. Schrift (Heilige Schrift) . . . . . . . 127f. Schrift als Wort Gottes . 230ff., 242f. Schriftgedanke . . . . . . . . . . . . . . 127 Schriftwort . . . . . . . . . . . 127, 223ff. Menschlicher und göttlicher Charakter des Schriftwortes . . . 225f. Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253ff. Selbstbewusstsein (frommes Selbstbewusstsein) . . . . . . . 119ff. Selbstbewusstsein Jesu . . . . . . . 211ff. Skepsis (Antiskepsis) . . . . . 30f., 33ff., 76f., 80 Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . 33ff. Sophistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Substanz (Substanzbegriff) . . . . 83ff. Syllogismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 99f. Synthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74f. Teleologie . . . . . . . . . . . . . 110f., 147ff. Theologie . . . 8ff., 35ff., 42, 70ff., 252ff. Spekulative Theologie . . 112ff., 116ff. Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183f. Transzendentalphilosophie . 38ff., 44 Unendliches (Infinitum) . 84ff., 141f. Uroffenbarung (natürliche Offenbarung) . . . . . . . . . . . . . 41f. Urteil (Urteilen) . . . . . . . . . . . . . 172f. Wahrheit (Wahrheitserkenntnis) . . . . 10ff., 186ff., 193ff. Wahrnehmung . . . . . . . . . . 13f., 71ff. Wechselwirkung . . . . . . . 138f., 140f. Welträtsel (Haeckel) . . . . . . . . . . 18f. Wille (sittlicher Wille) . . 158ff., 169f. Wille (manifestiert in der Natur) . . . . 148f., 177ff. Wirklichkeit . . . . . . . . . . . 11ff., 75ff. Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202f.

– 263 –

Bibelstellenregister Ex 21,23–25 . . . . . 168 Dtn 6,4 . . . . . . . . . 168 Num 21,19–20 . . . . 198 1Kön 18,20–46 . . . . 93 1Kön 18,19–40 . . . 140 Hi 3,7ff. . . . . . . . . . 136 Hi 38,9 . . . . . . . . . 137 Ps 14,1 . . . . . . . . . . . 95 Ps 19,4 . . . . . . . . . . 197 Ps 73 . . . . . . . . . . . 244 Jes 6 . . . . . . . . . . . . 245 Jes 6,1 . . . . . . . . . . 199 Jes 7 . . . . . . . . . 20, 231 Jes 11,9 . . . . . . . . . . . 89 Jes 28,7 . . . . . . . . . 198 Jes 45,15 . . . . . . . . . . 82 Jer 32 . . . . . . . . . . . 221 Hos 4,1 . . . . . . . . . . 89 Hos 8,2 . . . . . . . . . . 89 Joel 3 . . . . . . . . . . . 221 Mi 6,6ff. . . . . . . . . 198 Mt 4,17 . . . . . . . . . 206 Mt 5,13f. . . . . . . . . . 25 Mt 5,14–16 . . . . . . . 26 Mt 5,17 . . . . . . . . . 212 Mt 5,45 . . . . . . . . . 212 Mt 6,25f. . . . . . . . . 212 Mt 7 . . . . . . . . . . . . 198 Mt 7,21 . . . . . . . . . 212 Mt 9,36 . . . . . . . . . 211

Mt 10,37 . . . . . . . . 208 Mt 11,2–6 . . . . . . . 208 Mt 12,50 . . . . . . . . 212 Mt 13,19 . . . . . . . . 226 Mt 13,22.27 . . . . . 245 Mt 16,2ff. . . . . . . . 212 Mt 16,20 . . . . . . . . 212 Mt 16,24ff. . . . . . . 213 Mt 19,29 . . . . . . . . 212 Mt 21,23ff. . . . . 57, 212 Mt 21,28ff. . . . . . . . 226 Mk 1,15 . . . . . . . . . 206 Mk 10,45 . . . . . . . . 244 Mk 10,18 . . . . . . . . 246 Lk 5,32 . . . . . . . . . 211 Lk 7,47 . . . . . . . . . . 211 Lk 15,4–7 . . . . . . . 211 Joh 5,26 . . . . . . 57, 214 Joh 7,16f. . . . . . . . . 212 Joh 12,49ff. . . . . . . 226 Joh 17,3 . . . . . . 40, 132 Joh 14,5ff. . . . . . . . . 90 Joh 17,3 . . . . . . . . . . 90 Joh 20,30.31 . . . . . 230 Apg 14,17 . . . . . . . . 151 Apg 17,27 . . . . . . . . . 85 Apg 17,27f. . . . . . . . . 93 Röm 1,18 . . . . . . . . 216 Röm 1,19 . . . . . . . . . 90 Röm 1,19.20 . . . . . 136

– 264 –

Röm 2 . . . . . . . . . . 186 Röm 5,12 . . . . . . . . 215 Röm 6,10 . . . . . . . . . 57 Röm 8,6 . . . . . . . . . 215 Röm 6,23 . . . . . . . . 215 Röm 7 . . . . . . . . . . 206 Röm 9–11 . . . . 58, 207 Röm 10,9 . . . . . . . . 219 1Kor 1,21 . . . . . . . . . 90 1Kor, 2,6ff. . . . . . . 226 1Kor 2,11 . . . . . . . . . 90 1Kor 6,12 . . . . . . . . 167 1Kor 10,21 . . . . . . . 188 1Kor 12,3 . . . . . . . 219 2Kor 4,4 . . . . . 58, 221 2Kor 5,17 . . . . . . . . . 25 Eph 1,14 . . . . . . . . . . 26 Eph 1,17 . . . . . . . . . . 26 Eph 3 . . . . . . . . 60, 237 Eph 4,1–14 . . . . . . . . 25 Phil 4,7 . . . . . . . . . . 57 Kol 1,15 . . . . . . . . . . 82 Kol 1,25ff. . . . . 60, 237 Kol 2,3 . . . . . . . . . . . 57 1Thess 2,8 . . . . . . . 226 Heb 1,1 . . . . . . . . . 226 Heb 11 . . . . . . . . . . 193 1Joh 4,16 . . . . . . . . 170 Offb 21,1 . . . . . . . . . 25