Das Unrechtsbewusstsein der DDR-»Mauerschützen« [1 ed.]
 9783428514519, 9783428114511

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Schriften zum Strafrecht Heft 163

Das Unrechtsbewusstsein der DDR-„Mauerschützen“ Von

Hanno Siekmann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

HANNO SIEKMANN

Das Unrechtsbewusstsein der DDR-„Mauerschützen“

Schriften zum Strafrecht Heft 163

Das Unrechtsbewusstsein der DDR-„Mauerschützen“

Von

Hanno Siekmann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-11451-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2003 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung ist sie geringfügig geändert und aktualisiert worden. Mein herzlicher und tiefer Dank gilt Herrn Professor Dr. Gerhard Sprenger und Herrn Professor Dr. Otto Backes, die das Erst- bzw. Zweitgutachten erstellt haben. Beide haben den Fortgang der Arbeit stets mit großem Interesse verfolgt und ihr Gelingen durch zahlreiche wertvolle Anregungen unterstützt. Auf diesem Wege haben sie mich persönlich ermutigt. Mein besonderer Dank gilt weiterhin meinen Eltern, die mich bei der Erstellung der Arbeit jederzeit vielfältig und großzügig unterstützt haben. Berlin, im August 2004

Hanno Siekmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Erstes Kapitel Die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze

18

Die Norm des § 27 GrenzG/DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsstaatliche Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Realsozialistische“ Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verstoß gegen höherrangiges positives Recht der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 20 21 23

II. Das Spannungsverhältnis von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Radbruchsche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendbarkeit außerhalb des NS-Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Vorliegen gesetzlichen Unrechts i. S. Radbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Auffassung: Die Annahme gesetzlichen Unrechts . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Begründung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verweis auf den IPBPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Ausreisefreiheit nach Art. 12 Abs. 2 IPBPR . . . . . . . . . (b) Recht auf Leben nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 u. S. 3 IPBPR . . (2) Kritik am Rückgriff auf den IPBPR durch den BGH . . . . . . . . . bb) Die Begründung der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweite Auffassung: Die Ablehnung gesetzlichen Unrechts . . . . . . . . . . . c) Stellungnehmende Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 24 24 25 27 28 28 28 28 30 30 32 32 33 37

III. Zusammenfassung Erstes Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

I.

Zweites Kapitel Die Bedeutung des Unrechtsbewusstseins für den strafrechtlichen Schuldvorwurf

42

Der strafrechtliche Schuldgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

II. Die strafrechtliche Schuld als Vorwerfbarkeit der Willensbildung . . . . . . . 1. Die menschliche Willensfreiheit als Grundvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erforderlichkeit der Kenntnis von Recht und Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 44 44

I.

6

Inhaltsverzeichnis

III. Die Verbotsirrtumsregelung des § 17 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

IV. Materiell- und prozessrechtliche Aspekte des Unrechtsbewusstseins . . . . .

46

Drittes Kapitel Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

48

Begriffsbestimmung und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

II. Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendung des § 5 Abs. 1 WStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorliegen eines Verbotsirrtums nach § 17 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fehlende Begründung des BGH für seine Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 50 51 51

III. Die Feststellung des aktuellen Unrechtsbewusstseins eines Täters . . . . . . . . 1. Das Bestehen erkenntnistheoretischer Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kommunikative Festsetzung über das Medium der Sprache . . . . . . . . . . b) Einbeziehung spezifischer äußerlicher Kennzeichen der Tatbegehung . .

54 54 55 55 57

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . 1. Der anzuwendende Maßstab im Rahmen des § 5 Abs. 1 WStG . . . . . . . . . 2. Der Inhalt des Unrechtsbewusstseins im Rahmen des § 17 S. 1 StGB . . . . . a) Das Unrechtsbewusstsein als ablehnende Regung des Gewissens . . . . . aa) Das Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten unter Zugrundelegung der genannten Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Frage der Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Standpunkt des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Unrechtsbewusstsein als Kenntnis des Verstoßes gegen eine kollektive Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Kenntnis der Sittenwidrigkeit oder der Sozialwidrigkeit als Gegenstand des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die materiale Wertordnung des Rechts als Gegenstand des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 58 59 60

I.

V.

Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse gegen die verbindliche materiale Wertordnung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die besondere Problematik der Erkenntnisgewinnung in den „Mauerschützen“-Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die soziale Lebenswirklichkeit der Grenzsoldaten: Zugehörigkeit zu einer fremden Staats- und Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Recht in der politischen Ordnung der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das sozialistische Menschenbild in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Bedeutung des Eingehens auf die Lebenswirklichkeit eines Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 65 68 69 70 71 72 72 74 75 78 80

Inhaltsverzeichnis

7

b) Die tödlichen Schüsse als Erscheinungsform kollektiver Gewalt . . . . . . aa) Die Rollen-Normen-Anpassung der Grenzsoldaten . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Einfluss gruppendynamischer Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Schwierigkeiten der Orientierung in einem totalitären System . . . . aa) Die Grundsätze des Staschynskij-Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Übergesetzlicher Schuldminderungsgrund wegen „Verstrickung in ein Unrechtssystem“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Prinzip der Eliminierung bzw. Minimierung des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten seitens der DDR-Staatsführung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Bedeutung eines Befehlsnotstandes der Grenzsoldaten nach § 35 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entrechtung der Flüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Absprechung des Rechts auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Kriminalisierung der Flüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Tatbestand der Republikflucht gem. § 213 StGB/DDR . . . (2) Die Qualifikation der Republikflucht als Verbrechen gem. § 213 Abs. 3 StGB/DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Vermittlung des Flüchtlingsverhaltens und des Republikfluchtparagraphens gegenüber den Grenzsoldaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Verhinderung von Identifikationen durch Erzeugung von Distanz und Verfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Erzeugung von Verteidigungsreflexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Das „Entrechtungsbewusstsein“ der Grenzsoldaten . . . . . . . . . . . . . . (1) Einbeziehung spezifischer äußerlicher Kennzeichen der Tatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Geheimhaltung der Vorgänge an der Grenze . . . . . . . . . (b) Das Verhalten der DDR-Behörden im Anschluss an die Tötungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Verschleierung des Geschehens gegenüber den Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Weitere Verschleierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Versetzung der Soldaten nach den Taten . . . . . . . . . . . . (2) Die Bedeutung des Rechts auf Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Das Recht auf Freizügigkeit in der DDR unter Berücksichtigung des sozialistischen Menschenrechtsverständnisses . . (b) Einbeziehung der Maßstäbe der Bundesrepublik . . . . . . . . . . (aa) Die Regelung der Ausreisefreiheit in der BRD . . . . . . . (bb) Die bundesdeutschen Schusswaffengebrauchsbestimmungen für Grenzbeamte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Befehlslage an der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Schusswaffengebrauchsrecht in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Schusswaffengebrauchsbestimmungen vor Erlass des Grenzgesetzes vom 25. März 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 84 86 88 88 90 93 94 96 101 102 104 104 107 110 111 115 116 117 117 119 119 121 121 124 125 129 130 131 136 143 144

8

Inhaltsverzeichnis bb) Das Grenzgesetz vom 25. März 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtsstaatliches Antlitz des § 27 GrenzG/DDR . . . . . . . . . . . . . (2) Verdeckung der Tötungsbefugnis mittels eines Rechtfertigungsgrundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Auslegung und Vermittlung des § 27 GrenzG/DDR seitens der staatlichen Stellen der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die „Staatspraxis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit . . . . . . . . . . . . (4) Einsicht des Verstoßes der Norm gegen vorgeordnete Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Grundsätze des Hanke-Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Hindernisse aus Sicht der Grenzsoldaten . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Bestehen des grundsätzlichen Tötungsverbotes auch in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Unterdrückung der Strafverfolgung und Belobigung der Schützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Zunehmende internationale Anerkennung der DDR . . e) Die politisch-ideologische Einflussnahme auf die Grenzsoldaten . . . . . . aa) Vermittlung eines Feindbildes und Betonung der Notwendigkeit des Grenzdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Übertragung kriegsethischer Vorstellungen auf die außerkriegerische Situation an der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145 148 148 149 149 150 154 154 157 157 159 161 164 166 167 170

VI. Zusammenfassung Drittes Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Viertes Kapitel Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten I.

174

Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

II. Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-„Mauerschützen“ in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „Offensichtlichkeit“ im Rahmen des § 5 Abs. 1 WStG . . . . . . . . . . . . . 2. Kriterien innerhalb der Norm des § 17 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung der gerichtlichen Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175 175 176 177

III. Die Vermeidbarkeitskriterien des Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 StGB . . 1. Anlass der Vergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die real aufweisbare Möglichkeit zur Erkenntnis der Rechtswidrigkeit . . . a) Eigenes Nachdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einholen von Erkundigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einbeziehung präventiver Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178 179 181 181 190 193 194

IV. Zusammenfassung Viertes Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Inhaltsverzeichnis

9

Fünftes Kapitel Gesamtergebnis und Schlussbetrachtung

198

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Abkürzungsverzeichnis AcP ARSP BGBl. BT-Drucks. DA Diss. DJT DRiZ DtZ DuR EGMR EMRK EuGRZ FAZ GA GrenzG/DDR JA JR JuS JZ KJ KK KritV LK MschrKrim NJ NJW NStZ NVA NVR NZWehrr ROW RuP SJZ SK

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Abkürzungsverzeichnis StuR StV VVDStRL ZRP ZSR ZStW

Staat und Recht Strafverteidiger Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Im Übrigen sind die üblichen Abkürzungen verwendet worden.

11

Einleitung Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen DDR im Jahre 1989 und der sich anschließenden Wiedervereinigung beider deutscher Staaten stand die deutsche Rechtsprechung zum zweiten Mal innerhalb des 20. Jahrhunderts vor der Bewältigung einer nicht-rechtsstaatlichen Vergangenheit. Es stellte sich für die deutsche Justiz die Frage nach der strafgerichtlichen Aufarbeitung des in der ehemaligen DDR von Staats wegen begangenen Unrechts. Aufgrund der äußerst schlechten Erinnerungen an den ersten Fall, die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland1, dürfte weitgehend Einigkeit darüber bestanden haben, dass eine Wiederholung geschehener Unzuträglichkeiten unbedingt vermieden werden sollte. Aus diesem Grund galt das Bestreben einer zügigen Verfolgung des SED-Unrechts, wobei in diesem Zusammenhang neben der Strafbarkeit der Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland2, der Wahlfälschung3 und der Rechtsbeugung4 die sog. „Mauerschützen“-Fälle von besonderem Interesse waren. Der Begriff umfasst die Fälle, in denen von DDR-Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze tödliche Schüsse auf Personen abgegeben wurden, die diese Grenze in Richtung Bundesrepublik zu überwinden suchten. Die Anzahl der bekannt gewordenen Todesopfer, die an der innerdeutschen Grenze durch Schusswaffengebrauch, Minen und Selbstschussanlagen getötet wurden, liegt bei etwa 200, wobei davon auszugehen ist, dass eine erhebliche Dunkelziffer besteht und die Zahl der tatsächlichen Opfer wesentlich höher liegt5. 1 Vgl. dazu Amelung, GA 1996, 51 (51), der betont, dass die Strafverfahren gegen die Führung der Nationalsozialisten nicht von den Deutschen selbst, sondern – wie in Japan – von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs auf unsicherer und rechtsstaatlich umstrittener Rechtsgrundlage durchgeführt worden seien. Die Verfolgung der nationalsozialistischen Gewalttaten durch die (West-)Deutschen selbst habe spät begonnen, sei selektiv geblieben und in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immer mehr zu Strafverfahren gegen Greise degeneriert und im Streit um deren Verhandlungsfähigkeit oder das Erinnerungsvermögen von Zeugen versandet. 2 s. zu dieser Problematik BGHSt 39, 260 ff.; Widmaier, NJW 1990, 3169 ff. 3 BGHSt 39, 54 ff.; Lorenz, JZ 1994, 388 (394) m. w. N. 4 BGH, NJW 1994, 529 ff.; Maiwald, NJW 1993, 1881 ff. 5 So Schroeder, JR 1993, 45 (45); die Angaben über die Zahl der Todesopfer an der innerdeutschen Grenze differieren, da das Vorliegen einer genauen Zahl nicht ersichtlich ist; Limbach, DtZ 1993, 66 (67) spricht unter Berufung auf die Erkenntnisse der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität in Berlin von „über 200 Menschen“; Wolff, Die strafrechtliche Beurteilung der Schüsse an der innerdeutschen Grenze als Teilkomplex der juristischen Aufarbeitung der „Regierungskriminalität“ in der DDR, in:

14

Einleitung

Die erste grundlegende höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Problematik erging durch den BGH am 03. November 19926, folglich rund zwei Jahre nach der Wiedervereinigung. In seinem Urteil, dem zahlreiche weitere höchstrichterliche Entscheidungen nachfolgen sollten, bestätigt der BGH im Ergebnis das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts Berlin vom 05. Februar 19927, das die beiden Angeklagten, Angehörige der Grenztruppen der DDR, wegen tödlicher Schüsse auf einen Flüchtling an der Grenze wegen Totschlags verurteilte und erhob demnach einen strafrechtlichen Schuldvorwurf gegen die handelnden Soldaten. Die „Mauerschützen“-Entscheidungen des BGH offenbaren, dass die strafrechtliche Aufarbeitung der tödlichen Schüsse an der innerdeutschen Grenze den bundesdeutschen Gerichten insgesamt erhebliche Schwierigkeiten bereitet, die insbesondere auf die außergewöhnliche historische Situation zurückzuführen sind, die den BGH überhaupt erst in die Lage versetzte, über diese Taten zu urteilen8. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit soll ein Aspekt dieses Problemfeldes stehen, der im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der tödlichen Schüsse an der Mauer – gemessen an den Ausführungen zur Begründung der Rechtswidrigkeit des Geschehens – sowohl durch den BGH als auch durch die zahlreiche zu diesem Themenbereich erschienene Literatur zweifelsohne einen eher geringen Raum einnimmt. Es handelt sich dabei um das Unrechtsbewusstsein der Todesschützen zum Zeitpunkt ihrer Tathandlungen. Das Unrechtsbewusstsein wird, ohne bereits auf dessen genauen Gegenstand und Inhalt eingehen zu wollen, Lampe (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Bd. II, 1993, S. 67 ff. (S. 67) geht von „etwa 200 Toten“ aus; Schaefgen, RuP 1992, 191 (193) nennt eine Zahl von „über 250 Menschen“, Hirsch, Rechtsstaatliches Strafrecht und staatlich gesteuertes Unrecht, 1996, S. 13 hält unter Verweis auf das Archivmaterial der DDR sogar „ca. 800 Todesopfer“ für realistisch. 6 BGHSt 39, 1 ff. 7 LG Berlin, NJ 1992, 419 ff. 8 Vgl. Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse, 1999, S. 12, der feststellt, dass sich die bundesdeutschen Gerichte in den „Mauerschützen“Prozessen in einem Spannungsfeld zwischen rechtsstaatlichen Garantien einerseits, die nunmehr den mutmaßlichen Tätern zugute kommen, dem Bedürfnis ehemaliger Bürger nach Gerechtigkeit andererseits sowie dem Vorwurf der politischen Justiz oder der Siegerjustiz bewegten; vgl. insoweit auch m. w. N. Dannecker/Stoffers, JZ 1996, 490 (490), die als allgemeine Probleme der „Mauerschützen“-Fälle das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses, z. B. i. S. d. Völkerrechts, die Verjährung der Strafverfolgung, die Geltung der Grundsätze des Strafanwendungsrechts (Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.V. m. § 2 Abs. 3 StGB), das Bestehen eines – bedingten – Tötungsvorsatzes bei den Schützen, die Beteiligungsformen, die Rechtswidrigkeit der vorsätzlichen Tötungshandlungen der angeklagten DDR-Grenzsoldaten oder deren Rechtfertigung durch das Eingreifen eines wirksamen Rechtfertigungsgrundes, das schuldhafte Verhalten der angeklagten DDR-Grenzsoldaten im Hinblick auf deren mögliche Entschuldigung wegen Handelns auf Befehl i. S. v. § 258 Abs. 1 StGB/DDR bzw. § 5 Abs. 1 WStG sowie wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums gem. § 17 StGB und die Erwägungen zur Strafzumessung wegen des Eingreifens von Strafmilderungsgründen aufzählen.

Einleitung

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definiert als „das auf die unrechte Tat bezogene Bewusstsein des Täters vom Unrecht seiner Tat“9. Es ist nach inzwischen unstreitiger Ansicht von erheblicher Bedeutung für die Erhebung eines strafrechtlichen Schuldvorwurfs10. Eine umfassende Würdigung dieses Gesichtspunktes erscheint in den „Mauerschützen“-Fällen notwendig und geboten, da die Beurteilung dieses Aspektes in diesem Zusammenhang offenkundig auf exzeptionelle Schwierigkeiten und Besonderheiten stößt, die bei herkömmlichen Strafrechtsfällen in dieser Form nicht gegeben sind. Im Normalfall der Straftaten geht es für die bundesdeutsche Rechtsprechung um die Würdigung einer menschlichen Verhaltensweise, der das westliche Politsystem der Bundesrepublik, und damit die sowohl dem BGH als auch den Tätern vertraute Rechts- und Wertordnung zugrunde gelegen hat. Oftmals sind die Täter mit dieser Rechts- und Wertordnung aufgewachsen oder haben zumindest eine gewisse Zeit mit der Möglichkeit der Verinnerlichung unseres Rechts- bzw. Normensystems in der Bundesrepublik gelebt. In den Fällen der Soldaten an der DDR-Grenze stellt sich allerdings eine andere Ausgangssituation dar. Es gilt zu bedenken, dass es sich bei den DDRGrenzsoldaten ihrer realen, rechtstatsächlichen Lebenssituation nach zum Zeitpunkt ihres Handelns um Staatsbürger der DDR und als solche um Zugehörige einer fremden, sich von der bundesdeutschen in erheblichen Belangen unterscheidenden Staats- und Rechtsordnung, handelte. Den Schüssen an der Mauer lag nicht das bundesrepublikanische, sondern das sozialistische Politsystem der ehemaligen DDR zugrunde, in dem neben einer anderen Rechtsordnung auch ein anderes, von einer gänzlich unterschiedlichen Vorstellung über schützenswerte Rechtsgüter getragenes, Wertesystem existierte. Entsprechend wird auch vom BGH, allerdings erst in der Strafzumessung, hervorgehoben, dass die zumeist jungen Grenzsoldaten ihr gesamtes Leben in einem auf politische Indoktrination angelegten System verbrachten, in dem sie im Geiste des Sozialismus mit entsprechenden Feindbildern von der Bundesrepublik Deutschland und von Personen, die unter Überwindung der Sperranlagen die DDR verlassen wollen, aufwuchsen11. Ihr Vorgehen an der Grenze in Form des Schusswaffeneinsatzes gegenüber fliehenden Menschen wurde staatlich belobigt und während des Bestehens der DDR somit natürlich auch nicht strafrechtlich verfolgt. Es liegt diesen Erkenntnissen entsprechend auf der Hand, dass es bei der Beurteilung des Unrechtsbewusstseins in den „Mauerschützen“-Fällen der Gefahr einer unangemessenen Verabsolutierung eigener Wert- und Verhaltensmaßstäbe gegenüber den Rechtsunterworfenen eines anderen politischen Systems zu entgehen gilt12. In der Literatur tendieren weite Teile zu der Auffassung, dass im 9 Schmidhäuser, Strafrecht. Allg. Teil. Lehrbuch, 1975, S. 410; § 17 S. 1 StGB definiert das Unrechtsbewusstsein als „die Einsicht, Unrecht zu tun“. 10 s. dazu Zweites Kap. 11 s. BGHSt 39, 1 (33).

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Einleitung

Hinblick auf die DDR-Grenzschützen eine, den besonderen Umständen in angemessenem Maße Rechnung tragende Beurteilung des Unrechtsbewusstseins nicht stattgefunden habe und dieser Frage mehr Beachtung geschenkt werden müsste13. Angesichts des Umstandes, dass bereits in den ersten „Mauerschützen“-Urteilen des BGH die Erörterung dieses Aspektes im Verhältnis zu den die Rechtswidrigkeit des Grenzgeschehens betreffenden Ausführungen weit weniger umfangreich ausfällt und sich in späteren Urteilen lediglich an formelhafte Wendungen erinnernde Erwägungen finden14, kann dieser Einwand nicht verwundern und erscheint zweifellos angebracht. Das Ziel der vorliegenden Ausarbeitung ist es, den genannten Kritikpunkt der Literatur aufzugreifen und den Aspekt des Unrechtsbewusstseins der DDRGrenzsoldaten bei Abgabe der tödlichen Schüsse auf die Flüchtlinge unter Einbeziehung der besonderen Lebensumstände der Täter einer intensiveren Erörterung zu unterziehen. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob nicht die soziale Lebenswirklichkeit der Soldaten an der DDR-Grenze verkannt und ein dem psychologischen, soziologischen und kriminologischen Befund nicht gerecht werdendes Ergebnis erzielt wird, sofern das Vorliegen des Unrechtsbewusstseins dieser Personen in einer Form angenommen wird, die einen strafrechtlichen Schuldvorwurf rechtfertigt. Dabei gilt es aufzuzeigen, dass das strafrechtliche Unrechtsbewusstsein auch im Falle von Handlungsweisen, die den Kernbereich des Rechts, somit jene das ethische Minimum erfassenden Normen, berühren, nicht als ein dem Menschen von Geburt an unverrückbar und sicher gegebener Befund angesehen werden kann und sollte, sondern dass es vielfältigen Bedingungen und Einflüssen unterliegt. So führt das Landgericht Hamburg in einem Urteil aus dem Jahre 1976 diesbezüglich aus: „Das Wissen um Recht und Unrecht ist keine intellektuelle Erkenntnis von der Art, dass ein Mensch sie entweder ganz oder gar nicht besitzen muss, die mithin einer Steigerung oder Verminderung nicht fähig wäre. Das Rechtsbewusstsein kann – um nur die Extreme zu nennen – sicher, stark und handlungsorientiert sein oder blass, angefochten, schwächlich, abstrakt“15. 12 Vgl. Roggemann, Systemunrecht und Strafrecht am Beispiel der Mauerschützen in der ehemaligen DDR, 1993, S.18 f., der auf das Bestehen einer solchen Gefahr in den „Mauerschützen“-Fällen hinweist. 13 Vgl. u. a. Alexy, Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, 1993, S. 36 ff.; Adomeit, NJW 1993, 2914 (2915); Amelung, JuS 1993, 637 (642 f.); Arnold/Kühl, JuS 1992, 991 (996 f.); Dannecker, Jura 1994, 585 (593 f.); Dreier, JZ 1997, 421 (429 ff.); Miehe, Rechtfertigung und Verbotsirrtum. Zum Stand der Diskussion über die Strafbarkeit der Todesschützen an Berliner Mauer und innerdeutscher Grenze, in: Heinze/Schmitt (Hrsg.), Festschrift für W. Gitter, 1995, S. 647 ff. (S. 663 ff.); Roos, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel der BGH-Rechtsprechung. Zugleich ein Beitrag zur Analyse latenter richterlicher Wertungen in Entscheidungsgründen, 2000, S. 267 ff. 14 s. etwa BGH, NJW 1994, 2240 (2241) u. BGH, NJW 1995, 2728 (2732), wo der Frage fehlenden Unrechtsbewusstseins bzw. schuldhaften Handelns der Angeklagten nicht mehr als ein paar Sätze gewidmet werden.

Einleitung

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Es bedarf im Hinblick auf die genannte Zielsetzung allerdings zunächst einiger Anmerkungen. Der Versuch einer angemessenen Würdigung des Unrechtsbewusstseins der DDR-Grenzsoldaten darf und kann selbstverständlich nicht mit dem Anspruch behaftet sein, eine ausnahmslos als richtig anzusehende Lösung für jeden nur erdenklichen Fall des Schusswaffengebrauchs zu erzielen. Diese Einschränkung ergibt sich zum einen daraus, dass die Feststellung des Unrechtsbewusstseins und somit der strafrechtlichen Schuld im Sinne einer persönlichen Vorwerfbarkeit der Tat an den konkreten Umständen des Einzelfalls anknüpft und daher für jeden Täter individuell festgestellt werden muss. Zum anderen lief natürlich nicht jeglicher Schusswaffeneinsatz an der Grenze identisch ab, sondern es existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Fallgestaltungen16. Aus diesem Grund soll es nicht Intention der vorliegenden Erwägungen sein, eine sich an einem oder mehreren Einzelfällen orientierende Betrachtung durchzuführen, sondern es sollen vielmehr allgemeine, für jeden im Dienst an der Grenze tätigen Soldaten Geltung besitzende, Erörterungen angestellt werden, die als tragfähige Grundlage für die rechtliche Würdigung der todbringenden Schüsse angesehen werden können. Dabei soll allerdings eine, in bestimmten Fallkonstellationen im Wege der jeweiligen Einzelfallbeurteilung eventuell zu erzielende, abweichende Ergebnismöglichkeit nicht ausgeschlossen werden17. Weiterhin sei insgesamt angemerkt, dass die vorliegenden Ausführungen keinesfalls als Verteidigung des Schusswaffengebrauchs an der DDR-Grenze aufzufassen sind. Es gilt allerdings in der Strafrechtslehre zwischen Unrecht und Schuld streng zu unterscheiden und somit auch bezüglich dieses Geschehens zwischen dem staatlich hervorgerufenen und geförderten Unrecht und der individuellen Schuld der zumeist sehr jungen Grenzschützen im Sinne persönlicher Vorwerfbarkeit.

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LG Hamburg, NJW 1976, 1756 (1757). s. diesbezüglich Roggemann, Systemunrecht, S. 35 ff. 17 So wird man die vorliegenden Erwägungen etwa als nicht zutreffend für Exzesstaten an der innerdeutschen Grenze ansehen müssen. Zu einem entsprechenden Fall vgl. BGH, NJW 1994, 267 (270), in dem ein Gruppenführer der Grenzsoldaten einen Flüchtling erschoss, der sich bereits ergeben hatte und keinerlei Fluchtmöglichkeit mehr besaß. In einer derartigen Fallkonstellation wird sich der Schütze nicht darauf berufen können, irrtümlich rechtfertigende Umstände für die Schüsse angenommen oder die Verbotenheit seines Tuns verkannt zu haben, vgl. ebenso Roos, S. 267 f. u. 284. 16

Erstes Kapitel

Die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze Die Beschäftigung mit dem Aspekt des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten, die an der Mauer die Schusswaffe mit tödlichem Ausgang gegen flüchtende Menschen einsetzten, bedarf zunächst einer Betrachtung der sich im Rahmen der Rechtswidrigkeitsbeurteilung des Geschehens ergebenden rechtlichen Schwierigkeiten. Diese Notwendigkeit ergibt sich zum einen aus dem Umstand, dass Unrecht und Schuld, als deren Element das Unrechtsbewusstsein eines Täters anzusehen ist, natürlich nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Denn mag es zwar Unrecht ohne Schuld geben (etwa die Tat eines Geisteskranken), so ist umgekehrt das Vorliegen strafrechtlicher Schuld ohne kriminelles Unrecht ausgeschlossen, das erstere setzt vielmehr das letztere notwendig voraus1. Da die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze allerdings erheblich umstritten ist, gilt es den gedanklichen Weg aufzuzeigen, anhand dessen sich zu dem Ergebnis der Rechtswidrigkeit der entsprechenden Taten gelangen lässt. Zum anderen bildet die Rechtswidrigkeit des konkreten Täterverhaltens, wie zu einem späteren Zeitpunkt zu erörtern sein wird, den Gegenstand des Unrechtsbewusstseins, ein solches erfordert entsprechend die Kenntnis der Rechtswidrigkeit des eigenen Handelns in seinem gesamten Unwertgehalt2. Daher ist es erforderlich, dass der Täter die im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung erfolgte objektive Bewertung des Handelns in subjektiver Hinsicht nachvollzieht. Die für die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse charakteristischen Schwierigkeiten wiederholen sich somit noch einmal bei der Frage nach dem Unrechtsbewusstsein der handelnden Soldaten im Grenzdienst und werden entsprechend auch in letztgenanntem Zusammenhang der Erörterung bedürfen3. Im Folgenden sollen die rechtlichen Probleme, die im Rahmen der Rechtswidrigkeitsfeststellung des tödlichen Schusswaffengebrauchs auftreten, in Anlehnung an die beiden ersten, insgesamt im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen stehenden Leitentscheidungen des Fünften Strafsenats 1

Vgl. Schönke/Schröder-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 20. s. Drittes Kap. IV. 2. b) bb). 3 s. Drittes Kap. V. 2. d) bb) (4) (a) u. Viertes Kap. III. 2. a); vgl. Günther, StV 1993, 18 (24); Amelung, NStZ 1995, 29 (30). 2

I. Die Norm des § 27 GrenzG/DDR

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des BGH4, aufgezeigt werden. Sofern spätere Urteile des BGH auf einer Sachlage beruhen, die sich von jener in den genannten Urteilen in bedeutenden Aspekten unterscheidet, wird darauf hingewiesen.

I. Die Norm des § 27 GrenzG/DDR Im Mittelpunkt der strafrechtlichen Würdigung der tödlichen Schüsse an der deutsch-deutschen Grenze steht die Frage nach einer möglichen Rechtfertigung des Geschehens durch das Recht der DDR. Dieses ist – entsprechend der überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur – gem. § 315 Abs. 1 EGStGB i. d. F. des Einigungsvertrages vom 06. September 1990 i.V. m. § 2 StGB als das im Hinblick auf die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit maßgebliche Recht anzusehen, sofern nicht nach § 2 Abs. 3 StGB das Strafrecht der Bundesrepublik eine mildere Beurteilung zulässt5. In Erwägung zu ziehen ist eine Rechtfertigung des Handelns der Soldaten nach § 27 Abs. 2 des im Jahre 1982 in Kraft getretenen Gesetzes über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (GrenzG/DDR)6. Der Wortlaut der Norm lautete: „Die Anwendung der Schusswaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt.“

Die Anwendung der Schusswaffe wurde des Weiteren nach § 27 Abs. 1 S. 1 als „äußerste Maßnahme“ bezeichnet, bei der es das menschliche Leben nach § 27 Abs. 5 „nach Möglichkeit zu schonen“ galt. Es ist insgesamt augenscheinlich, dass der Wortlaut der Bestimmung vordergründig einen rechtsstaatlichen Klang besaß und die Vorschrift ohne weiteres 4 BGHSt 39, 1 ff.: Revisionsurteil im zweiten „Mauerschützen“-Prozess (03. November 1992); BGHSt 39, 168 ff.: Revisionsurteil im ersten „Mauerschützen“-Prozess (25. März 1993). 5 Sog. „Beitritts- oder „Inlandslösung“, nach der für Bürger der ehemaligen DDR eine „Meistbegünstigungsklausel“ besteht, indem ihnen die mildeste Rechtslage zugute kommt, s. diesbezüglich BGHSt 39, 1 (6); Dannecker, Jura 1994, 585 (588); Amelung, JuS 1993, 637 (637 f.); a. A. sog. „Internationale Lösung“, s. etwa Küpper/Wilms, ZRP 1992, 91 (91 ff.). 6 GBl.-DDR 1982 I, S. 197 ff.; s. zu der Ausgestaltung der Norm und der mit dieser Vorschrift seitens der DDR-Staatsführung verfolgten Zielsetzung auch die Ausführungen Drittes Kap. V. 2. d) bb); in späteren Urteilen des BGH, in denen sich die zu beurteilenden tödlichen Schüsse zu einem Zeitpunkt vor Inkrafttreten des Gesetzes ereigneten, geht der BGH auf die zur damaligen Zeit herrschende allgemeine Befehlslage und die ihr zugrundeliegenden Dienstvorschriften sowie Befehle des Innenministers und der dazu erlassenen Durchführungsanweisungen als möglichen Rechtfertigungsgrund ein, s. ausführlich BGHSt 39, 353 (366 f.); BGHSt 40, 48 (51 ff.); BGHSt 40, 241 (241 ff.); BGH, NJ 1995, 539 (539 f.); s. zu den Schusswaffengebrauchsbestimmungen vor Erlass des GrenzG auch Drittes Kap. V. 2. d) aa).

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1. Kap.: Die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze

auch den Anforderungen westlicher Staaten an einen Schusswaffengebrauch zu entsprechen schien. Sie war offenkundig westlichen Polizeigesetzen nachgebildet7. Diesem Umstand entsprechend schienen die Voraussetzungen, unter denen ein Gebrauch der Schusswaffe stattfinden durfte, recht eng gefasst und am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientiert zu sein8. Da es sich bei § 27 GrenzG/DDR allerdings trotz seines rechtsstaatlichen Wortlauts um eine Vorschrift der „sozialistischen“ Rechtsordnung der DDR handelte, stellt sich die Frage nach der anzuwendenden Auslegungsmethode. 1. Rechtsstaatliche Auslegung Zum einen ist, dem Wortlaut der Vorschrift entsprechend, eine rechtsstaatliche Auslegung des § 27 GrenzG/DDR in Betracht zu ziehen, in dessen Rahmen die Norm unter Einbeziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes restriktiv ausgelegt wird. Diesen Weg, der zumindest in ähnlicher Form auch in der Literatur teilweise Anklang findet9, geht das Landgericht Berlin10, vor dem sich die beiden Schützen des ersten „Mauerschützen“-Urteils des BGH in erster Instanz zu verantworten hatten. Nach Ansicht des Gerichts sei § 27 GrenzG/DDR „am Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientiert“ und „ein Gesetz, das den Anschein von Rechtsstaatlichkeit“ erwecke, müsse „nach rechtsstaatlichen Grundsätzen“ ausgelegt werden. Dementsprechend sei lediglich die Abgabe von Einzelfeuer zulässig gewesen und ohnehin könne der Versuch, eine Straftat zu verhindern, die das Leben anderer nicht gefährdete, niemals die Tötung eines Menschen mit Tötungsvorsatz rechtfertigen. Der Umstand, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Wirklichkeit der DDR praktisch kaum Eingang in das Grenzgeschehen gefunden habe, sei unbeachtlich. Das entsprechende Vorgehen des Landgerichts Berlin wird allerdings sowohl in der Literatur11 als auch vom BGH zu Recht zurückgewiesen12. Denn es ver7 Frommel, Die Mauerschützenprozesse – eine unerwartete Aktualität der Radbruch’schen Formel, in: Haft u. a. (Hrsg.), Festschrift für A. Kaufmann, 1993, S. 81 ff. (S. 82); vgl. auch Bath, DA 1985, 959 (969), der betont, dass sich die Autoren des Gesetzesentwurfes offensichtlich von den §§ 10–12 des bundesdeutschen „Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes“ (UZwG) haben inspirieren lassen; s. zudem Amelung, GA 1996, 51 (55), der auf die §§ 15, 16 des „Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Soldaten der Bundeswehr und zivile Wachpersonen“ (UzwGBw) verweist. 8 Vgl. Fiedler, JZ 1993, 206 (207); vgl. Bath, DA 1985, 959 (969); s. ebenso Luchterhandt, Was bleibt vom Recht der DDR?, in: Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, 1994, S. 165 ff. (S. 183) u. Kaufmann, NJW 1995, 81 (82). 9 s. etwa Roggemann, Systemunrecht, S. 58, nach dessen Ansicht die in § 27 GrenzG/DDR formulierten Voraussetzungen und Grenzen für den Schusswaffengebrauch „internationalen Maßstäben“ durchaus standhielten. 10 LG Berlin, NStZ 1992, 492 (494).

I. Die Norm des § 27 GrenzG/DDR

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kennt, dass das Recht nicht lediglich aus dem Wortlaut, sondern ebenso aus der jeweiligen interpretativen Praxis besteht und dass somit im Rahmen der Auslegung des § 27 GrenzG/DDR neben dem im Wortlaut zum Ausdruck kommenden normativen Geltungsanspruch auch die soziale Tatsache der Staatspraxis zu berücksichtigen ist13. Entsprechend dieser Feststellung wird die rechtsstaatliche Auslegung des Landgerichts Berlin in der Literatur als „verdeckte Rückwirkung durch nachträgliche Uminterpretation“14 sowie als „Kurzschluss“, deren Ignorierung der überdeutlich sprechenden Rechtspraxis „methodologisch unzulässig“ sei15, bezeichnet. 2. „Realsozialistische“ Auslegung Zum anderen ist eine „realsozialistische“ Auslegung des § 27 GrenzG/DDR, die zwar auch an den Wortlaut der Norm anknüpft, daneben jedoch die gesamten Verhältnisse an der Mauer und somit die tatsächliche Handhabung der Vorschrift durch das Grenzregime berücksichtigt, in Erwägung zu ziehen. Diesen Weg beschreitet der BGH und gelangt zu dem Urteil, dass der reine Wortlaut der Norm durchaus tödliche Schüsse auf flüchtende Menschen zugelassen habe, eine entsprechende Auslegung allerdings als Voraussetzung erfordere, dass innerhalb der DDR der Unverletzlichkeit der Staatsgrenze im Konfliktfall im Rahmen einer Abwägung Vorrang vor dem Leben des Flüchtlings eingeräumt worden sei16. Das Ergebnis des entsprechenden Abwägungsvorganges, so betont der BGH weiterhin, sei weder aus dem Gesetz selbst abzulesen, noch fänden sich zu dieser Fragestellung aufschlussreiche öffentliche Äußerungen in der DDR, sei es in Form von veröffentlichter Rechtsprechung oder von Ausführungen im Schrifttum. Daher seien die zur damaligen Zeit in der DDR an der Grenze herrschende Befehlslage sowie die Begleitumstände des Tatgeschehens heranzuziehen17. Der BGH fasst die tatsächliche Handhabung des 11

So u. a. Laskowski, JA 1994, 151 (157), Luchterhandt, Was bleibt?, S. 186. BGHSt 39, 1 (14). 13 Vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 11 u. S. 13; Erb, ZStW 108 (1996), 266 (281). 14 Alexy, Mauerschützen, S. 10; vgl. auch Renzikowski, ARSP 81 (1995), 335 (343 f.). 15 Luchterhandt, Was bleibt?, S. 186. 16 BGHSt 39, 1 (10 f.); vgl. Fiedler, Osteuropa-Recht 1993, 259 (261 f.); Amelung, JuS 1993, 637 (639); Dannecker, Jura 1994, 585 (588 f.). 17 BGHSt 39, 1 (11); in der Literatur finden sich allerdings Stimmen, die hervorheben, dass es sehr wohl entsprechende anderweitige Hinweise gegeben habe. Entsprechend wird „die überragende Bedeutung, welche die hermetische Abriegelung der Grenze gerade seit dem Mauerbau für das Überleben der DDR in den Augen der SED-Führung besaß“, hervorgehoben und zudem betont, dass es als eine unter anderem mit dem Mauerbau selbst eingeräumte Tatsache angesehen werden könne, „dass die DDR mit offenen Grenzen als Staat nicht hätte überleben können, wie es sich 12

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1. Kap.: Die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze

Regimes an der Grenze und somit die nach seiner Auffassung charakteristischen Umstände für das Verständnis des § 27 GrenzG/DDR seitens der zuständigen staatlichen Stellen insgesamt unter dem Terminus „Staatspraxis“ der DDR zusammen. Die damals bestehende Befehlslage offenbart dabei, dass den Soldaten stets und gerade auch in der vor jedem Dienstbeginn stattfindenden sog. „Vergatterung“18 entsprechend der Faustregel „Besser der Flüchtling ist tot, als dass die Flucht gelingt“ suggeriert wurde, dass keinesfalls ein Flüchtling durchkommen dürfe19. Die Begleitumstände des Tatgeschehens waren dadurch gekennzeichnet, dass Soldaten für die Verhinderung einer Flucht, wenn auch mittels tödlicher Schüsse, stets ausgezeichnet und belobigt wurden und dass es niemals rechtliche Konsequenzen gegenüber einem Schützen gab. Zudem wurde die Geheimhaltung der Schüsse an der Mauer vor westlichen Beobachtern für wichtiger erachtet, als eine schnelle Rettung schwerverletzter Flüchtlinge. Außerdem fanden Verschleierungsmaßnahmen des Geschehens statt. Sowohl die zur damaligen Zeit bestehende Befehlslage als auch die Begleitumstände des Tatgeschehens werden aufgrund ihrer ebenfalls gegebenen Bedeutung im Rahmen der Würdigung des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten zu einem späteren Zeitpunkt noch Bestandteil einer intensiveren Erörterung sein20. In diesem Zusammenhang genügt es festzuhalten, dass der BGH aufgrund der angeführten Umstände zu Recht zu dem Schluss gelangt, dass in der DDR „die Verhinderung des Grenzübertritts als überragendes Interesse aufgefasst wurde, hinter das persönliche Rechtsgüter einschließlich des Lebens zurücktraten“. Das Verhalten der Angeklagten habe daher „der rechtfertigenden Vorschrift des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes, so wie sie in der Staatspraxis angewandt wurde“, entsprochen und die zu würdigenden Schüsse an der Grenze seien entsprechend in der DDR „nicht als rechtswidrig angesehen worden“. Zudem wird hervorgehoben, dass eine entsprechende Auslegung nicht lediglich dem Wortlaut nach möglich, sondern die zur Tatzeit „herrschende Auslegung des Grenzgesetzes“ gewesen sei. dann ja auch tatsächlich im Herbst 1989 (. . .) bestätigt hat“, s. Luchterhandt, Was bleibt?, S. 184; s. zudem unter diesem Gesichtspunkt Spittmann/Helwig (Hrsg.), Chronik der Ereignisse in der DDR, 1994; vgl. Pawlik, Das positive Recht und seine Grenzen – Zur rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Problematik der „Mauerschützenprozesse“, in: Orsi u. a. (Hrsg.), Rechtsphilosophische Hefte. Bd. II, 1993, S. 99; tatsächlich darf die Nachrangigkeit der Person gegenüber der Grenzsicherung in dem Zusammenhang, dass es letzten Endes um die staatliche Existenz der DDR gegangen ist, vermutlich als unzweifelhaft angesehen werden. 18 In der vor jedem Ausrücken zum Grenzdienst stattfindenden Vergatterung wurde den Soldaten noch einmal der konkrete Einsatz und in allgemeiner Form die gestellte Aufgabe bewusst gemacht, s. BGHSt 39, 1 (3). 19 BGHSt 39, 1 (11); BGHSt 39, 168 (169 f.); BGH NJW 1995, 2728 (2729); s. zudem Roos, S. 248. 20 Drittes Kap. V. 2. b) dd) (1) u. d).

II. Das Spannungsverhältnis von Recht und Moral

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3. Verstoß gegen höherrangiges positives Recht der DDR In der Literatur, ein entsprechendes Vorgehen findet sich in den Urteilen des BGH nicht, wird weiterhin zum Teil geprüft, ob § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR in der soeben aufgezeigten Interpretation gegen damaliges höherrangiges positives Recht der DDR verstoßen haben könnte21. In diesem Zusammenhang wird dabei in erster Linie ein Verstoß gegen die Verfassung der DDR vom 06. April 1968 i. d. F. vom 07. Oktober 197422 in Betracht gezogen, sowie ein Verstoß gegen Normen des Völkerrechts, insbesondere den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), der zu einem späteren Zeitpunkt noch Gegenstand der Erörterungen sein wird. Ein möglicher Verstoß wird jedoch im Ergebnis überzeugend verneint23.

II. Das Spannungsverhältnis von Recht und Moral Trotz der vorherigen Erörterungen, dass das Verhalten der Grenzsoldaten der rechtfertigenden Vorschrift des § 27 GrenzG/DDR in „realsozialistischer“ Auslegung entsprochen habe, wird den Grenzposten letztlich die Berufung auf die rechtfertigende Wirkung des § 27 GrenzG/DDR versagt. Zu diesem Ergebnis gelangt der BGH, indem er weiterhin die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass die Rechtfertigungsnorm des § 27 GrenzG/DDR in ihrer „realsozialistischen“ Auslegung „wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Rechtsfindung außer Betracht bleiben muss“24. Es wird allerdings in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass eine entsprechende Unbeachtlichkeit aufgrund der Bedeutung der Rechtssicherheit auf „extreme Ausnahmen“ beschränkt bleiben müsse; eine solche soll lediglich dann anzunehmen sein, sofern in dem Rechtfertigungsgrund „ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck kommt“, der so schwer wiege, „dass er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt“25. Als Maßstab für einen entsprechenden, groben Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit greift der BGH auf die Radbruchsche Formel zurück und stellt fest, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur 21 s. zu diesem Aspekt Pawlik, GA 1994, 472 (473) sowie Alexy, Mauerschützen, S. 14 ff. 22 GBl.-DDR 1974 I, S. 432 ff. 23 s. die ausführliche Argumentation bei Alexy, Mauerschützen, S. 14 ff. 24 BGHSt 39, 1 (14 f.). 25 BGHSt 39, 1 (15 f.); s. auch BGHSt 41, 101 (108).

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1. Kap.: Die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze

Gerechtigkeit so unerträglich sein müsse, „dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat“26. Der BGH greift mit diesen Feststellungen auf Erwägungen zurück, die bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Rahmen der strafrechtlichen Bewältigung des nationalsozialistischen Unrechts als sog. „Kernbereichstheorie“ Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung fanden27. Denn auch in diesem Fall der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung sah sich der BGH in vergleichbarer Weise mit dem Problem konfrontiert, dass bestehende NS-Gesetze und auf ihnen beruhende Anordnungen das gerichtlich zu würdigende schwerste Unrecht vermeintlich rechtfertigten. Die genannte für die Lösung der bestehenden Schwierigkeiten herangezogene Radbruchsche Formel bedarf im Folgenden der Erörterung. 1. Die Radbruchsche Formel Gustav Radbruch stellte seine berühmt gewordene Formel, die sicherlich zu den am weitesten verbreiteten Passagen der Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts gehören dürfte, in dem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ aus dem Jahre 1946 unter dem unmittelbaren Eindruck der zwölf Jahre währenden nationalsozialistischen Herrschaft auf. a) Inhalt und Bedeutung Der im Rahmen der vorliegenden Überlegungen interessierende Teil der Formel, der als „Unerträglichkeitsformel“ bezeichnet wird, lautet: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“28. 26

BGHSt 39, 1 (16). s. BGHSt 2, 234 (237 ff.). 28 Radbruch, SJZ 1946, 105 (107); die Radbruchsche Formel besteht insgesamt neben dem genannten Teil aus einer weiteren, nachfolgenden Variante, die als „Verleugnungsformel“ bezeichnet wird: „Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ Die Verleugnungsformel orientiert sich im Gegensatz zu der Unerträglichkeitsformel, diese macht die Geltung des Rechts ausschließlich von objektiven, d. h. normbezoge27

II. Das Spannungsverhältnis von Recht und Moral

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Die Radbruchsche Formel widmet sich erkennbar dem Verhältnis von Recht und Moral, genauer ausgedrückt, dem Spannungsverhältnis von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit29. Es wird der Versuch unternommen, den bestehenden Konflikt zwischen beiden genannten Aspekten nicht einseitig, das bedeutet zugunsten entweder des Rechts oder der Moral, zu lösen, sondern ein Ergebnis im Wege eines differenzierenden Ansatzes zu erzielen: In der Regel ist dem Recht, ausnahmsweise jedoch der Moral der Vorrang zu geben30. Eine entsprechende Ausnahme ist allerdings nur dann anzunehmen, sofern das Recht eine ihm gesetzte äußerste Grenze überschreitet, sofern es eben der Gerechtigkeit, deren Kriterien der Tradition der Menschen- und Bürgerrechte, in erster Linie dem Gleichheitsgrundsatz, entnommen werden31, in einem so unerträglichen Maße widerspricht, dass es als „gesetzliches Unrecht“ seinen Rechtscharakter und seine Rechtsgeltung verliert. Robert Alexy bezeichnet ein entsprechendes Recht als „extremes Unrecht“32. Ist diese Grenze jedoch nicht überschritten, soll Gesetzesrecht gültig bleiben, auch wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist. b) Anwendbarkeit außerhalb des NS-Rechts Die Radbruchsche Formel ist, wie bereits angedeutet, unter dem unmittelbaren Eindruck der nationalsozialistischen Untaten entstanden. Daher drängt sich die grundsätzliche, auch in der Literatur als Einwand geäußerte Überlegung auf, nen, Kriterien abhängig, wesentlich an subjektiven, auf die Intentionen des Gesetzgebers bezogenen, Maßstäben, vgl. Schumacher, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, 1985, S. 26 f. Da eine entsprechende Feststellung der gesetzgeberischen Willensrichtung allerdings nahezu stets unmöglich sein dürfte, wird die Bedeutung dieses Teils der Radbruchschen Formel eher als gering angesehen, vgl. Kaufmann, NJW 1995, 81 (82); Dreier, Gesetzliches Unrecht im SED-Staat? Am Beispiel des DDR-Grenzgesetzes, in: Haft u. a. (Hrsg.), Festschrift für A. Kaufmann, 1993, S. 57 ff. (S. 57 f.). Nachstehend wird daher unter dem Begriff Radbruchsche Formel allein die Unerträglichkeitsformel verstanden. 29 Vgl. Limbach, DtZ 1993, 66 (68). 30 s. Limbach, DtZ 1993, 66 (68); vgl. Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, S. 7, der von einer Entspannung des genannten Konflikts nach Maßgabe einer „bedingten Vorrangrelation zugunsten der Rechtssicherheit“ spricht. 31 s. die „Fünfte Minute“ des Artikels „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“ von Radbruch, abgedruckt in: Radbruch, Rechtsphilosophie, 1973, S. 328, in der es heißt: „Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so dass ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. (. . .) Gewiss sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, dass in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.“ 32 Alexy, Mauerschützen, S. 4 (Hervorh. durch d. Verf.); diesen Begriff verwenden u. a. ebenso Dreier, JZ 1997, 421 (423); Dannecker, Jura 1994, 585 (590).

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ob ihre Anwendung nicht lediglich auf die in der systematischen Verfolgung und Menschenvernichtung bestehenden, nahezu unfassbaren Verbrechen des Dritten Reiches beschränkt bleiben sollte33. Einer derartigen Auffassung scheint der Umstand zu entsprechen, dass Gustav Radbruch selbst die „furchtbaren Gefahren für die Rechtssicherheit“ hervorhebt, die eine unsachgemäße Anwendung seiner Formel mit sich bringen könne34 und betont, dass „ihre Anwendung (. . .) ihre Grenze in den völlig singulären Verhältnissen der zwölf Nazi-Jahre“ finde, „in Ereignissen, die wir in ihrer Einzigartigkeit auch jetzt noch kaum zu fassen vermögen und deshalb als dämonisch, als apokalyptisch zu deuten geneigt sind“35. Auch der BGH hebt angesichts dieses Aspektes hervor, dass die Übertragung der Gesichtspunkte der Radbruchschen Formel auf den vorliegenden Fall nicht einfach sei, „weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden“ könne36. Gleichwohl jedoch werden die ihr zugrundeliegenden Rechtsgedanken als einschlägig angesehen und der Umstand betont, dass im Rahmen der Würdigung staatlich gesteuerten Unrechts darauf zu achten sei, „ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt ist“37. Der genannten Einschätzung des BGH ist zu folgen, da die gegenteilige Auffassung nicht zu überzeugen vermag. Zwar steht ohne jeglichen Zweifel außer Frage, dass die nationalsozialistischen Greueltaten unvergleichlich viel schwereres Unrecht als die tödlichen Schüsse an der innerdeutschen Grenze darstellten. Dennoch wird in der Literatur zu Recht hervorgehoben, dass es ungereimt wäre, „schweres Unrecht deshalb nicht schweres Unrecht zu nennen, weil es noch weitaus schlimmeres Unrecht gegeben hat“38 und dass die Radbruchsche Formel entsprechend „nicht auf einen einzigen historischen Vorfall gemünzt gewesen sein“ könne39. Diesem Aspekt entspricht wiederum die Aussage Radbruchs selbst, man müsse sich trotz der Hoffnung, „dass ein solches Unrecht eine einmalige Verirrung und Verwirrung des deutschen Volkes bleiben werde, (. . .) für alle möglichen Fälle (. . .) durch die grundsätzliche Überwindung des Positivismus (. . .) gegen die Wiederkehr eines solchen Unrechtsstaates (. . .) wappnen“40.

33 s. etwa Ott, NJ 1993, 337 (339); Arnold/Kühl, JuS 1992, 991 (995); Günther, StV 1993, 18 (20); vgl. Roos, S. 251 sowie Dreier, JZ 1997, 421 (429). 34 Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 35 Radbruch, SJZ 1947, Sp. 131 (Sp. 136). 36 BGHSt 39, 1 (16). 37 BGHSt 39, 1 (16). 38 Kaufmann, NJW 1995, 81 (84). 39 Fiedler, Osteuropa-Recht 1993, 259 (262). 40 Radbruch, SJZ 1946, 105 (107).

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Es muss somit auch das Vorliegen extremen Unrechts außerhalb des Nationalsozialismus als denkmöglich angesehen werden41. 2. Das Vorliegen gesetzlichen Unrechts i. S. Radbruchs Die eigentliche Schwierigkeit besteht allerdings in der Feststellung, in welchen Fällen überhaupt gesetzliches Unrecht im Sinne Radbruchs und damit im Sinne eines unerträglichen Widerspruchs des Gesetzes zur Gerechtigkeit anzunehmen ist. Es geht mit anderen Worten um die Beantwortung der Kernfrage, wann Gesetze die Gerechtigkeit in so grobem Maße verfehlen, dass ihnen die Anerkennung zu versagen ist42. Eine vollständige Klärung dieser sehr entscheidenden Frage durch Radbruch selbst darf dabei nicht erwartet werden43. In diesem Zusammenhang ist zunächst zu betonen, dass es sich bei der entsprechenden Feststellung um eine Falsifikation handelt, das bedeutet, es bedarf nicht der genauen Erkenntnis dessen, was Gerechtigkeit oder gerechtes Recht ist, sondern es genügt die Klarstellung, was es eben nicht ist, nämlich eine der Gerechtigkeit in unerträglichem Maße widerstreitende Norm44. Bei dem genannten Unerträglichkeitskriterium handelt es sich dabei um eine Abwägungsbzw. „Maßfrage“45, über die, so führt Robert Alexy aus, „letzthin nicht Intuitionen oder Evidenzerlebnisse, sondern nur Argumente entscheiden können“46. Es müsse anhand einer „rationalen diskursiven Prüfung“ der in Betracht kommenden Kriterien beurteilt werden, ob die Einstufung einer Norm und somit des ihr zugrundeliegenden Verhaltens als extremes Unrecht begründbar ist47. Das Ergebnis des entsprechenden Abwägungsprozesses in den Fällen der Tötungen an der DDR-Grenze bzw. die Beantwortung der grundsätzlichen Frage nach der Zulässigkeit einer Verwerfung geschriebenen Rechts ist umstritten. Im Folgen41 Zustimmend auch Alexy, Mauerschützen, S. 23; Spendel, RuP 1993, 61 (64 f.); Limbach, DtZ 1993, 66 (68 f.); wohl auch Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 2003, Vor § 3 Rn. 56. 42 Vgl. Limbach, DtZ 1993, 66 (68). 43 Vgl. Schumacher, Rezeption, S. 26. 44 Vgl. Kaufmann, NJW 1995, 81 (83). 45 s. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 1947, S. 35; Schumacher, Rezeption, S. 26; Limbach, DtZ 1993, 66 (68). 46 Alexy, Mauerschützen, S. 24 f.; mit dem Hinweis auf Evidenzerlebnisse soll dabei aufgezeigt werden, dass zwar Unrecht, so die Feststellung des Autors, regelmäßig um so evidenter sei, je extremer es ist, dass diese Regel jedoch durch die Möglichkeit moralischer Blindheit oder eines moralischen Irrtums eingeschränkt werden könne, weshalb auch allein die Existenz des bestehenden Streites über die Einstufung der tödlichen Schüsse als extremes Unrecht nicht bereits zeige, dass ein solches nicht vorgelegen habe. 47 Alexy, Mauerschützen, S. 25; vgl. Laskowski, JA 1994, 151 (162); zu den Kriterien einer entsprechenden Prüfung s. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1996, S. 233 ff.

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den bedarf es daher zunächst einer Darstellung der unterschiedlichen Positionen, bevor im Anschluss eine eigene Stellungnahme abgegeben wird. a) Erste Auffassung: Die Annahme gesetzlichen Unrechts Nach einer Auffassung, die sowohl durch den BGH als auch durch einen Teil der Literatur vertreten wird, ist die Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR als gesetzliches bzw. extremes Unrecht anzusehen. aa) Die Begründung des BGH Die Begründung des BGH für seine Annahme verdeutlicht, dass sich das Gericht natürlich auch der Schwierigkeiten bewusst gewesen ist, die sich aus der genannten Weite und Unbestimmtheit des Begriffs des gesetzlichen Unrechts ergeben sowie der sich daraus resultierenden Angreifbarkeit eines jeden erzielten Ergebnisses. (1) Verweis auf den IPBPR Aus diesem Grund versucht der BGH, die erforderlichen Anforderungen mittels bereits völkerrechtlich kodifizierter Vereinbarungen zu präzisieren. Es wird hervorgehoben, dass heutzutage „konkretere Prüfungsmaßstäbe“ hinzugekommen seien und in diesem Zusammenhang auf die internationalen Menschenrechtspakte, insbesondere den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR)48 aus dem Jahre 1966 zurückgegriffen, dem die DDR 1974 beigetreten war. Zwar fehle eine Bestätigung des Paktes durch die Volkskammer der DDR nach Art. 51 Verf./DDR, jedoch ändere dieser Umstand nichts an der gegebenen völkerrechtlichen Bindung der DDR, da sich ein Staat seiner Verpflichtung nicht durch Berufung auf die innerstaatliche Rechtsordnung entziehen könne49. (a) Die Ausreisefreiheit nach Art. 12 Abs. 2 IPBPR Der BGH geht zum einen auf Art. 12 Abs. 2 IPBPR ein. Die Vorschrift lautet: „Jedermann steht es frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.“

Das genannte Recht auf Freizügigkeit wird jedoch nicht grenzenlos gewährt, sondern einem in Abs. 3 geregelten Beschränkungsvorbehalt unterworfen, nach dem das in Abs. 1 gewährleistete Recht zu bestimmten Zwecken, so unter ande48 49

BGBl. 1973 II, S. 1534. BGHSt 39, 1 (16 f.); vgl. auch BGHSt 39, 168 (183 f.).

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rem zum Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung, beeinträchtigt werden darf. Es versteht sich von selbst, dass die DDR natürlich beständig die Auffassung vertrat, dass ihr Grenzregime sich im Rahmen dieser Regelung bewegte und somit nicht gegen geltendes Völkerrecht verstieß50. Entsprechend gaben Lehrbücher der DDR zu verstehen, dass „die Regelung der Freizügigkeit für den Bereich des eigenen Staatsgebietes (. . .) dem Völkerrecht“ entspreche51 und dass die DDR bei ihren „Entscheidungen über Auswanderungsanträge von Bürgern das geltende Völkerrecht, insbesondere die UNOKonvention über die zivilen und politischen Rechte“, beachte52. Auch gegenüber der UNO, die DDR ist in den Jahren 1977 und 1983 vom Menschenrechtsausschuss zu den Schüssen an der Grenze befragt worden, wurde stets die Auffassung vertreten, dass sich die vorgenommenen Einschränkungen ausschließlich im Rahmen der in Art. 12 Abs. 3 IPBPR enthaltenen Beschränkungsklausel bewegten53. Der BGH sieht trotz des genannten Beschränkungsvorbehaltes und jeglicher durch die DDR dargebrachter Erwägungen für ihr Handeln einen Verstoß des Grenzregimes gegen Art. 12 Abs. 2 IPBPR. Zur Begründung wird angeführt, dass es nach den entsprechenden Vorschriften sowie der gängigen Verwaltungspraxis in der DDR für nicht privilegierte Bürger unterhalb des Rentenalters faktisch keine Möglichkeit der legalen Ausreise gegeben habe und somit „den Bewohnern der DDR das Recht auf freie Ausreise nicht nur in Ausnahmefällen, sondern in aller Regel vorenthalten wurde“54. Die Entstehungsgeschichte sowie die internationale Auslegung der Norm zeigten jedoch, dass vorgenommene Einschränkungen die Ausnahme bilden, keinesfalls dagegen, wie in der DDR geschehen, die Substanz der Freizügigkeit und des Ausreiserechtes zerstören sollten55. Auch müsse beachtet werden, dass das Grenzregime seine „besondere Härte“ durch den Umstand empfing, dass die betroffenen Menschen zu ein und derselben Nation gehörten und somit ein besonderes Motiv für die Grenzüberschreitung besaßen.

50 s. die Nachweise in BGHSt 39,1 (17 f.); vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 17; vgl. auch Miehe, S. 657; Rittstieg, DuR 1991, 404 (416). 51 Autorenkollektiv, Staatsrecht der DDR. Lehrbuch, 1984, S. 199. 52 Autorenkollektiv, Politische und persönliche Grundrechte in den Kämpfen unserer Zeit, 1984, S. 164. 53 Vgl. diesbezüglich Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht, 1988, S. 117 ff. 54 BGHSt 39, 1 (17 f.). 55 Vgl. zu diesem Aspekt zudem Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177, 186 sowie Hofmann, Ausreisefreiheit, S. 123 u. S. 251.

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(b) Recht auf Leben nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 u. S. 3 IPBPR Zum anderen wird durch den BGH auf die Norm des Art. 6 Abs. 1 IPBPR verwiesen, dessen S. 1 und S. 3 lauten: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. (. . .) Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.“

Es wird in diesem Zusammenhang betont, dass zwar die vorhandene Auslegung des Merkmals „willkürlich“ nicht sehr ergiebig sei, dass jedoch unter Berufung auf eine aus dem Jahre 1982 stammende „Allgemeine Bemerkung“ des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen zum Recht auf Leben davon auszugehen sei, dass der Schutz des menschlichen Lebens von überragender Bedeutung sei und die Umstände, unter denen staatliche Organe ein solches beenden dürfen, strikt zu „kontrollieren und begrenzen“ seien56. Nach Ansicht des BGH seien die entsprechenden Anforderungen an der Grenze der DDR, insbesondere unter Einbeziehung der dort herrschenden Verhältnisse, die durch „Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl“ gekennzeichnet waren, nicht gewährleistet und dementsprechend eine Verletzung des Art. 6 IPBPR anzunehmen. (2) Kritik am Rückgriff auf den IPBPR durch den BGH Das Vorgehen des BGH, die Rechtfertigungsnorm des § 27 Abs. 2 GrenzG/ DDR in „realsozialistischer“ Auslegung insbesondere unter Einbeziehung des IPBPR für unbeachtlich zu erklären, stößt für sich genommen in der Literatur auf erhebliche Kritik. Dabei wird insbesondere auf den Umstand der fehlenden Transformation des Paktes in innerstaatliches Recht der DDR nach Art. 51 Verf./DDR abgestellt und betont, dass erst eine solche die Möglichkeit eröffne, auf völkerrechtliche Regeln als positiv geltendes Recht Bezug zu nehmen57. Das Übergehen dieses Aspektes durch den BGH sei daher „die fragwürdigste Passage der Entscheidung“58. Die genannte Kritik der Literatur ist meines Erachtens unbegründet. Zwar wird der Auffassung, dass die innerstaatliche Rechtsgeltung des IPBPR einer Transformation des Vertragsinhaltes durch die Volkskammer der DDR nach Art. 51 Verf./DDR bedurft hätte, im Ergebnis zuzustimmen sein, jedoch wäre dieser Frage nur unter dem Aspekt eine besondere Bedeutung beizumessen, sofern es dem BGH darum ginge, die Schüsse an der Mauer nach innerstaatlich 56

BGHSt 39, 1 (20). Vgl. etwa Dannecker, Jura 1994, 585 (590); Grünwald, StV 1991, 31 (37); Amelung, JuS 1993, 637 (641), ders., GA 1996, 51 (56); Arnold/Kühl, JuS 1992, 991 (995); Renzikowski, NJ 1992, 152 (154); Pawlik, GA 1994, 472 (474). 58 Amelung, JuS 1993, 637 (641). 57

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geltendem positiven Recht völkerrechtlichen Ursprungs zu beurteilen. Dieses ist allerdings nicht der Fall, sondern das Ansinnen des BGH ist lediglich darauf gerichtet, dem IPBPR konkrete „Prüfungsmaßstäbe“ im Rahmen der Würdigung zu entnehmen, ob in der Rechtfertigungsnorm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, der so unerträglich ist, dass das Gesetz der Gerechtigkeit zu weichen hat und somit gesetzliches Unrecht, zu sehen ist59. Dieser Umstand wird insbesondere anhand nachfolgender Urteile des BGH deutlich, in denen sich die gerichtliche Argumentation ebenfalls auf die Grundsätze des IPBPR stützt, obwohl sich das zu würdigende Geschehen bereits vor dem Beitritt der DDR ereignet hatte60. In diesen Fällen wird neben dem IPBPR zudem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen herangezogen, die dem Pakt als Grundlage dient. Aufgrund der übereinstimmenden Gewährleistungstatbestände hinsichtlich des Rechts auf Leben und des Rechts auf freie Ausreise, so die Ausführungen des BGH, könne „die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, nicht anders als der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, als eine Konkretisierung dessen aufgefasst werden, was als die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüberzeugung verstanden wird“61. Diese Ausführungen verdeutlichen hinreichend, dass den genannten internationalen Menschenrechtserklärungen durch den BGH „naturrechtliche Geltung“ zugesprochen wird und somit letztlich, trotz der Vermeidung des Begriffs „Naturrecht“ in sämtlichen Urteilen, naturrechtliche Gerechtigkeitsmaßstäbe, die auch ohne Positivierungsakte Geltung beanspruchen, den Kern der Rechtsprechung des BGH bilden62. Das entsprechende Vorgehen des BGH hat im übrigen die Billigung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gefunden. Die Verknüpfung der Kriterien der Radbruchschen Formel und der völkerrechtlich geschützten Menschenrechte, so das Gericht, entspreche der Bewertung des Grundgesetzes63.

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Vgl. zu diesem Aspekt Alexy, Mauerschützen, S. 26. s. etwa BGHSt 40, 241 (244 ff.); BGHSt 41, 101 (105); BGH NStZ-RR 1996, 323 (324). 61 BGHSt 40, 241 (245 u. 248). 62 Vgl. Dreier, JZ 1997, 421 (426), der in der Völkerrechtswidrigkeit nur das „entscheidende Indiz“ für die „letztlich ausschlaggebende Naturrechtswidrigkeit“ sieht sowie Amelung, NStZ 1995, 29 (30), nach dem der BGH in den internationalen Menschenrechtserklärungen eine Art „empirisches Naturrecht“ sieht; nach Roos, S. 251 bilden „die naturrechtlichen Gedanken der Radbruchschen Formel (. . .) den Kern der Argumentation des BGH“. 63 BVerfG JZ 1997, 142 (145). 60

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bb) Die Begründung der Literatur Auch ein Teil der Literatur sieht in der Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR in Übereinstimmung mit dem BGH extremes Unrecht64. Zur Begründung wird etwa angeführt, dass ein auf die entsprechende Vorschrift gestützter Todesschuss mit der sittlichen und rechtlichen Grundnorm „Du sollst nicht töten“ in Konflikt gerate und „in einem unerträglichen Missverhältnis zum Verhalten derjenigen, die ohne Erlaubnis ausreisen wollten“, stehe65. Die Tötung der flüchtenden Menschen, die zu „Leibeigenen des Regimes, zu bloßen Sachen“ gemacht worden seien, habe „die vorpositiven Freiheitsrechte der Getöteten und damit auch ihre Menschenwürde in einer besonders groben Weise verletzt“66. Eine kumulierte Betrachtung sämtlicher Umstände der Schüsse an der Grenze unter Beachtung des normativen und faktischen Kontextes ergebe, dass „an dem Urteil, dass extremes Unrecht geschah, (. . .) kein Zweifel sein“ könne67. b) Zweite Auffassung: Die Ablehnung gesetzlichen Unrechts Eine zweite Auffassung lehnt die soeben dargestellte – durch den BGH und einen Teil der Literatur vertretene – Charakterisierung des § 27 Abs. 2 GrenzG/ DDR in „realsozialistischer“ Auslegung als gesetzliches Unrecht ab. Die Begründung dieses Schrittes findet sich dabei insbesondere in zwei Gesichtspunkten. Zum einen in der Gegebenheit, dass bereits generell, von der Schwere des begangenen Unrechts unabhängig, eine „justitielle Verwerfung geschriebenen Rechts qua Naturrecht“, die nichts weiteres als „einen maskierten Bruch des Rückwirkungsverbots“ darstelle, abgelehnt und somit der rechtspositivistischen Lehre der Vorzug gegeben wird68. Entsprechend wird kritisiert, dass der BGH mittels seiner Vorgehensweise auf einen „Bereich der Unangreifbarkeit“ über64 s. etwa Hruschka, JZ 1992, 665 (667); Limbach, DtZ 1993, 66 (68 f.); Wassermann, RuP 1992, 121 (124); Alexy, Mauerschützen, S. 29 f.; Rosenau, Tödliche Schüsse in staatlichem Auftrag: Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Grenzsoldaten für den Schusswaffengebrauch an der deutsch-deutschen Grenze, 1996, S. 125; Laskowski, JA 1994, 151 (162 f.); vgl. zudem Starck, VVDStRL 1992 (51), S. 9 ff. (S. 27); Wassermann, Unrecht durch DDR-Rechtsprechung, in: Seebode (Hrsg.), Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 629 ff. (S. 634); Günther, StV 1993, 18 (18 u. 20 f.). 65 Limbach, DtZ 1993, 66 (68 f.). 66 Hruschka, JZ 1992, 665 (667). 67 Alexy, Mauerschützen, S. 29 f.; vgl. Laskowski, JA 1994, 151 (162 f.). 68 So etwa Merkel, Politik und Kriminalität. Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in: Unseld (Hrsg.), Politik ohne Projekt? Nachdenken über Deutschland, 1993, S. 298 ff. (S. 316 f.); vgl. Lüderssen, StV 1991, 482 (487); s. zu diesem Aspekt allgemein Kuhlen, Normverletzungen im Recht und in der Moral, in: Baurmann/Kliemt (Hrsg.), Die moderne Gesellschaft im Rechtsstaat, 1990, S. 63 ff. (S. 89 ff.).

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wechsele69, teilweise wird in diesem Zusammenhang sogar von einem „Offenbarungseid“ gesprochen70. Zum anderen in der Annahme, dass die einschlägige Bestimmung des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR nicht die im Rahmen der Radbruchschen Formel notwendigen Voraussetzungen erfülle, um als gesetzliches Unrecht qualifiziert zu werden, denn sie stehe „keinesfalls (. . .) im krassen Widerspruch zu allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen“71. In diesem Zusammenhang wird unter anderem auf die Bedeutung des Rechts auf Ausreisefreiheit abgestellt, die es auch „nach bundesdeutschem Verfassungsrecht nicht gebe“ und die „auch international relativ neu und in ihrem Inhalt nach wie vor umstritten“ sei72. Auch wird angeführt, dass die Idee des Sozialismus „eine seit Jahrhunderten diskutierte Ausprägung der Gerechtigkeitsidee war und ist“73 sowie zu bedenken gegeben, dass die DDR im „offenen Wettbewerb der Systeme, insbesondere mit der Bundesrepublik Deutschland“ gestanden habe und dass in einer solchen Situation Recht sein konnte, was im Normalfall Unrecht sein würde74. c) Stellungnehmende Erwägungen Da somit der Annahme gesetzlichen Unrechts im Falle der Regelung des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR und den mit ihr in Zusammenhang stehenden Schüssen an der innerdeutschen Grenze gewichtige Argumente entgegenstehen, soll im Folgenden erörtert werden, anhand welchen gedanklichen Weges sich die Überlegungen des BGH dennoch stützen lassen und zudem schlüssig begründbar erscheinen. Zunächst ist auf den zuvor genannten Aspekt der Gegenmeinung, dass eine Verwerfung geschriebenen Rechts nicht stattfinden dürfe und somit der rechtspositivistischen Lehre der Vorzug zu geben sei, einzugehen. Die gravierendsten Bedenken im Rahmen dieses Vorgehens bestehen in dem Aspekt, dass die Trennung von Recht und Moral aufgegeben und die Moral zum Maßstab im Rahmen der Geltung positivrechtlicher Normen erhoben werde75. Es werde auf naturrechtliche Kategorien, auf Werte mit überzeitlicher unverfügbarer Gültigkeit, 69 Vgl. die Ausführungen über die Vielzahl von existierenden Naturrechtssystemen bei Amelung, JuS 1993, 637 (640) sowie Dreier, JZ 1997, 421 (429). 70 Gropp, NJ 1996, 393 (393). 71 Rittstieg, DuR 1991, 404 (413); vgl. Dreier, Gesetzliches Unrecht, S. 66 sowie Arnold/Kühl, JuS 1992, 991 (994 f.). 72 Rittstieg, DuR 1991, 404 (417); s. zudem Herzog, NJ 1993, 1 (1 f.). 73 Dreier, Gesetzliches Unrecht, S. 65. 74 Roggemann, DtZ 1993, 10 (17); vgl. Roos, S. 253. 75 Vgl. Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral. Drei Aufsätze, 1971, S. 14 ff. (S. 40 ff.); s. zudem Rosenau, S. 122.

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abgestellt76. Entsprechende Werte seien jedoch nicht begründbar, da es sich bei ihnen aufgrund ihrer inhaltlichen Vielfalt und der Schwankungen des politischmoralischen Zeitgeistes letztlich stets um mehr oder minder partikulare Moralvorstellungen handele77. Die Rechtswissenschaft könne den „Zugang zum wirklichen, zum absolut Gerechten“ nicht leisten, „was wirklich gerecht und richtig ist, können wir nur ahnen oder glauben, aber nicht verlässlich wissen“78. Die genannten Gesichtspunkte führen insgesamt sogar zu dem in der Literatur angeführten Einwand, dass bei Anwendung der Radbruchschen Formel die Gefahr der Anarchie bestehe79. Des Weiteren wird, indem nach Wegfall des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR ein zum Tatzeitpunkt faktisch straffrei gewesenes Verhalten der Bestrafung unterliegt, eine Beeinträchtigung der vor über 200 Jahren aufgestellten Formel „nulla poena sine lege“ Feuerbachs80 befürchtet, die über Art. 103 Abs. 2 GG auch für die bundesdeutsche Rechtsprechung Verbindlichkeit beansprucht. Auf diesen Aspekt soll zu einem späteren Zeitpunkt gesondert eingegangen werden81. Es ist den dargestellten Bedenken zunächst zu entgegnen, dass die Formel Radbruchs, wie bereits angeführt82, keine völlige Deckung des Rechts und der Moral voraussetzt, sondern eben lediglich ein Mindestmaß an Moral. Auch ungerechtes Recht wird aus Gründen der Rechtssicherheit als geltendes Recht an76 s. Schumacher, Rezeption, S. 12 f.; Saliger, Radbruchsche Formel, S. 22; vgl. Rosenau, S. 122 f., der hervorhebt, dass Radbruch diesem Einwand selbst Vorschub geleistet habe, indem er 1947 in seinem Aufsatz „Die Erneuerung des Rechts“ geschrieben habe: „Die Rechtswissenschaft muss sich wieder auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, dass es ein höheres Gesetz gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht, an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist“, s. Radbruch, Die Erneuerung des Rechts, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 1 ff. (S. 2). 77 Vgl. Amelung, JuS 1993, 637 (640); Laskowski, JA 1994, 151 (161); Meier, Merkur 1992 (46), 75 (77); vgl. Kaufmann, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33 1991, 3 (5), der davon spricht, dass die Gerichte nach 1945 im Rahmen der Bewältigung des NS-Unrechts im Zusammenhang mit dem Begriff des Naturrechts auf eine „recht bunte, nicht selten widerspruchsvolle und verwirrende Vielfalt von Wertvorstellungen“ zurückgegriffen hätten. 78 Schreiber, Jurisprudenz auf dem Wege zum Recht – Von den Möglichkeiten und Grenzen der Rechtswissenschaft, in: Mainusch/Toellner (Hrsg.), Einheit der Wissenschaft. Wider die Trennung von Natur und Geist, Kunst und Wissenschaft, 1993, S. 92 ff. (S. 99). 79 Vgl. Hart, Akzeptanz als Basis einer positiven Rechtsordnung, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral. Drei Aufsätze, 1971, S. 50 ff. (S. 75) sowie Ott, ZSR 1988, 335 (351 f.). 80 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 1847, § 20. 81 Erstes Kap. II. 3. 82 Erstes Kap. II. 1. a).

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gesehen, allerdings nur solange, bis nicht die Schwelle zum unerträglichen Unrecht und entsprechend zu einem unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit erreicht ist, dessen Unrechtsgehalt selbst ein Minimalmaß an jeglichem moralischem Wert vermissen lässt. Die Einforderung eines solchen Maßes sollte allerdings auch im Bereich des Rechts akzeptiert werden. Zudem ist auf das ebenfalls bereits erwähnte „negative Prinzip“ sowie den damit zusammenhängenden Umstand, dass die menschliche Erkenntnis beim Falsifizieren wesentlich sicherer ist als beim Verifizieren, zu verweisen83. Mag es auch keinen zuverlässigen menschlichen Gerechtigkeitssinn geben, so ist allerdings von einem zuverlässigen „Ungerechtigkeitssinn“ auszugehen, der bestimmte Handlungsweisen „jedenfalls im sittlichen Bewusstsein der überwiegenden Zahl aller Menschen als verabscheuungswürdig und damit verwerflich“ erscheinen lässt84. Nur unter dem Aspekt, dass die Beeinträchtigung eines, diesem Bewusstsein entsprechenden Bereiches vorliegt, ist überhaupt eine Anwendung der Radbruchschen Formel in Erwägung zu ziehen85. Daher lässt sich deren Unbestimmtheit zumindest annäherungsweise einkreisen und somit der Einwand etwa einer Anarchie als unbegründet zurückweisen. Sofern die Berücksichtigung naturrechtlicher Kategorien als Wechsel auf einen „Bereich der Unangreifbarkeit“ oder sogar als „Offenbarungseid“ kritisiert wird86, gibt Gerhard Sprenger weiterhin zu bedenken, dass die Sprachformel „Naturrecht“ heutzutage in einem „funktionalen Sinne“ verwendet werde. Es komme darin der „Wille zur Optimierung des Rechts“ zum Ausdruck bzw. der Begriff sei „Symptom für Rechtsbesserung, und wo sie in Freiheit und mit Verantwortung auf sittlich anerkannte Ziele hin versucht wird, sollten wir nicht von ,Offenbarungseid‘ sprechen“87. Des Weiteren bedarf der zweite Einwand in der Literatur, nach dem die Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR in „realsozialistischer“ Auslegung nicht die Voraussetzungen gesetzlichen Unrechts i. S. der Radbruchschen Formel erfülle, einer Erörterung. Es ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die Würdigung der Frage, ob es sich bei § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR um entsprechendes Unrecht handelt, unter Einbeziehung jeglicher Umstände der damaligen Zeit, somit unter Einbeziehung jeglicher vorhandener Unrechtselemente, unter denen die Schüsse an der Mauer abgegeben wurden, vorzunehmen ist88. 83

s. Erstes Kap. II. 2. Ott, ZSR 1988, 335 (352) mit Beispielen. 85 Vgl. Ott, ZSR 1988, 335 (352). 86 Vgl. o. Erstes Kap. II. 2. b). 87 Sprenger, NJ 1997, 3 (7). 88 Ein entsprechendes Vorgehen scheint im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG zu stehen, sofern das Gericht im Rahmen der Feststellung, ob die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl. 1941 I, S. 722) der Gerechtigkeit in unerträglichem Maße widerspricht, aussagt, dass die Norm „nur rich84

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1. Kap.: Die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze

Zunächst ist in die Überlegungen der Hintergrund der tödlichen Schüsse einzubeziehen. Der Reiseverkehr der Bürger in der DDR war durch die Staatsführung von Anbeginn streng reglementiert und das Verlassen des Landes ohne die Beantragung und Erteilung einer Genehmigung durch die Schaffung eines entsprechenden Tatbestandes, der Republikflucht nach § 213 StGB/DDR, kriminalisiert. Die somit entstandenen Einschränkungen der Bevölkerung traten allerdings erst dann zutage, sofern man die Genehmigungspraxis bezüglich der Ausreisen durch die DDR-Behörden einbezieht. Diese wurde äußerst restriktiv gehandhabt und bestand regelmäßig in der ohne Begründung vorgenommenen Versagung der entsprechenden Genehmigung89. Insbesondere für nicht politisch privilegierte Bürger unterhalb des Rentenalters existierte aufgrund dieses Umstandes faktisch keine Möglichkeit der legalen Ausreise90. Nach Betonung dieses Hintergrundes des Grenzgeschehens ist die Struktur der DDR in den Mittelpunkt zu rücken, es handelte sich bei diesem Staat eben um einen totalitären Herrschaftsapparat, der sich durch „politische Verlogenheit und die ihr korrespondierende rechtliche Perplexität“ auszeichnete91. Das Defizit an demokratischer Verfahrensweise in der DDR äußerte sich natürlich unter anderem in dem Umstand, dass eine freie öffentliche Diskussion politischer Fragen und somit auch des Ausreiseproblems nicht stattfand und bereits allein die öffentliche Bekanntmachung des Wunsches nach Ausreise kriminalisiert wurde92. Es geht jedoch nicht lediglich um eine fehlende Diskussion im Rahmen des Ausreiseproblems, die DDR war vielmehr insgesamt eine „nicht-diskursive Gesellschaft“, in der überhaupt nicht frei diskutiert werden durfte93. Somit wurde jungen Menschen in der DDR von vornherein die Möglichkeit genommen, an bestimmten, von ihnen missbilligten Lebensverhältnissen, wie etwa der fehlenden Ausreisemöglichkeit in westliche Länder, etwas ändern und sich ent-

tig beurteilt werden kann, wenn sie im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung und dem politischen Ziel des Nationalsozialismus, das deutsche und europäische Judentum auszurotten, gesehen wird“, BVerfGE 23, 98 (105); ebenso gehen zudem vor Alexy, Mauerschützen, S. 28 ff.; Laskowski, JA 1994, 151 (162 f.); a. A. Dannecker, Jura 1994, 585 (590), der in einem entsprechenden Vorgehen eine unzulässige Addition „normalen“ Unrechts bis zum Erreichen des gewünschten Qualitätsmaßstabs durch eine variable Quantität sieht, welche dem Urteilenden auch solche Unrechtsbereiche zugänglich mache, denen das negative Prädikat extremen Unrechts fehle. 89 BGHSt 39,1 (19 u. 21); BGHSt 40, 218 (226); vgl. Marxen/Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, 1999, S. 8. 90 Vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 28. 91 Pawlik, FAZ v. 31. März 1992, S. 36; vgl. Luchterhandt, Was bleibt?, S. 195; vgl. in diesem Zusammenhang zudem die Erörterungen über die Bezeichnung der DDR als „Unrechtsstaat“ bei Dreier, Gesetzliches Unrecht, S. 58 f. 92 Vgl. Limbach, DtZ 1993, 66 (68); s. zudem Laskowski, JA 1994, 151 (162). 93 Alexy, Mauerschützen, S. 29.

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sprechend gegen das Leben in einem von ihnen abgelehnten System zur Wehr setzen zu können. Eine Gesamtbetrachtung der aufgezeigten Umstände, dass jungen Menschen eine Ausreise und somit eine Flucht aus einem von ihnen missbilligten System generell verwehrt wurde, dass ihnen zudem jegliche Möglichkeit einer Veränderung der bestehenden Situation, etwa durch persönlichen Einsatz, genommen wurde und dass es letztlich tödliche Schüsse für diejenigen gab, die versuchten, sich ihre Vorstellungen des erwünschten Lebens durch eine Grenzüberschreitung zu ermöglichen, führt unzweifelhaft zu dem Ergebnis, dass die Annahme, es habe sich bei dem durch § 27 GrenzG/DDR gedeckten Verhalten um extremes Unrecht gehandelt, in hohem Maße begründbar erscheint. Die selbige Erkenntnis gilt folgerichtig auch für das Vorgehen, der Norm in ihrer, durch die staatlichen Stellen der DDR vorgenommenen, Interpretation die Rechtsgeltung zu verweigern. 3. Das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG Ein weiteres, sich im Rahmen der Anwendung der Radbruchschen Formel für den BGH ergebendes Problem ist die bereits angedeutete Frage nach einem Verstoß des entsprechenden Vorgehens gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG. Die Norm lautet: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“

Die verfassungsrechtliche Gewährleistung dieser Vorschrift besteht in dem Schutz des Angeklagten vor Willkür94 und dem Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand des zur Tatzeit geltenden Rechts95. Nach inzwischen überwiegender Auffassung verbieten die genannten Schutzrichtungen nicht nur die nachträgliche Inkraftsetzung von Straftatbeständen, sondern auch die nachträgliche Aufhebung von Rechtfertigungsgründen, denn eine solche wirkt sich zu Ungunsten eines Täters kaum anders aus als die rückwirkende Einfügung eines Straftatbestandes96. Aufgrund entsprechender Erwägungen prüft der BGH zusätzlich, „ob § 27 des Grenzgesetzes mit Auslegungsmethoden, die dem Recht der DDR eigentümlich waren, so hätte ausgelegt werden können, dass die genannten Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden“, wozu lediglich auf die Vorgaben zurückgegriffen werden sollte, „die im Recht der DDR für eine menschen94

BVerfGE 64, 389 (394). s. Schreiber, Gesetz und Richter. Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, S. 27; BGHSt 39, 1 (29). 96 Vgl. Arnold/Kühl, JuS 1992, 991 (995); Kaufmann, NJW 1995, 81 (83); Tröndle/ Fischer, § 1 Rn. 14 f. 95

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1. Kap.: Die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze

rechtsfreundliche Auslegung vorhanden waren“97. Der BGH bejaht eine entsprechende Auslegungsmöglichkeit und gelangt zu der Feststellung, dass das Verhalten der Angeklagten jedoch nicht mehr von dem derartig interpretierten § 27 GrenzG/DDR gerechtfertigt sei. Es wird dabei insbesondere auf Art. 30 Verf./ DDR abgestellt, dessen Abs. 1, der die Persönlichkeit und Freiheit eines jeden Bürgers der DDR schützte, auch das Leben erfasst habe und dessen Abs. 2, der mögliche Einschränkungen der genannten Gewährleistungen normierte, nur verhältnismäßige Eingriffe zugelassen habe. Da nach Art. 89 Abs. 2 Verf./DDR Rechtsvorschriften der Verfassung nicht widersprechen durften, habe es sich bei der sog. „menschenrechtsfreundlichen Auslegung“ somit um die einzig „richtige“ Auslegung des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR gehandelt, die bereits zum Zeitpunkt der Tat entsprechend hätte vorgenommen werden können und müssen und bei der es sich somit um das Recht gehandelt habe, dass die Strafbarkeit zur Zeit der Tat i. S. des Art. 103 Abs. 2 gesetzlich bestimmte98. Der Umstand, dass es sich bei dieser Auslegung jedoch nicht um die zur damaligen Zeit an der Grenze in der „Realität“ angenommene Interpretation der Norm handelte, dies dürften die zuvor aufgezeigten Erörterungen hinlänglich belegt haben99, ist nach Ansicht des BGH unerheblich, denn der Richter sei „nicht im Sinne reiner Faktizität an diejenige Interpretation gebunden, die zur Tatzeit in der Staatspraxis Ausdruck gefunden“ habe. Die Erwartung eines Angeklagten, dass ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund auch in Zukunft anerkannt werde, sei nicht schützwürdig und somit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht gegeben. Das soeben aufgezeigte Ergebnis des BGH wird in der Literatur zum Teil erheblich kritisiert und angeführt, dass es sich bei der vorgenommenen Auslegung um eine für die Grenzsoldaten nicht zugängliche und somit mit dem Rückwirkungsverbot nicht zu vereinbarende „tiefgreifende, durch den Systemwechsel bedingte Umwertung“ handele, für die das Recht der DDR „den erforderlichen Spielraum (. . .) nicht eröffnet“ habe100. Es liege die Vermutung nahe, dass der BGH diesen Weg beschreite, da er seiner eigenen Argumentation im Zusammenhang mit der Verwerfung des § 27 GrenzG/DDR in „realsozialistischer“ Auslegung unter Rückgriff auf die Radbruchsche Formel nicht traue101. Tatsächlich führt das Unterfangen des BGH, den § 27 GrenzG/DDR „menschenrechtsfreundlich“ auszulegen, zurück auf das eigentlich vorhandene Pro97

BGHSt 39, 1 (23). BGHSt 39, 1 (29 f.). 99 Erstes Kap. I. 2. 100 Miehe, S. 656; vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 30 mit dem Einwand, dass es sich bei der entsprechenden Auslegung um eine verdeckte Rückwirkung handele, „die schlimmer ist als eine offene“. 101 So Günther, StV 1993, 18 (21). 98

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blem, und zwar die generelle Frage, ob in der Anwendung der Radbruchschen Formel auf bestimmte Rechtfertigungsgründe eines Unrechtsregimes ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG zu erblicken ist. Die Antwort ist dabei erheblich umstritten102. Es dürfte die Auffassung, die einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG verneint, dies sei vorweggenommen, schlüssig begründbar sein. Zunächst ist dabei zu bedenken, dass in Fällen extremen Unrechts der von dieser Norm erfasste Aspekt des Vertrauensschutzes in einen vermeintlich bestehenden Rechtfertigungsgrund einer Einschränkung bedarf. Denn es handelt sich bei extremem Unrecht in aller Regel auch um evidentes Unrecht103, so dass potentiellen Tätern ernsthaft der Gedanke auferlegt werden darf und sollte, dass sie nach Beendigung des entsprechenden Unrechtsregimes belangt werden könnten. Dieser Gesichtspunkt rückt die extrem wichtige generalpräventive Wirkung in den Blick, die eine Bestrafung von Tätern, die vermeintlich gerechtfertigtes extremes Unrecht begangen haben, entfaltet104. Es muss erkennbar sein, dass „Angriffe auf Leben und Freiheit von Menschen unter dem Deckmantel einer staatlichen Tolerierung auf die Dauer nicht ungestraft bleiben, so sicher sich der Täter auch wähnt“105 und somit für den Handelnden in einem entsprechenden Unrechtsregime ein Risikoeffekt erzeugt werden106. Sofern trotz des Umstandes, dass extremes Unrecht in der Regel auch evidentes Unrecht darstellt, möglicherweise die Einsicht eines Täters fehlen sollte, wird dieser Gesichtspunkt – wie es hinsichtlich der Grenzsoldaten Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein soll – im Rahmen der Schuld, innerhalb eines Verbotsirrtums, zu berücksichtigen sein. Nicht zuletzt sind die Rechte der Opfer in die Überlegungen einzube102 Einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot nehmen etwa an Pieroth, VVDStRL 1992 (51), S. 91 ff. (S. 102 ff.), der die einzige rechtsstaatliche Möglichkeit, zu einer Bestrafung zu gelangen darin sieht, „dem Art. 103 Abs. 2 GG im Weg der Verfassungsänderung eine Ausnahmeklausel für Verbrechen gegen die Menschheit/ Menschlichkeit anzufügen“; Dreier, VVDStRL 1992 (51), S. 137 f.; Rittstieg, DuR 1991, 404 (410 ff.); Dencker, KritV 1990, 299 (304 f.); Merkel, S. 315 ff., der für einen „offenen Bruch“ des Rückwirkungsverbots in gravierendsten Fällen eintritt; dagegen gehen von einer Vereinbarkeit der Radbruchschen Formel mit Art. 103 Abs. 2 GG aus LG Berlin, JZ 1992, 691 (694); Alexy, Mauerschützen, S. 30 ff.; Werle, NJW 2001, 3001 (3003 ff.); wohl auch Laskowski, JA 1994, 151 (163 ff.); Kriele, VVDStRL 1992 (51), S. 131 f. 103 Vgl. hierzu Kaufmann, NJW 1995, 81 (84). 104 s. zu diesem Aspekt Alexy, Mauerschützen, S. 35; a. A. Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht? Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem, 1992, S. 37 ff. (S. 58 f.), der die Auffassung vertritt, dass in diesem Zusammenhang alle Präventionen des Rechts leer laufen, da „eine vergleichbare Situation, in der man mit vergleichbaren Motiven vergleichbare Opfer tötet, (. . .) im Geltungsbereich des deutschen Strafrechts nicht mehr“ vorkomme. 105 Schroeder, JZ 1992, 990 (992). 106 Vgl. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 88 ff.

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1. Kap.: Die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze

ziehen. Ihnen ist zum einen der Anspruch darauf einzuräumen, dass das ihnen zugefügte Unrecht „öffentlich bewusst gemacht“ und durch richterliches Urteil auch als solches gekennzeichnet wird107, zum anderen wird man weiterhin die gegenwärtigen und zukünftigen Opfer entsprechender Staaten nicht für schutzlos erklären dürfen. Aufgrund der aufgezeigten Erwägungen erscheint eine restriktive Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG, wie sie ebenso der BGH mit seiner „menschenrechtsfreundlichen“ Auslegung vornimmt, trotz des Bestehens gegenteiliger Ansichten im Ergebnis vertretbar. Eine solche Annahme steht zudem im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu dieser Problematik. Das BVerfG hebt in seinem Grundsatzbeschluss vom 24. Oktober 1996 hervor, dass die in der DDR praktizierte „Unterordnung des Lebensrechts des einzelnen unter das staatliche Interesse an der Verhinderung von Grenzübertritten (. . .) materiell schwerstes Unrecht“ gewesen sei und stellt fest, dass „der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG (. . .) dann zurücktreten“ müsse, sofern das „Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnimmt“, die Anwendung eines extrem ungerechten Rechtfertigungsgrundes untersage. „Anderenfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten“108. Der EGMR musste sich im Jahre 2001 mit der Frage auseinandersetzen, ob der nachträglichen Strafverfolgung der DDR-Funktionäre und Grenzsoldaten in der Bundesrepublik möglicherweise die Norm des Art. 7 Abs. 1 S. 1 der für den Europäischen Rechtsraum maßgeblichen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 04. November 1950109 entgegensteht. Die Vorschrift enthält ebenfalls den Grundsatz nulla poena sine lege, indem sie die Verurteilung „wegen einer Tat, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war“, verbietet. In zwei Urteilen vom 22. März 2001 bestätigt der EGMR die Vereinbarkeit der deutschen Rechtsprechung mit dem Regelungsgehalt des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK110. 107 s. Wassermann, NJW 1993, 895 (899); vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 35; a. A. vgl. wiederum Jakobs, Vergangenheitsbewältigung, S. 58 f. 108 BVerfG, JZ 1997, 142 (144); das Urteil des BVerfG betrifft die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden eines ehemaligen Grenzsoldaten sowie der wegen ihrer Mitverantwortung an dem todbringenden Grenzgeschehen verurteilten ehemaligen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR Keßler, Streletz und Albrecht, s. diesbezüglich BGHSt 40, 218 ff.; s. zu dem Urteil auch Fricke, DA 1997, 4 ff.; vgl. zudem die bestätigenden nachfolgenden Beschlüsse des BVerfG aus den Jahren 1997 und 2000 in EuGRZ 1997, 413 ff. u. NJW 2000, 1480. 109 BGBl. 1954 II, S. 14. 110 EGMR, NJW 2001, 3035 ff. u. EGMR, NJW 2001, 3042 ff.; Beschwerdeführer in den Verfahren vor dem EGMR war u. a. der wegen Totschlags verurteilte ehemalige

III. Zusammenfassung

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III. Zusammenfassung Erstes Kapitel Die gewichtigste Schwierigkeit im Rahmen der Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse an der Grenze ist eine mögliche Rechtfertigung des Geschehens durch die Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR. Der BGH löst das Problem unter Rückgriff auf die rechtsethische Radbruchsche Formel und lässt die Regelung in ihrer, durch die staatlichen Stellen der DDR vorgenommenen, „realsozialistischen“ Auslegung wegen des Verstoßes gegen vorgeordnete Rechtsprinzipien und ihrer daher vorgenommenen Einstufung als gesetzliches bzw. extremes Unrecht, bei der Rechtsfindung außer Betracht. Dem Einwand, eine solche Vorgehensweise stelle einen Verstoß gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG dar, begegnet der BGH mit dem Argument, dass die Norm des § 27 GrenzG/DDR mittels einer bereits im Recht der DDR angelegten „menschenrechtsfreundlichen Auslegung“ auch derart hätte angewendet werden können, dass das geschehene Unrecht vermieden worden wäre. Dieses sei das Recht gewesen, das die Strafbarkeit des Geschehens zur Tatzeit gesetzlich bestimmt habe. Die Annahmen des BGH erscheinen, auch wenn sie verschiedenartigsten Bedenken unterliegen, gleichwohl schlüssig begründbar. Da ihnen jedoch, dies dürften die vorherigen Ausführungen verdeutlicht haben, Erwägungen zugrunde liegen, die erhebliche Besonderheiten aufweisen, werden sie bei der Beurteilung des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten angemessen zu berücksichtigen sein.

Staatsratsvorsitzende der DDR Egon Krenz, s. dazu BGHSt 45, 270 ff.; s. zu diesen Urteilen zustimmend Rau, NJW 2001, 3008 ff. u. Werle, NJW 2001, 3002 ff.

Zweites Kapitel

Die Bedeutung des Unrechtsbewusstseins für den strafrechtlichen Schuldvorwurf Im Anschluss an die Erörterungen bezüglich der Rechtswidrigkeit erscheint es geboten, sich zu vergegenwärtigen, worin eine intensive Beschäftigung mit dem Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten überhaupt ihre Notwendigkeit erfährt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Unrechtsbewusstseins eines Täters für den strafrechtlichen Schuldvorwurf1.

I. Der strafrechtliche Schuldgrundsatz Das deutsche Strafrecht ist Schuldstrafrecht, nicht reines Erfolgsstrafrecht oder Gefährlichkeitsstrafrecht2. Es beruht auf dem Schuldgrundsatz, dessen beiden bedeutsamsten Ausprägungen besagen, dass keine kriminelle Strafe ohne Schuld verwirkt wird und dass Strafe zudem nur in den Grenzen der Schuld zulässig ist3. Im Bereich der strafrechtlichen Schuld geht es um die Frage, ob dem Täter sein rechtswidriges Handeln, also das durch ihn verwirklichte Unrecht, persönlich vorzuwerfen ist4. Die Tat muss dem Handelnden im Sinne eines „Dafür-Könnens“ als eigenes Werk zugerechnet werden können5. Der Schuldgrundsatz in Form eines entsprechenden Erfordernisses ist zwar nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, er lässt sich allerdings sowohl aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip als auch aus der in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 1 Natürlich kann es sich bei den folgenden Ausführungen aufgrund der Komplexität des Themengebiets lediglich um eine knappe Darstellung handeln, soweit sie für die weiteren Überlegungen nützlich erscheint. 2 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht. Allg. Teil. Lehrbuch, 1995, § 18 Rn. 1; zu den Begriffen Erfolgs- u. Gefährlichkeitsstrafrecht s. dort § 3 Rn. 80 ff. 3 BVerfGE 20, 323 (331); BVerfGE 23, 127 (132); BVerfGE 25, 269 (285); vgl. Schmidhäuser, NJW 1975, 1807 (1807 f.); Wessels/Beulke, Strafrecht. Allg. Teil, 2001, Rn. 396; s. zudem Kaufmann, Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: Warda u. a. (Hrsg.), Festschrift für R. Lange, 1976, S. 27 ff. (S. 27), der als weitere Ausprägung des Schuldgrundsatzes die Kongruenz zwischen Unrecht und Schuld nennt, die Schuld müsse alle Elemente des konkreten Unrechts umfassen. 4 s. Wessels/Beulke, Rn. 394; vgl. Schönke/Schröder-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 12; Jescheck/Weigend, Lehrbuch d. Strafrechts. Allg. Teil, 1996, S. 404 u. 425; vgl. Roxin, Strafrecht. Allg. Teil. Bd. I, 1997, § 19 Rn. 1. 5 Schönke/Schröder-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 118; vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht. Allg. Teil. Teilbd. 1, 1992, § 30 Rn. 1.

II. Die strafrechtliche Schuld als Vorwerfbarkeit der Willensbildung

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GG geschützten Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen folgern und besitzt somit Verfassungsrang6.

II. Die strafrechtliche Schuld als Vorwerfbarkeit der Willensbildung Setzt die Bestrafung eines Täters somit seine Schuld voraus, so stellt sich die Frage nach dem Begriff der Schuld bzw. nach den Voraussetzungen, unter denen ein schuldhaftes Handeln anzunehmen ist. Eine gesetzliche Definition des Begriffs der Schuld liegt nicht vor7. Die herrschende Auffassung in der Lehre und Wissenschaft sieht in der strafrechtlichen Schuld eine Willensschuld, die in der Feststellung besteht, dass der Täter seinen Willen – gemessen an den Anforderungen des Rechts – fehlerhaft gebildet hat8. Die Schuld ist somit die Vorwerfbarkeit der Willensbildung9. Diese Deutung entspricht auch den Ansichten der Rechtsprechung, wie sich den grundlegenden Sätzen der Entscheidung des BGH für die Behandlung des Verbotsirrtums entnehmen lässt: „Strafe setzt Schuld voraus, Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden (. . .)“10.

Eine entsprechende Deutung des Schuldurteils zieht allerdings die Schlussfolgerung nach sich, dass ein strafrechtlicher Schuldvorwurf zwingend nur unter zwei Grundvoraussetzungen erhoben werden kann. 6

s. LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 65; Haft, Strafrecht. Allg. Teil, 1998, S. 121. Das StGB verwendet zwar in einer Reihe von Vorschriften (insb. §§ 46, 17 ff.) den Begriff „Schuld“, allerdings ohne ihn näher zu bestimmen. 8 Vgl. SK-Rudolphi, Vor § 19 Rn. 1; Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, 1969, S. 5. 9 Vgl. Jescheck/Weigend, S. 404; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 1969, S. 139; vgl. Tröndle/Fischer, Vor § 13 Rn. 28; diese Deutung der Schuld beruht auf dem von Frank (Über den Aufbau des Schuldbegriffs, 1907) begründeten sog. normativen Schuldbegriff, der den im 19. Jahrhundert vorherrschenden psychologischen Schuldbegriff ablöste. Der normative Schuldbegriff sieht in der Schuld das Urteil der Umwelt, dass der Täter sich pflichtwidrig verhalten habe, obwohl von ihm in seiner Lage Gesetzestreue hätte verlangt werden können. Dadurch ist die Schuld aus einem subjektivpsychologischen Vorgang zu einem objektiven Wertungsurteil geworden, s. zu dieser Entwicklung Maurach/Zipf, § 30 Rn. 15 ff.; s. auch dort § 30 Rn. 8 die Zusammenfassung der Begriffsbestimmungen mehrerer Autoren. 10 BGHSt 2, 194 (200). 7

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2. Kap.: Die Bedeutung für den strafrechtlichen Schuldvorwurf

1. Die menschliche Willensfreiheit als Grundvoraussetzung Der Mensch muss zunächst überhaupt die Fähigkeit besitzen, sich frei entscheiden zu können, d. h. in der Lage sein, seinen Willen so zu bestimmen, wie es von ihm erwartet wird. Die menschliche Willensfreiheit bildet folglich die Grundlage eines jeden strafrechtlichen Schuldvorwurfs11. Ihre Existenz ist jedoch nicht unumstritten, es stehen sich in dieser Frage zwei Positionen gegenüber: Während der Indeterminismus den menschlichen Willen als absolut frei ansieht, weshalb dem Menschen die Fähigkeit gegeben sei, ohne Einschränkung zwischen Recht und Unrecht zu wählen, hält der Determinismus das menschliche Verhalten dagegen für kausalgesetzlich restlos festgelegt, weshalb das Verbrechen als zwangsläufiges Produkt von Anlage und Umwelt erscheint12. Da letztlich weder ein Beweis der einen noch der anderen Auffassung möglich ist, muss sich das Strafrecht entsprechend mit der Erkenntnis begnügen, dass das Prinzip der Verantwortlichkeit des sittlich reifen und seelisch gesunden Menschen eine unumstößliche Realität unserer sozialen Existenz ist13. 2. Erforderlichkeit der Kenntnis von Recht und Unrecht Neben der grundlegenden Fähigkeit, sich frei entscheiden zu können, setzt Schuld in dem genannten Sinne weiterhin die Möglichkeit des Täters voraus, sich auch richtig entscheiden zu können. Eine solche Möglichkeit besitzt der Täter lediglich unter der logischen Voraussetzung, dass er zum Zeitpunkt seiner Tat wusste oder wenigstens hätte wissen können, wie er seinen Willen zu bestimmen hatte. Er muss sein Handeln als etwas „Nicht-Sein-Sollendes“ erkannt 11 Vgl. Haft, S. 121 f.; Jescheck/Weigend, S. 407 f.; Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 6; s. zudem die Ausführungen bei Welzel, S. 139: „Nur das, wofür der Mensch willentlich etwas kann, kann ihm zur Schuld vorgeworfen werden. Seine Gaben und Anlagen – alles das, was der Mensch nur ,ist‘, – mögen wertvoll oder minderwertig sein (. . .), aber nur das, was er aus ihnen gemacht hat oder wie er sie eingesetzt hat, im Vergleich zu dem, was er aus ihnen hätte machen oder wie er sie hätte einsetzen können und sollen, nur das kann ihm als ,Verdienst‘ zugerechnet oder als ,Schuld‘ vorgeworfen werden“. 12 s. zu beiden Positionen die Ausführungen bei Jescheck/Weigend, S. 407 ff. sowie Haft, S. 121 f. 13 Vgl. Wessels/Beulke, Rn. 123; s. auch Jescheck/Weigend, S. 410 ff., die darauf verweisen, dass die seelischen Vorgänge, die der Willensbildung zugrunde liegen, nicht einfach wie der Blutdruck oder die Atmung den Regeln der Natur folgten; die Bestimmbarkeit des Handelns beruhe auf der Fähigkeit des Menschen, die auf ihn einwirkenden Antriebe zu kontrollieren und seine Entscheidung nach Sinngehalten, Werten und Normen auszurichten; Stratenwerth, Strafrecht. Allg. Teil I, 2000, Rn. 513 gibt zu bedenken, es liege allerdings auf der Hand, „dass die strafrechtliche Schuld (. . .) zu wirklicher Schuld bestenfalls im Verhältnis der Analogie“ stehe; Roxin, Strafrecht, § 19 Rn. 37 bezeichnet die Freiheitsannahme als „normative Setzung“, als soziale Spielregel.

III. Die Verbotsirrtumsregelung des § 17 StGB

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haben oder zumindest als ein solches haben erkennen können14. Der BGH führt in seiner bereits genannten Entscheidung diesbezüglich aus: „Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht entscheidet, ist die Kenntnis von Recht und Unrecht. Wer weiß, dass das, wozu er sich in Freiheit entschließt, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut. (. . .) Mängel im Wissen sind bis zu einem gewissen Grad behebbar“15.

Somit setzt Strafe in einem Schuldstrafrecht entweder aktuelles oder zumindest potentielles Unrechtsbewusstsein voraus16. Ein solches erweist sich letztlich als „Kernstück des Schuldvorwurfs“, denn die Durchführung der Tat trotz eines entsprechenden Unrechtsbewusstseins kennzeichnet gerade den Mangel an Rechtsgesinnung, der dem Täter vorgehalten wird17. Diese Erkenntnis ist dabei keineswegs selbstverständlich. Noch zu Zeiten des Reichsgerichts wurde erheblich über die Bedeutung des Unrechtsbewusstseins eines Täters für den strafrechtlichen Schuldvorwurf gestritten. Das Reichsgericht hatte – im Gegensatz zu der späteren Position des BGH – stets daran festgehalten, dass „weder das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit“ noch „auch nur die Möglichkeit dieses Bewusstseins zur Strafbarkeit, genauer: zur Schuld, erforderlich“ sei18.

III. Die Verbotsirrtumsregelung des § 17 StGB Das Erfordernis des aktuellen oder zumindest potentiellen Unrechtsbewusstseins als Voraussetzung der Bestrafung eines Täters ist seit dem Jahre 1975 in der Verbotsirrtumsregelung des § 17 StGB19 gesetzlich normiert. Der Wortlaut der Norm besagt: „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.“

Der unvermeidbare Verbotsirrtum ist durch den Gesetzgeber somit als Schuldausschließungsgrund ausgestaltet. Nach überwiegender Ansicht bringt die Regelung des § 17 StGB daher zugleich Klarheit in einem weiteren, im Zusammenhang mit dem Unrechtsbewusstsein stehenden, Streitpunkt. Denn während spätestens seit der genannten Verbotsirrtumsentscheidung des BGH unzweifel14

Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 6. BGHSt 2, 194 (201). 16 s. zur Bestimmung dieser Begrifflichkeiten Drittes Kap. I. u. Viertes Kap. I. 17 Vgl. Jescheck/Weigend, S. 452. 18 BGHSt 2, 194 (198 f.); Schmidhäuser, NJW 1975, 1807 (1808); vgl. RGSt 4, 379 (380) u. RGSt 19, 298 (301); zur Rechtsprechung des RG s. auch Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 5 ff. sowie Jakobs, Strafrecht. Allg. Teil, 1993, S. 543 ff. 19 Eingefügt durch das 2. StrRG (Ber. BT-Drs. V/4095, 9; Prot. V/1637, 1739, 1782 ff., 1860). 15

46

2. Kap.: Die Bedeutung für den strafrechtlichen Schuldvorwurf

haft feststand, dass dem Unrechtsbewusstsein des Täters im Rahmen des strafrechtlichen Schuldvorwurfs eine erhebliche Bedeutung beizumessen ist, so bestand und besteht weiterhin Uneinigkeit hinsichtlich seines dogmatischen Standortes und der rechtlichen Konsequenzen seines Fehlens. Nach der Vorsatztheorie ist das Unrechtsbewusstsein als konstitutives Vorsatzelement aufzufassen und eine vorsätzliche Tatbegehung entsprechend im Falle seines Fehlens grundsätzlich ausgeschlossen, während die Schuldtheorie dagegen das Unrechtsbewusstsein als selbständiges Element der Schuld begreift und sein Fehlen somit niemals als vorsatzrelevant, sondern lediglich als schuldrelevant ansieht20. Die Norm des § 17 StGB wird überwiegend – diese Auffassung dient auch als Grundlage der vorliegenden Ausführungen – als Positivierung der Schuldtheorie aufgefasst, so dass der Vorsatztheorie nunmehr verfassungskonformes Gesetzesrecht entgegensteht und ihr somit der Boden entzogen ist21.

IV. Materiell- und prozessrechtliche Aspekte des Unrechtsbewusstseins Das Unrechtsbewusstsein eines Täters gehört aus materiell-rechtlicher Sicht zu den Voraussetzungen, die in der Wirklichkeit des strafrechtlich relevanten Handelns grundsätzlich evident zu sein scheinen22. Insbesondere bei Taten, die den „Kernbereich des Strafrechts“, also jenen Bereich der grundlegenden – das ethische Minimum – betreffenden Normen tangieren, erscheinen Überlegungen zu einer Verbotskenntnis des Täters regelmäßig überflüssig23. Das Unrechtsbewusstsein wird in diesen Fällen als juristische Selbstverständlichkeit angesehen, sofern nicht exzeptionelle Bedingungen vorliegen, die den im Normalfall gegebenen Rahmen gänzlich übersteigen24.

20 s. zu den genannten Theorien und ihren weiteren Nuancierungen u. a. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 1 f.; Schünemann, NJW 1980, 735 (736 ff.); Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 2001, § 15 Rn. 33 f. 21 So u. a. Tröndle/Fischer, § 17 Rn. 2; Schönke/Schröder-Cramer, § 17 Rn. 3; Lackner/Kühl, § 17 Rn. 1; SK-Rudolphi, § 17 Rn. 1; NK-Neumann, § 17 Rn. 1, LKSchroeder, § 17 Rn. 3; Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 7; a. A. Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (361 ff.), der trotz der Regelung des § 17 StGB weiterhin Raum für die Anwendung der Vorsatztheorie sieht; die Verfassungsmäßigkeit des § 17 StGB hat das BVerfG überzeugend bestätigt, s. BVerfGE 41, 121. 22 Vgl. zu diesem Aspekt Endruweit/Kerner, Unrechtsbewusstsein und soziale Norm, in: Hassemer/Lüderssen (Hrsg), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts. Bd. III. Strafrecht, 1978, S. 67 ff. (S. 97). 23 s. zu der traditionellen Bedeutungslosigkeit des Verbotsirrtums im „Kernbereich“ des Strafrechts Krauß, Das Unrechtsbewusstsein. Studie an zwei Gerichtsurteilen, in: Bönner/de Boor (Hrsg.), Unrechtsbewusstsein. Aus der Sicht des Täters. Aus der Sicht des Richters, 1982, S. 30 ff. (S. 50 f.); ebenso Timpe, GA 1984, 51 (53). 24 Vgl. Stratenwerth, Strafrecht, § 7 Rn. 28.

IV. Materiell- und prozessrechtliche Aspekte

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Die angeführten materiell-rechtlichen Erwägungen lassen sich bruchlos hinsichtlich der Bedeutung des Unrechtsbewusstseins auf prozessrechtlicher Ebene fortführen. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet in diesem Zusammenhang zunächst § 244 Abs. 2 StPO. Nach dieser Norm hat das Gericht „zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind“. Es hat alle Tatsachen zu erheben, die „die Rekonstruktion eines Lebenssachverhalts, die Gewinnung eines der vergangenen Wirklichkeit adäquaten Vorstellungsinhalts“ ermöglichen25. Das Unrechtsbewusstsein ist eine „innere“ Tatsache, die inzwischen – wie soeben dargestellt – für die richterliche Entscheidung unstreitig von erheblicher Relevanz ist26. Daher müsste sich die gerichtliche Beweiserhebung entsprechend stets auch auf das aktuelle oder potentielle Unrechtsbewusstsein des Handelnden erstrecken. Dennoch wird sich dem Aspekt eines fehlenden Unrechtsbewusstseins des Täters seitens der Gerichte in der Mehrzahl der Fälle nicht gewidmet, sondern ohne nähere Prüfung von seinem Vorhandensein ausgegangen27. Eine diesbezüglich intensivere Erörterung, die insbesondere auch in der Urteilsbegründung als geboten anzusehen ist, erfolgt lediglich unter den Voraussetzungen, dass sich der Täter entweder ausdrücklich auf ein fehlendes Unrechtsbewusstsein beruft oder aber bestimmte Umstände ein solches nahe legen28. Der Grund liegt wiederum in der genannten Annahme, dass sich die Schuld eines Täters regelmäßig von selbst versteht, das Vorliegen des Unrechtsbewusstseins daher als evident erscheint. Es dürfte offenkundig sein, dass die in den „Mauerschützen“-Fällen gegebenen Gesamtumstände – obgleich der Berührung des erwähnten „Kernbereichs“ mittels der tödlichen Schüsse – besondere Bedingungen darstellten, die eine intensive Beschäftigung mit dem Aspekt des Unrechtsbewusstseins dieser Menschen zwingend gebieten.

25 KK-Herdegen, § 244 Rn. 18; vgl. ebenfalls Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 2003, § 244 Rn. 11 ff. 26 Eine Unterscheidung zwischen „inneren“ und „äußeren“ Tatsachen kennt die Regelung des § 244 Abs. 2 StPO nicht, vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 104. 27 Vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 106; s. auch Rudolphi, Das virtuelle Unrechtsbewusstsein als Strafbarkeitsvoraussetzung im Widerstreit zwischen Schuld und Prävention, in: Bönner/de Boor (Hrsg.), Unrechtsbewusstsein. Aus der Sicht des Täters. Aus der Sicht des Richters, 1982, S. 1 ff. (S. 24 f.). 28 Vgl. Endruweit/Kerner, S. 99; vgl. Meyer-Goßner, § 267 Rn. 7; NK-Neumann, § 17 Rn. 106.

Drittes Kapitel

Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten Es bedarf zunächst der Erörterung, ob die DDR-Grenzsoldaten zum Zeitpunkt der Abgabe ihrer tödlichen Schüsse auf die flüchtenden Menschen an der Mauer mit aktuellem Unrechtsbewusstsein gehandelt haben könnten.

I. Begriffsbestimmung und Grundlagen Das aktuelle Unrechtsbewusstsein ist das bei Begehung der Tat tatsächlich vorhandene Unrechtsbewusstsein des Täters1. Es ist gegeben, sofern dem Täter bei Ausführung der Tat das Unrecht seines Handelns klar vor Augen steht2 und ihm das Pflichtmotiv somit in einer Weise deutlich ist, dass er seinen Willensentschluss unmittelbar an ihm ausrichten kann3. Das aktuelle Unrechtsbewusstsein besitzt demnach keine normativen Elemente aus dem Reich der Wertungen (der Potentialität), es ist allein im psychisch-intellektuellen Bereich anzusiedeln4. Entscheidend ist das momentane seelische Erleben des Täters zum Zeitpunkt der Tatausführung5. Allerdings ist hinsichtlich der somit im Rahmen des § 17 S. 1 StGB erforderlichen zeitlichen Koinzidenz von Tatbegehung und Unrechtsunkenntnis anzumerken, dass nach der herrschenden Strafrechtslehre einmal getroffene Wertentscheidungen, insbesondere solche von großer Bedeutung, gleichsam gespeichert und in einer späteren Entscheidungssituation in Sekundenbruchteilen abgerufen werden können6. Es genügt in diesem Sinne, dass der Täter von der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens in einer Art weiß, die ihm eine Aktualisierung dieses 1

Kienapfel, Strafrecht. Allg. Teil, 1984, S. 264; vgl. Maurach/Zipf, § 37 Rn. 10. Wessels/Beulke, Rn. 429; vgl. Jescheck/Weigend, S. 455. 3 Rudolphi, Das virtuelle Unrechtsbewusstsein, S. 14. 4 Deckers, Unrechtsbewusstsein, in: Bönner/de Boor (Hrsg.), Unrechtsbewusstsein. Aus der Sicht des Täters. Aus der Sicht des Richters, 1982, S. 58 ff. (S. 61), der auf die Abgrenzung des aktuellen Unrechtsbewusstseins von der in § 20 StGB geregelten Unrechtseinsichtsfähigkeit hinweist; bei letzterer stehe der biologische Befund im Vordergrund, es gehe um Fälle, in denen der Täter aufgrund eines psychischen oder physischen Ausnahmezustandes (einer erheblichen seelischen Abnormität) nicht in der Lage sei, das Unrecht eigenen Handelns zu erkennen. 5 Vgl. Schmidhäuser, Strafrecht, S. 411 ff. 6 Vgl. SK-Rudolphi, § 17 Rn. 14 f.; Krauß, S. 39. 2

I. Begriffsbestimmung und Grundlagen

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Wissens ohne besondere Erinnerungsleistung zu jeder Zeit möglich macht, ihm das Wissen vom Verbotensein seines Tuns folglich in „Fleisch und Blut“ übergegangen ist7. Daher erwachsen bezüglich der DDR-Grenzsoldaten, sollten sie insgesamt zu dem Werturteil der Unrechtmäßigkeit tötungsgeeigneter Schüsse auf fliehende Mitbürger gelangt sein, auch keine Schwierigkeiten aus der Überlegung, ob es den Schützen in der Stresssituation und der kurzen Zeit des Aufeinandertreffens mit den Flüchtlingen überhaupt möglich gewesen ist, tatsächlich über das Unrecht ihrer Schüsse zu reflektieren, sie seelisch wirklich als Unrecht zu erleben8. Die Beschäftigung mit der Frage, ob ein Täter zum Zeitpunkt der Tatausführung ein entsprechendes aktuelles Unrechtsbewusstsein besaß oder ihm ein solches fehlte, bildet nach der Struktur der allgemeinen Irrtumsvorschrift des § 17 StGB den Ausgangspunkt der Überlegungen. Denn § 17 StGB beschreibt den Verbotsirrtum als „Fehlen der Einsicht, Unrecht zu tun“, woraus ersichtlich ist, dass die Begrifflichkeiten aktuelles Unrechtsbewusstsein und Verbotsirrtum komplementär sind: Der Täter handelt dann und nur dann im Verbotsirrtum, sofern ihm bei Begehung der Tat das aktuelle Unrechtsbewusstsein fehlt9. Liegt bereits ein aktuelles Unrechtsbewusstsein des Täters zum Zeitpunkt seines Handelns vor, so scheidet ein Verbotsirrtum und damit ein möglicherweise nicht volldeliktisches Handeln des Täters auf jeden Fall aus. Überlegungen zur möglichen Vermeidbarkeit fehlender Unrechtskenntnis erübrigen sich dementsprechend10.

7 SK-Rudolphi, § 17 Rn. 14; in diesem Fall ist dem Täter nach den Erkenntnissen der Wahrnehmungs- und Bewusstseinspsychologie mit dem Bewusstsein vom äußeren Handlungsgeschehen auch das Bewusstsein von der Rechtswidrigkeit des Geschehens mitgegeben. Dieses psychische Phänomen wird in der Literatur verschiedenartig umschrieben, vgl. Platzgummer, Die Bewusstseinsform des Vorsatzes. Eine strafrechtsdogmatische Untersuchung auf psychologischer Grundlage, 1964, S. 81 ff., der es als Mitbewusstsein bezeichnet; Schmidhäuser, Über Aktualität und Potentialität des Unrechtsbewusstseins, in: Geerds/Naucke (Hrsg.), Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 317 ff. (327 ff.) spricht vom sachgedanklichen Unrechtsbewusstsein; Schewe, Bewusstsein und Vorsatz, 1967, S. 135 ff. nennt es das „Orientiert-Sein“ über das Unrechtmäßige des eigenen Verhaltens; vgl. zudem Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 26. 8 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt Krauß, S. 39, dessen Überlegungen den Fall Weinhold (Urteil der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Hagen v. 01. Dezember 1978, 31 Ks 51 Js 743/77 [47/72]) betreffen, in dem der Täter bei seiner Flucht aus der ehemaligen DDR zwei Grenzsoldaten erschoss. Ein psychologischer Gutachter äußerte in diesem Fall Bedenken bezüglich des Unrechtsbewusstseins des Täters in der Art, dass dieser in den Sekunden der Konfrontation mit den Soldaten die notwendige Güterabwägung nicht habe vornehmen und somit entsprechende Irrtümer nicht habe korrigieren können. 9 Vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 9. 10 s. insgesamt zur Gliederung des Vorgehens innerhalb der Verbotsirrtumsproblematik des § 17 StGB Zaczyk, JuS 1990, 889 (891).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

II. Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten in der Rechtsprechung des BGH Der Aspekt des aktuellen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten sowie die damit in Zusammenhang stehende Frage nach dem Vorliegen eines Verbotsirrtums wird durch den BGH in seinen zu dieser Problematik ergangenen Urteilen in zweifacher Hinsicht berücksichtigt. 1. Anwendung des § 5 Abs. 1 WStG Das Gericht weist zunächst auf die Stellung der Schützen als untergebene Soldaten in einer militärischen Hierarchie hin und zieht in Betracht, dass ihnen das Unrecht ihres Handelns aufgrund des Bestehens einer entsprechenden, die Tötung eines Grenzflüchtlings billigenden, Befehlslage verschlossen geblieben sein könnte11. Es wird auf die Norm des § 5 Abs.1 WStG zurückgegriffen, die im Verhältnis zur entsprechenden Norm des § 258 Abs.1 StGB/DDR die mildere Regelung war12. Nach § 5 Abs.1 WStG trifft den auf Befehl handelnden Untergebenen für eine strafbare rechtswidrige Tat nur dann eine Schuld, „wenn er erkennt, dass es sich bei dem ihm Befohlenen um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist“13. In der Norm ist nach überwiegender Auffassung ein Entschuldigungsgrund sui generis zu sehen, der zugleich eine Sonderregelung für den Verbotsirrtum darstellt, der Täter werde – wie beim Vorliegen eines Verbotsirrtums – von dem Normbefehl nicht erreicht14. Der BGH vermochte in seinen Urteilen, ebenso wie die Gerichte der Vorinstanzen, den Soldaten insgesamt die Einlassung nicht zu widerlegen, sie hätten die Rechtswidrigkeit der befohlenen Schüsse und somit das Unrecht des Befehls nicht erkannt. So gelangt der BGH in seinem ersten „Mauerschützen“-Urteil zu dem Ergebnis, dass die Soldaten „bei ihrer Tat nicht erkannt haben, dass die Ausführung des Befehls gegen Strafgesetze verstieß“15. In weiteren Fällen fin11

Zu der bestehenden Befehlslage im Einzelnen s. Drittes Kap. V. 2. c). s. BGHSt 39, 1 (32); BGHSt 39, 168 (185 f.). 13 Die Norm rechtfertigt sich aus dem, in entsprechenden Situationen bestehenden, besonderen Motivationsdruck des Untergebenen einerseits und der Hauptverantwortung des Anordnenden andererseits und somit aus Faktoren, die der Absicherung der unverzichtbaren Befehlsgewalt im militärischen Bereich dienen, s. NK-Neumann, § 17 Rn. 98. 14 Vgl. Ambos, JR 1998, 221 (221); Jescheck/Weigend, S. 495; s. auch Jakobs, Strafrecht, S. 566; Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 73; lediglich von einem Schuldausschließungsgrund eigener Art ohne Betonung eines Zusammenhangs mit der Norm des § 17 StGB sprechen u. a. Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetz, 1988, § 5 Rn. 1 und Tröndle/Fischer, Vor § 32 Rn. 14. 15 s. BGHSt 39, 1 (32); vgl. auch als Vorinstanz LG Berlin, NJ 1992, 419 (421). 12

II. Das Unrechtsbewusstsein in der Rechtsprechung des BGH

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den sich die gerichtlichen Aussagen, es könne nicht angenommen werden, dass der angeklagte Schütze positiv gewusst habe, dass der Befehl gegen die Strafgesetze verstoßen habe, weil er sich nach den tatsächlichen Feststellungen „im Verbotsirrtum befunden hat“16 oder „möglicherweise habe er nicht positiv erkannt, dass er einem rechtswidrigen Befehl folgte“17. 2. Vorliegen eines Verbotsirrtums nach § 17 StGB Des Weiteren zieht der BGH in Erwägung, dass den Schützen das Unrecht ihres Handelns nicht vor Augen gestanden haben könnte, weil sie geglaubt hätten, einen Grenzflüchtling zur Verhinderung der Flucht auch dann, dem Befehl entsprechend, töten zu müssen, wenn der Befehl rechtswidrig gewesen ist. Das Gericht stellt wiederum in seinem ersten zu dieser Problematik ergangenen Urteil fest, es sei „aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass der Tatrichter angenommen hat, dieser Irrtum stelle als Annahme eines nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes einen Verbotsirrtum dar“18, in einem weiteren Fall ist der BGH der Ansicht, dass dem Angeklagten nach den Urteilsgründen nicht widerlegt werden könne, dass er sein Handeln für nicht rechtswidrig gehalten habe19. Die zudem in Betracht zu ziehende Möglichkeit, dass den Grenzsoldaten das Unrecht ihres Handelns nicht vor Augen gestanden haben könnte, weil sie die Tat als – durch § 27 GrenzG/DDR gedecktes – Recht angesehen haben20, wird durch den BGH nicht explizit angesprochen. Ein Irrtum dieser Art wäre allerdings, ebenso wie die zuvor genannte Fehlvorstellung, als Annahme eines nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes im Rahmen des Verbotsirrtums nach § 17 StGB zu behandeln, so dass eine Änderung der rechtlichen Bewertung ohnehin nicht eingetreten wäre. 3. Fehlende Begründung des BGH für seine Annahmen Gelangt der BGH somit zu dem Ergebnis, dass die DDR-Grenzsoldaten ihre tödlichen Schüsse ohne aktuelles Unrechtsbewusstsein und entsprechend in einem Verbotsirrtum abgegeben haben, so wäre von Interesse, auf welchem Wege und aufgrund welcher Gesichtspunkte das Gericht zu diesem Urteil gelangt ist. 16 So z. B. die Argumentation in BGHSt 39,168 (188), die zugleich zeigt, dass auch der BGH die Norm des § 5 WStG als Sonderregelung für den Verbotsirrtum nach § 17 StGB ansieht. 17 BGH, NJW 1995, 2728 (2729). 18 BGHSt 39, 1 (35). 19 BGHSt 39, 168 (190); vgl. auch BGH, NJW 1995, 2728 (2729). 20 s. zu dieser Möglichkeit Küpper/Wilms, ZRP 1992, 91 (94).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Der BGH lässt in seinen Entscheidungen allerdings jegliche Begründung für seine Annahmen vermissen. Es wird weder auf die maßgeblichen Kriterien eingegangen, nach denen in den Fällen der Grenzsoldaten überhaupt das Vorliegen eines Verbotsirrtums zu beurteilen ist, noch werden die Umstände herausgestellt, die auch tatsächlich für das Vorliegen der entsprechenden Kriterien bei den Grenzsoldaten sprechen. Stattdessen geht der BGH ohne weiteres zur Prüfung der Vermeidbarkeitskriterien des Verbotsirrtums über, und zwar im Rahmen des § 5 Abs. 1 WStG ob der Strafrechtsverstoß der Schießbefehle für die DDR-Grenzsoldaten offensichtlich gewesen ist, bzw. im Rahmen des § 17 StGB ob sie ihren Verbotsirrtum hätten vermeiden können21. Ein Aufzeigen der Aspekte und Umstände, die aus Sicht des BGH ein fehlendes aktuelles Unrechtsbewusstsein der Soldaten an der Grenze als glaubhaft und plausibel haben erscheinen lassen, wäre dabei in mehrerer Hinsicht zu erwarten gewesen. Zum einen sei zunächst noch einmal darauf hingewiesen, dass die Rechtswidrigkeit und damit das Unrecht der Schüsse seitens des BGH – wie dargestellt – damit begründet wird, dass der einzige in Betracht zu ziehende Rechtfertigungsgrund, die Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR, einen unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit i. S. Radbruchs darstellt und somit als extremes Unrecht bei der Rechtsfindung außer Betracht zu bleiben hat22. Zwar war der genaue Inhalt und Gegenstand des Unrechtsbewusstseins noch nicht Bestandteil der vorliegenden Erörterungen, jedoch ist durch § 17 S. 1 StGB klargestellt, dass das Unrecht einer Handlung, in den Fällen der „Mauerschützen“ somit das genannte extreme Unrecht, den Bezugspunkt des Unrechtsbewusstseins bildet. Anhand der diesbezüglichen Feststellungen des BGH drängt sich die Frage auf, ob es tatsächlich begründbar ist, den handelnden Grenzsoldaten bei Ausführung ihrer Taten ohne weiteres das aktuelle Unrechtsbewusstsein und damit die Einsicht in das Unrecht ihres Handelns abzusprechen. Robert Alexy hat festgestellt, dass „extremes Unrecht in aller Regel auch evidentes Unrecht“ ist, es ist „häufig leichter zu erkennen, als das Unrecht in gewöhnlichen Strafrechtsfällen.“23 Auch Arthur Kaufmann betont, dass man sich, je schwerer das gesetzliche Unrecht ist, das von Staats wegen begangen wurde, umso weniger seiner Kenntnis entziehen könne24. Dementsprechend drängt sich die Frage auf, ob den Grenzsoldaten der unerträgliche Widerspruch 21

s. dazu Näheres im Vierten Kap. II. 1. u. 2. Vgl. Erstes Kap. II. 23 Alexy, Mauerschützen, S. 34; vgl. zudem Roos, S. 270. 24 Vgl. Kaufmann, NJW 1995, 81 (84), der als Begründung für diesen Umstand anführt, dass die Feststellung extremen Unrechts mittels eines „negativen Prinzips“ erfolge, man müsse nicht genau in allen Einzelheiten wissen, was Gerechtigkeit sei, sondern lediglich was Gerechtigkeit nicht sei, nämlich eine der Gerechtigkeit in unerträglichem Maß widerstreitende Norm. 22

II. Das Unrechtsbewusstsein in der Rechtsprechung des BGH

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ihres Handelns zur Gerechtigkeit überhaupt entgangen sein konnte oder ob anzunehmen sein wird, dass sich ihnen das Unrecht des Grenzgeschehens zum Tatzeitpunkt bereits in aktueller Form geradezu aufdrängen musste. Die Argumentation des BGH weist in diesem Punkt ein Missverhältnis auf, das in der Annahme eines offensichtlich groben Verstoßes gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit einerseits, andererseits jedoch der ohne weiteres erfolgenden Annahme eines fehlenden aktuellen Unrechtsbewusstseins der „Mauerschützen“ andererseits besteht. Das Bestehen dieses Missverhältnisses manifestiert sich zudem in dem Umstand, dass der BGH selbst in einer früheren Entscheidung herausgestellt hat, in welchem Verhältnis seiner Ansicht nach die Schwere des Unrechts einer Handlung und das diesbezügliche Bewusstsein der Täter zueinander stehen. Es sei „bei ganz offensichtlich groben Verstößen gegen den Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit (. . .) nicht nur die Rechtmäßigkeit einer staatlichen Maßnahme zu verneinen“, sondern es sei „die Gröblichkeit und Offensichtlichkeit der Verletzung (. . .) regelmäßig auch ein sicheres Anzeichen dafür (. . .), ob diejenigen die die Maßnahme durchführten oder förderten, im Bewusstsein der Widerrechtlichkeit handelten“25. Zum anderen weist Ulfried Neumann darauf hin, dass die Behandlung des Unrechtsbewusstseins in einem Unrechtsstaat ohnehin besondere Probleme bereite, deren Ursache in dem in einem solchen Staatsgefüge typischerweise bestehenden „Auseinanderfallen von Gesetz und Recht, formeller Straffreiheit und materieller Strafwürdigkeit, gesetzlichem und übergesetzlichem Strafunrecht in elementaren Bereichen des Kernstrafrechts“ liege. Dieser Umstand könne in Fällen systemkonform handelnder Täter stets zu einer Berufung auf fehlendes Unrechtsbewusstsein mit dem Argument berechtigen, man habe an die Rechtmäßigkeit seines Handelns nach den Normen des Unrechtsstaates geglaubt26. Ein solcher Denkansatz erfordert natürlich als Voraussetzung die grundsätzliche Anerkennung des Bestehens einer entsprechenden Divergenz. Sofern dies nicht der Fall ist, sondern lediglich das positive Recht als einzig relevante Entscheidungsgrundlage angesehen wird, wird in entsprechenden Fällen regelmäßig bereits die Rechtswidrigkeit des Handelns entfallen und sich somit auch jegliche Erörterungen betreffend des Unrechtsbewusstseins erübrigen. Bei Anerkennung einer entsprechenden Divergenz jedoch, wie sie in den Fällen der „Mauerschützen“ begründbar erscheint – dies wurde im Rahmen der Rechtswidrigkeitserörterungen bereits aufgezeigt27 – muss vom Handelnden eine schlüssige Darlegung verlangt werden, warum er die Normen oder Befehle des Unrechtsregi25 s. BGHSt 2, 234 (239), dessen Entscheidungsgrundlage zwar nationalsozialistisches Unrecht gewesen ist, weshalb jedoch hinsichtlich der Übertragung dieser Grundaussage auf das mit den tödlichen Schüssen in der DDR begangene Unrecht keinerlei Bedenken ersichtlich sind. 26 Vgl. zu dieser Problematik NK-Neumann, § 17 Rn. 99. 27 Erstes Kap. II.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

mes als verbindlich und sein Handeln demnach als gerechtfertigt angesehen hat28. Die soeben dargestellten Aspekte lassen somit eine intensivere Betrachtung bereits des aktuellen Unrechtsbewusstseins der Mauerschützen als unerlässlich erscheinen.

III. Die Feststellung des aktuellen Unrechtsbewusstseins eines Täters In diesem Zusammenhang stellt sich die grundsätzliche Frage, auf welchem Wege sich überhaupt eine Beurteilung darüber vollziehen kann, ob ein Täter zum Zeitpunkt seines Handelns mit aktuellem Unrechtsbewusstsein tätig wurde oder ob ihm ein solches fehlte. Es ist von Interesse, anhand welcher Kriterien und Aspekte sich ein Beurteilender überhaupt in die Lage versetzt sieht, einen plausiblen Schluss auf das Vorliegen einer Verbotskenntnis in der Person des Täters zu ziehen. 1. Das Bestehen erkenntnistheoretischer Probleme Die Beantwortung dieser wesentlichen Frage offenbart generelle erkenntnistheoretische Probleme, die sich für einen Beurteilenden und somit auch für ein Gericht im Rahmen der Feststellung des aktuellen Unrechtsbewusstseins eines Täters ergeben. Bei diesen Problemen handelt es sich um solche, die in der Natur des aktuellen Unrechtsbewusstseins liegen. Es ist eben, wie bereits dargestellt, dem psychisch-intellektuellen Bereich zuzuordnen29 und stellt somit eine innere Tatsache dar, die gegeben oder auch nicht gegeben ist und die sich jedenfalls „nicht irgendwie sinnlich erfahrbar aus objektiven Gegebenheiten der realen Dingwelt erschließt“30. Streng genommen steht die beurteilende Person somit vor der Aufgabe, einen das psychische Innenleben des Täters betreffenden Vorgang zu erkennen und zu würdigen. Dieses Unterfangen ist natürlich zwangsläufig durch die grundlegende Einschränkung geprägt, dass Bewusstseinsinhalte nur in begrenztem Umfang und mittelbar der Erkenntnis zugänglich sind und hat sich dementsprechend mit dem Umstand abzufinden, dass niemand „mit Sicherheit wissen (kann), was andere Leute ,im Bewusstsein haben‘“31. Trotz dieser Feststellung ist allerdings davon auszugehen, dass bestimmte Verhaltens-, Denk- und Reaktionsweisen durchaus Rückschlüsse im Hinblick 28 29 30 31

Vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 100. s. Drittes Kap. I. s. Endruweit/Kerner, S. 102. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1987, S. 341.

III. Die Feststellung des aktuellen Unrechtsbewusstseins eines Täters

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auf ihre rechtspsychologische Bedeutung zulassen, wenn sich auch die auf diesem Wege erlangten Erkenntnisse zumeist einer exakten Absicherung entziehen32. Für die vorliegenden Überlegungen bedarf es somit zunächst einer Betrachtung derjenigen Entscheidungshilfen, mit Hilfe derer sich eine stichhaltige Beurteilung über das Vorliegen oder eben Fehlen des aktuellen Unrechtsbewusstseins vornehmen lässt, ohne dass es sich dabei aufgrund mehr oder weniger gewagter Konstruktionen praktisch um eine Fiktion des Beurteilenden handelt33. 2. Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung In diesem Zusammenhang sind zur Vermeidung einer lediglich auf Fiktionen beruhenden Urteilsbildung insbesondere zwei Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung von Bedeutung. a) Kommunikative Festsetzung über das Medium der Sprache Zunächst ist von Relevanz, dass das aktuelle Unrechtsbewusstsein eines Täters letztlich „im Wege retrospektiv nachvollziehender Sinngebung für ein soziales Handeln kommunikativ festgesetzt“ wird, wobei der Prozess „im wesentlichen über das Medium der Sprache“ verläuft und die „Grundlage des Nachvollziehens (. . .) eine verbale Äußerung des Täters über einen subjektiven Sachverhalt“, nämlich über seine innere Beziehung zu der Tat, bildet34. Es ist somit der Versuch zu unternehmen, das Thema Unrechtsbewusstsein eines Täters auf kommunikativem Wege, unter anderem etwa im Rahmen einer differenzierten Befragung über den Sinn des Handelns oder die aus Sicht des Täter vorhersehbaren Konsequenzen einzugrenzen, ohne es als direkt gegebenen und real erkennbaren „Gegenstand“ begreifen zu müssen35. Nach diesen Erkenntnissen wird somit ein besonderes Augenmerk auf die Aussagen ehemaliger Grenzsoldaten über ihre Ansichten und Gedanken betreffend ihres Handelns an der Grenze zu richten sein. Natürlich ist in diesem Zusammenhang der Umstand zu bedenken, dass Aussagen selbstverständlich trügerischen Inhalts sein können, indem sie möglicher32 Vgl. Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, 1982, S. 165. 33 s. hierzu Maurach/Zipf, § 37 Rn. 11, die als Kritik zur strengen Vorsatztheorie, nach der das aktuelle Unrechtsbewusstsein eines Täters als Bestandteil des Vorsatzes ein zwingendes Verbrechensmerkmal darstellt, anführen, dass diese auf das Arbeiten mit Fiktionen angewiesen sei. 34 Endruweit/Kerner, S. 102; vgl. auch NK-Neumann, § 17 Rn. 7. 35 s. zu den Möglichkeiten, Seelisches erkennen zu können, die Hinweise bei Walder, Kriminalistisches Denken, 1996, S. 79 ff.; vgl. zu dem Aspekt einer differenzierten Vernehmung insgesamt Geerds, Vernehmungstechnik, 1976, S. 79 ff.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

weise etwa bewusst unwahr, heuchlerisch oder auch selbsttäuschend getätigt wurden36. Die Aufgabe des Beurteilenden besteht dementsprechend darin, die verbale Äußerung des Täters unter dem Aspekt der Glaubhaftigkeit zu würdigen, wobei ein solches Unterfangen sowohl die Verstehbarkeit als auch die Plausibilität des Gesagten voraussetzt37. Diese Feststellung entspricht der von Karl Engisch hervorgehobenen Einsicht, dass ein Schuldurteil über einen Menschen dort nicht mehr vorgenommen werden kann, „wo unser Verständnis der Person aufhört“38. Allerdings erfordern beide Bedingungen, die Verstehbarkeit ebenso wie die Plausibilität, als Grundlage ein gewisses Vorverständnis, das den Beurteilenden in die Lage versetzt, die ihm gegenüber dargestellten Gegebenheiten „in eines der sozial (. . .) geläufigen oder auch als überhaupt sinnvoll anerkannten ,Muster‘ des Handelns, Wertens oder Denkens einzuordnen“39. Eben dieses Angewiesensein des Beurteilenden auf Vorverständnisse erscheint allerdings in den „Mauerschützen“-Fällen als problematisch. Denn gerade die Einmaligkeit der historischen Situation, die den BGH und damit die bundesdeutsche Rechtsprechung überhaupt in die Situation versetzt hat, über die Schüsse an der Mauer ein strafrechtliches Urteil fällen zu können, wirft die Frage auf, ob ein bundesdeutscher Richter ein solches erforderliches Vorverständnis überhaupt besitzen kann. Die Schwierigkeit der Beurteilung der Geschehnisse an der Mauer besteht gerade auch darin, dass es in der Vergangenheit keine der in den „Mauerschützen“-Fällen vergleichbaren Situationen gegeben hat, die eine Einordnung des Handelns der DDR-Grenzsoldaten in ein sozial geläufiges oder anerkanntes „Muster“ des Handelns überhaupt erst ermöglichen. Es ist fraglich, ob sich in diesem Umstand nicht auch die Gefahr offenbart, dass die Taten der Grenzsoldaten zu sehr unter Zugrundelegung und aus dem Blickwinkel westlicher Beurteilungsmaßstäbe gewürdigt werden, wie sie zwangsläufig in den Personen der Beurteilenden vorherrschen müssen. Ebenso ist wegen dieses Aspekts daran zu denken, dass die Taten aus einer 36

Vgl. Geiger, S. 341. s. Endruweit/Kerner, S. 102. 38 Engisch, ZStW 66 (1954), 339 (363); vgl. auch Kaufmann, Die Parallelwertung in der Laiensphäre. Ein sprachphilosophischer Beitrag zur allgemeinen Verbrechenslehre, 1982, S. 39; vgl. Jaspers, Die Schuldfrage, 1947, S. 17, der den Umstand hervorhebt, dass den anderen niemand richten könne, „es sei denn er richtet ihn in der inneren Verbundenheit, als ob er es selbst wäre“. 39 Endruweit/Kerner, S. 102, die mit entsprechenden Nachweisen hervorheben, dass dieses Angewiesensein des Menschen auf „schon immer“ definierte Situationen zur sinnvollen Erfassung von Phänomenen bereits durch frühe Sozialpsychologen scharf herausgearbeitet worden sei und dass auch die Methodenlehre zeige, dass juristische Auslegung nicht um „Vorverständnisse“ herumkomme und Wirklichkeit „kompromisshaft“ verarbeite; vgl. auch Schünemann, DRiZ 1976, 369 (369 f.), der darauf hinweist, dass ein Richter sich einer Norm mit einer bestimmten Vorstellung von der durch seine Entscheidung herzustellenden Konfliktlösung sowie einem bestimmten Erfahrungshorizont nähere, woraus sich eine verengte und verzehrte Wahrnehmung der Realität ergeben könne. 37

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins

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verengten und verzerrten Wahrnehmung der Realität, wie sie die Grenzsoldaten zum Zeitpunkt der Abgabe ihrer Schüsse vorgefunden haben, beurteilt werden. Zumindest zeigt sich in diesem Zusammenhang, dass eine tiefgreifende Beschäftigung mit den aus Sicht der Grenzsoldaten sozial geläufigen oder anerkannten „Mustern“ des Handelns unumgänglich ist. b) Einbeziehung spezifischer äußerlicher Kennzeichen der Tatbegehung Neben dem Versuch, anhand verbaler Äußerungen Erkenntnisse über das seelische Innenleben des Täters zu erlangen, ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, aus spezifischen äußerlichen Kennzeichen der Tatbegehung zu einem plausiblen Schluss auf ein möglicherweise vorhandenes aktuelles Unrechtsbewusstsein des Täters zum Zeitpunkt seines Handelns zu gelangen40. Es ist danach zu fragen, inwieweit das individuelle Verhalten der Täter, insbesondere die Art und Weise der Tatverübung, etwa ihre Durchführung unter Verheimlichungen oder Vorsichtsmaßnahmen, diesbezügliche Rückschlüsse zulässt. Speziell im Rahmen der vorliegenden Überlegungen wird des Weiteren auch den Praktiken des totalitären Herrschaftsapparats der DDR im Zusammenhang mit der Unrechtsverübung an der Mauer eine wesentliche Bedeutung beizumessen sein41. Allerdings ist auch an dieser Stelle auf bestimmte Schwierigkeiten hinzuweisen, die im Zusammenhang mit der Erkenntnisgewinnung anhand der zuvor genannten Kriterien bestehen. So ist zweifelsohne nicht von der Hand zu weisen, dass bestimmte nach außen tretende Handlungen nicht zwangsläufig die Beschaffenheit der hinter ihnen liegenden Vorstellungen hervortreten lassen, sie somit nicht notwendig darauf schließen lassen, aufgrund spezifisch rechtlicher Vorstellungen motiviert zu sein42. Ungeachtet dessen jedoch ist auf die augenscheinlich gegebene Möglichkeit zu verweisen, aus bestimmten Handlungen auch gewisse Gesetzlichkeiten ablesen zu können.

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins Die Frage nach dem aktuellen Unrechtsbewusstsein der DDR-„Mauerschützen“ macht es zunächst erforderlich, sich Klarheit über die in diesem Zusammenhang notwendigen Kenntnisse eines Täters und somit über die genaue inhaltliche Ausgestaltung des für die Erhebung eines strafrechtlichen Schuldvorwurfs notwendigen Unrechtsbewusstseins zu verschaffen. Denn bezüglich der 40

Endruweit/Kerner, S. 100 f. Vgl. zu diesem Aspekt der Erkenntnisgewinnung im Rahmen der Würdigung des Unrechtsbewusstseins nationalsozialistischer Täter Jäger, Verbrechen, S. 165. 42 Vgl. Geiger, S. 342 f. 41

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Frage, welches Unrecht gemeint ist und auf welchen Wertungsbereich sich das entsprechende Bewusstsein beziehen soll, sind so vielfältige Denkansätze möglich, dass schon Arthur Kaufmann im Jahre 1949 zu der Einsicht gelangte, es werde „allenthalben zur Schuld irgendein Unrechtsbewusstsein verlangt, aber die als maßgeblich bezeichneten Bewusstseinsinhalte sind voneinander so verschieden, dass es gar nicht möglich ist, alle diese Nuancen systematisch darzustellen“43. Inzwischen sollte es zumindest möglich sein, die Frage nach dem Bewusstseinsinhalt derart einzugrenzen, dass ein für die vorliegenden Überlegungen befriedigendes Ergebnis zu erzielen ist. 1. Der anzuwendende Maßstab im Rahmen des § 5 Abs. 1 WStG In den Fällen der Grenzsoldaten ist, wie bereits angedeutet, zunächst auf die Norm des § 5 Abs. 1 WStG als Sonderregelung für den Verbotsirrtum nach § 17 StGB zurückzugreifen, da ein Handeln von Untergebenen in einer militärischen Hierarchie zu würdigen ist44. Es gilt festzuhalten, dass im Rahmen dieser Norm im Verhältnis zur allgemeinen Regelung des Unrechtsbewusstseins in § 17 StGB eine Begünstigung des Täters stattfindet. Die erforderlichen Kenntnisse für das Vorliegen des Unrechtsbewusstseins werden anhand eines höheren Maßstabs beurteilt, es wird nur dann von einem aktuellen Unrechtsbewusstsein des Handelnden ausgegangen, sofern er zum Tatzeitpunkt erkannt hat, dass es sich bei dem ihm Befohlenen um eine rechtswidrige Tat handelte, er somit positive Kenntnis von dem Verstoß des Befehls gegen Strafgesetze besaß45. Diese Abweichung bezieht ihre Rechtfertigung aus Faktoren, welche die unverzichtbare Befehlsgewalt in den fraglichen Bereichen absichern, und zwar dem besonderen Motivationsdruck des Untergebenen einerseits und der Hauptverantwortung des Anordnenden andererseits46. Somit versteht es sich, dass bei einem Grenzsoldaten, dem ein fehlendes Unrechtsbewusstsein und somit ein Verbotsirrtum anhand des in § 17 StGB geltenden geringeren Maßstabes attestiert werden kann, erst recht nicht im Rahmen des § 5 Abs. 1 WStG davon auszugehen ist, dass er das Unrecht seines Handelns eingesehen hat. Im Folgenden soll daher das aktuelle Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten anhand des in § 17 StGB zugrunde gelegten niedrigeren Maßstabes gewürdigt werden47. 43 Kaufmann, Das Unrechtsbewusstsein in der Schuldlehre des Strafrechts. Zugleich ein Leitfaden durch die moderne Schuldlehre, 1949, S. 30. 44 s. Drittes Kap. II. 1. 45 Vgl. Miehe, S. 667. 46 NK-Neumann, § 17 Rn. 98; vgl. auch Jakobs, Strafrecht, Rn. 53 sowie Schölz/ Lingens, § 5 Rn. 3.

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins

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2. Der Inhalt des Unrechtsbewusstseins im Rahmen des § 17 S. 1 StGB Die Norm des § 17 StGB sagt ihrerseits nichts darüber aus, welche Kenntnisse des Täters für die Einsicht, Unrecht zu tun, erforderlich sind oder unter welchen Voraussetzungen das Unrechtsbewusstsein eines Täters anzunehmen oder zu verneinen sein soll. Es erscheint aus diesem Grunde sinnvoll, zunächst eine Differenzierung entsprechend der Art und Weise vorzunehmen, nach der den Menschen überhaupt Werte und Normen psychisch gegeben sind. Es gilt dementsprechend zwei verschiedenartige Phänomene zu unterscheiden: Zum einen ist die Existenz eines originären Wertgefühls zu nennen, das dem Menschen innewohnt und ihn, wenn auch ohne Zweifel in unterschiedlich starker Ausprägung, eine objektive Wert- und Normenordnung erkennen und empfinden lässt48. Es begleitet den Menschen in einer seiner Urformen, in Form des Gewissens und legt ihm auf diesem Wege ein Handeln entsprechend der genannten Ordnung nahe49. Des Weiteren bestehen neben diesen eigenen originären Werterfahrungen unterschiedlichste kollektive Wertordnungen, wie etwa verschiedene Gruppenmoralen, die soziale Wertordnung oder auch die positive Rechtsordnung, die allesamt aus einer Unzahl von individuellen Werterlebnissen hervorgegangen sind und deren Normen für den Menschen in seinem Wissen um ihr Bestehen pflichtenbegründend sind50. Somit ist für die Frage nach dem aktuellen Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten von erheblicher Bedeutung, welches dieser beiden psychischen Phänomene als das Unrechtsbewusstsein im Sinne des Strafrechts anzusehen bzw. welche Bedeutung ihnen diesbezüglich jeweils beizumessen ist.

47 In der Literatur wird teilweise, vgl. etwa Dannecker, Jura 1994, 585 (594) oder Lüderssen, ZStW 104 (1992), 735 (766), die Frage aufgeworfen, ob in der Norm des § 17 StGB im Verhältnis zur Behandlung des Verbotsirrtums nach dem Recht der DDR überhaupt die mildere Regelung gesehen werden darf; s. in diesem Zusammenhang die ausführlichen Erwägungen von Hohoff, DtZ 1997, 308, die der Ansicht ist, dass nach der Strafrechtsdogmatik der DDR das Unrechtsbewusstsein im Sinne der Vorsatztheorie Bestandteil des Vorsatzes sei. Dementsprechend dürfe bei fehlendem Unrechtsbewusstsein nicht unter Zugrundelegung der in § 17 StGB normierten Schuldtheorie auf die Vermeidbarkeit des Irrtums verwiesen werden, sondern es habe bereits eine Bestrafung wegen vorsätzlichen Handelns auszuscheiden. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll dieser Gesichtspunkt nach den überzeugenden Erwägungen in der Entscheidung BGHSt 39, 168 (191) nicht mehr behandelt werden. 48 s. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 34; vgl. ebenso z. B. Hartmann, Ethik, 1962, S. 47 ff.; Zippelius, Rechtsphilosophie. Ein Studienbuch, 1989, S. 26 f., S. 35 ff. u. S. 123 ff.; ders., Wertungsprobleme im System der Grundrechte, 1962, S. 104 ff. u. S. 113 ff.; Hubmann, AcP 153, 297 (320 ff.). 49 Vgl. Hubmann, AcP 153, 297 (322); Hartmann, S. 135. 50 Vgl. dazu z. B. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts, 1977, S. 246 ff.; Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 34.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

a) Das Unrechtsbewusstsein als ablehnende Regung des Gewissens Im Mittelpunkt der Überlegungen soll zunächst die Möglichkeit stehen, in dem strafrechtlichen Erfordernis des Unrechtsbewusstseins das sich in einer ablehnenden Gewissensregung offenbarende subjektive Empfinden der Wertwidrigkeit des eigenen Verhaltens zu erblicken, oder einer entsprechenden Regung des Gewissens zumindest eine Bedeutung in diesem Zusammenhang einzuräumen. Dies würde im Ergebnis bedeuten, dass die Frage nach dem Bestehen des Unrechtsbewusstseins anhand des in das Über-Ich eingegrabenen Wertesystems des einzelnen, somit anhand einer autonomen moralischen Wertung der Handlung durch den Täter, zu beantworten wäre. Eine derartige Deutung erscheint nicht ausgeschlossen, sofern die gerichtlichen Erwägungen des Landgerichts Stuttgart im sog. Hanke-Prozess51 einbezogen werden, in dem es tödliche Schüsse eines Grenzsoldaten auf einen Flüchtling unter Wahrung des ihm erteilten Befehls und der in der damaligen SBZ gültigen Schusswaffengebrauchsbestimmungen zu würdigen galt. Das Gericht prüft zunächst § 5 Abs. 1 WStG und stellt fest, es hätten letzte Zweifel daran nicht ausgeschlossen werden können, dass der Angeklagte die erforderliche positive Kenntnis von dem verbrecherischen Ausmaß des Befehls nicht gehabt habe, wenngleich er eingeräumt habe, das Niederschießen von Flüchtlingen selbst als zu „krass“ und zu „hart“, ja als „Unrecht“ empfunden zu haben. Im Rahmen der Prüfung eines Verbotsirrtums des Angeklagten nach § 17 StGB allerdings wird die Auffassung vertreten, dass dem Angeklagten hinsichtlich des rechtswidrigen Schusswaffengebrauchs gegenüber den Flüchtlingen das erforderliche Bewusstsein, überhaupt Unrecht zu tun, nicht gefehlt habe52. Dabei wird unter anderem auf die durch den Täter bekundete „innere Ablehnung“ des Schießbefehls abgestellt: „Auch die innere Haltung des Angeklagten zu den Schusswaffengebrauchsbestimmungen bestätigte, dass ihm das normale Rechtsempfinden durchaus verblieben ist“53. Auch einige in älteren gerichtlichen Entscheidungen auftauchende Formulierungen scheinen nicht zu widerlegen, dass dem widersprechenden Empfinden in Form einer Gewissensregung eine Bedeutung für das Unrechtsbewusstsein beizumessen ist. So ist in einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Kiel aus dem Jahre 1948 zu lesen, dass es für die Annahme des Unrechtsbewusstseins eines Angeklagten genüge, „dass der Täter das Empfinden hat, Unerlaubtes, Verwerfliches zu tun“54. Diese Auffassung gilt des Weiteren für einige in älteren Entscheidungen des BGH auftauchende Formulierungen, etwa sofern sich in einem 51 52 53 54

LG Stuttgart, NJW 1964, 63 ff. LG Stuttgart, NJW 1964, 63 (68). LG Stuttgart, NJW 1964, 63 (68). OLG Kiel, SchlHA 1948, 146 (147).

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins

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Urteil des 5. Senats des BGH aus dem Jahre 1952 die Aussagen finden, das Unrechtsbewusstsein bestehe darin, „dass der Täter nicht so handelt, wie es ihm sein Gewissen heißt“ und sofern der Täter zweifle, ob sein Vorhaben Unrecht sei, so habe er „das unter Anspannung seines Gewissens zu entscheiden“55. In dem wenige Tage nach diesem Urteil gefassten, bereits erwähnten Beschluss des Grossen Senats für Strafsachen aus dem Jahre 195256 heißt es, der Täter müsse „in einer seiner Gedankenwelt entsprechenden allgemeinen Wertung das Unrechtmäßige der Tat“ erkannt haben oder „bei gehöriger Gewissensanspannung“ haben erkennen können57. Bevor die Frage zu erörtern sein wird, ob diese gerichtlichen Formulierungen tatsächlich dahingehend zu deuten sind, dass einer widersprechenden Gewissensregung und somit einer innerlichen moralischen Wertung des Geschehens durch den Täter eine Bedeutung für das Unrechtsbewusstsein beizumessen ist, soll der Überlegung nachgegangen werden, welche Konsequenzen sich aus einer entsprechenden Annahme hinsichtlich eines aktuellen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten ergeben würden. Dieser Gesichtspunkt ist daher von besonderem Interesse, weil einige dokumentierte Aussagen das Bestehen eines inneren Konflikts der jeweiligen Grenzsoldaten im Zusammenhang mit den Schüssen an der Mauer zu offenbaren scheinen. aa) Das Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten unter Zugrundelegung der genannten Auffassung Die entsprechenden Aussagen verdeutlichen in wohl verallgemeinerungsfähiger Art und Weise, dass die Tatsache, im Rahmen ihres Auftrages unter Umständen auf fliehende Mitmenschen schießen zu müssen, an den Grenzsoldaten keinesfalls ohne weiteres vorübergegangen ist, sondern sie beschäftigt und zum Nachdenken veranlasst hat. Es wird überwiegend keineswegs der Eindruck vermittelt, als sei die von Günter Spendel vertretene Auffassung, es seien hier „willfährige Handlanger des Arbeiter- und Bauernstaates (. . .) als staatliche Todesschützen am Werk“ gewesen, tatsächlich zutreffend58. Denn diese Auffassung suggeriert, dass es sich bei den Grenzsoldaten um kaltblütig agierende Menschen handelte, die sehenden Auges jegliches von der Staatsführung geforderte Unrecht ohne weiteres ausführten. Vielmehr verdeutlichen die Aussagen im Gegenteil, dass die Soldaten über das Geschehen durchaus nachdachten und sich zumindest ein Teil von ihnen scheinbar nicht wohl fühlte bei der Vorstellung, möglicherweise Mitmenschen töten zu müssen, denen nichts weiter vorge55 56 57 58

BGH, JZ 1952, 434 ff. s. Zweites Kap. II. BGHSt 2, 194 (202). Spendel, RuP 1993, 61 (62); kritisch zu dieser Auffassung auch Roos, S. 266.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

worfen werden konnte als ihr Wunsch, die DDR über die Grenze in Richtung Bundesrepublik verlassen zu wollen. So ist dokumentiert, dass im Kreise der Grenzsoldaten allgemein die Auffassung vertreten wurde, man solle danach streben, den Wehrdienst mit „weißen Handschuhen“ zu absolvieren, also ohne auf flüchtende Menschen geschossen zu haben59. Etwa sagte der ehemalige wehrpflichtige Soldat N. Janott aus, seine Kameraden und er hätten jede Nacht gehofft, keinem Grenzverletzer zu begegnen. Er persönlich, und er glaube, auch alle Genossen seines Zuges hätten nie gezielt auf einen Menschen geschossen. Sie hätten zwar geschossen, aber niemals auf den Menschen. Man hätte dann eben nicht getroffen, wofür es drei Tage Knast gegeben hätte. Dieses wäre aber immer noch besser gewesen, „als sich lebenslang damit zu belasten, einen Menschen für nichts und wieder nichts getötet zu haben“. Allerdings sei während seiner Dienstzeit Gott sei Dank niemals die Situation eingetreten, dass er in die Verlegenheit gekommen sei, die Waffe anwenden zu müssen60. Der ehemalige Grenzsoldat E. Cäzor gab zu verstehen, er hätte im Falle einer Begegnung mit einem nicht bewaffneten Flüchtling an der Grenze höchstwahrscheinlich daneben geschossen oder gar nicht, wobei dies dennoch eine Erfüllung seines Kampfauftrages dargestellt hätte, da er doch nichts dafür könne, wenn er nicht treffe61. S. Worm, ebenfalls ein Ex-Grenzsoldat, der am 14. Oktober 1961 einen Flüchtling erschoss, führte aus, er habe nicht einmal mit seinen Eltern oder seiner Frau über seine Tat sprechen können, Mauertote wären für nahezu alle Grenzer ein Tabu-Thema gewesen62. In dieselbe Richtung geht auch die Äußerung des früheren DDR-Grenzers U. Gau, der am 09. November 1955 einen Grenzflüchtling mit seiner Schusswaffe tötete. Er habe „aus Selbstschutz“ über dieses Ereignis, mit dem er persönlich nach eigener Einschätzung nie fertig werden würde, noch nicht einmal seiner Familie Auskunft gegeben63. 59 BGHSt 39, 168 (189); Herzog (Hrsg.), Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze, 1993, S. 61 f.; Marxen/Werle, S. 12; s. zudem Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/1991, S. 72 (S. 76), die in ihrem Artikel „Heim mit weißen Handschuhen“ eine entsprechende Äußerung des Angeklagten P. Schmett im ersten Prozess gegen Mauerschützen vor dem Landgericht Berlin dokumentiert hat. 60 Janott, Dienst an der Grenze, in: Filmer/Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, 1991, S. 312 ff. (S. 314). 61 s. das Gespräch in Filmer/Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, 1991, S. 231. 62 s. Der Spiegel Nr. 27/1991, S. 52 (S. 57) mit der weiteren Aussage des genannten Soldaten, es täte ihm zwar leid, dass sein Opfer gestorben sei, aber er habe sich auch „rumgequält“.

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins

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Noch wesentlich aufschlussreicher im Hinblick auf ein aktuelles Unrechtsbewusstseins erscheint der Umstand, dass einer der späteren Angeklagten im ersten „Mauerschützen“-Prozess des BGH vor dem KG Berlin einräumte, dass er die Schüsse an der Grenze schon vor der Begehung der Tat als Unrecht empfunden habe64. Der BGH stellt in seinem Urteil diesbezüglich fest, dass H. „nach seiner eigenen Einlassung unmittelbar nach der Tat erkannt hat, dass sein Vorgehen gegenüber (dem Opfer) S. unmenschlich gewesen sei“65. In der Literatur wird zum Teil vertreten, dass entsprechende Aussagen zeigten, dass bei den Grenzsoldaten hinsichtlich der Schüsse ein klares Unrechtsbewusstsein bestanden habe66. Sucht man nach einer Begründung für die soeben zum Ausdruck gekommene ablehnende Haltung der Grenzsoldaten, so erscheint zunächst die Annahme nahe liegend, dass sich in ihr wohl gerade eine den Schüssen auf die flüchtenden Menschen widersprechende Regung ihres originären Wertgefühls, somit ihres Gewissens, offenbart. Es dürfte auch tatsächlich kaum davon auszugehen sein, dass die Soldaten in ihrer Situation möglicherweise keine – die von ihnen eingeforderten Schüsse betreffende – Gewissensregung verspürten. Eine derartige Auffassung erscheint zumindest nahe liegend, sofern man in Übereinstimmung mit dem BVerfG in einer Gewissensentscheidung „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung“ sieht, die man stets angesichts einer bestimmten Lage trifft, „in der es innerlich unabweisbar wird, sich zu entscheiden“ und dessen Ergebnis sich dem Einzelnen gegenüber als „Ruf des Gewissens“ offenbart67. Die Grenzsoldaten dürften in ihrer Lage kaum einer derartigen, an den Kategorien von Gut und Böse orientierten Entscheidung ihrer inneren Stimme über die Rechtmäßigkeit der lebensgefährlichen Schüsse entgangen sein. Eine gegenteilige Ansicht erscheint angesichts der Bedeutung bzw. des Wertes des betroffenen Rechtsguts, das möglicherweise aufgrund des Handelns der Soldaten ausgelöscht werden konnte, und zwar des menschlichen Lebens, fernliegend. Im Hinblick auf die Überlegung, ob die in den erwähnten Aussagen zum Ausdruck kommende Haltung der Grenzsoldaten allerdings tatsächlich auf einer widersprechenden Gewissensregung ihrerseits beruht, ist damit nicht weitergeholfen. In diesem Zusammenhang ist einzubeziehen, dass die ablehnende Haltung auch 63

s. Der Spiegel Nr. 27/1991, S. 56. KG, NJW 1991, 2656. 65 BGHSt 39, 1 (34). 66 Vgl. etwa Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 68, der trotz dieser Feststellung an dortiger Stelle weiterhin das Vorliegen eines Verbotsirrtums der Grenzsoldaten geprüft und bejaht hat, wobei ein Verbotsirrtum gerade nur dann vorliegt, wenn eben das aktuelle Unrechtsbewusstsein zum Zeitpunkt der Tatausführung fehlt. 67 BVerfGE 12, 45 (55); vgl. zudem NK-Neumann, § 17 Rn. 44. 64

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

auf die Existenz einer natürlichen, biologisch begründeten Tötungshemmung des Menschen zurückzuführen sein könnte, die zumindest unter normalen Umständen die Einsicht in das Rechtmäßige einer Tötung überdauert68. Sofern sich der Mensch über sie hinwegsetzt, sind die Folgen im subjektiven Erleben „Schuldgefühle, Unwohlsein, Sich-schlecht, Sich-übel, Sich-schuldig-Fühlen“69. Daher dürfte allein das Bestehen eines inneren Konflikts noch nichts darüber aussagen, wie es um das Gewissen der Grenzsoldaten tatsächlich bestellt war. Es gilt zudem weiterhin hervorzuheben, dass auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Aussagen existiert, die auf ein Handeln der Grenzsoldaten ohne jeglichen Gewissenskonflikt hindeuten. So sagte einer der Angeklagten im ersten „Mauerschützen“-Prozess vor dem Landgericht Berlin aus, er hätte ein entsprechendes Handeln niemals „grundlos“ vorgenommen, es machten sich jedoch ohnehin nur „Asis, Kriminelle, Verbrecher und Verräter, die gegen Gesetze verstoßen hatten, illegal davon, nicht aber normale Menschen“70. Ebenfalls aus diesem Prozess stammt die Aussage eines Angeklagten, er habe „schon gewusst, dass die Grenzverletzer meist irgendwelche Konflikte hatten“, doch er sei von sich ausgegangen. Man könne „wegen persönlicher Konflikte doch nicht solche kriminellen Sachen machen“. Jeder habe doch gewusst, „dass die Grenze kein Spielplatz“ sei71. Der bereits genannte ehemalige Grenzsoldat E. Cäzor sagte weiterhin aus, er sei „lange Zeit echt überzeugt“ gewesen. Die Fragestellung, ob die Tätigkeit an der Grenze ein Kampfauftrag der Partei gewesen sei, beantwortete er dahingehend, dass er als junger Mensch auch überzeugt gewesen sei, „dass alles richtig ist, was wir machen“72. Eine Betrachtung derartiger Äußerungen wiederum lässt in keinster Weise darauf schließen, als hätte sich der entsprechende Grenzsoldat zum Zeitpunkt seiner Schüsse oder etwa nachträglich mit einem Gewissenskonflikt auseinander setzen müssen. Im Gegenteil, es wird das Verhalten des Getöteten, das aus Sicht 68 Vgl. Krauß, S. 39; s. diesbezüglich zudem Schumacher, Psychologische Mechanismen bei der Manipulation des Rechtsbewusstseins in totalitären Systemen, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht. Prinzipien der strafrechtlichen Zurechnung und Sanktionsprobleme – Strafe im Übergang. Erster Teilbd., 1980, S. 169 ff. (S. 179 f.) mit dem Hinweis, dass die bestehenden Hemm-Mechanismen allerdings beim Menschen als dem primär instinktlosen Wesen stark zurückgebildet seien und im Gegensatz zu den Tieren, bei denen sie meist absolut wirkten, lediglich eine relative Wirksamkeit besäßen. 69 Schumacher, Psychologische Mechanismen, S. 179 f. 70 Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 59; Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/91, S. 72 (S. 74). 71 Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/91, S. 72 (S. 74). 72 Zit. nach Filmer/Schwan, S. 234.

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins

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der DDR den Versuch einer Republikflucht dargestellt hat, ins Unrecht gesetzt und für das Geschehen verantwortlich gemacht73. Somit ist insgesamt festzustellen, dass einigen Aussagen ehemaliger Grenzsoldaten zu entnehmen ist, dass sie den Schüssen an der Mauer mit innerem Unbehagen begegneten und darauf hofften, keinen ihrer Mitmenschen durch Schüsse verletzen oder gar töten zu müssen. Die Soldaten, denen dieses Glück nicht zuteil wurde, sondern die Mitmenschen bei ihren Fluchtversuchen erschossen, fühlten sich zum Teil schlecht und hatten bzw. haben bis in die heutige Zeit Probleme, mit ihrem Handeln zu leben und es zu verarbeiten74. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die genannten Umstände in manchen Fällen darauf zurückzuführen sind, dass das originäre Wertgefühl der Handelnden in Form eines mahnenden Gewissens ihrem Tun entgegenstand. Daher scheint bei einer bestimmten Anzahl der Grenzsoldaten ein aktuelles Unrechtsbewusstsein ihrerseits nicht auszuschließen zu sein, sofern das strafrechtliche Erfordernis des Unrechtsbewusstseins tatsächlich als Vernehmen der mahnenden Stimme des Gewissens aufzufassen oder einer solchen in diesem Rahmen zumindest eine Bedeutung beizumessen wäre. Diesem Aspekt wird im Folgenden nachzugehen sein. bb) Die Frage der Rechtsgeltung Für die Beantwortung der Frage, welche Bedeutung einer ablehnenden Gewissensregung und somit einer innerlichen moralischen Wertung des Handelns durch den Täter für das strafrechtliche Unrechtsbewusstsein beizumessen ist, bedarf es einer Betrachtung des Verhältnisses, in welchem die Normen des positiven Rechts und die dem einzelnen aufgrund seines originären Wertgefühls gegebenen Normen zueinander stehen. Es geht dabei um den Aspekt, ob und in welchem Umfang es sich die Geltungs- und Verpflichtungskraft des positiven Rechts erlauben kann, von einer Billigung durch das Gewissen der Normadressaten abhängig zu sein75. Über die Ablehnung einer entsprechenden Abhängigkeit besteht, um das Ergebnis vorwegzunehmen, auch innerhalb der wichtigsten Rechtsgeltungstheorien Einigkeit76. Es muss auch der Gewissenstäter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, dem bewusst ist, dass sein Handeln gegen rechtliche Normen 73 s. zu dem Aspekt der Kriminalisierung des Flüchtlingsverhaltens ausführlich Drittes Kap. V. 2. b) bb). 74 Vgl. insgesamt zu den Problemen und der psychischen Belastung der Grenzsoldaten im Zusammenhang mit ihren tödlichen Schüssen an der Grenze die geschilderten Fälle in dem Bericht „Taktisch klug und richtig“, in: Der Spiegel Nr. 27/1991, S. 52 ff. 75 s. zu diesem Aspekt Welzel, An den Grenzen des Rechts. Die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966 sowie OLG Hamm, NJW 1968, 212 (214).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

verstößt, er sich jedoch aufgrund seines zusprechenden Gewissens zu der Tat berechtigt sieht77. Diese Auffassung ist allerdings lediglich unter der Grundvoraussetzung haltbar, dass die Geltung von Rechtsnormen und somit die Durchführung der in ihnen angedrohten Sanktionen unabhängig sind von dem Umstand, dass die einzelnen Personen die Norm in ihrem Gewissen anerkennen oder nicht. Denn eine gegenteilige Annahme würde bedeuten, dass die Strafrechtsordnung de facto unter einem allgemeinen Gewissensvorbehalt stehen würde, und sich die Gerichte mit dem Problem auseinander zu setzen hätten, dem Täter keinen Schuldvorwurf machen zu können, der ohne Gewissenskonflikt gegen die gesetzliche Normenordnung verstoßen hat78. Denn im Rahmen der Schuld wird dem Täter, wie bereits erörtert79, der Vorwurf gemacht, seinen Willen – gemessen an den Anforderungen des Rechts – fehlerhaft gebildet zu haben. Ein entsprechender Vorwurf gegenüber dem in Übereinstimmung mit seinem Gewissen handelnden Täter ist allerdings nicht möglich, da der Mensch nicht Herr über sein ausgebildetes Gewissen ist, er vermag es weder inhaltlich zu beeinflussen, noch auch nur zum Reden zu bringen80. Das Gewissen trifft den Menschen als „Ruf der Sorge“81, wobei der Ruf ja gerade „nicht und nie von uns selbst (. . .) geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen (wird). ,Es‘ ruft wider Erwarten und gar wider Willen. (. . .) Der Ruf kommt aus mir und doch über mich“82. Der Mensch kann über sein Gewissen nicht verfügen, „wir können ihm nicht befehlen, sondern es befielt uns. Wir können es nicht korrigieren und zurechtweisen, sondern es korrigiert uns und straft uns. Wir stehen nicht über ihm, sondern unter ihm“83. Zudem soll die notwendige Unabhängigkeit einer inneren moralischen Wertung einer Handlung durch den Täter von dem strafrechtlichen Erfordernis des Unrechtsbewusstseins anhand zweier weiterer Überlegungen verdeutlicht werden. Zum einen sei das Bestehen einer Notsituation angenommen, in der das Opfer sich eines Angriffs auf sein Leben nicht anders erwehren kann, als durch die – wegen Notwehr gem. § 32 StGB im Einklang mit der Rechtsordnung stehende – Tötung seines Widersachers. Auch in dieser Situation wird der Han76 s. die kurze Darstellung der wesentlichsten Rechtsgeltungstheorien bei Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 36 ff. 77 Vgl. Ebert, Strafrecht. Allg. Teil, 2001, S. 105; Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 15; s. auch Schmidhäuser, Strafrecht, S. 426, der darauf verweist, dass es sich keine Rechtsordnung, die sich nicht selbst aufgeben wolle, erlauben könne, an ihrer Stelle das Gewissen des einzelnen über Recht und Unrecht entscheiden zu lassen; BGHSt 4, 1 (3); OLG Hamm, NJW 1968, 212 (214). 78 Vgl. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 35. 79 Zweites Kap. II. 80 Vgl. Roos, S. 244 f.; Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 35. 81 Heidegger, Sein und Zeit, 1979, S. 272 ff. 82 Heidegger, S. 275. 83 Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 226.

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins

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delnde, trotz eines möglichen Wissens um alles Recht dieser Welt auf seiner Seite, dennoch vor der Tötungshandlung zurückschrecken und während des gesamten Vorgangs vermutlich von einer ablehnenden Gewissensregung bzw. einem, zumindest über die Richtigkeit des Verhaltens Zweifel auslösenden, subjektiven Empfinden der Wertwidrigkeit begleitet werden. Zum anderen seien die Fälle der Kriegsdienstverweigerungen hervorzuheben, in denen wehrpflichtigen Personen aufgrund eines ablehnenden Gewissensentscheids zugestanden wird, den Dienst an der Waffe nicht antreten zu müssen. In diesen Fällen ist es den Verweigerern – die Richtigkeit ihrer Aussage unterstellt – aufgrund einer ablehnenden Regung ihres Gewissens nicht möglich, eine Schusswaffe zu tragen und möglicherweise anwenden zu müssen, obwohl sie im Fall eines Einsatzes sicherlich das Recht hinter ihrem Handeln wissen dürften. Somit kann das strafrechtliche Unrechtsbewusstsein zusammenfassend nicht auf einer mittels seines Gewissens vorgenommenen moralischen Wertung des Geschehens durch den Täter beruhen84, im Gegenteil, es ist für das strafrechtlich erforderliche aktuelle Unrechtsbewusstsein eben völlig gleichgültig, wie der Täter aufgrund seines originären Wertgefühls und seines Gewissens ein bestimmtes Verhalten bewertet85. Im Ergebnis ist somit der Versuch zu unternehmen, das originäre Wertgefühl des Menschen in Form des Gewissens von der Einwirkung der unterschiedlichen kollektiven Wertordnungen, insbesondere der Rechtsordnung, auf das Individuum zu trennen86. Mit dieser Feststellung ist freilich nicht gesagt, dass dem originären Wertgefühl des Menschen in Form seines Gewissens keinerlei Bedeutung für die Frage strafrechtlicher Schuld beizumessen ist. So kann in einer entgegenstehenden Gewissensregung, dies wird zu einem späteren Zeitpunkt noch zu thematisieren sein, im Rahmen der Würdigung des potentiellen Unrechtsbewusstseins ein für den Täter bestehender Anlass gesehen werden, dass er sich über die Rechtslage hätte informieren müssen87. Lediglich eben für das aus strafrechtlicher Sicht erforderliche aktuelle Unrechtsbewusstsein ist eine solche nicht relevant88.

84

Vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 12. Vgl. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 34 u. S. 56. 86 s. zu diesem Aspekt ebenso Deckers, S. 62, der dieser Auffassung im Ergebnis zwar zustimmt, jedoch Bedenken bezüglich des Umstandes äußert, ob die Rezeption der sozialen Wertordnung durch das Individuum von dessen Gewissensbildung genau zu trennen ist, da auch die Kenntnis und das Verständnis kollektiver Normen nur im Licht der persönlichen Entwicklung und der Verarbeitung der Normen durch den einzelnen gesehen werden könne. 87 Viertes Kapitel III. 1. 88 Zu dem Aspekt der Bedeutung des abweichenden individuellen Gewissensentscheides von der Rechtsnorm s. Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 15, der betont, dass sich ein entsprechender Gewissensentscheid bei der Strafzumessung zu Gunsten des Täters auswirken und in Einzelfällen auch einen Schuldausschließungsgrund abgeben könne. 85

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

cc) Der Standpunkt des BGH Auch die Rechtsprechung des BGH setzt das Unrechtsbewusstsein trotz der bereits genannten, scheinbar eine gegenteilige Auffassung zum Ausdruck bringenden Formulierungen, nicht mit der widersprechenden Stimme des eigenen Gewissens gleich. Diesen Umstand bringt bereits der zuvor zitierte Beschluss des Großen Senats selbst zum Ausdruck, in dem der BGH das Unrechtsbewusstsein ausdrücklich definiert als Kenntnis des rechtlichen Verbotenseins der Tat89 und herausstellt, dass es für das Unrechtsbewusstsein auf die Kenntnis des rechtlichen Verbotenseins der Tat ankomme und dass der Täter Zweifel an dem Unrechtscharakter seines Tuns „durch Nachdenken und Erkundigung“ zu beseitigen habe90. Auch in einem wenig später gefassten Beschluss des 5. Senats des BGH heißt es zum Problem des Unrechtsbewusstseins, es sei rechtlich bedeutungslos, dass der Täter „die Rechtsordnung der Gemeinschaft, der er angehört, aus politischen oder weltanschaulichen Gründen ablehnt und deshalb die Verbindlichkeit ihrer Normen bestreitet“, sofern er weiß, „dass das, was er tut, nach dem Recht der Gemeinschaft, in der er sich befindet, verboten ist“91. Somit ist eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass der BGH die Frage des Unrechtsbewusstseins nicht anhand des persönlichen Gewissensentscheides des Täters beurteilt92 und dass der BGH, sofern er den Begriff der „gehörigen Gewissensanspannung“ verwendet, eine solche nicht im wörtlichen Sinne fordert, sondern im Sinne des Einsatzes aller geistigen Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen sowie des Einholens von Erkundigungen93. Folglich ist zusammenfassend festzustellen, dass das strafrechtlich erforderliche Unrechtsbewusstsein bezüglich einer Tatausführung nicht mit der ablehnenden Regung des eigenen Gewissens als selbständig-normsetzender Instanz identisch ist. Aus diesem Grund scheidet die Möglichkeit aus, ein aktuelles Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten zum Zeitpunkt ihrer Schüsse allein daher anzunehmen, weil sich ihren Äußerungen zum Teil möglicherweise eine, eben auf einem entsprechenden Gewissensruf beruhende, ablehnende Haltung gegenüber den Schüssen entnehmen lässt. Denn eine solche lässt sich bereits auf das 89

BGHSt 2, 194 (196). BGHSt 2, 194 (201). 91 BGHSt 4, 1 (3). 92 s. auch das Urteil des OLG Hamm, NJW 1968, 212 (214), in dem es nunmehr ausdrücklich heißt: „Das Recht muss als überindividuelle Ordnung nicht nur eine Ordnung für den Handelnden (. . .), sondern auch für den von der Handlung (. . .) Betroffenen sein. Um des Schutzes derer willen, die auf diese Ordnung vertrauen, kann das Recht seine Geltung nicht von der Gewissensbilligung des Einzelnen abhängig machen“; vgl. zudem Deckers, S. 62. 93 BGHSt 2, 194 (201); BGHSt 4, 1 (5); BGHSt 4, 236 (243); vgl. zudem Blei, Strafrecht. I. Allg. Teil. Ein Studienbuch, 1983, S. 202 ff. sowie Maurach/Zipf, § 38 Rn. 35; s. diesbezüglich auch Viertes Kap. III. 90

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins

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Bestehen einer biologisch begründeten Hemmung, dem Artgenossen Aggressionen, insbesondere gegen Leib und Leben zuzufügen, stützen, ohne dass damit irgendetwas über eine etwaige Kenntnis von Recht oder Unrecht des eigenen Handelns ausgesagt wäre94. Diesem Umstand entsprechend ist es auch nicht ausreichend und im Hinblick auf das erforderliche Unrechtsbewusstsein nicht aussagekräftig genug, dass die Grenzsoldaten die Schüsse auf flüchtende Menschen entsprechend ihrer ablehnenden Haltung möglicherweise für „unmenschlich“, „unmoralisch“ oder „ungerecht“ hielten und sich bei Abgabe der Schüsse etwa unwohl oder schlecht gefühlt haben95. Denn, insofern ist auf eine Erwägung Herbert Jägers zurückzugreifen, „bedenkenlos und ohne Gewissensskrupel konnten auch Täter handeln, die sich bewusst über die Normen des Rechts hinwegsetzten; andererseits können bekanntlich auch Handlungsweisen, die nicht gegen die Rechtsordnung verstoßen, Schuldgefühle auslösen“96. Somit schließt allein der Umstand, dass ein Täter gegen sein eigenes Gewissen handelt, ein fehlendes Unrechtsbewusstsein und somit einen Verbotsirrtum nicht aus97. Für die Annahme eines aktuellen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten ist dementsprechend, von dem Umstand ihrer ablehnenden Gewissensregung unabhängig, das Vorliegen eines weiteren Befundes notwendig und entscheidend. b) Das Unrechtsbewusstsein als Kenntnis des Verstoßes gegen eine kollektive Norm Aufgrund der soeben getroffenen Feststellung, in dem strafrechtlichen Erfordernis des Unrechtsbewusstseins nicht das Bestehen eines ablehnenden Gewissenskonflikts des Handelnden erblicken zu können, bedarf es einer Erörterung der somit verbleibenden Möglichkeit, das Unrechtsbewusstsein als Kenntnis des Verstoßes gegen eine kollektive Norm zu qualifizieren. Da allerdings, wie bereits angedeutet, verschiedenartige Kollektivnormen existieren, ist in diesem Zusammenhang zu erörtern, welche letztlich die für das Unrechtsbewusstsein

94

Vgl. Drittes Kap. IV. 2. a) bb). Vgl. Miehe, S. 664, der zudem unter dem Eindruck der in der DDR bestehenden staatlichen Erlaubnissätze, die auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch in ausführlicher Weise Gegenstand der Erörterungen sein werden, betont, es müsse selbst der direkten Aussage eines Grenzsoldaten, er habe das Schießen als Unrecht angesehen, mit Vorsicht begegnet werden; vgl. Marxen/Werle, S. 21 und Rummler, Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht, 2000, S. 414, der unter Rückgriff auf eine Revisionsbegründung in einem „Mauerschützen“-Urteil anmerkt, dass auch in einem Land mit Todesstrafe die wenigsten ihrer Befürworter bereit sein würden, ein entsprechendes Urteil zu vollstrecken, woraus allerdings noch nicht zu folgern sei, dass sie eine Hinrichtung als Rechtsverstoß ansähen. 96 Jäger, Verbrechen, S. 172. 97 s. Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 15. 95

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

relevante Norm ist bzw. welche Bedeutung diesen jeweils diesbezüglich beizumessen ist. aa) Die Kenntnis der Sittenwidrigkeit oder der Sozialwidrigkeit als Gegenstand des Unrechtsbewusstseins Die Möglichkeit, in dem strafrechtlichen Erfordernis des Unrechtsbewusstseins die Kenntnis bzw. das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit des eigenen Handelns zu erblicken, wird inzwischen gerade hinsichtlich des Schuldprinzips als nicht ausreichend angesehen98. Die Begründung für diese Auffassung liegt in dem Umstand, dass die moralischen Bewertungen bestimmter Sachverhalte in der modernen pluralistischen Gesellschaft einem derart steten Wandel unterliegen, dass dem Recht nicht zugestanden werden kann, die unbedingte Orientierung an ihnen zu verlangen99. Die Kenntnis der Moralwidrigkeit einer Handlung ist dementsprechend weder als notwendige noch hinreichende Bedingung für ein rechtliches Verbot anzusehen und dient nach rechtlichen Maßstäben für einen Täter nicht mehr als zwingendes Motiv, von der Tat Abstand zu nehmen100. Die Möglichkeit, die Kenntnis der Moralwidrigkeit eines Verhaltens allerdings aufgrund der zumindest im Kernbereich weitgehend vorhandenen Dekkung von Recht und Moral als Indiz für das Vorliegen eines potentiellen Unrechtsbewusstseins heranzuziehen, erlangt im Rahmen dieser Überlegungen keine Bedeutung101. Ebenso wie die Sittenordnung ist auch die Sozialwidrigkeit eines Verhaltens nach überwiegender Auffassung nicht als Gegenstand des Unrechtsbewusstseins anzusehen102. Die Begründung beruht in diesem Fall auf der Erwägung, dass es nicht Sinn und Zweck der Rechtsordnung ist, jegliches sozialwidriges Handeln zu unterbinden. Zwar bezweckt das Strafrecht selbstverständlich auch die Verhinderung eines sozialschädlichen Verhaltens, jedoch bestimmt es oft, da eben 98 BGHSt 2, 194 (202); BGHSt 10, 35 (41); BGH, GA 1969, 61; vgl. LK-Schroeder, § 17 Rn. 5; Lackner/Kühl, § 17 Rn. 2; Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 12; Jescheck/ Weigend, S. 408; zur a. A., die sich mit dem Bewusstsein der Sittenwidrigkeit begnügt, s. die Nachweise bei Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 57. 99 Vgl. Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 13. 100 Vgl. Neumann, JuS 1993, 793 (794); s. auch LK-Schroeder, § 17 Rn. 5; SKRudolphi, § 17 Rn. 4, der betont, dass ein Erfassen der Sittenwidrigkeit des eigenen Verhaltens dem Täter noch nicht die allgemeinverbindliche Kraft der verletzten Rechtsnorm erschließe. 101 S. zu diesem Aspekt Blei, S. 200. 102 Vgl. Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 12; NK-Neumann, § 17 Rn. 15; Schünemann, NJW 1980, 735 (738); zu der a. A., nach der die Annahme eines Unrechtsbewusstseins schon dann gerechtfertigt ist, wenn sich der Täter des Widerspruchs seines Verhaltens zu den sozialethischen Wertvorstellungen bewusst gewesen ist, s. insbesondere Kaufmann, Unrechtsbewusstsein, S. 142 ff.; ders., Das Schuldprinzip. Eine strafrechtlichrechtsphilosophische Untersuchung, 1976, S. 130 ff.

IV. Inhalt und Gegenstand des aktuellen Unrechtsbewusstseins

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längst nicht alle sozialwidrigen Handlungen (z. B. im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf) verboten sind, lediglich die Grenzen, in denen sozialschädliches Verhalten toleriert werden soll103. Entsprechend ist die Kenntnis dieser Grenzen nicht durch das „diffuse Bewusstsein, sozialschädlich zu handeln“ zu ersetzen104. Auch in diesem Fall allerdings bestehen hinsichtlich einer Indizwirkung des Bewusstseins der Sozialschädlichkeit für die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums keine Bedenken. bb) Die materiale Wertordnung des Rechts als Gegenstand des Unrechtsbewusstseins Nach überwiegender Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum, die im Folgenden zugrunde gelegt werden soll, ist Gegenstand des Unrechtsbewusstseins die Rechtswidrigkeit, somit das Unrecht des konkreten Täterverhaltens in Form der negativen Bewertung der Tat durch die Gesamtrechtsordnung105. Erforderlich ist die Einsicht des Handelnden, „dass das, was er tut, rechtlich nicht erlaubt, sondern verboten ist“106. In diesem Zusammenhang nicht notwendig ist dabei die explizite Kenntnis der konkret verletzten Rechtsvorschrift107 oder der Strafbarkeit des Geschehens108 durch den Täter. Er muss vielmehr „zwar nicht in rechtstechnischer Beurteilung, aber doch in einer seiner Gedankenwelt entsprechenden allgemeinen Bewertung, das Unrechtmäßige seiner Tat“ erkannt haben109. Es genügt somit die als „Kenntnis nach Laienart“110 gegebene Vorstellung des Täters, dass sein Handeln gegen die verbindliche materiale Wertordnung des Rechts verstößt und daher rechtlich verboten ist111.

103

Vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 15; Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 12. s. Neumann, JuS 1993, 793 (794). 105 s. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 57 u. S. 62; SK-Rudolphi, § 17 Rn. 3; Maurach/Zipf, § 38 Rn. 10. 106 BGHSt 2, 194 (196); vgl. Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 12; Wessels/Beulke, Rn. 428. 107 Vgl. Ebert, S. 104. 108 BGHSt 15, 377 (382 ff.). 109 BGHSt 10, 35 (41). 110 In diesem Zusammenhang wird auch vielfach von einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“ gesprochen, vgl. etwa Ebert, S. 104 sowie NK-Neumann, § 17 Rn. 39; vgl. zudem Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 56, der auf eine Missverständlichkeit hinsichtlich dieses Begriffes hinweist, da er scheinbar auf eine aktive Eigenwertung des Geschehens durch den Täter hindeute, die mit dem strafrechtlichen Unrechtsbewusstsein jedoch gerade nicht gemeint sei, sondern eben ein rein rezeptiver Akt der Kenntnisnahme, vgl. auch Drittes Kap. IV. 2. a). 111 Vgl. hierzu SK-Rudolphi, § 17 Rn. 3; Jescheck/Weigend, S. 408; Groteguth, Norm- und Verbots(un)kenntnis. § 17 Satz 2, 1993, S. 23; Schönke/Schröder-Cramer, § 17 Rn. 5; Lackner/Kühl, § 17 Rn. 2; Zaczyk, JuS 1990, 889 (891); Wessels/Beulke, Rn. 428; s. auch die in diesem Zusammenhang erfolgende Betonung, dass in jedem 104

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Sind somit die für ein aktuelles Unrechtsbewusstsein eines Täters maßgeblichen Kenntnisse bestimmt und ist der Bewusstseinsinhalt entsprechend eingegrenzt, wird im Folgenden unter Einbeziehung der gesamten entscheidungsrelevanten Umstände zu erörtern sein, ob das Vorliegen der notwendigen Faktoren bei den Grenzsoldaten plausibel darzulegen ist.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse gegen die verbindliche materiale Wertordnung des Rechts Die handelnden Grenzsoldaten hätten nach den vorherigen Ausführungen somit – um ein aktuelles Unrechtsbewusstsein ihrerseits als gegeben betrachten zu können – zum Zeitpunkt der tödlichen Schüsse die Erkenntnis besitzen müssen, dass ihr Tun einen Verstoß gegen die verbindliche materiale Wertordnung des Rechts darstellte und daher rechtlich verboten war. Unter der materialen Wertordnung des Rechts muss dabei diejenige Situation verstanden werden, die sich als Konsequenz aus den bereits dargestellten gerichtlichen Annahmen im Rahmen der Rechtswidrigkeit des Grenzgeschehens ergibt: Die auch innerhalb der DDR zum Tatzeitpunkt bestehende uneingeschränkte Fortgeltung des generellen Tötungsverbotes, insbesondere unter Nichtbeachtung möglicherweise existierender, die Flüchtlingstötungen betreffender, Rechtfertigungsgründe des dortigen Rechts. 1. Die besondere Problematik der Erkenntnisgewinnung in den „Mauerschützen“-Fällen Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Tötung der flüchtenden Menschen an der Grenze den „Kernbereich“ des Strafrechts, also jenen Bereich der grundlegenden – das ethische Minimum – betreffenden Normen tangierte, in dem eine fehlende Einsicht in das Unrecht eines Handelns in kaum einem Fall plausibel zu sein scheint112. Tatsächlich dürfte es grundsätzlich auszuschließen sein, dass sich ein geistig gesunder Mensch zum Zeitpunkt seines Handelns nicht etwa über das Verbotensein des Tötens oder Verletzens eines anderen Menschen bewusst ist113. Günter Schewe führt entsprechend zur Ablehnung eines Verbotsirrtums im Kernstrafrecht aus, dass es für eine Person, die „in einer bestimmten Rechtsgemeinschaft“ lebe, unvermeidbar sei, „die grundlegenden rechtlichen Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen und in seinem Handeln zu berücksichtigen“114. Fall die Rechtsordnung den Bezugspunkt des Täterwissens bilden muss bei Stratenwerth, Strafrecht, § 10 Rn. 61. 112 Vgl. Zweites Kap. IV. 113 Ebenso Timpe, GA 1984, 51 (53); vgl. Krauß, S. 50 f.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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Allerdings gilt es zu bedenken, dass dieser natürlich regelmäßig zutreffenden Konstatierung der Gedanke zugrunde liegt, dass der abzuurteilende Täter auch in der Rechtsgemeinschaft lebte, nach deren rechtlichen Zusammenhängen sein Handeln beurteilt werden soll. Selbstverständlich liegt es fern, einem Täter, der in der BRD aufgewachsen ist oder dort zumindest einen längeren Zeitraum gelebt hat, die Berufung auf eine Unkenntnis etwa des grundlegenden Tötungsverbotes zuzugestehen. Einer differenzierenden Betrachtung wird es allerdings in den Fällen bedürfen, in denen der Handelnde in eine spezifische, sich von westlichen Wertvorstellungen unterscheidende Normenordnung eingebunden war, die seine Normkenntnis offenkundig entscheidend bestimmte. Bei Vorliegen einer fremden Sozialisation des Täters, insbesondere aufgrund seiner Abstammung aus fremden Rechts- und Kulturkreisen, erscheint es trotz einer Berührung des Kernbereichs sittlich-ethischer Vorstellungen nicht angemessen, eine fehlende Unrechtserkenntnis von vornherein als abwegig anzusehen und objektiv belegbare Indizien für ein fehlendes Unrechtsbewusstsein zu vernachlässigen. Diese Annahme lässt sich im übrigen im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung treffen, sofern der BGH in seiner bereits genannten Grundsatzentscheidung zum Verbotsirrtum gerade im Hinblick auf die politisch unruhigen Zeiten des 20. Jahrhunderts ausführt: „Für die große Menge der im Reichsstrafgesetzbuch unter Strafe gestellten Verbrechen mochte die Meinung, dass ein unverschuldeter Irrtum über das Verbot nicht wohl denkbar sei, in den politisch und sozial ausgeglichenen Zeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige Berechtigung haben. In Zeiten dagegen, in denen das Gefüge des staatlichen und sozialen Lebens in seinen Grundfesten erschüttert oder geradezu umgestaltet wird, trifft dies nicht zu. Hier werden oft die richtunggebenden Werte durch das Erlebnis der Vergänglichkeit der auf ihnen beruhenden Ordnungen und durch die Ansprüche der um die Macht ringenden Gewalten verdunkelt. Was Recht und Unrecht ist, ist nicht mehr selbstverständlich. Damit eröffnet sich die Möglichkeit des Verbotsirrtums, und zwar auch des unverschuldeten“115.

Somit wird man eine fehlende Unrechtserkenntnis auch im „Kernbereich“ des Strafrechts zumindest als denkmöglich ansehen müssen116. In den „Mauerschützen“-Fällen ist in diesem Zusammenhang in die Überlegungen einzubeziehen, dass dem BGH lediglich aufgrund der außergewöhnlichen historischen Situation die Aufgabe zuteil wurde, über das Geschehen an 114 Schewe, S. 193; vgl. Hruschka, Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin, in: Stratenwerth u. a. (Hrsg.), Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 115 ff. (S. 148). 115 BGHSt 2, 194 (202 f.). 116 Vgl. diesbezüglich Jakobs, Strafrecht, S. 545; Timpe, GA 1984, 51 (54); s. ebenso Roxin, ZStW 78 (1966), 214 (258), der auch im Kernbereich strafrechtlicher Normen eine „Grenzzone der Legalität“ ausmacht, „bei deren Überschreitung der Täter wohl ein ungutes Gefühl verspürt, aber nicht geradezu das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit haben muss“.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

der Grenze zu urteilen. Es liegt auf der Hand, dass die Würdigung der Unrechtserkenntnis der Grenzsoldaten insgesamt das Vorliegen exzeptioneller Bedingungen zu berücksichtigen hat, die auf die Soldaten einwirkten und die ihnen den Blick für das durch ihr Handeln verwirklichte Unrecht genommen haben könnten. Dabei handelt es sich zweifelsohne um Bedingungen, die völlig aus dem Rahmen dessen herausfallen, was im Normalfall der Straftaten unter dem Aspekt des Unrechtsbewusstseins zu berücksichtigen ist. Es gilt im Folgenden, sich die in dieser Hinsicht wesentlichsten Besonderheiten der „Mauerschützen“Fälle als Grundlage der weiterführenden Überlegungen zu vergegenwärtigen, wobei insbesondere drei Gesichtspunkte in besonderem Maße erörterungsbedürftig erscheinen: die soziale Lebenswirklichkeit der „Mauerschützen“, aus der heraus sie an der Grenze tätig wurden; die sich aus dem Umstand ergebenden Konsequenzen, dass es sich bei den todbringenden Schüssen an der Grenze um eine Erscheinungsform kollektiver Gewalt handelte; sowie die grundsätzlich für einen Handelnden bestehenden Schwierigkeiten der Orientierung in einem totalitären System. a) Die soziale Lebenswirklichkeit der Grenzsoldaten: Zugehörigkeit zu einer fremden Staats- und Rechtsordnung Der Ursprung der Schwierigkeiten, die den Grenzsoldaten den Blick für das Unrecht ihres Handelns genommen haben könnten, ist in der sozialen Lebenswirklichkeit, aus der heraus sie ihre Taten begangen haben, zu sehen. Denn es handelte sich bei ihnen dabei offenkundig um eine völlig andere Wirklichkeit als es bei Tätern, deren Handeln üblicherweise innerhalb strafgerichtlicher Prozesse der Beurteilung unterliegt, der Fall ist. Herwig Roggemann bringt die insoweit bestehende Problematik auf den Punkt, indem er feststellt, dass sich der Strafrichter der heutigen, gesamtdeutschen Bundesrepublik bei der Urteilsfindung stets zu vergegenwärtigen habe, dass es sich bei den Grenzsoldaten zum Tatzeitpunkt „ihrer realen, rechtstatsächlichen Lebenssituation nach um Staatsbürger der DDR und als solche um Zugehörige einer fremden Staats- und Rechtsordnung“ gehandelt habe117. Es geht somit in den Fällen der Grenzsoldaten um die Würdigung eines menschlichen Verhaltens, dem nicht das bundesrepublikanische, auch dem Urteilenden vertraute, sondern ein anderes, nicht mehr bestehendes politisches System zugrunde gelegen hat. Aus Sicht der Rechtsunterworfenen dieses Systems existierte allerdings, neben einem grundsätzlich anderen Verständnis von Recht überhaupt, zweifelsohne die Einforderung eines Handelns nach anderen – innerhalb dieses Systems als erstrebenswert angesehenen – rechtlichen Wert- und Verhaltensmaßstäben118. Die Grenzsoldaten weisen entsprechend eine fremde 117

Roggemann, Systemunrecht, S. 19.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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Sozialisation auf, die eine intensive Auseinandersetzung mit den realen Faktoren, die das Bewusstsein der Grenzsoldaten prägten, unerlässlich macht. aa) Das Recht in der politischen Ordnung der DDR Zunächst gilt es diesbezüglich zu berücksichtigen, dass dem Recht in der politischen Ordnung der DDR, in der die Grenzsoldaten lebten und handelten, ein gänzlich anderer Stellenwert beizumessen war als in einem Rechtsstaat nach westlichen Maßstäben. Während in letzterem der Primat des Rechts postuliert und der politische Prozess auf diesem Wege geordnet und begrenzt wird, zeichnete sich eine totalitäre Diktatur wie die der DDR hingegen dadurch aus, dass der Primat der Politik galt, das Recht somit nicht oberster Maßstab und Ordnungsfaktor der Vorgänge im politischen Gemeinwesen war119. Es war „eine der Politik untergeordnete Kategorie“120 und dementsprechend „Mittel zur Verwirklichung der Politik der marxistisch-leninistischen Partei“, es stand „nicht neben oder gar über der Politik“121. Das in der DDR vorherrschende und in diesem Kontext bedeutsame Prinzip der „sozialistischen Gesetzlichkeit“, nach dem die Gesetze in Übereinstimmung mit den Zielen der SED als bestimmender politischen Kraft anzuwenden waren, wird noch Gegenstand der Erörterung sein122. Die genannte Politisierung des Rechts darf jedoch keinesfalls – zu denken ist allein an das Bedürfnis der Staatsführung nach Ordnung und Sicherheit – zu der Schlussfolgerung veranlassen, das Recht in der DDR schlechthin als unmaßgeblich anzusehen. Es existierte auch dort ein Normensystem, das in überwiegenden Teilen denen anderer Länder des westlichen Kulturkreises entsprach123 und dem in einer heutigen Beurteilung nicht lediglich mindere oder etwa keinerlei Rechts- oder Bestandsqualität beigemessen werden darf124. Die Rechtsetzung erfolgte auf dem Wege, den die „Sozialistische Verfassung der DDR“ aus dem Jahre 1968125 vorsah. Von einer völligen Pervertierung des Rechts, die zwischen dem Inhalt der Rechtsnormen und den Unrechtshandlungen des Regimes keinen 118

Vgl. BVerfG, JZ 1997, 142 (146); vgl. Merkel, S. 317. Vgl. Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 1979, S. 1. 120 Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, 1954, S. 66. 121 Gramann/Zachäus, StuR 1973, 885 (886); vgl. zudem Brunner, Einführung, S. 1. 122 Drittes Kap. V. 2. d) bb) (3) (b). 123 So Hirsch, Rechtsstaatliches Strafrecht, S. 10. 124 Vgl. Dreier, Gesetzliches Unrecht, S. 59; Roggemann, Systemunrecht, S. 16 f., der jedoch bei Wassermann, DRiZ 1991, 438 (443 f.) die Tendenz zu erkennen glaubt, in der DDR insgesamt einen Unrechtsstaat zu erblicken, dessen jegliches staatliches Handeln mit einer Unrechtsvermutung und entsprechend einer verminderten Rechts- und Bestandsqualität belastet sei. 125 GBl.-DDR 1968 I, S. 199 ff. 119

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Unterschied mehr erkennen ließ, darf demnach in der DDR keinesfalls ausgegangen werden. Diese Feststellung entspricht der – auch in der NS-Zeit zutage getretenen – Erfahrungstatsache, dass sich staatliches Unrecht in Rechtsordnungen von Unrechtsregimen grundsätzlich nur in einzelnen Teilbereichen findet126. Denn nahe liegender Weise sind entsprechende Regime natürlich bestrebt, „sich möglichst nicht zu sehr durch menschenverachtende Gesetze zu dekuvrieren“ und versuchen daher, „im Bereich der Strafgesetzgebung den Eindruck der Korrektheit zu wahren“127. Gerade das Bestehen einer in erheblichen Teilen auch westlichen Maßstäben durchaus standhaltenden Gesamtrechtsordnung ist allerdings als Hindernis für die Grenzsoldaten zu werten, das mittels ihrer Schüsse auf die flüchtenden Menschen verwirklichte Unrecht zu erkennen. Denn hinsichtlich der Tötungen an der Grenze hat es auch die DDR nicht gewagt, ebenso wie vermutlich noch kein anderer Staat, die Erschießung der Flüchtlinge in aller Offenheit für rechtlich nicht bedeutend und damit die Tötung von Menschen für sozial unauffällig zu erklären128. Sie wurde stattdessen seitens der Staatsführung in „legale Formen gekleidet“129. So bestand selbstverständlich auch in der DDR, normiert in den §§ 112 ff. StGB/DDR, ein grundsätzliches Tötungsverbot, von dem auf tatbestandlicher Ebene keine Ausnahmen gemacht wurden130. Diesen Aspekt hebt auch das BVerfG in seinem zu der „Mauerschützen“-Problematik ergangenen Beschluss vom 24. Oktober 1996131 hervor. Auf den in der Literatur gebrachten Einwand, die Annahme der Unbeachtlichkeit des § 27 GrenzG/DDR in den Urteilen des BGH sei noch keine Antwort auf die Frage, nach welchem Gesetz oder unter welchen Voraussetzungen die Schüsse im Anschluss für strafbar erklärt würden132, betont das Gericht, dass die §§ 112 ff. StGB/DDR zur Tatzeit 126 Auch in der NS-Zeit gab es nur teilweise Unrechtsgesetze im eigentlichen Sinne, viele Unrechtstaten sind aufgrund geheimer Anordnungen erfolgt, s. die Aufzählung der schlimmsten Gesetze bei Hirsch, Rechtsstaatliches Strafrecht, S. 11. 127 Hirsch, Rechtsstaatliches Strafrecht, S. 11 u. S. 29. 128 Vgl. Schroeder, JR 1993, 45 (45), der in diesem Zusammenhang betont, dass die DDR dieses nicht gewagt habe, obwohl sie in einem Rückfall in den Absolutismus ein Eigentumsrecht an ihren „Untertanen“ beansprucht habe; vgl. ders., JZ 1992, 990 (991). 129 So Leggewie/Meier, Zum Auftakt ein Schlussstrich? Das Bewältigungswerk „Vergangenheit Ost“ und der Rechtsstaat, in: Stephan (Hrsg.), Wir Kollaborateure. Der Westen und die deutschen Vergangenheiten, 1992, S. 51 ff. (S. 55). 130 s. auch die Hinweise auf diesen Aspekt durch Pawlik, Das positive Recht, S. 96; ders., GA 1994, 472 (472); Limbach, DtZ 1993, 66 (68); Schroeder, JR 1993, 45 (45); Rittstieg, DuR 1991, 404 (404 u. 407). 131 BVerfG, JZ 1997, 142 ff. 132 Vgl. Jakobs, Strafrecht, S. 121 mit dem Hinweis, dass selbst „die Verneinung der Rechtfertigungswirkung des Schießbefehls die Strafbarkeit nicht wiederherstellen kann. (. . .) Eine Normenordnung wird verfälscht, wenn aus ihrem Zusammenhang einzelne Normen gestrichen und damit die verbleibenden Normen inhaltlich verändert werden; die veränderten Normen sind dann nicht mehr die des betreffenden Staats“;

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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ein „umfassendes strafrechtliches Verbot vorsätzlicher Tötungen von Menschen“ enthielten und den „schweren Unrechtsgehalt solcher Taten durch erhebliche Strafdrohungen“ kennzeichneten133. Diese Feststellung des BVerfG entspricht dem Befund, dass die „grundsätzliche Strafbarkeit vorsätzlicher Tötungen zum elementaren Bestand aller zivilisierten Rechtskulturen“ gehört134. Dementsprechend kann und soll keineswegs bestritten werden, dass nicht auch in den Staaten des Warschauer Paktes und insbesondere in der DDR das grundsätzliche Tötungsverbot allgemein bekannt und somit auch den Grenzsoldaten ohne den geringsten Zweifel jederzeit gegenwärtig war135. Dennoch hat die Kenntnis des elementaren Tötungsverbotes die Schützen bekanntermaßen nicht daran gehindert, ihre Schusswaffe mit tödlichem Ausgang gegenüber fliehenden Menschen einzusetzen. Sie war demnach nicht ausreichende Motivation dafür, den entsprechenden Gebrauch der Schusswaffe zu unterlassen. Es ist daher in den Fällen der Grenzsoldaten nach den Gründen für diesen Umstand zu fragen, das bedeutet, es werden letztlich die Ausnahmen entscheidend zu würdigen sein, die von diesem generellen Tötungsverbot offenkundig in der DDR gemacht wurden und die es bekanntlich auch in unserer Rechtsordnung – auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe, wie etwa der Notwehr – gibt136. Zwar verdeutlicht bereits das Rechtswidrigkeitsurteil hinsichtlich des Handelns an der Grenze, dass entsprechende Ausnahmen nach der bundesrepublikanischen Rechtsordnung nicht anzuerkennen sind, dieser Umstand ist jedoch unabhängig von der Frage, ob die Grenzsoldaten gerade aus ihrem Blickwinkel eine Aushebelung des generellen Tötungsverbots möglicherweise für verbindlich und legitim hielten und sie die Schüsse in Übereinstimmung mit einer solchen Annahme nicht als Verstoß gegen die Wertordnung des Rechts ansahen.

ders., GA 1994, 1 (11) mit dem Einwand, die Tötung der Flüchtlinge wäre lediglich dann strafbares Unrecht, „wenn es eine Norm des Inhalts gegeben hätte, jede Tötung ohne Rechtsgrund sei strafbares Unrecht. So scheinen sich die §§ 112 und 113 des StGB der DDR, (. . .) auch zu lesen, aber dies wäre eine naive Lektüre“; zustimmend Roggemann, DtZ 1993, 10 (13 in Fn. 37); vgl. zu diesem Aspekt ebenso Kaufmann, NJW 1995, 81 (84 f.). 133 BVerfG, JZ 1997, 142 (145). 134 BGHSt 41, 101 (112 f.); vgl. Dreier, JZ 1997, 421 (430), der betont, dass es sich bei diesem Befund nicht nur um ein – wie vom BGH hervorgehoben – in zivilisierten Rechtskulturen vorkommendes, sondern um ein elementares, in allen Kulturen geltendes und selbst in segmentären Gesellschaften anzutreffendes Tötungsverbot handelt. 135 Vgl. Limbach, DtZ 1993, 66 (68); s. ebenso Roos, S. 272. 136 Vgl. Roos, S. 272 sowie Dreier, JZ 1997, 421 (430).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

bb) Das sozialistische Menschenbild in der DDR Neben der grundlegend verschiedenen Rolle des Rechts ist das Bestehen von unterschiedlichen – jeweils als erstrebenswert angesehenen – Wert- und Verhaltensmaßstäben innerhalb der politischen Systeme der DDR und der BRD in die Überlegungen einzubeziehen. Die in der DDR für den einzelnen Staatsbürger und entsprechend auch für den einzelnen Grenzsoldaten und sein Handeln als bedeutsam angesehenen Verhaltensmaßstäbe zeigten sich dabei eindrucksvoll an dem seitens der politischen Führung des Landes definierten und vermittelten Menschenbild. In diesem Aspekt bestanden gravierende Unterschiedlichkeiten zwischen der DDR und der BRD, die bereits in dem jeweiligen Verfassungsrecht deutlich zutage traten. Die „sozialistische Verfassung“ der DDR137 aus dem Jahre 1968 war nicht eine solche des liberalen rechtsstaatlichen Typs138. Nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 Verf./DDR war die DDR „die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. Aus dieser Prämisse resultierte eine gänzlich andere Rechtsstellung des Individuums in der Gemeinschaft, wobei im Verhältnis zur bundesrepublikanischen Verfassung der BRD eine beinahe idealtypische Gegensätzlichkeit vorlag. Einer menschenrechtlichen Grundrechtskonzeption mit begrenzter staatsbürgerlicher Gemeinwohlbindung auf der einen Seite stand eine staatsbürgerliche Grundpflichtenkonzeption mit äußerst eng begrenzten (subjektiv-öffentlichen) Individualrechten auf der anderen Seite gegenüber139. Die von der Verfassung der DDR zur Norm erhobene „sozialistische Persönlichkeit“ (Art. 25 Abs. 3 S. 3 Verf./DDR) war im Gegensatz zu dem Leitbild des mündigen, selbstverantwortlich handelnden Bürger des bundesrepublikanischen Grundgesetzes in erster Linie ein unselbständiges Funktionselement des von der Partei gesteuerten Staatswesens140. Ihr Individualinteresse war dem Gemeininteresse in jedem Fall untergeordnet, sie wurde charakterisiert durch die ideologische und politische Ergebenheit gegenüber dem jeweiligen Regierungskurs der SED, durch „das Eintreten für die revolutionäre Sache der Arbeiterklasse, Treue zum Sozialismus und die Bereitschaft, seine Errungenschaften zu schützen und zu verteidigen“141. Es galt somit für das Individuum und entspre137

s. die Präambel der Verf./DDR, GBl.-DDR 1974 I, S. 425. s. zu der Verfassung der DDR ausführlich Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar, 1982, S. 31 ff. sowie Roggemann, Die sozialistische Verfassung der DDR. Einführung in das Recht der DDR unter vergleichender Berücksichtigung der Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik. Erster Teil, 1970, S. 9 ff. 139 Luchterhandt, Allgemeiner Status des Staatsbürgers, in: Bürger und Staat. Eine vergleichende Untersuchung zu Praxis und Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, 1990, S. 5 ff. (S. 20 f.); vgl. ders., Der verstaatlichte Mensch. Die Grundpflichten des Bürgers in der DDR, 1985, S. 1 ff. 140 s. Luchterhandt, Allgemeiner Status, S. 21. 138

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chend auch für den jeweiligen Soldaten an der Grenze – dies wurde seitens der damaligen Machthaber natürlich jederzeit vermittelt und eingefordert – aktiv am sozialistischen Aufbau mitzuwirken und diesen mit allen Mitteln zu verteidigen. Als verteidigenswerte Errungenschaften des Sozialismus wurden dabei auch stets der Kampf um den Weltfrieden und die damit verbundene Befreiung der Menschheit von der Geißel des Krieges hervorgehoben, wobei die Erreichung dieser Ziele ohne den Bau der Mauer sowie die gewaltsame Verteidigung der Staatsgrenzen eben als nicht möglich dargestellt wurde142. Es kann im Hinblick auf diese Erkenntnisse natürlich keineswegs verwundern, dass die Flüchtlinge, die nach Ansicht der Staatsführung den Aufbau des Sozialismus und die Verfolgung seiner Ziele nicht unterstützen und somit dem erstrebten Menschenbild nicht entsprachen, als Feinde und Verräter der sozialistischen Idee, dies wird zu einem späteren Zeitpunkt noch Gegenstand einer intensiveren Erörterung sein143, dargestellt wurden, denen gegenüber zur Verhinderung des Grenzübertritts die Schusswaffe eingesetzt werden konnte und sollte. Über das in der DDR bestehende und seitens der politischen Führung vermittelte Menschenbild erscheint nahezu alles gesagt, sofern man eine Aussage des Mitglieds des SED-Politbüros Albert Norden während eines Besuchs der Berliner Grenztruppen einbezieht: „Ihr schießt nicht auf Bruder und Schwester, wenn ihr mit der Waffe den Grenzverletzer zum Halten bringt. Wie kann der euer Bruder sein, der die Republik verrät, der die Macht des Volkes antastet! Auch der ist nicht unser Bruder, der zum Feinde desertieren will. Mit Verrätern muss man sehr ernst sprechen. Verrätern gegenüber menschliche Gnade zu üben, heißt unmenschlich am ganzen Volke handeln. Und man muss in dieser unserer Zeit an jener Stelle, an der wir stehen, nämlich an der Nahtstelle zwischen den beiden Welten, der Welt des Friedens hier und der Welt des Krieges, um des Friedens willen, entschieden handeln“144.

Des Weiteren ist im Hinblick auf die zwischen der DDR und der BRD differierenden Wertmaßstäbe hervorzuheben, dass in der DDR die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen durch Art. 7 Abs. 1 Verf./DDR zu einem Rechtsgut von Verfassungsrang erhoben wurde. Der BGH gelangt entsprechend dieses Umstandes zu dem Urteil, dass in der DDR „die Verhinderung des Grenzübertritts als überragendes Interesse aufgefasst wurde, hinter das persönliche Rechtsgüter einschließlich des Lebens zurücktraten“145. Es wird in die Überlegungen einzu141 Parteiprogramm der SED von 1976 unter dem Stichwort „Die sozialistische Lebensweise“, in: Protokoll der Verhandlungen des IX. Parteitages der SED, Bd. 2, S. 248 f. 142 Vgl. etwa Hampf, Militärwesen 9/1976, 3 (9 f.) sowie eindrucksvoll Ruge, FAZ v. 29. August 1991, S. 21. 143 Drittes Kap. V. 2. b) cc). 144 Zit. nach Volksarmee 41/1963, 3; eine Wiedergabe dieser Aussage ist zudem in Sauer/Plumeyer, Der Salzgitterreport. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat, 1991, S. 53 f. zu finden.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

beziehen sein, dass die erläuterten politischen und verfassungsrechtlichen Anschauungen in der DDR natürlich den dort lebenden Menschen gegenüber Geltung beanspruchten und auch die Schützen an der Grenze unter ihnen aufwuchsen. cc) Die Bedeutung des Eingehens auf die Lebenswirklichkeit eines Täters Die letztgenannten Erwägungen werfen allerdings die grundsätzlich bedeutsame Frage auf, ob und in welchem Umfang der konkreten Lebenswirklichkeit eines Täters und somit einer möglichen Eigengesetzlichkeit abweichender Lebenswelten im Rahmen der Feststellung strafrechtlicher Schuld überhaupt eine Bedeutung beigemessen werden darf. Es könnte in diesem Zusammenhang der Gedanke aufzuwerfen sein, dass ein allzu intensives Eingehen auf entsprechende Gesichtspunkte unweigerlich die Gefahr einer nicht akzeptablen Einschränkung der strafrechtlichen Ordnungsfunktion in der Gesellschaft mit sich bringen würde. Otto Backes teilt derartige Bedenken nicht und hebt hervor, dass im Rahmen der Zurechnung einer Verhaltensweise „eine Offenheit des Gesetzes“ bestehe, die sich „auf die konkrete Lebenswirklichkeit des Angeklagten, aus der heraus er die Straftat begangen hat“ beziehe und die der Richter jedenfalls innerhalb der Schuld durch ein umfassendes und angemessenes Einlassen auf die entsprechende Wirklichkeit ausfüllen müsse146. Ein Eingehen auf die Lebenswirklichkeit des Angeklagten sei, zumindest im Kernbereich des Strafrechts, „strafrechtsdogmatisch geradezu geboten, weil anders Schuld nicht festgestellt werden“ könne147. Diesem Anliegen scheint bezüglich der „Mauerschützen“-Fälle der Umstand zu entsprechen, dass auch das BVerfG hervorhebt, dass die Grenzsoldaten „bei Ausführung der ihnen vorgeworfenen Taten auf verschiedenen Ebenen in ein System von Befehl und Gehorsam eingebunden waren“ und somit die Feststellung der strafrechtlichen Schuld „mit besonderer Sorgfalt zu treffen“ sei148. Auch Horst Dreier misst im Rahmen des individuellen Schuldvorwurfs gegenüber den handelnden Schützen den „ineinanderwirkenden und sich wechselseitig stabilisierenden Faktoren von politischer Indoktrination, gesamtstaatlicher Pression und der besonderen Situation der unter Vergatterung stehenden Solda145

BGHSt 39, 1 (13). Backes, Strafrecht und Lebenswirklichkeit, in: Kaufmann u. a. (Hrsg.), Festschrift für W. Maihofer, 1988, S. 41 ff. (S. 42). 147 Backes, S. 57. 148 BVerfG, JZ 1997, 142 (146); diese Feststellung der Schuld mit besonderer Sorgfalt dürfte zudem bereits die Tatsache, dass der BGH in seinem ersten „Mauerschützen“-Urteil selbst „32 Seiten mühseliger Begründung“ benötigt, um die Strafbarkeit der Grenzsoldaten darzulegen, als selbstverständlich erscheinen lassen, vgl. Hillenkamp, JZ 1996, 179 (184). 146

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ten“ eine erhebliche Bedeutung bei, die er allerdings in dem ersten „Mauerschützen“-Urteil des BGH, das, wie eingangs erläutert, letztlich zu einem Schuldvorwurf gegen die Grenzsoldaten gelangt149, als „kaum hinlänglich beachtet“ ansieht150. Herwig Roggemann sieht sich angesichts der genannten Faktoren zu dem Hinweis veranlasst, dass die strafrechtliche Würdigung des Geschehens an der Grenze für den jeweiligen Richter die Gefahr einer „unreflektierten, jedenfalls unangemessenen Verabsolutierung eigener positivrechtlicher oder überpositiver Wertmaßstäbe und Inhalte gegenüber den Rechtsunterworfenen eines anderen politischen Systems“ beinhalte151. Eben um die genannten Feststellungen angemessen berücksichtigen und der letztgenannten Gefahr entgehen zu können, wird es somit zwingend notwendig sein, den Versuch eines Hineindenkens in die Personen der Grenzsoldaten, und dementsprechend in die Lebenswelt einer Diktatur, zu unternehmen. Es bedarf eines Perspektivenwechsels, in dessen Rahmen Recht und Unrechtsbewusstsein nicht als etwas angesehen werden, was von außen oder von oben über die Menschen kommt und wonach sie sich dann zu richten haben, sondern einbezogen wird, dass Recht die in einer Gemeinschaft gelebte und erlebte Ordnung verkörpert, die vorhanden ist und in aller Regel als verbindlich hingenommen wird. Das Landgericht Hamburg formuliert entsprechend in seinem eingangs genannten Urteil aus dem Jahre 1976: „Der BGH bezeichnet den einzelnen zutreffend als ,Teilhaber der Rechtsgemeinschaft‘: Wirkliches Recht existiert nicht in Gesetzesblättern, auch nicht im abstrakten individuellen Bewusstsein, sondern in der Gemeinschaft: In ihr ,gilt‘ es; es tritt jedem wirklich entgegen in der erfahrenen Alltagspraxis (. . .)“152.

Somit wird sich jeder Urteilende stets die „bange Frage“ stellen müssen: „Wie hätten wir uns unter dem Diktat dieser Gesellschafts- und Rechtsordnung verhalten?“153. Diese Frage eröffnet zum einen den Blick für die bei diesem Unterfangen auftretenden Schwierigkeiten, die in der Literatur mit dem Hinweis zum Ausdruck gebracht werden, ob ein entsprechendes Hineindenken in die Lebenswelt einer Diktatur für altbundesrepublikanische Richter oder Urteilende überhaupt möglich ist154. Zum anderen zeigt sie allerdings auch in aller Deut149

s. o. Einleitung. Dreier, JZ 1997, 421 (430); vgl. zudem den Hinweis auf diese Faktoren bei Hillenkamp, JZ 1996, 179 (184). 151 Roggemann, Systemunrecht, S. 18 f. 152 LG Hamburg, NJW 1976, 1756 (1757). 153 Limbach, ZRP 1992, 170 (175) mit dem Hinweis, dass wir „ja wohl vor dem Irrglauben gefeit“ sind, „dass in der Altbundesrepublik zufällig die besseren Menschen gelebt haben“; s. in diesem Zusammenhang auch Roggemann, Systemunrecht, S. 19, nach dessen Auffassung die deutsche Geschichte die genannte Frage bereits präzise beantwortet habe: „Genauso. Denn Nationalsozialismus und Staatssozialismus sind gesamtdeutsche (Rechts-)Geschichte“. 154 Vgl. Limbach, DtZ 1993, 66 (69). 150

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

lichkeit die Notwendigkeit auf, die soziale Lebenswirklichkeit der Schützen intensiv in die Erörterungen einzubeziehen und sie hinsichtlich der Möglichkeit zu würdigen, inwiefern sie den Grenzsoldaten die Erkenntnis des Unrechts ihres Handelns genommen haben könnte155. Allein auf diesem Wege erscheint es möglich, das Verhalten und die für das Schuldurteil notwendige Unrechtseinsicht der Schützen angemessen würdigen zu können. b) Die tödlichen Schüsse als Erscheinungsform kollektiver Gewalt Ein weiteres, in den „Mauerschützen“-Fällen bestehendes Problem, das möglicherweise als bedeutendes Hindernis für die Unrechtseinsicht der Grenzsoldaten angesehen werden muss und dabei einen deutlichen Bezug zu der zuvor erörterten sozialen Lebenswirklichkeit der Schützen aufweist, tritt in der Feststellung des BGH zutage, dass die in der militärischen Hierarchie ganz unten stehenden Soldaten „in gewisser Weise auch Opfer der mit dieser Grenze verbundenen Verhältnisse“ seien156. Ebenfalls kann in diesem Zusammenhang auf den in der Literatur genannten Umstand verwiesen werden, dass die Schützen in einem totalitären Herrschaftsapparat lebten und handelten, der sich in der spezifischen politischen Situation eines „gewissermaßen hochneurotischen Frontstaates des Warschauer Pakts in der Zeit des Kalten Krieges“157 befand und der die tödlichen Schüsse an der Grenze zur Durchsetzung seiner kommunistischen Ideologie und der Sicherung seines Machtanspruchs erst auslöste158. Es ist von dem – innerhalb der „Mauerschützen“-Problematik sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur eher untergeordnet berücksichtigten – Aspekt die Rede, dass es sich bei den todbringenden Schüssen an der Grenze um eine Erscheinungsform kollektiver Gewalt, als staatlich ausgelöste Verbrechen vielmehr um eine Extremform kollektiver Gewalt, handelte. Der Umgang mit Tätern entsprechender Fallgruppen, so konstatiert Herbert Jäger, der sich eingehend mit der wissenschaftlich bislang eher vernachlässigten kollektiven Verbrechensdimension beschäftigte, bereite dem Strafrecht besondere Probleme. Der Grund liege vor allem darin, dass gerade die gemeinschaftliche Tatbegehung, die Massen- und Gruppenverbrechen als besonders schwerwiegend erscheinen lasse, zu Zweifeln an der Verantwortlichkeit des einzelnen Täters Anlass gebe. Es bleibe entsprechend die Frage, „ob selbst schwerste For155 s. die Kritik der Strafrechtswissenschaft bei Maihofer, Gesamte Strafrechtswissenschaft, in: Roxin u. a. (Hrsg.), Festschrift für H. Henkel, 1973, S. 75 ff. (S. 85 ff.), nach welcher sie als reine Normwissenschaft die Dimension der sozialen Realität durch Ausblendung der Ursachen des Verbrechens verfehle. 156 BGHSt 39, 1 (36). 157 Merkel, S. 319. 158 s. die Hinweise auf diesen Gesichtspunkt bei Hirsch, Rechtsstaatliches Strafrecht, S. 5 sowie Leggewie/Meier, S. 55.

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men kollektiver Destruktivität subjektiv zurechenbar und daher als Verbrechen zu bewerten sind, mit einer seltsamen Unsicherheit behaftet. Denn was auf der Ebene des Unrechts eindeutig zu sein scheint, wird bei der Beurteilung der Schuld wieder fraglich“159. Es gilt im Folgenden, sich den Ursprung der angeführten Zweifel und Unsicherheiten hinsichtlich der subjektiven Zurechnung kollektiver Gewalt zu vergegenwärtigen sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen bezüglich der vorliegenden Ausführungen zu erörtern. Sämtlichen Varianten kollektiv begangener Verbrechen ist gemeinsam, dass das Handeln des einzelnen Täters „nicht als isolierte Tat und punktuelles Ereignis denkbar ist, sondern nur als Teil eines kollektiven Aktionszusammenhangs, der eine nicht wegzudenkende Rahmenbedingung der individuellen Handlung darstellt“160. Unverkennbar war auch das Handeln der „Mauerschützen“ in Form der tödlichen Schüsse an der Grenze eingebunden in das Handeln eines Kollektivs, des Systems der DDR, das letztlich als Urheber des Geschehens erscheint. Hätte es die dortige Staatsführung nicht für notwendig erachtet, die Menschen durch die Schließung der Grenze am Verlassen des Landes zu hindern und diesen Vorgang mittels Waffengewalt durchzusetzen, wären die Gewaltakte der Grenzsoldaten an der Mauer niemals geschehen. Daher setzten die tödlichen Schüsse an der Grenze offenkundig einen die Gesamtgesellschaft der DDR betreffenden Konflikt, den damals zwischen Ost und West bestehenden Kalten Krieg, voraus. In dieser Hinsicht scheint das Handeln der Grenzsoldaten zumindest in gewissem Maße in einem Gegensatz zu der in der Kriminologie grundsätzlich herrschenden Betrachtungsweise, dass es sich bei der Kriminalität um abweichendes Verhalten des Täters handelt, zu stehen161. Es ist bei gemeinschaftlich begangenen Straftaten in die Überlegungen einzubeziehen, dass gerade Mechanismen der Anpassung an das Kollektiv das Verhalten des Einzelnen, ebenso sein Gefühl für Recht oder Unrecht, zu beeinflussen vermögen und dass „ein abweichendes Verhalten im Rahmen einer Subkultur sozial angepasst sein kann“162. Daher erscheint es geboten und notwendig, das Geschehen an der Grenze, ebenso wie jegliches kollektives Verhalten, unter dem Aspekt der Konformität und des konformen Handelns zu würdigen und nach den sich aus diesem Blickwinkel ergebenden Erkenntnissen bezüglich eines möglichen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten zu fragen.

159 Jäger, Individuelle Zurechnung kollektiven Verhaltens. Zur strafrechtlich-kriminologischen Bedeutung der Gruppendynamik, 1985, S. 7; ders., Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, 1989, S. 132; vgl. zudem Roos, S. 275. 160 Jäger, Makrokriminalität, S. 11 f. 161 Zu der in der Kriminologie grundsätzlich vorherrschenden Sichtweise des kriminellen Handelns s. Jäger, Makrokriminalität, S. 14 ff. 162 Quensel, Sozialpsychologische Aspekte der Kriminologie. Handlung, Situation und Persönlichkeit, 1964, S. 173.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

aa) Die Rollen-Normen-Anpassung der Grenzsoldaten Das Gefühl des Menschen für Recht und Unrecht wird – diese Erkenntnis darf heutzutage als gesichert gelten – bedeutend durch den Aspekt der gesellschaftsbezogenen Konformität oder Inkonformität eines Handelns geprägt163. Es orientiert sich in erheblichem Maße an dem, was „unsere gesellschaftliche Umwelt an Forderungen, Erwartungen, Konventionen und dergleichen vorschreibt“164. Entsprechend wird jeder Mensch als Individuum in seinem Verhalten durch die Bedingungen des Soziallebens seiner Gruppe beeinflusst, deren Element er ist165. Er steuert sein Handeln nach dem Umfang an anerzogenem Wissen und Erfahrungswissen hinsichtlich des typischen Verhaltens, das in typischen Situationen innerhalb eines bestimmten Gesellschaftsintegrats – seines Bezugsfeldes – erwartet wird166. Aus Sicht der Grenzsoldaten konnte das für sie relevante Bezugsfeld, ihren konkreten Lebensumständen nach, lediglich das politische System der DDR sein, in dem sie aufwuchsen und lebten. Ein anderes lernten sie erst nach ihren tödlichen Schüssen, mit der Wende und der Wiedervereinigung, kennen. Der für sie relevante Maßstab konnte somit zwangsläufig nur das Handeln sein, welches ihr System – die DDR – von ihnen einforderte. Bedauerlicherweise handelte es sich hierbei um die Tötung von Mitmenschen, die lediglich die Grenze der DDR in Richtung BRD überschreiten wollten. Die Grenzsoldaten, die an der Grenze Schüsse auf flüchtende Menschen abgaben, füllten daher die Rollen aus und handelten nach den Normen, die ihnen die für sie relevante Umwelt vorgab. Sie passten sich in das für sie zur damaligen Zeit relevante Rollen-Normen-Gefüge ein. Diesem Aspekt kommt, wie zuvor bereits erwähnt, eine wesentliche Rolle für das Unrechtsbewusstsein zu. Während sich der straffällige Täter nach der in der Kriminologie vorherrschenden Betrachtungsweise üblicherweise inkonform verhält, indem er gegen die an ihn gestellten Erwartungen der Gesellschaft handelt und die Normen und Regeln seines Bezugsfeldes missachtet167, erfüllten die Schüsse der Grenzsoldaten auf flüchtende Mitbürger gerade die Erwartungen ihrer Vorgesetzten und der über allen Vorgängen thronenden Staatsführung der DDR. Sie handelten somit innerhalb ihres Bezugsfeldes durchaus konform168. 163 s. hierzu etwa Hofstätter, Sozialpsychologie, 1973, S. 33 ff.; ebenso Schumacher, Psychologische Mechanismen, S. 177 ff. 164 Schumacher, Psychologische Mechanismen, S. 178. 165 Vgl. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge. Beiträge zur Rechtssoziologie, 1966, S. 339 ff. sowie ders., Rechtssoziologie, in: Eisermann (Hrsg.), Die Lehre von der Gesellschaft. Ein Lehrbuch der Soziologie, 1969, S. 147 ff. (S. 199 ff.). 166 s. Hirsch, Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums in juristischer und soziologischer Sicht, in: Kaulbach/Krawietz (Hrsg.), Festschrift für H. Schelsky, 1978, S. 211 ff. (S. 215 f.). 167 s. Drittes Kap. V. 1. b).

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In diesem Zusammenhang bedarf es allerdings der Einbeziehung eines weiteren – in der „Mauerschützen“-Problematik oftmals angeführten – Gesichtspunktes. Es wird darauf hingewiesen, dass die große Mehrzahl der Menschen in der DDR den Gebrauch von Schusswaffen an der Grenze missbilligt169 oder sogar unmittelbar „für Unrecht“ gehalten habe170. Zumindest der erstgenannten Feststellung ist sicherlich zuzustimmen, das Grenzregime der DDR dürfte in der eigenen Bevölkerung überwiegend auf Ablehnung gestoßen sein171. Nach dieser Sichtweise könnte somit in Erwägung zu ziehen sein, dass die Grenzsoldaten überhaupt nicht entsprechend den Erwartungen ihrer Gesellschaft und nach den Normen, die ihre Umwelt vorgab, handelten. Diesem Befund entsprechend hebt Christian Stark hervor, dass die für die Grenzsoldaten relevante Rechtsgemeinschaft die Bevölkerung insgesamt gewesen sei, deren Rechtsbewusstsein den überlieferten Rechtsgrundsätzen entsprochen habe172. Diesem Gesichtspunkt ist jedoch entgegenzuhalten, dass seitens der DDRStaatsführung natürlich versucht wurde, den Soldaten eine Orientierung an der Gesamtbevölkerung und somit die Erfassung der in ihr herrschenden ablehnenden Stimmung zu erschweren. Entsprechend wurden die Grenzsoldaten zur Erfüllung ihres Dienstes „aus allen Teilen der DDR zusammengeholt. (. . .) Alle möglichst weit weg von daheim173. Die Stationierung fand meist in kleineren Orten oder an entlegenen Standorten – gegenüber dem Hinterland der DDR isoliert – statt174. Ausgang gab es für Soldaten im Grundwehrdienst lediglich einmal in der Woche nach Dienst bis 24.00 Uhr175. Auch die Urlaubstage waren knapp bemessen, es standen ihnen in 18 Monaten Wehrdienst insgesamt 18 168 Vgl. zu den – das Unrechtsbewusstsein eines Täters betreffenden – Auswirkungen des Umstands, dass der unter totalitären Bedingungen Handelnde nicht in einem gesellschaftlichen und institutionellen Umfeld agiert, in dem sich am Recht orientierendes, konformes Verhalten die Regel, unrechtmäßiges abweichendes Handeln hingegen die Ausnahme darstellt auch Zielcke, Völkermord ohne Unrechtsbewusstsein?, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht. Prinzipien der strafrechtlichen Zurechnung und Sanktionsprobleme – Strafe im Übergang. Erster Teilbd., 1980, S. 200 ff. (218 ff.). 169 BGHSt 39, 1 (34); vgl. Bath, DA 1990, 1733 (1740); einschränkend Amelung, NStZ 1995, 29 (30), der lediglich eine „verstohlene Missbilligung durch Mitbürger“ feststellt. 170 So LG Berlin, JZ 1992, 691 (695). 171 Ebenso Miehe, S. 666. 172 Starck, VVDStRL 1992 (51), S. 9 ff. (S. 29). 173 s. Janott, S. 313 sowie Ruge, FAZ v. 29. August 1991, S. 27; vgl. weiterhin Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/1991, S. 72 (S. 76). 174 s. hierzu Lapp, Frontdienst im Frieden – die Grenztruppen der DDR. Entwicklung – Struktur – Aufgaben, 1987, S. 73 sowie die knappen Hinweise bei Holzweißig, Militärwesen in der DDR, 1985, S. 96. 175 Die diesbezügliche Situation höherer Dienstgrade sah dagegen besser aus, sicherlich auch daher, weil man die militärische Ausbildung bei diesen Soldaten als gefestigter angesehen haben dürfte, vgl. Lapp, Frontdienst, S. 73.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Tage zu, die allerdings in Einheiten von drei bis fünf Tagen aufzuteilen waren176. Aufgrund dieser Umstände erscheint es nahe liegend, die für das Handeln der Grenzsoldaten relevante soziale Bezugsgruppe weniger in der Gesamtbevölkerung der DDR als in ihrer jeweiligen militärischen Einheit zu sehen. Insofern bleibt es bei der zuvor vertretenen Auffassung, dass sie – innerhalb desjenigen Gesellschaftsintegrats, das aus ihrer Perspektive als maßgeblich angesehen werden konnte und musste – durchaus konform handelten. bb) Der Einfluss gruppendynamischer Kräfte Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das aktuelle Unrechtsbewusstsein eines Täters ausschließlich im psychisch-intellektuellen Bereich, nicht dagegen im Reich der Wertungen, angesiedelt ist177. Es wird somit zu berücksichtigen sein, dass beim handlungsmäßigen Zusammenwirken mehrerer Personen von der Entstehung oder zumindest möglichen Entstehung bestimmter Kräfte auszugehen ist, die sich dem Individuum dadurch aufzwingen und in seine Psychologie eingreifen, dass es in einen Kommunikations- bzw. Interaktionszusammenhang mit anderen eintritt. Das kriminelle Handeln in einer Gruppe, einer Masse oder einem jeweiligen kollektiven System kann entsprechend vielfältigen gruppendynamischen Kräften unterliegen, die es beeinflussen178. Die tatsächliche Möglichkeit des Vorhandenseins von Kräften, die aus der Dynamik einer handelnden Gruppe hervorgehen und in entscheidendem Umfang auf Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Erkennen und Verhalten eines jeden Individuums innerhalb des Kollektivs einwirken können, entspricht dabei empirisch belegten Erkenntnissen der Psychologie und ist daher nicht zu bezweifeln179. Willi Schumacher zufolge wird ihr Auftreten und ihre Einwirkungsmöglichkeit grundsätzlich insbesondere dann anzunehmen sein, sofern ein Zusammenschluss von Individuen eher durch „affektive und emotionale Kräfte“, weniger durch „kognitive, d. h. überlegungsmäßige, planende Momente“ geprägt ist180. 176 So Ruge, FAZ v. 29. August 1991, S. 27, der als Konsequenz nennt, dass er seine Ehefrau in seiner Wehrdienstzeit lediglich viermal im Jahr sehen durfte; vgl. auch Lapp, Frontdienst, S. 73. 177 Drittes Kap. I. 178 Vgl. Jäger, Individuelle Zurechnung, S. 7 u. S. 24 ff.; ders., Makrokriminalität, S. 132 u. S. 151 ff.; Schumacher, Psychologische Mechanismen, S. 193 ff.; s. zudem als Einführung in die Thematik auch Hofstätter, Gruppendynamik. Kritik der Massenpsychologie, 1971, S. 192 ff. 179 s. Schumacher, NJW 1980, 1880 (1880) m. w. N., der in diesem Zusammenhang von fremdgesetzlichen, der Persönlichkeit des Täters primär nicht innewohnenden, Kräften spricht, die im Verhältnis zu solchen persönlichkeitseigener Art ein echtes aliud darstellten und denen vom Blickpunkt der empirischen Forschung bei der Beurteilung der persönlichen Schuld eine besondere Berücksichtigung beizumessen sei; s. zudem Hofstätter, Einführung in die Sozialpsychologie, 1973, S. 309 ff.; sowie Cabanis, StV 1982, 315 (315 ff.).

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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Der todbringende Schusswaffeneinsatz an der Grenze wurde natürlich seitens der DDR-Staatsführung planmäßig befohlen und durch die Schaffung entsprechender Einrichtungen und Sicherheitsvorkehrungen ermöglicht. Auch war es den Grenzsoldaten selbst hinlänglich möglich, bereits im Vorfeld über den möglichen Einsatz der Schusswaffe gegenüber ihren Mitbürgern, dies dürfte, wie bereits erwähnt, auch geschehen sein181, nachzudenken, so dass ein entsprechendes Verhalten durchaus in ihrer Absicht oder Planung lag. Allerdings ist trotz dieses Umstands zu bedenken, dass sich für die ausführenden Grenzsoldaten selbst, auch dieser Aspekt wurde bereits angesprochen, meist unerwartet und urplötzlich die Situation ergab, mit ihren Kameraden auf flüchtende Mitbürger schießen und diese möglicherweise tödlich verletzen zu müssen182. In einer solchen Lage erscheint es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass das Zusammenwirken der Soldaten in erster Linie unter affektiven und emotionalen Kräften erfolgte und somit nach den vorherigen Feststellungen gruppendynamische Einflüsse bestanden, die auf sie einwirkten183. Im Folgenden stellt sich daher die Frage, ob es grundsätzlich plausibel erscheint, dass vorliegende gruppendynamische Kräfte derart auf einen Handelnden einzuwirken vermögen, dass ihm zum Zeitpunkt seiner Tat das notwendige Bewusstsein – in Form der Kenntnis des Widerspruchs des eigenen Verhaltens zu den rechtlichen Sollensanforderungen – nicht gegeben war. Nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen scheint diese Frage bejaht werden zu können, denn es wird nicht selten vertreten, dass mangelndes Unrechtsbewusstsein und fehlendes Verantwortungsgefühl bei nahezu allen Gruppentätern nachweisbar sei184. Zumindest erscheint es nicht generell auszuschließen zu sein, dass eine Beeinträchtigung des Unrechtsbewusstseins des Individuums unter der Einwirkung gruppendynamischer Kräfte stattfindet. Diese Erkenntnis dürfte auch gegenüber den DDR-Soldaten in ihrer spezifischen Situation Geltung beanspruchen, wobei angemerkt sei, dass eine solche Annahme unter Umständen durch die bereits genannte Möglichkeit der Schützen, sich schon im Vorfeld der Taten ein jeder180

Schumacher, NJW 1980, 1880 (1881). Vgl. Drittes Kap. IV. 2. a) aa). 182 s. Drittes Kap. I. 183 s. etwa das Geschehen in BGHSt 39, 168 (172), in dem zwei Postenpaare, insgesamt somit vier Grenzsoldaten, unter Einsatz ihrer Schusswaffen versuchten, zwei Flüchtlinge am Grenzübertritt zu hindern und u. a. einer der beiden Postenführer seinem Kameraden zurief: „Schieß doch!“. 184 So etwa Cabanis, StV 1982, 315 (317); vgl. auch Jäger, Individuelle Zurechnung, S. 39; ders., Makrokriminalität, S. 166; ebenso Schumacher, NJW 1980, 1880 (1883), der es trotz der von ihm vertretenen Auffassung, Gruppeneinflüsse grundsätzlich in den Bereich der Schuldminderungs- bzw. Schuldausschließungsgründe (§§ 20, 21 StGB – Alternative der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung) einzuordnen, durchaus für möglich hält, dass „Gruppenkräfte gewissermaßen die Normen verstellt haben könnten“ und sich der Täter somit der Unrechtmäßigkeit seines Tuns nicht mehr bewusst gewesen sei. 181

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

zeit aktualisierbares Werturteil über das Grenzgeschehen bilden zu können185, zu relativieren sein wird. c) Die Schwierigkeiten der Orientierung in einem totalitären System Im Rahmen der Erörterung der besonderen Problematik, die den Grenzsoldaten die notwendige Unrechtseinsicht erschwert bzw. eine solche verhindert haben könnte, soll schließlich auf den Gesichtspunkt eingegangen werden, dass es einem Handelnden grundsätzlich besondere Schwierigkeiten bereiten dürfte, sich in einem totalitären Herrschaftssystem über Recht oder Unrecht zu orientieren. Die strafrechtliche Würdigung täterschaftlichen Handelns in totalitären Systemen war natürlich bereits des Öfteren Gegenstand der Erörterungen in der Rechtsprechung sowie wissenschaftlichen Literatur. Dabei ist vielfach auf die entsprechenden Schwierigkeiten des einzelnen Täters, sich unter totalitären Bedingungen rechtlich und moralisch zu orientieren, hingewiesen worden. So führt Hannah Arendt diesbezüglich aus, dass der totalitäre Täter „unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewusst zu werden“186 und unter denen das Unrecht in einer derartigen Weise hervorgebracht werde, dass „alle Beteiligten subjektiv unschuldig sind“187. Anderenorts ist von der „konsequenten Verwirrung der moralischen Kategorien“ die Rede, die zum Wesen totalitärer Systeme gehöre188 oder von einem pervertierten Rechtsbewusstsein der Unterworfenen solcher Herrschaft, denen ein „sicheres Gefühl für Recht und Unrecht“ fehle189. Es sollen im Folgenden einige der weiterhin erzielten Denkansätze, denen im Hinblick auf die Frage nach einem Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzschützen eine Bedeutung beizumessen zu sein scheint, aufgezeigt werden. aa) Die Grundsätze des Staschynskij-Falles Zunächst erscheint eine Betrachtung der gerichtlichen Feststellungen im sog. Staschynskij-Fall190 aufschlussreich. In diesem Fall aus dem Jahre 1962 hatte 185

Vgl. Drittes Kap. I. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1964, S. 326 unter Hinweis auf die erschreckende Normalität vieler totalitärer Täter des Dritten Reiches, denen weder perverse noch sadistische Wesenszüge zu eigen gewesen seien. 187 Arendt, Elemente totaler Herrschaft, 1958, S. 256. 188 Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, 1964, S. 373. 189 Baumann, Die strafrechtliche Problematik der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, in: Henkys, Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht, 1964, S. 267 ff. (S. 267). 190 BGH, NJW 1963, 355. 186

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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der BGH das Verhalten eines lange Zeit im sowjetischen Machtbereich lebenden Angeklagten zu würdigen, der für den damaligen sowjetischen Staatssicherheitsdienst in München zwei Morde an politischen Gegnern des herrschenden Sowjetregimes beging. Zwar ging es dabei nicht um Fragen der individuellen Schuld des Täters, wie sie Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, sondern um die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, jedoch ist den in dem Urteil getroffenen Feststellungen des BGH bezüglich der Schwierigkeiten des Angeklagten, sich in einem auf politische Indoktrination angelegten verbrecherischen System rechtlich zu orientieren, dennoch eine besondere Bedeutung beizumessen. Die diesbezüglichen grundlegenden Sätze der Entscheidung lauten: „Neuerlich sind jedoch gewisse moderne Staaten unter dem Einfluss radikaler politischer Auffassungen, in Deutschland unter dem Nationalsozialismus, dazu übergegangen, politische Morde oder Massenmorde geradezu zu planen und die Ausführung solcher Bluttaten zu befehlen. (Die Täter) befinden sich in der sittlich verwirrenden, mitunter ausweglosen Lage, vom eigenen Staat, der vielen Menschen bei geschickter Massenpropaganda nun einmal als unangezweifelte Autorität zu erscheinen pflegt, mit der Begehung verwerflichster Verbrechen geradezu beauftragt zu werden. Sie befolgen solche Anweisungen unter dem Einfluss politischer Propaganda oder der Befehlsautorität oder ähnlicher Einflüsse ihres eigenen Staates, von dem sie die Wahrung von Recht und Ordnung zu erwarten berechtigt sind. Diese gefährlichen Verbrechensantriebe gehen statt von den Befehlsempfängern vom Träger der Staatsmacht aus, unter krassem Missbrauch dieser Macht. (. . .) Dem Angeklagten ist es zu glauben, dass jemand, der elf Jahre hindurch als bildsamer junger Mensch ununterbrochen im Kern des sowjetischen Machtbereichs zugebracht hat und dort ständig indoktriniert worden ist, große Schwierigkeiten damit hat, westliche Lebens- und Denkweise zu verstehen, sich in sie hineinzufinden (. . .)“191.

Im Hinblick auf den Nutzen der letztgenannten Ausführungen für die Beurteilung eines aktuellen Unrechtsbewusstseins der „Mauerschützen“ erscheint zum einen die Konstatierung des BGH, dass die Menschen von ihrem eigenen Staat die Wahrung von Recht und Ordnung zu erwarten berechtigt sind, bedeutsam. Denn es wird zu bedenken sein, inwiefern auch die Grenzschützen möglicherweise eine solche Erwartung hegten und sich durch sie in ihrem Handeln haben beeinflussen lassen. Zum anderen muss natürlich die zuletzt angeführte Aussage bezüglich des gerichtlichen Verständnisses für einen jungen indoktrinierten Menschen von besonderem Interesse sein, da es sich auch bei den Grenzsoldaten um zumeist junge, einer fremden Staats- und Rechtsordnung unterworfene, Menschen handelte. Allerdings gilt es dabei zu bedenken, dass sie nicht nur einige Jahre, wie etwa der Angeklagte des genannten Falles, sondern ihr gesamtes Leben in dem auf Indoktrination angelegten sozialistischen Staat der DDR verbracht haben192. Diesem Umstand trägt in seinem ersten „Mauer191

BGH, NJW 1963, 355 (357 f.). Diesen Aspekt heben ebenfalls hervor Dreier, JZ 1997, 421 (430) u. Alexy, Mauerschützen, S. 37. 192

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

schützen“-Urteil auch der BGH mit der Feststellung Rechnung, dass „die Angeklagten erst nach dem Bau der Berliner Mauer aufgewachsen sind und nach Herkunft und Lebensweg keine Möglichkeit hatten, der Indoktrination eine kritische Einschätzung entgegenzustellen“193. Die Berücksichtigung dieses Aspektes findet durch den BGH allerdings erst im Rahmen der Strafzumessung statt, so dass sich die Frage stellt, ob diese Erwägungen nicht bereits im Zusammenhang mit der Prüfung eines Verbotsirrtums der Grenzsoldaten, somit im Rahmen der Schuld, zu prüfen gewesen wären. Dieser Gedanke drängt sich um so mehr unter Einbeziehung des Umstandes auf, dass der BGH in einem früheren Urteil das Unrechtsbewusstsein nationalsozialistischer Täter unter anderem damit begründet hat, dass eine Verkennung der wenigen für das menschliche Leben unentbehrlichen Grundsätze bei den Angeklagten um so weniger anzunehmen sei, „als sie die Eindrücke, nach denen sich solche Überzeugungen bilden, sämtlich noch zu einer Zeit empfingen, ehe der Nationalsozialismus seine verwirrende und vergiftende Propaganda ungehemmt entfalten konnte“194. Eine solche Feststellung müsste bezüglich der Grenzsoldaten im Umkehrschluss bedeuten, dass eine entsprechende Unkenntnis um so eher anzunehmen ist, weil sie eben ihr gesamtes Leben in dem auf Propaganda ausgerichteten System der DDR verbracht haben. Zumindest jedoch müsste das dem Täter in dem sog. Staschynskij-Fall gegenüber aufgebrachte Verständnis des BGH in noch größerem Maße gegenüber den Schützen erwartet werden können. bb) Übergesetzlicher Schuldminderungsgrund wegen „Verstrickung in ein Unrechtssystem“? Des Weiteren erscheint ein Rückgriff auf Gedanken eines Vorschlags für erachtenswert, der bereits vor längerer Zeit in der wissenschaftlichen Diskussion erörtert wurde und der im Anschluss selbst die höchstrichterliche Rechtsprechung beschäftigte. Es geht dabei um die auf Ernst-Walter Hanack zurückzuführende Überlegung, dass ein Handeln von Tätern in einem Unrechtsstaat, insbesondere dem des Nationalsozialismus, zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Gebots schuldangemessenen Strafens rechtlich anders zu beurteilen sei, als ein Handeln im Rahmen der üblichen Kriminalität und dass diesen Tätern entsprechend unter gegebenen Umständen ein besonderer Schuldminderungsgrund wegen „Verstrickung in ein Unrechtssystem“ zuzubilligen sei195. Der Grund ergebe sich aus dem für derartige Taten „eine Art Nährboden“ darstellenden „sozial193

BGHSt 39, 1 (35). BGHSt 2, 234 (239); vgl. hierzu auch Alexy, Mauerschützen, S. 37 (in Fn. 97). 195 Vgl. die gesamten diesbezüglichen Denkansätze und Überlegungen bei Hanack, Zur Frage geminderter Schuld der vom Unrechtsstaat geprägten Täter, in: Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II, 1967, Abschn. C, S. 53 ff. 194

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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psychologischen Hintergrund, den die Urheber der Verbrechen geschaffen oder ausgenutzt haben“ und der „aus einer raffinierten Verschachtelung vielfältiger Faktoren bestand, die auf den einzelnen Täter wirkten“ und die „die innere Abwehrkraft, das Gefühl für Recht und Unrecht selbst beim Mordschützen“ schwächen konnten196. Trotz einiger bereits damals gegen diese Ansicht geäußerter Bedenken, insbesondere ist die Befürchtung zu nennen, dass eine generelle Schuldminderung in derartigen Fällen zu einem Abbau des Rechtsbewusstseins führen werde197, griff im Jahre 1976 das Landgericht Hamburg in einem Urteil198 auf die zuvor dargelegten Ansätze zurück. Das Schwurgericht löste damals die Schwierigkeit einer schuldangemessenen Bestrafung, die seiner Auffassung nach die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gegen den Täter nicht rechtfertigte, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung und erkannte unter Annahme eines übergesetzlichen Schuldminderungsgrundes wegen „Verstrickung in staatlich befohlene Verbrechen“ auf eine zeitige Freiheitsstrafe. Es lohnt, sich im Rahmen der vorliegenden Überlegungen die grundlegenden Sätze dieser Entscheidung zu vergegenwärtigen: „Bei Verbrechen, die von den staatlichen Machthabern angeordnet und mit umfassenden psychischen und äußeren Machtmitteln durchgesetzt worden sind, deren Vorbereitungen und Anfänge förmlich als Recht galten und von der ganzen Gesellschaft fast widerspruchslos hingenommen worden sind, muss zu Gunsten des einzelnen Täters unter bestimmten Voraussetzungen die besondere Art der Verknüpfung persönlicher Schuld mit den vorgegebenen Strukturen staatlichen Terrors als übergesetzlicher Schuldminderungsgrund anerkannt werden. (. . .) Das Wissen um Recht und Unrecht ist keine intellektuelle Erkenntnis von der Art, dass ein Mensch sie entweder ganz oder gar nicht besitzen muss, die mithin einer Steigerung oder Verminderung nicht fähig wäre. Das Rechtsbewusstsein kann (. . .) sicher, stark und handlungsorientiert sein oder blass, angefochten, schwächlich, abstrakt. Seinerzeit waren mächtige Kräfte wirksam, die das Rechtsbewusstsein schwächten. (. . .) In der Welt staatlich organisierten Mordens wird das Wert- und Rechtsbewusstsein des einzelnen privatisiert und systematisch verunsichert. Umweltreaktionen und Konventionen hören auf, Regulative des Rechtsbewusstseins zu sein, natürliche Impulse wie Rechtsgefühl und Gewissen werden diffamiert, treffen auf keine ihnen korrespondierende Realität mehr in staatlich-gesellschaftlicher Ordnung, sondern finden sich in verwirrenden Konträrwertungen“199.

Sowohl die erstgenannten Erwägungen Hanacks als auch die soeben genannten gerichtlichen Feststellungen erscheinen auch im Hinblick auf die Beurtei196

Hanack, S. 53 f. Vgl. Friesenhahn, Probleme der Verfolgung und Ahndung von Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Bericht über eine von der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages veranstaltete Klausurtagung, in: Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II, 1967, Abschn. C, S. 12 ff. (S. 28). 198 LG Hamburg, NJW 1976, 1756. 199 LG Hamburg, NJW 1976, 1756 (1756 f.). 197

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

lung einer möglichen Unrechtserkenntnis der handelnden Soldaten in der DDR als aufschlussreich. Ein Rückgriff auf die entsprechenden Erwägungen bedarf allerdings des Hinweises auf zwei Gesichtspunkte. Zum einen ist relevant, dass beide Denkansätze nationalsozialistisches Unrecht zum Gegenstand hatten und, wie bereits betont, keineswegs ein Vergleich des Unrechts der DDR mit dem NS-Unrecht stattfinden darf und auch nicht stattfinden soll200. Jedoch bestehen trotz dieses Umstandes keinerlei Bedenken gegen die Anwendung der genannten Grundsätze auf die Fälle der Grenzsoldaten, sofern es eben gerade um den sozialpsychologischen Hintergrund geht, mit dem die Machthaber totalitärer Systeme versuchen, ihre späteren Handlanger durch fortwährende politische Indoktrination und weitere Mittel für ihre Zwecke gefügig zu machen und deren Kenntnis von Recht und Unrecht in ihrem Sinne zu beeinflussen201. Zum anderen ist es nicht das Bestreben der vorliegenden Arbeit, etwa eine Begründung für die Anerkennung eines übergesetzlichen Schuldminderungsgrundes in den „Mauerschützen“-Fällen zu erarbeiten. Allerdings geht es auch in diesen Fällen um den Grundsatz des schuldangemessenen Strafens und einen in diesem Zusammenhang möglichen Schuldausschluss wegen fehlenden Unrechtsbewusstseins. Es besteht somit kein Anlass, auf die entwickelten Grundsätze und Überlegungen, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, zu verzichten, zumal bereits Hanack selbst die Aussage getroffen hat, dass es nicht die eigentliche Fragestellung sei, „ob wir die Schwächung sittlicher Kraft durch die Verstrickung in den Teufelskreis als schuldminderndes Moment betrachten können“, sondern vielmehr, „welchen Stellenwert dieses Moment legitimerweise einnehmen darf“202. Folglich steht einer Berücksichtigung der genannten Grundsätze im Rahmen der Prüfung eines Verbotsirrtums der DDR-Grenzsoldaten auch nicht entgegen, dass im Anschluss an das Urteil des Landgerichts Hamburg sowohl der BGH als auch das BVerfG den Gedanken eines im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entwickelten übergesetzlichen Schuldminderungsgrundes wegen „Verstrickung in ein Unrechtssystem“ verworfen haben203. 200

s. Erstes Kap. II. 1. b). s. die Vorgehensweise in der Literatur, einen Vergleich anhand von Kriterien der Totalitarismus-Forschung anzustellen, wobei als entsprechende Aspekte angesehen werden können: Ablehnung der Gewaltenteilung und der parlamentarischen Opposition, diktatorischer Führungsanspruch eines Parteiapparates, Beseitigung des gesellschaftlichen Pluralismus, Existenz einer Geheimpolizei und Überwachung bis in das Privatleben hinein, Verwendung offizieller Rechtfertigungsideologien u. Nutzung von Indoktrination, vgl. hierzu ausführlich Rottleuthner, Deutsche Vergangenheiten verglichen, in: Grabitz u. a. (Hrsg.), Festschrift für W. Scheffler, 1994, S. 480 ff. (482 ff.); ebenso Rosenau, S. 26. 202 Hanack, S. 55; vgl. zudem Friesenhahn, S. 27, der ebenso hervorhebt, man werde „durchaus den Standpunkt vertreten können, dass die besondere Situation, in der die Taten begangen worden sind, (. . .) nicht gänzlich ignoriert werden kann.“ 203 BVerfGE 54, 100 (111 f.); BGH, NJW 1977, 1544 f. 201

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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d) Bewertung Die vorherigen – unter dem Aspekt der besonderen Problematik der Erkenntnisgewinnung in den „Mauerschützen“-Fällen angeführten – Erörterungen sollen zum Ausdruck bringen, dass eine schuldangemessene Beurteilung des Unrechtsbewusstseins der DDR-Grenzsoldaten nicht ohne eine Einbeziehung der exzeptionellen Bedingungen auskommen kann, unter denen die Grenzgeschehnisse stattfanden. Es gilt in besonderem Maße zu berücksichtigen, dass die Soldaten als Täter in einem totalitären Herrschaftsapparat lebten, in dem nicht nur eine andere, sich von der bundesrepublikanischen in bedeutenden Belangen unterscheidende, Rechts- und Wertordnung als verbindlich proklamiert, sondern in dem ihr Fehlverhalten seitens der politischen Führung erst ausgelöst und gefördert wurde. Das gegebene staatliche Umfeld stellte somit insgesamt eine bedeutsame Rahmenbedingung des Grenzgeschehens dar und muss aufgrund der Anwendung vielfältiger Mechanismen, die es im Anschluss zu erörtern gilt, als geeignet angesehen werden, ein Nachempfinden und Verstehen der westlichen Denkweise seitens der Grenzsoldaten zu verhindern und somit ihr Gefühl für Recht und Unrecht im Hinblick auf die Tötung fluchtwilliger Menschen an der Grenze zu schwächen. Es sei in diesem Zusammenhang allerdings ebenso angemerkt, dass die Hervorhebung der im Rahmen einer Unrechtserkenntnis der schießenden Soldaten bestehenden Schwierigkeiten keineswegs dazu dienen soll, die individuelle Dimension bei Abgabe der tödlichen Schüsse an der Grenze, somit die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Schützen für das Geschehen, in den Hintergrund treten zu lassen. Es soll nicht etwa lediglich die „elende Politik“ als Ursache des Unrechts an der Mauer angesehen werden, während dagegen der einzelne Grenzsoldat nicht „als ein nennenswerter Grund definiert wird“204. Ebenfalls ist nicht beabsichtigt, der Suggestion zu erliegen, die kollektive Verbrechensdimension in Form von Verbrechen unter totalitärer Herrschaft als „das verselbständigte Handeln von Systemen, Apparaturen und organisierten Großgruppen zu interpretieren, das für persönlich motivierte Verhaltensweisen keinen Raum lässt“205. Auch bei den in totalitären Systemen verübten Unrechtshandlungen sind „es immer Menschen (. . .), die das Unrecht verursachen – nicht das System 204 Diese radikale Auffassung findet sich bei Jakobs, Vergangenheitsbewältigung, S. 56, der ausführt, dass die Politik in der DDR das Recht derart pervertiert habe, dass der ausführende Schütze „eben das Produkt dieser pervertierten Ordnung, ein Glied in der Genese des Konflikts“ gewesen sei und „der Konflikt (. . .) aus der politischen Dimension ins Individuelle geschoben“ werde, sofern man den einzelnen Täter als nennenswerten Grund des Geschehens definiere. 205 Diesen Gedanken bringt Jäger, Makrokriminalität, S. 29 zur Sprache, bezeichnet eine derartige Sichtweise kollektiven Handelns als weitgehend depersonalisiertes Geschehen allerdings als „optische Täuschung“ und nimmt somit von ihm Abstand; ebenso gegen eine solche Betrachtung Hillenkamp, JZ 1996, 179 (183 f.).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

als Abstraktum206. Das Unrecht ist kein „überpersonales Geschehen“207, sondern besteht zwangsläufig aus dem Verhalten der einzelnen Individuen, auf das sich die individuellen Einstellungen, Beweggründe und Interessen jedes einzelnen Täters in erheblicher Art und Weise auswirken208. Dennoch ist es unerlässlich, die aufgezeigten exzeptionellen Bedingungen und Faktoren im Rahmen einer schuldangemessenen strafrechtlichen Würdigung hinreichend einzubeziehen. 2. Das Prinzip der Eliminierung bzw. Minimierung des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten seitens der DDR-Staatsführung Sind somit die am bedeutsamsten erscheinenden exzeptionellen Schwierigkeiten und Besonderheiten, die im Rahmen der Würdigung einer Unrechtseinsicht der Grenzsoldaten zu berücksichtigen sind, dargestellt, bedarf es einer genaueren Betrachtung der Gründe im einzelnen, die letztlich zu der Missachtung des elementaren Tötungsverbotes seitens der Grenzschützen beigetragen haben könnten. Es bedarf der Erörterung, ob und inwiefern sich anhand dieser Gründe plausibel darlegen lässt, dass die handelnden Soldaten in den Schüssen möglicherweise keinen Verstoß gegen die verbindliche materiale Wertordnung des Rechts sahen und sie somit nicht für Unrecht hielten. In diesem Zusammenhang ist erneut der bereits hervorgehobene Umstand in Erinnerung zu rufen, dass auch den Grenzsoldaten zum Zeitpunkt ihres Handelns das grundsätzliche und elementare Tötungsverbot zweifelsohne jederzeit gegenwärtig gewesen sein wird, sie es somit internalisiert haben werden209. Daher wird eine fehlende Unrechtserkenntnis der Schützen entscheidend unter einem Aspekt zu würdigen sein, der bereits bei der Darstellung der Grundsätze des Staschynskij-Falles und des Gedankens an einen übergesetzlichen Schuldminderungsgrund wegen „Verstrickung in ein Unrechtssystem“ angeklungen ist, sofern dort festgestellt wurde, dass in totalitären Systemen unter dem Einfluss radikaler politischer Auffassungen Kräfte auf die einzelnen Menschen einwirkten, die „die innere Abwehrkraft, das Gefühl für Recht und Unrecht (. . .)“ schwächen konnten210. Ebenfalls bedeutsam in diesem Zusammenhang ist die Ausführung des BGH in seinem ersten „Mauerschützen“-Urteil, dass die angeklagten Schützen die vor ihrem Dienstantritt ihnen gegenüber geäußerte Frage, 206 Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, 1992, S. 26; vgl. Wassermann, NJW 1993, 895 (898). 207 Hillenkamp, JZ 1996, 179 (184). 208 So Jäger, Makrokriminalität, S. 29; ders., MschrKrim 1980 (63), 358 (363); vgl. zudem Wassermann, NJW 1993, 895 (898). 209 Vgl. Drittes Kap. V. 1. a) aa). 210 Drittes Kap. V. 1. c) aa) u. bb).

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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ob sie bereit seien, gegen Grenzbrecher die Waffe einzusetzen, „ohne innere Vorbehalte“ bejaht hätten211. Gemeint ist der Aspekt einer Manipulation des Rechtsbewusstseins der schießenden Soldaten seitens der DDR-Staatsführung, mittels welcher eine Sicherstellung der Unrechtsverübung an den flüchtenden Menschen bewirkt werden sollte. Im Rahmen dieses Unterfangens steht ein Ansatz des Regimes im Mittelpunkt, der im Anschluss an Willi Schumacher als „Eliminierung oder Minimierung des Unrechtsbewusstseins“ bezeichnet werden kann. Darunter ist zu verstehen, dass das Gefühl des Täters für Unrecht verdunkelt wird, es wird „auf verschiedenen Wegen und mittels verschiedener Techniken (. . .) im subjektiven Erleben des Täters Unrecht in Recht verwandelt“212. Dass diesem Gesichtspunkt auch nach Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine große Bedeutung beizumessen ist, zeigt sich in der durch den BGH vorgenommenen Konstatierung, dass das Rechtsbewusstsein der Grenzsoldaten in Schule, Massenorganisation und Politunterricht „deformiert“ worden sei213. Da somit weiterhin ein Aufzeigen derjenigen spezifischen Bedingungen und Mechanismen notwendig erscheint, die einen in obigem Sinne gearteten Wirkungsverlust des auch von den Grenzsoldaten grundsätzlich internalisierten generellen Tötungsverbotes möglicherweise zu bewirken vermochten, liegt eine Einbeziehung der in der Kriminologie bestehenden und ein hohes Maß an Plausibilität besitzenden Sozialisationstheorien nahe. Jene beinhalten die Beschäftigung mit dem Aspekt der Entstehung und Beeinträchtigung von Normbewusstsein und suchen die kriminogenen Faktoren dabei in der Sozialisation des Täters, fassen kriminelles Handeln entsprechend als in Familie, Schule, Nachbarschaft, Freundesgruppen sowie beruflicher Umgebung gelerntes, einsozialisiertes Verhalten auf214. Im Rahmen der vorliegenden Erörterungen erscheint von den diesbezüglich bestehenden Denkansätzen die „Theorie von den Neutralisationstechniken“ von besonderem Interesse, die sich mit der Frage beschäftigt, wie Menschen, die nach normabweichenden Verhaltensmustern leben, den bestehenden Normkonflikt überwinden und ihnen der Normbruch somit ermöglicht wird215. Dabei zeigt sie anhand von fünf – als „klassisch“ zu bezeichnenden und überwiegend als abschließend vermittelten – Kategorien bzw. Typen211

BGHSt 39, 1 (2). Schumacher, Psychologische Mechanismen, S. 169 ff. (175 ff., Hervorh. durch d. Verf.). 213 BGHSt 39, 168 (193); vgl. Roos, S. 270. 214 s. eine Darstellung der einzelnen Theorien z. B. bei Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1990, S. 33 ff. oder Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 64 ff. 215 Erstmals formuliert wurde diese Delinquenztheorie von Gresham M. Sykes und David Matza, s. Sykes/Matza, Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz, in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 1968, S. 360 ff.; s. auch die ausführlichen Erörterungen zu dieser Theorie bei Scholderer, Rechtsbeugung im demokra212

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

einteilungen auf, anhand welcher Rechtfertigungen sich das Individuum gegen Selbstvorwürfe und Vorwürfe anderer Personen zu immunisieren versucht und das Normbewusstsein des Täters somit fallweise „wegmanipuliert“ und „neutralisiert“ werden kann, ohne dass dies mit einem generellen Wechsel der Wertorientierung verbunden ist216. Die allgemeine Formel für die in Rede stehenden Neutralisationstechniken lässt sich etwa wie folgt ausdrücken: „Normalerweise ist das, was ich getan habe, zwar nicht mit dem Recht vereinbar, aber in dieser, meiner speziellen Situation, in diesem, meinem speziellen Fall, da konnte ich nicht anders – oder: andere hätten das Gleiche getan – oder: das geschieht dem Opfer recht“217. Die auf der genannten Theorie beruhenden kriminologischen Einsichten in die Vorgänge der „Neutralisation“ fanden bislang, soweit ersichtlich, keinerlei entscheidenden Eingang in die Problematik des Unrechtsbewusstseins der handelnden Schützen an der Grenze, wobei ihre Berücksichtigung in diesem Zusammenhang allerdings in der wissenschaftlichen Literatur zum Teil gefordert bzw. angeregt wird218. Sofern im Folgenden eine Berücksichtigung der entsprechenden Überlegungen stattfindet, sei angemerkt, dass dies nicht lediglich unter starrer Zugrundelegung und Berücksichtigung der bereits angeführten fünf klassischen Neutralisierungstechniken erfolgen soll. Vielmehr soll der Begriff der Neutralisation in Anlehnung an Erwägungen von Herbert Jäger als auf alle Fallgruppen ausgedehnt verstanden werden, „in denen es zur Schwächung oder völligen Eliminierung des Unrechtsbewusstseins kommt, aus welchen Anlässen oder Gründen auch immer“219. a) Die Bedeutung eines Befehlsnotstandes der Grenzsoldaten nach § 35 StGB Zunächst soll jedoch der im Zusammenhang mit den „Mauerschützen“-Fällen teilweise aufgegriffene Gedanken eines Befehlsnotstandes der Grenzsoldaten nach § 35 StGB in die Überlegungen einbezogen werden. Die Berufung auf einen entsprechenden Notstand setzt insofern eine andersartige Ausgangssituatischen Rechtsstaat – Zur Rekonstruktion des § 336 StGB für die Gegenwart, 1993, S. 557 ff. 216 Jäger, Makrokriminalität, S. 189; die genannten „klassischen“ Neutralisierungstechniken sind die Ablehnung der Verantwortung, die Verneinung des Unrechts, die Ablehnung des Opfers, die Verdammung der Verdammenden sowie die Berufung auf höhere Instanzen, s. Sykes/Matza, S. 366 ff.; vgl. Egg/Sponsel, MschrKrim 1978, 38 (39 f.) sowie Opp, Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, 1974, S. 105 f. 217 Egg/Sponsel, MschrKrim 1978, 38 (38), nach denen die Neutralisationstechniken die Funktion „subjektiver Unrechtsverwandler“ besitzen. 218 So Lüderssen, Der Staat geht unter – das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR, 1992, S. 96 sowie Günther, StV 1993, 18 (24 [Fn. 41]). 219 Jäger, Makrokriminalität, S. 190.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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tion, als dies im Rahmen des Verbotsirrtums nach § 17 StGB der Fall ist, voraus, als der Täter hier die Einsicht in die Rechtswidrigkeit seines Handelns, somit das strafrechtlich erforderliche Unrechtsbewusstsein regelmäßig besitzt, er jedoch aus einer für ihn nicht anders abwendbaren Zwangslage heraus dennoch tätig wird220. Eine entsprechende Überlegung könnte in den „Mauerschützen“-Fällen auf den Umstand gestützt werden, dass den Soldaten, wie noch zu erörtern sein wird, die Schüsse auf flüchtende Personen seitens ihrer Vorgesetzten befohlen wurden221 und sie bei Befehlsmissachtung die Befürchtung hegen mussten, wegen der Nichtausführung eines militärischen Befehls (§ 257 StGB/DDR), der Verletzung der Dienstvorschriften über die Grenzsicherung (§ 262 StGB/DDR) sowie der Beihilfe zum ungesetzlichen Grenzübertritt (§§ 213, 22 StGB/DDR) mit empfindlichen Freiheitsstrafen überzogen zu werden222. Den Soldaten sei entsprechend vorgehalten worden, „wenn du mit Absicht daneben schießt, gehst du für acht Jahre in den Knast“223, auch habe es Gerüchte über das bei ihnen gefürchtete Militärgefängnis Schwedt gegeben, aus dem „noch keiner als normaler Mensch wieder herausgekommen“ und in dem „mit den schlimmsten Misshandlungen zu rechnen sei“224. Die Annahme eines entschuldigenden Notstands nach § 35 StGB setzt zunächst das Bestehen einer Notlage in Form einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit des Täters voraus225. Das Tatbestandsmerkmal der nicht anders abwendbaren Gefahr erfordert, dass die Notstandshandlung als ultima ratio den einzigen und letzten Ausweg aus der Notlage bilden und im Hinblick auf das Eingriffsgut so schonend wie möglich sein muss226. Der Täter muss sich mit allen Kräften bemüht haben, der Gefahr auf andere Weise zu entgehen227, wobei im Falle der Tötung eines anderen Menschen sogar ein Ausweg unter Einsatz des eigenen Lebens nicht auszu220

Vgl. Bath, DA 1990, 1733 (1737). s. diesbezüglich Drittes Kap. V. 2. c). 222 BGHSt 39, 199 (201); vgl. Rosenau, S. 258 sowie Wassermann, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 4 1993, 3 (8). 223 So die Aussage des ehemaligen Grenzschützen R. Loschek, in: Der Spiegel Nr. 27/91, S. 70. 224 Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/1991, S. 72 (S. 74); vgl. den Bericht des ehemaligen Grenzers Ruge, FAZ v. 29. August 1991, S. 27. 225 Das in diesem Fall einzig in Betracht kommende notstandsfähige Rechtsgut könnte die sich auf den Schutzbereich des § 239 StGB und somit auf die Fortbewegungsmöglichkeit beziehende Freiheit der Grenzsoldaten sein, da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass befehlsverweigernde Grenzsoldaten körperlich misshandelt oder gar getötet wurden, vgl. Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 63 f. 226 Vgl. Wessels/Beulke, Rn. 438 f.; Schönke/Schröder-Lenckner, § 35 Rn. 13; Roxin, JA 1990, 97 (99 f.) sowie Lackner/Kühl, § 35 Rn. 2; OLG Hamm, NJW 1976, 721 (722). 227 BGHSt 18, 311 f. 221

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

schließen ist228. In den „Mauerschützen“-Fällen wird wohl zurecht bezweifelt, dass die Schüsse auf die fliehenden Menschen für die Soldaten tatsächlich den letzten Ausweg zur Entgehung einer Freiheitsstrafe bildeten und somit, unabhängig von den weiteren Voraussetzungen des § 35 StGB, bereits das Tatbestandsmerkmal einer nicht anderweitigen Abwendbarkeit der Gefahr verneint229. Es ist in diesem Zusammenhang zum einen auf den Umstand zu verweisen, dass bereits im Rahmen der Musterung der wehrpflichtigen Personen eine allgemeine Einschätzung ihrer politischen Zuverlässigkeit durch Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), das auf allen Ebenen der DDR-Grenztruppen in erheblichem Maße präsent war, stattfand230. In diesem Zusammenhang wurden die Soldaten unter anderem nach ihrer Einstellung bezüglich des Schusswaffengebrauchs gegenüber Menschen gefragt, wobei man im Falle einer ablehnenden oder zweifelnden Reaktion von einem Einsatz in den Grenztruppen von vornherein absah231. Selbst sofern ein Rekrut bereits zu den Grenztruppen eingezogen wurde, erfolgte im Rahmen der stattfindenden sechsmonatigen Grundausbildung, die systematisch und realitätsnah auf den Grenzdienst vorbereiten sollte, eine weitergehende intensive Überprüfung auf politische Zuverlässigkeit im Sinne des Auftrages der Grenztruppen232. Bei Soldaten, deren Voraussetzungen in diesem Zusammenhang als unzulänglich eingestuft wurden, nahm die Führung der Grenztruppen von einem Einsatz an der Grenze Abstand und setzte den Soldaten im rückwärtigen Dienst ein, teilweise erfolgten auch Versetzungen zu den Landstreitkräften der NVA233. Die intensive Überprüfung der Angehöri228

Schönke/Schröder-Lenckner, § 35, Rn. 14. Ebenso erscheint unter anderem das subjektive Entschuldigungselement des Gefahrabwendungswillens als problematisch, nach dem sich der Täter der konkret drohenden Gefahr bewusst gewesen sein und zu ihrer Abwendung gehandelt haben müsste; dies hat zur Konsequenz, dass eine entsprechende Entschuldigung nicht gegeben ist, sofern der Täter zwar möglicherweise die Kenntnis der Gefahr besaß, jedoch lediglich aus Ergebenheit oder Gleichgültigkeit handelte, vgl. Wassermann, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 4 1993, 3 (8); Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 62 f. 230 So Bath, DA 1990, 1733 (1738) sowie Lapp, Frontdienst, S. 116; der insgesamt bedeutende Einfluss des MfS auf die Grenztruppen war mittels der „Organisation 2000“ gewährleistet, die direkt dem MfS unterstand und für die Abschirmung und Sicherung der Grenztruppen zuständig war, vgl. zu diesem Gesichtspunkt Hirtschulz/ Lapp/Uxa, Das Grenzregime der DDR, in: Kurth (Hrsg.), Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch, 1996, S. 143 ff. (S. 148). 231 Vgl. Lapp, Frontdienst, S. 116, der betont, dass die zuständigen Stellen dafür sorgten, dass „politisch unsichere junge Wehrpflichtige nicht zu den Grenztruppen eingezogen werden“; vgl. ebenso Bath, DA 1990, 1733 (1738) unter Hinweis auf die Aussage eines früheren MfS-Offiziers aus dem Jahre 1990. 232 Vgl. Hirtschulz/Lapp/Uxa, S. 148; Forster, Die NVA. Kernstück der Landesverteidigung der DDR, 1983, S. 163; Bath, DA 1990, 1733 (1738). 233 s. Bath, DA 1990, 1733 (1738), der sich u. a. auf eine ihm gegenüber erfolgte Bestätigung dieses Sachverhaltes durch den im Jahre 1984 geflüchteten ehemaligen DDR-Grenzoffizier Molter beruft; vgl. Lapp, Frontdienst, S. 116; vgl. Forster, S. 163. 229

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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gen der Grenztruppen endete jedoch keineswegs mit dem aus Sicht der Führung unauffälligen und zufriedenstellenden Abschluss der Grundausbildung und dem unmittelbaren Einsatz im aktiven Grenzdienst. So waren die führenden Stellen innerhalb der Grenztruppen durch den „Befehl 44/83“ des Ministers für Nationale Verteidigung weiterhin dazu verpflichtet, einmal im Monat eine Personalanalyse der ihnen unterstellten Personen durchzuführen, aufgrund derer die Soldaten in verschiedene Zuverlässigkeitskategorien eingeteilt wurden234. Dieses Vorgehen diente der Führung als Planungsgrundlage für die Zusammensetzung der Soldatenkollektive im unmittelbaren Grenzeinsatz. Es galt möglichst günstige Postenpaare zu bilden, von denen man sich die zuverlässige Erfüllung des bestehenden Auftrages und in diesem Sinne insbesondere auch ein mangelndes Interesse der Soldaten an einer eigenen Flucht versprach235. Aufgrund dieser Feststellungen ist zu dem Schluss zu gelangen, dass lediglich diejenigen Soldaten zu den Grenztruppen gelangten und unmittelbar im Dienst an der Grenze Verwendung fanden, die den politischen Vorgaben der DDR-Staatsführung zumindest in gewisser Weise entsprachen und ihnen nicht völlig abgeneigt gegenüberstanden. Ansonsten bestand ohne Zweifel durchaus die Möglichkeit, sich von den Grenztruppen und somit einem möglichen Schusswaffengebrauch fernzuhalten236. Zum anderen wird bezüglich der Ablehnung des Tatbestandsmerkmals der nicht anders abwendbaren Gefahr des § 35 StGB auf die Möglichkeiten der Soldaten hingewiesen, eine Befolgung des Befehls vorzugeben, insgeheim je234 Die genannten Zuverlässigkeitskategorien wurden durch die Grenzsoldaten selbst als „Blutgruppen“ bezeichnet; die Grobeinteilung, die wiederum eine weitere Untergliederung nach Zuverlässigkeitsstufen erfuhr, lautete wie folgt: der „Kern“ – absolut zuverlässige Kräfte, die „Reserve“ – bedingt zuverlässige Kräfte, der „Rest“ – nur unter Kontrolle zuverlässige Kräfte, vgl. Hirtschulz/Lapp/Uxa, S. 148; ebenso Lapp, Frontdienst, S. 117. 235 s. hierzu Hirtschulz/Lapp/Uxa, S. 149, die allerdings betonen, dass dieses Ziel nicht immer erreicht worden sei, da seit den 50er Jahren mehr als 2000 Grenzpolizisten und -soldaten geflohen seien, unter ihnen auch Stabsoffiziere bis zum Dienstgrad Oberstleutnant. 236 s. zu diesem Aspekt BGHSt 39, 1 (2) mit der Feststellung, dass die Grenzsoldaten vor dem Antritt ihres Dienstes gefragt worden seien, ob sie zu einem Einsatz der Schusswaffe gegen Grenzbrecher bereit seien und sie diese Frage ohne innere Vorbehalte bejaht hätten; s. die Feststellung in BGHSt 39,1 (34), dass das in diesem Fall betroffene Tatopfer S. es strikt abgelehnt hätte, zu den Grenztruppen zu gehen; in BGHSt 39, 168 (169) findet sich die Feststellung, dass die angeklagten Grenzsoldaten die Frage nach dem Schusswaffengebrauch gegenüber Flüchtlingen bejaht hätten, der Angeklagte K. „allerdings erst, nachdem er nach anfänglicher Weigerung im Küchendienst eingesetzt und deswegen von den Kameraden als Küchenschabe gehänselt worden war; vgl. zudem die Aussage des ehemaligen Grenzers Ruge, FAZ v. 29. August 1991, S. 27, es wäre wohl richtig gewesen, sich lediglich als Bausoldat zu melden, was gewissermaßen die „Wehrdienstverweigerung“ der DDR dargestellt hätte; man hätte zwar eine Uniform getragen und an militärischen Objekten herumgebaut, jedoch keine Waffe getragen.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

doch neben den Fliehenden zu schießen237. Das eigene Risiko einer möglicherweise im Anschluss angestrebten dienstlichen Untersuchung seitens der vorgesetzten Stellen sei hinzunehmen gewesen, zumal ein derartiges Verhalten des Schützen vermutlich ohnehin nicht nachweisbar gewesen wäre238. Die Frage nach der tatsächlichen Härte der Sanktionspraxis in Fällen des Nichttreffens seitens der Grenzsoldaten kann an dieser Stelle dahingestellt sein239. Ohnehin ist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren sehr wesentlichen Aspekt hinzuweisen, den wiederum Willi Schumacher hinsichtlich eines Befehlsnotstands von Tätern in einem totalitären System, in diesem Fall dem des Nationalsozialismus, hervorgehoben hat und der sich mit den zuvor im Rahmen dieser Arbeit hervorgehobenen Feststellungen deckt. Es sei „die Nötigung, d. h. die Erzwingung der Befehlsausführung durch Drohung, (. . .) selbst in einem SSStaat wenig geeignet, wahrscheinlich sogar ungeeignet gewesen, Helfer bei der über Jahre hin praktizierten Durchführung (. . .)“ von Tötungen zu gewinnen. Der Ansatz, den das Regime (. . .) wählte, war nicht die Nötigung, sondern die Manipulation des Rechtsbewusstseins des Täters“240. Die „subjektiv dann mehr als echt erlebte Vorstellung des Notstands“ bei den Tätern sei „aus Unvermögen, nach dem Kriege ihre eigenen Taten in diesem unvorstellbaren Ausmaße begreifen, sie als eigenes Tun anerkennen zu können“, entstanden241. Es dürfte sich hierbei um Feststellungen handeln, die sicherlich auch für den totalitären Staat der DDR und seine Täter an der Grenze als zutreffend anzusehen sind. Auch die Machthaber der DDR waren sich zweifelsohne durchaus der Schwierigkeiten bzw. der Unmöglichkeit des Vorhabens bewusst, eine jederzeit zur Tötung von Flüchtlingen bereite Grenztruppe allein oder überwiegend durch Nötigung im Sinne der Erzwingung der Befehlsausführung mittels Drohung aufrechtzuerhalten. Diese Annahme wird durch die zuvor genannten Umstände der Auswahl und Rekrutierung dieser Personen untermauert, etwa sofern die zustän237 Vgl. Rosenau, S. 259, mit dem Hinweis, dass allerdings die vom BGH in einem Urteil aus dem Jahre 1965 (Urteil v. 16. März 1965 – 5 StR 63/65, S. 6 UA – unveröffentlicht) geäußerte Vorstellung, die Grenzsoldaten hätten sich dem Konflikt zwischen Befehls- und Rechtsgehorsam durch Flucht entziehen können, fernliegend scheint. 238 Vgl. Bath, DA 1990, 1733 (1739); s. auch Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 66 f.; Rosenau, S. 259. 239 So spricht Bath, DA 1990, 1733 (1739 f.) von einer eher milden Sanktionspraxis und schildert einen Fall, in dem die Folgen für einen als guten Schützen geltenden Soldaten, der einen Flüchtling verfehlte, allein in der Aberkennung der Schützenschnur (Schießauszeichnung), vier Wochen Urlaubssperre und der Versetzung in einen Ausbildungstruppenteil bestand; ebenso sei ihm von dem ehemaligen Leiter der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter im Jahre 1984 mitgeteilt worden, dass diesem keine gerichtliche Aburteilung eines Grenzsoldaten, der einen Flüchtling verfehlt hatte, bekannt sei; Rosenau, S. 259 m. w. N. nennt dagegen auch Fälle angeblich härterer Bestrafungen. 240 Schumacher, Psychologische Mechanismen, S. 176. 241 Schumacher, Psychologische Mechanismen, S. 175 f.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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digen Stellen bereits im Rahmen der Musterung eines Wehrpflichtigen darauf bedacht waren, dessen politische Zuverlässigkeit und somit dessen mögliche Bereitschaft zum Schusswaffengebrauch gegen flüchtende Menschen festzustellen oder sofern auch fortwährend anhand von Personalanalysen die politische Zuverlässigkeit aller Grenzsoldaten jederzeit überwacht und die Art ihres Einsatzes entsprechend koordiniert wurde. Auch ist in diesem Zusammenhang wiederum auf die bereits erwähnte Furcht der Truppenführung vor einer Flucht der eigenen Soldaten zu verweisen, die umso mehr berechtigt war, als zu bedenken ist, dass die Soldaten durch ihren Grenzdienst die Möglichkeit besaßen, selbst am leichtesten fliehen zu können242. Somit findet sich anhand der letztgenannten Feststellungen eine Bestätigung des als sinnvoll erachteten Ansatzes, die Beurteilung einer Unrechtserkenntnis der Grenzsoldaten über die staatliche Einflussnahme im Sinne einer Eliminierung bzw. Minimierung ihres Unrechtsbewusstseins vorzunehmen und die in diesem Kontext bestehenden Neutralisierungsangebote der DDR-Staatsführung aufzuzeigen und im Hinblick auf ihren tatsächlichen Erfolg bei den Soldaten zu würdigen. Eine erhebliche Bedeutung ist in diesem Zusammenhang dem Umstand beizumessen, dass die politische Führung der DDR stets den Versuch unternommen hat, das von staatlicher Seite in die Welt gesetzte Unrecht, in diesem Fall die tödlichen Schüsse an der Grenze, in „legale Formen“ zu kleiden243, es demnach mit einem Schein der Legalität zu versehen und somit für die Beteiligten den Blick für das elementare Tötungsverbot zu beeinträchtigen. Es bedarf daher einer Betrachtung derjenigen Mechanismen, die seitens der DDR-Staatsführung zur Erreichung dieser Zielsetzungen eingesetzt wurden, wobei in diesem Zusammenhang insbesondere folgende Aspekte von besonderer Bedeutung erscheinen: die Entrechtung der Flüchtlinge; die Befehlslage an der Grenze; das Schusswaffengebrauchsrecht in der DDR sowie die politisch-ideologische Einflussnahme auf die Grenzsoldaten. b) Die Entrechtung der Flüchtlinge Die Erreichung des Ziels, tödliche Schüsse auf Menschen, die ohne die Gefährdung von Rechtsgütern anderer Personen lediglich ihr Land verlassen wollten, zu legitimieren und andere Personen für ein entsprechendes Handeln bereit zu machen, führte zunächst erkennbar über die völlige Entrechtung der Flüchtlinge durch die Machthaber der DDR. Die Beurteilung der rechtspsychologischen Situation der Grenzsoldaten als Täter erfordert somit eine Einbeziehung der Lage der Opfer.

242 243

s. den Hinweis auf diesen Aspekt bei Forster, S. 161. Leggewie/Meier, S. 55.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Die Flüchtlinge waren nach Auffassung der Machthaber in der DDR, daran kann kein Zweifel bestehen, in jeglicher Hinsicht rechtlos zu stellen. Die in der DDR bestehende „offensichtliche Verachtung für die Rechte des Republikflüchtlings“244 soll im Folgenden insbesondere unter drei Gesichtspunkten aufgezeigt werden. Zunächst ist die grundsätzliche Absprechung des elementaren Rechts auf Leben zu nennen, die den fluchtwilligen Menschen gegenüber seitens der Staatsführung stattgefunden hat. Daneben ist die unter dem Deckmantel gesetzlicher Normierungen vorgenommene grundsätzliche Kriminalisierung des Flüchtlingsverhaltens ebenso von Bedeutung wie die Art und Weise, mittels welcher den Soldaten das nach Ansicht der DDR-Machthaber strafwürdige Verhalten vermittelt wurde. Die entsprechende Vermittlung war geprägt durch die „Verfremdung“245 der fluchtwilligen Menschen, in deren Rahmen sie zur Gewährleistung der Unrechtsverübung an ihnen in ihrem Wert erniedrigt und herabgewürdigt wurden. aa) Absprechung des Rechts auf Leben Sofern die absolute Rechtlosigkeit einer bestimmten Personengruppe in Rede steht, ist keine eindeutigere Fallkonstellation denkbar als jene, in der ihr gegenüber eine Absprechung des elementaren Rechts auf Leben stattfindet. Gerade eine entsprechende Beraubung dieses Rechtes ist allerdings den Menschen in der DDR, die sich lediglich freizügig verhalten wollten, widerfahren. Dieser Umstand zeigte sich in aller Deutlichkeit bei unmittelbarem Grenzkontakt in Form der ihnen gegenüber abgegebenen tötungsgeeigneten Schüsse seitens der wachhabenden Soldaten. Zwar bestand auch für die DDR entsprechend ihrer innerstaatlichen Verfassung die Verpflichtung, das menschliche Leben durch gesetzgeberische Maßnahmen zu schützen, und zweifelsohne ist die DDR dieser Pflicht durch die Schaffung entsprechender Straftatbestände (§ 112 ff. StGB/DDR) weitestgehend auch nachgekommen246. Dennoch offenbarten die lebensgefährlichen und nicht selten tödlichen Schüsse an der Mauer, dass die vom BGH in seinem ersten „Mauerschützen“-Urteil hervorgehobene Maxime, dass „das Leben das höchste aller Rechtsgüter sei“247, in der DDR bezüglich flüchtender Menschen, die den 244

Herzog, NJ 1993, 1 (1). Der Begriff wird im Anschluss an Mitscherlich, Zur Psychologie des Vorurteils, in: Hartmann (Hrsg.), Vorurteile, Ängste, Aggressionen, 1975, S. 9 ff. (S. 15) benutzt und ist auch von Jäger, Verbrechen, S. 307 aufgegriffen worden; zu seiner Bedeutung s. Drittes Kap. V. 2. b) cc) (1). 246 Vgl. Brunner, Recht auf Leben, in: Brunner (Hrsg.), Menschenrechte in der DDR, 1989, S. 111 ff. (S. 113 ff.), der darauf verweist, dass das Recht auf Leben in der Verf./DDR zwar nicht ausdrücklich angesprochen, es jedoch von der Unantastbarkeit der Persönlichkeit gem. Art. 30 Abs. 1 Verf./DDR mit erfasst worden sei. 245

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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Wunsch hegten, das Land verlassen zu wollen, keine Gültigkeit besaß. Das Leben dieser Menschen, die in den Augen der DDR-Machthaber, auf diesen Aspekt wird noch einzugehen sein248, „Verbrecher, Kriminelle und Verräter“249 sowie ohnehin „Feinde des Sozialismus“250 und somit „Staatsfeinde“251 waren, erschien offenkundig nicht schützenswert. So sind die umfangreichen Grenzsicherungsanlagen in Erinnerung zu rufen, die mit ihren erst nach 1985 entfernten Elementen der Selbstschussanlagen und Minensperren stets ohne Ansehen der Person und des ihr zur Last gelegten Verhaltens eine unmittelbare Lebensgefahr für die Flüchtlinge darstellten252 und deren Installation aufgrund der unterschiedslosen Art und Weise der somit in Kauf genommenen Tötungen eindrucksvoll bestätigt, dass die Staatsführung der DDR das Leben von Menschen, die das Land verlassen wollten, als nicht wertvoll und somit als nicht schützenswert erachtete. Ebenso bezeichnend ist die Erklärung E. Honeckers am 03. Mai 1974 auf einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates, dessen Vorsitzender er war, es sei zur Verhinderung von überhaupt nicht mehr zuzulassenden Grenzdurchbrüchen überall ein einwandfreies Schussfeld zu gewährleisten und nach wie vor rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen253. Auch die an der Grenze maßgebliche Befehlslage, die noch zu erörtern sein wird254, war insofern eindeutig, als sie dem „Interesse, die Flucht zu verhindern, (. . .) Vorrang vor dem Leben des Flüchtlings“ einräumte255.

247

BGHSt 39, 1 (35); vgl. als Vorinstanz LG Berlin, NStZ 1992, 492 (495). s. Drittes Kap. V. 2. b) cc) (1) u. (2). 249 BGHSt 39, 168 (169). 250 LG Berlin, NStZ 1992, 492 (492). 251 KG, NJW 1991, 2656. 252 Vgl. Brunner, Recht auf Leben, S. 118 u. 126 sowie ders., Freizügigkeit, in: Brunner (Hrsg.), Menschenrechte in der DDR, 1989, S. 129 ff. (S. 144 f.), laut dessen Aussage seit 1961 mindestens 18 Menschen durch Mineneinwirkung und mindestens 7 Menschen durch Auslösung der Selbstschussautomatik bei einem Fluchtversuch ihr Leben verloren hätten; auch wird betont, dass die Grenzsicherungsanlagen selbst nach Entfernung ihrer oben genannten unmittelbar lebensbedrohenden Teile nach Umfang, technischer Perfektion und Unmenschlichkeit im internationalen Vergleich einmalig gewesen seien; s. zudem Rühmland, NZWehrr 1982, 175 (179); s. auch Ott, NJ 1993, 337 (342 f.), der die Installation der Minen und Selbstschussanlagen mit „summarischen Exekutionen“ gleichsetzt. 253 KG, NJW 1991, 2653 (2653), das weiterhin feststellt, es lägen keine Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass es sich bei diesen Äußerungen insoweit nur um eine unverbindliche Meinungsäußerung gehandelt haben könnte; vgl. Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 5 sowie Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (185). 254 s. diesbezüglich Drittes Kap. V. 2. c). 255 BGHSt 39, 1 (11); s. auch BGHSt 39, 168 (170 u. 183). 248

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

bb) Die Kriminalisierung der Flüchtlinge Ein weiterer Gesichtspunkt von zentraler Bedeutung im Zusammenhang mit der Entrechtung der Flüchtlinge ist die staatlich vorgenommene Kriminalisierung ihres Verhaltens durch die Schaffung entsprechender Straftatbestände. (1) Der Tatbestand der Republikflucht gem. § 213 StGB/DDR Die Situation an der Grenze war in der DDR seit Sperrung der Demarkationslinie und somit von Anbeginn zwischen beiden Teilen Deutschlands durch Vorschriften gekennzeichnet, die eine Ausreise der Bürger streng reglementierten256. Jede Ausreise bedurfte eines Antrages und der Ausstellung eines Interzonenpasses, der bis zu seiner Aufhebung im Jahre 1953 durch die Westmächte nur in Ausnahmefällen ausgegeben wurde257. Nachdem sich die DDR diesem Schritt unter Einschränkungen angeschlossen hatte, wurde seit dem Jahre 1954 durch das Passgesetz der DDR258 die Strafbarkeit der nicht genehmigten Ausreise bestimmt. Die entscheidende Norm des § 8 Abs. 1 PassG lautete: „Wer ohne Genehmigung das Gebiet der DDR nach dem Ausland verlässt oder (. . .), wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft.“

Im Jahre 1968 mit Inkrafttreten des neuen StGB der DDR259 wurde die Norm nach einer zwischenzeitlich vorgenommenen weiteren Verschärfung aus dem Jahre 1957260 durch den Tatbestand des Ungesetzlichen Grenzübertritts nach § 213 StGB/DDR (sog. Republikflucht261) ersetzt. Die Regelung des § 213 Abs. 1 StGB/DDR bestimmte: 256

Vgl. Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 1; vgl. Marxen/Werle,

S. 8. 257 s. diesbezüglich Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.), A bis Z – Ein Taschen- und Nachschlagebuch über den anderen Teil Deutschlands, 1969, S. 303. 258 GBl.-DDR 1954 I, S. 786. 259 GBl.-DDR 1968 I, S. 1. 260 Änderungsgesetz zum PassG/DDR, GBl.-DDR 1957 I, S. 650, in dem mit der Änderung des § 8 Abs. 3 PassG/DDR die Strafbarkeit neben dem bereits zuvor erfassten Versuch auch auf Vorbereitungshandlungen ausgedehnt worden ist; s. zu diesem Gesichtspunkt Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 1, der als entsprechende Vorbereitungshandlungen neben dem Beschaffen geeigneter Hilfsmittel, dem Veräußern des Eigentums und der Bewerbung um eine Stelle im Westen schon die bloße Erwägung der Übersiedlung in die Bundesrepublik nennt. 261 Es handelt sich bei diesem Ausdruck um einen vielfach verwendeten Begriff, den die Norm des § 213 StGB/DDR, die laut Überschrift den Ungesetzlichen Grenzübertritt regelt, allerdings nicht verwendet. S. Amann, Die deutsche Rechtsprechung zum Tatbestand der Republikflucht im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention 1951, in: Geistlinger/Pöckl/Skuhra (Hrsg.), Flucht – Asyl – Migration, 1991, S. 101 ff. (S. 102), die unter den Begriff einerseits die Fälle des illegalen Grenzübertritts und andererseits die Fälle des illegalen Verbleibs im Ausland bzw. der Verweigerung der

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„Wer widerrechtlich in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik eindringt oder sich widerrechtlich darin aufhält, (. . .) oder (. . .) oder ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlässt oder (. . .), wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe oder öffentlichem Tadel bestraft.“

Weiterhin enthielt die Vorschrift in Abs. 2 einen schweren Fall mit einer Strafandrohung bis maximal 5 Jahren, dessen Vorliegen sich nach verschiedenen in dem Absatz genannten Qualifikationen der Begehungsweise richtete, sowie in Abs. 3 weiterhin die Strafbarkeit von Vorbereitung und Versuch. Auffällig an der Neuregelung war insoweit, dass sie in Abs. 1 zunächst sämtliche Alternativen des ungesetzlichen Grenzübertrittes aufzählte, die in der Praxis kaum von Bedeutung waren, während man erst gegen Ende auf den alles entscheidenden Passus „ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlässt“ stieß262. Die Regelung des § 8 PassG ließ dagegen, wie aufgezeigt, die Intention des Gesetzgebers noch deutlich zutagetreten, indem das nicht genehmigte Verlassen der DDR als erste Begehungsform normiert war. Im Jahre 1979 schließlich erhielt die Norm des § 213 StGB/DDR im Rahmen einer Strafrechtsreform263 die Fassung, die bis zu ihrer Abschaffung im Jahre 1990 in Kraft blieb. Die Norm des § 213 StGB/DDR n. F. lautete: „Ungesetzlicher Grenzübertritt (1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. (2) (. . .) (3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn 1. die Tat Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet; 2. die Tat unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden erfolgt; 3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird;

Rückkehr nach zunächst erfolgter legaler Ausreise fasst; vgl. zudem Köfner/Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1, 1986, S. 197 u. S. 297. 262 Vgl. Rosenthal, Das neue politische Strafrecht der „DDR“, 1968, S. 88; vgl. Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 2. 263 3. Strafrechtsänderungsgesetz, GBl.-DDR 1979 I, S. 139 ff. (143 f.).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten 4. die Tat durch Urkundenfälschung (§ 240), Falschbeurkundung (§ 242) oder durch Missbrauch von Urkunden oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt; 5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird; 6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.

(4) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“

Die dargestellten Vorschriften veranschaulichen deutlich, dass der Reiseverkehr der Bürger in der DDR von Anbeginn streng beschränkt und das Verlassen des Landes ohne die Beantragung und Erteilung einer Genehmigung durch die Schaffung entsprechender Tatbestände kriminalisiert wurde. Das gesamte Ausmaß der somit entstandenen Einschränkungen der Bevölkerung treten allerdings erst dann zutage, sofern man die Genehmigungspraxis bezüglich Ausreisen durch die DDR-Behörden einbezieht. Diese wurde äußerst restriktiv gehandhabt und bestand regelmäßig in einer ohne Begründung vorgenommenen Versagung der entsprechenden Genehmigung264. Insbesondere für nicht politisch privilegierte Bürger unterhalb des Rentenalters existierte aufgrund dieses Umstandes faktisch keine Möglichkeit der legalen Ausreise265. Es zeigt sich an diesem Umstand erneut eindrucksvoll die Richtigkeit der vom BVerwG bereits 1971 in einer Grundsatzentscheidung getroffenen Feststellung, dass die Bestrafung der Republikflucht „dem Zweck (diene), die politische Herrschaft des Kommunismus (. . .) zu sichern. (Sie) hat die gleiche Aufgabe wie Mauern, Stacheldraht, Minenfelder und Schießbefehle. Sie soll eine Abstimmung mit den Füßen verhindern“266. Inwieweit dem Vorgehen der DDRStaatsführung, die Grenzen zu schließen und den ungenehmigten Grenzübertritt unter Strafe zu stellen, allerdings eine Relevanz im Rahmen der Beurteilung eines möglichen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten einzuräumen sein wird, bedarf noch der Erörterung267. Zunächst ist lediglich die Feststellung hervorzuheben, dass jede Person in der DDR, von den wenigen privilegierten Ausnahmen einmal abgesehen, die sich lediglich das Recht nehmen wollte, ihr Land zu verlassen und somit eine Handlung zu begehen, die den Bürgern nach westlichem Verständnis nahezu selbstverständlich zugestanden wird, von vornherein durch die Schaffung entsprechender Straftatbestände kriminalisiert und somit ins Unrecht gesetzt wurde.

264

Vgl. Marxen/Werle, S. 8; BGHSt 39, 1 (19 u. 21); BGHSt 40, 218 (226). Vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 28. 266 BVerwGE 39, 27 (29 f.); vgl. zu diesem Aspekt zudem Köfner/Nicolaus, S. 197. 267 Dieser Gesichtspunkt geht zurück auf die grundlegende Frage nach der Bedeutung des Rechts auf Freizügigkeit, s. hierzu Drittes Kap. V. 2. b) dd) (2). 265

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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(2) Die Qualifikation der Republikflucht als Verbrechen gem. § 213 Abs. 3 StGB/DDR Die zentrale Schusswaffengebrauchsbestimmung des Rechtes der DDR, die Norm des § 27 GrenzG/DDR setzte, wie eingangs erwähnt, die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat voraus, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellte268. Der Verbrechensbegriff war in § 1 Abs. 3 StGB/DDR folgendermaßen definiert: „Verbrechen sind gesellschaftsgefährliche Angriffe gegen die Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik, den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte, Kriegsverbrechen, Straftaten gegen die Deutsche Demokratische Republik sowie vorsätzlich begangene Straftaten gegen das Leben. Verbrechen sind auch andere vorsätzlich begangene gesellschaftsgefährliche Straftaten gegen die Rechte und Interessen der Bürger, das sozialistische Eigentum oder andere Rechte und Interessen der Gesellschaft, die eine schwerwiegende Missachtung der sozialistischen Gesetzlichkeit darstellen und für die deshalb eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren angedroht ist oder für die innerhalb des vorgesehenen Strafrahmens im Einzelfall eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren ausgesprochen wird.“

Dementsprechend müssten die Flüchtlinge mit ihrem Verhalten, da die in Satz 1 des § 1 Abs. 3 StGB/DDR genannten schweren politischen Straftaten sowie Tötungsdelikte nicht in Betracht kamen, eine Straftat begangen haben, die nach Satz 2 eine schwerwiegende Missachtung der sozialistischen Gesetzlichkeit darstellte und entweder nach der 1. Variante bei der abstrakten Betrachtungsweise mit einer Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren bedroht war oder bei der nach der 2. Variante im Einzelfall bei der konkreten Betrachtungsweise durch den Richter eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren ausgesprochen wurde. Der Grundtatbestand des ungesetzlichen Grenzübertrittes (der Republikflucht) gem. § 213 StGB/DDR war mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, mit Verurteilung zur Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bedroht und damit nach § 1 Abs. 2 StGB/DDR kein Verbrechen, sondern lediglich ein Vergehen269. Allerdings konnte die Republikflucht gem. § 213 Abs. 3 S. 1 i.V. m. § 1 Abs. 3 S. 2 StGB/DDR zu einem Verbrechen werden, sofern ein „schwerer Fall“ vorlag, denn das Recht der DDR sah für einen solchen zunächst einen 268

Vgl. Erstes Kap. I. Die Norm des § 1 Abs. 2 StGB/DDR lautete: „Vergehen sind vorsätzlich oder fahrlässig begangene gesellschaftswidrige Straftaten, welche die Rechte und Interessen der Bürger, das sozialistische Eigentum, die gesellschaftliche und staatliche Ordnung oder andere Rechte und Interessen der Gesellschaft schädigen. Sie ziehen strafrechtliche Verantwortlichkeit vor einem gesellschaftlichen Organ der Rechtspflege oder Strafen ohne Freiheitsentzug oder, soweit gesetzlich vorgesehen, bei schweren Vergehen Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren nach sich. Die Strafe für besonders schwere fahrlässige Vergehen ist, soweit gesetzlich vorgesehen, Freiheitsstrafe bis zu acht Jahren“. 269

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Strafrahmen von einem bis zu fünf, nach 1979 bis zu acht Jahren vor. Ein schwerer Fall lag insbesondere dann vor, sofern eine der in § 213 Abs. 3 S. 2 StGB/DDR aufgezählten Handlungsweisen verwirklicht worden war. Eine Betrachtung der entsprechenden Handlungsweisen offenbart allerdings, dass sie z. B. mit der „Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden“, der Tatausführung mit „besonderer Intensität“ oder „unter Ausnutzung eines Verstecks“ nicht nur sehr unscharf und unpräzise formuliert, sondern zudem noch unpräziser in ihrer weit gefassten Auslegung waren270. So hebt der BGH unter Berufung auf eine als „Gemeinsamer Standpunkt zur Anwendung des § 213 StGB“ bezeichnete Erklärung vom 15. Januar 1988 durch das Oberste Gericht und die Generalstaatsanwaltschaft der DDR hervor, dass unter „Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden“ nach § 213 Abs. 3 Nr. 2 StGB/DDR bereits das Benutzen „von Steighilfen zur Überwindung von Grenzsicherungsanlagen“ anzusehen gewesen sei271. Auch wurden Begehungsformen bereits dann als gefährliche Methoden eingestuft, wenn sie geeignet waren, „die für die Sicherung der Staatsgrenze eingesetzten Kräfte zu desorientieren und Sicherungsmaßnahmen unwirksam zu machen272. Ebenso die notwendigen Anforderungen bezüglich einer Tatbegehung mit „besonderer Intensität“ sind bezeichnend. So sollte diese Begehungsform bereits dann verwirklicht gewesen sein, wenn die Tat „z. B. mit einem erheblichen physischen Aufwand erfolgt“273. Zu Recht ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass somit schon deshalb stets ein schwerer Fall gegeben gewesen sein dürfte, weil eine Überwindung der erheblich gesicherten Grenzanlagen ohne einen entsprechenden erheblichen physischen Aufwand kaum vorstellbar gewesen sei274. In dem genannten „Gemeinsamen Standpunkt“ heißt es entsprechend, dass ein hoher physischer Aufwand oder erhebliche geistige Anstrengungen erforderlich wären, von denen auszugehen sei, „beim Durchschwimmen größerer Grenzgewässer, 270

Vgl. Frommel, S. 85 f.; vgl. Schroeder, JR 1993, 45 (45) sowie Seidel, S. 27 f. BGHSt 39, 1 (9 f.); vgl. Spendel, JR 1994, 221 (222); s. zudem den Abdruck der entsprechenden OG-Informationen 2/1988, S. 9 (S. 13 f.) als Anlage 6 bei Rosenau, S. 318 ff., der weiterhin m. w. N. erläutert, dass es sich bei den entsprechenden Rechtsstandpunkten um einen Teil der Leitungsdokumente gehandelt habe, mit denen das Oberste Gericht (OG) seiner Leitungsaufgabe für eine einheitliche Rechtsprechung aller Gerichte gem. Art. 93 Abs. 2 Verf./DDR sowie § 20 GVG/DDR nachgekommen sei. Zwar seien nach dem GVG allein Richtlinien und Beschlüsse des OG für die nachgeordnete Gerichtsbarkeit verbindlich, gleichwohl seien jedoch zudem die schriftlichen, aber nicht öffentlich gemachten Rechtsstandpunkte als Ausdruck des demokratischen Zentralismus als bindend angesehen worden. 272 Autorenkollektiv, Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1984, § 213 Anm. 9. 273 Autorenkollektiv, Strafrecht, § 213 Anm. 10. 274 Vgl. Brunner, NJW 1982, 2479 (2482) sowie Schreiber, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für den Schusswaffengebrauch an der Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR, in: Lampe (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, 1993, S. 53 ff. (S. 57). 271

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beim Bau oder der Benutzung von Luftfahrzeugen, Tauchausrüstungen, mit Muskelkraft bewegten Schwimmkörpern oder Durchführung von Konditionstraining, um die Tat in der vorgesehenen Weise verwirklichen zu können“275. Unter „Ausnutzung eines Verstecks“ war „jede bereits vorhandene oder zur Tatausführung besonders geschaffene Stelle oder Vorrichtung zu verstehen, die geeignet ist, Personen der Grenzkontrolle zu entziehen“276. Diese Annahme bedeutete letztlich nichts anderes, als das der Flüchtling hätte offen auftreten müssen, um keinen schweren Fall der Republikflucht gem. § 213 StGB zu begehen277. Somit enthielten die in § 213 Abs. 3 S. 2 StGB/DDR genannten Handlungsweisen, gerade auch wegen der geringen Anforderungen, die an ihr Vorliegen geknüpft wurden, nahezu sämtliche Möglichkeiten, die einen Grenzübertritt regelmäßig ausmachten. Aufgrund dieses Umstandes erscheint eine Republikflucht, die lediglich ein Vergehen gem. § 213 Abs. 1 StGB/DDR und nicht einen schweren Fall gem. § 213 Abs. 3 StGB/DDR dargestellt hätte, kaum vorstellbar, so dass letztlich eine Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Grundtatbestand und Qualifikation vorlag278. Aus diesem Grund wurde die genannte Regelungstechnik sowie dementsprechend der gesamte Verbrechenstatbestand des § 213 Abs. 3 StGB/DDR in der Literatur zurecht unter anderem als „absurd“279 bzw. als ein „in der Gesetzgebung nicht unbekannter Trick“280 bezeichnet. Zudem ist des Weiteren zu beachten, dass mit dem stets eingetretenen schweren Fall bei der Begehung einer Republikflucht gem. § 213 Abs. 3 StGB/DDR nicht zwangsläufig ein Verbrechen anzunehmen war. Auch der schwere Fall des § 213 Abs. 3 StGB/DDR war entsprechend § 1 Abs. 3 StGB/DDR kein Verbrechenstatbestand, da zwar eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren im Einzelfall verhängt werden konnte, eine solche nicht aber mindestens angedroht war281. Es bestand jedoch die Möglichkeit, neben Straftaten, die schlechthin Verbrechen waren, alle Straftaten mittels der konkreten Betrachtungsweise gem. § 1 Abs. 3 S. 2 2. Alt. StGB/DDR durch die Verhängung einer Freiheitsstrafe von über zwei Jahren nachträglich zu einem Verbrechen zu machen. Zwar stellte ein

275 s. OG-Informationen 2/1988, S. 9 (S. 14), abgedruckt bei Rosenau, S. 318 ff. (S. 323). 276 Autorenkollektiv, Strafrecht, § 213 Anm. 11. 277 Vgl. Küpper, JuS 1992, 723 (724). 278 Vgl. Rosenau, S. 64; s. auch Küpper, JuS 1992, 723 (724). 279 Frommel, S. 85. 280 Schroeder, JR 1993, 45 (45); vgl. zudem Rautenberg/Burges, DtZ 1993, 71 (75), die betonen, dass entsprechende extensive Auslegungen von Tatbestandsmerkmalen, vergleichbar mit jenen soeben erläuterten im Rahmen des § 213 Abs. 3 S. 2 StGB/DDR, im gesamten Bereich des politischen Strafrechts der DDR anzutreffen seien. 281 Vgl. Autorenkollektiv, Strafrecht, § 213 Anm. 7.

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entsprechendes Verfahren einen Widerspruch zur modernen Tendenz der Gesetzgebung dar, die an das Vorliegen eines Verbrechens bereits vor der Aburteilung weitere Rechtsfolgen anknüpft und damit offenbar von der Vorbestimmtheit der Natur eines Verhaltens als Verbrechen ausgeht282, jedoch ließen sich die Machthaber der DDR durch diesen Umstand offenkundig nicht von ihrem Bestreben, Grenzverletzer auf jeden Fall als Verbrecher zu kriminalisieren, abbringen. So wurde die Scheinheiligkeit der gesetzlichen Regelungen auch entsprechend dadurch untermauert, dass natürlich „die Praxis der DDR zur Tatzeit die Republikflucht mit unmittelbarem Grenzkontakt in den meisten Fällen als Verbrechen wertete und mit Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren ahndete“283. cc) Die Vermittlung des Flüchtlingsverhaltens und des Republikfluchtparagraphens gegenüber den Grenzsoldaten Dem Umstand entsprechend, dass die Staatsführung der DDR die flüchtenden Menschen völlig rechtlos stellen wollte und die gerichtliche Praxis des Landes die Republikflucht mit Eindringen in die Grenzsicherungsanlagen in Übereinstimmung mit diesem Ziel stets mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren belegte und somit als Verbrechen einstufte, erfolgte auch die diesbezügliche Instruktion der ausführenden Grenzsoldaten. Es galt für die Staatsführung der DDR sowie die ihren Willen weitergebenden Stellen auf unterer Ebene zu gewährleisten, dass die Grenzsoldaten ihren Vorstellungen entsprechend handelten, somit eben unter Inkaufnahme eines tödlichen Treffers auf flüchtende Menschen schießen würden. Im Rahmen dieses Unterfangens war man sich selbstverständlich über die Schwierigkeiten bewusst, die sich aus dem Umstand ergeben würden, von den Grenzsoldaten das tötungsgeeignete Schießen auf ihre Mitbürger zu verlangen und erkannte bereits frühzeitig die Notwendigkeit einer politisch-ideologischen Einflussnahme auf die Grenzsoldaten zur Gewährleistung des erwünschten Schusswaffengebrauchs. So wurde im Jahre 1963 in einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates unter dem Punkt „Einschätzung des politisch-moralischen Zustands der Grenztruppen und Maßnahmen zur Verbesserung“ ein von der Abteilung für Sicherheits282

Vgl. Schroeder, JR 1993, 45 (45). BGHSt 39,1 (9); LG Berlin, NJ 1992, 419 (421); nach BGHSt 39, 168 (182) war die „Voraussetzung, dass eine solche Tat im Einzelfall mit einer Freiheitsstrafe von über zwei Jahren bestraft wurde (. . .), regelmäßig gegeben“; vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR Handbuch. Bd. 2 M–Z, 1985, S. 1124 sowie Brunner, NJW 1982, 2479 (2482), die von einem durchschnittlichen Strafrahmen von 3 Jahren für eine Republikflucht sprechen; vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 11; vgl. Kuhlen/Gramminger, JuS 1993, 32 (36); s. zudem Arnold/Kühl, JuS 1992, 991 (994) sowie Schreiber, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 57. 283

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fragen des Zentralkomitees der SED vorgelegtes Papier diskutiert, in dem es hieß: „Nach wie vor gelingen täglich Grenzdurchbrüche von Personen nach Westdeutschland und Westberlin. Beim Erkennen der Grenzverletzer wird zwar in der Regel von der Schusswaffe Gebrauch gemacht, doch der Aufwand an Munition steht im krassen Missverhältnis zum Erfolg. Die Ursache dafür ist sowohl in mangelhafter Schießausbildung zu suchen als auch besonders im subjektiven Treffen-Wollen der einzelnen. Die Einflussnahme des Gegners ,Triff daneben – werde nicht zum Mörder‘ ist keinesfalls ohne Wirkung. (. . .) Die Zuverlässigkeit der Grenztruppen wird beeinträchtigt durch: 1. mangelhafte politisch-ideologische Arbeit, speziell in Auseinandersetzung mit der psychologischen Offensive des Gegners (. . .)“284.

(1) Die Verhinderung von Identifikationen durch Erzeugung von Distanz und Verfremdung Die Vermittlung der entscheidenden Normen war aus den genannten Gründen erkennbar durch das Bemühen der entsprechenden Stellen gekennzeichnet, auf jeden Fall jegliche Identifizierung der Grenzsoldaten als letztlich ausführende Organe mit den Flüchtlingen zu verhindern. Dieses Vorgehen entspricht dem von Willi Schumacher hervorgehobenen Umstand, dass nichts „mehr geeignet ist, Aggressions- und insbesondere Tötungshemmungen auszulösen, als die innere Nähe bzw. Bekanntschaft mit dem Opfer und die hierüber erfolgenden Identifizierungen“285. Auch Herbert Jäger, der sich eingehend mit Verbrechen unter totalitärer, insbesondere unter nationalsozialistischer Herrschaft befasst hat, stellt fest, dass die Reduzierung von Hemmungen bedeutend dadurch beeinflusst werde, „dass Außenstehende, vor allem Angehörige von Fremdgruppen, menschlich in größere Ferne rücken“ und daher „eine zentrale Kategorie der Kriminologie kollektiver Verbrechen (. . .) die der Distanz“ sei286. Der Begriff der Distanz bedeutet dabei „sowohl Ferne wie Nähe. Distanzierung ist nicht bloß Erweiterung, sondern ebenso Verminderung des Abstands. Distanz bedeutet den Grad von Ferne oder Nähe im sozialen Raume“287. Es sind in diesem Zusammenhang räumliche und soziale Distanz zu unterscheiden, wobei im Rahmen der vorliegenden Überlegungen sicherlich dem Aspekt der sozialen Distanz die größere Bedeutung beizumessen sein dürfte288. Denn eine Entfernung im räumlichen Sinne war bisweilen vor allem von Bedeutung bei Großkollektiven und auf technischem Wege erfolgender Tatausfüh284

Rosenau, S. 229. Schumacher, Psychologische Mechanismen, S. 191. 286 Jäger, Individuelle Zurechnung, S. 37. 287 v. Wiese, System der allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre), 1966, S. 110 u. 123. 285

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rung, wie Kriegshandlungen, Kriegsverbrechen und apparaturhaft durchgeführten Massentötungen289. Zwischen den Schützen und den Flüchtlingen lag dagegen regelmäßig ohnehin keine bedeutende räumliche Distanz vor, zumeist bestand zwischen ihnen bei Abgabe der Schüsse lediglich ein Abstand von ein paar hundert Metern. Somit bedarf es im Folgenden einer Betrachtung, auf welchem Wege und unter Nutzung welcher Mittel seitens der Staatsführung und der zuständigen Stellen versucht worden ist, eine Identifizierung zwischen den Grenzsoldaten und den Flüchtlingen als ihren Opfern mittels der Schaffung von sozialer Distanz zwischen beiden Gruppierungen zu verhindern. Es tritt dabei deutlich zutage, dass die entsprechenden Machthaber stets bestrebt waren, die Flüchtlinge herabzuwürdigen und in ihrem Wert zu erniedrigen. Dieses Vorgehen, das im Folgenden anhand von zahlreichen gerichtlichen Feststellungen im Zusammenhang mit der Bewältigung der Schüsse an der Mauer sowie Aussagen ehemaliger Grenzsoldaten zu belegen sein wird, lässt sich unter Rückgriff auf Überlegungen von Alexander Mitscherlich als „Verfremdung des Gegners“ bezeichnen, das bedeutet, „er wird fremd im abstoßenden Sinn gemacht. Er verkörpert kaum einen Wert und kann damit zu einem relativ konfliktfreien Ziel der Aggression werden“290. Auch Herbert Jäger wiederum betont, dass „in unmittelbarem Zusammenhang mit der (. . .) sozialen Distanz (. . .) Entwertung und Deindividuation“ der Opfer ständen291. Nach Ansicht des BGH waren die Soldaten einer „besonders intensiven politischen Indoktrination“ ausgesetzt und vor ihren Taten „im Geiste des Sozialismus mit entsprechenden Feindbildern von (. . .) Personen, die unter Überwindung der Sperranlagen die DDR verlassen wollen, aufgewachsen“292. Sie wurden im Politunterricht in dem Sinne indoktriniert, dass „Personen, die die DDR ohne Genehmigung verlassen wollten, Verbrecher, Kriminelle und Verräter seien, deren Grenzüberschreitung verhindert werden müsse; normale DDR-Bürger hätten ja die Möglichkeit, einen Ausreiseantrag zu stellen“293. In einem weiteren Urteil heißt es, es sei den Grenzsoldaten eingeschärft worden, dass es sich bei Republikflüchtigen ganz überwiegend um Kriminelle und Verräter handele und dass davon ausgegangen werden müsse, „dass die Vorstellungswelt der sehr jungen Angeklagten damals in überdurchschnittlichem Maße von der herrschenden Ideologie und von der mit der Ausbildung verbundenen Indoktrination 288 Zu der Unterscheidung und Bedeutung von räumlicher und sozialer Distanz sowie zur Geschichte des Begriffs der Distanz in der Soziologie vgl. Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, 1969, S. 191 ff.; s. zudem Jäger, Individuelle Zurechnung, S. 38. 289 Vgl. Jäger, Individuelle Zurechnung, S. 38. 290 Mitscherlich, S. 15. 291 Jäger, Individuelle Zurechnung, S. 40. 292 BGHSt 39, 1 (33). 293 BGHSt 39, 168 (169).

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bestimmt war“294. Das Landgericht Berlin als Vorinstanz des BGH im ersten „Mauerschützen“-Urteil vom 03. November 1992295 spricht davon, dass die Flüchtlinge den Soldaten gegenüber als „Feinde des Sozialismus, Spione, Saboteure oder Straftäter, die – in der DDR enttarnt – keine Möglichkeit sahen, sich der Festnahme anders als durch Überwinden der Sperrelemente zu entziehen“, geschildert worden seien296. Dass es sich bei diesen gerichtlichen Feststellungen um eine der Realität entsprechende Einschätzung der Situation handelte, lässt sich anhand verschiedener Umstände belegen. So sollten etwa in einem Entwurf einer Ausbildungsanleitung aus dem Jahre 1982 durch den auszubildenden Offizier folgende Punkte als Motive für die flüchtenden Menschen gegenüber den Soldaten dargestellt werden: „– Feindschaft gegenüber dem Sozialismus – Entzug der Strafverfolgung – Abenteurertum – Egoistische Motive – Erwartung ,besserer Lebensbedingungen‘“297.

Ein Befehl vom 16. November 1981 erhob gegenüber allen Vorgesetzten die Forderung, die Qualität und Effektivität der politisch-ideologischen Arbeit mit dem Ziel zu erhöhen, „ein klassenmäßig begründetes, realistisches Feinbild auszuprägen, das Wesen imperialistischer Konfrontations- und Kontaktpolitik sowie die von ihr ausgehenden Gefahren für den Frieden gründlich zu erläutern und als massierte Hinwendung zur Aggression und Konterrevolution zu entlarven. Stärker anzuerziehen ist der unversöhnliche Hass auf den Imperialismus, seine Söldner und alle antisozialistischen Elemente. Die Haltung zum Grenzverletzer als Feind des Sozialismus und jedes Grenzsoldaten ist konsequent zu entwickeln“298. Des Weiteren gab bezüglich der Erziehung der Grenzsoldaten ein Lehroffizier zu verstehen: „Die Überzeugung vom Sieg des Sozialismus, Hass auf Feinde, Opferbereitschaft und Heldentum, Mut und Tapferkeit trugen dazu bei, dass die sozialistische Ord-

294 BGH, NStZ 1993, 488 (488), wobei allerdings zu erwähnen ist, dass der BGH in diesem Urteil, in dem es nicht um ein Tötungs- sondern ein Körperverletzungsdelikt ging, im Rahmen seiner Feststellungen des Weiteren hervorhebt, dass die Angeklagten der FDJ angehörten und mit Ausnahme eines Angeklagten Mitglieder der SED gewesen seien. 295 BGHSt 39, 1 ff. 296 LG Berlin, NStZ 1992, 492 (492) als Vorinstanz des ersten „Mauerschützen“Urteils vor dem BGH v. 03. November 1992. 297 Entwurf der Ausbildungsanleitung 1988, Bl. 17, zit. nach Rosenau, S. 69 f. 298 Zit. nach Rosenau, S. 70.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

nung und das friedliche Leben der Bürger der DDR (. . .) zuverlässig gegen alle Angriffe der aggressiven Kräfte des Imperialismus geschützt wurden“299.

Diesen Feststellungen entsprechend ist damit festzuhalten, dass die Fluchtversuche den Grenzsoldaten gegenüber, „die davon auch ausgingen, generell als Verbrechen dargestellt (wurden), unabhängig davon, ob sie allein oder zu mehreren, mit Waffen, gefährlichen Mitteln oder schwerem Gerät erfolgten“300 und dem gleichbedeutend stets eine Charakterisierung der Flüchtlinge als Verbrecher und Feinde stattfand301. In der Literatur findet sich die Titulierung der entsprechenden Einflussnahme auf die Grenzsoldaten als „Hass-Erziehung“302. Zwar antwortete der ehemalige Polit-Offizier der Grenztruppen J.-L. Grebin auf die Frage, ob der normale Grenzverletzer in der Sprache der Grenztruppen ein Verbrecher gewesen sei, dass dieses so nicht stimme. Er sei nicht als Verbrecher eingestuft worden, wobei man diesen Umstand den Soldaten „auch konkret gesagt“ habe. Man habe den Soldaten „auch klipp und klar gesagt, ob der Grenzverletzer ein Verbrecher ist, das hat ein Gericht hinterher festzustellen. Nicht wir!“303. Dass es sich bei dieser Äußerung jedoch um eine wirklichkeitsnahe und verallgemeinerungsfähige Wiedergabe der alltäglichen Praxis und nicht lediglich um ein Lippenbekenntnis handelt, muss gerade angesichts der genannten Feststellungen auf jeden Fall bezweifelt werden. Diese Annahme gilt umso mehr, als sich bereits eine Relativierung dieser Darstellung in weiteren Äußerungen derselben Person findet und zwar in der Aussage, man habe den Soldaten allerdings „auch eindeutig gesagt, sie müssten im Interesse ihres eigenen Lebens davon ausgehen, dass es sich um einen Gefährlichen handelt. Sicher ist auch durch den einen oder anderen der Begriff des Verbrechers gebraucht worden. Aber von der Sache her haben wir den Soldaten immer gesagt, gehen sie während der Festnahme (. . .) von der gefährlichsten Variante aus, richten sie ihre Handlungen danach ein. Wenn sich hinterher rausstellt, dass der Festgenommene harmlos gewesen ist, dann war es gut gewesen, und für sie ist auch von Interesse, dass sie überlebt haben“304.

299

Fünfstück, Militärwesen 11/1980, 3 (7). LG Berlin, NStZ 1992, 492 (492). 301 Seidel, S. 28 f. 302 s. etwa Hoffmann, Stunden Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989, 1992, S. 234; Rosenau, S. 69; vgl. zu diesem Aspekt auch Lapp, Frontdienst, S. 85 ff. sowie Rühmland, NVA. Nationale Volksarmee der DDR in Stichworten, 1983, S. 74, der als Ausdrucksformen der Hasserziehung „unter anderem die ständige, nicht objektive, sondern (parteiliche) negative Darstellung des Gegners“ nennt. 303 Zit. nach Filmer/Schwan, S. 318. 304 Zit. nach Filmer/Schwan, S. 318; vgl. zu dieser Aussage ebenso Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 59. 300

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(2) Die Erzeugung von Verteidigungsreflexen Die letztgenannte Aussage lenkt den Blick auf einen weiteren Aspekt der staatlichen Einflussnahme auf die Grenzsoldaten, indem sie zum Ausdruck bringt, dass man die Schaffung von sozialer Distanz zudem durch die Erzeugung eines Verteidigungsreflexes zu verstärken beabsichtigte, indem die Flüchtlinge als Bedrohung für das eigene Leben der Grenzsoldaten dargestellt worden sind305. Diesem Umstand entspricht die Feststellung des BGH, dass gegenüber den Grenzsoldaten davon gesprochen worden sei, dass „westliche Provokateure, zum Teil im Zusammenwirken mit aus der DDR stammenden Grenzverletzern, bewaffnete Angriffe auf Grenzposten und Grenzanlagen unternähmen“306. In dieselbe Richtung weisen „verallgemeinernde Tatsachenbehauptungen wie die Angabe, in Fällen der Gruppenflucht sei mit Gefahren für Leib und Leben der Grenzsoldaten zu rechnen“, die nach gerichtlicher Feststellung gegenüber den Soldaten bestanden307. Entsprechende Angriffe, die in der Realität Ausnahmen darstellten, wurden in der Ausbildung der Grenzsoldaten als permanente Bedrohung dargestellt, wie die Aussage des Chefs der Politischen Verwaltung der Grenztruppen, Generalleutnant Lorenz, aus dem Jahre 1984 zum Ausdruck bringt: „Es vergeht kaum ein Tag, an dem es an unserer Grenze, vom Territorium der BRD oder Westberlins ausgehend, nicht zu feindlichen Handlungen kommt. In Tausenden Fällen wird jährlich – oft unter den Augen des Bundesgrenzschutzes – das Hoheitsgebiet der DDR verletzt. Unsere Grenzsoldaten werden bedroht und beschimpft. Enorm angestiegen ist die Zahl der Fälle, in denen durch Bewerfen mit explosiven Körpern und brennbaren Stoffen (. . .) Leben und Gesundheit der Grenzsoldaten (. . .) gefährdet wurden“308.

Es darf somit zusammenfassend als unzweifelhafte Tatsache angesehen werden, dass durch die zuständigen Stellen der DDR stets ein „Feindbild von dem Flüchtling als dem Verräter, Staatsfeind und Kriminellen“ aufrechterhalten wurde309. Die fluchtwilligen Menschen wurden von vornherein „einer in ihrem Achtungsanspruch herabgesetzten Personengruppe der verbrecherischen Elemente“ subsumiert und „über den Begriff des Grenzdurchbruchs zu einem auszuschaltenden Moment einer gestörten militärischen Sicherheitslage“ entpersonalisiert310. Den Grenzsoldaten hingegen wurde vermittelt, dass sie als Bestandteil der „Armee des Friedens“ mit „revolutionärer Wachsamkeit“ Dienst am 305 Vgl. zu dem Aspekt des Hemmungsabbaus durch die Erzeugung von Verteidigungsreflexen Jäger, Verbrechen, S. 311 f. 306 BGHSt 39, 168 (169); vgl. Marxen/Werle, S. 10. 307 BGH, NJW 1993, 1932 (1936). 308 Lorenz, Militärwesen 11/1984, 3 (3 f.). 309 KG, Beschluss vom 19. Juli 1991, NJW 1991, 2656; vgl. Lapp, Frontdienst, S. 85. 310 Herzog, NJ 1993, 1 (2).

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„antifaschistischen Schutzwall“ verrichten würden, der lediglich existiere, „um die Bundeswehr daran zu hindern, mit klingendem Spiel durchs Brandenburger Tor in die DDR einzumarschieren“ 311. Im Folgenden stellt sich die Frage nach der Bedeutung der getroffenen Feststellungen im Rahmen einer Unrechtserkenntnis der Grenzsoldaten. Es ist zu betonen, dass natürlich nicht zwangsläufig und ohne weitere Fundierung davon ausgegangen werden darf, dass ein Täter die Tötung eines Opfers nicht als Unrecht erkannte, weil dieses zu ihm in soziale Distanz gebracht und in dem zuvor genannten Sinne entfremdet wurde. Aus diesem Grund sollen die möglichen Auswirkungen der Bildung und Aufrechterhaltung des entsprechenden Feindbildes bezüglich der Flüchtlinge anhand von Aussagen ehemaliger Grenzsoldaten nachvollzogen werden. Sehr eindrucksvoll bestätigt wird der Umstand, dass die Bemühungen der DDR-Staatsführung ihr Ziel nicht verfehlten und sie nicht ohne Wirkung auf die Soldaten blieben, durch die bereits angeführten Aussagen der Angeklagten im ersten „Mauerschützen“-Prozess vor dem Landgericht Berlin312, es machten sich nur „Asis, Kriminelle, Verbrecher und Verräter, die gegen die Gesetze verstoßen haben, (. . .) illegal davon, nicht aber normale Menschen313 und man habe „schon gewusst, dass die Grenzverletzer meist irgendwelche Konflikte hatten“, doch man sei von sich ausgegangen und könne „wegen persönlicher Konflikte doch nicht solche kriminellen Sachen machen“314. Insbesondere anhand der Aussage, es machten sich keine normalen Menschen illegal davon, wird die zwischen den Grenzsoldaten und den Flüchtlingen geschaffene soziale Distanz deutlich und es tritt hervor, dass in dem Verhalten der Flüchtlinge tatsächlich eine kriminelle Handlung gesehen wurde. Es wird daher zweifelsohne erforderlich sein, die auf die Grenzsoldaten in dargestellter Form ausgeübte Einflussnahme in die Würdigung des Unrechtsbewusstseins wesentlich einzubeziehen. dd) Das „Entrechtungsbewusstsein“ der Grenzsoldaten Eine zentrale Bedeutung ist im Folgenden der Überlegung beizumessen, welche Rückschlüsse hinsichtlich einer Unrechtserkenntnis der Grenzsoldaten sich aus dem dargelegten Zustand der völligen Entrechtung der fluchtwilligen Menschen in der DDR, in dessen Rahmen ihnen lebensgefährdend hinterhergeschos311 So die Aussage des ehemaligen Polit-Offiziers Janott, S. 312. 312 Drittes Kap. IV. 2. a) aa) (2). 313 s. Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/1991, S. 72 Zitat eines der Angeklagten wiedergibt; vgl. Herzog wortlichkeit, S. 59. 314 Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/1991, S. 72 (S.

der Grenztruppen N. Janott, s.

(S. 74), die ein entsprechendes (Hrsg.), Strafrechtliche Verant74).

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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sen wurde, ziehen lassen. Es ist dabei zu bedenken, dass die entscheidende Vorschrift des DDR-Rechts über den Schusswaffengebrauch, § 27 Abs. 2 GrenzG/ DDR, die noch Gegenstand der Erörterungen sein wird315, die Entfaltung ihrer vermeintlich rechtfertigenden Wirkung von dem Vorliegen eines Verbrechens abhängig machte, in dem man im Falle eines Fluchtversuchs in der Regel die Republikflucht in einem schweren Fall nach § 213 Abs. 3 StGB/DDR sah. Entsprechend konnte die Kriminalisierung der fluchtwilligen Menschen, die einen wesentlichen Bestandteil des Entrechtungsprozesses ausmachte, erst die Voraussetzung für eine aus Sicht der Grenzsoldaten möglicherweise gegebene – insoweit akzessorische – Rechtfertigungswirkung des § 27 GrenzG/DDR bilden. Es ist daher in Betracht zu ziehen, ob nicht bereits der auf eine völlige Entrechtung der fluchtwilligen Menschen zielende, den Gebrauch der Schusswaffe an sich erst rechtfertigende Zustand in der DDR, jeglichem Recht und Rechtsbewusstsein so wesentlich entgegengesetzt war, dass der Unrechtscharakter der tödlichen Schüsse auf die Flüchtlinge für die Grenzsoldaten – zumindest in instinktiv erfassbarer Art und Weise – zugänglich war. Das Vorliegen eines entsprechenden psychischen Befundes aufgrund der dargestellten Gegebenheiten lässt sich im Anschluss an Herbert Jäger als „Entrechtungsbewusstsein“ der Grenzsoldaten bezeichnen316. (1) Einbeziehung spezifischer äußerlicher Kennzeichen der Tatbegehung Die Existenz eines derartigen Bewusstseins könnte durchaus anhand der Einbeziehung spezifischer äußerer Kennzeichen der Tatbegehung gestützt werden, die den Zustand der völligen Entrechtung der Flüchtlinge in drastischer Weise untermauern. Im Folgenden bedürfen die entsprechenden, äußerlich in Erscheinung getretenen Umstände der Tatbegehung in Form von Geheimhaltungsversuchen und Vertuschungsmaßnahmen daher einer genaueren Betrachtung. (a) Die Geheimhaltung der Vorgänge an der Grenze Ein sehr wesentliches Merkmal, das das Geschehen an der Grenze charakterisierte, war, dass die Grenztruppen im Rahmen der Vereitelung jedes Fluchtversuchs größten Wert darauf legten, den Vorgang vor den westlichen Truppen sowie der westlichen als auch der eigenen Bevölkerung zu verbergen. Diese Tat315

Drittes Kap. V. 2. d) bb). Jäger, Verbrechen, S. 181 ff., der in diesem Zusammenhang den Schlussfolgerungen der Überlegung nachgeht, dass gerade die Totalentrechtung der Opfer in der NS-Zeit eindrucksvoll zeigte, dass „die Normen, die im SS-Apparat befolgt wurden, reine Machtnormen waren, organisatorische Normen zur Steuerung des Terrors, denen der Charakter von Rechtssätzen fehlte“ und dass der rechtszerstörerische Charakter dieses Umstands „im Grunde für jeden instinktiv erfassbar war“. 316

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

sache lässt sich aus zahllosen Tagesberichten entnehmen, die vom 13. August 1961 an von den verschiedenen Grenzsicherungsorganen über jegliches Ereignis an der Grenze und Mauer angefertigt wurden und die man sowohl den Führungsstellen der Polizei, der Nationalen Volksarmee, der Grenztruppen und der Staatssicherheit als auch der gesamten politischen Führung der DDR zukommen ließ317. In diesen Berichten wurde nach Abgabe von Schüssen auf Grenzflüchtlinge nahezu immer ausführlichst auf mögliche Beobachtungen des Geschehens seitens des Westens eingegangen und in diesem Zusammenhang sowohl das Verhalten der westlichen Truppen als auch der westlichen Bevölkerung beschrieben318. Die äußerste Priorität dieser Geheimhaltung319 für die DDR-Grenzsoldaten zeigte sich in eindrucksvoller Weise an der, zugleich die völlige Entrechtung der flüchtenden Menschen in der DDR untermauernden Existenz von Fällen angeschossener Flüchtlinge, in denen es von den Grenztruppen für wichtiger erachtet wurde, ihr Verhalten zu verbergen, als den Verletzten schnelle Hilfe zukommen zu lassen. Ein entsprechendes Handeln der Grenzsoldaten findet sich zum einen in dem Fall des M. Schmidt, der Gegenstand des ersten „Mauerschützen“-Urteils des BGH aus dem Jahre 1992 war320. Der BGH betont in diesem Urteil, dass dem angeschossenen Opfer trotz mehrfacher Bitte desselben durch die Grenzsoldaten nicht geholfen worden sei; das Opfer sei zu einem Turm „geschleift“ und dort an einer vom Westen nicht einsehbaren Stelle „abgelegt“ worden321. Weiterhin 317 s. die zahlreichen veröffentlichten Protokolle sowie die diesbezüglichen näheren Informationen in Filmer/Schwan, S. 75 ff. 318 s. z. B. das Protokoll über den Tod des R. Hoff in Filmer/Schwan, S. 83 f., in dem dessen Erschießung durch Grenztruppen bei dem Versuch, den Teltow-Kanal zu durchschwimmen, beschrieben wird; es wird auf die Bemühungen einer Bergung der Leiche seitens des Westens eingegangen, an der 12 Feuerwehrleute, 8 Stupo, 2 USSoldaten, 1 Zöllner und ca. 60 Zivilpersonen (diese teils als Helfer, teils als Zuschauer) beteiligt gewesen seien; nach einiger Zeit hätten diese Kräfte ihre Suche zunächst eingestellt, im Folgenden jedoch erneut wieder aufgenommen, da „durch geschicktes Verhalten beim Herausnehmen der Leiche aus dem Teltow-Kanal dieses durch die gegnerischen Kräfte nicht bemerkt wurde“; zudem wird beschrieben, dass es während des gesamten Vorgangs nicht zu Menschenansammlungen auf eigener Seite gekommen sei; s. auch das Protokoll über den Tod des H. Frank in Filmer/Schwan, S. 97 ff., in dem nach dessen Erschießung unter der Überschrift „Handlungen des Gegners“ beschrieben wird, dass westliche Kräfte am Tatort das Grenzgebiet mit Scheinwerfern abgeleuchtet hätten, „vermutlich um die Person zu suchen, unsere Handlungen zu erkennen und Fotoaufnahmen vom Tatort zu tätigen“. 319 Vgl. diesbezüglich auch Schroeder, JR 1993, 45 (48), der diese Geheimhaltung mit allen Mitteln als einen der eigenartigsten Züge des DDR-Regimes bezeichnet, da sie den einzigen zumindest einigermaßen einsehbaren Zweck der Flüchtlingserschießungen, nämlich die Abschreckung weiterer Fluchtwilliger, gerade verhinderten. 320 BGHSt 39, 1 ff. 321 BGHSt 39, 1 (12).

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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sei der Verletzte aufgrund von Geheimhaltungs- und Zuständigkeitsregeln erst zwei Stunden nach den Schüssen in ein Krankenhaus eingeliefert worden, so dass ihm nicht die dringend erforderliche schnelle ärztliche Hilfeleistung habe zuteil werden können, die zur Lebensrettung des Opfers geführt hätte322. Der BGH betont weiterhin, dass diese Maßnahmen der Befehlslage entsprochen hätten, die vorrangig nicht an der Lebensrettung, sondern an dem Interesse orientiert gewesen sei, den Vorfall auf beiden Seiten der Grenze unerkannt zu lassen323. Ein weiterer dementsprechender Fall ist der des C. Gueffroy, der am 05. Februar 1989 durch Schüsse von Grenzsoldaten verletzt wurde und anschließend, nach Löschen der Scheinwerfer, in einen Graben geworfen, mit einer Plane abgedeckt und dort längere Zeit liegengelassen worden sein soll, um auf westlicher Seite keine Aufmerksamkeit zu erregen324. (b) Das Verhalten der DDR-Behörden im Anschluss an die Tötungen Ebenfalls von Bedeutung ist das Verhalten der DDR-Behörden im Anschluss an die Tötung von Flüchtlingen. Zwar handelt es sich bei diesem Verhalten nicht spezifisch um ein solches der Grenzsoldaten, sondern es geht in erster Linie um Handlungen der Kriminalpolizei, der Staatssicherheit sowie der Staatsanwaltschaft. Jedoch erscheinen auch diese Tätigkeiten von erheblicher Bedeutung, sofern es um ein Aufzeigen derjenigen Gesichtspunkte geht, die allgemein charakteristisch für den Umgang der DDR mit den tödlichen Schüssen an der Grenze waren und die somit möglicherweise zu einer Unrechtseinsicht seitens der Grenzsoldaten hätten beitragen können. (aa) Die Verschleierung des Geschehens gegenüber den Angehörigen Es wurde seitens der staatlichen Behörden nach Tötungen an der Grenze der Versuch unternommen, das Geschehen sogar vor den nächsten Familienangehörigen der Opfer zu verschleiern. Es sind Fälle bekannt, in denen nach einer Tö-

322 s. BGHSt 39, 1 (2 u. 12), wo der BGH als Grund für die Verzögerung der Einlieferung u. a. nennt, dass der Verletzte nicht mit dem gewöhnlichen Krankenwagen der „Schnellen medizinischen Hilfe“, sondern mit einem Sanitätswagen des Regiments, der zunächst 45 Minuten für die Anfahrt benötigt hatte, abtransportiert worden sei, und zwar nicht zum nächstgelegenen Krankenhaus, sondern zu dem entfernteren Krankenhaus der Volkspolizei; zudem sei in dem Sanitätswagen kein Arzt gewesen, weil bei der Anforderung des Wagens nicht mitgeteilt werden durfte, dass jemand schwer verletzt worden ist. 323 s. BGHSt 39, 1 (12). 324 So die Aussage der Mutter des Toten K. Gueffroy, zit. nach Filmer/Schwan, S. 62; vgl. zudem Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 60.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

tung zunächst über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht an die Angehörigen herangetreten wurde, bevor lange Verhöre und Bespitzelungen derselben erfolgten sowie in einigen Fällen die Leugnung des gesamten Geschehens. Die Verschleierungstechnik der DDR-Behörden führte sogar bis hin zu dem Umstand, dass die Angehörigen völlig über den Verbleib ihres Familienmitgliedes im unklaren gelassen wurden und erst nach der Wende von dessen Tod und der Art und Weise seines Sterbens erfuhren. Etwa existiert z. B. die Aussage der I. Agotz, sie sei nach der Erschießung ihres Bruders Silvio Proksch bei einem Fluchtversuch am 25. Dezember 1983 erst am 20. Januar 1984 von der Kriminalpolizei aufgesucht und lange über ihren Bruder verhört worden; anschließend sei ihr gesagt worden, es gäbe keinen Toten namens Proksch und auch keine Grenzverletzung in der fraglichen Zeit; sie solle keine Gerüchte in die Welt setzen, sonst würde sie sich der Staatsverleumdung schuldig machen; endgültig über das Geschehen an der Grenze aufgeklärt worden sei sie erst am 24. August 1990 durch den Militärstaatsanwalt von Berlin325. Auch I. Bittner, deren Sohn Michael am 24. November 1986 an der Mauer erschossen wurde, erfuhr erst im April 1990 offiziell von dem tatsächlichen Geschehen und berichtet von Verschleierungsmaßnahmen der DDR-Behörden. Die Stasi habe auf ihre Vermisstenanzeige geantwortet, dass ihr Sohn in West-Berlin sei und dass zwischen der DDR und der BRD ein Abkommen bestehen würde, nach Vermissten nicht weiter zu suchen; zudem seien sie und ihr Mann lange verhört worden und es sei ihnen auf Nachfrage mitgeteilt worden, dass es keinen Toten an der Mauer gegeben habe, überhaupt sei dies alles nur Westpropaganda326. H. Schmidt, dessen Sohn M. Schmidt an der Grenze erschossen wurde, gab an, man habe ihn und seine Familie vier Tage lang über das Geschehen im Dunkeln gelassen, anschließend sei er verhört sowie unter Androhung von Nachteilen aufgefordert worden, keine Gerüchte über das Geschehen in die Welt zu setzen oder den Westmedien Einzelheiten zukommen zu lassen327. Insgesamt offenbaren die Aussagen von Angehörigen der Opfer, dass es sich bei der Verschleierung der Grenztötungen durch die DDR-Behörden keineswegs um Ausnahmefälle, sondern um die gängige Praxis in der DDR handelte328.

325 326 327 328

S. 61.

s. Filmer/Schwan, S. s. Filmer/Schwan, S. s. Filmer/Schwan, S. Vgl. Marxen/Werle,

22 50 35 S.

ff. (S. 54 f.). ff., s. auch BGHSt 39, 1 (12). 11; Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit,

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(bb) Weitere Verschleierungsmaßnahmen Der Versuch einer Vertuschung der Grenztötungen bezog sich allerdings nicht nur auf den Umgang mit den Angehörigen der Opfer, sondern nahm weitaus umfassendere Formen an. So war das Bestreben der DDR-Behörden dadurch gekennzeichnet, die Spuren einer Tötung an der Grenze insgesamt in jeglicher Hinsicht zu verwischen. So war es gängige Praxis, nach einem entsprechenden Vorfall eine generelle Nachrichtensperre über das Geschehen zu verhängen, den Soldaten ein Schweigegebot aufzuerlegen und ihre Namen in den Unterlagen der Grenztruppen zu löschen, um möglichst alle Spuren zu verwischen329. Ebenso versuchte man auf Seiten des Opfers, dessen Schicksal zu vertuschen. So ist bekannt, dass im Fall des getöteten Flüchtlings, dessen Schicksal Gegenstand des ersten „Mauerschützen“-Urteils des BGH war, „der Name des Opfers im Eingangsbuch des Krankenhauses sowie auf dem Totenschein nicht genannt wurde“330. Weiterhin war es dazu gekommen, dass Unterlagen über die ärztliche Versorgung getöteter Flüchtlinge unkenntlich gemacht wurden und eine Manipulation des Totenscheins in derartiger Form stattfand, dass die Todesursache „Herzdurchschuß“ durch die Angabe „Herzmuskelzerreißung“ ersetzt wurde331. Zudem waren die Opfer für die DDR offiziell nicht mehr existent, ihre Daten wurden zum einen weder in die Friedhofsakte aufgenommen, zum anderen hat sogar eine nachträgliche Löschung ihrer Daten, so z. B. in der Schule, stattgefunden332. (cc) Versetzung der Soldaten nach den Taten Weiterhin war für das Geschehen an der Grenze charakteristisch, dass Grenzsoldaten, die Flüchtlinge durch Schüsse töteten, somit also nach Ansicht der DDR-Führung „erfolgreich“ von ihrer Schusswaffe Gebrauch machten, von ihrem Posten abgelöst und von ihren Einheiten ins Hinterland versetzt wurden333. Dies geschah teilweise unter Verschleierung der Personalien der Grenzsoldaten, der Einziehung ihrer Waffen sowie der Mitteilung, dass sie zu ihrer eigenen

329 s. z. B. LG Berlin, NJ 1992, 269 (272), das ausdrücklich darauf verweist, dass dieses Vorgehen üblich und auch den Grenzsoldaten bekannt gewesen sei; vgl. BGHSt 39, 168 (173 u. 190); vgl. KG, NJW 1991, 2656. 330 BGHSt 39, 1 (12 f.); vgl. Marxen/Werle, S. 11. 331 BGHSt 39, 168 (173). 332 s. die Aussage der K. Gueffroy, zit. nach Filmer/Schwan, S. 64; s. weiterhin Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 61. 333 s. BGH, NJW 1994, 2708 (2708); vgl. auch Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 60; s. zudem die Aussage des Grenzsoldaten E. Cäzor in Filmer/ Schwan, S. 230, er sei nach Erschießung seines Postenführers W. Graner in Notwehr nach acht Tagen Urlaub zurück zum Regiment gekommen und sofort nach Berlin in die Werkstatt versetzt worden, wo er geblieben sei.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Sicherheit wegen einer möglichen Registrierung in der Erfassungsstelle Salzgitter334 über die Vorfälle schweigen sollten335. Der Versuch einer Bewertung der genannten, nach außen in Erscheinung getretenen Begleitumstände der tödlichen Schüsse an der Mauer, scheint auf den ersten Blick zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen. Es erscheint zunächst als offensichtlich, dass die Behörden der DDR ihr begangenes Unrecht zu verschleiern suchten und dass ihre Vorgehensweisen, die in aller Deutlichkeit den Zustand der völligen Entrechtung der fluchtwilligen Menschen untermauerten, einen – auch aus Sicht der Grenzsoldaten möglichen – eindeutigen Schluss auf das Unrecht des Geschehens zuließen. Entsprechend einer solchen Feststellung dienten die aufgezeigten Kennzeichen der Tatbegehung sowohl Stimmen in der Rechtsprechung als auch in der Literatur zur Begründung der Auffassung, dass die Grenzsoldaten das Unrecht ihres Handelns und somit den gegebenen Verstoß gegen die materiale Wertordnung des Rechts sehr wohl erkannt hätten. Das Landgericht Berlin etwa führt in einem Beschluss aus dem Jahre 1991 aus, dass die „weitgehende Geheimhaltung der tödlichen Zwischenfälle, die Verwischung der Spuren (. . .)“ zeigten, dass die Erkenntnis des Unrechts Allgemeingut bei den Grenzsoldaten darstellte336. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass sich alle Mittäter und Ausführungsorgane in der DDR, ebenso wie jene in der NS-Zeit, der Illegalität ihres Verhaltens bewusst gewesen seien, da „die Geheimhaltungsvorschriften und Vertuschungsversuche der DDR-Instanzen (. . .) insofern eindeutig“ gewesen seien337. Auch wird betont, dass „aufgrund der äußeren Umstände wohl davon ausgegangen werden (könne), dass den meisten DDR-Grenzsoldaten die Unrechtmäßigkeit der ihnen in Bezug auf die Unterbindung von Fluchtversuchen insbesondere zum Schusswaffengebrauch erteilten Weisungen und Befehle durchaus bekannt war“338. Zuletzt soll auf die Ausführung verwiesen werden, dass es nicht so sei, „dass nationale Rechtsordnungen völlig isoliert und abgekapselt sind, sondern doch so, dass die maßgeblichen Organe der DDR sich bewusst waren, wie stark sie von elementaren Überzeugungen in der restlichen Welt außerhalb des kommunistischen Blocks abgewichen sind“339. 334 Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen zur Registrierung von DDR-Gewaltakten in Salzgitter, s. hierzu Dreier, JZ 1997, 421 (430) m. w. N. 335 s. KG, Beschluss v. 06. März 1991 – Fall Honecker, NJW 1991, 2653 (2655). 336 KG, NJW 1991, 2656; vgl. zudem LG Berlin, NJ 1992, 269 (272). 337 Quaritsch, VVDStRL 1992 (51), 127 ff. (S. 129). 338 Bath, DA 1990, 1733 (1740). 339 Klein, VVDStRL 1992 (51), S. 120 f. (S. 121), wobei allerdings nicht deutlich wird, ob mit den genannten Organen der DDR auch tatsächlich die Grenzsoldaten als ausführender Teil gemeint sein sollen, oder lediglich die Machthaber des Landes; zudem sei nicht zuletzt erneut an die Feststellung von Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 68 erinnert, der unter anderem wegen entsprechender äußerli-

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Tatsächlich musste sich im Falle der Verschleierung des Geschehens gegenüber den Angehörigen der Opfer die Frage nach dem Grund für dieses Vorgehen aufdrängen, wurde doch das Opfer nach dem Verständnis der DDR im Rahmen des Begehens einer strafbaren Handlung, der Republikflucht, in rechtmäßiger Anwendung der Schusswaffe getötet. Ingesamt allerdings ist die Annahme einer Unrechtserkenntnis der Soldaten aufgrund der genannten Umstände keineswegs so zwingend, wie sie anfangs erscheint. Die Geheimhaltungsmaßnahmen des Grenzgeschehens etwa lassen sich auch aus Sicht der Soldaten mit anderen Erwägungen begründen. So kommt ein Verweis auf die ihnen durchaus bekannte breite politische Ablehnung der Schüsse im westlichen Ausland und innerhalb der eigenen Bevölkerung in Betracht, die es nicht weiter zu steigern galt340. Hinter dieser Erwägung könnten auch Selbstschutzgründe gestanden haben, um Unmutsäußerungen der anderen Bürger gegen die eigene Person zu entgehen341. Auch ist denkbar, dass man dem westlichen Klassenfeind nicht die Möglichkeit bieten wollte, das Geschehen und somit den eigenen politischen Kurs zu propagandistischen Zwecken auszunutzen342. Demnach erscheint es unzulässig und keineswegs folgerichtig, eine Erkenntnis des Unrechts durch die Soldaten allein aufgrund der Verheimlichungsmaßnahmen seitens der zuständigen Stellen in der DDR anzunehmen, denn diese sagen nicht zwingend aus, dass die Schützen ihr Handeln tatsächlich als strafbares Unrecht ansahen343. Zudem ist in diesem Zusammenhang auf eine andere, insgesamt kaum in Erwägung gezogene Überlegung hinzuweisen. Die Verheimlichungsmaßnahmen der DDR-Organe werden stets als Beleg für ein Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten angeführt. Es gilt allerdings zu bedenken, dass auch die Soldaten selbst von den Vertuschungsmaßnahmen betroffen gewesen sein dürften und entsprechend auch persönlich natürlich längst nicht von jedem cher Umstände der Tatbegehung „bei den Grenzsoldaten bezüglich der Schüsse ein klares Unrechtsbewusstsein“ konstatiert. 340 s. zu diesem Aspekt Miehe, S. 666. 341 Nach Aussage eines angeklagten „Mauerschützen“ seien sie auf der Straße angepöbelt worden, vgl. Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/1991, S. 72 (S. 76). 342 Vgl. Roos, S. 277 f.; soweit allerdings an dieser Stelle darauf hingewiesen wird, dass dem Handeln der DDR möglicherweise Gründe schlichter Diplomatie unter anderem zur Aufrechterhaltung einer guten wirtschaftlichen Zusammenarbeit zugrundegelegen haben könnten, ist festzustellen, dass es hierbei um Erwägungen gehandelt haben dürfte, die sicherlich seitens der Machthaber, vermutlich allerdings nicht seitens der Grenzsoldaten angestellt wurden; gleiches wird für die bei Miehe, S. 666 genannten Aspekte gelten, dass zum einen die Bevölkerung nicht erfahren sollte, dass schon wieder ein Mitbürger unter Einsatz seines Lebens versucht hatte, das Land zu verlassen und zum anderen, dass man einer unzureichenden Umsetzung des IPBPR vorbeugen wollte, denn eine solche räumte die Staatsführung der DDR, wie aufgezeigt, auch den Grenzsoldaten gegenüber gerade nicht ein. 343 s. ebenso Roos, S. 278, der in der Wertung der in der DDR bestehenden Verheimlichungspraxis als Eingeständnis eines Unrechtsbewusstseins eine Unterstellung, nicht dagegen eine zwingende Schlussfolgerung erblickt.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

tödlichen Zwischenfall, der sich an anderer Stelle der Grenze ereignete, Kenntnis erlangt haben werden. In dieser Hinsicht aufschlussreich und als Beleg für die Richtigkeit dieser Einschätzung heranziehbar erscheint etwa eines der „Mauerschützen“-Urteile des BGH, in dem die Feststellung getroffen wird, dass „der Angeklagte, der für sein Handeln ausgezeichnet worden war, (. . .) vom Tode des Opfers erst anlässlich seiner Beschuldigtenvernehmung nach der deutschen Vereinigung“ erfuhr344. Der Aspekt der auch gegenüber den Grenzsoldaten selbst greifenden Verheimlichungsmaßnahmen ist insofern bedeutend, als auch ihnen gegenüber eben jederzeit versucht wurde, die erstrebten Grenzdurchbrüche als das – nur in Ausnahmefällen vorkommende – Handeln einer kriminellen und daher zu bekämpfenden Minderheit darzustellen und die Folgen des Schusswaffeneinsatzes insgesamt herunterzuspielen. Es gilt demnach festzuhalten, dass auch der einfache Soldat an der DDR-Grenze lediglich als einzelnes Element in einer auf Irrtümer und Schein ausgerichteten Welt angesehen werden muss, in der die Gefahr für den Einzelnen, sich in rechtlicher Hinsicht zu verirren, nicht übersehen werden darf345. (2) Die Bedeutung des Rechts auf Freizügigkeit Im Rahmen der Frage nach der Rechtswidrigkeit und somit nach dem Unrecht der tödlichen Schüsse auf flüchtende Menschen in der DDR geriet immer wieder die Bedeutung der Ausreisefreiheit in den Blickpunkt346. Auch im Zusammenhang mit der vorliegenden Überlegung bezüglich einer Unrechtskenntnis der Soldaten aufgrund eines „Entrechtungsbewusstseins“ ist fraglich, welche Bedeutung allein dem Umstand beizumessen ist, dass in der DDR Menschen kriminalisiert und zu Verbrechern stilisiert wurden, die lediglich ohne Gefährdung anderer Menschen das Land verlassen wollten und denen somit das Recht auf Freizügigkeit genommen wurde. Es ist danach zu fragen, ob den Schützen nicht allein anhand dieses Umstandes das Unrecht ihres Handelns vor Augen stehen musste. In diesem Zusammenhang ist von Relevanz, welche Bedeutung der Ausreisefreiheit zunächst in allgemeiner Art und Weise zukommt. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat das Recht auf Auswanderung und Freizügigkeit in einer Entscheidung des Jahres 1979 als „allgemeines Menschenrecht“ bezeichnet347. Allerdings wird in der Literatur hervorgehoben, dass weder ein allgemeines, weltweit anerkanntes, unbeschränktes Natur- oder Menschenrecht auf Ausreise 344

BGHSt 40, 113 (114). Vgl. Roos, S. 279. 346 Vgl. LG Stuttgart, NJW 1964, 63 (65); Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (186); Küpper/Wilms, ZRP 1992, 91 (93); Herzog, NJ 1993, 1 (1). 347 OLG Düsseldorf, NJW 1979, 59 (63). 345

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bestehe348, noch eine zumindest völkerrechtliche Verfestigung des Anspruchs auf Ausreisefreiheit bis in die jüngste Zeit hinein nachweisbar sei349. Auch Felix Herzog hebt hervor, dass „das Recht auf Freizügigkeit unter den Ausformungen der Freiheit immer schon eines der verfügbarsten Rechte gewesen ist, das im Laufe der Geschichte unzählige, unterschiedlich begründete Einschränkungen an vielen Orten der Welt erfahren hat“350. Diesem Umstand entsprechend ist darauf zu verweisen, dass auch in der DDR eine eigenständige Auffassung hinsichtlich der Handhabung des Rechts auf Freizügigkeit bestand, die den Soldaten natürlich stets vermittelt wurde. (a) Das Recht auf Freizügigkeit in der DDR unter Berücksichtigung des sozialistischen Menschenrechtsverständnisses Es wurde bereits erläutert, dass die staatstragende Ideologie der DDR von einem gegenüber westlichen Vorstellungen grundlegend anderen Menschenbild und im Einklang damit von einer völlig unterschiedlichen Rechtsstellung des Individuums in der Gemeinschaft ausging351. Das Individualinteresse der maßgeblichen, als unselbständiges Funktionselement des von der Partei gesteuerten Staatswesens fungierenden, „sozialistischen Persönlichkeit“, war dem Gemeininteresse, somit dem Aufbau des Sozialismus und der Bereitschaft seiner Verteidigung, in jeglicher Hinsicht unterzuordnen. Entsprechend gehörte nach dem in der DDR herrschenden sozialistischen Menschenrechtsverständnis die „uneingeschränkte Freiheit (. . .), sein Land zu verlassen, wann immer es beliebt, seine Bürgerschaft abzulegen, wenn danach der Sinn steht“, nicht zu den „für den Bürger entscheidenden Momenten“352. Das Recht der DDR unterschied dieser Auffassung gemäß zwischen dem Recht auf Freizügigkeit und dem Recht auf Auswanderung353. Das in Art. 32 Verf./DDR gewährleistete Recht auf Freizügigkeit hatte zum Inhalt, „dass jeder Bürger im Rahmen der Gesetze seinen Wohnsitz oder zeitweiligen Aufenthalt frei wählen und sich innerhalb des Staatsgebietes frei bewegen kann“354 und wurde somit lediglich als innerstaatliche Freizügigkeit auf348

Roggemann, DtZ 1993, 10 (17); Grünwald, StV 1991, 31 (37). Vgl. Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (186); Roggemann, DtZ 1993, 10 (18). 350 Herzog, NJ 1993, 1 (2); s. weiterhin zur gesellschaftlich-historischen Dimension des Rechts auf Freizügigkeit Scheuner, Die Auswanderungsfreiheit in der Verfassungsgeschichte und im Verfassungsrecht Deutschlands, in: Festschrift für R. Thoma, 1950, S. 199 ff. 351 s. Drittes Kap. V. 1. a) bb). 352 Autorenkollektiv, Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, 1980, S. 20. 353 Autorenkollektiv, Staatsrecht, S. 199. 354 Autorenkollektiv, Staatsrecht, S. 198. 349

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

gefasst355. Das Recht auf Auswanderung hingegen, welches sich auf die Möglichkeit einer Person bezog, den Staat, dessen Bürgerschaft sie besitzt, dauerhaft zu verlassen, war in der Verfassung von 1968 überhaupt nicht verankert356. Die DDR begründete diesen Schritt mit dem Umstand, dass „es in der DDR keine soziale Basis für ein Grundrecht auf Auswanderung“ gebe, da die sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse „den Menschen erstmalig beständige soziale Sicherheit und Geborgenheit, freie und ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung gewährleisten“ und es der sozialistischen Staatsmacht somit „die politische und moralische Verantwortung für jeden Bürger gebietet (. . .), die Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus auch bei Entscheidungen über Auswanderungsfragen und -anträge zu berücksichtigen“357. Die Auswanderung sei „ein typisches Produkt der Krisenwirtschaft kapitalistischer Staaten, die den Werktätigen häufig nicht einmal das Existenzminimum sichern können“, so dass die Befürwortung der Auswanderung in einen imperialistischen Staat in jedem Fall bedeute, „Menschen in ein System auszuliefern, das sie ausbeutet und zwingt, einer aggressiven Politik zu dienen, die ihre Existenz gefährdet und sich gegen den Sozialismus richtet“358. Das Ausmaß der aus diesen Gründen durchgesetzten Einschränkung der Bevölkerung wird, wie bereits erläutert, nur unter Einbeziehung der restriktiven Handhabung der Genehmigungspraxis der DDR-Behörden deutlich, die eine legale Ausreise faktisch ausschloss und verstößt, wie ebenfalls bereits aufgezeigt, nach zutreffender Ansicht des BGH gegen den auch für die DDR zu beachtenden, die Ausreisefreiheit gewährleistenden Art. 12 IPBPR359. Von diesem Umstand zu unterscheiden ist allerdings die Frage nach den für die Soldaten bestehenden Schwierigkeiten und Hindernissen im Umgang mit dem entsprechenden Verstoß und im Rahmen der Erkenntnisgewinnung des diesbezüglichen Unrechts. Entsprechende Schwierigkeiten werden zweifelsohne in dem Umstand zu suchen sein, dass die in Art. 12 IPBPR garantierte Freizügigkeit eben lediglich unter einem weit gefassten, in Art. 12 Abs. 3 IPBPR enthaltenen Beschränkungsvorbehalt gewährleistet wurde und die DDR natürlich beständig die Auffassung vertrat, dass ihr Grenzregime sich im Rahmen dieser Regelung bewegte und somit nicht gegen geltendes Völkerrecht verstieß360. Es fand dementspre-

355 Vgl. Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 58; Brunner, Freizügigkeit, S. 132. 356 Vgl. Mampel, Art. 32 Rn. 14 ff. mit dem Hinweis, dass die Verfassung von 1949 dagegen in Art. 10 Abs. 3 jeden Bürger zur Auswanderung berechtigte. 357 Autorenkollektiv, Staatsrecht, S. 199; vgl. Brunner, Freizügigkeit, S. 132 f. 358 Autorenkollektiv, Politische und persönliche Grundrechte, S. 165; s. zudem Autorenkollektiv, Staatsrecht, S. 199; vgl. Limbach, DtZ 1993, 66 (69). 359 s. diesbezüglich Erstes Kap. II. 2. a) aa) (1) (a). 360 s. die Nachweise in BGHSt 39,1 (17 f.); vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 17; vgl. Miehe, S. 657; Rittstieg, DuR 1991, 404 (416).

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chend seitens der DDR eine sich von westlichen Staaten in erheblichem Maße unterscheidende Interpretation des Beschränkungsvorbehaltes statt.361. So gaben die Lehrbücher der DDR zu verstehen, dass „die Regelung der Freizügigkeit für den Bereich des eigenen Staatsgebietes (. . .) dem Völkerrecht“ entspreche362 und die DDR bei ihren „Entscheidungen über Auswanderungsanträge von Bürgern das geltende Völkerrecht, insbesondere die UNO-Konvention über die zivilen und politischen Rechte“, beachte363. Auch gegenüber der UNO – die DDR wurde vor dem UN-Menschenrechtsausschuss bezüglich der Ausreisefreiheit gehört – vertrat die DDR stets die Auffassung, dass sich die vorgenommenen Einschränkungen ausschließlich im Rahmen der in Art. 12 Abs. 3 IPBPR enthaltenen Beschränkungsklausel bewegten364. In einem Bericht der DDR an die UNO aus dem Jahre 1983 heißt es dementsprechend: „Restrictions which the German Democratic Republik may impose are made exclusively to protect national security, public order, public health or morals or the rights and freedoms of others, as set forth in Article 12, paragraph 3 of the Covenant“365. Die DDR sah sich zu dieser von ihr vorgenommenen Interpretation berechtigt, da es dem Volk der DDR unter anderem aufgrund des in Art. 1 Abs. 1 IPBPR verankerten Selbstbestimmungsrechtes der Völker gestattet sei, ohne Einmischung von außen auch über sein Rechts- und Menschenrechtssystem zu entscheiden366. In der Literatur der DDR fand sich zudem bereits 1971 die Ausführung, dass der IPBPR aufgrund der Misswirtschaft und der Ausbeutungssituation in den kapitalistischen Staaten eine sehr reale Regelung treffe, indem er sich zwar für die Auswanderung ausspreche, es aber unter Verweis auf die Verantwortung der einzelnen Staaten etwa für den Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung ausdrücklich den einzelnen Staaten überlasse, ihre Voraussetzungen genau zu regeln367. Es ist somit festzuhalten, dass für die DDR „die Ausreisefreiheit mit Sicherheit nicht zu den allgemein akzeptierten Grundwerten“ gehörte368 und dass die aufgezeigte, dem sozialistischen Menschenrechtsverständnis entsprechende Interpretation des Rechts auf Freizügigkeit und des Art. 12 IPBPR zumindest „eine politische und soziale Realität“ in der DDR war, die den Grenzsoldaten gegenüber unaufhörlich nicht nur als völkerrechtlich vertretbare, sondern vor 361

Vgl. Rittstieg, DuR 1991, 404 (416). Autorenkollektiv, Staatsrecht, S. 199. 363 Autorenkollektiv, Politische und persönliche Grundrechte, S. 164. 364 Vgl. Hofmann, S. 117 ff. 365 UN Doc. CCPR/C/28/Add. 2 vom 14. November 1983, Rn. 74, S. 14, zit. nach Alexy, Mauerschützen, S. 17. 366 Vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 18 f. 367 Poppe, Menschenrechte – eine Klassenfrage, 1971, S. 93; vgl. Buchholz/Wieland, NJ 1977, 22 (26 f.). 368 Rittstieg, DuR 1993, 18 (20). 362

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allem auch als nach humanen und gesellschaftlichen Kriterien beste und erstrebenswerteste Interpretation vor Augen geführt wurde369. Sie musste daher zwangsläufig die Beschaffenheit der Weltsicht der Grenzsoldaten entscheidend prägen370. Die von Joachim Hruschka aufgeworfene Frage, „woher der Deutschen Demokratischen Republik eigentlich das Recht erwachsen sein soll, ein subjektives Recht auf Ausreise zu ,gewähren‘ oder seine ,Gewährung‘ zu versagen“371, kann im Rahmen des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten lediglich insofern von Bedeutung sein, als danach zu fragen ist, ob die Soldaten tatsächlich erkannten, dass der DDR ein solches Recht eben nicht zustand, zumindest nicht in der vorgenommenen Art und Weise der Ausübung, und dass die restriktiv gehandhabte Ausreiseregelung ihres Landes daher Unrecht gegenüber den Bürgern darstellte. Zu diesem Gesichtspunkt ist festzustellen, dass es nicht als wahrscheinlich erscheint, dass die Grenzsoldaten die Regelung der Freizügigkeit in ihrem Land tatsächlich an der westlichen Menschenrechtskonzeption haben messen können, vermutlich waren sie sich, gerade auch wegen der ständigen Einflussnahme durch die zuständigen Stellen der DDR, nicht einmal des bestehenden gravierenden Widerspruchs zwischen sozialistischer und westlicher Auffassung bewusst. Entsprechend wird in der Literatur hervorgehoben, dass ein Studieren der Internationalen Menschenrechtsdokumente seitens der sehr jungen Grenzsoldaten sehr unwahrscheinlich gewesen sein dürfte372. Es ist vielmehr von dem Umstand auszugehen, dass die Soldaten, aufgrund ihres Lebensweges und der fortwährenden staatlichen Einflussnahme von frühester Kindheit an, einer eingeschränkten Sichtweise dieser politischen Dinge unterlagen und dass sie dementsprechend, dies hebt auch der BGH hervor, „keine Möglichkeit hatten, der Indoktrination eine kritische Einschätzung entgegenzustellen. Diesem Umstand entspricht die Aussage eines angeklagten Grenzsoldaten, er habe gedacht, es gebe noch mehrere, der innerdeutschen vergleichbare Grenzen373. Zudem dürfte den Grenzsoldaten eine kritische Sicht der in ihrem Land herrschenden Freizügigkeitsregelung durch den Umstand erschwert worden sein, dass trotz jeglicher Beschränkungen und Willkür eine Ausreise in die Bundesrepublik, wie ihnen nicht entgangen sein wird, nicht völlig ausgeschlossen war, und die Grenzschließung demnach nicht offenkundig allein dem Zweck diente, den Bürgern ihr Recht auf Ausreise vorzuenthalten374. So bestanden durchaus Fallgruppen, in denen es Personen mittels einer Ausreisegenehmigung ermög369 370 371 372 373 374

Alexy, Mauerschützen, S. 19. Vgl. Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 58. Hruschka, JZ 1992, 665 (667 f.). Dreier, JZ 1997, 421 (430). s. Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 59. s. zu diesem Aspekt Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (187).

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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licht wurde, die DDR auf legalem Wege zu verlassen, wobei die Nennung einer genauen Zahl nicht möglich ist, da die diesbezüglichen Angaben sehr schwankend sind. Es ist jedoch davon auszugehen, dass in den Jahren zwischen 1971 und 1988 über 236 000 Personen die DDR auf legalem Wege im Rahmen einer Übersiedlung in die BRD verließen375. Die Erteilung von lediglich vorübergehenden Ausreisegenehmigungen, die praktisch lediglich Menschen oberhalb des Rentenalters betrafen, soll dagegen lange Zeit jährlich etwa eine Anzahl um 1 500 000 betragen haben376. Auch soll in diesem Zusammenhang auf den Umstand hingewiesen werden, dass in der Bevölkerung der DDR nicht nur die Schüsse an der Mauer, sondern zunehmend auch das Verhalten der Flüchtlinge kritisch gesehen wurde. Entsprechend weist Olaf Miehe darauf hin, dass die Lücken, „welche der Weggang vieler in die Familien, Freundschaften und Nachbarschaften, vor allem in die Arbeitskollektive der Betriebe riß“, zu schmerzhaft gewesen seien, so dass viele DDR-Bürger, die sich durch den Weggang der Flüchtlinge im Stich gelassen fühlten, die Zwecksetzung, welche hinter der Grenzschließung stand, zumindest teilweise mitvollzogen hätten377. (b) Einbeziehung der Maßstäbe der Bundesrepublik Im Rahmen der Diskussion über das Geschehen an der Grenze und der damit zusammenhängenden Bedeutung des Rechts auf Freizügigkeit mahnt Gerald Grünwald, „bei der Beurteilung von Vorgängen und Verhältnissen in der DDR jeweils zu prüfen, zu welcher Bewertung die Anwendung derselben Maßstäbe auf Vorgänge und Verhältnisse in der Bundesrepublik führt“378. Diesem Gedanken entsprechend sollen im Folgenden die in der BRD bezüglich der Ausreisefreiheit und eines Schusswaffeneinsatzes an der Grenze angesetzten Maßstäbe einbezogen werden.

375 Vgl. Brunner, Freizügigkeit, S. 143 f.; s. auch Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (187); Rosenau, S. 132 geht dagegen von einer jährlichen Anzahl von etwa 40 000 Ausreisegenehmigungen aus, insgesamt also von einer deutlich über 263 000 liegenden Anzahl. 376 Vgl. Hofmann, S. 251 sowie Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 10/1983, S. 99 u. Nr. 24/1984, S. 220. 377 Miehe, S. 666 f. 378 Grünwald, StV 1991, 31 (37), mit der Begründung, dass nicht das Recht der DDR legitimiert werden solle, sondern dass es die Selbstgerechtigkeit, mit der in der Bundesrepublik das Recht der DDR beurteilt und verurteilt werde, infrage zu stellen gelte.

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(aa) Die Regelung der Ausreisefreiheit in der BRD Die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Einwohner verfügen dem Anschein nach über eine praktisch kaum begrenzte Ausreisefreiheit. Die Einbeziehung der einschlägigen Rechtsvorschriften allerdings offenbart, dass es sich bei diesem Privileg keineswegs zwangsläufig um eine Errungenschaft der geltenden Gesetzeslage handelt. So eröffnet das auch derzeit Gültigkeit besitzende bundesdeutsche Passgesetz (PassG) von 1986379 die staatliche Möglichkeit, einem Bewohner der Bundesrepublik aus verschiedenen Gründen, neben der Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit genügt etwa bereits die Gefährdung „erheblicher Belange“ der Bundesrepublik Deutschland, die Freiheit der Ausreise zu versagen. In diesem Zusammenhang erscheint die maßgebliche verfassungsrechtliche Entscheidung zur Ausreisefreiheit, das Elfes-Urteil vom 16. Januar 1957380, von Interesse. Das BVerfG sieht es in diesem Urteil als verfassungsrechtlich unbedenklich an, dass einem Bürger, der auf einer politischen Veranstaltung im Ausland die Politik der Bundesrepublik kritisieren wollte, unter Berufung auf die Gefährdung „sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland“ nach dem PassG die Ausreise verwehrt wurde. Dabei betont das Gericht, dass die Ausreise aus dem Staatsgebiet „in vielen Ländern – auch in freiheitlichen Demokratien – seit langem mittels der Passversagung aus Gründen der Staatssicherheit beschränkt werden“ könne und dass das Grundrecht der Freizügigkeit nach Art. 11 GG nicht die Ausreisefreiheit umfasse381. Die Nichtstatuierung eines Grundrechts auf Ausreise im Bonner Grundgesetz beruhte dabei im übrigen auf einer bewussten Entscheidung des Parlamentarischen Rates, der im Hinblick auf die Nachkriegssituation in der Bundesrepublik eine erhebliche Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung und aufgrund dieses Umstandes eine weitere Einschränkung der wirtschaftlichen Entwicklung im Bundesgebiet befürchtete382. Es spricht für sich, dass es kein geringerer Politiker war als Carlo 379

Die entscheidenden Normen des PassG (BGBl. 1986 I, S. 537 ff.) lauten: „§ 7 Abs. 1: Der Pass ist zu versagen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, dass der Passbewerber 1. die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (. . .). § 10 Abs. 1: Die für die polizeiliche Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs zuständigen Behörden haben einem Deutschen, dem nach § 7 Abs. 1 ein Pass versagt (. . .) worden ist, (. . .) die Ausreise in das Ausland zu untersagen. Sie können einem Deutschen die Ausreise in das Ausland untersagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass bei ihm die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 vorliegen (. . .)“. 380 BVerfGE 6, 32. 381 BVerfGE 6, 32 (34 ff.) allerdings mit dem Hinweis, dass die Ausreisefreiheit als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG innerhalb der Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet sei. 382 s. BVerfGE 6, 32 (34 f.); vgl. Rittstieg, DuR 1991, 404 (415); Grünwald, StV 1991, 31 (37); Pieroth, JuS 1985, 81 (84).

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Schmid, der diese Vorgehensweise vor dem Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates im Jahre 1948 wie folgt begründete: „Noch mehr als früher leben wir in einer Schicksalsgemeinschaft. (. . .) Ich glaube, hier muss das Freiheitsrecht des Menschen, sich den Ort zu wählen, wo es ihm am besten geht, den Verpflichtungen gegenüber der Schicksalsgemeinschaft weichen. Wir alle haben eine Schuldverpflichtung zu übernehmen, die auf uns allen liegt. Es widerstrebt meinem moralischen Empfinden, wenn Leute sich um diese Pflicht herumzudrücken versuchen“383.

In diesem Zusammenhang ist selbstverständlich hervorzuheben, dass die reine Existenz oder die Möglichkeit einer entsprechenden Ausreisebeschränkung natürlich deutlich von der Durchsetzung eines entsprechenden Verbotes mittels tötungsgeeigneten Schusswaffengebrauchs zu unterscheiden ist384. Es soll jedoch aufgezeigt werden, dass zumindest der Gedanke an eine Beschränkung der Ausreisemöglichkeit, gestützt auf zuvor genannte Erwägungen wie etwa einer Verpflichtung gegenüber den anderen Bürgern, wie sie auch die DDR stets geltend machte, selbst aus dem Blickwinkel demokratischer Staaten nicht in dem Maße abwegig ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Daher musste sich den Grenzsoldaten unter Einbeziehung des Umstandes, dass die Staatsführung der DDR im Rahmen der Grenzschließung natürlich nicht ihren wahren Grund, den schlichten Machterhalt, offenbarte, sondern stets auf das Bestehen scheinbar gut begründbarer und ehrenswerter Motive verwies, nicht zwangsläufig das Unrecht der Kriminalisierung der Republikflucht und der mit ihr zusammenhängenden Schüsse offenbaren. (bb) Die bundesdeutschen Schusswaffengebrauchsbestimmungen für Grenzbeamte Weiterhin erscheint eine Einbeziehung des Gesichtspunktes, dass auch an der Grenze der Bundesrepublik unter bestimmten Umständen von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden darf und auch gemacht wird, notwendig. Selbstverständlich gilt es dabei zu betonen, dass in der BRD natürlich nicht geschossen wird, um einer Abwanderung der Bevölkerung entgegenzutreten. Jedoch erscheint es dennoch zulässig, zu hinterfragen, unter welchen Bedingungen die Befugnisnormen für den Einsatz der Waffe eröffnet sind und um welche Art von Gefahren es sich handeln muss, damit ihnen auf diesem Wege begegnet werden darf. Denn lediglich eine Einbeziehung dieser Gesichtspunkte scheint es zu ermöglichen, das Tätigwerden der jeweiligen Grenzsicherungsorgane in Ver383 Sten. Bericht, 5. Sitzung v. 29. September 1948, zit. nach: Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle. Bd. 5/I. Ausschuss für Grundsatzfragen, 1993, S. 102; vgl. Merkel, S. 320 f. sowie Grünwald, JZ 1966, 633 (637 [Fn. 33]). 384 Auf diesen Aspekt weist auch Grünwald, StV 1991, 31 (37) hin.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

hältnis zu setzen, und somit die Fragestellung nach der Erkenntnis des Verstoßes gegen die Wertordnung des Rechts seitens der DDR-Soldaten angemessen würdigen zu können. Die Zulässigkeit des Schusswaffeneinsatzes durch Vollzugsbeamte des Bundes ist im Wesentlichen in den §§ 10, 11 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG)385 geregelt. Während § 10 UZwG die Regelfälle erfasst, in denen ein hoheitlicher Schusswaffengebrauch gegenüber Personen erfolgen darf und dabei an enge tatbestandliche Voraussetzungen anknüpft, etwa ein Tätigwerden zur Verhinderung bestimmter rechtswidriger Taten (§ 10 Abs. 1 Nr. 1), ermöglicht § 11 UZwG eine über die Einschränkungen der erstgenannten Norm hinausgehende erleichterte Anwendung der Schusswaffe speziell für Angehörige des Grenzdienstes. So darf nach § 11 Abs. 1 S. 1 UZwG im Grenzdienst auch auf Personen geschossen werden, die sich lediglich „der wiederholten Weisung, zu halten oder die Überprüfung ihrer Person (. . .) zu dulden, (. . .) durch die Flucht zu entziehen versuchen“. Eine Begrenzung der auf diesem Wege gewährleisteten polizeilichen Eingriffsbefugnisse erfolgt allein durch den – jegliches hoheitliches Handeln in einem Rechtsstaat einschränkenden und in diesem Zusammenhang in § 4 und § 12 UZwG enthaltenen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit386. Der scheinbar weitreichenden Norm des § 11 UZwG liegt die Überlegung zugrunde, dass der Durchsetzung staatlichen Gefahrabwehrwillens zum Schutze des Staatsgebietes, des Staatsvolkes und der staatlichen Rechtsordnung an den Grenzen eine besondere Bedeutung beizumessen ist387. In den Beratungen der Entwürfe des UZwG wurde die Regelung des § 11 UZwG (im Entwurf § 8) insbesondere damit begründet, dass der „unbefugten gewaltsamen Grenzüberschreitung“ von Personen sowie der Möglichkeit, „sich durch Flucht über die Grenze der Nachprüfung zu entziehen“, notfalls mit Gewalt entgegengetreten werden müsse388. Der BGH musste sich im Jahre 1988 in dem sog. „Motorradfahrerfall“389 konkret mit der Frage auseinander setzen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Abgabe von möglicherweise tödlich wirkenden Schüssen auf Personen an der Grenze zulässig ist. Ein noch in der Ausbildung befindlicher achtzehn385 BGBl. 1961 I, S. 165 ff., zuletzt geändert durch Gesetz v. 20. Dezember 1984 (BGBl. 1984 I, S. 1654 ff. [S. 1656]). 386 s. Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (184); § 4 Abs. 1 UZwG stellt die Anwendung unmittelbaren Zwanges, § 12 Abs. 1 UZwG noch einmal ausdrücklich die Anwendung der Schusswaffe unter das Gebot des mildesten Mittels, für das § 4 Abs. 2 UZwG zusätzlich das Erfordernis einer Güterabwägung formuliert. 387 s. Fischer/Hitz/Laskowski/Walter, Bundesgrenzschutzgesetz – BGSG, Zwangsanwendung nach Bundesrecht – VwVG/UZwG, 1996, § 11 UZwG Rn. 2. 388 s. insb. Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 38 (S. 9) u. 2272 (S. 4). 389 BGHSt 35, 379 ff.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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jähriger Zollanwärter hatte im Grenzdienst gezielt auf ein mit zwei Personen besetztes, mindestens 100 Meter entferntes und in der Dunkelheit schnell davonfahrendes Motorrad geschossen. Der Schuss traf den Soziusfahrer in den Rücken und verletzte ihn, wobei es aufgrund der Entfernung und der schlechten Sichtverhältnisse als glückliche Fügung angesehen werden darf, dass die Kugel nicht zum Tode führte. Zuvor war der Fahrer des Motorrads durch ein auffälliges Manöver einer Kontrolle ausgewichen und hatte auf zwei Warnschüsse nicht reagiert. Im Ergebnis sieht der BGH den derartigen Einsatz der Schusswaffe als gerechtfertigt an, obwohl er im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung restriktiv klingende Leitsätze bezüglich des Schusswaffengebrauchs gegenüber Personen formuliert. So stellt der BGH fest, dass ein Beamter vor dem Einsatz seiner Waffe „die in der jeweiligen Situation auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit und der körperlichen Unversehrtheit des Fliehenden unter sorgfältiger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abwägen“ müsse390. In dem vorliegenden Fall wird diesbezüglich ausgeführt: „Zeit, Ort und das auffällige, das eigene Leben aufs Spiel setzende Verhalten der (. . .) jungen Männer rechtfertigte schon objektiv den Verdacht, dass es sich bei ihnen um gefährliche Straftäter, etwa Schmuggler harter Drogen, handelte, jedenfalls aber, dass sie einen besonders schwerwiegenden gesetzwidrigen Grund zur Flucht hatten. Der Angeklagte stand vor der Wahl, die Motorradfahrer unerkannt entkommen zu lassen und dadurch auch anderen Tätern einen Anreiz zu gleichartigem Verhalten zu geben oder aber zu versuchen, durch einen weiteren Schuss das Anhalten zu erzwingen, um die aus den Gesamtumständen gefolgerte erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwenden“391.

Die soeben aufgezeigte Fallkonstellation wird seitens der Rechtsprechung sowie eines Teils der Literatur vehement von dem Handeln der Soldaten an der innerdeutschen Grenze unterschieden und entsprechend jeglicher Vergleich des Schusswaffengebrauchsrechts der BRD mit dem der DDR für unzulässig erachtet392. Zwar räumt der BGH selbst ein, dass „die derzeitige Auslegung der Schusswaffenvorschriften des geltenden Rechts im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht in jeder Weise befriedigend“ sei, dass dieser Umstand jedoch kein Verständnis für den Gebrauch der Schusswaffe durch die Grenztruppen der DDR rechtfertige. Denn dieser sei gekennzeichnet „durch eine Konstellation 390

BGHSt 35, 379 (387). BGHSt 35, 379 (389); es wird anhand dieser Ausführungen deutlich, dass die in den „Mauerschützen“-Urteilen zutage getretene Ansicht des BGH, dass in der BRD ein Schusswaffengebrauch gegen Menschen angesichts seiner unkontrollierbaren Gefährlichkeit auch nach der erweiternden Norm des § 11 UZwG lediglich auf Fallgruppen beschränkt werden solle, in denen von der Person, auf die geschossen wird, eine Gefährdung von Leib oder Leben anderer zu befürchten ist (s. BGHSt 39, 1 [21 f.]), nicht zur Verwirklichung gelangt ist. 392 LG Berlin, JZ 1992, 691 (694); BGHSt 39, 1 (21 f. u. 30); BGHSt 39, 168 (185); Fiedler, JZ 1993, 206 (207) sowie ders., Osteuropa-Recht 1993, 259 (265 f.). 391

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

(. . .), die in der Bundesrepublik Deutschland angesichts ihrer offenen Grenzen keine Parallele“ habe393. In Übereinstimmung mit dieser Auffassung des BGH spricht Wilfried Fiedler von der „feinsinnigen, aber wirklichkeitsfernen Nivellierung“, die den „Motorradfahrerfall“ als Beleg für eine Vergleichbarkeit des Schusswaffengebrauchs in der BRD mit dem in der DDR heranziehen möchte394. Demgegenüber wird in der Literatur allerdings ebenso vertreten, dass sich der genannte Sachverhalt zwar bei Betrachtung des politischen Gesamtsystems natürlich von den „Mauerschützen“-Fällen unterscheidet, dass dieses jedoch nicht nach den einzelnen Tatumständen und der einfachgesetzlichen Rechtslage so eindeutig der Fall sei, wie dies gern behauptet werde395. Die Entscheidung habe dem BGH die Aufgabe, das Verhalten der DDR-Grenzsoldaten angemessen zu würdigen, ohne sich dem Einwand auszusetzen, mit zweierlei Maß zu messen, sicherlich nicht erleichtert396. Auch Olaf Miehe ist der Ansicht, dass sich „durch genaue Analyse der bundesdeutschen Schusswaffengebrauchsbestimmungen für Grenzbeamte (. . .) das Verdikt gegen die Art und Weise der Durchsetzung der Ausreisebeschränkungen an Mauer und Grenze deutlich“ abschwäche397. Selbst sofern die Auffassung des BGH, dass die geöffnete Grenze der Bundesrepublik und somit eine Betrachtung des politischen Gesamtsystems einem Vergleich des Schusswaffengebrauchs in beiden Ländern entgegenstehen würde, nicht von der Hand zu weisen sein mag, so ist das genannte Urteil dennoch im Rahmen der vorliegenden Erörterungen bezüglich eines Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten von besonderem Interesse. Denn der BGH zieht trotz seiner Entscheidung, das Handeln des Schützen bereits als gerechtfertigt und somit als nicht rechtswidrig anzusehen, weiterhin in einem obiter dictum die Möglichkeit in Erwägung, wegen des Alters und des Ausbildungsstandes des Angeklagten einen unvermeidbaren Verbotsirrtum und demnach ein fehlendes Unrechtsbewusstsein des Zollanwärters für denkbar zu erachten, sofern der Rechtfertigungsgrund nicht eingegriffen hätte. Es wird dabei auf die Feststellungen des Landgerichts verwiesen, dass der Schütze „nach Ausbildungsstand und Reifegrad der sich ihm plötzlich bietenden nächtlichen Situation nicht gewachsen“ gewesen sei und ausgeführt, dass „unter diesen Umständen (. . .) ein unvermeidbarer Verbotsirrtum nahe (läge), wenn der Angeklagte (. . .) infolge seiner noch nicht abgeschlossenen Ausbildung und fehlender klarer dienstlicher Anweisun393

BGHSt 39, 1 (22). Fiedler, JZ 1993, 206 (207); vgl. auch ders., Osteuropa-Recht 1993, 259 (265 f.). 395 So Dreier, JZ 1997, 421 (430). 396 Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (185). 397 Miehe, S. 663. 394

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gen für den Schusswaffengebrauch durch Zollanwärter den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ausreichend berücksichtigt hätte“398. Die genannten Ausführungen sind offenbar so zu deuten, dass das Gericht die Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums des Schützen für unausweichlich gehalten hätte, sofern der Rechtfertigungsgrund nicht einschlägig gewesen wäre399. Der BGH bringt dementsprechend ein besonderes Verständnis für einen jungen Menschen auf, der aufgrund von widrigen äußeren Gegebenheiten offenbar vorschnell an der bundesdeutschen Grenze von seiner Schusswaffe Gebrauch gemacht hat. Sein Verständnis scheint dabei so weitreichend zu sein, dass er es für möglich oder sogar für wahrscheinlich hält, dass der Schütze zum Tatzeitpunkt kein Unrechtsbewusstsein besaß und ein solches auch nicht hätte besitzen können. Es sei an dieser Stelle erneut hervorgehoben, dass die letztgenannten Feststellungen einen Schützen betreffen, der innerhalb der bundesrepublikanischen Staats- und Rechtsordnung aufwuchs und lebte. Er wird die in der BRD vorherrschenden westlichen Wert- und Verhaltensmaßstäbe verinnerlicht und in sein Bewusstsein aufgenommen haben, insbesondere wird ihm gewiss vor Augen gestanden haben, dass nach diesen Maßstäben, wie es auch der BGH in seinem ersten „Mauerschützen“-Urteil hervorhebt, das Leben das höchste Rechtsgut ist. Sofern unter diesen Umständen einem unvermeidbaren Verbotsirrtum des Schützen keine klare Absage erteilt wird, sondern für möglich gehalten wird, dass er gezielt auf einen Menschen schießt und dabei die Rechtsordnung hinter sich wähnt, so scheint es unvertretbar, nicht mindestens das gleiche Verständnis für die DDR-Grenzsoldaten einzufordern. Sie wuchsen in einem Land auf, in dem die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen ein Rechtsgut von Verfassungsrang darstellte und in dem ein dieser Anschauung entgegengesetztes Verhalten kriminalisiert und als Verrat am Sozialismus dargestellt wurde400. Insgesamt ist nach den dargebrachten Erkenntnissen zu bezweifeln, dass die Annahme eines Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten im Sinne eines „Entrechtungsbewusstseins“ allein aufgrund des in der DDR bestehenden Zustands einer Totalentrechtung derjenigen Menschen, die lediglich das Land verlassen wollten, plausibel darzulegen ist. Weder die nach außen tretenden Kennzeichen der Tatbegehung, die eine entsprechende Entrechtung dokumentierten, noch der Umstand, dass in der DDR mit dem ohne Genehmigung vorgenommenen Versuch, das Land zu verlassen, ein Handeln kriminalisiert und unterbunden wurde, das in anderen Ländern als Ausübung von Freiheitsrechten gilt, lassen zwingend einen entsprechenden Schluss zu401. 398

BGH, NJW 1989, 1811 (1813), insoweit in BGHSt 35, 379 ff. nicht abgedruckt. So ebenfalls Frowein, Im Zweifel für den vielleicht tödlichen Schuss?, in: Denninger u. a. (Hrsg.), Festschrift für P. Schneider, 1990, S. 112 ff. (S. 116). 400 Vgl. Drittes Kap. V. 1. a) bb) u. 2. b) bb) u. cc). 401 Dieses Ergebnis dürfte insbesondere unter dem Aspekt als folgerichtig erscheinen, dass auch Jäger in seinen Erörterungen über die nationalsozialistischen Gewalt399

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c) Die Befehlslage an der Grenze Ist mit der absoluten Entrechtung der fluchtwilligen Menschen in der DDR somit ein bedeutender Mechanismus der staatlichen Führung aufgezeigt, um ihr in die Welt gesetztes Unrecht zu legitimieren und die ausführenden Grenzsoldaten für das erwünschte Handeln bereitzumachen, bedarf es in diesem Zusammenhang des Weiteren einer Einbeziehung der an der Grenze bestehenden Befehlslage. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich das Gefühl des Menschen für Recht und Unrecht in bedeutendem Maße an dem orientiert, was seine Umwelt an Forderungen und Erwartungen vorschreibt bzw. was in bestimmten Situationen innerhalb des für ihn relevanten Bezugsfeldes eingefordert wird402. Das entsprechende Bezugsfeld muss in den Fällen der Grenzsoldaten allerdings aufgrund ihrer mit System erfolgten weitgehenden Abschottung von der Gesamtbevölkerung der DDR in besonderer Weise in ihrer jeweiligen militärischen Einheit gesehen werden. Daher erfordert die Würdigung des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten natürlich eine Einbeziehung der in den entsprechenden Einheiten zum Zeitpunkt der Schüsse maßgeblichen Befehlslage sowie der gegenüber den Soldaten in Übereinstimmung mit den entsprechenden Befehlen erfolgten Vermittlung des Schusswaffengebrauchs in der täglichen Praxis des Grenzdienstes. Sämtliche Handlungen der Grenztruppen, somit auch ihre tödlichen Schüsse an der Grenze, beruhten auf einer bestimmten Befehlskette, die sich von oben nach unten fortsetzte. Die maßgeblichen Beschlüsse wurden dabei durch den Nationalen Verteidigungsrat (NVR) als höchstes militärisches Führungsgremium der DDR gefasst403. Nach § 2 des Gesetzes über die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik (Verteidigungsgesetz) aus dem Jahre 1978404 oblag ihm in verbindlicher Weise „die zentrale Leitung der Verteidigungs- und Sicherheitsmaßnahmen“. Er war somit auch für die Festlegung der Hauptmaßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenzen der DDR zuständig405. Die Beschlüsse des NVR waren notwendige Voraussetzung für die grundsätzlich verbrechen, die ein weitaus größeres Ausmaß an Unrecht enthielten und einen weitaus offensichtlicheren Entrechtungsprozess als die „Mauerschützen“-Fälle, zu dem Schluss gelangt, dass es zu bezweifeln sei, dass sich die Erkenntniselemente des Entrechtungsprozesses „immer zu einem Bewusstseinsinhalt verdichteten, den man als Unrechtsbewusstsein (. . .) bezeichnen könnte“, s. Jäger, Verbrechen, S. 182. 402 Drittes Kap. V. 1. b) aa). 403 Der NVR wurde durch Gesetz v. 10. Februar 1960 gebildet, GBl.-DDR 1960 I, S. 89; nach Art. 73 Verf./DDR war ihm die Rolle eines Hilfsorgans des Staatsrates bei der Organisation der Landesverteidigung zugewiesen. 404 GBl.-DDR 1978 I, S. 377 ff.; zuvor waren die Aufgaben des NVR in inhaltlich vergleichbarer Weise im Verteidigungsgesetz v. 20. September 1961 definiert, GBl.DDR 1961 I, S. 175 ff.

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jährlich erfolgenden Jahresbefehle des Ministers für Nationale Verteidigung an den Chef der Grenztruppen, der diese durch an die Führung der drei Grenzkommandos gerichtete Anordnungen weitergab. Diese wiederum erließen ihrerseits auf deren Basis Befehle an die einzelnen Grenzregimenter, in denen die Vorgaben letztlich durch den Einsatz der Schusswaffe gegen Flüchtlinge umgesetzt wurden406. Für das Handeln und die Sichtweise des Grenzgeschehens durch die Soldaten musste zweifelsohne die beständige Vermittlung jener Vorgaben in ihrer Ausbildung, im Politunterricht und im täglichen Dienst, gerade auch in befehlsmäßiger Form, entscheidend und prägend sein407. Es liegt dabei auf der Hand, dass natürlich insbesondere ein Befehl in besonderem Maße geeignet ist, einem in der militärischen Hierarchie Untergebenen zu verdeutlichen, welches Verhalten von ihm in der jeweiligen Situation erwartet und unmissverständlich eingefordert wird. Der offizielle Kommentar zum Strafgesetzbuch der DDR lässt unter § 257, der die Befehlsverweigerung und Nichtausführung eines Befehls unter Strafe stellt, diesbezüglich verlautbaren: „Der Befehl (. . .) ist das hauptsächlichste Mittel der militärischen Führung. Er bildet die Grundlage für die straffe politische und militärische Leitung und Organisierung der Soldaten, Unteroffiziere, Fähnriche und Offiziere. (. . .) Er verpflichtet den Unterstellten zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen und bestimmt die erforderlichen Befugnisse“408.

Eine Betrachtung der an der Grenze maßgeblichen Befehlslage verdeutlicht, dass zwar nicht von dem Bestehen eines bedingungslosen Befehls zum Töten eines jeden Grenzverletzers in der DDR auszugehen ist409. Die Maßnahmen der Grenzsicherung bezweckten sicherlich nicht vorrangig die Tötung der fluchtwilligen Menschen, sondern waren regelmäßig darauf bedacht, die betreffenden Personen bereits vor dem Erreichen der eigentlichen Grenze abzufangen410. Im 405 s. den Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft im Prozess gegen Mitglieder des NVR, RuP 1994, 20 (22 f.). 406 s. insgesamt zu der genannten Befehlskette BGHSt 40, 218 (220 ff.); LG Berlin, NJ 1994, 210 (210); Marxen/Werle, S. 9. 407 So auch LG Berlin, NJ 1994, 210 (212); Wesel, Der Honecker-Prozess. Ein Staat vor Gericht, 1994, S. 138. 408 Autorenkollektiv, Strafrecht, § 257 Anm. 2; nach dem bundesdeutschen Wehrstrafgesetz ist ein Befehl gem. § 2 Nr. 2 inhaltlich vergleichbar „eine Anweisung zu einem bestimmten Verhalten, die ein militärischer Vorgesetzter (. . .) einem Untergebenen (. . .) mit dem Anspruch auf Gehorsam erteilt“. 409 So auch die Erklärung der Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussvortrag im NVRProzess, RuP 1994, 20 (23); s. auch die Ausführung des Landgerichts Berlin in selbigem Prozess, die Tötung des Flüchtlings sei „auch nie das eigentliche Ziel des Grenzregimes“ gewesen, NJ 1994, 210 (212); ebenso Winters, DA 1993, 1121 (1122); Rosenau, S. 74. 410 So Winters, DA 1993, 1121 (1122); vgl. auch die Anmerkung von Riedel, Die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit unter besonderer Berücksichtigung der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, 1998, S. 23 f., dass aus Sicht der DDR-Staatsführung Tötungen an der Grenze tatsächlich eigentlich gar nicht hätten

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Zusammenhang mit dem Einsatz der Schusswaffe wurde gewöhnlich davon gesprochen, dass lediglich fluchtunfähig zu schießen sei411. Das den Soldaten vorgegebene Handlungsschema gestaltete sich in Übereinstimmung mit diesem Aspekt wie folgt: Anrufen des Flüchtenden – Versuch des Postens, den Flüchtenden zu Fuß zu erreichen – Warnschuß – gezielter Einsatz der Schusswaffe, falls erforderlich mehrmals, auf die Beine412. Trotz dieser Erkenntnisse kann jedoch keinesfalls ein Zweifel daran bestehen, dass über dem gesamten Geschehen an der Grenze das Anliegen der DDRStaatsführung stand, Grenzdurchbrüche „auf jeden Fall und letztlich mit allen Mitteln zu verhindern“413. Entsprechend wurde den Soldaten durch ihre Vorgesetzten gleichzeitig generell suggeriert, „dass kein Flüchtling durchkommen dürfe“414 und dass zur Gewährleistung dieser Maxime „notfalls der Tod des Flüchtlings in Kauf zu nehmen“ war415. Es galt die Faustregel: „Besser der Flüchtling ist tot, als dass die Flucht gelingt“416. In diesem Zusammenhang bedarf es auch einer Einbeziehung der sog. „Vergatterung“, in der den Soldaten vor jedem Antritt zum Grenzdienst noch einmal der konkrete Einsatz und in vorkommen dürfen, da das Grenzsicherungssystem so tief gestaffelt gewesen und darüber hinaus im Laufe der Jahre immer weiter perfektioniert worden sei, dass normalerweise gar keine Person überhaupt hätte bis in den vordersten Grenzstreifen vordringen können und dürfen; in BGHSt 40, 218 (223) wird darauf hingewiesen, dass die Untersuchungen des Ministeriums für Staatssicherheit, die nach einem Vorfall an der Grenze mit Personenschaden durchgeführt worden seien, vorrangig die Klärung der Umstände bezweckten, unter denen es dem Flüchtling überhaupt gelungen war, so weit vorzudringen; das Landgericht Berlin attestiert den Angeklagten im NVR-Prozess in der Strafzumessung das „Bestreben, den Kreis der Opfer durch umfangreiche Sicherungsmaßnahmen im Hinterland möglichst klein zu halten“, NJ 1994, 210 (214). 411 BGHSt 39, 168 (170); vgl. Marxen/Werle, S. 9; allerdings existieren auch Aussagen wie die eines ehemaligen Grenzsoldaten, dass ein Feldwebel seiner Kompanie einmal gesagt habe, „man soll mit den Grenzverletzern nicht zimperlich umgehen und gleich ,draufhalten‘“, zit. nach Grasemann, Fluchtgeschichten aus der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter, in: Weisbrod (Hrsg.), Grenzland. Beiträge zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze, 1993, S. 28 ff. (S. 41). 412 BGHSt 39, 1 (3); vgl. auch BGHSt 39, 168 (170); nach der Aussage des ehemaligen Polit-Offiziers der Grenztruppen J.-L. Grebin war die Form des Anrufes dabei genau festgeschrieben und im Detail trainiert, um auch unter Stressbedingungen sofort abgerufen werden zu können: „Halt Grenzposten – stehen bleiben – Hände hoch“, s. Filmer/Schwan, S. 316. 413 BGHSt 39, 1 (3 u. 11); BGH39, 168 (169); BGHSt 40, 218 (222); BGHSt 41, 101 (104); Ott, NJ 1993, 337 (338); vgl. Marxen/Werle, S. 9; Gropp, JuS 1996, 13 (13). 414 LG Berlin, NJ 1992, 269 (270). 415 LG Berlin, NJ 1994, 210 (212). 416 BGHSt 39, 1 (3); eine Bestätigung findet diese Feststellung u. a. in der Aussage eines geflüchteten Grenzsoldaten vor der Erfassungsstelle in Salzgitter, „es ist uns tatsächlich mehrfach gesagt worden, ob während des Politunterrichts oder bei anderen Anlässen, dass uns ein toter Mann lieber ist, als einer, dem es gelingt, die Grenze zu überschreiten“, zit. nach Sauer/Plumeyer, S. 41.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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allgemeiner Form die gestellte Aufgabe bewusst gemacht wurde417. Der Text der Vergatterungsformel lautete: „Sie sind eingesetzt von . . . bis . . . im Abschnitt der . . . Grenzkompanie mit der Aufgabe Grenzdurchbrüche in beiden Richtungen nicht zuzulassen, Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen oder zu vernichten sowie Provokationen rechtzeitig zu erkennen und deren Ausdehnung auf das Gebiet der DDR zu verhindern“418. bzw. „Zug X ist eingesetzt in der Zeit . . . Uhr bis . . . Uhr zum Schutze der Staatsgrenze der DDR im Abschnitt . . . der Kompanie mit dem Auftrag, Grenzverletzter in beiden Richtungen vorläufig festzunehmen oder durch Anwendung der Schusswaffe unschädlich zu machen. Zug X! Stillgestanden! Vergatterung“419.

Auch in dem Handbuch für Grenzsoldaten aus dem Jahre 1965 ist nachzulesen, dass es sich bei der Verfolgung der Grenzverletzern um „die aktivste taktische Handlung der Grenzposten zur vorläufigen Festnahme beziehungsweise Vernichtung von Grenzverletzern“ handele420. Die auch vom BGH konstatierte, insgesamt in der DDR bestehende Nachrangigkeit des menschlichen Lebens gegenüber der Verhinderung des Grenzübertritts421 offenbart sich des Weiteren darin, dass bestimmte Einschränkungen des Schusswaffengebrauchs, etwa sollte nicht auf Frauen und Kinder sowie auf keinen Fall über die Grenze hinweg auf fremdes Hoheitsgebiet geschossen werden, seitens der Vorgesetzten zum Teil für solche Fallgruppen wieder zurückgenommen wurden, in denen eine Fluchtverhinderung auf anderem Wege nicht mehr zu gewährleisten war. So sei den Soldaten gesagt worden, dass allerdings „nachts Kinder von Erwachsenen nicht zu unterscheiden seien“ und dass auf jeden Fall geschossen werden sollte, „wenn man jedoch auf größere Entfernung 417 Vgl. BGHSt 39, 1 (3); zugleich trat durch die Vergatterung ein neues, zeitweiliges Vorgesetzten-Unterstellungsverhältnis in Kraft, in dessen Rahmen die Soldaten aus dem normalen Dienstbetrieb herausgelöst und als Wache dem Wachvorgesetzten unterstellt wurden, s. Rühmland, NVA, S. 232. 418 Zit. nach Bath, DA 1985, 959 (967), der sich auf den Bericht des ehemaligen Unteroffiziers M. Milde auf der 52. Pressekonferenz der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ beruft; diese Vergatterungsformel galt bis 1987 und wurde dann vermutlich nicht zuletzt auf Druck von westlicher Seite durch die Streichung des Wortes „vernichten“ abgeschwächt, vgl. Lapp, Zur Geschichte der ehemaligen DDR-Grenztruppen, in: Filmer/Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, 1991, S. 347 ff. (357); s. ebenfalls Polakiewicz, EuGRZ 1992, 177 (185); Riedel, Strafrechtliche Aufarbeitung, S. 22; Alexy, Mauerschützen, S. 13. 419 Zit. nach Sauer/Plumeyer, S. 68. 420 Handbuch für Grenzsoldaten, 1965, S. 43; der teilweise in der Literatur, s. etwa Rosenau, S. 74, vorgebrachte Hinweis, dass das Wort „Vernichtung“ dabei vor seinem militärischen Hintergrund gesehen werden müsse und im militärischen Jargon nicht sogleich dessen Tötung bedeute, sondern lediglich diesen kampfunfähig zu machen, ändert nichts an der Maxime der Staatsführung, eine Flucht letztlich mit allen Mitteln zu verhindern. 421 s. BGHSt 39, 1 (22); vgl. auch BGHSt 39, 168 (170 u. 183).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

nicht genau feststellen konnte, ob es sich evtl. bei dem Flüchtling um ein Kind handeln könne“. Auch sollte ein Schusswaffeneinsatz nicht aus dem Grund unterbleiben, weil sich z. B. ein erwachsener Mann in Begleitung eines Kindes befindet. Falls das Kind getroffen werden sollte, so „wäre die Schuld dem flüchtenden Mann zuzuschreiben, denn dieser wäre in dem Moment für das Kind voll verantwortlich“422. In Belehrungen sei seitens der Offiziere ebenso immer wieder unverhohlen angedeutet worden, dass es besser für den Schützen sei, auch dann noch auf den Flüchtenden zu schießen, wenn er sich schon auf westlicher Seite der Grenze befindet423. Zudem ist zu bedenken, dass die Postendichte an der Grenze oftmals ohnehin zu gering war, um einen Flüchtling tatsächlich ohne Schusswaffengebrauch durch Nacheile zu stellen424. Auch wurde bei der Schießausbildung keineswegs zielgenaues Schießen auf die Beine, um lediglich die weitere Flucht des Grenzverletzers zu verhindern, geübt, sondern es genügte, die einen Menschen andeutende Zielscheibe überhaupt zu treffen425. Die insoweit insgesamt aus oberflächlicher Unterrichtung in Verbindung mit suggestiver Vergatterungspraxis bestehende Beeinflussung der Soldaten bezüglich des Schusswaffengebrauchs wird seitens der Rechtsprechung als „perfide Doppelstrategie“ der DDR-Staatsführung gewertet426. Es ist somit insgesamt zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Staatsführung der DDR „die Verhinderung jeden Fluchtversuchs an oberste Stelle“ setzte und das Leben des einzelnen Flüchtlings „dieser Maxime“ unterordnete427. Daher 422 So die Aussagen geflüchteter Grenzsoldaten vor der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter, zit. nach Grasemann, S. 40 ff. sowie Hirtschulz/Lapp/Uxa, S. 180 f.; der Kompaniechef habe in diesem Zusammenhang erklärt, dass ein Posten „diesen Mann nur wegen des Kindes nicht in die BRD laufen lassen könne“. 423 Den Schützen soll entsprechend auch dann eine Schussprämie zugestanden haben, wenn der Grenzverletzer erst auf westlicher Seite getroffen worden sei, so die Aussage eines geflüchteten Soldaten in Grasemann, S. 41; der geflüchtete Grenzer Wolfgang K. berichtet von einem im Rahmen eines Fluchtversuchs erschossenen Soldaten eines Bautrupps, der – angeblich bereits zehn Meter im Territorium der Bundesrepublik liegend – zurückgeholt worden sei, woraufhin die Politoffiziere der Einheit erklärt hätten, dass die Sicherungsposten „richtig gehandelt und hohe Auszeichnungen erhälten hätten“, zit. nach Sauer/Plumeyer, S. 73 f.; s. zudem die weiteren Aussagen ehemaliger Grenzsoldaten in Grasemann, S. 41 ff. sowie Hirtschulz/Lapp/Uxa, S. 180 f. 424 s. Wullweber, KJ 1993, 49 (52) mit dem Hinweis, dass bei Staatsbesuchen westlicher Politiker, bei denen der Gebrauch der Schusswaffe untersagt wurde, die Postendichte erhöht worden sei. 425 Vgl. Riedel, Strafrechtliche Aufarbeitung, S. 21, der darauf hinweist, dass die Zielscheiben der Soldaten lediglich einen Rumpf – ohne Arme und Beine – angedeutet hätten und ein Treffer – mit Umklappen der Scheibe – lediglich bei einem Schuss unmittelbar auf den Rumpf möglich gewesen sei; s. auch Wullweber, KJ 1993, 49 (52). 426 LG Berlin, NJ 1992, 269 (270). 427 LG Berlin, NJ 1994, 210 (212).

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schloss die an der Grenze bestehende Befehlslage zur Vereitelung der Flucht „auch die Anwendung erkennbar lebensbedrohender Methoden, als letztes Mittel sogar die vorsätzliche Tötung des Flüchtlings“ ein, falls lebensschonende Maßnahmen zur Fluchtverhinderung nicht ausreichten428. Bei diesen Vorgaben handelte es sich um die „auch für die (Grenzsoldaten) maßgebliche, von ihnen so verstandene und akzeptierte Befehlslage“429. Zudem ist an dieser Stelle auf den Umstand zu verweisen, dass der tödliche Einsatz der Schusswaffe stets als äußerste Maßnahme aus der „Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit, begründet im zutiefst revolutionären und humanistischen Inhalt unseres Klassenauftrages“ deklariert430 und die Soldaten natürlich zu unbedingtem Gehorsam gegenüber den Anordnungen und Befehlen ihrer Vorgesetzten erzogen wurden431. Stets wurde den Soldaten die Formel vor Augen geführt, „Grenzdienst sei Gefechtsdienst in Friedenszeiten“432. Der spezielle Fahneneid für Wehrdienstleistende in den Grenztruppen, die einen Großteil der Soldaten ausmachten, lautete: „Ich schwöre: Der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen. Ich schwöre: An der Seite der Nationalen Volksarmee und der anderen Schutz- und Sicherheitsorgane der Deutschen Demokratischen Republik (. . .) als Soldat der Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik jederzeit bereit zu sein, standhaft und mutig, auch unter Einsatz des Lebens, die Grenzen meines sozialistischen Vaterlandes gegen alle Feinde zuverlässig zu schützen. Ich schwöre: Ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter und wachsamer Soldat zu sein, den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen und die militärischen und staatlichen Geheimnisse immer streng zu wahren. Ich schwöre: Die militärischen Kenntnisse gewissenhaft zu erwerben, die militärischen Vorschriften zu erfüllen und immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Grenztruppen zu wahren. 428

LG Berlin, NJ 1992, 418 (419). BGHSt 39, 1 (3). 430 Zit. aus dem Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft im NVR-Prozess, RuP 1994, 20 (23). 431 BGHSt 39, 168 (169); so auch u. a. Grasemann, S. 45; s. zu diesem Gesichtspunkt. auch den Erfahrungsbericht des ehemaligen Grenzsoldaten Ruge, FAZ v. 29. August 1991, insbesondere dessen Aussage, man habe ihnen „preußischen Gehorsam“ eingebleut. 432 Bossenz, DA 1993, 736 (739). 429

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Sollte ich jemals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die harte Strafe der Gesetze unserer Republik und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen“433.

Es ist angesichts der aufgezeigten Erkenntnisse über die an der Grenze bestehende Befehlslage und der seitens der militärischen Vorgesetzten erfolgten widersprüchlichen Vermittlung des Einsatzes der Schusswaffe in der täglichen Praxis des Grenzdienstes natürlich davon auszugehen, dass die Soldaten in der Wahrnehmung, mit ihrem Handeln gegen die Wertordnung des Rechts zu verstoßen, beeinflusst und beeinträchtigt wurden. Das Landgericht Berlin führt in seinem Urteil im NVR-Prozess diesbezüglich aus: „Durch dieses ständige und massive Einwirken auf die Soldaten entstand – der Absicht der Ausbilder entsprechend – bei ihnen die Vorstellung, dass bei der Abwägung zwischen dem Leben des Grenzverletzers und der „Unverletzlichkeit der Grenze“ letztere höher einzuschätzen sei und um ihren Preis ein Menschenleben notfalls hingenommen werden müsse“434.

Die Richtigkeit der Annahme, dass die Einsicht der Soldaten, mit den tödlichen Schüssen Unrecht zu verwirklichen, tatsächlich durch die an der Grenze bestehende Befehlslage sowie die auf den Befehlen beruhende alltägliche Praxis im Grenzdienst beeinträchtigt wurde, zeigt etwa die Äußerung des Volker K., eines 1963 in den Westen geflohenen Grenzsoldaten. Dieser gab an, ihnen sei klar gewesen, „dass jeder sich strafbar machte, der den Schießbefehl nicht befolgte. Daß dieser Befehl in einem anderen Land strafrechtlich verfolgt werden könnte, glaubten wir nicht, weil es sich ja bei den verletzten Personen vorwiegend um Angehörige der DDR handelte“435. Zwar sind auch Aussagen wie die eines geflüchteten ehemaligen Grenzsoldaten dokumentiert, es sei ihm bekannt gewesen, „dass das Schießen auf Flüchtlinge gesetzwidrig ist und von der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt wird“436. Dass eine solche Erkenntnis in den Reihen der Grenzsoldaten allerdings einen verallgemeinerungsfähigen Charakter besaß und dass die rechtliche Qualität des Schießbefehls unter den Soldaten ohnehin beständig thematisiert wurde, muss entschieden angezweifelt werden. Dies zeigt etwa die Aussage eines weiteren ehemaligen Grenzsoldaten, dass über den Schießbefehl innerhalb ihrer Kompanie nicht gesprochen worden sei. „Es war eben so, dass einer vor dem anderen Angst hatte. (. . .) Auch über die Befolgung des Schießbefehls und dessen strafrechtliche Verfolgung in der BRD ist nicht gesprochen worden“437. Sofern offenbar dennoch diesbezügliche Gespräche stattfanden, sind Äußerungen wie die eines weiteren geflüchteten Solda433

GBl.-DDR 1982 I, S. 241. Insoweit in LG Berlin, NJ 1994, 210 ff. nicht abgedruckt; zit. nach Wesel, S. 137, der diese gerichtliche Erkenntnis ebenfalls für zutreffend hält. 435 Zit. nach Sauer/Plumeyer, S. 60 f. 436 Zit. nach Grasemann, S. 39. 437 Zit. nach Sauer/Plumeyer, S. 59. 434

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ten der Grenztruppen aufzufinden, dass „der tiefere Sinn des Schießbefehls (. . .) wenig bedacht worden“ sei. Die Reaktion auf den Befehl sei völlig verschieden gewesen, „einige waren der Auffassung, dass der Schießbefehl gut sei und andere waren der Meinung, dass durch die Folgen des Schießbefehls keine Wiedervereinigung erreicht werden könnte“438. Die letztgenannte Äußerung offenbart dabei zwar, dass der Schusswaffengebrauch an der Grenze möglicherweise als politisch falsch angesehen wurde, keineswegs lässt sich aus ihr jedoch folgern, dass sich der jeweilige Soldat zu ihm nicht trotzdem aufgrund der bestehenden militärischen Vorgaben berechtigt sehen würde. Auch Helga Wullweber ist der Auffassung, dass die Situation an der Grenze, die sich unter anderem dadurch ausgezeichnet habe, dass viele Dinge 40 Jahre lang nicht hätten thematisiert und ausgesprochen werden dürfen, dazu geführt habe, dass „manch einem mit den Worten auch das Problembewusstsein verloren“ gegangen sei. Da Fehlentwicklungen nicht hätten kritisiert werden dürfen, sei „der Blick auf die Realitäten längst wahnhaft verstellt“ und sei es insgesamt nicht einfach gewesen, sich in der Gesellschaft der DDR zu orientieren439. Die „vermittelte Ideologie war so aufgebaut, dass sie keinen Raum ließ für kritische Fragen“440. Im Hinblick auf die Möglichkeit, mittels Aufrechterhaltung einer bestimmten Befehlslage den Blick des Handelnden auf die Realitäten und entsprechend auf das Unrecht seines Tuns erfolgreich zu verstellen und ihn somit für das jeweilige Verhalten bereitzumachen, sei abschließend auf folgende Erwägungen von Elias Canetti hingewiesen: „Es ist bekannt, dass Menschen, die unter Befehl handeln, der furchtbarsten Taten fähig sind. Wenn die Befehlsquelle verschüttet ist und man sie zwingt, auf ihre Taten zurückzublicken, erkennen sie sich selber nicht. (. . .) Sie suchen nach den Spuren der Tat in sich und können sie nicht finden. (. . .) Die Tat ist nicht in sie eingegangen. (. . .) Von welcher Seite man ihn betrachtet, der Befehl in seiner kompakten, fertigen Form, wie er sie nach einer langen Geschichte heute hat, ist das gefährlichste einzelne Element im Zusammenleben von Menschen geworden“441.

d) Das Schusswaffengebrauchsrecht in der DDR Neben der dargestellten absoluten Entrechtung der fluchtwilligen Menschen und der an der Grenze bestehenden Befehlslage ist für das Bestreben der politischen Führung, das von ihr über die Bevölkerung gebrachte Unrecht mit einem Schein der Legalität zu versehen, natürlich das in der DDR bestehende Schuss438 439 440 441

Zit. nach Sauer/Plumeyer, S. 63 f. Wullweber, KJ 1993, 49 (53 f.). Bossenz, DA 1993, 736 (738). Canetti, Masse und Macht, 1984, S. 380 u. 382.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

waffengebrauchsrecht von größtmöglicher Bedeutung. Die an der DDR-Grenze bereits frühzeitig erfolgte Durchsetzung der Ausreisenormen durch den Einsatz von Schusswaffen beruhte auf einschlägigen Bestimmungen, die im Folgenden als Grundlage des Handelns der Grenzsoldaten einer intensiven Erörterung bedürfen. Es ist dabei insbesondere bedeutsam, inwieweit die betreffenden Vorschriften das Verhalten der Schützen beeinflusst und dazu beigetragen haben könnten, ihnen die Einsicht in das durch ihr Handeln verwirklichte Unrecht zu nehmen. aa) Die Schusswaffengebrauchsbestimmungen vor Erlass des Grenzgesetzes vom 25. März 1982 Der Versuch, sich eine Übersicht über die Bestimmungen zu verschaffen, die den Flüchtlingserschießungen an der Grenze vor Erlass des Grenzgesetzes vom 25. März 1982 zugrunde lagen, ist nicht unproblematisch. Dieser Umstand liegt zum einen daran, dass sich erst in den letzten Jahren durch den Zugang zu verschiedenen Archiven nach und nach Klarheit über die entsprechenden Bestimmungen ergeben hat442. Zum anderen bestand ein ohnehin nur schwer zu durchschauendes Geflecht von Vorschriften für den Gebrauch der Schusswaffe im Grenzdienst, und es wurde seitens der DDR-Führung der Versuch unternommen, die Befehlslage zu verschleiern und damit Einzelheiten für Außenstehende undurchschaubar zu halten443. So waren die für den Schusswaffengebrauch im Grenzdienst einschlägigen Vorschriften auf unterschiedlichen Normierungsebenen mit verschiedenem Geheimhaltungsgrad angesiedelt und es wurden entsprechend interne Ausführungsbestimmungen sowie Dienstvorschriften für die Grenztruppen geheimgehalten444. 442 Vgl. Rosenau, S. 36, der als entsprechende Archive insbesondere die Dokumentensammelstelle Straußberg und das Militärische Zwischenarchiv Potsdam nennt. 443 Vgl. Bath, Notwehr und Notstand bei der Flucht aus der DDR, 1988, S. 56; ders., DA 1985, 959 (960); Rosenau, S. 36, der darauf hinweist, dass dieses Verhalten der Führung der DDR auch zu der Vermutung über die Existenz eines Geheimbefehls geführt habe, nach dem die Grenztruppen angewiesen gewesen seien, Grenzverletzer nötigenfalls zu erschießen. 444 Vgl. zu diesem Aspekt Bath, Notwehr, S. 57 ff. sowie ders., DA 1985, 959 (960), der im Rahmen der Schusswaffengebrauchsbestimmungen vor Erlass des Grenzgesetzes insgesamt drei Normierungsebenen unterscheidet, wobei es sich um zwei der Geheimhaltung unterliegende Ebenen, sowie um eine von vornherein offene, allerdings belanglose Ebene handelt, die erst 1972 hinzugekommen sei; bei den zwei der Geheimhaltung unterliegenden Ebenen handele es sich zum einen um den Bereich der internen Dienstanweisungen und Dienstvorschriften, sowie unterhalb dieser schriftlich fixierten Ebene um den Bereich mündlich erteilter Befehle und Instruktionen, bei der dritten, offenen Ebene handele es sich um die im Gesetzblatt der DDR veröffentlichten Normen zur Grenzmaterie; s. ebenfalls Rosenau, S. 36, der eine andere, sich von der zuvor genannten unterscheidende Struktur der Schusswaffengebrauchsbestimmungen aufzeigt.

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Es soll an dieser Stelle nicht weitergehend auf das Geflecht der einzelnen Vorschriften über den Schusswaffengebrauch eingegangen werden445. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass den Fakten nach ungenehmigte Grenzüberschreitungen durch die DDR-Grenztruppen grundsätzlich auch durch den in einschlägigen Bestimmungen festgehaltenen und geforderten Gebrauch der Schusswaffe verhindert werden sollten446. bb) Das Grenzgesetz vom 25. März 1982 Eine zentrale Bedeutung innerhalb der vorliegenden Ausführungen muss der Rechtslage nach Erlass des – bereits innerhalb der Rechtswidrigkeitserwägungen genannten und sehr bedeutsamen – GrenzG/DDR beigemessen werden447. Im GrenzG wurden erstmalig die wesentlichen Vorschriften über das Hoheitsgebiet und die Staatsgrenze der DDR, insbesondere über die Verantwortung für die Grenzsicherung sowie die Befugnisse der DDR-Grenztruppen, zusammengefasst448. Die „größte Sensation“ in diesem Zusammenhang bestand dabei in der expliziten Regelung des Gebrauchs der Schusswaffe, es wurde nunmehr seitens der DDR eine unmittelbare Ermächtigungsgrundlage für die Anwendung der Schusswaffe an der Grenze offengelegt und gesetzlich normiert449. Das GrenzG enthielt in aller Deutlichkeit mit § 27, wie bereits dargelegt, eine Bestimmung über die „Anwendung von Schusswaffen“ durch die Grenzsicherungskräfte der DDR. Der gesamte Wortlaut der Norm war folgendermaßen gefasst: „(1) Die Anwendung der Schusswaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung zwischen Personen. Die Schusswaffe darf nur in solchen Fällen angewendet werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Die Anwendung von Schusswaffen gegen Personen ist erst dann zulässig, wenn durch Waffenwirkung gegen Sachen oder Tiere der Zweck nicht erreicht wird. 445 s. die ausführlichen Darstellungen von Dienstvorschriften, Befehlen und Anordnungen bei Rosenau, S. 37 ff. sowie Bath, DA 1985, 959 (960 ff.); vgl. auch die Ausführungen bei Roggemann, Systemunrecht, S. 52 ff. u. Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 4 ff. 446 Bath, Notwehr, S. 57. 447 GBl.-DDR 1982 I, S. 197 ff.; s. a. Erstes Kap. I. 448 Vgl. Fricke, DA 1982, 567 (567), der zugleich herausstellt, dass sich in dem GrenzG die zum DDR-Grenzregime neu ergangenen Bestimmungen jedoch keineswegs erschöpften, es seien auf der Grundlage des GrenzG und zu seiner Durchführung unter dem selben Datum darüber hinaus eine Grenzverordnung (GBl.-DDR 1982 I, S. 203) und eine Grenzordnung (GBl.-DDR 1982 I, 208) erlassen worden, womit die bislang geltenden Bestimmungen zum Grenzregime dem neuen GrenzG angeglichen worden seien; s. zudem Bath, Notwehr, S. 62 f., der auf die Weitergeltung detaillierterer, interner Dienstvorschriften verweist. 449 s. Brunner, NJW 1982, 2479 (2482); vgl. Rosenau, S. 56.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

(1) Die Anwendung der Schusswaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind. (2) Die Anwendung der Schusswaffe ist grundsätzlich durch Zuruf oder Abgabe eines Warnschusses anzukündigen, sofern nicht eine unmittelbar bevorstehende Gefahr nur durch die gezielte Anwendung der Schusswaffe verhindert oder beseitigt werden kann. (3) Die Schusswaffe ist nicht anzuwenden, wenn (a) das Leben oder die Gesundheit Unbeteiligter gefährdet werden können, (b) die Personen dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter sind (c) das Hoheitsgebiet eines benachbarten Staates beschossen würde. Gegen Jugendliche und weibliche Personen sind nach Möglichkeit Schusswaffen nicht anzuwenden. (4) Bei der Anwendung der Schusswaffe ist das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten ist unter Beachtung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen Erste Hilfe zu erweisen“.

Das GrenzG stellte insgesamt die Kodifikation einer Reihe vielfach geänderter und in verschiedenen Rechtsvorschriften verstreuter Rechtssetzungsakte dar und diente entsprechend aus rechtstechnischer Sicht als umfassende Regelung des Grenzrechtes zumindest nach außen hin der Rechtsbereinigung und Schaffung größerer Rechtsklarheit450. Dabei kann bestimmten Gegebenheiten zufolge jedoch kaum angenommen werden, dass die Machthaber der DDR mit dem Erlass des Gesetzes und insbesondere der Norm des § 27 GrenzG/DDR tatsächlich ein Erreichen dieser Aspekte bezweckten. So wird zum Teil vermutet, dass es sich bei § 27 GrenzG/DDR keineswegs um eine abschließende Regelung des Schusswaffengebrauchs gehandelt habe, sondern zur Präzisierung von Einzelfragen weiterhin auf eine interne Dienstvorschrift zum Einsatz der Schusswaffe zurückgegriffen worden sein dürfte451. Auch wird angemerkt, dass die Geltung armeeinterner Dienstvorschriften, die sich auf nicht öffentlichen Normierungsebenen abgespielt hätten, ohnehin von der Regelung des Grenzgesetzes unberührt geblieben seien452. Die folgenden Ausführungen dürften die beiden zuvor genannten Zielsetzungen, insbesondere die Schaffung von Rechtsklarheit, die im 450 Vgl. Schmid, Das Grenzgesetz der DDR. Teil I. Zusammenhänge mit dem Grenzgesetz der UdSSR?, 1983, S. 6; vgl. Zieger, ROW 1983, 1 (1); s. auch Brunner, NJW 1982, 2479 (2479). 451 Vgl. Fricke, DA 1982, 567 (569). 452 Vgl. Bath, DA 1985, 959 (969 f.) sowie ders., Notwehr, S. 62 f., der sich auf eine ihm gegenüber abgegebene Auskunft des im Oktober 1984 geflüchteten Leutnants der DDR-Grenztruppen R. Molter beruft, nach der eine bestimmte Dienstvorschrift uneingeschränkt weitergegolten hätte und den Grenzsoldaten während ihrer Ausbildung sinngemäß vermittelt worden sei.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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Normalfall sämtlichen von der Norm betroffenen Personen zugute kommen müsste, ebenfalls als äußerst fraglich erscheinen lassen. Hinter dem Erlass der Regelungen des Grenzgesetzes standen jedenfalls die politischen Anliegen der DDR, zum einen die Grenze zur Bundesrepublik als echte – völkerrechtlich zu respektierende – Staatsgrenze gesetzlich zu manifestieren453 und zum anderen der formalen Kritik am Schusswaffeneinsatz an der Grenze den Boden zu entziehen, nach welcher der Schießbefehl verfassungswidrig gewesen sei, weil derartige Eingriffe in die Persönlichkeit und Freiheit eines jeden Bürgers und damit auch in deren körperliche Unversehrtheit und Leben nach Art. 30 Abs. 2 der DDR-Verfassung durch ein förmliches Gesetz hätten legitimiert sein müssen454. Neben der Verhinderung der genannten formalen Kritik muss die Norm des § 27 GrenzG/DDR allerdings insbesondere auch als Versuch der Staatsführung angesehen werden, das durch die tötungsgeeigneten Schüsse auf die Flüchtlinge verwirklichte schwerste Unrecht mit dem Schein der Legalität zu versehen und damit als Recht dazustellen, um sich sowohl der internationalen als auch der nationalen Menschenrechtskritik wegen des Grenzgeschehens zu entziehen455. Einhergehend mit dieser angestrebten Legalisierung der Schüsse dürfte das Anliegen der Machthaber ebenso darauf abgezielt haben, anhand des § 27 GrenzG/ DDR, und damit anhand einer gesetzlichen Grundlage, die Einstellung der Personen, derer sie sich zur Ausführung des unmenschlichen Vorgehens gegen die Flüchtlinge bedienten, in ihrem Sinne, somit im Sinne der Staatsraison, zu beeinflussen. Die Vorschrift ist somit auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Eignung zur Minimierung bzw. auch völligen Eliminierung des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten zu betrachten. Die Überlegung, dass eine entsprechende Beeinflussung durch die Norm stattgefunden und diese möglicherweise zu einem Wirkungsverlust bezüglich des grundsätzlich internalisierten generellen Tötungsverbotes bei den Soldaten an der Grenze beigetragen haben könnte, erscheint unter mehreren Gesichtspunkten plausibel.

453 s. zu diesem Aspekt Rosenau, S. 57 f. sowie Schmid, S. 6 f., die auf die Ausführungen des Berichterstatters vor der Volkskammer, Alfred Neumann, verweisen, der sich gegen die offizielle Auffassung der BRD von einer „innerdeutschen“ Grenze, nach der dieser Grenze gerade nicht die Qualität einer echten, völkerrechtlich zu respektierenden, Staatsgrenze beizumessen sei, verwahrt habe; s. diesbezüglich auch Fricke, DA 1982, 567 (567). 454 Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 6; Brunner, NJW 1982, 2479 (2482); Zieger, ROW 1983, 1 (10). 455 Vgl. Luchterhandt, Was bleibt?, S. 185 f.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

(1) Rechtsstaatliches Antlitz des § 27 GrenzG/DDR Zum einen ist augenscheinlich, dass der Wortlaut der Bestimmung, dies wurde bereits angeführt, zweifelsohne westlichen Polizeigesetzen entlehnt war, die Norm somit vordergründig einen rechtsstaatlichen Klang besaß und somit ohne weiteres auch den Anforderungen westlicher Staaten an einen Schusswaffengebrauch zu entsprechen schien. Die Voraussetzungen, unter denen ein Schusswaffengebrauch stattfinden durfte, waren entsprechend eng gefasst und auf den ersten Blick am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientiert456. Dieses rechtsstaatliche Antlitz des § 27 GrenzG/DDR war natürlich nicht als Zufall anzusehen und stand damit in Einklang, dass die Staatsführung der DDR stets betont hat, dass diese Bestimmung mit denen anderer westlicher Staaten vergleichbar sei und dementsprechend „nicht mehr und nicht weniger“ enthalte, „als auch andere Staaten für ihre Schutzorgane festgelegt haben“457. (2) Verdeckung der Tötungsbefugnis mittels eines Rechtfertigungsgrundes Zum anderen hat es die DDR, wie ebenfalls bereits angedeutet, nicht gewagt, die Befugnis zur Tötung von Flüchtlingen durch die Grenzsoldaten offen zu erklären458. Aus diesem Grund hat sie die Legitimation zur Tötung fliehender Menschen in § 27 GrenzG/DDR als Rechtfertigungsgrund ausgestaltet und sich mit dieser „Versteckung weitgehender Einschränkungen der strafrechtlichen Verbote und des in ihnen enthaltenen Rechtsgüterschutzes“ einer „typischen Verschleierungstechnik, mit der Unrechtsregime ihre Unrechtshandlungen vor der Öffentlichkeit, insbesondere der internationalen Öffentlichkeit, geheim halten wollen“ bedient459.

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Vgl. Erstes Kap. I. Vgl. Fricke, DA 1982, 567 (568) und Brunner, NJW 1982, 2479 (2481), die ein weiteres Zitat des Berichterstatters vor der Volkskammer, A. Neumann, wiedergeben; s. ebenso Rosenau, S. 58 f., der selbiges Zitat unter Berufung auf die stenografische Niederschrift der Tagung der Volkskammer vom 25. März 1982 nennt; vgl. auch Rühmland, NZWehrr 1982, 175 (179), der sehr treffend hervorhebt, dass andere westliche Staaten allerdings auch keine Grenzordnungen, Sperranlagen mit automatischen Tötungsanlagen und auch keine generelle Beschränkung der Freizügigkeit gekannt hätten. 458 s. Drittes Kap. V. 1. a) aa). 459 s. Schroeder, JZ 1992, 990 (991), der in diesem Zusammenhang betont, dass Unrechtsregime mit gutem Grund versuchten, weitgehende Einschränkungen der strafrechtlichen Tatbestände als bloße Rechtfertigungsgründe auszugestalten und Erlaubnisse und Befehle zum Unrecht außerhalb ihrer Kodifikationen, des veröffentlichten Rechts, zu halten; vgl. auch ders., JR 1993, 45 (45). 457

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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(3) Die Auslegung und Vermittlung des § 27 GrenzG/DDR seitens der staatlichen Stellen der DDR Die Bestimmung des § 27 GrenzG/DDR wurde den Grenzsoldaten weiterhin in ihrer Ausbildung in Verbindung mit anderen relevanten Bestimmungen erörtert bzw. ihnen gegenüber als Grundlage der tödlichen Schüsse an der Grenze zumindest genannt460. Daher ist es für die Frage, ob die Soldaten in ihrem Tun möglicherweise einen Verstoß gegen die materiale Wertordnung des Rechts gesehen haben könnten, von erheblicher Bedeutung, ob sie sich aus ihrer Sicht während ihres Handelns im Einklang mit dem Regelungsgehalt dieser Norm wähnen durften oder nicht. Die Beurteilung dieses Gesichtspunktes erfordert wiederum eine Einbeziehung der Auslegung der Norm in der innerstaatlichen Realität der DDR sowie der daraus resultierenden Vermittlung der Vorschrift gegenüber den Grenzsoldaten. Dabei ist natürlich von besonderem Interesse, ob die Norm des § 27 GrenzG/DDR den Grenzsoldaten in einer Art und Weise nahe gebracht wurde, die in ihnen die Vorstellung hat erwecken müssen, aufgrund ihrer Existenz zu tötungsgeeigneten Schüssen auf flüchtende Menschen berechtigt zu sein und dementsprechend im Einklang mit der Rechtsordnung zu handeln. In diesem Zusammenhang ist erneut die innerhalb der Erörterungen über die Rechtswidrigkeit des Grenzgeschehens dargestellte „realsozialistische“ Auslegung der Norm einzubeziehen, in der der BGH versucht, möglichst authentisch das Normverständnis zur Tatzeit zu ermitteln und dabei auf die tatsächliche Handhabung der Norm durch das Grenzregimes der DDR abstellt. (a) Die „Staatspraxis“ Der BGH fasst, wie bereits ausgeführt, die seiner Ansicht nach charakteristischen Gesichtspunkte für das Verständnis und die tatsächliche Handhabung des § 27 GrenzG/DDR durch die staatlichen Stellen der DDR, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob der Verhinderung eines ungesetzlichen Grenzübertrittes im Konfliktfalle Vorrang vor der Schonung menschlichen Lebens eingeräumt wurde, unter dem Terminus „Staatspraxis“ der DDR zusammen461. Da nach Ansicht des Gerichts zur Ermittlung der entsprechenden Praxis weder auf diesbezüglich aufschlussreiche öffentliche Aussagen, insbesondere nicht auf Rechtsprechung von Gerichten oder Äußerungen im Schrifttum der DDR zu-

460 BGHSt 39, 1 (2); BGHSt 168 (169); LG Berlin, NJ 1992, 269 (270); vgl. Miehe, S. 664; Marxen/Werle, S. 9; Jakobs, Vergangenheitsbewältigung, S. 52; Ott, NJ 1993, 337 (338). 461 s. hierzu Erstes Kap. I. 2.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

rückgegriffen werden könne, sei auf die „Befehlslage“ und die „Begleitumstände des Tatgeschehens“ abzustellen462. Allerdings finden sich Stimmen in der Literatur, die hervorheben, dass sehr wohl entsprechende Hinweise vorgelegen hätten. So stellt Otto Luchterhandt darauf ab, dass „die überragende Bedeutung, welche die hermetische Abriegelung der Grenze gerade seit dem Mauerbau für das Überleben der DDR in den Augen der SED-Führung besaß“, evident gewesen sei und es zudem als eine unter anderem mit dem Mauerbau selbst eingeräumte Tatsache angesehen werden könne, „dass die DDR mit offenen Grenzen als Staat nicht hätte überleben können, wie es sich dann ja auch tatsächlich im Herbst 1989 (. . .) bestätigt“ habe463. Tatsächlich wird man die Nachrangigkeit des menschlichen Individuums gegenüber der Grenzsicherung in dem Zusammenhang, dass es um die staatliche Existenz der DDR gegangen ist, als unzweifelhaft ansehen dürfen. Dieses Ergebnis erzielt letztlich auch der BGH und hebt hervor, dass die Grenzschützen mit ihrem Handeln in Form der tödlichen Schüsse „dem entsprochen (hätten), was ihnen im Einklang mit der herrschenden Auslegung des Grenzgesetzes als das wichtigste Ziel vermittelt wurde, nämlich die Verhinderung von Grenzübertritten“464. (b) Das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit Ein weiterer Gesichtspunkt, dem im Zusammenhang mit der Auslegung und der erfolgten Vermittlung des § 27 GrenzG/DDR zwingend eine besondere Bedeutung beigemessen werden muss, ist der ideologisch-politische Instrumentalcharakter der Norm, den sie aufgrund des innerhalb der DDR vorherrschenden Prinzips der sozialistischen Gesetzlichkeit erhielt465. Es handelt sich hierbei um einen Aspekt, den der BGH in seinen zu der „Mauerschützen“-Problematik ergangenen Urteilen nicht einbezieht466. Das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit war ein grundlegender Begriff der marxistisch-leninistischen Rechtslehre und nach Art. 19 Abs. 1, Art. 87 und Art. 90 Abs. 1 Verf./DDR als ein tragendes Prinzip der DDR-Verfassung anzusehen467. Trotz dieses Umstandes 462

BGHSt 39, 1 (11). Luchterhandt, Was bleibt?, S. 184; s. zudem unter diesem Gesichtspunkt Spittmann/Helwig (Hrsg.), Chronik der Ereignisse in der DDR, 1990; vgl. Pawlik, Das positive Recht, S. 99. 464 BGHSt 39, 1 (13). 465 Vgl. Amelung, JuS 1993, 637 (638); ders., GA 1996, 51 (53); Schroeder, JR 1993, 45 (49). 466 Auf dieses Versäumnis weist auch Luchterhandt, Was bleibt?, S. 184 hin. 467 Vgl. Ebel, Der Gesetzesbegriff im Recht der DDR, 1976, S. 243; s. auch Mampel, Art. 19 Rn. 47, der darauf hinweist, dass dieser Begriff in der nicht-marxistischleninistischen Rechtslehre allerdings kaum gebräuchlich ist. Die entsprechenden Artikel der Verf./DDR lauteten: 463

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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handelte es sich dabei jedoch um ein sehr verschwommenes Prinzip, das häufigen Schwankungen unterlag und zu dem eindeutige Definitionen des Schrifttums der DDR nicht existierten468. Als Grundlage des Verständnisses vom Wesen jener sozialistischen Gesetzlichkeit soll an dieser Stelle die von der ehemaligen Ministerin der Justiz der DDR Hilde Benjamin gegebene Beschreibung als „dialektische Einheit von strikter Einhaltung der Gesetze und Parteilichkeit ihrer Anwendung“ dienen469. Diese Beschreibung bringt zum Ausdruck, dass in dem Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit zwei höchst unterschiedliche, teilweise im Widerspruch zueinander stehende Forderungen vereint waren. Denn das erstgenannte Element hob die allgemeine Bindungswirkung des Rechts in einem streng gesetzespositivistischen Sinn hervor, während das zweite Element die Forderung nach politischer Zweckmäßigkeit der Gesetze beinhaltete, die in diesem Sinne so zu formulieren und anzuwenden waren, dass sie der Verwirklichung der von der Partei jeweils für maßgeblich erklärten Ziele dienten470. Zwar waren beide Elemente den Schwankungen der politischen Bedürfnisse gemäß im Laufe der Entwicklung durch verschiedene Nuancierungsversuche und unterschiedliche AkArt. 19 Abs. 1: „Die deutsche Demokratische Republik garantiert allen Bürgern die Ausübung ihrer Rechte und ihre Mitwirkung an der Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie gewährleistet die sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit.“ Art. 87: „Gesellschaft und Staat gewährleisten die Gesetzlichkeit durch die Einbeziehung der Bürger und ihrer Gemeinschaften in die Rechtspflege und in die gesellschaftliche und staatliche Kontrolle über die Einhaltung des sozialistischen Rechts.“ Art. 90 Abs. 1: „Die Rechtspflege dient der Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit, dem Schutz und der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Staats- und Gesellschaftsordnung. Sie schützt die Freiheit, das friedliche Leben, die Rechte und die Würde der Menschen.“ 468 Vgl. Ebel, S. 244; s. auch Luchterhandt, Was bleibt?, S. 184. 469 Benjamin, NJ 1958, 437 (437); vgl. dies., NJ 1958, 509 (509); s. ebenso Melsheimer, NJ 1958, 511 (511), der als die beiden Seiten der sozialistischen Gesetzlichkeit die „strengste Parteilichkeit und strengste Einhaltung des Gesetzes“ nennt; vgl. Mampel, Art. 19 Rn. 53; s. zur vergeblichen Kritik dieser Definition mit dem Inhalt einer in ihr nicht ausreichenden Berücksichtigung der „schöpferischen Aktivität der Volksmassen“ Leymann/Petzold, StuR 1959, 691 (693 ff.), die am Beispiel der Errichtung eines nichtgenehmigten Rinderstalles durch eine LPG zur Erreichung des Jahresplansolls im Rinderbestand zu verdeutlichen versuchten, dass die sozialistische Gesetzlichkeit in entsprechenden Fällen ein Abgehen von der Rechtsnorm nicht ver-, sondern sogar gebiete, um durch das Handeln „den revolutionären Umwälzungsprozess zu beschleunigen“. 470 Vgl. Brunner, Einführung, S. 3; ders., Das Staatsrecht der deutschen demokratischen Republik, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. Grundlagen von Staat und Verfassung, 1995, S. 385 ff. (S. 405); vgl. Herrmann, NStZ 1993, 118 (119); vgl. David/Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, 1988, S. 282 ff., die als inhaltlichen Widerspruch dieser beiden Elemente hervorheben, dass die Komponente, nach der das Recht der ideologisch vorgegebenen Entwicklung zu dienen habe, einen Faktor der Instabilität darstelle, während die Komponente der Rechtssicherheit zur Stabilität des Rechts tendiere.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

zentuierungen geprägt, und es wurde im theoretischen Schrifttum hervorgehoben, dass sich die Gewichtung immer stärker zugunsten der Rechtssicherheit verschoben habe471. Dennoch steht allerdings letztlich außer Zweifel, dass stets „Kern des Prinzips die Parteilichkeit und die Funktionalisierung der Normen für die Machtzwecke der SED war und sein sollte“472 und dass der Grundsatz der sozialistischen Gesetzlichkeit „dazu berufen (war), eine flexible, der jeweils geltenden rechtspolitischen Generallinie entsprechende Relativierung der selbstverständlichen Bindungswirkung des Rechts herbeizuführen“473. Diese Auffassung ist zudem nicht zwangsläufig als Gegensatz zu einer möglicherweise vorgenommenen stärkeren Gewichtung der Rechtssicherheit anzusehen, denn es war von einer derartigen Ausgestaltung der relevanten Rechtsnormen der DDR auszugehen, dass sie die längerfristigen maßgeblichen politischen Vorstellungen und Ziele der SED als führender Partei berücksichtigten. Zudem ist einzubeziehen, dass die Vorschriften so unbestimmt formuliert waren und dementsprechend eine Elastizität aufwiesen, dass eine an den tagespolitischen Bedürfnissen orientierte Rechtsanwendung ohne offenen Widerspruch zu ihrem Inhalt vorgenommen werden konnte474. Des Weiteren wurde das Bestehen eines Spannungsverhältnisses zwischen den beiden genannten Elementen der sozialistischen Gesetzlichkeit ohnehin durch Autoren der DDR geleugnet. So schreibt Gotthold Bley in einschlägiger Lehrbuchliteratur aus dem Jahre 1980: „Einhaltung der Gesetze und ihre parteiliche Anwendung im Interesse der sozialistischen Gesellschaft bilden eine Einheit. Die Parteilichkeit neben die sozialistische Gesetzlichkeit zu stellen hieße, das Klassenwesen des sozialistischen Rechts nicht zu begreifen, die Parteilichkeit dem Recht von außen beizufügen. Das würde jedoch bedeuten, sozialistische Gerechtigkeit und sozialistisches Recht als zeitlose, gesellschaftlich abgehobene Erscheinungen zu sehen und entspräche dem formalen, bürgerlichen Rechtsdenken. Gesetzlichkeit und Recht sind Ausdruck und Instrument der bewussten Durchsetzung der geschichtlichen Notwendigkeiten. Darin liegt zugleich ihre wissenschaftlich begründete Parteilichkeit. Parteilichkeit und Gesetzlichkeit stehen nicht in einem alternativen oder einander ergänzenden Verhältnis zueinander. Die sozialistische Gesetzlichkeit ist Ausdruck der Parteilichkeit“475.

471 Vgl. Mampel, Art. 19 Rn. 56 ff.; vgl. David/Grasmann, S. 283 f.; s. zu den unterschiedlichen Bedeutungsgehalten des Prinzips der sozialistischen Gesetzlichkeit Brunner, Einführung, S. 2 ff., der in diesem Zusammenhang unter anderem darauf verweist, dass in den 50er Jahren der Gesichtspunkt der Parteilichkeit im Vordergrund gestanden habe, während seit 1963 der Bindungswirkung des Recht zunehmende Beachtung geschenkt worden sei, wobei diese Auffassung in Art. 19 Abs.1 der 1968 verabschiedeten Verf./DDR eine nachdrückliche Bestätigung erfahren habe, da dort neben der sozialistischen Gesetzlichkeit auch die Rechtssicherheit ausdrücklich genannt sei. 472 Luchterhandt, Was bleibt?, S. 184. 473 Brunner, Staatsrecht, S. 405. 474 Vgl. Brunner, Staatsrecht, S. 405.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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Auch in folgendem Zitat aus dem Jahre 1972 tritt deutlich hervor, dass weder ein Widerspruch zwischen den Elementen der Rechtssicherheit und der politischen Zweckmäßigkeit gesehen wurde, noch dass etwa die Bedeutung der Parteilichkeit hinter den erstgenannten Aspekt zurückzutreten hatte: „Das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit (drückt nicht) nur als juristisches Prinzip die Übereinstimmung der Handlungen von Staatsorganen, Funktionären und Bürgern mit den Forderungen des Gesetzes aus. Es ist, (. . .) vor allem ein politisches Prinzip. Kampf um die Stärkung der sozialistischen Rechtsordnung ist vor allem Kampf für die Durchführung der Politik der Partei, die in den Normen des sozialistischen Rechts zum staatlichen Willen erhoben ist“476.

Zum Teil wird auch vertreten, dass die genannte Begriffsbestimmung der sozialistischen Gesetzlichkeit als dialektische Einheit von strikter Gesetzlichkeit und Parteilichkeit gänzlich abzulehnen ist und hervorgehoben, dass „das Gesetz (. . .) nur einen, nämlich einen parteilichen Sinn“ habe477. Somit bleibt es bei der zuvor getroffenen Feststellung, dass die Machthaber der DDR die Rechtsvorschriften mittels der sozialistischen Gesetzlichkeit in übermäßiger Weise für ihre Machtzwecke funktionalisierten und ihnen für das Erreichen dieses Ziels erhebliche Freiheiten eingeräumt wurden.478 Aus diesem Grund dürfte Christian Starck vom „Instrumentalcharakter des Rechts im Dienste der Partei“ gesprochen und die Gesetze sehr weitreichend als „Wachs in den Händen der alles beherrschenden Partei“ bezeichnet haben479. Jedenfalls ist festzuhalten, dass nach den vorherigen Erkenntnissen zweifelsohne davon ausgegangen werden darf, dass bezüglich des § 27 GrenzG/DDR eine Einweisung der Soldaten erfolgt ist „in das, was die Parteileitung und die Regierung sich von der Vorschrift versprachen“480, wobei dies eben eine effektive Sicherung der Staatsgrenzen der DDR war, die für die politische Führung äußerste Priorität besaß und auch, wenn notwendig, unter Einsatz der Schusswaffe in jedem Fall zu gewährleisten war. 475 Autorenkollektiv, Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Lehrbuch, 1980, S. 426. 476 Assmann/Liebe, Kaderarbeit als Voraussetzung qualifizierter staatlicher Leitung, 1972, S. 53. 477 Bullinger, Das Verwaltungsrecht in der DDR (SBZ), in: Die Lage des Rechts in Mitteldeutschland, hrsg. v. d. Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg/Br., 1965, S. 101 ff. (S. 114); vgl. Polak, StuR 1961, 607 (609 f.); vgl. Ebel, S. 245. 478 Vgl. Herrmann, NStZ 1993, 118 (119). 479 Starck, VVDStRL 51 (1992), S. 9 ff. (S. 17 f.), der in Weiterführung des letztgenannten Zitates die Feststellung trifft, dass die Worte der Gesetze nur Fassade waren. Diese Äußerung dürfte jedoch trotz aller Parteilichkeit der Gesetzesformulierung und -anwendung in Anbetracht der zuvor getroffenen Erörterungen bzgl. der Rechtssicherheit als zweitem Element der sozialistischen Gesetzlichkeit kritisch zu betrachten sein und erscheint als zu weitgehend. 480 Jakobs, Vergangenheitsbewältigung, S. 52.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

(4) Einsicht des Verstoßes der Norm gegen vorgeordnete Rechtsprinzipien Wurden den Grenzsoldaten somit die Bestimmungen des DDR-Grenzgesetzes als einschlägige rechtliche Grundlage für den Gebrauch der Schusswaffe an der Mauer erörtert, so ist auf die sich daraus ergebenden Folgerungen für die Würdigung ihres Unrechtsbewusstseins einzugehen. Es ist fraglich, unter welchen Voraussetzungen in Fällen staatlich zugelassenen extremen Unrechts ein aktuelles Unrechtsbewusstsein eines Täters anzunehmen ist. (a) Die Grundsätze des Hanke-Falles In diesem Zusammenhang sind möglicherweise erneut die rechtlichen Erwägungen des Landgerichts Stuttgart im bereits genannten Hanke-Fall481 hilfreich. Da man auch in diesem Fall die zur damaligen Zeit in der SBZ zumindest formal bestehenden Schusswaffengebrauchsbestimmungen wegen Verstoßes „gegen fundamentale Grundsätze des Rechts und der Menschlichkeit“ als unbeachtlich ansah, lag insofern eine vergleichbare Ausgangssituation zu den nach der Wiedervereinigung abzuurteilenden Taten an der Grenze vor. Die in dem jetzigen Zusammenhang interessierenden Ausführungen des Urteils lauten: „Die (. . .) Überlegung, wie er notfalls einem Schießbefehl ausweichen könne, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich sein Gefühl, mit dem Schießen auf Flüchtlinge „an sich“ etwas Unrechtes tun zu müssen, vor der Tat schon soweit zur Gewissheit verdichtet hatte, dass er sich des offensichtlichen Widerspruchs des ihm zugemuteten Verhaltens zu den Grundanforderungen der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit bewusst war. (. . .) Hat der Angeklagte aber den Widerspruch des Schießbefehls zu seinem eigenen Rechtsgefühl empfunden, so genügte das im gegebenen Fall zur Feststellung seines Unrechtsbewusstseins. Denn im Bereich staatlichen Machtmissbrauchs muss es wegen der grundsätzlichen Freiheit des Staates, in seinem Gebiet über Recht und Unrecht zu befinden, genügen, wenn der Gewaltunterworfene erkennt, dass das, was der Staat – zu Unrecht – für Recht erklärt, in Wahrheit mit dem Grundgedanken von Gerechtigkeit und Menschlichkeit nicht mehr zu vereinbaren ist“482.

Das Landgericht Stuttgart stellt zur Beurteilung des Unrechtsbewusstseins demnach auf die Erkenntnis des handelnden Soldaten ab, dass die von ihm eingeforderten Schüsse mit dem Grundgedanken von Gerechtigkeit und Menschlichkeit nicht zu vereinbaren waren. Als Maßstab der entsprechenden Erkenntnis dient dem Gericht allein das eigene Rechtsgefühl des Angeklagten. Ein näheres Eingehen auf die Vorstellungswelt des Schützen hinsichtlich der am Tatort zumindest formell gültigen staatlichen Rechtfertigungsnormen findet dagegen nicht statt, worin eine nicht zu billigende Verkürzung der eigentlichen Problematik zu sehen ist. 481 482

LG Stuttgart, NJW 1964, 63 ff. LG Stuttgart, NJW 1964, 63 (68).

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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In Fällen staatlich zugelassenen Unrechts, so stellt Olaf Miehe fest, gebe es kein Unrechtsbewusstsein „ohne Stellungnahme zum rechtlichen Schicksal der staatlichen Erlaubnissätze“483. Es sei erneut hervorgehoben, dass ein aktuelles Unrechtsbewusstsein die Erkenntnis des Verstoßes gegen die Wertordnung des Rechts erfordert. Es geht um die Einstellung des Beschuldigten zur Rechtsordnung484. Erforderlich ist somit, dass der Täter die im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung vorgenommene objektive Bewertung der Rechtfertigungsnorm in subjektiver Hinsicht nachvollzieht, er muss diejenige rechtliche Bedeutung seines Verhaltens erkannt haben, die die Rechtsprechung zum Zeitpunkt ihrer rechtlichen Würdigung zu dem Schritt veranlasst, die Tat als objektiv rechtswidrig anzusehen485. Daher ist für das aktuelle Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten nicht lediglich entscheidend, ob sie erkannten, dass zwischen ihren Schüssen und den Grundgedanken von Gerechtigkeit und Menschlichkeit ein Widerspruch bestand. Sie mussten vielmehr die Einsicht besessen haben, dass die ihnen als rechtliche Grundlage vermittelten Erlaubnissätze gerade wegen dieses Widerspruchs – wegen ihres Charakters als extremes Unrecht – unbeachtlich waren. Diesem Aspekt kommt bei der Beurteilung des aktuellen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten offenbar eine sehr entscheidende Bedeutung zu. Es wiederholen sich folglich die für die Rechtswidrigkeit des tödlichen Schusswaffeneinsatzes charakteristischen Schwierigkeiten – die Nichtigkeitserklärung des § 27 GrenzG/DDR in „realsozialistischer“ Auslegung wegen Verstoßes gegen vorgeordnete Rechtsprinzipien sowie die aus diesem Vorgehen resultierende Rückwirkungsproblematik486 – noch einmal bei der Frage nach dem Unrechtsbewusstsein der handelnden Grenzsoldaten und bedürfen daher auch in diesem Zusammenhang der Erörterung487. Zunächst sei im Hinblick auf die Unbeachtlichkeitserklärung des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR in „realsozialistischer“ Auslegung hervorgehoben, dass die diesbezüglich notwendige Erkenntnis der Grenzsoldaten nur unter zwei Grundvoraussetzungen als denkbar wird angesehen werden können: Zum einen hätten die Schützen einsehen müssen, dass überhaupt die Möglichkeit besteht, in bestimmten Fällen einer Rechtsvorschrift – entgegen dem Gedanken der Rechtssicherheit – unter Rückgriff auf rechtsphilosophisches Gedankengut die Beachtung zu verweigern. Bereits dieser Gesichtspunkt muss als äußerst zweifelhaft erscheinen. Es gilt zu bedenken, dass ein solches Vorgehen noch im Jahre 1932, somit 14 Jahre vor der Entwicklung seiner Formel, durch

483 484 485 486 487

Miehe, S. 664. s. Adomeit, NJW 1993, 2914 (2915). So auch Jäger, Verbrechen, S. 178 f. s. diesbezüglich Erstes Kap. II. Vgl. Günther, StV 1993, 18 (24); Amelung, NStZ 1995, 29 (30).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Gustav Radbruch selbst in keinster Weise in Betracht gezogen wurde, indem er völlig gegenteilig ausführte: „Für den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsgefühl zu opfern, nur zu fragen, was Rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei. (. . .) Wie ungerecht immer das Recht seinem Inhalt nach sich gestalten möge – es hat sich gezeigt, dass es einen Zweck stets, schon durch sein Dasein, erfüllt, den der Rechtssicherheit. (. . .) Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren lässt“488.

Zum anderen hätten sie einsehen müssen, dass ihr Handeln bzw. die ihrem Handeln zugrunde liegende Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR den im Rahmen der Radbruchschen Formel notwendigen unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit darstellte und somit nicht lediglich als Unrecht, sondern eben als extremes Unrecht einzustufen war. In diesem Zusammenhang weist Olaf Miehe darauf hin, dass bei der Schwierigkeit der Frage, wann von einem Ausnahmefall i. S. d. Radbruchschen Formel auszugehen ist und wann dieser extrem genug sei, „für den subjektiven Nachvollzug der objektiven Bewertung die Grenze des Abfalls von rechtlichen Grundwerten abermals hinausgeschoben werden“ müsse, das bedeute, es müsse sich „um einen Ausnahmefall handeln, der extremer ist als extrem“489. Das Vorliegen eines aktuellen Unrechtsbewusstseins ist grundsätzlich – wie erläutert – weder anhand einer auf dem originären Wertgefühl des Menschen beruhenden widersprechenden Gewissensregung noch anhand der Kenntnis der Moralwidrigkeit des eigenen Verhaltens durch den Täter zu beurteilen490. Der stete Wandel moralischer Anschauungen in der modernen Gesellschaft steht einem solchen Vorgehen entgegen. Einer differenzierten Betrachtung bedarf es allerdings im Rahmen der vorliegenden Überlegungen. Die Erkenntnis, dass die Rechtfertigungsnorm des § 27 GrenzG/DDR extremes Unrecht darstellte und aus diesem Grund als nichtig anzusehen war, konnten die Grenzsoldaten lediglich anhand einer moralischen Urteilsbildung erlangen. Denn sie mussten erkannt haben, dass in den Fällen ihres Handelns das geschriebene Recht der Gerechtigkeit in so unerträglichem Maße widersprach, dass es ausnahmsweise durch die Moral begrenzt wurde und letzterer der Vorrang gebührte. Als nicht ausreichend in diesem Sinne ist dabei anzusehen, dass die Grenzsoldaten den Einsatz der Schusswaffe gegen die Flüchtlinge für „unmenschlich“, „unmoralisch“ oder etwa „ungerecht“ hielten491. Ihre Erkenntnis musste sich gerade auf den unerträglichen Widerspruch der ihnen als Grundlage für den Schusswaffen488 489 490 491

Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 178. Miehe, S. 666. Vgl. Drittes Kap. IV. 2. a) u. b) aa). So auch Miehe, S. 664.

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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gebrauch vermittelten Norm zur Gerechtigkeit erstrecken. Die Herstellung dieses Bezugs ist in diesem Fall insbesondere auch deshalb von erheblicher Bedeutung, da der BGH die „realsozialistische“ Auslegung des § 27 GrenzG/DDR ausdrücklich als vereinbar mit dem Wortsinn der Vorschrift erachtet hat. Auch wenn sie sich letztlich als unbeachtlich erweist, so kommt ihr doch ein stärkerer normativer Gehalt zu, als einer solchen, die von vornherein im evidenten Widerspruch zum Wortlaut des Gesetzes steht492. Im Hinblick auf die bestehende Rückwirkungsproblematik ist weiterhin hervorzuheben, dass die Soldaten erkannt haben müssten, dass sie sich nicht an derjenigen Auslegung des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR orientieren durften, die in der politischen und sozialen Wirklichkeit des täglichen Grenzgeschehens Ausdruck fand, sondern an einer „menschenrechtsfreundlichen“ Variante, die zwar den Wertvorstellungen des BGH und somit westlichen Ansichten, nicht jedoch der innerstaatlichen Realität der DDR entsprach. (b) Hindernisse aus Sicht der Grenzsoldaten Die Annahme, dass den an der Grenze der DDR handelnden Soldaten eine – den im Hinblick auf die Unbeachtlichkeitserklärung des § 27 Abs. 2 GrenzG sowie der daraus resultierenden Rückwirkungsproblematik erläuterten Anforderungen – entsprechende Erkenntnis tatsächlich gegeben war, muss aus mehreren Gründen, die es im Folgenden darzulegen gilt, erheblichen Bedenken unterliegen. (aa) Bestehen des grundsätzlichen Tötungsverbotes auch in der DDR Zunächst ist erneut auf die bereits angeführten Umstände zu verweisen, dass in der DDR keineswegs eine totale Pervertierung des Rechts, aus der etwa eine völlige Deckung des Inhalts der Normen mit den Unrechtshandlungen des Regimes resultierte, vorlag, sondern dass auch in der DDR eine Rechtsordnung existierte, die in weiten Teilen durchaus westlichen Anforderungen zu genügen schien und die selbstverständlich auch ein grundsätzliches Verbot vorsätzlicher Tötungen enthielt493. In der DDR durften somit natürlich nicht ohne weiteres Menschen getötet werden, sondern die Erlaubnis wurde für die Fälle der getöteten Flüchtlinge von einem aus Sicht der dortigen Staatsführung gegebenen Fehlverhalten dieser Menschen an der Grenze abhängig gemacht. Walter Ulbricht umschrieb diesen Standpunkt im Jahre 1966 wie folgt:

492 493

Vgl. Günther, StV 1993, 18 (24). s. Drittes Kap. V. 1. a) aa).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

„Wir haben Grenzen ebenso wie jeder andere Staat, ebenso wie jeder andere Staat verlangen wir auch, dass unsere Grenzen und unsere Gesetze respektiert werden. Das setzen wir durch. Das ist in allen Ländern der Welt so. Keinem Menschen wird ein Haar gekrümmt, der die gesetzliche Ordnung der DDR achtet. Wer aber der verbrecherischen Aufforderung zur Verletzung unserer Grenzen und Gesetze folgt, (. . .) der riskiert Kopf und Kragen. Daran kann nichts geändert werden“494.

Es erscheint offenkundig, dass die letztgenannten Gesichtspunkte als bedeutendes Hindernis aus Sicht der Grenzsoldaten zu werten sind, den Unrechtscharakters ihres Handelns, respektive die Unbeachtlichkeit der Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR wegen unerträglichen Widerspruchs zu den Grundgedanken von Gerechtigkeit und Menschlichkeit, zu erkennen. Der Grund liegt eben gerade in dem seitens der Staatsführung unternommenen Versuch, das Handeln der Flüchtlinge als ein lediglich in Ausnahmefällen vorkommendes Verhalten einer kriminellen, mit dem Klassenfeind sympathisierenden, Randgruppe darzustellen, das als schädigend für den Sozialismus sowie dessen „auf Frieden und Sicherheit gerichteten Politik“ anzusehen ist495. Natürlich wurden auch in der DDR trotz des bestehenden Widerspruchs zu dem Geschehen an der Grenze, wie es der BGH betont, Gerechtigkeit und Menschlichkeit als erstrebenswerte Ideale hervorgehoben und vermittelt. Es ist daher auch tatsächlich gar nicht zu bestreiten, dass die Soldaten diese Ideale nicht auch grundsätzlich verinnerlicht hätten. Allerdings muss jedoch als ihr wesentliches Problem angesehen werden, dass sie in einem staatlichen Umfeld lebten, in dem die Gebote der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, die auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen, eben gerade für eine bestimmte Personengruppe, nämlich die der fluchtwilligen Menschen, in einer drastischen Art und Weise ausgesetzt und für unbeachtlich erklärt wurden. Die absolute Entrechtung dieser Menschen und ihre Subsumierung „einer in ihrem Achtungsanspruch herabgesetzten Personengruppe der verbrecherischen Elemente“ wurde bereits ausführlich dargelegt496. Der Staat der DDR einschließlich der Sichtweise des Flüchtlingsproblems durch seine Führung musste jedoch zum Zeitpunkt der Taten das für die Grenzsoldaten relevante System sein, an dessen Forderungen sie ihr Handeln ausrichteten. Innerhalb dieses Systems wurden die, auf Grundlage des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR erfolgenden, tödlichen Schüsse an der Grenze den Soldaten gegenüber als geradezu förderlich für die Ideale der Gerechtigkeit und Menschlichkeit dargestellt, indem sie dazu beitrugen, einen Verrat am Sozialismus und damit dessen Gefährdung zu verhindern. Stets hoben die führenden Stellen der DDR, etwa der Chef der Grenztruppen K.-D. Baumgarten zu deren 35. Jahrestag, den „tiefen humanistischen Charakter“ der marxistisch-leninistischen Weltanschauung hervor, die es zu verteidigen galt497. Angesichts solcher 494 495 496

Zit. nach Sauer/Plumeyer, S. 68 f. s. die Ausführungen von Hanisch, Militärgeschichte 1/1977, 89 (91). Drittes Kap. V. 2. b).

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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Gegebenheiten muss bezweifelt werden, dass der einzelne Soldat an der Grenze erkannte, mit dem Einsatz seiner Schusswaffe aufgrund einer Norm zu handeln, der wegen ihres unerträglichen Widerspruchs zu den Idealen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit die Beachtung zu verweigern war. (bb) Unterdrückung der Strafverfolgung und Belobigung der Schützen In der „Laiensphäre“ des Unrechtsbewusstseins und der in diesem Zusammenhang erforderlichen „Parallelwertung“ stellt Günther Stratenwerth als verlässlichen Anhaltspunkt für ein stabiles Unrechtsbewusstsein weiterhin auf das Wissen des Handelnden ab, „daß die Tat staatlichen Zwang auslösen kann, gleichviel in welcher Form (der des gerichtlichen Entscheides, des polizeilichen Einschreitens oder anderer behördlicher Maßnahmen)“498. Auch Hans-Wilhelm Schünemann hebt bezüglich der Motivation des Menschen zu normgerechtem Verhalten hervor, dass unter anderem „die erwarteten Sanktionen bei Nichtbefolgung“ bedeutsam seien. Es bestehe trotz der Umstrittenheit der Vorgänge im einzelnen Einigkeit darüber, dass die Motivation zur Befolgung von Verbotsnormen vor allem davon abhängig sei, „welche Erfahrungen man mit der Befolgung gemacht hat“ und „ob die Situation zur Normbefolgung Anlass gibt oder nicht“499. Diesen Gesichtspunkten muss in den „Mauerschützen“-Fällen ebenfalls eine besondere Bedeutung beigemessen werden, da eine strafrechtliche Ahndung der Gewalttaten an der Grenze in der DDR praktisch nicht stattfand. Die Erschießung eines Flüchtlings an der Grenze wurde niemals durch Gerichte, Staatsanwaltschaften oder andere staatliche Instanzen der DDR – etwa wegen einer Überschreitung der in § 27 GrenzG/DDR enthaltenen Einschränkungen – beanstandet500, sondern faktisch bis zum Ende der DDR als gerechtfertigt angesehen501. Ein Grenzvorfall mit tödlichem Ausgang zog zwar durchaus behördliche Untersuchungen nach sich502, er hatte jedoch niemals negative 497

s. Baumgarten, Militärwesen 11/1981, 7. Stratenwerth, Strafrecht, § 10 Rn. 62. 499 Schünemann, NJW 1980, 735 (740). 500 Vgl. Dreier, JZ 1997, 421 (426); BGHSt 39, 1 (11 f.). 501 LG Berlin, NJ 1992, 269 (270); ebenso Amelung, NStZ 1995, 29 (30) u. Fiedler, JZ 1993, 206 (206). 502 s. Riedel, DtZ 1992, 162 (168), der unter Berufung auf das Archiv der DDRGrenztruppen von Untersuchungen durch die Organe der Grenztruppen selbst, der örtlich zuständigen MfS-Bezirksverwaltung sowie regelmäßig den hinzugezogenen Militärstaatsanwalt berichtet; allerdings liegt es auf der Hand, dass diese Untersuchungen nicht dem Zweck dienten, ein mögliches Fehlverhalten des Schützen offenzulegen und zu dokumentieren, sondern eine andere Zielrichtung verfolgten, etwa die Dokumentation möglicher Beobachtungen des Geschehens seitens des Westens sowie die Durchführung von Verschleierungsmaßnahmen, vgl. diesbezüglich auch Drittes Kap. V. 2. b) dd) (1) (a) u. (b). 498

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Konsequenzen; strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Schützen waren praktisch undenkbar503. Von diesen Gegebenheiten gingen die Grenzsoldaten zum Zeitpunkt ihres Handelns auch aus504. Es war vielmehr das Gegenteil der Fall. Die Schützen, die eine Flucht – wenn auch mittels eines tödlichen Schusswaffeneinsatzes – erfolgreich verhindert hatten, wurden belobigt und mit Orden ausgezeichnet, erhielten eine Geldprämie und möglicherweise Sonderurlaub505. Auch einer Beförderung innerhalb der Armee stand ein tödlicher Einsatz der Schusswaffe keinesfalls entgegen506. Insofern ist bezüglich der genannten Feststellungen Stratenwerths und Schünemanns hervorzuheben, dass die Grenzschützen durch die Missachtung des generellen Tötungsverbotes keinerlei Sanktionen oder anderweitige Schwierigkeiten befürchten mussten. Im Gegenteil, solche konnten in ihrer jeweiligen Situation vielmehr im Falle der Verweigerung des Schießens und demnach im Rahmen der Verbotsbefolgung auftreten. Es erscheint aus diesem Grunde fraglich, wie in den Augen der Grenzsoldaten jemand rechtswidrig gehandelt haben konnte, der von dem Staat, dessen Regeln und Normen das relevante Bezugsfeld bildeten, in dargestellter Weise behandelt und für sein Tun ausgezeichnet wurde507. Nach Klaus Adomeit „konnte der Hauptgedanke der zur Grenze befohlenen Soldaten, bei praktischer Logik, nur der folgende sein: Solange wir diese Grenze wirksam bewachen, wird alles, was wir hier befehlsgemäß tun, durch unsere Vorgesetzten eher Anerkennung finden, bestimmt aber nicht strafbar sein“508. Tatsächlich lassen die genannten Ausführungen die zum Zeitpunkt der Schüsse an sich selbst gerichtete Aussage des Grenzsoldaten – mein Tun ist eigentlich strafbar – als kaum plausibel erscheinen. Dieses Ergebnis beruht auf der bereits betonten Tatsache, dass aus Sicht der Grenzsoldaten notwendig die DDR das für ihr Tun relevante System darstellen musste509. Eine gegenteilige Annahme erscheint höchstens unter dem Aspekt denkbar, dass die Grenzsolda503 BGHSt 39, 1 (11); BGHSt 39, 168 (170); BGHSt 40, 241 (243); LG Berlin, NJ 1992, 269 (270); vgl. Marxen/Werle, S. 11 sowie Riedel, DtZ 1992, 162 (168 f.), der darauf verweist, dass letztlich, sofern es im Einzelfall ausnahmsweise doch einmal aufgrund einer Strafanzeige zu Ermittlungen gegen den Schützen gekommen sei, als Ergebnis stets die Einstellung des Verfahrens stand. 504 s. BGHSt 39, 199 (201); LG Berlin, NStZ 1992, 492 (493). 505 Vgl. BGHSt 39, 1 (11); BGHSt 39, 199 (201); BGHSt 40, 241 (243); BGH, NStZ-RR 1996, 323 (324); LG Berlin, NJ 1992, 269 (270); LG Berlin, NStZ 1992, 492 (493); s. zudem die Aussage des ehemaligen Grenzsoldaten E. Cäzor, in: Filmer/ Schwan, S. 233 sowie Dreier, JZ 1997, 421 (426); Fiedler, JZ 1993, 206 (206); ders., Osteuropa-Recht 1993, 259 (261); Bath, DA 1990, 1733 (1740); Forster, S. 161. 506 s. nur BGHSt 40, 48 (50); der Angeklagte dieses Falles wurde in der DDR-Armee zwei Jahre nach seinen tödlichen Schüssen auf einen 19jährigen Flüchtling zum Major befördert. 507 Ebenso Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 59. 508 Adomeit, NJW 1993, 2914 (2915). 509 s. Drittes Kap. V. 1. b) aa).

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ten bereits zum Zeitpunkt ihres Handelns davon ausgingen, dass ihr Staat untergehen und seine politischen und sozialen Vorgaben und Konventionen nicht mehr den für die Beurteilung ihrer Tätigkeit entscheidenden Maßstab darstellen würden. Diesem Umstand wird auch in der Literatur im Rahmen der Beurteilung eines Verbotsirrtums der Soldaten Bedeutung beigemessen510. Allerdings ist festzustellen, dass die Annahme eines derartigen Vorstellungsbildes der an der Grenze tätigen Soldaten, insbesondere unter Berücksichtigung der folgenden Ausführungen, kaum der damaligen Realität entsprechen dürfte. (cc) Zunehmende internationale Anerkennung der DDR Es ist in die Überlegungen einzubeziehen, dass die DDR im Laufe der Jahrzehnte eine stetig zunehmende internationale Anerkennung als Staats- und Völkerrechtssubjekt erfuhr511. Während die BRD die DDR anfangs als Inland ansah und das sozialistische System der DDR – neben der selbstverständlich fehlenden Anerkennung – mittels drastischer Strafvorschriften massiv bekämpfte und jeglichen diplomatischen Verkehr ablehnte, nahm man seit Mitte der sechziger Jahre die entsprechenden Normen gegen die Aktivitäten der DDR immer weiter zurück512. In der Rechtswissenschaft wurde zunehmend gefordert, die DDR als Ausland anzusehen513. Dieses Ansinnen fand weiteren Nährboden durch den sog. Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR vom 21. Dezember 1972514. Art. 1 des Vertrages lautete: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik entwickeln normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ 515. 510

Vgl. etwa Adomeit, NJW 1993, 2914 (2915) sowie Dannecker, Jura 1994, 585

(594). 511

s. hierzu Roggemann, Systemunrecht, S. 23; Amelung, NStZ 1995, 29 (30). Entsprechende Strafvorschriften zur Bekämpfung der DDR waren etwa das „Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit“ von 1951, das Denunziationen bei Behörden der DDR unter Strafe stellte sowie die Strafdrohungen des „staatsfeindlichen Nachrichtendienstes“ (§ 92 a. F. StGB) und des „staatsfeindlichen Nachrichtendienstes“ (§ 100e a. F. StGB), nach denen Kontakte zu staats- oder parteiamtlichen Stellen in der DDR verfolgt wurden, vgl. Schroeder, DA 1993, 442 (443 f.). 513 Vgl. dazu Schroeder, DA 1993, 442 (444 f.). 514 Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, BGBl. 1973 II, S. 423 f. 515 s. zur Auslegung dieses Artikels Blumenwitz, Die Grenzsicherungsanlagen der DDR im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: Zieger (Hrsg.), Festschrift für S. Mampel, 1983, S. 93 ff. (S. 98 f.) sowie Zündorf, Die Ostverträge. Die Verträge von Moskau, Warschau, Prag, das Berlin-Abkommen und die Verträge mit der DDR, 1979, S. 226 ff., der darauf hinweist, dass der Begriff der Nachbarschaft Voraussetzungen gehabt habe, die in der BRD ungern gesehen wurden, da er die Existenz zweier unverbundener Individuen voraussetze, deren Verhältnis zueinander für jeden von ihnen ein Außenverhältnis sei. Daher stehe eine „normale gutnachbarliche“ Bezie512

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Zudem wurde die DDR am 18. September 1973 zusammen mit der BRD in die Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen aufgenommen516. Sie erhielt zu diesem Anlass von der Weltgemeinschaft das Prädikat „friedliebend“517! Entsprechend gab es von dieser Seite keine klaren öffentlichen Verurteilungen der Grenzpraxis oder gar Sanktionen518, wenn auch die DDR – wie bereits erörtert – diesbezüglich vor dem Menschenrechtsausschuss der UNO angehört wurde519. Ihren Höhepunkt erlebte die „Aufwertung der SED-Führung“ neben zahlreichen Besuchen westdeutscher Politiker in der DDR letztlich 1987 durch den Staatsbesuch Honeckers in Bonn520. Da die DDR ohnehin seit jeher – zumindest außerhalb des Ostblocks – vehement ihre Souveränität und das Prinzip der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten einforderte, trugen diese Umstände zweifelsohne dazu bei, dass gerade aus Sicht ihrer Soldaten die DDR ein anerkannter Staat der Völkergemeinschaft war521. Diese Auffassung wird bestätigt durch die Aussage des ehemaligen Grenzsoldaten P. Schmett im ersten „Mauerschützen“-Prozess vor dem Landgericht Berlin: In der DDR habe man von dem Honecker-Besuch in der BRD „nur fröhliche Gesichter und Händeschütteln gezeigt“, da habe er sich gedacht, die DDR ist schon was, die wird jetzt auch von der Bundesrepublik und anderen Ländern anerkannt“522. Nach den vorherigen Darstellungen muss somit zweifelhaft sein, ob den Grenzsoldaten die Erkenntnis zugänglich war, dass international und innerdeutsch in der beschriebenen Weise mit einem Staat umgegangen wurde, dessen Grenzrecht ein derart extremes Unrecht darstellte, dass es noch zu Bestehenszeiten des Systems unbeachtlich war. Des Weiteren erfuhr das Grenzregime der DDR insgesamt zunehmend nur noch „matte Kritik“, auch die Gesellschaft und Politik der BRD wollte zuletzt immer weniger von den Grenzvorfällen wissen523. So soll die frühere SPD/ FDP-Bundesregierung nahestehenden Kreisen mitgeteilt haben, dass eine Erörterung der Grenzsicherungsanlagen als nicht im Interesse der DDR liegend anzusehen sei und deshalb bei diplomatischen Gesprächen zwischen beiden deut-

hung weder zwingend der Existenz der Mauer, noch der Anwendung des Schießbefehls nach innen entgegen. 516 s. dazu allgemein Bruns, DA 1974, 497 ff. sowie ders., DA 1986, 376 ff. 517 Bruns, DA 1986, 376 (380). 518 Vgl. Dreier, JZ 1997, 421 (430). 519 Vgl. Drittes Kap. V. 2. b) dd) (2) (a). 520 s. Luchterhandt, Was bleibt?, S. 190; s. auch die kritische Haltung zu dieser Gegebenheit von Roos, S. 278 sowie Schroeder, DA 1993, 442 (443 u. 449 f.), der hervorhebt, dass hier „ohne in Aussicht stehenden Gewinn für die Lage der Menschen in Deutschland der Stabilität des DDR-Unrechtsregimes Vorschub geleistet wurde“. 521 Ebenso Arnold/Kühl, JuS 1992, 991 (996). 522 s. Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/1991, S. 72 (S. 76). 523 So Dreier, JZ 1997, 421 (430); vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 37.

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schen Staaten jederzeit ausgeklammert werden könne524. Auch wurde von einflussreichen westdeutschen Politikern die Auflösung der 1961 ins Leben gerufenen Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen zur Registrierung von DDR-Gewaltakten in Salzgitter525, die eine spätere Strafverfolgung der Täter ermöglichen sollte, gefordert526. Aus tagespolitischer Opportunität erfolgte somit teilweise die Stabilisierung des menschenrechtsfeindlichen Systems der DDR527. Zudem hatten sich wohl auch die Kirchen mit dem SED-Staat zunehmend arrangiert528. Es dürfte auf der Hand liegen, dass die mit den Jahren zunehmende internationale Anerkennung der DDR als gewichtiges Hindernis für die Grenzsoldaten im Hinblick auf die Überlegung zu werten ist, ob sie sich mit dem Gedanken eines möglichen Untergangs ihrer Staatsführung und ihres politischen Systems befassten. Die dargestellten Gegebenheiten, namentlich das Bestehen des grundsätzlichen Tötungsverbotes, die Unterdrückung der Strafverfolgung und Belobigung der Schützen sowie die zuletzt erläuterte zunehmende internationale Anerkennung des Landes, dürften das Gesamtbild ergeben, dass die Grenzsoldaten der DDR nicht die Erkenntnis besaßen, die im Hinblick auf die Unbeachtlichkeitserklärung des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR sowie die daraus resultierende Rückwirkungsproblematik notwendig gewesen wäre. Das Vorstellungsbild der Soldaten, dass die Norm in ihrer ihnen gegenüber vermittelten Auslegung in unerträglichem Ausmaß der Gerechtigkeit und Menschlichkeit widersprach und ihr aus diesem Grund die Beachtung zu verweigern und stattdessen eine „menschenrechtsfreundliche“ Anwendung vorzunehmen war, erscheint unter diesen Voraussetzungen nicht plausibel.

524

Blumenwitz, S. 99 f. s. allgemein zur Vorgeschichte und Einrichtung der Zentralstelle Sauer/Plumeyer, S. 23 ff. 526 Zu diesen Politikern gehörten im Jahre 1984 u. a. der frühere stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion J. Schmude sowie H. Ehmke und H.-J. Vogel, denen sich die gesamte Bundestagsfraktion der SPD anschloss; im Jahre 1986 nannte der hessische FDP-Vorsitzende W. Gerhardt die Zentralstelle ein „Relikt des Kalten Krieges“; zudem stellten in den Jahren 1987–1989 nacheinander die Länder Nordrhein-Westfalen, Saarland, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein sowie zuletzt Berlin ihre Finanzierungszahlungen ein, vgl. Schroeder, DA 1993, 442 (451); Sauer/ Plumeyer, S. 242 ff. 527 s. auch Dreier, JZ 1997, 421 (430), der ebenfalls die Rolle der Politik und Gesellschaft der BRD in dieser Hinsicht kritisiert. 528 Vgl. Alexy, Mauerschützen, S. 37; s. zudem Richter, DA 1993, 407 ff. sowie Dreier, JZ 1997, 421 (430). 525

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

e) Die politisch-ideologische Einflussnahme auf die Grenzsoldaten Als letzter Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Legitimierung des Geschehens an der Grenze und somit im Rahmen der Eliminierung bzw. Minimierung des Unrechtsbewusstseins der im Grenzdienst tätigen Schützen ist die ihnen gegenüber vorgenommene politisch-ideologische Einflussnahme einzubeziehen, auf die innerhalb der bisherigen Ausführungen bereits mehrfach eingegangen wurde. Da diesem Aspekt neben den bislang aufgezeigten Gesichtspunkten ebenfalls eine sehr wesentliche Bedeutung im Rahmen des staatlichen Versuchs, die Soldaten von der Richtigkeit ihres Handelns zu überzeugen, beizumessen ist, bedarf er im Folgenden einer weitergehenden Erörterung. In den Streitkräften sozialistischer Staaten und somit auch in denen der DDR spielte die politisch-ideologische Beeinflussung der Truppenangehörigen eine alles beherrschende Rolle, die sämtliche Bereiche des militärischen Wesens erfasste529. Sie durfte daher als „das Kernstück sozialistischer Truppenführung“ angesehen werden530. Ein ranghoher Angehöriger der Grenztruppen führte entsprechend im Jahre 1976 aus, es werde die Ideologie immer mehr „als die entscheidende Triebkraft für gute Leistungen im Dienst erkannt und umfassend genutzt (. . .). Wie könnte es auch anders sein, denn alles, was wir vollbringen wollen, vollzieht sich über das Denken und Fühlen des Menschen, über ihre bewusste und zielklar ausgerichtete Tätigkeit unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei. Und je weiter wir bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft fortschreiten, (. . .) um so mehr wachsen die Aufgaben auf theoretischem Gebiet, um so größeres Gewicht erhält die Massenwirksamkeit der sozialistischen Ideologie“531. Die sog. politische Arbeit als Gesamtbezeichnung für sämtliche politischideologischen Maßnahmen und Handlungen der verantwortlichen staatlichen Stellen der DDR hatte dementsprechend zum Hauptinhalt, allen Angehörigen der Armee stetig die marxistisch-leninistische Weltanschauung zu vermitteln, ohne deren Verinnerlichung „politisch-moralische Standhaftigkeit“ als nicht denkbar angesehen wurde532. Es galt in Übereinstimmung mit dieser Erkenntnis die Soldaten „im Geiste der Ideen des Marxismus-Leninismus zu bewussten Kämpfern für die Sache der Arbeiterklasse und des werktätigen Volkes, zur Liebe und Ergebenheit zu ihrem sozialistischen Vaterland und zur Partei der Arbeiterklasse“ zu erziehen533. Speziell in den Grenztruppen der DDR sollte es für die Vorgesetzten darum gehen, „die politischen Grundüberzeugungen zu fes529

Vgl. Forster, S. 267 ff. Rickert/Schmelzer/Luderfinger, Militärwesen 1/1975, 103 (103). 531 Hampf, Militärwesen 9/1976, 3 (5). 532 Schorat, Militärwesen 7/1977, 101 (101). 533 Autorenkollektiv, Militärlexikon, 1973, S. 296 (Stichwort „politische Arbeit in der Nationalen Volksarmee“). 530

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tigen, (den Soldaten) den Klassenauftrag zu erläutern, sie von der Notwendigkeit und Gerechtigkeit des Dienstes zum Schutz der Staatsgrenze zu überzeugen und ein hohes Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln“534. Die Leitfigur der sozialistischen Wehrerziehung stellte dabei die „sozialistische Soldatenpersönlichkeit“ dar, zu deren besonderen soldatischen Tugenden unter anderem „die Liebe zur marxistisch-leninistischen Partei“ und „die Liebe und Ergebenheit zum sozialistischen Staat“ gehörten535. Im Rahmen der Erziehung und Entwicklung entsprechender Persönlichkeiten erachtete es die politische Führung der DDR dabei für bedeutend, „die Verwirklichung der Einheit von Rationalem und Emotionalem im Prozeß der weltanschaulichen Erziehung und Bildung der Armeeangehörigen“, demnach die „harmonische Übereinstimmung von wissenschaftlicher Einsicht und entsprechenden Gefühlen“ zu fördern536. In den politischen Schulungen der Soldaten sollten getreu diesem Anliegen zur Gewährleistung einer stabilen politisch-ideologischen Haltung sämtlicher Armeeangehörigen und ihrer Bereitschaft, danach zu handeln, „Verstand und Gefühl gleichermaßen“ angesprochen werden537. Das erklärte Ziel in diesem Zusammenhang bestand darin, eine „bewusste emotionale Bindung an den Staat der Arbeiterklasse“, an das „sozialistische Vaterland“ herauszubilden538, die bei jedem einzelnen Soldaten dazu führen sollte, von der Verteidigungswürdigkeit des sozialistischen Vaterlandes überzeugt zu sein539, „sich mit dem sozialistischen Staat zu identifizieren und sich für sein Gedeihen voll verantwortlich zu fühlen“540. Im Folgenden sollen insbesondere zwei Mechanismen, derer sich die staatlichen Stellen zur Erreichung der genannten, von ihnen angestrebten Zielsetzungen bedienten, im einzelnen betrachtet werden: die gegenüber den Soldaten jederzeit erfolgte Feindbildvermittlung bezüglich des kapitalistischen Klassenfeindes sowie die Übertragung kriegsethischer Vorstellungen auf die außerkriegerische Situation an der innerdeutschen Grenze.

534 Dienstvorschrift (018/0/008) für die Grenztruppen aus dem Jahre 1985, zit. nach Hirtschulz/Lapp/Uxa, S. 177. 535 Rühmland, NVA, S. 193; s. ebenso Forster, S. 270; vgl. Blanke, Die politischideologische Bildung und Erziehung in der Nationalen Volksarmee. Zum Verhältnis von Militär, Partei und Gesellschaft in der DDR, 1975, S. 155; zu der Begrifflichkeit s. zudem Autorenkollektiv, Militärlexikon, S. 296 (Stichwort „sozialistische Soldatenpersönlichkeit“). 536 Friedrich, Militärwesen 9/1976, 47 (47). 537 Friedrich, Militärwesen 9/1976, 47 (47 u. 50). 538 Blanke, S. 155. 539 Vgl. Schlechte/Vogler, Wehrerziehung in der DDR. Materialien zur politischen Bildung, 1984, S. 35 (unter A. 2. 10.). 540 Hoffmann, Sozialistische Landesverteidigung. Aus Reden und Aufsätzen 1963 bis Februar 1970. Teil II, 1971, S. 619.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

aa) Vermittlung eines Feindbildes und Betonung der Notwendigkeit des Grenzdienstes Ein sehr wesentlicher Aspekt im Rahmen der politisch-ideologischen Beeinflussung der Soldaten und somit ihrer Bereitmachung für die tödlichen Schüsse an der Grenze ist das jederzeit verfolgte Bestreben der Partei- und Grenztruppenführung, den Soldaten ein Feindbild zu vermitteln, dessen Existenz ihr Dasein und ihr Handeln dem Anschein nach zwingend erforderlich machte. Auf den Umstand, dass die verantwortlichen Stellen der DDR dabei natürlich die Flüchtlinge selbst in erheblichem Maße zu Feindbildern stilisierten, wurde bereits hingewiesen541. Allerdings ließ man es keinesfalls bei diesem Vorgehen bewenden, sondern bezog den bundesrepublikanischen Klassenfeind, als dessen Verbündete bzw. Sympathisanten man die fluchtwilligen Menschen ansah, ein. Bereits im Jahre 1965 gab das „Taschenbuch für Wehrpflichtige“ diesbezüglich unmissverständlich zu verstehen: „Die zwei heute in Deutschland existierenden Staaten verkörpern die Tatsache, dass sich in Deutschland ein Häuflein Imperialisten und Militaristen einerseits und die große Masse der friedliebenden Kräfte in ganz Deutschland unversöhnlich gegenüberstehen: Der Bonner Staat ist das Machtinstrument der Imperialisten und Militaristen, der Feind der deutschen Nation; die DDR ist das Vaterland aller friedliebenden und fortschrittlichen Deutschen. Die Staatsgrenze zur westdeutschen Bundesrepublik (. . .) ist zugleich eine wichtige Scheidelinie zwischen Sozialismus und Imperialismus in Europa. Gleichzeitig verläuft mitten in der Deutschen Demokratischen Republik eine (. . .) Staatsgrenze rund um das besondere Territorium WestBerlin, das von den Imperialisten als Nato-Stützpunkt und Agentenzentrale ausgebaut wurde“542.

Die bereits im Hinblick auf die Flüchtlinge erörterte – durchaus als „HassErziehung zu bezeichnende – Feindbildvermittlung gegenüber den Grenzsoldaten sowie die mit diesem Gesichtspunkt zusammenhängende Erzeugung von Verteidigungsreflexen wurde demnach natürlich auch zu jeder Zeit auf den Klassenfeind hinter der Grenze bezogen. Ebenso unmissverständlich wird aus dieser, nach Ansicht der DDR-Machthaber bestehenden, außenpolitischen Lage im Schrifttum der DDR die Notwendigkeit einer militärischen Organisation, eben der Grenztruppen, zur Sicherung der eigenen Grenze gefolgert: „Die imperialistischen Kräfte versuchen, die Grenzen der sozialistischen Staaten systematisch zu durchlöchern und benutzen sie als Objekt von Provokationen. (. . .) Die sozialistischen Staaten müssen auch damit rechnen, dass ihre imperialistischen Gegner unmittelbar vor und bei Kriegsbeginn versuchen werden, subversive Kräfte massenweise unkontrolliert über die Staatsgrenzen einzuschleusen. (. . .) Sozialisti-

541 542

Drittes Kap. V. 2. b) cc). Taschenbuch für Wehrpflichtige, 1965, S. 191.

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sche Staaten wie die Deutsche Demokratische Republik, die eine der wichtigsten Grenzen zwischen Imperialismus und Sozialismus zu sichern hat, benötigen daher ein militärisch fest organisiertes System der Grenzsicherung, das Bestandteil der Landesverteidigung ist. (. . .) (Die Grenztruppen) tragen eine hohe Verantwortung für die Sicherheit in Europa“543.

Die Betonung der enormen Bedeutung des Dienstes der Grenztruppen und ihrer hohen sicherheitspolitischen Verantwortung wurde dabei von den Machthabern der DDR zu keiner Zeit vernachlässigt, sondern stets aufrechterhalten. So wurde auf einer militärwissenschaftlichen Konferenz im Jahre 1976 anlässlich des 30. Jahrestages der Grenztruppen von offizieller Seite verkündet, dass „Grenzdienst auch weiterhin ein besonders verantwortlicher Klassenauftrag der Arbeiterklasse und aller Werktätigen, Dienst zum Wohl des ganzen Volkes ist, der mehr denn je hohes Bewusstsein, einen klaren Klassenstandpunkt und selbstlosen Einsatz erfordert“544. Im Tagesbefehl des Ministers für Nationale Verteidigung zum 35. Jahrestag der Grenztruppen am 01. Dezember 1981 wird ausgeführt, dass die Opferbereitschaft und der hohe Einsatzwille der Soldaten „nicht wenig dazu beigetragen (hätten), dass unser Volk, dass unsere sozialistischen Nachbarn in Frieden leben können“545. In Anbetracht dieser Ausführungen erscheint es somit durchaus nicht unrealistisch, dass es in den Grenztruppen teilweise Tendenzen gab, sich als „Elite“ zu sehen546. Dieser Gesichtspunkt wird auch durch den ehemaligen Truppenangehörigen Ingolf Bossenz bestätigt, nach dessen Einschätzung die Grenzsoldaten zu einer „Eliteeinheit mit einer potentiellen ,licence to kill‘, einer Berechtigung zum Töten“ avanciert seien. Der Grund dafür liege in dem Umstand, dass den sehr jungen Soldaten „die Überzeugung indoktriniert wurde, sie hätten das Recht – das politisch und juristische, aber auch das moralische des „historisch Fortschrittlicheren“ – zu töten, wenn es die „höheren“ Interessen des Staates erfordern“547. bb) Übertragung kriegsethischer Vorstellungen auf die außerkriegerische Situation an der Grenze Die Erörterung der politisch-ideologischen Einflussnahme auf die Grenzsoldaten bedarf zudem der Einbeziehung eines weiteren Gesichtspunktes, der charakteristisch zu sein scheint für die Vorgehensweise der Machthaber in totalitären Staaten, sofern es um die Bereitmachung der Untergebenen zur Durch543 544 545 546 547

Autorenkollektiv, Das moderne Militärwesen, 1968, S. 385 f. Hanisch, Militärgeschichte 1/1977, 89 (91). Zit. nach Forster, S. 145. Auf diesen Aspekt weisen etwa Hirtschulz/Lapp/Uxa, S. 148 hin. Bossenz, DA 1993, 736 (738).

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

führung der von ihnen geplanten Verbrechen geht. Die Rede ist von der Übertragung kriegsethischer Vorstellungen auf außermilitärische und außerkriegerische Situationen. Den Grenzsoldaten wurde immer wieder zu verstehen gegeben, dass ihre Tätigkeit „Front- bzw. Gefechtsdienst im Frieden“ dargestellt habe548. Dieser Aspekt steht in engem Zusammenhang mit der bereits dargestellten Feindbildvermittlung und Hasserziehung – sei es bezüglich der Grenzflüchtlinge oder bezüglich des imperialistischen Klassenfeindes – seitens der Staatsführung der DDR. Mag es auch aus geschichtlicher Sicht nicht ungewöhnlich sein, den Feind im Krieg zu hassen bzw. ein solches Gefühl der eigenen Soldaten zu forcieren, so erscheint eine entsprechende staatliche Erziehung im Frieden an sich nicht unbedingt selbstverständlich549. Gegenüber den Grenzsoldaten jedoch wurde zum Ausdruck gebracht, dass sie angesichts der permanenten Bedrohung seitens der aggressiven Kräfte des Imperialismus nicht nur unter außergewöhnlichen Umständen, sondern bereits im täglichen Dienst an der Grenze eine opferbereite und heldenhafte Leistung vollbringen müssten und würden550. Ein Offizier der Grenztruppen gab im Jahre 1980 entsprechend zu verstehen: „Opferbereites Handeln ist die Meisterung der Schwierigkeiten tagtäglicher militärischer Pflichterfüllung. Gefahren für die Sicherheit der Staatsgrenze werden unter Einsatz des Lebens oder unter Risiko seines Verlustes abgewendet. (. . .) Das Heldentum in Friedenszeiten besteht gerade darin, die tagtäglichen Aufgaben des Grenzdienstes vorbildlich zu meistern“551.

Ebenso ist es in diesem Zusammenhang bezeichnend, wenn zum 35. Jahrestag seitens des Chefs der Grenztruppen hervorgehoben wird, dass „25 Grenzer (. . .) bei ihrer treuen Pflichterfüllung zum Schutz der Staatsgrenze und der Verteidigung dessen, was unseres Volkes Hände schufen, von den Feinden des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts meuchlings ermordet“ worden seien552. Insgesamt darf konstatiert werden, dass die Maßnahmen der politischen Führung der DDR als stets aufrechterhaltene „Vortäuschung einer Kampfsituation“ angesehen werden können und dass einem derartigen Aspekt bei der Beurtei-

548 Lapp, Frontdienst, S. 85; s. ebenfalls Hoffmann, Sozialistische Landesverteidigung. Aus Reden und Aufsätzen 1963 bis Februar 1970. Teil I, 1971, S. 286, der von „Frontdienst“ spricht sowie Baumgarten, Militärwesen 11/1981, 3 (7), der den Begriff „Gefechtsdienst“ verwendet. 549 Vgl. diesbezüglich Rautenberg, Heere international 1/1981, 214 (214 f.). 550 Auf den Umstand, dass dabei der „Angriff“ auf die Staatsgrenze natürlich nicht vom Gebiet der Bundesrepublik erfolgte, sondern aus dem eigenen Land, das man verteidigen zu müssen vorgab, weist u. a. Henke, FAZ v. 05. November 2002, S. L 24 hin. 551 Fünfstück, Militärwesen 11/1980, 30 (31 u. 34). 552 Baumgarten, Militärwesen 11/1981, 3 (5).

V. Erkenntnis des Verstoßes der tödlichen Schüsse

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lung des Unrechtsbewusstseins eines Handelnden durchaus Bedeutung beizumessen sein dürfte553. So wird in der Literatur zu bedenken gegeben, dass die entsprechende Politik der DDR-Staatsführung dazu geführt hätte, dass der am Verhandlungstisch mehr und mehr in den Hintergrund gedrängte Krieg „in die Herzen und Köpfe der Soldaten verlegt“ worden sei554. Das Vorgehen, mittels der Ausweitung von Begriffen und der Umdeutung von Tatsachen die staatlich initiierten Verbrechen zur soldatischen Pflichterfüllung umzudeuten, ist dabei auch ein aus der Zeit des NS-Staates nicht unbekanntes Mittel des totalitären Regimes, um potentielle Täter für die Ausführung des erwünschten Verhaltens zu gewinnen. So soll z. B. auch die Tätigkeit im Vernichtungslager Auschwitz durch Himmler als „Frontdienst“ bezeichnet555 und Angehörigen der SS in Konzentrationslagern bereits vor Ausbruch des Krieges mitgeteilt worden sein, dass sie „als einzige Soldaten auch in Friedenszeiten Tag und Nacht am Feind, am Feind hinter dem Draht“ stünden556. Sofern Gerhard Leibholz konstatiert, dass sich „ein totaler Staat (. . .) in einem Zustande der dauernden totalen Mobilmachung“ befinde557, so erscheint diese Erkenntnis zumindest auch für die Situation an der DDR-Grenze nicht unzutreffend. Den genannten Erkenntnissen entsprechend ist somit insgesamt zu konstatieren, dass die Angehörigen der Streitkräfte in der DDR in erheblichem Maße einer politisch-ideologisch Beeinflussung unterlagen und ihnen gegenüber der Glaube an die Autorität von Staat und Partei in besonderem Maße anerzogen wurde558. Es galt beständig, die „innere Bindung der Soldaten an das Staatsund Gesellschaftssystem der DDR zu vertiefen und zu festigen“559. Die politische Schulung der Soldaten war ein Hauptausbildungszweig in den Grenztruppen der DDR, innerhalb der sechsmonatigen Grundausbildung, die den eingezogenen Wehrpflichtigen zuteil wurde, machte sie sogar fast 50% der Unterrichtsstunden aus560, insgesamt dürfte sie etwa ein Viertel der gesamten Ausbildung eingenommen haben561. Natürlich erscheint auch diese Gegebenheit als sehr be553 s. Buchheim, Befehl und Gehorsam, in: Buchheim u. a., Anatomie des SS-Staates. Bd. I, 1965, S. 255 ff. (S. 336 f.), der dieses Instrument als durchaus geeignet ansieht, eine „Suspendierung“ des Unrechtsbewusstseins im Hinblick auf an sich anerkannte und im normalen Leben auch beachtete Normen für den Ausnahmefall zu bewirken. 554 Rautenberg, Heere international 1/1981, 214 (217). 555 s. Langbein, Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation. Bd. 1, 1965, der eine entsprechende Aussage eines der Angeklagten im Auschwitz-Prozess dokumentiert hat. 556 Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß, 1961, S. 56. 557 Leibholz, Das Phänomen des totalen Staates, in: Festschrift für H. Kraus, 1954, S. 156 ff. (S. 156). 558 So auch Roos, S. 271. 559 Blanke, S. 156. 560 Lapp, Frontdienst, S. 51.

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

deutsam im Rahmen der Urteilsbildung, ob die Soldaten tatsächlich erkannten, dass ihnen ihr Staat – als die für sie entscheidende Autorität – rechtliche Befugnisse einräumte, die als extremes Unrecht anzusehen waren. f) Bewertung Die unter dem Aspekt der Eliminierung oder Minimierung des Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten vorgenommenen Erörterungen zeigen auf, dass die DDR-Staatsführung jederzeit den Versuch unternommen hat, auf verschiedenen Wegen und mittels verschiedener Techniken das Rechtsbewusstsein der Soldaten an der Grenze in ihrem Sinne zu beeinflussen. Es wurde versucht, das in den Schüssen und Tötungen an der DDR-Grenze zum Ausdruck kommende Unrecht im subjektiven Erleben der Schützen in Recht zu verwandeln und die Handelnden somit für die entsprechenden Taten bereit zu machen. Zur Erreichung dieses Ziels setzte das Regime, wie aufgezeigt und erläutert, eine Vielzahl von Neutralisierungsmechanismen ein, die bei den Schützen einen Wirkungsverlust des auch von ihnen grundsätzlich internalisierten generellen Tötungsverbotes in der speziellen Situation an der Grenze bewirken sollten. Angesichts dieses Umstandes erscheint es in erheblichem Maße plausibel, dass die Schützen glaubten, nach den für sie relevanten Maßstäben zu tötungsgeeigneten Schüssen auf flüchtende Menschen berechtigt zu sein und in einem derartigen Handeln daher kein Unrecht sahen. Es ist somit davon auszugehen, dass die DDR-Grenzsoldaten zum Zeitpunkt ihrer tödlichen Schüsse auf die fliehenden Menschen nicht mit aktuellem Unrechtsbewusstsein handelten.

VI. Zusammenfassung Drittes Kapitel Das aktuelle Unrechtsbewusstsein ist das bei Tatbegehung tatsächlich gegebene Unrechtsbewusstsein eines Täters. Es ist somit im psychisch-intellektuellen Bereich anzusiedeln. Der BGH sah in den Fällen der „Mauerschützen“ ein entsprechendes Bewusstsein ohne nähere Begründung als nicht gegeben an, obwohl er im Rahmen der Rechtswidrigkeitserörterung zu dem Urteil gelangte, dass es sich bei den Schüssen an der DDR-Grenze um gesetzliches bzw. extremes Unrecht im Sinne Radbruchs handelte. Da ein derartiges Unrecht allerdings grundsätzlich als evidentes Unrecht angesehen werden muss, war der Begründbarkeit dieses Ergebnisses nachzugehen. Dabei wurde zunächst dargelegt, dass das Unrechtsbewusstsein eines Täters, da niemand wirklich wissen kann, wie der Bewusstseinsinhalt eines anderen Menschen tatsächlich beschaffen ist, kommunikativ über das Medium der Sprache sowie unter Einbeziehung spezifischer äußerlicher Kennzeichen der Tatbegehung festzusetzen ist. 561

Rühmland, NVA, S. 174.

VI. Zusammenfassung

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Der in diesem Zusammenhang erforderliche Bewusstseinsinhalt bemisst sich dabei nicht nach dem originären Wertgefühl des Menschen in Form seines Gewissens und ist somit nicht identisch mit einer ablehnenden Regung desselben. Die Geltung von Rechtsnormen und somit die Durchführung der in ihnen angedrohten Sanktionen kann sich nicht abhängig machen von dem Umstand, ob die einzelne Person die Norm in ihrem Gewissen anerkennt oder nicht. Daher kann es auch für die Existenz eines Unrechtsbewusstseins der DDR-Grenzsoldaten nicht entscheidend sein, dass sie möglicherweise zum Teil einen Widerspruch der Schüsse zu dem ihnen innewohnenden originären Wertgefühl empfanden, worauf verschiedene Äußerungen ehemaliger Grenzsoldaten hindeuten. Gegenstand und Inhalt des Unrechtsbewusstseins ist vielmehr die Rechtswidrigkeit des Handelns in Form der negativen Bewertung der Tat durch die Gesamtrechtsordnung. Entscheidend ist, dass der Handelnde erkennt, dass sein Tun einen Verstoß gegen die verbindliche materiale Wertordnung des Rechts darstellt. Er muss somit die Einsicht besessen haben, dass das, was er tut, rechtlich nicht erlaubt, sondern verboten ist. In den Fällen der Grenzschützen muss dabei unter der materialen Wertordnung die sich als Konsequenz aus dem Vorgehen innerhalb der Rechtswidrigkeitsfeststellung ergebende Situation verstanden werden, die gekennzeichnet ist durch die auch in der DDR zum Tatzeitpunkt uneingeschränkte Fortgeltung des generellen Tötungsverbots, insbesondere unter Außerachtlassung der dort existierenden Rechtfertigungsgründe. Das Vorliegen einer derartigen Erkenntnis unterliegt in den Fällen der DDRGrenzsoldaten vielfältigen Bedenken. Darüber kann auch nicht die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Tötungen der flüchtenden Menschen den – das ethische Minimum betreffenden – Kernbereich des Rechts tangierte. Die besondere Problematik der Erkenntnisgewinnung in den Fällen der Grenzsoldaten findet ihren Ursprung dabei in der sozialen Lebenswirklichkeit, aus der heraus sie ihre Taten begingen. Es handelte sich bei ihnen um Zugehörige einer fremden Staats- und Rechtsordnung mit der Konsequenz, dass von ihnen – trotz des Bestehens einer in weiten Teilen auch westlichen Anforderungen durchaus standhaltenden Gesamtrechtsordnung – ein Handeln nach zum Teil gänzlich anderen Wert- und Verhaltensmaßstäben eingefordert wurde, etwa stellte die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen in der DDR ein Rechtsgut von Verfassungsrang dar. Entsprechend dem sozialistischen Menschenbild galt es für die zur Norm erhobene „Sozialistische Persönlichkeit“ die Errungenschaften des Sozialismus zu verteidigen. Des Weiteren gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den tödlichen Schüssen an der Grenze um eine Erscheinungsform kollektiver Gewalt handelte, die seitens der damaligen Staatsführung erst ausgelöst wurde. Das Verhalten des individuellen Täters erscheint in diesem Zusammenhang als Teil eines kollektiven Aktionszusammenhangs und steht somit im Gegensatz zu der in der Kriminologie normalerweise herrschenden Sichtweise, dass straffälliges Han-

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3. Kap.: Das aktuelle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

deln abweichendes Verhalten darstellt, indem der Delinquent gegen die an ihn gerichteten Erwartungen und Normen handelt. Die Grenzsoldaten hingegen verhielten sich in dem für sie relevanten Bezugsfeld, insbesondere ihrer jeweiligen militärischen Einheit, durchaus konform. Zudem ist zu bedenken, dass es der einzelnen Person in einem totalitären System aufgrund des sozialpsychologischen Hintergrundes, den die entsprechenden Machthaber schaffen und ausnutzen, ohnehin besondere Probleme bereitet, sich rechtlich zu orientieren. Im Rahmen der Betrachtung der Gründe im einzelnen, die letztlich die Missachtung des generellen Tötungsverbotes durch die Grenzsoldaten herbeigeführt oder zumindest unterstützt haben könnten, ist zu berücksichtigen, dass das Regime der DDR auf verschiedenen Wegen und mittels verschiedener Techniken jederzeit versucht hat, das Rechtsbewusstsein der Soldaten in ihrem Sinne zu manipulieren. Der von der Staatsführung diesbezüglich gewählte Ansatz lässt sich dabei als „Eliminierung oder Minimierung des Unrechtsbewusstseins“ bezeichnen, worunter zu verstehen ist, dass im subjektiven Erleben des Handelnden Unrecht in Recht verwandelt wird. Die DDR-Staatsführung bediente sich zur Erreichung dieses Ziels zunächst der völligen Entrechtung der fluchtwilligen Menschen, in dessen Rahmen ihr Handeln kriminalisiert und sie selbst – gerade gegenüber den Grenzsoldaten – herabgewürdigt und zu Feinden stilisiert wurden. Die aufgeworfene Frage, ob sich den Soldaten nicht bereits anhand dieses Umgangs mit den fluchtwilligen Menschen – gerade unter Einbeziehung der nach Tötungen stattfindenden Geheimhaltungs- und Verschleierungsmaßnahmen der DDR-Behörden – das Unrecht ihres Tuns im Sinne eines „Entrechtungsbewusstseins“ erschließen musste, ist zu verneinen. Dabei ist unter anderem zu berücksichtigen, dass auch die Soldaten selbst von der politischen Verlogenheit der Staatsführung betroffen waren. Neben der absoluten Entrechtung der fluchtwilligen Menschen sind die Befehlslage an der Grenze sowie das Schusswaffengebrauchsrecht der DDR einzubeziehen. Die Befehlslage zeichnete sich insgesamt dadurch aus, dass die Grenzsoldaten durch oberflächliche Unterrichtung in Verbindung mit suggestiver Vergatterungspraxis beeinflusst wurden. Es galt die Maxime, dass kein Flüchtling durchkommen durfte und auch – wenn notwendig – mittels der Schusswaffe aufzuhalten war. Die entscheidende Vorschrift des Schusswaffengebrauchsrechts der DDR war die rechtsstaatlich klingende Norm des § 27 GrenzG/DDR, die den Soldaten als Grundlage des Schusswaffengebrauchs genannt wurde. Ihre Auslegung und Vermittlung war unter anderem geprägt durch das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit, nach dem die Gesetze der DDR in Übereinstimmung mit den Zielen der SED als führender Partei anzuwenden waren. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, ob die Grenzsoldaten zum Zeitpunkt ihres Handelns erkannten, dass der Vorschrift in ihrer – die tödlichen Schüsse rechtfertigenden – Auslegung wegen unerträglichen Widerspruchs zu

VI. Zusammenfassung

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Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit die Beachtung zu verweigern und sie stattdessen „menschenrechtsfreundlich“ anzuwenden war. Eine derartige Erkenntnis erscheint aufgrund des Bestehens verschiedener Hindernisse zu verneinen zu sein. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf das auch in der DDR ansonsten existierende grundsätzliche Tötungsverbot, die dort fehlende Strafverfolgung und durchgeführte Belobigung der Schützen sowie die zunehmend internationale Anerkennung der DDR zu verweisen. Der letzte aber ebenfalls sehr bedeutende Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Manipulation des Rechtsbewusstseins der Grenzsoldaten ist die politisch-ideologische Beeinflussung, die ihnen bei den Grenztruppen zuteil wurde. Sie war insbesondere geprägt durch die gegenüber den Soldaten erfolgte Vermittlung eines Feindbildes und der Betonung der daraus resultierenden zwingenden Notwendigkeit ihres Handelns. Insgesamt ist daher zu dem Schluss zu gelangen, dass davon auszugehen ist, dass die Grenzsoldaten zum Zeitpunkt ihrer Schüsse auf die flüchtenden Menschen nicht mit aktuellem Unrechtsbewusstsein handelten. Ein andersartiges Resultat erscheint angesichts der dargelegten Gesamtumstände des Grenzgeschehens nicht plausibel.

Viertes Kapitel

Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten Ist somit dargelegt, dass nach den Gesamtumständen des Geschehens an der Grenze nicht von einem aktuellen Unrechtsbewusstsein der betreffenden Soldaten zum Zeitpunkt ihrer tödlichen Schüsse auf die fliehenden Menschen auszugehen ist, bedarf es weitergehend der Erörterung, ob ihrerseits ein Handeln mit potentiellem Unrechtsbewusstsein anzunehmen ist.

I. Begriffsbestimmung Das potentielle Unrechtsbewusstsein bezeichnet das in der Person des Täters nicht vorhandene, aber ihm mögliche, das heißt von ihm erlangbare Unrechtsbewusstsein1. Es ist als gegeben anzusehen, sofern der Täter die Einsicht in das Unrecht seines Handelns bei pflichtgemäßer Sorgfalt, somit bei dem ihm zumutbaren Einsatz seiner Erkenntniskräfte und Wertvorstellungen, hätte gewinnen können2. Daraus folgt, dass das potentielle Unrechtsbewusstsein identisch ist mit der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums, mit der Fähigkeit des Täters zur Erkenntnis der ihn treffenden Rechtspflicht3. Die Würdigung einer entsprechenden Erkenntnismöglichkeit ist dabei nicht lediglich aufgrund eines psychischen Sachverhalts, wie er im Rahmen des aktuellen Unrechtsbewusstseins im Vordergrund stand, vorzunehmen, sondern bedarf, da ein Mindestmaß an Können normativ vorausgesetzt werden muss, primär einer Wertung darüber, dass der Täter in der betreffenden Situation die Unrechtseinsicht nach seinen Fähigkeiten hätte erlangen können4. Das potentielle Unrechtsbewusstsein eines Täters

1 Schmidhäuser, Strafrecht, S. 411; NK-Neumann, § 17 Rn. 53 bezeichnet es als vermeidbares Nichtbewusstsein des Unrechts. 2 BGHSt 21, 18 (20); vgl. Kienapfel, S. 265 u. 272; Wessels/Beulke, Rn. 429; s. auch Schmidhäuser, Über Aktualität und Potentialität des Unrechtsbewusstseins, in: Geerds/Naucke (Hrsg.), Festschrift für H. Mayer, S. 317 ff. (S. 319). 3 s. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 193. 4 Vgl. Maurach/Zipf, § 38 Rn. 6; vgl. Stratenwerth, Strafrecht, § 10 Rn. 92; NKNeumann, § 17 Rn. 55; Jescheck/Weigend, S. 458 (Fn. 23); s. insgesamt zu dem Verhältnis von psychologischen und normativen Elementen im Begriff der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums Timpe, GA 1984, 51 ff.

II. Das Unrechtsbewusstsein in der Rechtsprechung des BGH

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ist somit als „Produkt aus der faktischen Möglichkeit und der normativen Zumutbarkeit des Erkennens“ aufzufassen5.

II. Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-„Mauerschützen“ in der Rechtsprechung des BGH Der BGH nimmt in seinen zu der „Mauerschützen“-Problematik ergangenen Urteilen an, dass die Grenzsoldaten zum Zeitpunkt ihrer tödlichen Schüsse mit potentiellem Unrechtsbewusstsein handelten. Es wird somit davon ausgegangen, dass die Schützen die Einsicht in das Unrecht ihres Tuns bei der ihnen zumutbaren Sorgfalt hätten erlangen können, die vorliegende Nichtkenntnis für sie demnach vermeidbar war. 1. Die „Offensichtlichkeit“ im Rahmen des § 5 Abs. 1 WStG Zunächst sind in diesem Zusammenhang die gerichtlichen Ausführungen im Hinblick auf die einschlägige Vorschrift des § 5 Abs. 1 WStG von Bedeutung, in deren Rahmen der Täter, wie zuvor erwähnt, im Verhältnis zur allgemeinen Regelung des § 17 StGB begünstigt wird6. Die Begünstigung bezieht sich dabei nicht lediglich auf die Frage, nach welchen Maßstäben das Vorliegen eines aktuellen Unrechtsbewusstseins des Täters zu beurteilen ist, sondern auch auf die Frage, anhand welcher Kriterien ein potentielles Unrechtsbewusstsein, somit die Vermeidbarkeit der Unrechtsunkenntnis des Handelnden, anzunehmen ist7. Die Norm des § 5 Abs. 1 WStG erfordert, dass der Verstoß des erteilten Befehls gegen Strafgesetze nach den für den Täter erkennbaren Umständen „offensichtlich“ war. Der BGH hebt in seinen Urteilen diesbezüglich hervor, dass an die „Offensichtlichkeit“ i. S. d. § 5 Abs. 1 WStG aufgrund der Bedeutung der militärischen Disziplin sowie des durch einen Befehl ausgeübten Drucks auf den untergebenen Soldaten hohe Anforderungen zu stellen seien. Den Soldaten treffe keine Prüfungspflicht, er dürfe dem Befehl, sofern er unbehebbare Zweifel hege, folgen. Entscheidend für die Offensichtlichkeit sei, dass der Verstoß gegen Strafrechtgesetze „jenseits aller Zweifel“ liege8. Dies sei danach zu beurteilen, „ob der Verstoß gegen das Strafrecht derart auf der Hand lag, dass er für einen durchschnittlichen Soldaten mit dem Informationsstand des Angeklagten ohne weiteres Nachdenken und ohne weitere Erkundigungen einsichtig war“9. 5

LK-Schroeder, § 17 Rn. 27; NK-Neumann, § 17 Rn. 55. Vgl. Drittes Kap. IV. 1. 7 s. Miehe, S. 667. 8 BGHSt 39,1 (33) unter Verweis auf die Amtliche Begründung zum Entwurf des Soldatengesetzes (BT-Drucks. 2/1700, S. 21); BGHSt 39, 168 (189); so auch Schölz/ Lingens, § 5 Rn. 12. 6

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4. Kap.: Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Der BGH sieht diese Anforderung in den Fällen der Grenzsoldaten als erfüllt an. Zur Begründung wird in Anlehnung an die vorinstanziellen Ausführungen des Landgerichts Berlin auf das „Gebot der Menschlichkeit“ abgestellt, zu dem gehöre, dass auch der Straftäter ein Recht auf Leben habe. Es sei daher „ohne weiteres ersichtlich“ gewesen, dass der Staat nicht das Recht habe, einen Menschen, dessen Handeln andere nicht gefährdet habe, zur Verhinderung eines unerlaubten Grenzübertritts töten zu lassen10. Neben diesen Ausführungen lautet das Kernargument des Gerichts: „Gleichwohl ist der Jugendkammer darin zuzustimmen, dass die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun war, dass der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig, also offensichtlich war“11.

Zugleich nimmt der BGH an, dass die Herkunft und Erziehung der Soldaten ihnen „trotz politischer Indoktrination ausreichende Vorstellungen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit sowie davon, dass das Tötungsverbot zum Kernbereich der Ethik“ gehöre, vermittelt hätten12. 2. Kriterien innerhalb der Norm des § 17 StGB Neben den Erörterungen im Hinblick auf die Norm des § 5 Abs. 1 WStG ist auf die Argumentation des BGH bezüglich der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums der Grenzsoldaten nach § 17 S. 2 StGB einzugehen. Der BGH ist der Auffassung, dass der von ihm angenommene Irrtum der Soldaten, sie müssten einen Grenzverbrecher zur Verhinderung der Flucht auch dann, dem Befehl entsprechend, töten, wenn der Befehl rechtswidrig war13, von ihnen vermieden werden konnte. Zur Begründung dieses Standpunktes wird angeführt, dass „das Leben das höchste aller Rechtsgüter“ sei. Auch sei den Soldaten bei ihrer Schulung gesagt worden, dass Befehle, die gegen die Menschlichkeit verstießen, nicht befolgt zu werden bräuchten14. Des Weiteren begründe die „Offensichtlichkeit“ des Strafrechtsverstoßes regelmäßig auch die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums15.

9

BGHSt 39, 168 (189). BGHSt 39, 1 (33 f.); BGHSt 39, 168 (190); s. auch LG Berlin, NJ 1992, 419 (421). 11 BGHSt 39, 1 (34). 12 BGHSt 39, 168 (189). 13 s. diesbezüglich Drittes Kap. II. 2. 14 BGHSt 39, 1 (35). 15 BGHSt 39, 168 (191 f.). 10

II. Das Unrechtsbewusstsein in der Rechtsprechung des BGH

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3. Bewertung der gerichtlichen Argumentation Insgesamt wird anhand der gerichtlichen Argumentation deutlich, dass das potentielle Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten und somit die Schuldhaftigkeit ihres Handelns allein auf die Begründung gestützt wird, dass die tödlichen Schüsse an der Grenze einen elementaren Menschenrechtsverstoß darstellten und dass das sowohl ethisch als auch rechtlich begründete Tötungsverbot auch für sie evident und erkennbar war. Ein solches Vorgehen befindet sich im Einklang mit der zu einem früheren Zeitpunkt bereits angeführten Feststellung von Robert Alexy, dass „extremes Unrecht in aller Regel auch evidentes Unrecht ist“, das „häufig leichter zu erkennen (ist), als das Unrecht in gewöhnlichen Strafrechtsfällen“16. Trotz des Umstandes, dass sicherlich von der Richtigkeit dieses Standpunktes auszugehen ist, muss die Art und Weise, wie dieser Schluss in den Fällen der Grenzsoldaten von gerichtlicher Seite gezogen wurde, erheblichen Bedenken unterliegen. Der Ursprung dieser Bedenken liegt dabei in den Erwägungen, die zuvor im Rahmen der Ausführungen bezüglich des aktuellen Unrechtsbewusstseins der Täter getroffen wurden. Gerade die aufgezeigte soziale Lebenswirklichkeit der Schützen in der DDR, geprägt durch den Versuch der Staatsführung, ihr Unrechtsbewusstsein hinsichtlich der Abgabe von tötungsgeeigneten Schüssen auf fliehende Mitbürger zu minimieren bzw. zu eliminieren, lässt eine allzu rasche Bejahung eines potentiellen Unrechtsbewusstseins der Soldaten trotz der Verwirklichung extremen Unrechts als äußerst zweifelhaft erscheinen. Klaus Adomeit formuliert in diesem Zusammenhang: „Auch die Begründungen zur Schuld, insbesondere zur Entschuldbarkeit des Verbotsirrtums haben Philosophie in sich, nicht nur wie eigentlich alle Fragen zu ,Schuld und Sühne‘, sondern in neuartiger Weise bei Tätern, die wegen ihrer Taten von dem Staat, nach dessen Gesetzen sie bestraft werden sollen, belobigt und vielleicht sogar befördert worden waren“17.

Im Folgenden bedarf das potentielle Unrechtsbewusstsein der Schützen daher einer intensiveren Würdigung. Dabei soll, wie auch im Rahmen der Erörterungen bezüglich des aktuellen Unrechtsbewusstseins, auf den in § 17 StGB normierten niedrigeren Maßstab abgestellt werden18. Denn hier ist ebenfalls anzunehmen, dass einem Soldaten, dem bereits kein potentielles Unrechtsbewusstsein nach den Maßstäben des § 17 StGB vorgeworfen werden kann, ein solcher Vorwurf erst recht nicht im Rahmen des § 5 Abs. 1 WStG gemacht werden kann.

16 17 18

Drittes Kap. II. 3. Adomeit, NJW 1993, 2914 (2914). Vgl. Drittes Kap. IV. 1.

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4. Kap.: Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

III. Die Vermeidbarkeitskriterien des Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 StGB Zunächst ist es notwendig, sich die Kriterien zu vergegenwärtigen, nach denen die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 StGB in Rechtsprechung und Wissenschaft üblicherweise beurteilt wird. Dabei sei an dieser Stelle angemerkt, dass der BGH die in diesem Zusammenhang ansonsten als relevant angesehenen Gesichtspunkte in seinen „Mauerschützen“-Urteilen, indem praktisch allein auf das Vorliegen eines elementaren Menschenrechtsverstoßes abgestellt wird, augenscheinlich vernachlässigt. Dieses Vorgehen erscheint allerdings problematisch, da fraglich ist, warum die grundsätzlich zu § 17 StGB entwickelten Kriterien in den Fällen der an der Grenze handelnden Soldaten, trotz Einschlägigkeit der Norm, als unmaßgeblich anzusehen sein sollen. Es ist im Gegenteil in Übereinstimmung mit Herwig Roggemann zu konstatieren, dass es als unzulässige Schlechterstellung angesehen werden muss, „die Maßstäbe für die (Un-)Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums über die Rechtswirksamkeit von Schusswaffengebrauchsvorschriften und Befehlen aufgrund von DDR-Recht nachträglich und über die entsprechende Rechtspraxis früheren Bundesrechts hinausgehend höher anzusetzen“19. Daher ist zu erörtern, ob die Feststellung eines potentiellen Unrechtsbewusstseins der handelnden Grenzsoldaten auch unter Berücksichtigung der Maßstäbe der üblichen, die Norm des § 17 StGB betreffenden, Rechtspraxis tatsächlich möglich ist. Der BGH beurteilte die Vermeidbarkeit einer Unrechtsunkenntnis ursprünglich danach, ob der Täter den Unrechtscharakter seines Handelns „bei der ihm zumutbaren Anspannung des Gewissens hätte erkennen können“20. Entsprechend sollte ein Verbotsirrtum für den Täter nicht zu vermeiden gewesen sein, wenn er „trotz der ihm (. . .) zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige seines Tuns nicht zu gewinnen vermochte“21. Allerdings erwies sich dieses Kriterium als wenig geeignet, die in diesem Zusammenhang notwendigen Anforderungen hinreichend zu erfassen, insbesondere musste es im Bereich des Nebenstrafrechtes, somit in jenem Bereich, der nicht den Kernbereich sittlicher Bewertungsnormen berührte, als unzulänglich angesehen werden22. Gleiches gilt im Falle des Überzeugungstäters23. 19

Roggemann, DtZ 1993, 10 (19). BGHSt 2, 194 (209 u. 201). 21 BGHSt 2, 194 (201). 22 Vgl. Schönke/Schröder-Cramer, § 17 Rn. 15 mit der Begründung, dass ansonsten von dem Vorhandensein eines untrüglichen und den Maßstäben der Rechtsgemeinschaft entsprechenden Wertbewusstseins im Täter ausgegangen werden müsste, von dem bei der Weitläufigkeit strafrechtlicher Bezüge in allen Lebensbereichen keine Rede sein könne; vgl. Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 45; Stratenwerth, Strafrecht, § 10 Rn. 82; nach Baumann/Weber/Mitsch, § 27 II 3 sagt „das Gewissen (. . .) zu schwierigen Rechtsfragen gar nichts“. 20

III. Die Vermeidbarkeitskriterien des Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 StGB

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In einem späteren Urteil des BGH wurden dann auch die letztlich tatsächlich angemessenen Mittel zur Kenntniserlangung des Unrechts in aller Deutlichkeit hervorgehoben: „Nachdenken oder Erkundigen“. Mit der „Anspannung des Gewissens“ sei nicht eine solche im engeren Sinne gemeint, sondern es sei gemeint, „dass der Täter verpflichtet sei, alle seine geistigen Erkenntniskräfte und alle seine sittlichen Wertvorstellungen einzusetzen, wenn es gilt, sich über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens ein Urteil zu bilden“24. Das Maß des zu verlangenden Einsatzes der entsprechenden Erkenntniskräfte ist dabei „unter Berücksichtigung der gerade dem Handelnden eigenen Gaben, Fähigkeiten und Einsichten zu bestimmen“25. Die Vermeidbarkeit einer Verbotsunkenntnis und somit das potentielle Unrechtsbewusstsein eines Täters ist in Anlehnung an die vorherigen Ausführungen anhand der nachfolgenden Voraussetzungen zu beurteilen. 1. Anlass der Vergewisserung Zunächst muss der Handelnde überhaupt einen konkreten Anlass gehabt haben, sich über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens Gedanken zu machen oder sich zu informieren, er muss einen intellektuellen Impuls zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens verspürt haben26. Diese Grundvoraussetzung 23 s. diesbezüglich Mattil, ZStW 74 (1962), 201 (215 f.) mit dem Hinweis, dass das Charakteristikum des Überzeugungstäters ja gerade darin bestehe, dass er seiner Überzeugung, seinem Gewissen folge; ähnlich auch Maurach/Zipf, § 38 Rn. 35. 24 BGHSt 4, 1 (5); die Mittel des Nachdenkens oder Erkundigens wurden durch den BGH zwar auch bereits in dem Urteil BGHSt 2, 194 (201) „in seltsamer Verquickung mit der Gewissensanspannung“ (Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 45) erwähnt, jedoch im Gegensatz zu letzterer eher andeutungsweise. 25 BGHSt 3, 357 (366); s. zudem die ebenfalls individualisierende Beurteilung in BGH, NJW 1962, 1831 (1832) u. KG, NJW 1958, 921 ff.; insgesamt allerdings wird die Frage, ob das Urteil über die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums anhand des genannten subjektiven, auf die individuellen Fähigkeiten des Täters abstellenden, oder aber anhand eines objektiven, generalisierenden Maßstabes zu beurteilen ist, nicht einheitlich beantwortet; eine generalisierende Beurteilung legen u. a. BGHSt 9,164 (172) sowie OLG Köln, GA 1956, 326 (327 f.) zugrunde; s. zu dem Problemkreis insgesamt auch NK-Neumann, § 17 Rn. 58. 26 So Schünemann, NJW 1980, 735 (741); SK-Rudolphi, § 17 Rn. 30 u. 31; Schönke/Schröder-Cramer, § 17 Rn. 16; in diesem Lösungsansatz ist der Mittelweg zu sehen zwischen den in diesem Aspekt bestehenden grundlegend unterschiedlichen Positionen; nach Ansicht des BGH habe der Mensch ein jedes Handeln zuvor auf seine mögliche Rechtswidrigkeit hin zu überprüfen, er habe „bei allem, was er zu tun im Begriffe steht, sich bewusst zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht“ (BGHSt 2, 201 ff.). Dieser Ansatz wird weitgehend abgelehnt, da er eine unrealistische – das Sozialleben lähmende – allgemeine Pflicht zur Rechtssorgfalt einfordere, vgl. etwa Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 52; die genaue Gegenposition vertritt Eckhard Horn, indem er auf das Bewusstsein der Möglichkeit der Rechtswidrigkeit abstellt. Es bedürfe „zumindest des unspezifischen Zweifels, damit Anlass zu

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4. Kap.: Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

erfordert die „Kenntnis des Täters von Umständen (. . .), die in irgendeiner Form einem verantwortungsbewussten Menschen hinreichender Grund gewesen wären, die rechtliche Qualität seines Verhaltens zu klären“27. Neben weiteren Gegebenheiten wird ein entsprechender Umstand unter anderem in dem Bewusstsein des Handelnden gesehen, dass sein Verhalten ein Rechtsgut verletzt und es somit dem einzelnen oder der Allgemeinheit Schaden zufügt28. Diesem Aspekt liegt der Gedanke zugrunde, dass von einem Täter, der gegen grundlegende soziale Normen oder gegen die Sittenordnung verstößt, angesichts der in weiten Bereichen bestehenden faktischen Übereinstimmung von sozialethischen und strafrechtlichen Normen erwartet werden darf, über die rechtliche Qualität seines Handelns zu reflektieren29. Das Landgericht Berlin sieht einen entsprechenden Impuls für die Grenzsoldaten zur Überprüfung der rechtlichen Qualität ihres Handelns in dem Umstand, dass an hohen Staatsfeiertagen und bei Besuchen ausländischer Gäste die Schusswaffe mit Ausnahme von Fahnenflucht und Notwehr nicht benutzt werden durfte. Es habe hier Anlass bestanden, „darüber nachzudenken, warum der Schusswaffengebrauch in diesen Fällen eigentlich eingeschränkt war“30. Angesichts der Tatsache, dass neben diesem Aspekt an der Grenze ansonsten Menschen erschossen wurden, die lediglich ohne Gefährdung anderer das Land verlassen wollten und mit deren Leben somit vielfach das höchste aller Rechtsgüter ausgelöscht wurde, dürfte ein Anlass zur Reflexion über das eigene Handeln tatsächlich anzunehmen sein. Ein entsprechender Anlass, sich über das eigene Verhalten Gedanken zu machen, dürfte zudem in dem unter den Grenzsoldaten weitgehend gehegten Wunsch zu sehen sein, ihren Grenzdienst „mit weißen Handschuhen“ absolvieren zu können und somit keinen Gebrauch von ihrer Schusswaffe machen zu müssen. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls auf den bereits genannten Umstand zu verweisen, dass bei einem Teil der Grenzsoldaten durchaus eine ablehnende Gewissensregung im Hinblick auf ihr Handeln vorhanden gewesen zu sein scheint31. Auch in einer ablehnenden Regung des Gewissens ist ein entspreNormerkundigungshandlungen besteht“, s. Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit, 1969, S. 105. Auch diese Annahme unterliegt zu Recht der Kritik, da zum einen bei Unrechtszweifeln bereits ein bedingtes Unrechtsbewusstsein vorliegen wird, das zumeist bereits der Annahme des Verbotsirrtums entgegensteht, zum anderen würde der indifferente Täter privilegiert, dem bereits die zur Vermeidbarkeit erforderlichen geringfügigen Unrechtszweifel fehlen, vgl. auch Rudolphi, Das virtuelle Unrechtsbewusstsein, S. 19. 27 OLG Düsseldorf, NStZ 1981, 444; ebenso SK-Rudolphi, § 17 Rn. 31. 28 s. Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 54; vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 63. 29 s. Neumann, JuS 1993, 793 (798); vgl. zudem die Ausführungen Drittes Kap. IV. 2. b) aa). 30 LG Berlin, NJ 1992, 269 (272). 31 Dritter Teil IV. 2. a) bb).

III. Die Vermeidbarkeitskriterien des Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 StGB

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chender Anlass für den Handelnden zu sehen, sich über die rechtliche Bewertung seines Handelns Gedanken zu machen32. 2. Die real aufweisbare Möglichkeit zur Erkenntnis der Rechtswidrigkeit Neben dem Anlass zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Handelns muss für den Täter eine real aufweisbare Möglichkeit bestanden haben, im Wege des Einsatzes der genannten Erkenntniskräfte die Einsicht in die Unrechtmäßigkeit seines Tuns gewinnen zu können33. a) Eigenes Nachdenken Somit ist anfänglich der Frage nachzugehen, ob sich die DDR-Grenzsoldaten das Unrecht ihres Handelns anhand des primären Mittels der Erkenntnisgewinnung erschließen konnten: durch eigenes Nachdenken. Dies wäre nach den bisherigen Ausführungen anzunehmen, sofern sie selbst durch den Einsatz all ihrer geistigen Erkenntniskräfte und rechtlichen Wertvorstellungen die Rechtswidrigkeit ihrer tödlichen Schüsse an der Grenze erkennen konnten. Die Beurteilung der Frage, ob dem einzelnen Täter die Möglichkeit einer derartigen Erkenntnis gegeben war, erfordert von richterlicher Seite, da, wie bereits dargelegt, auf die dem Täter individuell gegebenen Fähigkeiten abzustellen ist34, ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen. Der Richter muss sich in die Person des Handelnden hineinversetzen und sich ein Bild machen über dessen Wissensstand, Wertvorstellungen und geistigen Erkenntniskräfte, um beurteilen zu können, ob ein Mensch gerade wie dieser Täter, im Rahmen der vorliegenden Erörterungen somit wie der jeweilige „Mauerschütze“, fähig war, durch eigenes Nachdenken das Unrecht seines Handelns zu erkennen35. Als aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind neben weiteren Aspekten etwa das Elternhaus, die Erziehung, die Schulbildung, die Berufsausbildung sowie die soziale Stellung des Täters in der Gemeinschaft anzusehen36. An dieser Stelle seien die vorherigen Ausführungen hinsichtlich der sozialen Lebenswirklichkeit der Grenzsoldaten und der seitens der Staatsführung fortwährend angestrebten Minimierung bzw. Eliminierung ihres Unrechtsbewusstseins in Erinnerung gerufen37. Ebenso wurde bereits zu einem früheren Zeit32

Vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 57 sowie SK-Rudolphi, § 17 Rn. 32. Vgl. SK-Rudolphi, § 17 Rn. 30; Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 193 ff.; NKNeumann, § 17 Rn. 62. 34 s. Viertes Kap. III. 35 Vgl. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 205. 36 s. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 205. 37 Drittes Kap. V. 1. u. 2. 33

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punkt auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich – aufgrund der Einmaligkeit der zugrunde liegenden historischen Situation – für einen bundesdeutschen Richter notwendig im Rahmen des Hineinversetzens in die Personen der an der DDR-Grenze handelnden Soldaten ergeben müssen38. Um die Fragestellung, ob ein Täter seine Unrechtsunkenntnis tatsächlich mittels eigenen Nachdenkens hätte verhindern können, insgesamt angemessen beantworten zu können, empfiehlt es sich, nach den verschiedenen Erscheinungsformen des Verbotsirrtums, somit genauestens danach zu differenzieren, worin die mangelhafte Unrechtskenntnis des Täters begründet liegt39. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Ursprung für die Verbotsunkenntnis der Grenzsoldaten in der Annahme eines nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes für ihr Handeln, sei es in Form eines rechtswidrigen Befehls oder in Form der – gesetzliches Unrecht darstellenden – Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR, zu sehen ist40. Natürlich wird die Existenz dieser vermeintlich bestehenden Rechtfertigungsgründe als Hindernis für den erforderlichen Erkenntnisprozess der Schützen angesehen werden müssen. Insbesondere im Zusammenhang mit der Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR wird zu hinterfragen sein, ob dem einzelnen Grenzsoldaten tatsächlich die geistigen Fähigkeiten gegeben waren, allein im Wege eigener Reflexion die Ungültigkeit dieses – ihnen als rechtliche Grundlage des Handelns an der Grenze vermittelten – Erlaubnissatzes zu erkennen. Die Rechtsprechung hegt bezüglich dieses Gesichtspunktes offenbar keinerlei Zweifel. Das Kammergericht Berlin etwa führt in seinem Beschluss vom 19. Juli 1991 aus, dass die Erkenntnis, das Handeln an der deutschdeutschen Grenze in Form der tötungsgeeigneten Schüsse sei Unrecht gewesen, „Allgemeingut bei den Soldaten und ihren Vorgesetzten“ gewesen sei oder „jedenfalls bei entsprechender Anspannung des Gewissens hätte sein müssen“41. Auch in dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. Januar 1992, dem ersten Urteil gegen „Mauerschützen“ überhaupt, ist zu lesen: „Das tötungsgeeignete Schießen auf Menschen, die lediglich das Gebiet der ehem. DDR verlassen wollten, verstößt derart gegen die Normen der Ethik und des menschlichen Zusammenlebens, dass sich, auch unter Berücksichtigung der Indoktrination, Erziehung und Schulung in der ehem. DDR, schlechterdings nicht vorstellen lässt, dass sich der Angeklagte unter Berücksichtigung seiner Herkunft, seiner schulischen Bildung und seiner Persönlichkeit bei dem ihm zur Last gelegten Vorgehen gegen die Flüchtenden in einem die Schuld ausschließenden Verbotsirrtum befunden hat. Es ist bei dem Angekl. nicht davon auszugehen, dass er die wenigen, für das menschliche Zusammenleben unentbehrlichen Grundsätze, die zu dem unantastbaren 38

s. diesbezüglich Drittes Kap. III. 2. s. hierzu Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 227 mit dem Hinweis, dass die Einsicht des Unrechts dem Täter je nach Erscheinungsform seines Verbotsirrtums unterschiedliche Überlegungen und Schlussfolgerungen abverlangt. 40 Vgl. Drittes Kap. II. 1. u. 2. 41 KG, NJW 1991, 2656. 39

III. Die Vermeidbarkeitskriterien des Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 StGB

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Grundstock und Kernbereich des Rechts gehören, wie er im Rechtsbewusstein aller Kulturvölker lebt, nicht habe erkennen können, etwa weil er in ihnen nicht herangebildet worden wäre. Auch in der ehem. DDR wurden Gerechtigkeit und Menschlichkeit als Ideale erläutert und dargestellt. (. . .) Die Erkenntnis, dass tödliche Schüsse an der Grenze krasses Unrecht waren und in eklatantem Widerspruch zu den allgemein anerkannten Grundsätzen von Recht und Gerechtigkeit standen, hätten bei entsprechender Gewissensanspannung bei den Grenzsoldaten und ihren Vorgesetzten Allgemeingut sein müssen und können“42.

Auf den Umstand, dass entsprechende Ausführungen auch die Rechtsprechung des BGH tragen, indem auf das „Gebot der Menschlichkeit“, auf „ausreichende Vorstellungen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit“, auf den „Kernbereich der Ethik“ sowie das Leben als „das höchste aller Rechtsgüter“ abgestellt wird, wurde bereits hingewiesen43. Unverkennbar bilden die derartigen Erwägungen des BGH den Brückenschlag zu seiner Argumentation innerhalb des Rechtswidrigkeitsurteils, das letztlich, wie gesehen, unter Rückgriff auf naturrechtliche Gerechtigkeitsmaßstäbe gefällt wurde44. Es wird die Möglichkeit des einzelnen Grenzsoldaten vorausgesetzt, sich anhand eigenen Nachdenkens einen bestimmten Bereich der Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit und somit der auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen erschließen zu können. In diesem Zusammenhang ist allerdings wiederum auf den bereits hervorgehobenen Umstand zu verweisen, dass der Täter die im Rahmen des Rechtswidrigkeitsurteils vorgenommene objektive Bewertung seines Tuns in subjektiver Hinsicht nachvollziehen muss und sich daher die für die Rechtswidrigkeit des Grenzgeschehens charakteristischen Probleme erneut im Rahmen der Würdigung des Unrechtsbewusstseins der handelnden Soldaten wiederholen45. Aus diesem Grund gerät erneut die für das aktuelle Unrechtsbewusstsein bedeutsame Notwendigkeit in den Blick, dass die schießenden Soldaten nicht lediglich erkannt haben mussten, dass ihr Handeln den Grundgedanken von Gerechtigkeit und Menschlichkeit widersprach, sondern dass die Norm des § 27 GrenzG/DDR gerade wegen dieses Widerspruchs, wegen ihres Charakters als extremes Unrecht, als unbeachtlich anzusehen war46. Auch innerhalb der Würdigung des potentiellen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten ist dementsprechend nicht entscheidend, ob sie den Widerspruch ihres Handelns zu den Geboten der Menschlichkeit hätten erkennen und es in Einklang mit dieser Erkenntnis als „unmoralisch“ oder „unmenschlich“ hätten ansehen können, sondern ob sie hätten einsehen müssen, dass die Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR eben 42 43 44 45 46

LG Berlin, NJ 1992, 269 (272). Viertes Kap. II. 1. u. 2. s. Erstes Kap. II. s. diesbezüglich Drittes Kap. V. 2. d) bb) (4) (a). Vgl. hierzu Drittes Kap. V. 2. d) bb) (4) (a).

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wegen dieses Widerspruchs – wegen der Verletzung überpositiven Rechts und der Menschenrechte – als unbeachtlich angesehen werden musste47. Diesbezüglich wären wiederum die Grundvoraussetzungen notwendig, dass die Schützen hätten einsehen müssen, dass zum einen überhaupt die Möglichkeit besteht, einer Rechtsvorschrift in bestimmten Fällen – entgegen dem Gedanken der Rechtssicherheit – unter Rückgriff auf rechtsphilosophisches Gedankengut die Beachtung zu verweigern48 und zum anderen ihr Handeln bzw. die ihrem Handeln zugrunde liegende Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR den im Rahmen der Radbruchschen Formel notwendigen unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit darstellte und somit nicht lediglich als Unrecht, sondern eben als extremes Unrecht einzustufen war. Es hätte hierfür wiederum einer – grundsätzlich für die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein eines Täters nicht entscheidenden – moralischen Urteilsbildung der Grenzsoldaten bedurft mit dem Ergebnis, dass die Rechtfertigungsnorm des § 27 GrenzG/DDR extremes Unrecht darstellte und daher nichtig war. Dass die Grenzsoldaten sich ein derartiges Urteil hätten bilden können, muss erheblichen Bedenken unterliegen. Robert Alexy ist diesbezüglich unter Hinweis auf die besonderen Lebensumstände der Schützen der Ansicht, es spreche vieles dafür, „dass eine (. . .) moralische Blindheit bei zahlreichen jungen Grenzsoldaten vorlag und für sie unvermeidbar war“49. Hinsichtlich der in diesem Zusammenhang bestehenden Rückwirkungsproblematik ist weiterhin die Erörterung der Frage bedeutsam, ob die Soldaten hätten erkennen müssen, dass sie für ihr Handeln nicht diejenige Auslegung des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR als verbindlich ansehen mussten, die in der politischen und sozialen Wirklichkeit ihres täglichen Grenzdienstes Ausdruck fand, sondern eine solche „menschenrechtsfreundlicher“ Art, die westlichen Ansichten entsprach. Liegen die erläuterten Voraussetzungen, deren Annahme, wie im Rahmen des aktuellen Unrechtsbewusstseins erläutert, erheblichen Zweifeln unterliegt, dagegen nicht vor, so müsste die Konsequenz folgendermaßen lauten: „Wenn ein Mauerschütze im Einzelfall der felsenfesten Überzeugung war, dass das Recht, das er anwendet, z. B. das Grenzgesetz, richtiges Recht war, so würde er nach 47

So auch Miehe, S. 665; vgl. Günther, StV 1993, 18 (24). s. bezüglich dieses Aspektes auch Wesel, S. 37 ff., der im Hinblick auf das zuvor genannte Urteil des Landgerichts Berlin, NJ 1992, 269 ff., zu bedenken gibt, dass das, „was ein 53 Jahre alter und ausgewachsener Professor im Jahre 1932 noch nicht ahnen konnte, (. . .) ein 24 Jahre alter Grenzsoldat der DDR im Jahre 1984“ habe wissen müssen. 49 Alexy, Mauerschützen, S. 37; s. ebenfalls Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln. Eine Untersuchung zur Funktion von „Juristenphilosophie“, 1998, S. 241, der in diesem Zusammenhang der Auffassung ist, dass Alexy „die Wahrscheinlichkeit seinerzeit weitverbreiteter, unvermeidbarer moralischer Blindheit überzeugend“ zu begründen vermag. 48

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dem StGB einem nicht vermeidbaren Verbotsirrtum unterliegen und würde nicht bestraft“50. Die genannten Zweifel vermag dabei auch eine Einbeziehung der Argumente, mit denen die Gerichte ihre Überzeugung, dass die Soldaten ihre Unrechtsunkenntnis vermeiden konnten, zu begründen versuchen, nicht ausräumen zu können. Die erstinstanzlichen Gerichte verweisen zur Begründung ihres Standpunktes insbesondere auf diejenigen äußeren Umstände des Tatgeschehens, die bereits im Rahmen des aktuellen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten Gegenstand der Erörterungen waren: „die weitgehende Geheimhaltung der tödlichen Zwischenfälle, die Verwischung der Spuren und die anschließende Versetzung der Beteiligten sowie die offenbar weit verbreitete Angst vor der Erfassung der Vorfälle in Salzgitter“51. Auch wird auf die lediglich eingeschränkte Handhabung des Schießbefehls bei hohen Staatsfeiertagen und Besuchen ausländischer Staatsgäste verwiesen, die Anlass dafür geboten habe, darüber nachzudenken, warum diese Praxis der DDR eigentlich bestand52. Zur Darlegung der hier vertretenen Ansicht, dass die genannten Begleitumstände des Geschehens dabei keineswegs zwingend auf ein potentielles Unrechtsbewusstsein der Schützen schließen lassen, ebenso wenig wie dies hinsichtlich des aktuellen Unrechtsbewusstsein der Fall war, ist auf die bereits an dortiger Stelle getroffenen Erwägungen zu verweisen53. Zudem ist erneut auf die in der DDR existierende, scheinbar weitestgehend durchaus westlichen Anforderungen entsprechende und ein grundsätzliches Tötungsverbot enthaltende Rechtsordnung zu verweisen sowie das Bestreben des Regimes, die Fluchtversuche als ein seltenes Verhalten einer mit dem Klassenfeind sympathisierenden Randgruppe darzustellen. Zudem ist im Hinblick auf den Umstand, dass die Staatsführung der DDR die ansonsten jederzeit vermittelten Gebote der Gerechtigkeit und Menschlichkeit bezüglich der Grenzflüchtlinge für unbeachtlich erklärte, wiederum zu betonen, dass der Staat der DDR einschließlich seiner Sichtweise des Flüchtlingsproblems jedoch zum Zeitpunkt der Taten das für die Grenzsoldaten relevante System gewesen sein musste, an dessen Forderungen sie ihr Verhalten ausrichteten. Des Weiteren gilt es zu bedenken, dass den Soldaten, dies wurde bei der Erörterung ihrer politisch-ideologischen Beeinflussung seitens der Staatsführung bereits dargelegt, der Glaube an die Autorität von Staat und Partei anerzogen wurde54, getreu dem Motto: „Die Partei hat immer Recht!“55. Aus diesem 50 51 52 53 54 55

Wilms/Ziemske, ZRP 1994, 170 (172). KG, NJW 1991, 2656; s. zudem LG Berlin, NJ 1992, 269 (272). LG Berlin, NJ 1992, 269 (272). Drittes Kap. V. 2. b) dd) (1). Vgl. diesbezüglich Drittes Kap. V. 2. e). Vgl. Roos, S. 271.

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4. Kap.: Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Grund ist – gerade im Hinblick auf das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG – in die Überlegungen einzubeziehen, inwieweit ihr Vertrauen auf die Gültigkeit der ihnen als rechtliche Grundlage des Grenzhandelns vermittelten staatlichen Erlaubnissätze, als schutzwürdig anzuerkennen ist. Es ist fraglich, ob von den Schützen tatsächlich erwartet werden konnte, einzusehen, dass ihnen ihr eigener Staat, dessen Grenzen sie schützten, rechtliche Befugnisse einräumte, die zumindest teilweise als der Gerechtigkeit und Menschlichkeit in so grobem Maße widersprechend anzusehen waren, dass ihnen die Beachtung zu verweigern war. Denn immerhin ging es um den Schutz der Grenze ihres Staates gegen die nach Angaben des stellvertretenden Chefs der Grenztruppen und Chefs der politischen Verwaltung Generalleutnant G. Lorenz „an Gefährlichkeit und Heimtücke zunehmenden und mit einer skrupellosen Hetze gegen die DDR und die Grenztruppen verbundenen provokatorischen Anschläge“ des imperialistischen Klassenfeindes56. Eine Überprüfung der staatlichen Gesetze auf ihre Gültigkeit, so führt HansJoachim Rudolphi aus, sei dem Täter – begründet in der Vermutung einer gesteigerten Fähigkeit des Gesetzgebers zu sachlich richtigen Entscheidungen sowie des Gebots der Rechtssicherheit – grundsätzlich nicht zuzumuten und damit ein strafrechtlich relevanter Schuldvorwurf überall dort nicht mehr zu erheben, „wo der Täter eine rechtswidrige Tat im Vertrauen auf die Gültigkeit eines gesetzlichen Erlaubnissatzes begangen hat“; einschränkend fügt er allerdings sogleich hinzu, dass eine Ausnahme gegeben sei, sofern „gesetzliches Unrecht“ vorliege, da in diesen Fällen auch die besonderen Qualifikationen und die Autorität des Gesetzgebers keine Gewähr für die Gültigkeit des betreffenden Erlaubnissatzes bieten könnten57. Es sei allerdings angemerkt, dass nicht von der ausnahmslosen Gültigkeit der letztgenannten Folgerung in Fällen „gesetzlichen Unrechts“ ausgegangen werden darf. Dies wäre wiederum ein nicht stets zulässiger Schluss von dem extremen Charakter des Unrechts auf seine Evidenz für jedermann. Entscheidend muss sein und verlangt werden darf somit, dass der Handelnde die Rechtsnorm, an der er sein Tun ausrichten möchte, daraufhin überprüft, ob sie vertrauenswürdig ist. Denn trotz der überragenden Autorität des Gesetzgebers wird vom einzelnen Mitglied der Rechtsgemeinschaft nicht die „blinde Unterwerfung“ unter die staatliche Autorität gefordert, da ein solches Vorgehen im Gegensatz zu der Maxime stände, dass die Unterwerfung unter die Autorität „niemals die Verantwortlichkeit des Einzelnen aufhebt und es deshalb niemals zu rechtfertigen vermag, dass er sich der autoritativen Anordnung entgegen seiner besseren Einsicht fügt“58. Dementsprechend ist lediglich ein Vertrauen des Täters geschützt, das sich der in jedem Fall verbleibenden eigenen 56

Lorenz, Militärwesen 11/1984, 3 (3). Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 235 f. 58 s. zu diesem Gesichtspunkt Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam. Zur strafrechtlichen Wertung hoheitlich gebotenen Handelns, 1958, S. 122 f. 57

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Verantwortung bewusst ist59. Daraus ist in den „Mauerschützen“-Fällen trotz des Vorliegens gesetzlichen Unrechts zu folgern, dass die Möglichkeit bestehen muss, den einzelnen Grenzsoldaten, sofern er diesem an ihn gerichteten Anspruch genügt und er die Norm des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR für vertrauenswürdig hält, zu entschuldigen. Die im Rahmen des aktuellen Unrechtsbewusstseins gemachten Ausführungen dürften in ihrer Gesamtheit Beleg dafür sein, dass die Fähigkeiten der Soldaten im Grenzdienst, im Wege eigener Verantwortung erkennen zu können, dass die ihnen als Grundlage für ihr Handeln vermittelte Rechtsnorm extremes Unrecht darstellte und ihr Handeln somit gegen die materiale Wertordnung des Rechts verstieß, in erheblichem Maße eingeschränkt gewesen sein dürften. Die Bezeichnung ihres Tuns als „blinde Unterwerfung“ unter die staatliche Autorität in dem zuvor genannten Sinne erscheint nicht berechtigt. Diese Sichtweise findet ihre Bestätigung offenkundig wiederum in den Erwägungen des BGH in dem bereits angeführten Hanke-Fall, sofern es dort – allerdings erst in der Strafzumessung – heißt: „Seine Tat ist vor dem Hintergrund eines unmenschlichen Systems zu sehen, das ihn mit allen Mitteln der Massenpsychologie zu einer blinden Einseitigkeit und einem beschränkten Weltbild erzogen hat. (. . .) Er konnte im Gegensatz zu den eigentlich Verantwortlichen in der SBZ die volle Tragweite seines Tuns nicht übersehen. Ihn trifft daher die geringste Schuld an seiner Tat; sie fällt in um so höherem Maße den Machthabern des Sowjetzonenregimes zu. (. . .) Nach seiner Meinung genügte der Angeklagte mit seinem willigen Gehorsam (. . .) der Pflicht gegenüber seiner Partei und dem Volke. Dadurch glaubte er sich gerechtfertigt. So gesehen war sein strafbares Handeln nicht von üblem und verächtlichem Denken getragen. (. . .) Insgesamt war der Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht der eines kriminellen, verantwortungslosen Menschen, vielmehr erschien er als ein irregeführter junger Mensch, der letztlich ein Opfer der unseligen Spaltung Deutschlands geworden ist“60.

Diese Feststellungen, insbesondere diejenigen, dass das Verhalten des Täters nicht von üblem und verächtlichem Willen getragen war und dass dessen Eindruck nicht der eines kriminellen, verantwortungslosen Menschen war, dürften auch für den Großteil der Grenzschützen zutreffend sein61. Es existierten vielmehr bedeutende Schwierigkeiten, die ihre Fähigkeit, das extreme Unrecht des Grenzgeschehens erkennen und die staatliche Autorität ihres Landes anzweifeln 59

Vgl. Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, S. 236. BGH, NJW 1964, 63 (68 f.); in diesem Zusammenhang ist zudem zu bedenken, dass diese gerichtlichen Erwägungen aus dem Jahre 1964 stammen, somit aus einer Zeit, in der das DDR-Regime noch weit weniger gefestigt und anerkannt war, als in späteren Jahrzehnten. 61 Vgl. u. a. den vermittelten Eindruck der vier Angeklagten im ersten „Mauerschützen“-Prozess vor dem Landgericht Berlin durch Friedrichsen, Der Spiegel Nr. 37/ 1991, S. 72 (S. 72). 60

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zu können, beeinträchtigten. In diesem Zusammenhang ist die durch den BGH getroffene Feststellung von erheblicher Bedeutung, dass in den Jahren der Schüsse an der DDR-Grenze nicht bekannt geworden sei, dass „Menschen, die in der DDR in Politik, Truppenführung, Justiz und Wissenschaft Verantwortung trugen, gegen das Töten an der Grenze öffentlich Stellung genommen haben“62. Im Gegenteil, die Vertreter der letztgenannten Personengruppen handelten offenbar auch ihrerseits ohne jegliche Einsicht in das durch ihr Handeln mitzuverantwortende Unrecht an der deutsch-deutschen Grenze, wie eine Betrachtung ihrer Einlassungen vor den Strafgerichten des wiedervereinigten Deutschlands unmissverständlich offenbart. In diesem Zusammenhang kann zunächst auf die Rede Erich Honeckers in dem gegen ihn geführten Prozess vor dem Landgericht Berlin verwiesen werden. Dort gab der Angeklagte zu verstehen, er werde „dieser Anklage und diesem Gerichtsverfahren nicht dadurch den Anschein des Rechts verleihen“, dass er sich „gegen den offensichtlich unbegründeten Vorwurf des Totschlags verteidige“63 und führte weiterhin aus: „Wenn sie diese politische Entscheidung (den Bau der Mauer, ihre Aufrechterhaltung und die Durchsetzung des Verbots, die DDR ohne staatliche Genehmigung zu verlassen) für falsch halten und mir und meinen Genossen die Toten an der Mauer zum strafrechtlichen Vorwurf machen, dann sage ich Ihnen, die Entscheidung, die sie für richtig halten, hätte Tausende oder Millionen Tote zur Folge gehabt. Das war und das ist meine Überzeugung und, wie ich annehme, auch die Überzeugung meiner Genossen. Wegen dieser politischen Überzeugung stehen wir hier vor Ihnen. Und wegen Ihrer andersartigen politischen Überzeugung werden sie uns verurteilen“64.

Auch die Einlassungen der weiteren angeklagten politischen oder militärischen Entscheidungsträger der DDR sind durch Auffassungen in diesem Geiste geprägt. So gibt der ehemalige Minister für Nationale Verteidigung und Angehörige des NVR Heinz Keßler in seinen Erinnerungen zu verstehen, dass ihm sein Gerichtsprozess von vornherein als „ein rein politischer Prozess“, bestimmt zu dem Zweck, „Politik und Geschichte allein mit dem Maß des Strafrechts zu verurteilen“, galt65. Neben Keßler trugen auch die weiteren Angeklagten im NVR-Prozess Albrecht und Strelitz vor dem Landgericht Berlin zu ihrer Verteidigung vor, sich „bei allen Befehlen und Anordnungen an Recht und Gesetz der DDR gehalten“ zu haben66. Im Prozess gegen den ehemaligen Chef der DDRGrenztruppen, Klaus-Dieter Baumgarten, und fünf seiner Stellvertreter wiesen die Angeklagten in einer gemeinsamen Erklärung jegliche Schuld von sich: 62

BGHSt 39, 1 (34). Zit. nach Wesel, S. 64. 64 Zit. nach Wesel, S. 72. 65 Keßler, Zur Sache und zur Person. Erinnerungen, 1996, S. 353 f. 66 Zit. nach Lamprecht, DRiZ 1997, 140 (141), der aufgrund derartiger Einlassungen konstatiert, dass den Angeklagten unübersehbar „zur Tatzeit jedes Unrechtsbewusstsein abging“. 63

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„Hohes Gericht! Die Anklage ist eine kollektive Beschuldigung dafür, dass wir wie Hunderttausende der DDR treu und redlich gedient haben. Gegenstand dieses Verfahrens ist die juristisch verbrämte politische Abrechnung mit der DDR (. . .). So hart es ist, für die Folgen seiner Straftaten ist in allen Staaten der Grenzverletzer verantwortlich, der sich nicht festnehmen lassen will und sich deshalb staatlichen Anweisungen widersetzt, auch um den Preis seiner schweren oder gar tödlichen Verletzung“67.

Weiterhin führte Baumgarten aus: „Mein Handeln als Soldat war immer bestimmt von der Verfassung der DDR, ihren Gesetzen, meinem geleisteten Fahneneid sowie den Befehlen meiner Vorgesetzten, deren Rechtmäßigkeit ich nie bezweifelt habe und ich als Soldat auch nicht berechtigt war zu prüfen. (. . .) Ich bin im Sinne der Anklage nicht schuldig!“. In ähnlicher Weise gab der Angeklagte Lorenz zu verstehen, er habe sich „dem Frieden und dem Leben verpflichtet“ gefühlt: „Als Soldat und Offizier hatte ich davon auszugehen, dass die Befehle meiner Vorgesetzten, die ich umzusetzen hatte, in Übereinstimmung mit der Verfassung der DDR und den Gesetzen dieses Staates standen. Ich habe mich an die Gesetze des Staates, dem ich die treue Pflichterfüllung geschworen hatte, genauso exakt gehalten, wie ich mich heute als Bürger der DDR an das Grundgesetz und Gesetze dieses Landes halte (. . .). Der Erhaltung des Friedens zu dienen, war meine Lebensmaxime (. . .); dafür heute kriminalisiert zu werden, ist bitter und ungerecht“68.

Zuletzt sei auf die Aussage des Angeklagten Thieme, der bis 1986 die Ausbildung der Grenzsoldaten leitete, verwiesen, er habe „niemals Zweifel gehabt: Achtung der Menschenwürde und des Menschenrechts, wie sie in der UNOCharta festgeschrieben wurden, war für mich stets Richtschnur meines Handelns“69. Die letztgenannten Erkenntnisse unterstreichen eindrucksvoll, dass die Grenzschützen in einem Staat lebten, in dem die Stellen, die für die Setzung und Einhaltung der rechtlichen Ordnung zuständig waren und Unrechtshandlungen eigentlich hätten unterbinden müssen, mit dem unmenschlichen Geschehen an der Grenze zumindest dem äußeren Anschein nach konform gingen. Da es sich bei diesen in der DDR Verantwortung tragenden Personen um Menschen handelte, die den überwiegend jungen Grenzsoldaten sowohl in intellektueller Hinsicht als auch hinsichtlich ihrer gesamten Lebenserfahrung deutlich überlegen waren, erscheint es nicht angemessen und auch nicht plausibel, gerade von den Schützen die Bewertung der Schüsse als extremes Unrecht, in der sie nicht einmal durch jene Persönlichkeiten der DDR bestärkt, sondern eher gegenteilig beeinflusst wurden, zu verlangen70.

67 68 69

Zit. nach Grafe, DA 1996, 862 (864). Zit. nach Grafe, DA 1996, 862 (865). Zit. nach Grafe, DA 1996, 862 (866).

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4. Kap.: Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Insgesamt ist somit festzustellen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass es den Grenzsoldaten möglich war, sich durch eigenes Nachdenken, das bedeutet durch den Einsatz ihrer geistigen Erkenntniskräfte und rechtlichen Wertvorstellungen, die Rechtswidrigkeit ihrer tödlichen Schüsse an der Grenze zu erschließen. b) Einholen von Erkundigungen Des Weiteren ist demnach zu erörtern, ob die Schützen möglicherweise durch Einholung von Auskünften zu dieser Erkenntnis hätten gelangen können. Bei dieser Fragestellung stehen weniger die individuellen geistigen Fähigkeiten des Täters im Vordergrund als vielmehr die Existenz objektiver Erkundigungsmöglichkeiten71. Der Täter soll im Zweifel nicht lediglich darauf hoffen dürfen, sich rechtmäßig zu verhalten, sondern er soll die bestehenden Zweifel mit sachkundiger Hilfe auflösen müssen72. Als bedeutsam in diesem Zusammenhang sind sowohl die Lektüre von Gesetzen und gerichtlichen Entscheidungen als auch die Auskunft von staatlichen Stellen sowie anderen rechtlich kompetenten Personen anzusehen73. Der entscheidende Maßstab für die Vermeidbarkeit ist dabei die Vertrauenswürdigkeit der konsultierten Stelle, wobei Auskünfte staatlicher Stellen oder Entscheidungssätze der Rechtsprechung in ähnlich gelagerten Fällen generell als vertrauenswürdig gelten74. In Bezug auf die Grenzsoldaten ist nicht ersichtlich, dass sie, abgesehen vielleicht von Gesprächen, die im eigenen Kameradenkreis hinsichtlich dieses Themas geführt wurden und diesbezüglich nicht besonders aufschlussreich gewesen sein dürften75, bewusst über die rechtliche Qualität der tödlichen Schüsse an der Grenze Erkundigungen eingeholt hätten. Es ist allerdings darauf zu verweisen, dass den Schützen der bereits angeführte Umstand bekannt war, dass die töd70 s. in diesem Zusammenhang den Erfahrungsbericht des ehemaligen Grenzers Ruge, FAZ v. 29. August 1991, S. 27, in dem der Autor seinen damaligen Respekt vor dem Regimentskommandeur, Oberst Koschke, darlegt: „Vor uns stand ein reifer Mann, grauhaarig, Kranzglatze, groß, schlank, aufrechte Haltung, laute Stimme. Er wirkte intelligent und gebildet. Beinahe eine Vaterfigur. Dieser Mann war tatsächlich ein Gigant im Vergleich zu den Unteroffizieren, vor denen wir ,Männchen‘ gemacht hatten. Konnte man, was dieser Mann da (. . .) sagte, so einfach abtun?“. 71 Vgl. Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 206. 72 Vgl. Zaczyk, JuS 1990, 889 (893). 73 s. NK-Neumann, § 17 Rn. 67; LK-Schroeder, § 17 Rn. 28; vgl. Haft, S. 257; Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 61 ff. 74 s. eingehend zu diesem Aspekt Kunz, GA 1993, 457 (457 ff.) sowie Schönke/ Schröder-Cramer, § 17 Rn. 18 ff. 75 In diesem Zusammenhang sei auf die zu einem früheren Zeitpunkt getroffene Feststellung verwiesen, dass die in der DDR vermittelte Ideologie keinen Platz ließ für kritische Fragen und daher insgesamt viele Dinge nicht thematisiert und ausgesprochen wurden, s. Drittes Kap. V. 2. c).

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lichen Schüsse ihnen gegenüber auf keinen Fall staatlichen Zwang auslösen würden76. Die Duldung eines Verhaltens durch eine Behörde ist durchaus als erheblich bedeutsam im Zusammenhang mit der Vermeidbarkeit einer Verbotsunkenntnis anzusehen, insbesondere sofern das behördliche Handeln darauf schließen lässt, dass das Vorgehen des Täters als rechtmäßig beurteilt wird77. So nahm die Rechtsprechung bereits des Öfteren die Unvermeidbarkeit einer fehlenden Unrechtskenntnis in Fällen an, in denen Behörden trotz Kenntnis des strafrechtlich relevanten Handelns nicht oder nicht entschieden genug tätig wurden78. Da es in der DDR niemals eine Beanstandung der Tötungen an der Grenze durch Gerichte, Staatsanwaltschaften oder weiteren staatlichen Instanzen gab, mussten die Soldaten davon ausgehen, dass ihr Handeln, jedenfalls nach den für sie relevanten Maßstäben des Systems der DDR, selbstverständlich rechtmäßig war und auch als ein solches Handeln angesehen wurde. Insbesondere wird dabei der Umstand zu bedenken sein, dass es eben gerade auch die Staatsanwaltschaften in der Regel nicht für notwendig erachtet haben, das Handeln der Schützen in strafrechtlicher Hinsicht zu überprüfen bzw. dass es in den Fallgruppen, in denen ausnahmsweise doch einmal aufgrund einer Strafanzeige gegen den Schützen Ermittlungen aufgenommen wurden, zu einer Einstellung des Verfahrens kam. Derartige Umstände können nach den soeben getroffenen Feststellungen als generell geeignet angesehen werden, eine nicht vermeidbare Unrechtsunkenntnis zu begründen. Zudem ist in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auf ein sehr bedeutendes Problem zu lenken, das sich für die Grenzschützen im Hinblick auf die Frage stellt, ob sie die notwendige Unrechtseinsicht durch Einholung sachkundiger Auskunft hätten erlangen können: die politische und rechtliche Wirklichkeit in der DDR und somit die Lebenswelt der Angeklagten war derart beschaffen, dass davon ausgegangen werden muss, dass ihnen keinerlei pflichtgemäß einge76

Dazu Drittes Kap. V. 2. d) bb) (4) (b) (bb). Vgl. Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 63; Schönke/Schröder-Cramer, § 17 Rn. 18. 78 s. LG Darmstadt, NStZ 1984, 173 (174 f.) für den Fall des Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz durch nicht artgemäße Hühnerhaltung. Im Vorfeld war die zuständige untere Verwaltungsbehörde nicht tätig geworden. Nach Ansicht des Landgerichts Darmstadt „durften sich die Angeschuldigten (. . .) darauf verlassen, dass, wenn schon das im Vergleich zum Strafrecht mildere Instrumentarium des Verwaltungszwanges nicht betätigt würde, erst recht keine strafrechtliche Sanktion erfolgen würde.“; AG Lübeck, StV 1989, 348 (349) betreffend einer vorsätzlichen Gewässerverunreinigung in Tateinheit mit einer umweltgefährdenden Abfallbeseitigung. Auch in diesem Fall fand seitens der zuständigen Umweltbehörde keinerlei Gefahrenabwehr statt, stattdessen wurde sogar eine Abwasserabgabe gegenüber dem Handelnden erhoben; s. auch BGHSt 16, 264 (270 f.) für den Fall der Zuwiderhandlung gegen das KPD-Verbot durch Gründung einer „Unabhängigen Wählergemeinschaft“ (UWG) als Ersatzorganisation. Nach Ansicht des BGH könne, dies wurde letztlich offengelassen, ein unvermeidbarer Verbotsirrtum „mit Rücksicht auf das anfängliche Nichteinschreiten des Innenministers, die zweimalige Zulassung durch den Wahlausschuss und die Einstellung der früheren Ermittlungsverfahren in Frage kommen“. 77

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4. Kap.: Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

holte Auskunft, sei es durch die Lektüre von Gesetzen oder gerichtlichen Entscheidungen oder auch im Wege einer Nachfrage bei staatlichen Stellen sowie anderen rechtlich kompetenten Personen, wirklich bezüglich einer möglichen Unrechtserkenntnis weitergeholfen hätte. Im Gegenteil, sie dürften eher darin bestärkt worden sein, mit dem Schusswaffeneinsatz ordnungsgemäß zu handeln, wobei erneut auf die zuvor bereits dargestellte Denk- und Sichtweise der in der DDR Verantwortung tragenden Personen zu verweisen ist79. Somit ist auf die sich bezüglich der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums stellende und nicht einheitlich beantwortete Frage einzugehen, ob die Vermeidbarkeit und entsprechend ein potentielles Unrechtsbewusstsein eines Täters bereits allein – unabhängig vom Inhalt der erhaltenen Auskunft – in dem pflichtwidrigen Nichteinholen der zuzumutenden Erkundigungen und demnach in dem fehlenden Bemühen um Aufklärung der Rechtslage begründet liegt80, oder ob es entscheidend darauf ankommt, welche Auskunft der Täter bei pflichtgemäßer Erkundigung tatsächlich erhalten hätte81. Die Frage ist mit der inzwischen überwiegenden Ansicht in letztgenanntem Sinne zu beantworten. Der Vorwurf der Vermeidbarkeit und somit die Erhebung eines Schuldvorwurfs setzt voraus, dass die Unrechtsunkenntnis des Handelnden durch eine als vertrauenswürdig anzusehende Auskunft tatsächlich hätte behoben werden und für den Täter über die Erkundigung somit ein Weg zur Unrechtseinsicht hätte führen können82. Diese Annahme beruht auf der Überlegung, dass die durch den erstgenannten Ansatz vorgenommene Deutung der Vermeidbarkeit als Verletzung einer allgemeinen Rechtspflicht den erforderlichen inneren Zusammenhang zwischen der Erkundigung und der Unrechtserkenntnis, die im Horizont des Handelnden zu gewinnen ist, verkennt83. Daraus ist zu folgern, dass ein potentielles Unrechtsbewusstsein der Soldaten an der DDR-Grenze nicht anzunehmen ist, wenn ihnen selbst bei gehöriger Erkundigung keine Auskunft in dem Sinne erteilt worden wäre, dass es sich bei den unter Umständen tödlichen Schüsse auf die Flüchtlinge um einen Verstoß gegen die Rechtsordnung handele. Es dürften sämtliche bislang angestellten Überlegungen bezüglich des aktuellen und potentiellen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten hinreichend verdeutlicht haben, dass eine derartige Auskunft bzw. Erkenntnis in der DDR durch eine der hinlänglich als geeignet angesehenen Informationsmöglichkeiten keinesfalls zu erwarten war. Dies gilt sowohl für 79

s. Viertes Kapitel III. 2. a). So BGHSt 21, 18 (21); BayObLG, NJW 1965, 1924 (1926); OLG Köln, NJW 1974, 1830 (1831). 81 s. diesbezüglich OLG Celle, NJW 1977, 1644 (1645); LK-Schroeder, § 17 Rn. 45; SK-Rudolphi, § 17 Rn. 42 f. 82 So BGHSt 37, 55 (67); BayObLG, NJW 1989, 1744 (1745); Zaczyk, JuS 1990, 889 (894); Neumann, JuS 1993, 793 (798). 83 Vgl. Strauß, NJW 1969, 1418 (1419 f.); NK-Neumann, § 17 Rn. 81. 80

III. Die Vermeidbarkeitskriterien des Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 StGB

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die Erkundigung durch Gesetzeslektüre oder durch Einbeziehung gerichtlicher Entscheidungen als auch gerade für die Information bei staatlichen Stellen. Die für die Grenzsoldaten der DDR bestehende Problematik bezüglich einer Unrechtserkenntnis durch Einholen von Erkundigungen gelangt in ihrem ganzen Umfang durch folgende Erwägungen von Klaus Adomeit zum Ausdruck: „Ebensowenig kann man sich die Anfrage eines von moralischen Skrupeln befallenen jungen Grenzsoldaten denken an z. B. den Vorsitzenden des Staatsrats, den Präsidenten des Obersten Gerichts, den General(!)staatsanwalt, an den Dekan der zuständigen Rechtsfakultät in Jena: Habe ich etwas zu befürchten? Die ungeheuerliche Weltfremdheit allein schon dieser Idee zeigt doch wohl auf, dass die bisherigen strafrichterlichen Erörterungen zum Verbotsirrtum bei allem hoch anzuerkennenden Bemühen – so gute Strafrechtsurteile hat man seit Jahren nicht mehr gelesen – doch noch nicht am Punkt waren“84.

In diesem Kontext scheint sich zu offenbaren, dass folgendem Gedanken Recht zu geben ist: „Vermeidbar war der Verbotsirrtum nur bei Spekulation auf den Untergang der DDR – und verlangen wir das ernsthaft von den Grenzsoldaten?“85. Es gilt demnach festzuhalten, dass die Soldaten auch nicht durch Einholung von Auskünften zur Erkenntnis der Rechtswidrigkeit ihres Tuns an der Grenze gelangen konnten und somit, da sich ihnen die Rechtswidrigkeit, wie erläutert, auch nicht anhand eigenen Nachdenkens erschließen konnte, keine real aufweisbare Möglichkeit der Unrechtseinsicht für sie bestand. 3. Einbeziehung präventiver Erwägungen Schließlich ist auf den Aspekt zurückzukommen, dass es sich bei dem potentiellen Unrechtsbewusstsein und demnach der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums, wie erwähnt, um ein Produkt der faktischen Möglichkeit und der normativen Zumutbarkeit des Erkennens handelt86. Da eine rein psychologische Interpretation des Vermeidbarkeitsbegriffs – in kriminalpolitischer Hinsicht nicht vertretbarer Weise – insbesondere den indifferenten Täter, der bereits nicht einmal die in diesem Fall erforderlichen „leisen Unrechtszweifel“ hegt, privilegieren würde, bedarf das psychologische Kriterium einer normativen Korrektur87. Es ist demnach zu konstatieren, dass der Begriff der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums sowohl durch das Schuldprinzip im Sinne einer schuldangemessenen Strafe als auch durch präventive Überlegungen, somit durch Bedürfnisse des Rechtsgüterschutzes, geprägt ist88. 84 85 86 87

Adomeit, NJW 1993, 2914 (2915). Adomeit, NJW 1993, 2914 (2915); s. weiterhin Dannecker, Jura 1994, 585 (594). Vgl. Viertes Kap. I. Vgl. NK-Neumann, § 17 Rn. 55; s. auch Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 53.

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4. Kap.: Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Nachdem geklärt wurde, dass die Verneinung eines potentiellen Unrechtsbewusstseins der Grenzschützen aufgrund ihrer fehlenden Möglichkeit, sich das Unrecht der Schüsse mittels Einsatzes ihrer Erkenntniskräfte und Wertvorstellungen erschließen zu können, im Hinblick auf das Schuldprinzip möglich und geboten erscheint, stellt sich die Frage, ob entsprechende präventive Erwägungen einem solchen Schritt und somit der Nichterhebung eines strafrechtlichen Schuldvorwurfs ihnen gegenüber entgegenstehen. Es ist diesbezüglich festzustellen, dass die tödlichen Schüsse an der Grenze, wie bereits erläutert, die Konfrontation des Kalten Krieges voraussetzten und durch das totalitäre Regime der DDR hervorgerufen und gefördert wurden89. In Bezug auf die schießenden Grenzsoldaten ist hervorzuheben, dass sich auch in ihren Personen eine Gegebenheit offenbart, die vielfach die Verhaltensweise von Tätern in totalitären Regimen nach dessen Zusammenbruch zu prägen scheint: die soziale Unauffälligkeit der Lebensführung nach Beendigung des Konflikts; so wie sich die Täter in die Rollen und Normen einfügen, die das totalitäre Regime vorgab und einforderte, so geschieht selbiges auch im Hinblick auf die nachfolgende veränderte Situation90. Auch von den Grenzsoldaten dürfte daher hinlänglich keine Gefahr mehr zu erwarten sein. Da sich auch die weltpolitische Lage seit Ende der 80er Jahre grundlegend verändert hat, erscheint somit weder aus spezialnoch aus generalpräventiven Erwägungen eine Bestrafung der Grenzsoldaten zwingend notwendig. Somit würden auch präventive Aspekte der Verneinung eines potentiellen Unrechtsbewusstseins der Grenzsoldaten nicht entgegenstehen91. 4. Bewertung Eine Unrechtsunkenntnis vermag entsprechend den Vermeidbarkeitskriterien eines Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 StGB einen Täter nicht zu entlasten, wenn er seinen Irrtum durch Nachdenken oder Erkundigen hätte beseitigen können und für ihn somit eine tatsächlich aufweisbare Möglichkeit zur Erkenntnis der Rechtswidrigkeit bestand. In Bezug auf die Grenzsoldaten ist eine derartige Erkenntnismöglichkeit zu verneinen. Es kann nach den Gesamtumständen der Schüsse an der Mauer, insbesondere auch unter Einbeziehung der bereits im Rahmen des aktuellen Unrechtsbewusstseins dargestellten Aspekte, weder davon ausgegangen werden, dass es den Grenzschützen möglich gewesen wäre, sich das Unrecht ihres Handelns im Wege eigenen Nachdenkens, noch im Wege des Erkundigens zu erschließen. Da auch die im Rahmen der Vermeidbarkeit 88 89 90 91

s. diesbezüglich Rudolphi, Das virtuelle Unrechtsbewusstsein, S. 1 ff. Drittes Kap. V. 1. b). s. zu diesem Aspekt Schumacher, Psychologische Mechanismen, 181 ff. Ebenso Roos, S. 281.

IV. Zusammenfassung

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eines Verbotsirrtums des Weiteren relevanten präventiven Erwägungen nicht entgegenstehen, ist somit festzustellen, dass die Verbotsunkenntnis für die Schützen nicht zu vermeiden war und sie somit nicht mit potentiellem Unrechtsbewusstsein handelten. Diese Annahme steht zwar im Gegensatz zu der Position des BGH, der, wie zuvor erörtert, davon ausgeht, dass die Grenzsoldaten die Rechtswidrigkeit ihres Tuns hätten erkennen können und der Verbotsirrtum für sie daher vermeidbar war92. Die Annahme fehlenden potentiellen Unrechtsbewusstseins findet ihre Stütze allerdings in zahlreichen in der Literatur vertretenen Stellungnahmen, in denen der Auffassung des BGH kritisch begegnet wird. Etwa formuliert Horst Dreier im Hinblick auf die Erwägungen des BGH die Frage, ob „hier nicht vom bequemen westdeutschen Richtersessel aus im nachhinein moralische Höchststandards formuliert (. . .)“ werden93. Knut Amelung vertritt die Ansicht, die „Mauerschützen“-Urteile seien vielleicht „doch aus einer engeren Perspektive entstanden, als ihr weltbürgerlicher Gestus es erscheinen lässt, und stärker vom Zeitgeist beeinflusst, als die Berufung auf naturrechtliche Ewigkeitswerte es glauben machen will“94. Auch Robert Alexy vermutet, dass den Grenzschützen neben dem aktuellen auch das potentielle Unrechtsbewusstsein fehlte, da sie die unter Rückgriff auf die Radbruchsche Formel vorgenommene Bewertung des § 27 Abs. 2 GrenzG/DDR als gesetzliches Unrecht und somit die Erklärung der Unbeachtlichkeit der Norm nicht hätten erkennen können: „Alles andere würde verkennen, dass das komplexe Verhältnis von Recht und Moral nicht schon dann ausgewogen ist, wenn, wie von der Radbruchschen Formel gefordert, die Moral dem Recht Grenzen setzt, sondern erst dann, wenn die Moral die dem Recht Unterworfenen weder motivational noch, und darum geht es hier, kognitiv überfordert“95.

IV. Zusammenfassung Viertes Kapitel Unter dem potentiellen Unrechtsbewusstsein ist das in der Person des Täters nicht vorhandene, aber von ihm – bei pflichtgemäßer Sorgfalt unter Einsatz seiner Erkenntniskräfte und Wertvorstellungen – erlangbare Unrechtsbewusstsein zu verstehen. Es ist als Produkt der faktischen Möglichkeit und normativen Zumutbarkeit des Erkennens aufzufassen. 92

s. Viertes Kap. II. 1. u. 2. Dreier, JZ 1997, 421 (430). 94 Amelung, NStZ 1995, 29 (30). 95 Alexy, Mauerschützen, S. 38; vgl. auch Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht. Eine verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Untersuchung zu Art. 20 Abs. 3 GG, 2003, S. 176, die der Ansicht ist, dass Alexy dem BGH seine Kritik im Hinblick auf dessen in diesem Zusammenhang täterungünstige Linie „mit einigem Grund“ entgegenhält. 93

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4. Kap.: Das potentielle Unrechtsbewusstsein der DDR-Grenzsoldaten

Der BGH ist der Ansicht, dass die Grenzsoldaten der DDR ein entsprechendes potentielles Unrechtsbewusstsein zum Zeitpunkt ihrer Schüsse besaßen und somit die Erkenntnis des Unrechts ihres Handelns bei der ihnen zumutbaren Sorgfalt hätten erlangen können. Zur Begründung dieser Position wird dabei lediglich angeführt, dass es sich bei den tödlichen Schüsse um einen elementaren Menschenrechtsverstoß gehandelt habe und dass das ethisch und rechtlich begründete Tötungsverbot auch für sie evident und erkennbar gewesen sei. Angesichts der bereits im Rahmen der Würdigung des aktuellen Unrechtsbewusstseins betonten Besonderheiten der „Mauerschützen“-Fälle muss diese Einschätzung erheblichen Bedenken unterliegen und bedarf der Überprüfung. Dabei soll auf diejenigen Kriterien abgestellt werden, nach denen die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums im Rahmen der allgemeinen Verbotsirrtumsnorm des § 17 S. 2 StGB üblicherweise beurteilt wird. Während der BGH in diesem Zusammenhang ursprünglich auf das Kriterium der „Gewissensanspannung“ abstellte, ist inzwischen klargestellt, dass die letztlich relevanten Mittel zur Kenntniserlangung „Nachdenken oder Erkundigen“ – unter Berücksichtigung der gerade dem Täter eigenen Gaben, Fähigkeiten und Einsichten – sind. Der Täter muss entsprechend neben einem Anlass zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit eine real aufweisbare Möglichkeit zur Erkenntnis der Rechtswidrigkeit seines Handelns besessen haben. Im Rahmen der Erkenntnisgewinnung mittels eigenen Nachdenkens sind Gesichtspunkte wie die Erziehung, die Schulbildung, die Berufsausbildung sowie die soziale Stellung des Handelnden in der Gemeinschaft relevant. Somit sind auch in diesem Zusammenhang die aufgezeigte soziale Lebenswirklichkeit der DDR-Grenzsoldaten und die seitens der Staatsführung betriebene Eliminierung bzw. Minimierung des Unrechtsbewusstseins wesentlich einzubeziehen. Da die Schuldfeststellung erfordert, dass der Handelnde die durch das Rechtswidrigkeitsurteil vorgenommene objektive Bewertung der Tat in subjektiver Hinsicht nachvollziehen können muss, ist zudem erneut bedeutsam, dass in den „Mauerschützen“-Fällen der Existenz eines nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes – in Form des § 27 GrenzG/DDR – eine wichtige Rolle beizumessen ist. Die Grenzsoldaten hätten somit nicht lediglich einsehen müssen, dass ihr Handeln gemessen an den Geboten der Menschlichkeit unmoralisch oder unmenschlich war, sondern dass die genannte Norm gerade wegen dieses Widerspruchs, wegen der ein unerträgliches Maß erreichenden Verletzung überpositiven Rechts und der Menschenrechte, als unbeachtlich anzusehen war. Eine Erkenntnis dieser Art muss aufgrund der Lebensumstände der Soldaten erheblichen Zweifeln unterliegen. Eine Überprüfung staatlicher Gesetze auf ihre Gültigkeit ist einem Handelnden nur in dem Umfang abzuverlangen, dass er sich der staatlichen Autorität nicht blind unterwirft und sich entgegen seiner besseren Einsicht fügt, sondern

IV. Zusammenfassung

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sich seiner in jedem Fall verbleibenden Verantwortung bewusst bleibt. Vieles spricht dafür, dass die Soldaten nicht die Fähigkeit besaßen, dass extreme Unrecht des Grenzgeschehens zu erkennen und die staatliches Autorität ihres Landes anzweifeln zu können. Sie lebten in einem Staat, in dem die Verantwortung tragenden Personen in Politik, Truppenführung, Justiz und Wissenschaft nicht gegen das Töten an der Grenze Stellung bezogen. Ein solches Verhalten, das in der DDR folglich nicht einmal von den Personen zu erwarten war, die den oftmals jungen Grenzsoldaten sowohl an Lebenserfahrung als auch in intellektueller Hinsicht deutlich überlegen waren, dann allerdings von diesen einzufordern, erscheint nicht angemessen. Es ist somit zu dem Ergebnis zu gelangen, dass es den Soldaten im Grenzdienst nicht möglich war, sich durch eigenes Nachdenken – somit unter Einsatz ihrer geistigen Erkenntniskräfte und rechtlichen Wertvorstellungen – die Rechtswidrigkeit ihres Handelns zu erschließen. Daher ist auf das weitere relevante Mittel zur Erkenntniserlangung, das Einholen von Erkundigungen, einzugehen. In diesem Zusammenhang stehen objektiv existierende Erkundigungsmöglichkeiten, etwa die Lektüre von Gesetzen und gerichtlichen Entscheidungen sowie die Auskunft von staatlichen Stellen und anderen rechtlich kompetenten Personen, im Vordergrund. Im Hinblick auf die Grenzsoldaten ist diesbezüglich ihre Kenntnis davon hervorzuheben, dass die Schüsse niemals staatlichen Zwang ihnen gegenüber auslösen würden. Die Duldung eines Verhaltens durch eine Behörde kann als generell geeignet angesehen werden, eine nicht vermeidbare Verbotsunkenntnis zu begründen. Das Handeln sämtlicher staatlicher Behörden der DDR im Zusammenhang mit den Schüssen, insbesondere auch das fehlende staatsanwaltschaftliche Einschreiten, musste den Soldaten den Eindruck vermitteln, nach den für ihr Handeln relevanten Maßstäben des Systems der DDR rechtmäßig tätig zu werden. Des Weiteren ist insgesamt festzustellen, dass die politische und rechtliche Wirklichkeit in der DDR und somit die Lebenswelt der Angeklagten derart beschaffen war, dass ihnen offenbar keinerlei pflichtgemäß eingeholte Auskunft tatsächlich bezüglich einer Erkenntnis der Rechtswidrigkeit ihres Tuns weitergeholfen hätte. Der Vorwurf der Vermeidbarkeit setzt allerdings voraus, dass die Unrechtsunkenntnis des Handelnden durch einzuholende Auskünfte tatsächlich hätte behoben werden können. Demnach ist zu konstatieren, dass die Grenzsoldaten die Rechtswidrigkeit ihres Tuns auch nicht durch das Einholen von Auskünften hätten erkennen können und für sie somit keine real aufweisbare Möglichkeit der Unrechtseinsicht bestand. Da diesem Ergebnis auch die Einbeziehung präventiver Gesichtspunkte, denen bezüglich der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums eine Bedeutung beizumessen ist, nicht entgegensteht, ist daher insgesamt zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Verbotsunkenntnis für die Grenzsoldaten nicht zu vermeiden und sie zum Zeitpunkt ihrer Schüsse entsprechend nicht mit potentiellem Unrechtsbewusstsein handelten.

Fünftes Kapitel

Gesamtergebnis und Schlussbetrachtung Der tödliche Schusswaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze stellt im Rahmen der strafgerichtlichen Aufarbeitung des SED-Unrechts einen zentralen Aspekt dar, dem sich sowohl zahlreiche Rechtsprechung als auch umfangreiche Literatur widmet. In einer allgemeinen Betrachtung lässt sich hierbei die Tendenz feststellen, dass die im Rahmen der Rechtswidrigkeit der Schüsse auftretenden Probleme ausführlich erörtert werden, während die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein der ausführenden Schützen hingegen eher in knapper Form Beachtung findet. Da dem Unrechtsbewusstsein eines Täters jedoch nach inzwischen unstreitiger Ansicht eine enorme Bedeutung für die Erhebung eines strafrechtlichen Schuldvorwurfs beizumessen ist und in den „Mauerschützen“-Fällen ersichtlich Bedingungen vorlagen, die den Rahmen dessen, was hinlänglich in diesem Zusammenhang einer Erörterung bedarf, bei weitem übertreffen, erscheint ein derartiges Vorgehen nicht angemessen. Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten der DDR darf insgesamt – dies verdeutlicht auch der eingangs genannte Einwand in weiten Teilen der Literatur, dass diesem Problemfeld mehr Beachtung geschenkt werden müsse – als „neuralgischer Punkt“1 angesehen werden, der einer intensiven Erörterung bedarf. Die vorliegende Untersuchung hat dabei – vorbehaltlich einer im Wege der jeweiligen Einzelfallbeurteilung in bestimmten Konstellationen eventuell zu erzielenden abweichenden Ergebnismöglichkeit – zu dem Resultat geführt, dass weder von einem aktuellen, noch von einem potentiellen Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten zum Zeitpunkt ihrer Schüsse ausgegangen werden kann und sie demnach in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum nach § 17 StGB handelten. Da ein strafrechtlicher Schuldvorwurf allerdings entweder aktuelles oder wenigstens potentielles Unrechtsbewusstein des Täters erfordert, kann ein solcher den Grenzsoldaten gegenüber nicht erhoben werden mit der Konsequenz, dass sie hätten freigesprochen werden müssen.

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Riedel, Strafrechtliche Aufarbeitung, S. 25.

5. Kap.: Gesamtergebnis und Schlussbetrachtung

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Sofern sich im Hinblick auf die strafgerichtliche Aufarbeitung der tödlichen Schüsse an der DDR-Grenze die gegensätzlichen Positionen ausmachen lassen, dass einerseits eine strafrechtliche Ahndung für überhaupt nicht zulässig erachtet und der Verdacht von politischen Prozessen2 und insgesamt der „Siegerjustiz“3 geäußert wird, andererseits dagegen die erfolgten Verurteilungen als nicht ausreichend angesehen werden4, wird dieses Ergebnis aus Sicht des letztgenannten Standpunktes natürlich keineswegs zufriedenstellend sein können. Es gilt jedoch diesbezüglich zu bedenken, dass die strafrechtliche Verfolgung der Grenzsoldaten Menschen betrifft, die – so auch die Erwägungen des BGH – in der militärischen Hierarchie ganz unten standen und letztlich auch ihrerseits Opfer der mit der innerdeutschen Grenze verbundenen Verhältnisse waren. Die starke Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte in der Strafzumessung der „Mauerschützen“-Urteile sowie die in den Verfahren angesichts der Annahme eines vollendeten Totschlags regelmäßig äußerst geringen Freiheitsstrafen für die Täter verdeutlichen, dass es auch der BGH trotz seiner Verurteilungen als nicht gerechtfertigt ansehen würde, die Grenzsoldaten in übermäßigem Umfang für das bedauernswerte Geschehen an der innerdeutschen Grenze verantwortlich zu machen.

2 Vgl. diesbezüglich z. B. die Erklärung von Erich Honecker vor dem Landgericht Berlin am 03. Dezember 1992: „Für mich und, wie ich glaube, für jeden Unvoreingenommenen liegt auf der Hand: Dieser Prozess ist so politisch, wie ein Prozess gegen die politische und militärische Führung der DDR nur sein kann. (. . .) Man entledigt sich der politischen Gegner mit den Mitteln des Strafrechts, aber natürlich ganz rechtsstaatlich“, zit. nach Wesel, S. 66; s. zu dem Verdacht einer ideologiebehafteten Rechtsprechung auch Pieroth, VVDStRL 51 (1992), S. 91 ff. (S. 103). 3 s. hierzu Schlink, Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit, in: Nickel u. a. (Hrsg.), Festschrift für A. Podlech, 1994, S. 55 ff. (S. 56 ff.); Roos, S. 285. 4 Die bestehende Enttäuschung über das rechtsstaatliche Strafverfahren dürfte in aller Deutlichkeit in dem vielfach erwähnten Diktum der DDR-Regimekritikerin Bärbel Bohley vom 09. Juli 1991 Ausdruck gefunden haben: „Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten. Und insofern haben wir natürlich dem Westen unsere Probleme vor die Füße gekippt in der Hoffnung, dass mit dem westlichen Rechtsstaat auch Gerechtigkeit in die neuen Länder kommt“, zit. nach Heitmann, NJW 1994, 2131 (2132); der Ausspruch wird dabei immer wieder auch in verschiedenen textlichen Kurzversionen zitiert, etwa derart: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, zit. nach v. Münch, Der Staat 53 (1994), 163 (163), wo sich in Fn. 1 eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Versionen findet; s. zur Enttäuschung aus Sicht eines Widerstandskämpfers und Opfers des SED-Regimes auch Faust, RuP 1994, 170 ff.; vgl. Spendel, RuP 1993, 61 (66), der die Auffassung vertritt, dass die Angeklagten mit „sehr milden, für die Angehörigen des Opfers wohl zu milden, Strafen“ belegt worden seien und man mit diesen zudem „nicht Ernst“ gemacht habe, da die Vollstreckung auf Bewährung ausgesetzt worden sei; s. ebenfalls Weber, GA 1993, 195 (198) m. w. N.

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5. Kap.: Gesamtergebnis und Schlussbetrachtung

So wurde bislang in den „Mauerschützen“-Fällen – gänzlich atypisch für Tötungsdelikte – regelmäßig lediglich eine Freiheits- oder Jugendstrafe im Bereich zwischen ein und zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verhängt5, wobei der für Totschlag existierende Strafrahmen immerhin Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren und auch im minder schweren Fall noch bis zu fünf Jahren vorsieht. In der Literatur wird vertreten, dass ein Freispruch der DDR-Grenzsoldaten dem Rechtsgefühl zuwiderlaufen und einen Verzicht bedeuten würde, „öffentlich bewusst zu machen, welches Unrecht den Opfern der SED-Herrschaft zugefügt worden ist“6. Diesbezüglich ist jedoch anzumerken, dass – abgesehen davon, dass schon die erstgenannte Aussage in dieser Deutlichkeit zweifelhaft erscheinen muss und vielmehr streitig sein dürfte – die Rechtsprechung ihr Unwerturteil über das Grenzgeschehen bereits dadurch kundgetan hat, dass sie die Schüsse als rechtswidrig bewertete. Dieses Urteil bleibt von der Frage nach dem Unrechtsbewusstsein der handelnden Schützen unberührt. Zudem ist zu bedenken, dass sich die Strafverfolgung ebenfalls gegen Mitglieder der staatlichen Führungsspitze7 und gegen Angehörige der militärischen Hierarchie8 richtet, die den Schusswaffengebrauch an der DDR-Grenze in viel größerem Maße zu verantworten haben, als die Grenzsoldaten als letztlich ausführende Instanz. Insofern dürfte auch der zu Beginn der strafrechtlichen Aufarbeitung des SED-Unrechts immer wieder vorgebrachte Einwand, man lasse „die Kleinen hängen, aber die Großen laufen“, aus heutiger Sicht nicht mehr zutreffend sein9. Aus diesem Grund ist auch nicht zu befürchten, dass eine öffentliche Bewusstmachung des an der Grenze geschehenen Unrechts nicht stattfände, sofern eine Verurteilung der Grenzsoldaten unterbleiben würde. Es wurde hervorgehoben, dass auch bei Unrechtshandlungen in einem totalitären Herrschaftsapparat die individuelle Verbrechensdimension nicht in den Hintergrund treten und das Unrecht als überpersonales Geschehen angesehen werden darf10. Im Hinblick auf den tödlichen Schusswaffeneinsatz an der innerdeutschen Grenze ist allerdings den DDR-„Mauerschützen“ gegenüber ein strafrechtlicher Schuldvorwurf – dies haben die vorliegenden Ausführungen offen-

5

s. diesbezüglich auch Riedel, Strafrechtliche Aufarbeitung, S. 11. Dannecker, Jura 1994, 585 (594). 7 s. etwa BGHSt 40, 218 ff. (Verfahren gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates – Honecker-Prozess) und BGHSt 45, 270 ff. (Verfahren gegen Mitglieder des Politbüros – Krenz-Prozess). 8 s. z. B. BGH, NJW 1996, 2042 ff. 9 So auch Riedel, Strafrechtliche Aufarbeitung, S. 25; vgl. Gropp, JuS 1996, 13 (14). 10 Drittes Kap. V. 1. d). 6

5. Kap.: Gesamtergebnis und Schlussbetrachtung

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bart – im Interesse eines ernstgenommenen Schuldstrafrechts nicht zu erheben11.

11 Diese Ansicht findet ihre Stütze in zahlreichen Stellungnahmen in der Literatur, siehe u. a. Adomeit, NJW 1993, 2914 (2915 f.); Alexy, Mauerschützen, S. 36 ff.; Amelung, JuS 1993, 637 (642 f.); ders., NStZ 1995, 29 (30); ders., GA 1996, 51 (56 f.); Dreier, JZ 1997, 421 (429 ff.); Lamprecht, DRiZ 1997, 140 f.; Miehe, S. 663; Roos, S. 267 ff.; zweifelnd auch Arnold/Kühl, JuS 1992, 991 (996 f.); Dannecker, Jura 1994, 585 (593 f.); Günther, StV 1993, 18 (24); Hillenkamp, JZ 1996, 179 (184); Hoffmann, Verhältnis von Gesetz und Recht, S. 175 f.; Küpper, JuS 1992, 723 (725); Küpper/ Wilms, ZRP 1992, 91 (94 f.); Laskowksi, JA 1994, 151 (165); Riedel, Strafrechtliche Aufarbeitung, S. 24 f. Roggemann, DtZ 1993, 10 (19); Roxin, Strafrecht, § 21 Rn. 66 f.; Schreiber, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 64 f.; Sendler, S. 145 f.; Wullweber, KJ 1993, 49 (53 f. u. 59); differenzierend Rummler, S. 412 ff., der je nach Persönlichkeitsstruktur und Verhalten der konkreten Schützen weder das Vorliegen noch das Fehlen eines potentiellen Unrechtsbewusstseins für ausgeschlossen hält; von einem zumindest potentiellen Unrechtsbewusstsein der Grenzsoldaten und somit von einem berechtigten strafrechtlichen Schuldvorwurf ihnen gegenüber gehen neben dem BGH hingegen u. a. aus Bath, DA 1990, 1733 (1740 ff.); Helten, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Mauerschützen, in: Drobnig (Hrsg.), Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwechsel. Partei und Justiz. Mauerschützen und Rechtsbeugung, 1998, S. 131 ff. (S. 141 ff.); Herzog (Hrsg.), Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 55 ff.; Spendel, RuP 1993, 61 (65 f.).

Literaturverzeichnis Adomeit, Klaus: Die Mauerschützenprozesse – rechtsphilosophisch, NJW 1993, S. 2914–2916. Alexy, Robert: Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 1992. – Mauerschützen – Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, Göttingen 1993. – Theorie der juristischen Argumentation, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1996. Amann, Christine: Die deutsche Rechtsprechung zum Tatbestand der Republikflucht im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention 1951, in: Geistlinger, Michael/Pöckl, Wolfgang/Skuhra, Anselm (Hrsg.), Flucht – Asyl – Migration, Regensburg 1991, S. 101–122. Ambos, Kai: Zur strafbefreienden Wirkung des „Handelns auf Befehl“ aus deutscher und völkerstrafrechtlicher Sicht, JR 1998, S. 221–226. Amelung, Knut: Strafbarkeit von „Mauerschützen“, JuS 1993, S. 637–643. – Anmerkung zu BGHSt 40, 241 ff., NStZ 1995, S. 29–30. – Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz – Ein Zwischenbericht, GA 1996, S. 51–71. Arendt, Hannah: Elemente totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1958. – Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964. Arnold, Jörg/Kühl, Martin: Probleme der Strafbarkeit von „Mauerschützen“, JuS 1992, S. 991–997. Assmann, Walter/Liebe, Günther: Kaderarbeit als Voraussetzung qualifizierter staatlicher Leitung, Berlin 1972. Autorenkollektiv: Das moderne Militärwesen (unter Leitung v. Wolfgang Wünsche), Berlin 1968. – Militärlexikon, 2. Auflage, Berlin 1973. – Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1980. – Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Lehrbuch, Berlin 1980. – Politische und persönliche Grundrechte in den Kämpfen unserer Zeit (unter Leitung v. Eberhard Poppe), Berlin 1984. – Staatsrecht der DDR. Lehrbuch, 2. Auflage, Berlin 1984. – Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Auflage, Berlin 1984.

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Sachwortverzeichnis Aktuelles Unrechtsbewusstsein – Begriff 14 f., 48 f., 68 – der Grenzsoldaten 48 ff. – Eliminierung bzw. Minimierung 94 ff., 172, 181, 196 – Feststellung – erkenntnistheoretische Probleme 54 f. – Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung 55 ff. – Inhalt und Gegenstand – im Rahmen des § 5 Abs. 1 WStG 58 – im Rahmen des § 17 S. 2 StGB 59 ff. – u. Gewissen 59 ff., 91, 156, 171 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 31 Ausbildung der Grenzsoldaten siehe Grenzsoldaten Auslegung des DDR-Rechts siehe auch Staatspraxis der DDR – menschenrechtsfreundliche 37 ff., 157, 163, 184 – realsozialistische 21 f. – rechtsstaatliche 20 f. Ausreisebestimmungen 104 ff. Ausreisefreiheit siehe Recht auf Freizügigkeit Ausreisepraxis 29, 36 f., 104 ff., 126 ff. Auswahl der Grenzsoldaten siehe Grenzsoldaten Befehlslage an der Grenze – Befehlsweg 136 f. – Fahneneid 141 f., 189 – Handlungsschema 137 ff. – Vergatterung 22, 80 f., 138 f., 172

Befehlsnotstand der Grenzsoldaten 96 ff. Belobigung der Grenzsoldaten siehe Grenzsoldaten Bundesgerichtshof – Grundsatzentscheidung zum Verbotsirrtum 43, 45, 61, 68, 71, 73, 178, 179 (Fn. 24) – Hanke-Fall 154 ff., 187 – Kernbereichstheorie 23 f. – „Mauerschützen“-Rechtsprechung 14 ff., 18 ff., 50 ff., 175 ff. – Motorradfahrerfall 132 ff. – Staschynskij-Fall 88 ff., 94 Bundesverfassungsgericht – Elfes-Urteil 130 – „Mauerschützen“-Rechtsprechung 31 Determinismus siehe Willensfreiheit Diktatur 75, 81 Distanz, soziale siehe Grenzsoldaten (Indoktrination) Einigungsvertrag 19 Elfes-Urteil siehe Bundesverfassungsgericht Eliminierung bzw. Minimierung des Unrechtsbewusstseins siehe aktuelles Unrechtsbewusstsein Entrechtung der Flüchtlinge 101 ff., 136, 143, 158, 172 „Entrechtungsbewusstsein“ der Grenzsoldaten siehe Grenzsoldaten Erkundigungspflicht siehe potentielles Unrechtsbewusstsein (Vermeidbarkeitskriterien) Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) 40

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Sachwortverzeichnis

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 40 – „Mauerschützen“-Rechtsprechung 40 Extremes Unrecht siehe gesetzliches Unrecht Exzesstaten 17 (Fn. 17) Fahneneid siehe Befehlslage an der Grenze Fahnenflucht 98 f., 180 Feindbildvermittlung siehe Grenzsoldaten (Indoktrination) Geheimhaltungsmaßnahmen an der Grenze 22, 117 ff., 172, 185 Gesetzliches Unrecht 24 ff., 182, 186, 195 Gesetzlichkeit, sozialistische siehe Sozialismus Gewalt, kollektive siehe Schusswaffengebrauch Gewissen siehe auch aktuelles Unrechtsbewusstsein 178 ff., 196 Gewissensanspannung siehe potentielles Unrechtsbewusstsein (Vermeidbarkeitskriterien) Grenzdienst siehe Grenzsoldaten Grenzgesetz der DDR siehe Recht der DDR Grenzsicherungsanlagen 103, 108, 110, 162 Grenzsoldaten – Ausbildung 98 f., 112 f., 115 f., 137 ff., 149, 169, 189 – Auswahl 98 ff. – Belobigung 159 ff., 163, 173 – „Entrechtungsbewusstsein“ 116 ff., 172 – Grenzdienst 18, 22 (Fn. 18), 98 ff., 136, 138 f., 144, 164, 166 ff., 180, 184, 187, 197 – Indoktrination 15, 80 f., 89 f., 92, 110 ff., 128, 164 ff., 176, 182 – Erzeugung von sozialer Distanz 111 ff., 116

– Feindbildvermittlung 15, 112, 115 f., 165 ff., 173 – Hasserziehung 113 f., 168 – Verfremdung 102, 111 ff. – Strafverfolgung nach Schüssen 159 ff., 173 Grundlagenvertrag 161 Gruppendynamische Kräfte siehe Schusswaffengebrauch Hanke-Fall siehe Bundesgerichtshof Hasserziehung siehe Grenzsoldaten (Indoktrination) Indeterminismus siehe Willensfreiheit Indoktrination der Grenzsoldaten siehe Grenzsoldaten Inlandslösung 19 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) 23, 28 ff., 126 f. Kernbereichstheorie siehe Bundesgerichtshof Lebenswirklichkeit, soziale 16, 74 ff., 171, 177, 181, 192 „Mauerschützen“ siehe Grenzsoldaten Meistbegünstigungsklausel 19 Motorradfahrerfall siehe Bundesgerichtshof Nationaler Verteidigungsrat (NVR) der DDR 136 f. Nationalsozialismus siehe auch Radbruchsche Formel 35 f. (Fn. 88), 81 (Fn. 153), 89 f., 100 Naturrecht 31 ff., 183, 195 Nulla poena sine lege siehe Rückwirkungsverbot

Sachwortverzeichnis Offensichtlichkeit i. S. d. § 5 Abs. 1 WStG siehe potentielles Unrechtsbewusstsein (Vermeidbarkeitskriterien) Parlamentarischer Rat 130 f. Passgesetz der DDR siehe Recht der DDR Potentielles Unrechtsbewusstsein – Begriff 174 f. – der Grenzsoldaten 174 ff. – Vermeidbarkeitskriterien – Anlass der Vergewisserung 179 ff. – Eigenes Nachdenken 181 ff., 197 – Einholen von Erkundigungen 68, 190 ff., 197 – Gewissensanspannung 61, 68, 178 ff., 196 – Offensichtlichkeit i. S. d. § 5 Abs. 1 WStG 175 f. Radbruchsche Formel – Anwendbarkeit außerhalb des NSRechts 25 ff. – Unerträglichkeitsformel 24 – Verleugnungsformel 24 Recht auf Freizügigkeit – allgemeine Bedeutung 124 f. – nach den Maßstäben der BRD 129 ff. – unter Berücksichtigung des sozialistischen Menschenrechtsverständnisses 125 ff. Recht der DDR – Grenzgesetz der DDR 19 ff., 37 f., 145 ff. – Passgesetz der DDR 104 f. – Schusswaffengebrauchsbestimmungen 19 (Fn. 6), 60, 144 ff., 154 – Ungesetzlicher Grenzübertritt (Republikfluchtparagraph) 104 ff. – Verfassung der DDR 125 f., 147, 150, 171 Recht und Moral 23 ff., 70, 195 Rechtsbewusstsein 16, 64 (Fn. 68), 91, 95, 100, 117, 170, 172, 173

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Rechtsgeltungstheorien 65 f. Rechtsstaatsprinzip 42 Reichsgericht siehe Unrechtsbewusstsein Republikflucht 36, 64 f., 104 ff. Schießbefehl 30, 52, 60, 106, 142 f., 147, 154, 185 Schuld – Begriff 43 ff. – entschuldigender Notstand nach § 35 StGB 96 ff. – Schuldgrundsatz 42 f. – Übergesetzlicher Schuldminderungsgrund wg. „Verstrickung in ein Unrechtssystem“ siehe dort – u. Unrechtsbewusstsein 14 ff., 42 ff., 57 ff., 192 ff., 198 Schusswaffengebrauch – als Erscheinungsform kollektiver Gewalt 74, 82 ff., 171 f. – Einfluss gruppendynamischer Kräfte 86 ff. Schusswaffengebrauchsbestimmungen – der BRD 129 ff. – der DDR siehe Recht der DDR Sozialismus – Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 13, 21 (Fn. 17), 24 f. (Fn. 28), 75, 78, 79, 98 (Fn. 230), 110 f., 113 (Fn. 294), 150, 152, 162, 163, 172, 198, 199 (Fn. 4), 200 – Sozialistische Gesetzlichkeit 75, 107, 150 ff., 172 – Sozialistisches Menschenbild 78 ff., 171 – Sozialistisches Menschenrechtsverständnis 125 ff. Staatspraxis der DDR 21 f., 38, 149 f. Staschynskij-Fall siehe Bundesgerichtshof Strafanwendungsrecht 19 Strafverfolgung der Grenzsoldaten in der DDR siehe Grenzsoldaten Strafzumessung 15, 90, 187, 199

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Sachwortverzeichnis

Totalitärer Herrschaftsapparat 36, 57, 82, 93, 200 Totalitäres System 64 (Fn. 68), 74, 88 ff., 94, 100, 172 Übergesetzlicher Schuldminderungsgrund wegen „Verstrickung in ein Unrechtssystem“ 90 ff. Unerträglichkeitsformel siehe Radbruchsche Formel Ungesetzlicher Grenzübertritt siehe Recht der DDR Unrechtsbewusstsein siehe auch aktuelles und potentielles Unrechtsbewusstsein – Reichsgerichtsrechtsprechung 45 – Schuldtheorie 46 – Vorsatztheorie 46 Unrechtsstaat 26, 36, 53, 75, 90 Verbotsirrtum siehe auch aktuelles und potentielles Unrechtsbewusstsein (Begriff) Verfassung der DDR siehe Recht der DDR

Verfremdung siehe Grenzsoldaten (Indoktrination) Vergangenheitsbewältigung 13 Vergatterung siehe Befehlslage an der Grenze Verleugnungsformel siehe Radbruchsche Formel Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums siehe potentielles Unrechtsbewusstsein Völkerrecht siehe Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Willensfreiheit – Determinismus 44 – Indeterminismus 44 Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter 79 (Fn. 144), 100 (Fn. 239), 121 f., 138 (Fn. 411 u. 416), 140 (Fn. 422), 163