Das Unbegrenzte bei Platon [1 ed.] 9783428544318, 9783428144310

Die Arbeit setzt sich zum Ziel, das Unbegrenzte (Apeiron) in der Philosophie Platons in allen Aspekten herauszuarbeiten.

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German Pages 132 Year 2015

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Das Unbegrenzte bei Platon [1 ed.]
 9783428544318, 9783428144310

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Philosophische Schriften Band 86

Das Unbegrenzte bei Platon Von Wolfgang Scheffel

Duncker & Humblot · Berlin

WOLFGANG SCHEFFEL

Das Unbegrenzte bei Platon

Philosophische Schriften Band 86

Das Unbegrenzte bei Platon

Von

Wolfgang Scheffel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-14431-0 (Print) ISBN 978-3-428-54431-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84431-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Niko

Inhaltsverzeichnis Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kapitel 1

Das Apeiron und die Zahl 

16

A. Das Problem des Einen und Vielen: Vorspiel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 B. Die Gabe der Götter: Erster ontologischer Exkurs (16 c 5–18 d 2) . . . . . . . . I. Die drei Beispiele für die Gabe der Götter (17 b 3–18 d 2):  . . . . . . . . . 1. Erstes Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zweites Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Drittes Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Resümee der drei Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 22 22 23 27 29

Kapitel 2

Die vierfache Gliederung alles Seienden (23 c–27 c) 

30

A. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 B. Übersetzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden . . . . . . . . . . . . . . 39 (Ontologische Grundlegung 23 c–27 c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. Apeiron und Peras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 II. Das dritte Genos: das Gemischte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 III. Das vierte Genos: die Ursache  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 IV. Merkmale des Apeiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 V. Zur Doppelnatur des Apeiron  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 VI. Zum Einfluss mehrerer möglicher Quellen auf den platonischen Begriff des Apeiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Kapitel 3

Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung alles Seienden mit der Ideenlehre  

61

8 Inhaltsverzeichnis Kapitel 4

Das Apeiron und die Lust 

68

A. Der wahre Charakter der Lust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 B. Die Lust als ein Werden (γένεσις) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 C. Apeiron und Werden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Kapitel 5

Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste 

75

A. Die Sonderstellung der Dialektik innerhalb der Wissenschaften und Künste (57 e 6–59 b 9)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 B. Die Trennung zwischen empirischen und reinen Wissenschaften und das Apeiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 C. Die Rolle des Apeiron in den empirischen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . 81 D. Folgerungen für Peras und die Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Kapitel 6

Das Apeiron innerhalb der Mischung des guten Lebens 

88

A. Das Apeiron als Gegenkraft zu Maß, Schönheit und Wahrheit . . . . . . . . . . . 91 B. Der Wettstreit von Vernunft und Lust: Welche von beiden hat mehr Anspruch auf Verwandtschaft mit dem Schönen, der Wahrheit und dem Maß? . . . . . . . . 93 C. Die Rangfolge der Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 D. Die fünf Güter und die vierfache Gliederung des Seienden . . . . . . . . . . . . . 99 E. Zusammenhang der fünf Güter mit dem Apeiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Kapitel 7

Der quantitative und der qualitative Aspekt des Apeiron 

104

Appendix

Plotins Abhandlung über die zwei Materien in Enneaden II, 4, 1–16 

109

A. Die intelligible Materie (Hyle), Kap. 1–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 B. Die körperliche Materie, Kap. 6–16  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 C. Resümee: Differenzierung und Weiterentwicklung des platonischen Apeironbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Zusammenfassung einiger Hauptgedanken über das platonische Unbegrenzte im Kontext der Intention des Philebos  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Wo faß’ ich dich, unendliche Natur? Goethe (Faust I)

Einleitung Der Begriff des Unendlichen oder Unbegrenzten (griechisch: apeiron, lateinisch: infinitum) ist einer der schillerndsten Begriffe in der westlichen Geistesgeschichte. Von den Vorsokratikern bis ins 20. Jahrhundert durchläuft er eine weite Skala von Bedeutungen und Wertungen. Das Unendliche ist wie kaum ein anderer Begriff der Philosophie – und der Wissenschaft allgemein – von höchst positiven und höchst negativen Konnotationen und Assoziationen geprägt. Eine sehr interessante Tendenz, die ein Licht wirft auf eine bestimmte Entwicklung in der Geistesgeschichte so vieler Jahrhunderte, ist zu beobachten: Während in der griechischen Philosophie der vorchristlichen Zeit das Unbegrenzte im Gegensatz zum Konturierten und Begrenzten eher als etwas empfunden wurde, was sich dem Streben nach Harmonie und Proportioniertheit entzieht, also eher mit negativen Prädikaten aufgeladen war,1 vollzieht sich im Kontext der christlichen Dogmatik eine Bewegung, die zu einer höchst positiven Einschätzung des Unendlichen führt. Bei Bruno im 16. Jahrhundert2 hat diese Tendenz vielleicht ihren Höhepunkt gefunden. Auch Goethe steht, wie das vorangestellte Zitat von der „unendlichen Natur“ zeigt, im Bann dieser Auffassung. Im Zuge der Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch Newton und Leibniz dringt das Unendliche (Infinite) als ein durchaus beherrschbares Instrument in die Mathematik und von da in die Physik ein. Doch es ist wohl schwer zu sagen, ob das Unendliche von den Mathematikern eher geschätzt oder eher möglichst umgangen wird. Unendliche Größen jedenfalls, die in physikalischen Gleichungen auftauchen, scheinen sich bei Physikern keiner großen Beliebtheit zu erfreuen. Offenbar kann der menschliche Geist mit endlichen Größen besser umgehen als mit unendlichen. So hat auch der Genius der Griechen mit dem Unendlichen zwar gespielt (Anaximander, Anaxagoras, die Atomisten, von denen jeweils nur wenige 1  Vielleicht stellt das Apeiron des Anaximander eine Ausnahme von dieser Charakterisierung dar. 2  Z. B. äußert sich Bruno emphatisch über die Unendlichkeit des Universums und die Unendlichkeit Gottes in seinem Werk De l’infinito universo e mondi, zitiert von P. Zellini in dessen Buch: Eine kurze Geschichte der Unendlichkeit 107.

10 Einleitung

Fragmente überliefert sind), jedoch nimmt die Beschäftigung mit gemessenen Größen und mit strengen Proportionen einen ungleich größeren Raum im griechischen Denken ein. Nichtsdestoweniger ist auch derjenige griechische Philosoph, der wie kein zweiter für die Wertschätzung des Maßes und der Begrenzung (Peras) steht, nämlich Platon, auf das Grenzenlose gestoßen und hat versucht, es in seine Ontologie einzubauen. Wie er das gemacht hat, davon sollen die folgenden Seiten handeln. Da das platonische Apeiron systematisch nur in dem späten Dialog Philebos behandelt wird, steht dieser Dialog im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. Apeiron kann mit „Grenzenloses“, „Unendliches“ oder auch mit „Unbestimmtes“ übersetzt werden. Apeiron (ἄπειρον) ist einer der vier ontologischen Hauptbegriffe im Dialog Philebos. Er taucht dort fast immer mit seinem Gegenbegriff Peras (πέρας) auf, was so viel wie „Grenze“ bedeutet. Das Begriffspaar Apeiron – Peras bestimmt die Diskussion des gesamten Dialogs. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass diese zwei Begriffe, die Platon Genē (γένη), Gattungen, nennt, zur ontologischen Grundausstattung der spätesten und reifsten Phase des platonischen Philosophierens gehören. Allerdings kreist der Dialog Philebos nicht in erster Linie um ontologische Grundbegriffe, sondern beschäftigt sich mit einer Frage der praktischen Philosophie, nämlich mit der Frage, ob für das gute Leben eher die Lust (ἡδονή) oder die Vernunft (νοῦς) die Hauptrolle spielt. Zur Beantwortung dieser ethischen Grundfrage entwickelt Sokrates als der Gesprächsführer nicht nur eine sehr differenzierte Analyse des Lustbegriffs, sondern greift weit aus, um eine theoretisch befriedigende Antwort für das Problem der Wertigkeit der Lust im Vergleich zur Vernunft zu finden. Dabei hat das Grenzenlose (Apeiron) eine starke Affinität zur Lust, während die Grenze (Peras) sozusagen mit der Vernunft verschwistert ist. Da in Platons Philosophie noch keine Trennung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie gemacht wird, kann es nicht verwundern, dass in diesem Dialog, ähnlich wie im Staat, neben Analysen menschlichen Verhaltens und psychologischen Einsichten auch hochabstrakte Spekulationen stehen, die dem ganzen Diskurs ein ontologisches Fundament geben sollen. Es gibt im Philebos drei verschieden lange ontologische Digressionen oder Exkurse. Der erste steht ziemlich am Anfang des Werkes (in 15 a–c) und ist in der Literatur – eine Formulierung des Sokrates aufgreifend – als die Gabe der Götter bekannt. Der zweite sehr ausführliche und bedeutsame Exkurs steht noch im ersten Drittel des Dialogs und enthält eine Analyse der vier Grundbegriffe des Seins – in dieser Arbeit die „vierfache Gliederung alles Seienden“ genannt (23 c–27 c). Der dritte (sehr kurze) Exkurs steht am

Einleitung11

Ende des Dialogs und enthält eine knappe Beschreibung einer fünffachen Klassifikation von „Gütern“ für das menschliche Leben. Diese Hierarchie spiegelt eine Axiologie seelischer Vermögen bzw. Kräfte wider. Das komplementäre Paar Unbegrenztes – Grenze (Apeiron – Peras) erscheint geeignet – im Rahmen platonischer Grundannahmen auch jenseits der Schwierigkeiten der Ideenlehre – das von Sokrates aufgestellte Problem: nämlich was wirklich wichtig ist für ein gelingendes und gutes Leben, in den Fokus zu heben und letztlich eine ontologische Begründung zu liefern für den typisch platonischen Standpunkt: das gute Leben hat die Vernunft nötiger als die Lust. Die Besonderheit des Philebos besteht aber auch darin, dass Sokrates (als Sprecher Platons) im Gegensatz zu Ausführungen über die Lust in früheren Dialogen (insbesondere dem Gorgias) die Lust nicht so schroff zurückweist, sondern ihr in einer differenzierten und nüchternen Betrachtung einen relativen Wert für das Leben zuweist. Im Großen und Ganzen soll in der Arbeit den Argumentationsschritten des Dialogs nachgegangen werden. Die wesentlichen Passagen werden in der Übersetzung vorgestellt.3 Darauf folgt jeweils die Interpretation. Das meiste Gewicht für die Klärung des Apeiron-Begriffs erhalten – aus einsehbaren Gründen – die drei erwähnten „ontologischen Exkurse“. Besondere Beachtung erfahren die Beispiele, die Sokrates (als alter ego Platons) für das Unbegrenzte in der Natur und im menschlichen Leben gibt. Dabei nahm sich der Verfasser die Freiheit, eigene Beispiele hinzuzufügen bzw. die sokratischen Beispiele fortzuspinnen. Der leitende Gesichtspunkt für die Arbeit insgesamt war es, dem Leser zu zeigen, dass das platonische Apeiron in seiner Vielschichtigkeit auch heute noch als ein bemerkenswertes begriffliches Instrument für die Beschreibung und Erhellung des chaotischen Elements in Naturprozessen wie auch im menschlichen Handeln, in den Wissenschaften wie auch in den Künsten betrachtet werden kann. Dadurch ergibt sich methodisch und logisch die von Platon gesehene Notwendigkeit einer Grenzsetzung (Peras), welche letztlich eine wichtige Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft und gelingendem Leben darstellt. Die vorliegende Arbeit kann nicht den Anspruch erheben, alle Feinheiten und alle Schwierigkeiten dieses sehr kunstvoll gestalteten Dialogs zu berücksichtigen. Sie kann auch keinen fortlaufenden Kommentar4 ersetzen. Ferner konnte die philosophische Bedeutung aller vier grundlegenden Begriffe in der „vierfachen Gliederung alles Seienden“ nicht mit derselben 3  Sie

stammt in der Regel vom Verfasser, falls nicht anders angegeben. es die beiden bedeutendsten Kommentare, nämlich die von R. Hackforth (1945) und D. Frede (1997) darstellen. 4  Wie

12 Einleitung

Ausführlichkeit wie das erste Begriffspaar Unbegrenztes – Grenze behandelt werden. Dafür war es meine Intention, möglichst allen Beschreibungen, Erläuterungen, Anspielungen und Hinweisen auf das Apeiron innerhalb des Dialogs nachzugehen und ein kohärentes Bild dieses Genos, wie Platon es nennt, zu zeichnen. Zum Inhalt der einzelnen Kapitel: Kap. 1: Das Apeiron und die Zahl Nach einem kurzen Vorspiel, in dem Sokrates mit seinem Gesprächspartner, dem jungen Protarchos, das Problem des Einen und Vielen andiskutiert, ohne es einer ausführlichen Behandlung zu unterziehen, folgt die „Gabe der Götter“. In diesem Exkurs nennt Sokrates drei Beispiele für das Zusammenspiel von Apeiron und seinem Gegenpart Peras. Das erste Beispiel bezieht sich auf die Laute der Stimme in der Sprache, das zweite auf die Töne in der Musik, das dritte ist eine Wiederaufnahme und Vertiefung des ersten und bezieht sich auf ein System der verschiedenen Laute nicht nur der gesprochenen, sondern auch der geschriebenen Sprache und wird als Erfindung des Ägypters Theuth eingeführt. Mit anderen Worten: es handelt sich um die Erfindung des Alphabets. In allen drei Beispielen geht es darum, in welcher Weise in die unbegrenzte Menge von Lauten bzw. Tönen eine systematische Ordnung gebracht werden kann. Diese Systematisierung wird mit Hilfe des Gegenpols zum Apeiron, dem Peras, erreicht, wobei die Zahl eine fundamentale Rolle spielt. Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden (23 c–27 c) Dieser lange und schwierige Exkurs enthält das ontologische Fundament des ganzen Dialogs. Vier Begriffe – Platon nennt sie Genera5 – spannen sozusagen das Feld „alles Seienden“ auf: Unbegrenztes, Grenze, Gemischtes und Ursache (ἄπειρον, πέρας, μεικτόν, αἰτία). Sokrates behandelt diese Genera oder Hauptbegriffe seiner philosophischen Untersuchung nicht mit gleicher Ausführlichkeit, woraus sich gewisse 5  Statt der deutschen Umschrift des griechischen Plurals γένη (die Genē lauten würde) wähle ich wegen Besetzung dieses Ausdrucks durch die Biologie lieber die lateinische Entsprechung Genera.

Einleitung13

Schwierigkeiten ergeben. Was jedoch das erste Genos, das Unbegrenzte, betrifft, wird es vergleichsweise ausführlich behandelt und mit vielen Beispielen illustriert. Die große Passage 23 c–27 c stelle ich zunächst ganz in Übersetzung vor; dann werden die einzelnen Gattungen interpretiert, wobei der Schwerpunkt auf dem Apeiron, der ersten Gattung, liegt. Neben Parallelen zu dieser ontologischen Grundlegung in anderen platonischen Dialogen, insbesondere dem Timaios, gehe ich auch möglichen Einflüssen anderer Denker auf die platonische Konzeption des Apeiron nach. Kap. 3: Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung mit der Ideenlehre Hier wird eine äußerst schwierige und unter den Kommentatoren umstrittene Thematik berührt. Die vorliegende Interpretation folgt der Anregung eines Aufsatzes von C. J. de Vogel und setzt sich mit der Möglichkeit eines doppelten Apeiron-Begriffs, die sich vor allem von Plotin herleitet, ausei­ nander. Einige Fragen zur späten Ideenlehre versuche ich durch spekulative Vermutung zu beantworten, andere müssen offen gelassen werden.6 Kap. 4: Das Apeiron und die Lust In diesem Kapitel wird das Wirken des Apeiron in den verschiedenen Lüsten behandelt, wobei es nach der platonischen Analyse durchaus verschiedene Grade dieser Wirkung gibt. Nicht alle psychologischen Aspekte des Lustbegriffs mit den verschiedenen Ausprägungen der Lust konnten dabei berücksichtigt werden, da dies ein Eingehen auf die zum Teil sehr differenzierten Analysen des Gedächtnisses und der sinnlichen Empfindungen erfordert hätte, was eher die Aufgabe eines fortlaufenden Kommentars ist. Jedoch soll zumindest klar werden, wie viel größer der Einfluss des Apeiron in einem der Lust gewidmeten Leben ist als in dem konkurrierenden Leben der Besonnenheit. Da Platon die Lust allgemein als ein Werden im Gegensatz zum Sein darstellt, wird in diesem Kapitel auch der Zusammenhang von Apeiron und Werden thematisiert.

6  Insbesondere wird kein Versuch gemacht, zur sogenannten Ungeschriebenen Lehre Platons eine ausführliche und tiefer begründete Stellung zu beziehen; dazu ist die Arbeit zu eng auf den Begriff des Unbegrenzten ausgerichtet. (Vgl. noch dazu den Appendix über Plotin).

14 Einleitung

Kap. 5: Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste Hier geht es um verschiedene Grade des Einflusses des Apeiron in den einzelnen Wissenschaften und Künsten. Dabei konstruiert Platon eine Hie­ rarchie der Wissenschaften und Künste bezüglich ihres Reinheitsgrades und Wahrheitsgehaltes. Fast alle Wissenschaften und Künste sind bestimmt durch ein Element des Apeiron in ihnen. Man kann es auf eine Kurzformel bringen: Je mathematischer und je weiter vom empirischen trial and error entfernt, ein desto höherer Grad an Wahrheit ist in einer Wissenschaft (Kunst) vorhanden, und ein desto geringerer Einfluss des Unbegrenzten ist zu spüren. In der höchsten Wissenschaft, der Dialektik, der ein eigener Abschnitt gewidmet ist, ist dieser Einfluss des Apeiron sogar gleich Null. Kap. 6: Das Apeiron innerhalb der Mischung des guten Lebens In der abschließenden Diskussion des Dialogs geht es um die Frage des guten Lebens und seine Ingredienzen. Noch stärker als vorher laufen hier die Stränge von Ontologie und Ethik zusammen: schließlich soll die Ausgangsfrage, welcher Bestandteil, die Lust oder die Vernunft, einen bedeutenderen Anteil hat in der Mischung des guten Lebens, endgültig geklärt werden. Da das Apeiron sowohl in den empirischen Wissenschaften wie auch natürlich in allen Lüsten eine Rolle spielt, wird es in beiden Bereichen gesondert betrachtet. Dabei werden Einsichten in das Wesen dieses Genos gewonnen und für die Entscheidung der ethischen Ausgangsfrage fruchtbar gemacht. Insbesondere wird durch den Ausschluss der „heftigen“ Lüste aus der Mischung des guten Lebens noch einmal der eigentümlich dynamische Charakter des Apeiron betont, welcher allem Maßvollen entgegengesetzt ist. So kann es auch nicht verwundern, dass in der abschließenden Rangfolge der „Güter“ für das menschliche Leben die Lust in Form der reinen „kummerlosen“ Lust (z. B. das Anschauen schöner Gestalten) nur den fünften und damit letzten Rang beanspruchen kann; wohingegen das Maß (Metron) den ersten Rang einnimmt.7 Es soll freilich nicht verschwiegen werden, dass die Rangfolge selber keine wirklichen Begründungen für die jeweilige Rangstufe enthält und manche Frage offen lässt; sie gleicht in ihrer Lapidarität eher einem kurzen statement als einem ausgearbeiteten Schema.

7  Die

Rangfolge der Güter steht in 66 a 4–d 3.

Einleitung15

Kap. 7: Der quantitative und qualitative Aspekt des Apeiron Im Schlusskapitel wird der Versuch einer zusammenfassenden Analyse des Genos des Unbegrenzten gemacht. Mit der Unterscheidung der beiden Aspekte soll vor allem die von manchen Kommentatoren beobachtete Schwierigkeit einer angeblichen Inkonzinnität zwischen dem ersten und dem zweiten ontologischen Exkurs, zwischen der „Gabe der Götter“ und der vierfachen Gliederung alles Seienden, behoben werden. Der Charakter der Zahllosigkeit des Apeiron in der „Gabe der Götter“ wird durch den Charakter der chaotischen Dynamik, der in der vierfachen Gliederung und auch später im Dialog in den Vordergrund tritt, ergänzt. Beide Wesenszüge des Unbegrenzten sind komplementär zueinander und machen in ihrer Gesamtheit die Natur dieses Genos aus. Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien (Enneaden II, 4) Diesen Anhang füge ich hinzu, um dem Leser einen Blick auf die Wirkungsgeschichte des platonischen Apeiron zu ermöglichen. Der doppelte Materiebegriff Plotins ist zudem geeignet – hier folge ich den Ansichten von W. D. Ross und C. J. de Vogel – Licht auf ein höchst umstrittenes Problem zu werfen: nämlich das Problem des Verhältnisses der klassischen Ideenlehre der Dialoge mit der späten mündlichen Lehre Platons, wie sie in einigen Äußerungen seines Schülers Aristoteles erscheint. Dabei werden Fragen aus dem 3. Kapitel, wo es ja um die vier Genera im Verhältnis zur Ideenlehre ging, wieder aufgenommen. Zumindest enthält, wie ich meine, die Plotinische Lösung einen interessanten systematischen Ansatz zur Weiterentwicklung der Konzeption des Apeiron.

Kapitel 1

Das Apeiron und die Zahl A. Das Problem des Einen und Vielen: Vorspiel Die erste Stelle, wo überhaupt der Ausdruck apeiron (ἄπειρον, im Plural: ἄπειρα) erscheint, ist innerhalb eines Kontextes, wo Sokrates zwei Ebenen des Eines-Vieles-Verhältnisses unterscheidet. Es geht ihm darum, Protarchos von der gängigen Auffassung, dass ein Mensch zugleich Vieles sein kann, nämlich viele entgegengesetzte Attribute haben kann, wie z. B. zugleich in bestimmter Hinsicht groß und klein, schwer und leicht sein kann (14 d 2) zu einer fruchtbareren Auffassung des Eines-Vieles-Problems hinzuleiten. Sokrates macht sich lustig über die Leute, die ihrerseits jemanden tadeln und auslachen, der von einem einzelnen Ding die Teile eingeteilt hat und genötigt wurde einzuräumen, dass Eines Vieles ist und sogar Unendliches (14 e 2–4). Es scheint klar zu sein, dass Sokrates hier das Problem meint, dass man einem einzelnen Ding wie z. B. einem Menschen eine Vielzahl, ja eine Unzahl von möglichen Attributen – jeweils im Vergleich mit anderen Menschen – zuschreiben kann. Diese Auffassung des Eines-Vieles-Problems hält er für trivial und für erledigt. Aber er will das Problem auf eine höhere Ebene heben und da wird es nicht als trivial erscheinen. Auf die Frage des Protarchos, was Sokrates denn meine, antwortet dieser, dass man das Eine nicht aus dem Bereich des Werdenden und Vergehenden nehmen dürfe (d. h. aus dem Bereich der sinnlich erfahrbaren Dinge – die im Staat und anderen früheren Dialogen aistheta heißen), sondern dass man „den Menschen als Einen setzt und den Ochsen als Einen und das Schöne als Eins und das Gute als Eins“. Ohne die Ideen als solche zu nennen, führt hier Sokrates ganz verschiedene Beispiele von Ideen auf: zwei, die als Urbilder von Lebewesen dienen und zwei der höchsten Kategorien. Bei solchen und ähnlichen Einheiten (ἑνάδες, 15 a 6) lohne sich erst eine ernsthafte Behandlung und könnte eine Auseinandersetzung bei der Einteilung (Dihairesis) entstehen. Dass Platon hier und im Folgenden nicht den Ausdruck Eidos bzw. Idea aus den mittleren Dialogen wählt, sondern wie hier von Einheiten (ἑνάδες bzw. μονάδες in 15 b 1) spricht, ist auffällig und könnte den Leser zu der



A. Das Problem des Einen und Vielen: Vorspiel 17

Annahme verleiten, dass hinter einem solchen Wechsel der Termini auch ein Wechsel bzw. eine Weiterentwicklung der Ideenlehre stünde. Es könnten allerdings auch andere Gründe eine Rolle spielen, zum Beispiel könnte Platon die Absicht gehabt haben, einem noch nicht in die schulinternen Auseinandersetzungen8 eingeweihten Leser (den Protarchos zu verkörpern scheint) einen neuen Weg zu seiner „alten“ Ideenlehre zu eröffnen, indem er andere Termini gebraucht. Wir werden noch sehen, dass es unfruchtbar ist, Platon auf den Gebrauch immer derselben Termini festzulegen. Anders als viele Philosophen nach ihm, ist Platon sehr flexibel im Umgang mit den Bezeichnungen für das, was er als die wesentlichen Dinge seiner Philosophie ansieht. Wie führt Sokrates nun in die seiner Ansicht nach wirklich diskussionswürdigen Probleme hinsichtlich des Einen und Vielen ein? Der Abschnitt 15 b 1–c 3 sei zunächst übersetzt: Sokr.: Zuerst nun (muss man sehen), ob es nötig ist irgendwelche Einheiten (μονάδες) anzunehmen, die wahrhaft sind; sodann (muss man sehen), wie man diese Einheiten annimmt: wobei jede einzelne eine ist, immer dieselbe und weder Werden noch Vergehen zulassend, wie man von einer solchen einen annimmt, dass sie absolut beständig ist. Danach aber (muss man sehen) ob (eine solche Einheit) zu setzen ist als eine, die weder im Werdenden und Unendlichen zerrissen und vieles geworden ist, oder sie (zu setzen) als Ganze selbst getrennt von sich selbst – was denn wohl von allen (Erwägungen) als das Unmöglichste erscheint – dass sie (dann) als Dasselbe und Eine zugleich in Einem und Vielen wird. Dies ist (die Auseinandersetzung) über eine solche Auffassung von Einem und Vielen, und nicht jenes, o Protarchos, was Ursache jeglicher Aporie ist, wenn es nicht schön in Übereinstimmung behandelt wird, und auch Ursache für eine Lösung der Schwierigkeiten, wenn es schön behandelt wird.

Für eine Diskussion der philologischen Probleme der Konstruktion der schwierigen Periode 15 b verweise ich auf die einschlägigen Kommentare.9 Abgesehen von den Möglichkeiten, die von Sokrates angesprochenen Probleme in verschiedenen Fragen zu dissoziieren oder zu bündeln, kommt es doch wohl vor allem darauf an zu begreifen, wie Platon hier das berühmte Problem der Teilhabe an den Ideen (Methexis) einführt und was für logischphilosophische Möglichkeiten es hierbei gibt. Leider schreibt Platon hier in unwahrscheinlich komprimierter Form und beleuchtet die verschiedenen Alternativen, die ihm vorschweben, jeweils nur mit einem kurzen Schlaglicht. Hinzu kommt, dass er alle Thesen und 8  Der ganze Dialog Parmenides mit seiner kritischen Diskussion des Problems der Ideenhypothese ist ein Beispiel dafür. 9  Hackforth z. B. macht m. E. klar, dass es sich hier letztlich um zwei Fragen handelt, nicht etwa um drei verschiedene (20, Fußnote).

18

Kap. 1: Das Apeiron und die Zahl

Alternativen, die er hier entwickelt, als Gegenstände einer ernsthaften Auseinandersetzung ansieht. Welches ist nun seine Hauptthese? Sie steht gleich am Anfang, in der Form einer Frage: ob es gewisse Einheiten gibt, die wahrhaft sind (15 b 1–2). Das sind natürlich die Ideen. Man darf annehmen, dass sowohl Sokrates wie auch Protarchos diese Frage bejahen. Nun kommen die Probleme: wie sind solche Einheiten zu deuten, wenn doch jede einzelne mit sich identisch bleibt und nicht von einer solchen Natur ist, dass sie Werden und Vergehen annimmt, im Gegenteil: sie ist Eine in nicht zu übertreffender Beständigkeit.10 Nun erscheinen verschiedene Formulierungen des Teilhabeproblems. Die Frage ist, ob man die jeweilige Einheit so zu setzen hat, dass sie im Bereich des Werdens (der zugleich der Bereich des Unendlichen bzw. Unbestimmten ist) auseinander gerissen wird und zu vielen wird. Die Alternative dazu ist: ob eine solche Einheit getrennt von sich existieren kann – das wird als das „Unmöglichste“ angesehen – denn dann würde dieses Eine und Identische zugleich in Einem und Vielen werden. Sozusagen zwischen den Zeilen der letzten Alternative steht wohl die These, dass diese letztere einen logischen Widerspruch enthält. Sokrates gibt in dieser kurzen Skizze des Methexisproblems (denn mehr ist es nicht; in aller Ausführlichkeit wird es im Sophistes behandelt) eine Vorstellung von den Schwierigkeiten, die mit der dualistischen Setzung von konstanten Ideen einerseits und von werdenden Dingen andererseits, welche ihrerseits zu den Ideen in Beziehung stehen, gegeben sind. Er gibt auch nicht den Ansatz einer Lösung der Probleme. Ein Punkt jedoch bei dieser Entfaltung des Teilhabeproblems ist für unser Thema wichtig. Es scheint klar aus dem Kontext hervorzugehen – und auch die Pluralform bestätigt es: mit den apeira, den unendlich vielen Dingen, können hier nur die Sinnesdinge (aistheta) gemeint sein, also empirische Phänomene, wie man heute vielleicht sagen würde. Sie sind Phänomene im Bereich des Werdens und Vergehens.11 10  Diese Attribute erinnern stark an ähnliche Zuschreibungen für die Ideen in den mittleren Dialogen, z. B. Phaidon 103, 104. 11  Ich kann G. Striker (Peras und Apeiron, 1970) nicht zustimmen, die die hier und später (vor allem in 16 c, d) erwähnten apeira als Formen (Ideen) interpretiert. Vor allem, um keine Inkonzinnität zwischen dem ersten ontologischen Exkurs (der „Gabe der Götter“, 16 c–18 d 9 und dem zweiten großen Exkurs (über die vierfache Gliederung alles Seienden, 23 c–27 c) aufkommen zu lassen, ist es m. E. nicht möglich, dem apeiron (bzw. den apeira) einen Ideenstatus zuzuschreiben. Vgl. zu diesem Problem einer möglichen Ambiguität des Apeironbegriffs zwischen den beiden Exkursen den gesamten Philebos-Kommentar von Gosling. Die Entscheidung über den



B. Die Gabe der Götter19

Nach einem Zwischenspiel (15 c 4–16 b 8), worin Sokrates in sarkastischer Weise Jünglinge verspottet, die sich voller Eifer auf das Problem des Einen und Vielen stürzen und niemanden mit ihrem „Schatz an Weisheit“ (15 e 1) verschonen – ein Zwischenspiel, in dem auch Protarchos seinen Sinn für Humor beweist, indem er Sokrates fragt, ob er nicht bei der Anwesenheit so vieler Jünglinge einen Angriff fürchte, wenn er ihn und die Jünglinge schmähe – nach diesem Intermezzo also unternimmt Sokrates einen neuen Anlauf, um das Problem des Einen und Vielen zu klären. Er leitet diesen Anlauf mit folgenden Feststellungen ein: (a) es gebe keinen schöneren Weg, (b) trotzdem ließ er ihn (Sokrates) oft einsam und ratlos zurück, (c) ihn aufzuzeigen sei nicht schwer, wohl aber sei es sehr schwer ihn zu benutzen, (d) alles was jemals im Zusammenhang mit einer Kunst (Techne) herausgefunden worden sei, sei durch diesen Weg klar geworden.

B. Die Gabe der Götter: Erster ontologischer Exkurs (16 c 5–18 d 2) Sokrates erhebt also hier einen sehr hohen Anspruch für diese Methode. Sie wird im Folgenden (16 c 5–17 a 5) zunächst in allgemeiner Weise beschrieben. Er nennt sie die „Gabe der Götter für die Menschen“ (θεῶν μὲν εἰς ἀνθρώπους δόσις 16 c 5). Eine Gabe der Götter für die Menschen, wie es mir wenigstens scheint, wurde einmal vom Bereich der Götter durch irgendeinen Prometheus heruntergeworfen, zusammen mit einem sehr hellen Feuer; und die Alten, stärker als wir und näher an den Göttern wohnend, haben diese Kunde überliefert: dass aus Einem und Vielen die Dinge sind, von denen man immer sagt, dass sie sind, dass sie aber Grenze und Unbegrenztheit (πέρας δὲ καὶ ἀπειρίαν) in sich verbunden haben. Wir müssten also, da dies so geordnet ist, immer eine Gestalt (μίαν ἰδέαν) über alles jedes Mal setzend suchen – wir würden sie finden als eine darinnen befindliche –; wenn wir sie nun ergriffen hätten, dann (sei es nötig) zu sehen, ob nach der einen zwei (Gestalten) irgendwie da sind, wenn aber nicht, dann drei oder irgendeine andere Zahl, und dass wir jedes einzelne von ihnen wieder genauso betrachten sollten, bis einer sieht, nicht nur, dass das anfängliche Eine Eines und Vieles und unendlich Vieles (ἄπειρα) ist, sondern auch, wie viel. idealen bzw. nicht-idealen Charakter der apeira liegt freilich auch, wie aus Strikers Arbeit sehr deutlich wird, an der Übersetzung einer entscheidenden Stelle, nämlich der Periode in 16 d 9 f. Dazu später mehr.

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Kap. 1: Das Apeiron und die Zahl

Die Gestalt des Unbegrenzten aber solle man nicht auf die Menge beziehen, bevor man seine ganze Zahl erblickt zwischen dem Unbegrenzten und dem Einen, dann aber (solle man) jedes einzelne Eine von allen Dingen in die Unbegrenztheit entlassen und verabschieden. Die Götter also, was ich gerade sagte, haben (es) uns so übergeben zur Betrachtung, zum Lernen und um einander zu lehren. Die heutigen „weisen“ Menschen aber setzen Eines und Vieles, wie sie es gerade antreffen, schneller und langsamer als es nötig ist, und setzen nach dem Einen unmittelbar unbegrenzt Vieles, das in der Mitte aber entgeht ihnen – wodurch doch die Trennung erfolgt zwischen der dialektischen und der streitsüchtigen Art, wie wir miteinander reden.

Die meisten Kommentatoren nehmen an, dass Platon hier durch den Mund des Sokrates eine allgemeine Beschreibung der dialektischen Methode vorlegt. Das ist sicherlich nicht zu bestreiten, da ja genau der Ausdruck „dialektisch“ (διαλεκτικῶς) im letzten Satz auftaucht und im Gegensatz zur „streitsüchtigen“ (ἐριστικῶς) Diskussion den nach Platon adäquaten Umgang mit Reden und Argumentieren bezeichnet. Die ausführlichste Behandlung der dialektischen Methode findet man im Sophistes, wo sie eingesetzt wird, um im Verfahren einer fortschreitenden Dichotomie von ganz allgemeinen Begriffen auf die gesuchte Definition des Sophisten zu stoßen. Im Großen und Ganzen wird im Sophistes anhand eines Definitionsversuches die „Technik“ der Dialektik in der Form der Dihärese veranschaulicht.12 Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, die Dialektik, so wie sie Platon in seinen mittleren und späten Dialogen verstand, ausführlich zu diskutieren. Ich möchte in der vorliegenden Arbeit nur den spezifischen Aspekt erfassen, unter dem Platon im Philebos seine dialektische Methode zu sehen scheint. Und dieser spezifische Aspekt – das Novum gegenüber dem Sophistes – ist offenbar der Bezug auf das Gegensatzpaar Grenze-Unbegrenztheit, welches neben dem für die Dialektik unaufgebbaren Begriff der Idee (ἰδέα; in der Übersetzung mit „Gestalt“ wiedergegeben) die Hauptrolle spielt. Im Folgenden möchte ich eine kurze Interpretation der eben übersetzten Passage geben, ohne jetzt schon auf mögliche Inkonzinnitäten zu der späteren großen Passage über die vierfache Gliederung alles Seienden einzu­ gehen.13 Die „Gabe der Götter“ ist eine Handlungsanweisung für alle möglichen Künste, nicht nur für die Philosophie. Das beweist der zitierte Einleitungs12  Auch im Politikos werden mehrere Beispiele des dialektisch-dihairetischen Verfahrens gegeben. 13  Diese Probleme haben manchem Kommentator großes Kopfzerbrechen verursacht, besonders Gosling in seinem Kommentar passim.



B. Die Gabe der Götter21

satz (16 c 2–3). Was will aber die „Gabe der Götter“ aussagen in Bezug auf das richtige Vorgehen in den Künsten und Wissenschaften? „Alles Seiende“14 scheint a priori aus Grenze und Unbegrenztheit zusammengesetzt und in gewisser Weise geordnet (διακεκοσμημένον) zu sein. In irgendeiner Kunst ist man am Anfang mit einer großen Menge an Erscheinungen (Dingen) konfrontiert, die sozusagen das Material für diese Kunst bilden. Nun, sagt Sokrates, müsse man nach einer Gestalt suchen und man werde sie in der großen Vielfalt der Dinge (oder Erscheinungen) auch finden als Eine, die dieser Vielfalt innewohnt: das ist die Ideenhypothese, nämlich die Annahme einer Idee über Vielem (oder in Bezug auf Vieles). Bis hierher ist die Analyse des richtigen Vorgehens noch nicht weiter gediehen als so, wie Platon die Idee in den mittleren Dialogen, z. B. im Phaidon oder im Staat, einführt. Nun kommt aber der entscheidende Schritt: Die Zahl kommt ins Spiel. Nachdem man die eine Gestalt über Vielem gefunden hat, soll man fortschreiten, indem man guckt, ob es „irgendwie“ zwei gibt oder vielleicht auch drei oder eine andere Zahl. Was hat es genau mit diesen Zahlen für eine Bewandtnis? Sie scheinen doch genauso wie die erste Idee (Gestalt) komplexe „Haufen“ von Entitäten in einer methodischen Weise irgendwie zusammenzufassen. Und Sokrates führt das Ganze weiter, indem er sagt, dass man mit jeder einzelnen Form, die man so erreicht, genauso verfahren solle, d. h. sie in weitere Formen aufspalten, welche ihrerseits eine komplexe Vielfalt zusammenfassen. Das solle man so lange machen, bis man zu dem Punkt gelangt, wo die apeira, die zahllosen Einzeldinge, sich nicht weiter untergliedern lassen. Oder, wie sich Sokrates ausdrückt, wo man das Einzelding (τὸ ἕν ἕκαστον 16 e 1) in das Unbegrenzte hinein „entlässt“. Dieser ganze Abschnitt ist so abstrakt und zugleich lapidar gehalten, dass es kein Wunder ist, dass er ganz verschieden interpretiert worden ist. Er schreit sozusagen nach Konkretisierung und Veranschaulichung, wie ja auch die etwas ratlose Reaktion des Protarchos in 17 a 6 f. zeigt, welcher sagt, dass er es deutlicher hören möchte, was Sokrates meine. Bevor ich nun auf die drei Beispiele eingehe, die Sokrates gibt, um die „Gabe der Götter“ zu erläutern, möchte ich eine methodische Vorbemerkung machen, die sich auf die Einschätzung dieser Beispiele bezieht. Es scheint mir angemessen, diese Beispiele sozusagen at face value zu nehmen – ent14  Den Ausdruck πολλῶν ὄντων τῶν ἀεὶ λεγομένων 16 c 9 fasse ich in Anlehnung an die Übertragungen von Schleiermacher und Hackforth (all things that are ever said to be) als eine Bezeichnung aller Entitäten auf, die man überhaupt als seiend bezeichnen kann. Ich kann der Übersetzung Strikers nicht folgen, die ἀεὶ auf ὄντων beziehen will und meint, dass Platon hier den Ideenbereich, das Immer-Seiende, im Blick habe.

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Kap. 1: Das Apeiron und die Zahl

gegen der Ansicht mancher Kommentatoren, die meinen, dass durch sie das, was Platon eigentlich meine mit seiner Methode, nur unvollkommen oder sogar irreführend ausgedrückt würde. Man tut Platon, glaube ich, Unrecht – gerade was diesen so sorgfältig komponierten Dialog betrifft – ihm vorzuwerfen, er wisse nicht genau was er tut. Das bedeutet für jeden Interpreten: wo immer eine angebliche Diskrepanz oder Unstimmigkeit in den Beispielen auftaucht, die den Kommentierenden zu Aussagen veranlasst wie „[…] so kann das Beispiel das von Platon Gemeinte eigentlich nicht veranschaulichen […]“, dann sollte man eher den Schluss ziehen, dass man Platon nicht verstanden hat. Die vorliegende Interpretation geht jedenfalls davon aus, dass das, was Sokrates in den drei Beispielen ausführt, geeignet ist, die schwierige Passage über die „Gabe der Götter“ klarer erscheinen zu lassen. Natürlich ist niemand vor Fehlern gefeit und es wird hier auch nicht der Anspruch erhoben, die Beispiele des Sokrates völlig befriedigend und richtig zu interpretieren. I. Die drei Beispiele für die Gabe der Götter (17 b 3–18 d 2): Sokrates gibt zur Illustration dessen, was er darunter versteht, das Verhältnis der zählbaren Formen zu den unzählbaren Einzeldingen aufzuklären, drei Beispiele. Von diesen Beispielen meinen das erste und das dritte eigentlich dasselbe, nämlich die Buchstaben und die durch sie bezeichneten Laute (φωναί). Jedoch führt er bei der ersten Erwähnung der Buchstaben (in 17 a 8–b 10) diese nur ganz kurz ein, während er in dem sogenannten Theuth-Mythos (18 b 6–d 2) das Buchstaben-Beispiel viel ausführlicher darlegt. Dazwischen versucht Sokrates das Verhältnis von Apeiron zur Zahl an den musikalischen Tönen zu verdeutlichen. 1. Erstes Beispiel: Sokrates sagt zu Protarchos, er wolle das was er meint, an den Buchstaben (γράμματα) klar machen, die Protarchos gelernt habe. Sokr.: Der Laut (φωνή) ist uns doch einer, der durch den Mund geht und unbegrenzt (ἄπειρος) (ist er) wiederum der Menge nach bei allen und jedem einzelnen. (17 b 3 f.) (Protarchos stimmt zu.)

Was heißt das? Jeder gesprochene empirische Laut, den wir mit unserer Stimme in die Welt schicken, ist zunächst einmal eine Einheit. Zugleich können diese Laute, da sie von jedem einzelnen Menschen gesprochen



B. Die Gabe der Götter23

werden und die Menge des Gesprochenen wie auch der Sprecher potentiell unendlich15 ist, als unbegrenzt in ihrer Vielfalt aufgefasst werden. So weit, so gut. Aber Sokrates begnügt sich nicht mit dem Aufweis, dass stimmliche Laute zugleich Einheiten sind und unbegrenzt viele. Er fährt fort: Aber durch keine dieser beiden (Bestimmungen) sind wir kundig (σοφοί), weder dadurch, dass wir das Unendliche von ihm (dem Laut) wissen noch dadurch, dass wir das Eine wissen. Sondern dadurch, dass wir wissen, wie viele es sind und was für welche. Das ist es, was jeden einzelnen von uns zu einem Sprachkundigen (γραμματικός) macht.16

Dieser Gedanke der Wievielheit und der Wiebeschaffenheit der Laute wird in Sokrates’ dritten Beispiel, dem sogenannten Theuth-Mythos, wieder aufgegriffen. Aber auch schon hier scheint Protarchos das Wesentliche verstanden zu haben, denn er stimmt emphatisch zu: „Sehr wahr“. Im Umriss wird in der Tat jetzt schon deutlich, worauf Sokrates hinaus will: Wenn er hier auch noch keine Klassifizierung der Buchstaben vornimmt – klar scheint doch, dass durch eine bestimmte Zahl (ὁπόσα) von Buchstaben sowie auch eine bestimmte Art (ὁποῖα) von Buchstaben die unendlich vielen und vielfältigen Laute, die mittels der menschlichen Stimme nach außen dringen, in gewissen Gruppen geordnet werden können, welches das Geschäft des Sprachkundigen (γραμματικός) ist. 2. Zweites Beispiel: Ohne Übergang bringt Sokrates nun das zweite Beispiel:17 Und fürwahr, was jemanden zu einem Musikkundigen macht (μουσικός), das ist dasselbe (d. h. dieselbe Fähigkeit).

Protarchos versteht diesen raschen Übergang nicht. Sokrates fährt fort: Ein Ton (φωνή) ist doch irgendwo – wie auch gemäß jener Kunst (der Grammatik) – Einer in ihr (sc. der Musik).18 15  Man muss sich bei dieser Art der Unendlichkeit immer vergegenwärtigen, dass Platon von einer unendlichen Zukunft des Kosmos (vgl. Tim. 38 b, c) und damit auch von einer unendlichen Zahl der Menschen ausgeht. 16  17 b 6–9. 17  17 b 11–e 6. 18  Von manchen Kommentatoren wird die Bedeutung von φωνή in diesen Beispielen problematisiert: ob man Stimme, Laut, Ton, Lautäußerung oder gar Klasse von Tönen dafür setzen solle. Mir scheint es in den von Sokrates angeführten Beispielen ganz unzweideutig zu sein, dass die einzelne empirische Lautäußerung gemeint ist, die in der Grammatik mit „Laut“ wiedergegeben wird, in der Musik allerdings mit „Ton“ oder „Klang“.

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Kap. 1: Das Apeiron und die Zahl

Auf die zustimmende Äußerung des Protarchos hin sagt Sokrates den vieldiskutierten Satz: Lasst uns zwei setzen, Tiefes und Hohes, und als Drittes das Gleichgespannte (ὁμότονον), oder wie?19

Protarchos hat keine Schwierigkeiten das zu verstehen: „Ja, so (wollen wir es setzen)“. Was Sokrates mit „hoch“ oder „tief“ in Bezug auf Töne meint, kann sich der moderne Leser vorstellen, was aber ist mit „gleichgespannt“ (ὁμότονον) gemeint? Hackforth schreibt in seinem Kommentar:20 „ὁμότονον appears to mean a sound which is ‚on a level‘ of pitch with the speaking voice, and so not felt as either high or low. It corresponds to ‚middle C‘ on the pianoforte, though it need not be restricted to a single note, but may cover a certain limited stretch of notes.“ D. Frede schreibt relativ ausführlich zu dem Musikbeispiel (159 ff.); was aber ὁμότονον genau heißt, vermag auch sie nicht aufzuklären. (Es muss wohl so etwas wie eine mittlere Stimmlage sein, gleich weit entfernt von den höchsten und tiefsten verwendeten Tönen.) Frede bemerkt richtig (162): „Daß ein Ton gleicher Frequenz in verschiedenen Systemen vorkommt“ (gemeint ist: relativ zu verschiedenen Tetrachorden) „und verschieden bestimmt wird, bedeutet jedoch nicht, daß das Musikbeispiel prinzipiell ungeeignet zur Erklärung der dialektischen Methode ist, sondern lediglich, dass man – anders als in unserem Notationssystem – einen einzelnen Ton für sich genommen gar nicht definieren kann. Das macht das „dialektische“ Handhaben der Elemente der Musik zwar sehr viel schwieriger als es das Beispiel der Buchstaben ist, macht aber umso deutlicher, wie notwendig die Kenntnis sämtlicher musikalischen Systeme ist, wenn man es darin zur Kennerschaft bringen will, wie Platon ja auch selbst versichert.“ Allerdings kann ich ihr nicht zustimmen, wenn sie schreibt (164), dass sich Platon nur an „das Musikverständnis junger Männer“ wende, und es für verfehlt hält, die pythagoreische Musiktheorie in diese Stelle hineinlesen zu wollen. Gerade die große Entdeckung des Pythagoras, nämlich dass die wichtigen Intervalle wie Oktave, Quinte und Quarte durch feste Zahlenverhältnisse bestimmt sind, ist es doch, die hier zumindest im Hintergrund des Musikbeispiels eine Rolle spielt. Obgleich der Erklärungsversuch von Hackforth etwas künstlich erscheint, eines kann man m. E. übernehmen, nämlich Modern physikalisch gesprochen ist das einzelne empirisch hör- und messbare Schallwellenpaket gemeint, das von der Stimme bzw. vom Instrument aus kommend ins Ohr dringt und im auditorischen Zentrum als Einheit wahrgenommen wird. 19  17 c 4. 20  S. 27 Fußnote.



B. Die Gabe der Götter25

dass mit ὁμότονον nicht ein einzelner Ton gemeint sein kann, sondern eher eine Gruppe von nebeneinander liegenden Tönen, die weder besonders tief noch besonders hoch klingen. Wie diese dritte Klasse von Tönen auch immer zu verstehen ist, die Gedanken, die Sokrates im Folgenden über die Beziehung des Apeiron zur Zahl in der Musik vorbringt, sind davon unabhängig. Aber, mein Freund, wenn du die Intervalle (διαστήματα) erfassest, wie viele es sind der Zahl nach in dem Klang hinsichtlich der Höhe und Tiefe und was für welche es sind, so wie die Definitionen (ὅρους) der Intervalle, und was für Kombinationen (συστήματα) aus diesen entstehen – im Blick worauf unsere Vorgänger uns Nachfolgenden es überliefert haben, diese Dinge Harmonien (ἁρμονίας) zu nennen, und andere solche in den Körperbewegungen entstehenden Erscheinungen (πάθη) (wovon sie sagen, dass man sie durch Zahlen messen müsse) zu bezeichnen als Rhythmen und Metren (ῥυθμοὺς καὶ μέτρα) und zugleich zu denken, dass man jegliches Eine und die Vielen so betrachten muss – wenn du also dies so auffasst, dann bist du ein Kundiger geworden, und wenn du irgendein beliebiges anderes Eine in dieser Weise betrachtest und vornimmst, so bist du in Hinsicht auf dieses zur Einsicht gelangt. (17 c 11–e 3).

Diese lange und etwas unübersichtliche Periode (die ich in der Übersetzung nachzugestalten versucht habe) enthält in gedrängtester Form die Vorstellungen Platons von den Fähigkeiten eines wahren Musikkundigen.21 In der folgenden Interpretation sollen die wichtigsten Dinge kurz angerissen werden. Der erste Punkt ist die Kenntnis der Intervalle und ihrer Kombinationen. Dass die Intervalle auf festen Zahlenverhältnissen beruhen, hatte schon Pythagoras mit Hilfe seines Monochords herausbekommen. Wie weit Platon mit diesen Experimenten vertraut war, wissen wir nicht, aber er dürfte wohl gewusst haben, dass die wichtigen konsonanten Intervalle (Oktave, Quinte, Quarte, Terz, Sexte) auf einfachen ganzzahligen Saitenteilungsverhältnissen beruhen (1:2; 2:3; 3:4; 4:5 (große Terz); 3:5 (große Sexte)). Ob er sich dabei einen gleichzeitigen Zusammenklang zweier Saiten oder nacheinander gespielte Töne einer Melodie und einer Tonleiter vorstellte, bleibt wohl unentschieden, ist auch nicht so wesentlich. Der zweite wesentliche Punkt ist, dass er die Musikkunde auch auf Tanzrhythmen und Taktarten (Metren) bezieht. Wahrscheinlich denkt er da vor allem an die Einstudierung des Chores in den Tragödien und Komödien. Auch hier spielen natürlich Zahlen und Zahlverhältnisse eine eminente Rolle. 21  Wenn man will, kann man diesen Satz als Fortsetzung der im Staat geführten Diskussion über den gewünschten Musikbetrieb lesen (Rep.  III, vor allem 398 c–401 a), nur dass sich Sokrates hier viel allgemeiner über die Fähigkeiten eines μουσικός äußert.

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Kap. 1: Das Apeiron und die Zahl

Zum Schluss betont er nochmals die richtige Behandlung des Eines-Vieles-Problems: ein Kundiger (σοφός) müsse bei der Behandlung jedes Einen und Vielen so vorgehen wie gerade geschildert, d. h. wohl, das Eine nicht nur als dieses Eine anzusehen und dann seine vielfältigen Erscheinungsformen zu betrachten – man könnte z. B. an die Bedeutung eines bestimmten Tanzschrittes im anapästischen Metrum denken – sondern dieses Eine (also der Tanzschritt) muss auch in eine vollständige Theorie der Metren eingefügt werden, und diese wiederum verlangt nach einer quasi-mathematischen Behandlung der verschiedenen Möglichkeiten. Sokrates gibt hier leider kein weiteres Beispiel, aber vielleicht ist das gerade geschilderte in seinem Sinne. Am Ende seiner Auslassung über Musik kommt er noch einmal auf das Apeiron zurück: Das Unbegrenzte aber von jedem Einzelnen und die unbegrenzte Menge in den einzelnen Dingen bewirkt jedes Mal, dass du im Denken nicht als einer erscheinst, mit dem man rechnen muss und der geschätzt wird (οὐκ ἐλλόγιμον οὐδ’ ἐνάριθμον), da du ja bei keinem Gegenstand auf eine Zahl siehst.22

Dieser Satz, dessen ironische Färbung fast ganz in der Übersetzung ­verloren geht,23 enthält meines Erachtens zwei Bedeutungsnuancen von ἄπειρος = unbegrenzt. Sokrates formuliert es ja auch zweimal in etwas verschiedener Weise aus: (1)  τὸ δ’ ἄπειρον ἑκάστων – das Unbegrenzte von den je einzelnen Dingen – und (2)  ἐν ἑκάστοις πλῆθος ἄπειρον – die in den einzelnen Dingen unbegrenzte ­Menge.

Wie soll man diesen Unterschied verstehen? Mein Vorschlag wäre, (1) so aufzufassen, dass damit das Moment der Unbegrenztheit gemeint ist, das in den einzelnen Phänomenen schlummert, z. B. im Ton c’, der angeschlagen oder gezupft wird, die unendliche Variationsbreite von Lautstärke, Dauer, instrumentaler oder vokaler Färbung, Obertonreichtum etc., während mit (2), „der unbegrenzten Menge in den einzelnen Dingen“, gemeint ist, wie oft ein Vorkommnis einer empirischen Erscheinung gezählt werden kann. Um im Beispiel des Tones c’ zu bleiben: mit (2) ist die potentiell unendliche Zahl seiner Vorkommnisse gemeint. Platon will mit dem Satz 17 c 3–6 ausdrücken, dass jeder, der in einer Kunst (Techne) etwas gelten will, auf die Zahl sehen muss, d. h. wohldefi22  17 e 3–6.

23  Die beiden Adjektive ἐλλόγιμος und ἐνάριθμος, die dem sich auf das Apeiron Konzentrierenden abgesprochen werden, enthalten beide im Griechischen das Zahlhafte: in ἐλλόγιμος steckt λόγος, was in einer Bedeutung „Rechnung“ heißt und in ἐνάριθμος steckt natürlich ἀριθμός, die Zahl.



B. Die Gabe der Götter27

nierte Zahlverhältnisse betrachten muss. Es genügt eben nicht, in „dichterischer“ Lockerheit zu sagen, dieses und jenes Phänomen habe unendlich viele Nuancen oder Aspekte. Welche und wie viele Aspekte oder Modi eines Phänomens in der Kunst zu betrachten sind, macht den σοφός, den Kundigen, aus. Bevor Sokrates zum letzten Beispiel, in dem er die Buchstaben nochmals aufgreift, übergeht, gibt es ein kleines Zwischenspiel,24 wo Philebos (der ja in das ganze Gespräch nur selten eingreift und durch Schweigen glänzt) von Protarchos angeredet wird und sein langes Schweigen mit einem Satz unterbricht. Protarchos meint, dass Sokrates eine sehr schöne Darlegung gegeben habe. Philebos stimmt zu, aber fragt, was denn diese ganze Darlegung mit dem eigentlichen Thema zu tun habe, das ja darin besteht herauszufinden, ob ein Leben der Lust oder ein Leben der Vernunft den Siegespreis davonträgt. 3. Drittes Beispiel: Sokrates nimmt den Einwand des Philebos auf und sagt, dass er das tun werde, wenn er noch „ein bisschen über diese Dinge durchgegangen“ sei. Damit meint er sein drittes Beispiel, welches, da er es dem Ägypter Theuth in den Mund legt, in der Tradition als Theuth-Mythos bekannt geworden ist. Doch bevor er zu dieser Geschichte kommt, wiederholt er eine schon öfter ausgesprochene Warnung in Bezug auf die Behandlung des ἄπειρον in den Wissenschaften: Wie nämlich jemand, wenn er sich ein beliebiges Eines irgendwann vornimmt – wie nämlich dieser, so sagen wir, nicht sofort auf die Natur des Unbegrenzten (ἐπ’ ἀπείρου φύσιν) blicken darf, sondern auf eine Zahl (blicken muss), so muss auch umgekehrt jemand, wenn er gezwungen worden ist, zuerst das Unbegrenzte vorzunehmen, nicht sofort das Eine, sondern wiederum eine Zahl, die eine bestimmte Menge hat, bedenken, (und dann) zu Ende kommen von allen auf Eines hin. (18 a 7–b 3).

Sokrates wiederholt hier also in allgemeiner Form seine Warnung vor allzu raschem Übergang vom Einen zum unbegrenzt Vielen bzw. umgekehrt vom unbegrenzt Vielen zum Einen hin. Dazwischen liegen jeweils bestimmte Zahlen bzw. Zahlverhältnisse, die man genau betrachten müsse. Interessant in philologischer Hinsicht ist auch der hier zum ersten Mal gebrauchte Ausdruck von der „Natur des Apeiron“. Das ist für die spätere Diskussion des Apeiron innerhalb der vierfachen Gliederung alles Seienden (23 c–27 c) festzuhalten. 24  Solche Zwischenspiele schiebt Platon nicht nur im Philebos, sondern auch in vielen anderen Dialogen ein, um zum einen den strengen Argumentationsgang aufzulockern und zum andern einen erneuten Anlauf vorzubereiten.

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Kap. 1: Das Apeiron und die Zahl

Nun greift Sokrates wiederum das Beispiel mit den Buchstaben, dieses Mal in Form des Theuth-Mythos, auf. Da diese Stelle in den einschlägigen Kommentaren relativ ausführlich behandelt wird, beschränke ich mich auf eine Rekapitulation der Hauptgedanken. Der Ägypter Theuth habe als erster in dem Unbegrenzten (ἐν τῷ ἀπείρῳ) drei Klassen menschlicher Lautäußerungen eingeteilt: (a) die Vokale (φωνηέντα), die er als mehrere ansah (die genaue Zahl lässt Sokrates offen); (b) die Laute, die zwar verschieden von den Vokalen sind, insofern sie nicht an einem stimmhaften Laut (φωνή) teilhaben; wohl aber haben sie an einem Klang (φθόγγος) teil (Sokrates meint hier wohl die Laute, die später als Liquida bezeichnet wurden); (c) die Klasse der Buchstaben, die ganz „ohne Stimme“ (ἄφωνα) sind: die Konsonanten (Muta). Theuth habe die Zahl der Buchstaben in den einzelnen Klassen festgelegt (die 2. Klasse nennt Sokrates jetzt die „mittleren“) und jedem einzelnen habe er den Namen στοιχεῖον gegeben, was bezeichnenderweise auch „Element“ heißt. Theuth hat also dieser Erzählung zufolge die Elemente der Sprachäußerungen als erster zahlenmäßig festgelegt und damit die γραμματικὴ τέχνη (18 d 2) erfunden: die Wissenschaft der Grammatik. In der sehr gerafften Darstellung dieses „Mythos“ hat Sokrates – wohl absichtlich – problematische Dinge ausgelassen, z. B. welche Buchstaben zu der mittleren Klasse gehören, die zwar nicht-vokalisch (ἄφωνα) sind, aber mit einem Klang (Geräusch, φθόγγος) verbunden sind – ob es außer μ, ν, λ, ρ auch noch σ und die mit σ verbundenen Laute sind. Sokrates lässt sich auch in keiner Weise über die genaue Zahl der Buchstaben aus. Man kann bloß vermuten, dass er die 24 Buchstaben des griechischen Alphabets meint. Aber vielleicht wusste Platon als jemand, der Ägypten bereist hatte, dass es andere Alphabete gibt als das griechische und dass z. B. die Zahl der Diphtonge von der jeweiligen Konvention bzw. kulturellen Tradition abhängt, ebenso wie man bestimmte Doppelkonsonanten wie φ und ψ als einzelne oder doppelte Buchstaben zählen kann. Wesentlich für unser Thema ist allein, dass hier eine zahlenmäßige Festlegung von Elementen im unendlichen Meer der menschlichen Lautäußerungen erfolgt, welche die Voraussetzung für eine Wissenschaft ist.



B. Die Gabe der Götter29

4. Resümee der drei Beispiele: Kann man nun, wenn man Sokrates’ drei Beispiele Revue passieren lässt, sagen, dass sie das wirklich illustrieren, was er sagen will, nämlich dass man, um in einer Kunst (Techne) als ein Kundiger zu gelten, immer eine Art Dreischritt vollziehen muss: Vom Einen über Zahlen und Zahlverhältnisse zu Vielen und schließlich zum Apeiron bzw. umgekehrt von den unbegrenzt vielen Einzelerscheinungen über Zahlen und Zahlverhältnisse zum Einen (der übergeordneten Idee)? Die Kommentatoren scheinen nicht einig in der Beurteilung der drei Beispiele für Sokrates’ allgemeine These. So äußert z. B. Hackforth seine Bedenken (26): „Unfortunately his (Plato’s) attempts to illustrate the method are more confusing than helpful: the first illustration is, indeed, a real one if we supplement its very brief statement by taking account of the details of the third; but the third itself is confused, and the second, as we have seen, is not in fact an illustration of dialectic at all.“ Dem kann ich nicht zustimmen. Alle drei von Platon gegebenen Beispiele (oder zwei, wenn man so will: das Buchstabenbeispiel und das Musikbeispiel) sind gelungene Illustrationen für die Beschreibung eines Denkprozesses, der entweder, von einem Genos ausgehend, durch richtige Einteilungen dieses Genos’ in Spezies und Subspezies schließlich zu einem Punkt gelangt, wo keine Allgemeinheit mehr feststellbar ist und man beim Unbegrenzten angelangt ist; einem Unbegrenzten der empirischen Erscheinungen in der Welt (z. B. der aktuell in einer bestimmten Zeitspanne gespielten mehr oder weniger richtigen Töne auf einem mehr oder weniger richtig gestimmten Instrument (Musikbeispiel) – oder man geht in seinem Denkprozess umgekehrt von dem unendlichen Meer der Lautäußerungen aus (Theuth-Mythos), stellt Gruppen von Lauten fest, benennt sie mit den Namen der Buchstaben und erfasst damit ihre Funktion für die schriftliche Fixierung von Sprachlauten und ihre Kombination in Wörtern. Was Platon doch recht deutlich sagt und, sich wiederholend, bekräftigt, ist die Forderung, den dialektischen Weg hinauf oder hinab richtig zu beschreiten, indem man jeweils in der Mitte zwischen dem Einen und dem unendlich Vielen (Apeiron) Zahlen einführt und mit ihnen arbeitet.

Kapitel 2

Die vierfache Gliederung alles Seienden (23 c–27 c) A. Hinführung Bevor wir zu der berühmten Passage über die vierfache Gliederung alles Seienden kommen, wo wir insbesondere die Rolle des Apeiron betrachten wollen, sei kurz umrissen, wie dieses Stück Ontologie – denn darum handelt es sich – in das Ganze des Dialogs eingebettet ist. Man kann diese Passage als den zweiten Anlauf des Sokrates deuten, mit „neuen Waffen“25 das Wesen der Lust zu erkunden und damit die eingangs gestellte Streitfrage zwischen Philebos und Sokrates zu entscheiden, ob ein Leben der Lust einem Leben der Vernunft vorzuziehen ist oder umgekehrt. Der erste Anlauf zur Grundlegung für einen solchen Diskurs war die Behandlung der Gabe der Götter und die Illustration durch die drei Beispiele. In diesem Anlauf haben wir vieles gehört über die richtige Behandlung des Einen, des Vielen, des Unbegrenzten und der Zahlen. Wir werden sehen, dass Platon diese Gedanken in einer entwickelten Form wieder aufnimmt. Doch wie führt Platon den Dialog jetzt weiter? Da ein ausführliches Eingehen auf dieses (wie ich meine) längere Interludium (18 e–23 b) mit seinen inhaltlichen, psychologischen und dramatischen Aspekten im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich ist, beschränke ich mich auf dürre Zusammenfassungen der Unterabschnitte und verweise auf die einschlägigen Kommentare. (1) 18 d 3–19 a 2: Wiederaufnahme der ursprünglichen Frage auf Wunsch des Philebos; Sokrates fasst das eben gewonnene Ergebnis über das Verhältnis von Einem und Vielen und die Funktion der Zahl kurz zusammen. (2) 19 a 3–20 a 8: Protarchos übernimmt die kommende schwierige Aufgabe, nachdem er zunächst so tut, als schiebe er den Ball Philebos zu; er sagt, dass es um die Arten der Lust gehe. Sokrates nimmt den Gedanken auf und wendet ihn ins Allgemeine. Protarchos stellt in einem längeren und für ihn erstaunlich reflektierten Redebeitrag fest, dass man, da man 25  23 b.



A. Hinführung31

nicht alles wissen könne, zur „zweitbesten Fahrt“ greifen müsse: sich selbst zu erkennen. Wiederholung der ursprünglichen Frage; Vorwurf an Sokrates, dass er seine Gesprächspartner immer in die Enge treibe. Der Dialog soll nicht in der Aporie enden. Sokrates selbst will verschiedene Arten der Lust und der Erkenntnis aufstellen. (3) 20 b 1–c 7: Sokrates behauptet, ein Gott habe ihm etwas in Erinnerung gebracht, er habe Reden im Traum und im Wachen gehört, die ihm statt der Alternative Leben aus Lust – Leben aus Einsicht ein Drittes zeigten. Dieses Dritte müsse näher bestimmt werden; man kann dann auf die Bestimmung der Arten der Lust verzichten. (4) 20 c 8–21 e 4: Sokrates setzt als Voraussetzung für den weiteren Diskurs, dass der „Anteil des Guten“ (ἡ τ’ ἀγαθοῦ μοῖρα) notwendig in sich vollendet ist. Das Leben der Lust in seinem Extrem (ohne alle Einsicht) wird vorgestellt und mit der Existenz gewisser Meerestiere verglichen. Ebenso wird das Leben der Einsicht in seinem Extrem (ohne alle Lust) kurz charakterisiert. (5) 22 a 1–b 9: Das aus Lust und Einsicht gemischte Leben ist allein das wünschenswerteste. (6) 22 c 1–23 b 10: Schlussteil des Interludiums: Geplänkel zwischen Philebos und Sokrates. Frage, welches von beiden: die Lust oder die Vernunft den zweiten Preis davonträgt. Sokrates sieht die Entscheidung darüber als schwierig und langwierig an. Es bedürfe anderer Künste und neuer „Geschosse“, um für den zweiten Preis für die Vernunft streiten zu können. Interessant an diesem ganzen – hier nur in unzureichender Weise skizzierten – Zwischenspiel ist, wie eng Platon seine vierfache Gliederung alles Seienden (die nun folgt) in den thematischen Zusammenhang des Dialoges einfügt, wie wenig er diesen bedeutenden Passus bloß als trockene abstrakte Darlegung versteht. Damit möchte ich der Auffassung Strikers widersprechen, die gleich am Anfang ihrer Abhandlung betont, dass man die vierfache Gliederung völlig losgelöst vom Rahmen des Philebos betrachten könne.26 Striker hat natürlich Recht darin, dass dieser Abschnitt zunächst einmal ziemlich geschlossen erscheint und daher auch als etwas Neues, eine ἄλλη μηχανή (23 b 7) von Sokrates eingeführt wird, sowie als etwas von den bisherigen Argumenten Verschiedenes (23 b 8). Dennoch darf man die Verklammerung dieses Abschnitts, den ich die „ontologische Grundlegung“ des Philebos nennen möchte, mit dem gesamten Dialog nicht außer Acht lassen. Besonders im Nachfolgenden kommt Sokrates immer wieder auf die hier 26  Sie

behandelt die vier Gattungen S. 41 ff. ihrer Arbeit.

32

Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

zuerst eingeführten Gattungen zu sprechen, und alle vier werden im nachfolgenden Dialog weiter illustriert und vertieft. Meine Interpretation von ausgewählten Partien des restlichen Dialogs wird, so hoffe ich, zeigen, dass insbesondere die Verbindung des Apeiron mit den verschiedenen Arten der Lust und des Wissens erst in den auf die vierfache Gliederung folgenden Abschnitten zufriedenstellend aufgeklärt wird.27

B. Übersetzung Wir kommen jetzt zu dem berühmten Abschnitt des Dialogs, der so mannigfache Interpretationen hervorgerufen hat wie kaum ein anderer des Philebos.28 Zunächst sei der ganze Abschnitt 23 c 1–27 c 2 in Übersetzung vorgestellt. Um die in der Trockenheit des Diskurses manchmal aufscheinende Lebendigkeit des Dialogs für den Leser bemerkbarer zu machen, habe ich mir erlaubt, an einigen Stellen hinter dem Namen des Sprechenden eine kleine Regiebemerkung in Klammern zu setzen.29 (23 c 1) Sokr.: Wenn wir nun aber den Anfang der Rede setzen, wollen wir uns sehr in Acht nehmen. Prot.: Welchen meinst du denn? Sokr.: Alles jetzt Seiende im All wollen wir zweifach teilen oder, wenn du lieber willst, dreifach. Prot.: Wonach, möchtest du wohl sagen (sollen wir teilen)? Sokr.: Lasst uns einiges von den eben gesagten Reden wieder aufnehmen! Prot.: Welches? 27  Ein ähnliches interpretatorisches Problem haben wir mit dem Höhlengleichnis aus dem Staat vor uns (Rep. 514–517): natürlich kann man es zunächst einmal für sich lesen und interpretieren, besonders wenn man die „Erklärung“ des Sokrates gleich im Anschluss an das eigentliche Gleichnis mit dazu nimmt. Jedoch greift jede Interpretation zu kurz, die nicht den Zusammenhang mit dem Sonnen- und Liniengleichnis berücksichtigt, wie auch die Funktion der drei Gleichnisse im Zusammenhang des ganzen pädagogischen Konzepts für die regierende Klasse. 28  Die Kommentatoren geben diesem Abschnitt auch durchaus verschiedene Namen. Hackforth z. B. spricht einfach von der „fourfold classification“, Striker von den „vier Gattungen alles Seienden“, Frede von der „vierfachen Einteilung alles Seienden“, Gosling von der „ontological passage“, Gadamer von der „Lehre von den vier Gattungen“. 29  Dass schon in der Übersetzung zur Erläuterung manchmal Fußnoten eingestreut werden, ließ sich nicht vermeiden. In der nach der Übersetzung folgenden Gesamtinterpretation des Abschnitts werden diese Erläuterungen wieder aufgenommen.



B. Übersetzung33 Sokr.: Wir sagten, dass der Gott das eine von dem Seienden als unbegrenzt (ἄπειρον) aufgezeigt habe, anderes als Grenze (πέρας). Prot.: Allerdings. Sokr.: Diese Arten (εἴδη) wollen wir als zwei setzen,30 die dritte aber als eines aus diesen beiden gemischtes. Ich bin aber, wie es scheint, ein lächerlicher Mensch, der nach Arten auseinander nimmt und zusammenzählt. Prot.: Was meinst du, Guter? Sokr.: Es scheint mir noch eine vierte Gattung (γένος)31 nötig zu sein. Prot.: Sag’, welche! Sokr.: Sieh von der Vermischung dieser (beiden) zueinander die Ursache, und setze mir diese zu jenen dreien als vierte. Prot.(spottend): Braucht es für dich wohl gar noch eine fünfte (Gattung), welche die Trennung von irgendwas bewirken kann? Sokr.: Vielleicht; ich glaube jedoch nicht für den Augenblick. Sollte es aber nötig sein, so wirst du mir verzeihen, wenn ich ein fünftes verfolge. Prot.: Wieso auch nicht? Sokr.: Indem wir nun zuerst von den vieren drei aussondern, wollen wir versuchen, die zwei von ihnen, da wir sehen, dass jedes von ihnen gespalten und zerrissen ist, in Eines beide wieder zusammenzubringen und so zu erfassen, wie jedes von den beiden (zugleich) Eines und Vieles war. Prot.: Wenn du mir noch klarer darüber sprechen könntest, könnte ich vielleicht folgen.

(24 a)

Sokr.: Nun, ich meine: die zwei, die ich vorlege, sind, wie eben gesagt, das eine das Unbegrenzte (ἄπειρον), das andere das, was eine Grenze hat (τὸ πέρας ἔχον); dass aber auf eine gewisse Weise das Unbegrenzte vieles ist, versuche ich zu erklären. Das eine Grenze Habende soll auf uns warten. Prot.(ironisch): Es wartet.

Sokr.: Sieh’ also! Schwierig nämlich ist es und strittig, was ich dich auffordere zu betrachten, betrachte es aber dennoch! Zuerst schau’ auf das Wärmere und Kältere, ob du wohl irgendeine Grenze bemerken kannst, oder ob nicht das Mehr oder Weniger, welches diesen Gattungen innewohnt, (24 b) solange es innewohnt, nicht zulässt, dass ein Ende entsteht; entstünde nämlich ein Ende, so würden sie auch selbst aufhören (zu sein). 30  Ich habe den Begriff „Arten“ für εἴδη gewählt, da ich glaube, dass εἴδη hier nicht in einem für die Ideenlehre terminologischen Sinn gemeint sind, sondern eher in lockerer Ausdrucksweise eine Zusammenfassung von Entitäten bedeuten. Hackforth übersetzt mit „classes“, Frede mit „Gattungen“. 31  Hier wechselt Sokrates plötzlich den Terminus: ein Anzeichen für die eben erwähnte Lockerheit des nicht-terminologischen Gebrauchs. Im Folgenden gebraucht er das Wort Genos (im Plural: γένη) am häufigsten für die vier Gattungen. Hackforth benutzt hier, um den Wechsel anzudeuten das Wort „kind“ (44).

34

Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden Prot.: Du sprichst sehr wahr. Sokr.: Immer also zeigt uns die Rede (Logos), dass diese beiden kein Ende (τέλος) haben; da sie ohne Ende (ἀτελῆ) sind, werden sie daher gänzlich unendlich (ἀπείρω).32 Prot. (emphatisch): Und das ist ganz stark so, o Sokrates. Sokr. (den Ausdruck „stark“ (σφόδρα) aufnehmend): Und gut, lieber Protarchos, hast du es aufgenommen und

(24 c) hast daran erinnert, dass dieses „Stark“, was du jetzt betontest, und das „Sanft“ beide dieselbe Bedeutung haben wie das Mehr und Weniger; worin sie nämlich sind, dort lassen sie nicht ein je Einzelnes ein Wieviel sein,33 sondern indem sie immer ein Stärkeres im Vergleich zu einem Schwächeren und das Gegenteil in alle Handlungen hineinbringen, bewirken sie das Mehr und das Weniger, das Wieviel aber bringen sie zum Verschwinden. Denn was jetzt gesagt worden ist, wenn sie das Wieviel nicht verschwinden ließen, sondern zuließen, dass es selbst und das Maßvolle (μέτριον) in den Sitz (24 d) des Mehr und Weniger und des Starken und Sanften sich hinein begäben, so gingen diese selbst an ihrem eigenen Platz zugrunde, worin sie sich befanden. Denn Wärmeres und Kälteres existierten nicht mehr, wenn sie das Wieviel aufnähmen. Es rückt nämlich vor und bleibt nicht: das immer Wärmere und ebenso wenig das Kältere, das Wieviel aber bleibt stehen und hat aufgehört vorzurücken. Nach dieser Rede also dürfte wohl das Wärmere ein Unbegrenztes werden34 und zugleich auch das Gegenteil. Prot. (leicht unsicher): Es erscheint freilich so, o Sokrates. Aber, was du auch sagtest, es ist nicht leicht, dem zu folgen. Wird es indes wieder und wieder gesagt, (24 e) so bringt es wohl genügend Übereinstimmung zwischen dem Fragenden und dem Gefragten zustande.35 Sokr. (ihn ermutigend): Wohl gesprochen. Und es soll ein Versuch gemacht werden, so vorzugehen. Jetzt aber sieh’ doch zu, ob wir nicht dieses als Kennzeichen der Natur des Unbegrenzten annehmen sollen, damit wir nicht, alles durchgehend, (die Rede) in die Länge ziehen. Prot.: Welches meinst du denn? 32  Die griechische Form ist ein Dualis und weist auf die Zweiheit von dem Wärmeren und Kälteren hin. Was die beiden Adjektive angeht, so sieht man hier eine Gleichsetzung von ἀτελής „ohne Telos“ und ἄπειρος „ohne Grenze“. 33  D. i. quantitativ bestimmt. 34  Platon schreibt bewusst γίγνοιτ’ ἀν und nicht εἴη ἀν, um anzudeuten, dass man dem Wärmeren und Kälteren nicht das statische Sein attribuieren kann. 35  Eine von mehreren Stellen bei Platon, wo der Wert der Wiederholung betont wird. Vgl. auch Gorgias 490 e–491 b.



B. Übersetzung35 Sokr.: Alles was uns als mehr oder weniger werdend erscheint und als das Stark und Sanft Aufnehmende und das Sehr und

(25 a) alles Derartige müssen wir in die Gattung des Unbegrenzten, dies alles als in Eines zusammenstellen, gemäß voriger Rede, wo wir sagten, dass es nötig sei, alles was zerrissen und zersplittert ist, nach Möglichkeit zusammenzubringen, dass es eine Natur bezeichnet, wenn du dich erinnerst. Prot.: Ich erinnere mich. Sokr.: Was nun dieses nicht annimmt, was dagegen alles Entgegengesetzte annimmt: zuerst das Gleiche und die Gleichheit, nach dem Gleichen das Doppelte und alles was eine Zahl hinsichtlich einer (anderen) Zahl (25 b) oder ein Maß hinsichtlich eines (anderen) Maßes ist, wenn wir dies alles zur Grenze zählen,36 dann dürften wir wohl allem Anschein nach gut verfahren. Oder wie meinst du? Prot.: Sehr gut, o Sokrates. Sokr.: Sei es so. Das Dritte aber, das aus diesen beiden Gemischte, welche Gestalt, wollen wir sagen, hat es?37 Prot.: Du wirst es mir auch sagen, glaube ich. Sokr.: Ein Gott nun (wird es sagen), wenn denn meinen Bitten irgendein Gott Gehör schenkt. Prot. (halb scherzend): Bitte also und schau! Sokr. (nach einer Pause): Ich schaue; und mir scheint, o Protarchos, einer von ihnen jetzt ein Freund für uns geworden zu sein. (25 c)

Prot. (zweifelnd): Wie meinst du das und auf welches Zeugnis stützt du dich? Sokr.: Ich will es natürlich sagen; du aber folge mir der Rede! Prot.: Sag’ nur! Sokr.: Wir redeten doch eben vom Wärmeren und Kälteren, nicht wahr? Prot.: Ja. Sokr.: Füge nun diesen hinzu: Trockeneres und Feuchteres und Mehr und Weniger und Schnelleres und Langsameres und Größeres und Kleineres und was auch immer wir im vorigen (Diskurs) in Eines (zusammenfassend) setzten, von der das Mehr und Minder aufnehmenden Natur.38

36  εἰς

τὸ πέρας ἀπολογιζόμενοι 25 b 1 f. darf man nicht annehmen, dass Platon hier das Wort ὶδέα, wofür ich „Gestalt“ setze, in einem für die Ideenlehre terminologischen Sinn gebraucht. Das scheint auch Hackforth anzunehmen, denn er übersetzt mit „description“. 38  Alle diese Komparative kann man in Eines zusammenfassen, nämlich die Natur (φύσις, 25 c 11), die das Mehr und Minder aufnimmt, wobei der Ausdruck „Natur“ (Physis) in diesem Fall wohl mit Eidos (Idee) identisch ist. Schleiermacher übersetzt denn auch „[…] was wir sonst unter den das Mehr und Minder annehmenden Begriff zusammengestellt haben […]“ Diese Übersetzung halte ich jedoch nicht 37  Wiederum

36 (25 d)

Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden Prot.: Du meinst die Natur des Unbegrenzten? Sokr.: Ja. – Mische nun aber in diese hiernach wiederum die Familie der Grenze (τὴν τοῦ πέρατος γένναν)!39 Prot.: Was für eine? Sokr.: Welche wir auch eben – obwohl wir die (Natur) des Grenzhaften (περατοειδοῦς) hätten zusammenbringen sollen, nicht zusammengebracht haben. Aber vielleicht wird es auf dasselbe hinauslaufen, wenn, indem diese beiden zusammengebracht werden, auch jene (Natur) deutlich sichtbar wird. Prot.: Welche meinst du und wie? Sokr.: Die (Natur) des Gleichen und Doppelten und jede, welche aufhören macht,

(25 e) dass sich das zueinander Entgegengesetzte in verschiedener Weise verhält, und (im Gegenteil) Symmetrisches und Zusammenstimmendes bewirkt, indem sie (die Natur) eine Zahl hineinbringt. Prot.: Ich verstehe. Du scheinst mir nämlich zu sagen, dass wenn man dieses zusammenmischt, gewisse Produkte (γενέσεις τινὰς) in Hinsicht auf jedes Einzelne von ihnen herauskommen. Sokr.: Ganz richtig (meine ich das) nämlich, wie es scheint. Prot.: Sprich also! Sokr.: Bringt nicht bei den Krankheiten die richtige Gemeinschaft von diesen (dem Unbegrenzten und dem Begrenzten) das Wesen (φύσις) der Gesundheit hervor? (26 a)

Prot.: Allerdings. Sokr.: Wenn nun in Hohes und Tiefes, in Schnelles und Langsames,40 (alles Dinge), die unbegrenzt sind,41 eben dieses Selbe hineinkommt,42 bewirkt es da nicht eine Grenze und stellt zugleich auf das Vollendetste die ganze Musik zusammen? Prot.: Auf das Schönste. Sokr.: Und fürwahr, wenn es in Kälte- und Hitzeaufwallungen hinein kommt, so nimmt es das Allzusehr und das Unbegrenzte weg, das Maßvolle aber und zugleich Symmetrische bringt es zustande. Prot.: Wieso auch nicht?

für glücklich: ein Begriff kann nicht ein Mehr und Minder annehmen. Physis ist mehr als ein bloßer Begriff. 39  Wieder wechselt Platon die Termini: statt γένος schreibt er γέννα, ein Begriff, der eher das Verwandtschaftliche, das demselben Erzeuger Entstammende umschreibt: statt „Familie“ könnte man auch „Nachkommenschaft“ setzen. 40  Mit dem zweiten Paar sind Rhythmen gemeint, mit dem ersten Töne. 41  ἀπείροις οὖσιν 26 a 2 f. 42  Zum Text 26 a 3: Gegen Burnet würde ich das Partizip ὲγγιγνόμενα stehen lassen und keinen Hochpunkt hinter ταῦτα setzen.



B. Übersetzung37

Sokr.: Demnach sind aus diesen die Jahreszeiten und alles was schön ist, für uns geworden, indem die unbegrenzten und die eine Grenze habenden Dinge vermischt worden sind. Prot.: Wie auch nicht? Sokr.: Und zahllose andere Dinge erwähne ich nun nicht, wie zusammen mit Gesundheit: Schönheit und Kraft und in den Seelen wiederum gar viele andere und sehr schöne Dinge. (Zu Philebos gewendet:) Denn als sie frevelnden Übermut (ὕβριν) und die ganze Schlechtigkeit aller Menschen erblickte, hat diese Göttin, o schöner Philebos, in den Dingen, wo es keine Grenze der Lüste noch der Befriedigungen gab, ein Gesetz und eine Ordnung mit einer Grenze aufgestellt.43 Und du (Philebos) sagst, (26 c) dass sie aufreibe, ich aber behaupte im Gegenteil, dass sie bewahre. Dir aber, Protarchos, wie scheint es dir? Prot.: Auch sehr nach meinem Sinn ist das, o Sokrates. Sokr.: Also diese drei Dinge habe ich genannt, wenn du verstehst. Prot.: Nun, ich glaube es zu verstehen: als eines scheinst du mir das Grenzenlose (τὸ ἄπειρον) zu meinen, als eines und zweites die Grenze (τὸ πέρας) in den einzelnen Dingen, was du aber als drittes aufzeigen willst, halte ich noch nicht sehr fest (in meinem Geist). Sokr.: Die Menge nämlich, du Wunderbarer, der Entstehung des Dritten hat dich verschreckt. Obwohl auch das Unbegrenzte viele Gattungen anbot, erschienen sie (26 d) trotzdem durch die Gattung des Mehr und des Entgegengesetzten als Eines bezeichnet. Prot.: Richtig. Sokr.: Freilich hatte die Grenze weder vieles, noch fanden wir es schwierig, dass sie nicht Eines war ihrer Natur nach. Prot.: Wie denn auch! Sokr.: Überhaupt nicht. Nun aber sage, ich meinte mit dem Dritten die ganze Hervorbringung dieser (beiden)44 als Eines setzend: das Werden zum Sein45 durch die mit der Grenze bewirkten Maße. Prot. (in selbstbewussterem Ton): Ich hab’s begriffen.

(26 b)

43  Die Göttin, von der Sokrates spricht, trägt keinen Namen. Hackforth (48, Fußnote) meint, dass es sich um Harmonia handeln könnte. Sie habe die Funktion, die entsprechende Mischung hervorzubringen. Sie sei als Gegenmacht zu Philebos’ Göttin Aphrodite-Hedone hier eingeführt. Jedenfalls scheint Sokrates hier den offensichtlich apathisch daliegenden Philebos aufschrecken zu wollen und betont zugleich mit diesem Satz, in dem das Lustprinzip des Philebos als etwas Grenzenloses hingestellt wird, den Gegensatz zu seiner eigenen Position. 44  Gemeint: Grenzenloses und Grenze. 45  Griechisch: γένεσιν εὶς οὐσίαν 26 d 8. Dieser wichtige und bei den Kommentatoren sehr umstrittene Ausdruck wird uns noch in der Interpretation beschäftigen. Hier begnüge ich mich mit einer wörtlichen Wiedergabe.

38 (26 e)

Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden Sokr.: Aber nun behaupteten wir damals,46 dass zusätzlich zu den dreien ein viertes Genos zu betrachten sei. Die Betrachtung ist aber eine gemeinsame. Sieh denn, ob es dir notwendig scheint, dass alles Entstehende durch irgendeine Ursache (διά τινα αἰτίαν) entsteht. Prot.: Mir scheint es so; wie könnte es denn ohne dieses entstehen? Sokr.: Unterscheidet sich nun nicht die Natur des Bewirkenden (ἡ τοῦ ποιοῦντος φύσις) in nichts außer dem Namen von der Ursache, das Bewirkende aber und die Ursache würde mit Recht wohl Eines genannt? Prot.: Mit Recht.

(27 a)

Sokr.: Und fürwahr, wir werden wiederum zwischen dem Bewirkten und dem Werdenden außer dem Namen keinen Unterschied finden, so wie eben. Oder wie meinst du? Prot.: Genau so. Sokr.: Ist also nicht das Bewirkende (τὸ ποιοῦν) jedes Mal seiner Natur nach führend, das Bewirkte (τὸ ποιοῦμενον) aber folgt als ein Werdendes jenem nach? Prot.: Allerdings. Sokr.: Ein anderes also und nicht dasselbe ist die Ursache und das was der Ursache zum Werden dient. Prot.: Wie sonst? Sokr.: Bot uns nicht das Werdende und das, woraus alles wird, die drei Gattungen dar? Prot.: Aber klar doch.

(27 b)

Sokr.: Das aber, was all dies hervorbringt,47 nennen wir ein viertes (Genos): die Ursache, wie es als hinreichend verschieden von jenen (drei Gattungen) offenbar gemacht wurde? Prot.: Als verschieden in der Tat. Sokr.: Es ist wohl in der Ordnung – nach der Unterscheidung der vier (Gattungen) – um uns an jedes Einzelne zu erinnern, sie der Reihe nach aufzuzählen. Prot.: Sehr wohl. Sokr.: Als erstes nun nenne ich Unbegrenztes (ἄπειρον), als zweites aber Grenze (πέρας), dann aus beiden als drittes gemischt und entstanden: Sein (οὐσία).

(27 c) Nenne ich aber die Ursache (αἰτία) der Mischung und der Entstehung als vierte, dürfte ich wohl nicht fehlgehen. Prot.: Und wieso denn auch?

46  Anspielung 47  τὸ

auf 23 d 7 ff. δὲ δὴ πάντα ταῦτα δημιουργοῦν 27 b 1.



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 39

C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden (Ontologische Grundlegung 23 c–27 c): Kurz vor Beginn dieses ungewöhnlichen Exkurses betont Sokrates die Neuheit der nun folgenden Überlegungen mit Hilfe einer Metapher: es sei für einen langen und nicht neuen Logos eine neue Methode nötig;48 man brauche jetzt, um den zweiten Preis für die Vernunft durchzusetzen, „andere Geschosse“ als die vorherigen Argumente (23 b 5–8). Auch mit dem Ausruf βαβαῖ (etwa: „o weh!“, 23 b 5) des Sokrates weckt Platon die Neugier des Lesers und deutet einen Einschnitt an. In der Tat – und das ist wohl auch die einhellige Meinung der Kommentatoren – liegt in dem Abschnitt 23 c–27 c ein relativ in sich geschlossenes Stück eines theoretischen Diskurses vor.49 Doch zurück zum Anfang des Abschnitts. Sokrates bekräftigt nach der Jagd- und Schießmetapher die Wichtigkeit seines neuen Ansatzes mit der Formel, dass man sich bei dem Versuch, einen Anfang zu setzen, sehr vorsehen müsse: διευλαβεῖσθαι 23 c 1. Außerdem kommt er auch dieses Mal nicht ohne die Erwähnung eines Gottes aus (23 c 9). Er gibt zunächst eine Kurzfassung der vierfachen Gliederung und geht erst später (ab 23 e) ausführlicher auf die einzelnen vier Genera ein. Der einleitende Satz dessen, was ich auch die ontologische Grundlegung nennen möchte, beginnt mit einer Art Aufforderung: „Alles jetzt in dem All Seiende wollen wir zweifach teilen, oder wenn du willst, dreifach.“ Besonders zwei Dinge sind an diesem Satz bemerkenswert: zum einen die anscheinend lockere Art, mit der Sokrates Einteilungen vornimmt, zum andern die lapidare und zugleich höchst gedrängte Art, wie er das zu Teilende beschreibt.50 Alles was „jetzt“ ist, soll eingeteilt werden. Wenn man – wie auch Gadamer allgemein für die Interpretation eines platonischen Dialogs vorschlägt, nämlich diesen zunächst aus sich heraus zu verstehen51 – einmal die Ergeb48  μηχανή

23 b 7; man kann das Wort auch mit „Kunstgriff“ übersetzen. wie oben schon bemerkt, darf man nicht so weit gehen wie Striker und die an einigen Punkten durchaus aufscheinende Verklammerung mit dem Thema des Dialogs ganz beiseite lassen. 50  Auf die recht verschiedenen Auslegungen des Ausdrucks πάντα τὰ νῦν ὄντα bei den Kommentatoren möchte ich an dieser Stelle noch nicht eingehen. Das wird uns erst beschäftigen, wenn wir die Rolle der Ideen im Hintergrund der vierfachen Gliederung diskutieren. 51  Platos dialektische Ethik 94, Fußnote. 49  Allerdings,

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

nisse der anderen späten Dialoge beiseite lässt und die Stelle so interpretiert wie ein unbefangener und nicht in die Spätphilosophie Platons eingeweihter Gesprächspartner (als der Protarchos offensichtlich auftritt), so bleibt wohl zunächst festzuhalten, dass Sokrates das Spektrum des Einzuteilenden sehr weit nimmt, wobei das Wörtchen „jetzt“ (νῦν) aller Wahrscheinlichkeit nach meint, was man jetzt, in der Gesprächssituation betrachten kann; „im All“, „im Ganzen“ (ἐν τῷ παντί) meint den größtmöglichen Umfang, der vorstellbar ist. An Protarchos’ Reaktion (siehe meine Übersetzung) merkt man, dass ihm nicht die Formel von „allem jetzt Seienden“ Kopfzerbrechen macht, sondern der Punkt der zwei- oder dreifachen Teilung.52 Platon lässt nun den Sokrates nicht einfach die vier Genera aufzählen, sondern Sokrates geht schrittweise – und damit pädagogisch sehr geschickt – vor, indem er zuerst die beiden schon früher mehrfach genannten Genera (das Apeiron und das Peras) erwähnt, darauf ein drittes Eidos als das was aus dem zweien gemischt ist, setzt und schließlich (in 23 d) – fast mit einer Entschuldigung vorgetragen – ein viertes Eidos53 vorbringt: die Ursache der Mischung. Das folgende Geplänkel mit Protarchos, der spöttisch ein fünftes Genos einzuführen bereit wäre, lässt den Leser schmunzeln, ohne sachlich etwas zu bedeuten: ein Beispiel für Platons Kunst der Auflockerung eines an sich ernsten und trockenen Diskurses. Die schrittweise und an entscheidenden Stellen unterbrochene Behandlung der vier Genera des Seienden soll wohl dem Leser deutlich machen, auf welches kühne und ungewöhnliche Unterfangen sich Sokrates im Gespräch mit Protarchos eingelassen hat. Besonders an den Stellen, wo sich Sokrates auf einen Gott (23 c 9; 25 b 8) oder auf eine Göttin (26 b) beruft, dürfte der Leser spüren, dass die Dinge, um die es geht, bedeutender sind als nur abstrakt-formal abgehandelt zu werden, ohne auf das Staunen Erregende, ja das die göttliche Sphäre Streifende dieses Logos aufmerksam zu machen. Man kann natürlich als Kommentator auch der Ansicht sein, dass wenn Sokrates einen Gott oder eine Göttin zu Hilfe ruft – wie in 25 b 8, wo er sagt: ein Gott wird es sagen, wenn denn meinen Bitten irgendein Gott Gehör schenkt – man kann der Ansicht sein, dass Platon diese Einsprengsel in den Dialog der Auflockerung halber als eine façon de parler wählt, um die 52  Zumindest wollte Platon seine Formel πάντα τὰ νῦν ὄντα jetzt nicht weiter analysiert haben – das haben erst mehr oder weniger gründlich die Kommentatoren besorgt. 53  Bzw. Genos; beide Namen können hier als synonym betrachtet werden.



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 41

jeweils nächste Schwierigkeit kenntlich zu machen, aber der Verfasser meint, dass diese Anrufungen göttlichen Beistands von Sokrates eher echt gemeint sind – zumindest will Platon den Sokrates so charakterisieren; er will ihn als jemanden darstellen, der nicht alles nur aus sich selber schöpft, sondern in seiner besonderen philosophischen Frömmigkeit an entscheidenden Stellen einen Gott oder eine Göttin um Beistand bittet. I. Apeiron und Peras Zurück zu dem ersten Paar der vier Genera: Es soll der Aufweis versucht werden, dass Platon Apeiron und Peras (Unbegrenztes und Grenze) als ein Paar komplementärer Kategorien auffasst, die eine erklärende Kraft für die rationale Durchdringung alles Seienden besitzen. Beginnen wir mit dem Apeiron. Sokrates erläutert das Apeiron zuerst an physischen Gegebenheiten wie dem Wärmeren und Kälteren (24 a, b). In dem Wärmeren und Kälteren sei immer ein Mehr und Weniger, was nicht zulässt, dass ein Ende (τέλος) entsteht. Entstünde nämlich ein Ende, so würden sie (gemeint sind das Mehr und Weniger) an ihr Ende kommen.54 Was bedeutet diese Aussage in der heutigen Terminologie? Das Wärmere und Kältere muss man wohl als Prozesse des Erwärmens und Abkühlens auffassen, die kontinuierlich verlaufen. Während sich etwas, z. B. Wasser, erwärmt, kommt es, insofern als es sich erwärmt, nicht an ein Ende, welches durch Erreichen einer Maximaltemperatur gegeben wäre. Kommt es aber an ein Ende, erreicht es z. B. den Siedepunkt, so ist es qua definitione nicht mehr ein Wärmer-Werdendes. Ebenso gibt es bei dem Kälter-Werdenden, indem es kälter wird, keinen Haltepunkt. Ist aber ein Haltepunkt (τέλος) erreicht, so kann man nicht mehr von einem KälterWerdenden sprechen. Das Apeiron in diesem Prozess ist zugleich ein ἀτελές, ein Etwas ohne festes Ziel (24 b 8), eben ein kontinuierlich verlaufender Prozess. Als Protarchos hier emphatisch zustimmt55, nimmt Sokrates sehr geschickt das Emphase ausdrückende Wort σφόδρα (heftig, stark) auf, um an ihm und seinem Gegenteil „sanft“ (ἠρέμα) zu zeigen, dass auch in diesem Gegensatzpaar die gleiche Möglichkeit (δύναμις) liegt wie in dem Mehr und Weniger (24 c). Der durch diese Bemerkung eingeleitete Passus enthält in einer gewissen Umständlichkeit eine erste Behandlung des Zusammenspiels von Apeiron 54  24 a 9–24 b 2.

55  καὶ

σφόδρα γε, ᾦ Σώκρατες 24 b 9.

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

und Peras, wobei für das Verständnis von Apeiron die Abwesenheit von Peras betont wird. Es sei eine interpretierende Paraphrase erlaubt (24 c, d): Überall dort, wo ein prozesshafter Fluss zum Immer-Mehr oder zum Immer-Weniger hin herrscht, kann es keine quantitative Bestimmung (ποσόν) geben. Die prozesshafte Steigerung bzw. Abnahme (σφοδρότερον – ἡσυχαίτερον 24 c 4) findet in einzelnen Tätigkeiten (πράξεσιν) statt und bewirkt dadurch ein Mehr oder Weniger. Es ist interessant, dass Platon hier nicht nur Naturprozesse im Blick hat, sondern auch menschliche Tätigkeiten. Bei ihnen wird jedenfalls, wie So­ krates es ausdrückt, die quantitative Bestimmtheit „zum Verschwinden“ gebracht.56 Das quantitativ Bestimmte aber ist untrennbar mit dem Maß verbunden. Daher lässt die Zweiheit von Mehr und Weniger auch nicht zu, dass das Maßvolle (μέτριον) in ihnen erscheint. Zum Schluss wird auch das Wärmere und Kältere genannt, das ja als erstes Beispiel für Mehr und Weniger schon in 24 a auftauchte: „Wärmer und Kälter existierten nicht mehr, wenn sie das Wieviel aufnähmen“ (24 d 2–3) heißt es wörtlich, d. h. wohl: das prozesshafte Fließen zum Immer-Wärmeren hin (bzw. zum Immer-Kälteren) kann als solches nicht mehr fließen, wenn es durch eine Grenze, eine quantitative Bestimmtheit, gestoppt würde. Wie auch Sokrates in aller Deutlichkeit sagt: „Es rückt nämlich vorwärts (προχωρεῖ 24 d 4)57 und es bleibt nicht (stehen): das Immer-Wärmere und ebenso wenig das Kältere, das Wieviel aber bleibt stehen und hat aufgehört vorzurücken.“ (24 d 4–5) Es folgt der Schluss: „Nach dieser Rede dürfte wohl das Wärmere ein Unbegrenztes werden und zugleich auch das Gegenteil“. (24 d 6 f.) Im Abschnitt 24 e 4–25 b 3 wird noch einmal zusammenfassend und wiederholend die „Natur des Unbegrenzten“58 der entgegengesetzten „Natur der Grenze“59 gegenübergestellt. Allerdings spricht Platon hier nicht von einer Physis der Grenze, sondern er führt den Gegenbegriff zum Apeiron ein als das „diesen Entgegengesetz56  τὸ δὲ ποσὸν ἀφανίζετον 24 c 6. ὰφανίζετον ist eine seltene Dualisform; sie drückt aus, dass es genau die Zweiheit von Mehr und Weniger ist, die hier das ποσόν zum Verschwinden bringt. 57  προχωρεῖν ist das griechische Äquivalent für lat. procedere, wovon ja unser Fremdwort Prozess abgeleitet ist. Im platonischen Sprachgebrauch sehe ich daher eine Berechtigung, hier den Terminus „Prozess“ einzuführen. 58  ἡ τοῦ ἀπείρου φύσις 24 e 4. 59  Diese deutsche Formulierung ist freilich nur erschlossen; im griechischen Text 25 a 6 ff. steht nur, dass man das Gleiche und das Doppelte, die Zahl und das Maß „zur Grenze“ (εἰς τὸ πέρας 25 b 1) rechnen soll.



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 43

te“. Mit „diesen“ meint er alles was das Unbegrenzte ausmacht: das Mehr und Weniger, Stark und Sanft, das Sehr und alles Derartige. Es ist immer wieder bei Platon zu beobachten, dass er sehr flexibel ist in seiner Terminologie. Zum Beispiel spricht er, kurz nachdem er die Natur (Physis) des Unbegrenzten erwähnt hat (in 24 e 4) zwei Sätze später (in 25 a 1) vom Genos des Unbegrenzten60, beide Ausdrücke offensichtlich als synonym gebrauchend, was auch dadurch bestätigt wird, dass Sokrates im selben Satz fordert, dass man gemäß der vorangegangenen Rede alles was zersplittert und zerrissen ist, nach Möglichkeit in eine Natur (Physis) zusammenbringen müsse – modern gesprochen: dass man die verschiedenen Phänomene des Unbegrenzten auf einen Begriff, nämlich den des Genos des Apeiron, zu bringen habe. Nun entfaltet Sokrates das entgegengesetzte Genos näher, das des Begrenzten. Er spricht vom Gleichen und der Gleichheit, vom Doppelten und allem, was in einem Verhältnis von Zahl zu Zahl und Maß zu Maß steht.61 All dies fasst er unter dem Namen πέρας (Grenze) zusammen (25 a 6–b 2). Auf den ersten Blick klingt diese Erläuterung der Phänomene, die unter das Genos der Grenze fallen, plausibel genug. Protarchos antwortet denn auch nur mit: „Sehr gut, o Sokrates.“62 Jedoch werden bei Platon wohl mehr Dinge vorausgesetzt als der unbefangene Leser ahnt. Unter Gleichem bzw. Gleichheit (ἴσον, ἰσότης) versteht Platon wahrscheinlich sowohl abstrakte arithmetische Gleichheit wie auch geometrische Kongruenz und die Gleichheit von Volumina und Gewichten u. ä. Die anderen Ausdrücke sind schwieriger zu verstehen. Was bedeutet es, wenn er sagt: alles was Zahl in Bezug auf eine Zahl ist und Maß in Bezug auf ein Maß? Spielt er damit auf die pythagoreische Auffassung an, dass letztlich alles Zahl ist? Allein, dies kann schon deshalb nicht sein, da es ja das gegenteilige Genos, die Natur des Unbegrenzten gibt, die keinerlei Zahl und Maß als unbegrenzte enthält. Wenn man wie die meisten Kommentatoren annimmt, dass der Philebos nach dem Timaios geschrieben worden ist, so ist die obige sehr gedrängte Darstellung der Grenze eine Wiederaufnahme des sich durch den ganzen Timaios ziehenden Gedankens, dass der Demiurg als die Verkörperung des Nous (der Vernunft) mit Hilfe von Zahlen und Maßen sowohl den chaotischen Stoff (die Hyle) geordnet hat wie auch durch die mathematische Konstruktion der Weltseele die zahlenmäßig exakten Plane60  τὸ

τοῦ ἀπείρου γένος. von mir. 62  κάλλιστα 25 b 4; wörtlich: „sehr schön“ (hast du das gesagt). 61  Hervorhebungen

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

tenumläufe hervorgebracht hat, wo also genaue Proportionen eine wesentliche Rolle spielen. Und hier an unserer Stelle will Platon anscheinend sagen, dass man diese ganze mathematische Dimension des Kosmos im Genos der Grenze fassen kann. Auf das Verhältnis der Begrifflichkeit des Philebos zu der des Timaios möchte ich später noch zu sprechen kommen. Im folgenden Abschnitt (ab 25 b 5) nimmt Sokrates wiederum einen neuen Anlauf, um das dritte Genos als das aus den beiden vorigen gemischte einzuführen. II. Das dritte Genos: das Gemischte Erneut versichert er sich des Beistands eines Gottes, ja, er sagt auf die Aufforderung des Protarchos hin, dass er es ihm sagen solle: ein Gott werde es tun, wenn er seine (des Sokrates) Bitten erhört hätte. Protarchos geht auf diese Wendung in möglicherweise leicht spöttischer Weise ein: „So bitte denn und schau!“63 Darauf muss man sich als Leser wohl eine kleine Pause vorstellen, die Zeit für die Bitte (oder das Gebet) gewährt, denn Sokrates sagt dann: „Es scheint uns, o Protarchos, einer (gemeint ist ein Gott) von ihnen jetzt freundlich geworden zu sein.“ Zum Folgenden vergleiche die Übersetzung. Fast zum Überdruss des Lesers fängt Sokrates wieder an, Beispiele für das Apeiron aufzuzählen. Doch kann man diese Aufzählung von Beispielen auch so verstehen, dass Sokrates eine breitere phänomenologische Basis gewinnen will und damit auch eine Grundlage für die Behandlung des dritten Genos, das aus Unbegrenztem und Begrenztem gemischt ist. Sokrates nennt folgende Beispiele für die „Natur“ des Apeiron: „Trockeneres und Feuchteres und Mehr und Weniger und Schnelleres und Langsameres und Größeres und Kleineres und was auch immer wir im Vorigen in Eines (zusammenfassend) setzten der das Mehr und Minder aufnehmenden Natur.“64 Der Leser hat bei dieser Aufzählung den Eindruck, dass diese Komparative physische Gegebenheiten umschreiben, in denen eine Bewegung, ein Prozess abläuft, und zwar entweder zu einem Höhergradigen oder zu einem Niedrigergradigen hin. Allerdings, wenn man es so beschreibt, unter Benutzung des Suffixes „gradig“, in dem „Grad“ steckt, so ist man schon in Gefahr, ein Missver63  25 b 10.

64  25 c 8–11.



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 45

ständnis zuzulassen: Grade sind Stufen und damit hätte man schon etwas von dem Gegenbegriff zu Apeiron, dem Peras, hineingelassen, wozu Platon ja erst im Folgenden kommt, nämlich bei der Erläuterung des „Gemischten“. Man sieht aber an diesem Beispiel, wie schwierig es ist, die oben genannten Komparative so in modernerer Terminologie zu umschreiben, dass man den Grenzbegriff ganz vermeidet. Noch schwieriger dürfte es sein, zu versuchen, sich konkret-anschauliche Beispiele für die platonischen Komparative vorzustellen ohne Rückgriff auf Erfahrungen und Beobachtungen, die in der heutigen Zeit immer schon durch Messapparaturen geprägt sind: z. B. wenn wir heute etwas von Kälter oder Wärmer hören, so denken wir sofort an ein Thermometer und fragen uns – mehr oder weniger bewusst – um wie viel Grad es denn kälter oder wärmer werde. Das Thermometer mit seiner Gradeinteilung wäre aber für Platon gerade ein Beispiel für den Gebrauch des Peras-Begriffes; es handelt sich ja um ein Wieviel. Doch folgen wir der weiteren Darlegung dessen was Sokrates „das Gemischte“ nennt. Sokrates fordert (in 25 d ff.) sich und seinen Gesprächspartner auf, beim Begriff der Grenze, der jetzt „das Grenzartige“65 heißt, genauso zu verfahren wie bei der Natur des Apeiron, nämlich ein einheitliches Eidos der Grenze zu suchen. Aber statt eine Definition des Grenzartigen zu geben, begnügt sich Sokrates darauf hinzuweisen, dass beim Zusammenbringen der beiden „Naturen“ (Apeiron und Peras) sich die letztere von selbst zeigen würde (25 d 7–9). Diese Stelle ist insofern bemerkenswert, als sie anscheinend zeigt, dass es auch für Platon nicht ganz einfach war eine abstrakte Definition von Peras (Grenze) zu geben.66 Entscheidend ist der nächste Satz, wo die Natur des Grenzhaften folgendermaßen dargestellt wird: „(Ich meine) die (Natur) des Gleichen und Doppelten, und jede, welche aufhören macht, dass sich einander Entgegengesetztes in verschiedener Weise verhält, und (im Gegenteil) Symmetrisches 65  περατοειδές

25 d 6. Kommentatoren sind auf dieses „Versäumnis“ Platons aufmerksam geworden. So geht Hackforth beipielsweise darauf hin, indem er (in seiner Fußnote S. 47) zunächst Äußerungen älterer Kommentatoren (Badham und Bury) zitiert, die Platon wegen der fehlenden συναγωγή der Grenze tadeln. Hackforth seinerseits verteidigt den Entschluss Platons, hier keine allgemeine Definition von πέρας zu geben: „… it is perfectly true that, as Socrates says, when we know the particular ἄπειρον and the particular μεικτόν the particular πέρας ἔχον will be clear enough.“ Ich möchte hinzufügen, dass Platon hier wohl deswegen so pragmatisch vorgeht und sich eine ausführliche Definition des Peras erspart, weil das wahrscheinlich ein Eingehen auf die Ideenlehre erfordert hätte und damit einen weiteren, möglicherweise langen Exkurs. (Zum Problem des Verhältnisses der Ideenhypothese zu der vierfachen Gliederung siehe weiter unten.) 66  Die

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

und Zusammenstimmendes bewirkt, indem sie (die Natur) eine Zahl hinein bringt“ (25 d 11–25 e 2). Das ist eine Entfaltung der Natur des „Grenzartigen“, welche folgende neue Begriffe ins Spiel bringt: das Gleiche, das Doppelte (als Repräsentant des Wievielfachen), das Symmetrische,67 und das Zusammenstimmende68 und – besonders wichtig – die Zahl (ἀριθμός). Protarchos antwortet darauf einfach: „Ich verstehe.“ Ob allerdings der moderne Leser sofort verstanden hat? Dass das Doppelte, Drei- und Vierfache etc. etwas mit Zahlen zu tun hat, ist evident, und dass man jede Zahl als einen Haltepunkt in einem Prozess, z. B. des Wärmer- und Kälter-Werdens auffassen kann und damit etwas „Grenzartiges“ erfasst, ist ebenso einsichtig. Wie steht es aber um das „Symmetrische“ und das „Symphonische“? Nun, im Ausdruck symmetrisch steckt das gemeinsame Maß (μέτρον) und damit haben alle Phänomene, die man als symmetrisch bezeichnen kann, Anteil an einer zahlenmäßigen Relation. Man spricht z. B. von symmetrisch gebauten Teilen eines Bauwerks oder symmetrisch gebauten Naturkristallen, ebenso in der Anatomie von der Achsensymmetrie des menschlichen Körpers. Wird die Symmetrie eines vorhandenen Naturphänomens verletzt, spricht man heute vom „Bruch der Symmetrie“. Bei dem „Symphonischen“, welches Sokrates hier nur ganz kurz antippt, ohne es zu erläutern, ist es ähnlich. Wenn etwas mit etwas (in der Natur) zusammenstimmt (griechisch: συμφωνεῖ), so kann man dies nach pythagoreischer Auffassung (die in diesem Punkt auch die Platons ist) auf Zahlenverhältnisse und feste Proportionen zurückführen. Hier spielt also die Zahl als das Symbol des Grenzartigen die entscheidende Rolle. Ein Beispiel für „Symphonisches“ in diesem Sinne wäre die „Zusammenstimmung“ von Ein- und Ausatmen, von Nahrungsaufnahme und Verdauung und viele ähnliche Phänomene. Zwar war Platon der Energieerhaltungssatz noch nicht bekannt, aber man geht wohl nicht fehl, wenn man seine Auffassung des an Zahlen gebundenen „Symphonischen“ als eine Art Vorläufer dieses fundamentalen Satzes begreift. Wie gestaltet sich die weitere Einführung des dritten Genos? Als Protarchos (in 25 e 3 f.) erkennt – unmittelbar nach seinem „Ich verstehe“ – dass durch die Mischung sich gewisse Entstehungen (Werdeprozesse) ereignen, wählt Sokrates ein Beispiel aus der Medizin, um sein drittes Genos zu veranschaulichen: „Bringt nicht bei Krankheiten die richtige Gemeinschaft von diesen (sc. dem Apeiron und dem Peras) das Wesen der Gesundheit hervor?“ (25 e 7–8) 67  σύμμετρα, 68  σύμφωνα,

Neutrum Plural. ebenfalls Neutrum Plural.



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 47

Protarchos stimmt dieser kühnen These zu und Sokrates fährt fort mit einem zweiten Beispiel – aus der Musik – das ich hier nicht wörtlich zitiere, da der Satz wohl emendiert werden muss.69 Inhaltlich sagt dieser Satz etwa Folgendes aus: Das Apeiron in der Musik70 ist das Spektrum der hohen und tiefen Töne, sowie der schnellen und langsamen Rhythmen. Wenn das Maßvolle hinein kommt, so erzeugt dieses die ganze Musik. Das bedeutet – vielleicht im Gegensatz zu den Pythagoreern – dass nicht allein Zahlen die Musik ausmachen, sondern es gibt eine Art Musik-Materie: eine Erscheinungsform des Apeiron, welcher Zahlen aufgeprägt werden. Irgendwelche hohen oder tiefen Geräusche allein ergeben nach Platon noch keine Musik, ebenso wenig ergibt allein die Zahl oder das Zahlenverhältnis schon Musik. Auch das dritte von Sokrates angeführte Beispiel für die Mischung ist interessant; zusammengefasst lautet es: Wenn das Grenzartige in allzu große Kälte oder Hitze hineinkommt, so verschwindet das Apeiron hier und macht Platz für maßvolle Jahreszeiten (ὧραι) und alles Schöne. Da mit ὧρα im Griechischen jede natürliche Periode gemeint sein kann,71 geht es hier wohl um die Jahreszeiten, die ja, jede für sich, eine Grenze sowohl in der Zeitdauer wie auch in der klimatischen Besonderheit in sich tragen. Was könnte gemeint sein mit „allem was schön für uns geworden ist“?72 Vielleicht spielt Sokrates hier auf weitere natürliche Zyklen an, entweder auf solche, die mit den Jahreszeiten irgendwie zusammenhängen oder von der Natur bedingt sind wie z. B. Zeiten der Aussaat und der Ernte, der monatliche Zyklus der Frau, Zeiten der Schwangerschaft bei Mensch und Tier u. a. m.73 Es gibt nun nach Sokrates noch „unzählige“74 weitere Beispiele für eine gelungene Mischung aus Unbegrenztem und Grenzartigem. Er erwähnt folgende sozusagen im Vorbeigehen (26 b 5 ff.): Gesundheit, Schönheit, Kraft und „sehr viele andere schöne Dinge in den Seelen“. Damit sind höchstwahrscheinlich die Tugenden gemeint. Das legt der Fortgang des Passus nahe, wo Sokrates davon spricht, dass eine Göttin,75 die den frevelnden Übermut der Menschen und ihre Schlechtigkeit erblickte, überall dort, wo es in den Lüsten keine Grenze gab, ein Gesetz (νόμος) und eine Ordnung (τάξις) aufgestellt hat. 69  Vgl.

Hackforth 48, Fußnote 2.

70  26 a 6–b 3. 71  Siehe

das Lemma bei Liddell-Scott.

72  26 b 1–2.

73  Dass für Platon Zahlen für natürliche und künstliche Rhythmen eine große Rolle spielen, sieht man klar an der berühmten Hochzeitszahl in der Politeia (Buch 8, 546). Sie stellt allerdings ein Eingreifen des Menschen – hier der obersten Wächter – in das natürliche Paarungsverhalten dar. 74  μυρία 26 b 5. 75  Vgl. die Fußnote 43.

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

Hieraus geht klar hervor, dass Nomos und Taxis Grundbegriffe sind, die das Grenzartige repräsentieren. Erneut gebraucht Sokrates die Figur einer Göttin (sei es nun Harmonia oder eine andere), die hier am Anfang des Menschengeschlechts für Ordnung in den ins Grenzenlose ausschweifenden Trieben gesorgt hat. Erneut sollte man als Kommentator vorsichtig sein und solche Redeweise nicht als bloße halb-mythische façon de parler abtun. Platon glaubte wohl tatsächlich an ein göttliches Eingreifen zugunsten der Menschen. Das würde ich als eine These seiner Theologie auffassen. Im Abschnitt 26 c–d erfolgt die endgültige Bestimmung des dritten Genos. Sie beginnt mit Protarchos’ Geständnis (26 c 5–7), er habe zwar die beiden ersten Genera verstanden, das dritte Genos aber habe er noch nicht fest genug inne.76 Sokrates erwidert daraufhin – und dies wirft ein Licht auf die Natur des dritten Genos – dass die Menge der Entstehung des Dritten ihn, Protarchos, erschreckt habe. Das heißt doch wohl, dass das dritte Genos sehr viele Elemente bzw. Phänomene umfasst. Aber, so fährt Sokrates fort, genauso wie das Apeiron viele Gattungen umfasse und gleichwohl mit einem Namen bezeichnet werden könne, nämlich mit dem des Mehr und Weniger, genauso solle man es mit dem dritten Genos machen. Bevor nun Sokrates zur abschließenden Definition des dritten Genos kommt, geht er noch einmal kurz auf das oben besprochene Problem ein, etwas Allgemeines von der Grenze auszusagen. Der Satz klingt einigermaßen rätselhaft: „Und freilich die Grenze hatte weder Vieles, noch fanden wir es schwierig, dass sie nicht Eines war in ihrer Natur.“ (26 d 4 f.) Hier wird das was viele Kommentatoren als ein Problem ansehen, nämlich die Einheit der Grenze (bzw. des Grenzartigen) in einen Begriff zu gießen, mehr oder weniger weggewischt als etwas, worüber man sich nicht den Kopf zerbrechen sollte.77 Jetzt erst folgt der entscheidende und auch abschließende Satz über die Natur des dritten Genos (26 d 7–9): Es sei, sagt Sokrates, wenn man all dies als ein Erzeugnis von diesen (den beiden anderen Genera) auffasse: das Werden zum Sein, (hervorgegangen) aus den mit der Grenze bewirkten Maßen. Protarchos’ Antwort auf diesen schwierigen Satz: „Ich hab’s begriffen.“ Für den modernen Leser dürfte die Antwort nicht so leicht zu geben sein. Dass Sokrates genauso wie beim Unbegrenzten und bei der Grenze einen 76  οὐ

σφόδρα κατέχω. Stelle scheint im Widerspruch zu 25 d 5 ff. zu stehen, wo Platon sein „Versäumnis“ rechtfertigt mit dem pragmatischen Hinweis auf das dritte Genos, durch welches auch das zweite Genos, die Grenze, deutlich würde. Man hat als moderner Leser ein wenig den Eindruck, als wolle Platon die Schwierigkeit einer allgemeinen Definition von Grenze und dem Grenzartigen herunterspielen. 77  Diese



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einheitlichen Begriff für das dritte Genos anstrebt, leuchtet ein. Was aber bedeutet seine Definition?78 Die entscheidende Wendung ist hier: Werden zum Sein (γένεσις εἰς οὐσίαν). Hackforth, der seinerseits mit G. M. A. Grube (Plato’s Thought, 303) übereinstimmt, meint zu diesem Ausdruck, dass man nicht zu viel in ihn hineinlesen solle:79 „It follows that γένεσις εἰς οὐσίαν need not mean anything more than γένεσις alone. […] I do not think Plato means us to find any ontological significance in the collocation of the two words; it is merely ‚the kind of existence which is the mixture or product of these two‘ (sc. πέρας and ἄπειρον).“ Kann man die Schwierigkeit des Ausdrucks Werden zum Sein so einfach auflösen? Ich glaube nicht, und zwar aus folgenden Gründen: Bei der Behandlung des Apeiron (in 24 b, c) spricht Sokrates von Komparativen wie Wärmer-Kälter, Stärker-Sanfter, die ihrerseits absolut unbegrenzt entstünden.80 Auch an einer späteren Stelle (24 c 5) gebraucht er ein Verb, nämlich „bewirken“, „hervorbringen“, was einen Prozess umschreibt.81 Beide Male gebraucht Sokrates eine (seltene) Dualisform, weil das Apeiron immer in der Zweiheit des Mehr und Weniger erscheint. Jedenfalls gibt es im Bereich des Apeiron Werdeprozesse, die unabgeschlossen sind, und daher hebt sich von diesen Vorgängen das was Sokrates das Werden zum Sein (26 d 8) nennt, scharf ab. Sokrates lässt hier den allgemeinen Satz über das dritte Genos stehen, ohne Beispiele anzuführen. Das bleibt dem Zuhörer bzw. Leser überlassen. Man könnte sich folgende Beispiele denken: (a) Herstellungsprozesse, an deren Ende durch Techne (im griechischen Sinn) hergestellte Dinge stehen wie Schuhe, Tische, Betten, Tempel; (b) Natürliche Entstehungsprozesse, die zu fertig ausgebildeten Lebewesen, Pflanzen und Tieren führen; (c) Entstehungen von festen Staatsverfassungen in Prozessen gesellschaftlicher Umwandlung. Bei all diesen Werdeprozessen stehen am Ende Gebilde, die man auch mit dem platonischen Wort Eidos bezeichnen kann: das zweite Genos, das 78  ἕν τοῦτο τιθέντα τὸ τούτων ἔκγονον ἅπαν ist schwer zu übersetzen; Die Konstruktion ist abhängig von τρίτον φάθι με λέγειν. Wörtlich heißt der ganze Satz: Sage, dass ich das Dritte meine, indem ich es setze als all dieses Eine, von diesen (beiden) Abstammende. Hackforth (49) übersetzt τὸ […] τούτων ἔκγονον mit „progeny of our two factors“. Jedenfalls ist der ganze Ausdruck von τρίτον bis ἅπαν das was durch γένεσιν εἰς οὐσίαν […] μέτρων definiert wird. 79  Fußnote S. 49. 80  παντάπασιν ἀπείρω γίγνεσθον 24 b 8. 81  τὸ πλέον καὶ τὸ ἔλαττον ἀπεργάζεσθον.

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Grenzartige, hat in diesen Prozessen gewirkt und etwas Abgeschlossenes, Fertiges hervorgebracht, in dem das jeweilige Maß eine bedeutende Rolle spielt.82 Protarchos scheint diese von Sokrates angedeuteten Zusammenhänge, wie gesagt, begriffen zu haben, denn Sokrates fährt sogleich fort, um das vierte Genos einzuführen (in 26 e ff.). III. Das vierte Genos: die Ursache Zu diesem Zweck stellt er zunächst den allgemeinen Satz auf, dass alles was wird, aus einem bestimmten Grunde (aus einer Ursache) wird (διά τινα αἰτίαν 26 e 3). Darauf setzt er die „Natur des Bewirkenden“ (ἡ τοῦ ποιοῦντος φύσις 26 e 6) mit der Ursache (αἰτία) gleich. Sie seien nur dem Namen nach verschieden. In einem dritten Schritt setzt er das, was bewirkt wird (τὸ ποιούμενον), mit dem was wird (τὸ γιγνόμενον) gleich (27 a 1). Nun kommt 82  Gadamer schreibt zu diesem Problem (in: Plato’s dialektische Ethik 110 f.): „Aber daß es Werden zum Sein heißt, darin liegt, daß diese Welt des Werdens, als maßbestimmte, doch aufhört, bloßes Werden, d. h. reine unbestimmte Veränderlichkeit zu sein. Das Verständnis des Seins dieser sichtbaren Welt aus den in ihr herrschenden Zahl- und Maßbestimmtheiten läßt eben das Werden im Hinblick auf das wahre Sein von Maß und Zahl verstehen, und das heißt: feststellen, bestimmbar und verfügbar machen, so daß es Sein wird.“ … „Die Beispiele des Bestimmten (26 b), Gesundheit, Musik, die Jahreszeiten usw. haben alle den Charakter des Guten und Schönen …“ Weiter meint Gadamer zur Idee des Guten, die ja auf den Zusammenhang der eben besprochenen Problematik mit der Ideenlehre hinweist (111): „Der teleologische Begriff des Guten ist der fundamentale Begriff der platonischen Ontologie. Gutsein und Bestimmtsein besagt im Grunde dasselbe.“ Dem kann ich nur zustimmen. Allerdings weitet Gadamer m. E. den Bereich des dritten Genos zu sehr aus, wenn er (112 Fußnote) schreibt: „Man hat mit Unrecht die Wahl der Beispiele (gemeint ist 26 b) zufällig, bzw. durch den Vorblick auf den Mischungscharakter von Lust und Unlust als Harmonie bestimmt, genannt … Nicht daß Lust den Charakter des Gemischtseins und der Harmonie hat, sondern daß das Gute des Lebens ein Gemischtes aus Lust und Wissen ist, ist der Vorgriff … Der tiefere Grund ist, daß alles, was ist, ontologisch genommen ein Gemischtes ist, Es ist gut, insofern es gut gemischt ist, d. h. im rechten Verhältnis zueinander steht, also bestimmt ist.“ (Hervorhebung von mir) Dazu möchte ich bemerken: Es kann nicht alles, was ist, ein Gemischtes sein. Das hieße, den partikularen Charakter der dritten Gattung auf das gesamte Sein übertragen. Apeiron und Peras sind auch in gewissem Sinne, ebenso oder sogar in höherem Maße als das Gemischte ist die Ursache, die vierte Gattung (zu der wir gleich kommen werden). Die dritte Gattung umfasst m. E. sowohl empirisch gegebene Ganzheiten wie Naturdinge und Phänomene wie Gesundheit und Jahreszeiten wie auch – höchstwahrscheinlich – die entsprechenden Ideen (Formen).



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 51

der Schluss, dass Bewirktes auf das Bewirkende (ποιούμενον auf das ποιοῦν) folgt (27 a 5 f.). Unmittelbar davor aber trifft er die wichtige Feststellung, dass das Bewirkende immer führend ist seiner Natur nach, modern ausgedrückt: Die Ursache für irgendetwas ist immer früher (im ontologischen Sinn) als das Verursachte. Jetzt folgt ein merkwürdig klingender Satz, der aber sehr treffend das ontologische Rangverhältnis kennzeichnet (27 a 8 f.): „Ein anderes also und nicht dasselbe ist die Ursache und das was der Ursache zum Werden dient.“ Im griechischen Text kommt die Posteriorität des Bewirkten noch deutlicher heraus, weil Platon das Verb δουλεύω, was eigentlich „Sklave sein“ heißt, gebraucht für den Dienst, den das Bewirkte der Ursache hinsichtlich des Werdens leistet. Man könnte noch einiges zu dieser platonischen Formulierung des Ursache-Wirkung-Verhältnisses im Vergleich zu moderneren Auffassungen sagen; in unserem Zusammenhang aber mag es genügen auf Folgendes hinzuweisen: Das Ursächliche beansprucht bei Platon die ontologische Priorität; das was durch es hervorgebracht wird, wird als etwas, das mit Notwendigkeit nachfolgt, betrachtet und als etwas, das in dem ganzen Werdeprozess eine dienende Funktion hat. Bevor Sokrates zur abschließenden Kennzeichnung des vierten Genos, der Ursache, kommt (in 27 b 1–2), fasst er ein weiteres Mal die drei anderen Gattungen zusammen: „Bot uns nicht das Werdende und das, woraus alles wird, die drei Gattungen dar?“ Das ist eine sehr knappe und erläuterungsbedürftige Formulierung. Mit dem Werdenden83 ist hier das gerade besprochene dritte Genos gemeint. Mit dem Ausdruck „das, woraus alles wird“84 sind das Apeiron und das Grenzartige gemeint. Eine gewisse logische Schwierigkeit könnte man darin sehen, dass Platon bei der Einführung und Definition des dritten Genos die Formulierung Werden zum Sein wählt (siehe oben), jetzt aber von „entstehenden (Dingen)“ (τὰ γιγνόμενα) spricht. Diese gewisse Unschärfe mag vielleicht der Kürze der Zusammenfassung und dem Gesprächston des Dialogs geschuldet sein; und es ist wohl evident, dass in Werdeprozessen (γενέσεις εἰς οὐσίαν) immer auch Dinge sind, die werden (τὰ γιγνόμενα), d. h. ontologisch sind diese beiden Aspekte schwerlich zu trennen. Die beiden ersten Genera lassen sich gut zu dem Ausdruck „woraus alles entsteht“ zusammenfassen, ist doch das Unbegrenzte sozusagen der Bereich, 83  τὰ 84  ἐξ

γιγνόμενα, im Griechischen Plural. ὧν γίγνεται πάντα.

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

aus dem alles hervorgeht, und die Grenze ist das, was diesen Bereich vereinzelt für einen bestimmten Werdeprozess und ihm Konturen verleiht. Nun aber die abschließende Feststellung für das vierte Genos, die Ursache (27 b 1–2): „Das aber, was all dies hervorbringt,85 nennen wir ein viertes Genos: die Ursache, wie es als hinreichend verschieden von jenen (drei Gattungen) offengelegt wurde.“ Hier wird der besondere Rang des vierten Genos klar hervorgehoben. In dem Ausdruck τὸ δημιουργοῦν klingt für den Leser der platonischen Spätdialoge natürlich der Demiurg des Timaios an, vor allem die Stelle, wo es heißt, dass der Demiurg die „beste der Ursachen“ sei.86 Leider begnügt sich Sokrates hier mit der Andeutung, dass das Genos der Ursache ein handwerklich-schöpferisches Prinzip sei. Wie es inhaltlich genauer aussieht, was für Prädikate man ihm zusprechen kann, wird verschwiegen. Es seien an dieser Stelle einige Spekulationen erlaubt: Man könnte der Ansicht sein, dass drei Prinzipien (platonisch: γένη) genügen sollten, um die vielfältigen Aspekte aller gewordenen Phänomene oder Dinge zu erklären. Warum Platon noch ein viertes Genos, nämlich die schöpferisch zu verstehende Ursache einführt, liegt wohl daran, dass er dem Prinzip des Grenzartigen (also dem 2. Genos) nicht diejenige Wirkkraft zutraut, die ihm beispielsweise die Pythagoreer zutrauten. Zahl und Gestalt (ἀριθμός und εἶδος) werden als Ausformungen des zweiten Genos zwar dem Unbegrenzten beigemischt, jedoch sind sie selbst nicht das tätige Subjekt dieser Mischung, sondern dies ist die Ursache, welche auch das demiurgische Prinzip genannt werden kann, um den Begriff der platonischen Aitia von späteren Ursachenbegriffen zu unterscheiden. Damit meine ich nicht nur den neuzeitlichen Ursachenbegriff der Newtonschen Physik, sondern schon den vierfachen Ursachenbegriff der aristotelischen Physik.87 Nein, die platonische Aitia, wie sie hier von Sokrates eingeführt wird, ist weder mechanisch noch materiell noch rein formal zu verstehen. Sie ist auch nicht Bewegungsursache im weitesten Sinn, sondern muss wohl als ein 85  τὸ

δὲ δὴ πάντα ταῦτα δημιουργοῦν. 29 b 6; vgl. dazu meine Abhandlung „Aspekte der platonischen Kosmo-

86  Tim.

logie“. 87  Inwieweit der platonische Ursachenbegriff die bewegende Ursache (causa movens) des Aristoteles vorwegnimmt, wäre eine eigens zu klärende Frage, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Ich vermute aber, dass der geniale Schüler Platons von dessen Ursachenbegriff beeinflusst war, als er seine Theorie der vier Ursachen entwickelte. Freilich scheint mir Platons „demiurgische Ursache“ viel mehr zu enthalten als nur das bewegende Moment.



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 53

Wirken gemäß dem Vorbild des Demiurgen aufgefasst werden, d. i. als ihre Quelle, als ihr Ausgang kommt nur eine Seele in Frage, die etwas Seiendes schaffen will, sei es ein Mensch oder ein Gott. Sokrates, der selber ein Handwerker war, sieht in der handwerklichen Tätigkeit gemäß einem gewissen Plan und einer gewissen Absicht, das Vorbild für diese hier am Schluss des ontologisches Exkurses eingeführte Aitia. Sie muss in irgendeiner Weise mit dem planvoll vorgehenden Geist (Nous) zusammenhängen. Eine Zusammenfassung aller vier Gattungen bzw. Prinzipien gibt Sokrates in einem Satz „der Erinnerung halber“ (27 b 5): Als erstes nenne ich nun Unbegrenztes, als zweites aber Grenze, dann aus beiden gemischtes und entstandenes Sein; wenn ich aber die Ursache der Mischung und der Entstehung als viertes nenne, dürfte ich wohl nicht fehlgehen. Protarchos stimmt zu: Und wieso denn auch! (27 b 7–c 2)

Dass dieser ganze große Exkurs von 23 c bis 27 c dazu gedacht war, die Grundlage für eine vernünftige Diskussion der Streitpunkte zwischen Philebos und Sokrates zu liefern, wird aus der unmittelbar folgenden Äußerung des Sokrates klar (27 c 3–7): Wohlan denn, welche Rede sollen wir hierauf sagen und in welcher Absicht sind wir auf dieses gekommen? War es nicht Folgendes? Wir forschten, ob der zweite Preis der Lust oder der Vernunft (Phronesis) zuteil werden sollte. War es nicht so? Prot.: Genauso.

Hier wird offensichtlich der große ontologische Exkurs wieder in den Rahmen des ganzen Dialogs eingefügt und dem Zuhörer wird klar gemacht, dass dieser Exkurs einzig dem Zweck diente, die anfangs gestellte Streitfrage nach dem besten Leben lösen zu helfen. Auf den ersten Blick scheint es, als ob für den Leser, der nur an den grundsätzlichen ontologischen Fragen in systematischer Hinsicht interessiert ist, der weitere Gang des Dialogs unberücksichtigt gelassen werden könnte.88 Dagegen möchte ich zeigen, dass Platon im Fortgang des Dialogs immer wieder auf die Probleme der vier Gattungen, besonders der ersten beiden, zu sprechen kommt und so für eine Interpretation dieser Gattungen bis zum Schluss des Dialogs neue und interessante Argumente findet. Zunächst aber sei eine Zusammenfassung der bisher gefundenen Merkmale für das Apeiron vorgestellt. 88  So kommt es beispielsweise zu der von Striker geäußerten Meinung, dass man die beiden Exkurse (die „Gabe der Götter“ und die vierfache Gliederung) aus dem Ganzen des Dialogs problemlos herauslösen und für sich interpretieren könne. Abgesehen davon, dass sich Platon viel Mühe gibt, die Streitfrage des Dialogs mit seinen Exkursen zu verzahnen, muss auch darauf hingewiesen werden, dass es im späteren Verlauf des Dialogs immer wieder Passagen gibt, die auf die vierfache Gliederung zurückkommen.

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

IV. Merkmale des Apeiron Erstens: Das Apeiron ist eines von den vier grundlegenden Gattungen (oder: Prinzipien) alles Seienden. Zweitens: In der komparativischen Form, in der Platon es einführt (Mehr und Weniger, Stärker und Schwächer etc.), bezeichnet es eine unabgeschlossene Qualität, wobei allerdings der auf Aristoteles zurückgehende scholastische Ausdruck „Qualität“ etwas irreführend ist, da er normalerweise etwas Fest-Umrissenes beschreibt wie warm, kalt, farbig, laut. Platon aber meint mit seinem Apeiron etwas Dynamisches, das durch eine Bewegung zum Immer-Höheren oder Immer-Niedrigeren hin gekennzeichnet ist, deshalb auch die Komparative. Wesentlich jedenfalls ist, dass das Apeiron, wie schon der Name sagt, ohne Grenze, ohne Abschluss ist. Damit die komparativisch sich ins Unendliche ergießende Bewegung – um es einmal so mit einer gewissen Reserve auszudrücken – zu einem Abschluss kommt, braucht Platon eben ein zweites Prinzip: die Grenze oder Kontur. Drittens: Als erstes der vier Prinzipien bietet das Apeiron sowohl für das zweite Prinzip, die Grenze, eine Art Widerpart, es bietet ferner „Material“ für das Gemischte (das dritte Genos), sowie sowohl Widerpart und „Material“ für das vierte Prinzip, die Ursache. Diese nimmt sozusagen die übrigen drei Gattungen in Dienst, um Gegenstände der Techne (als Mensch) oder Lebewesen und den Kosmos als ganzen (als Demiurg) zu schaffen. Wenn man will, kann man zur Kennzeichnung der Vier-Prinzipien-Theorie (auf den Seiten 23–27 des Philebos) auch von einer Schichtentheorie des Seins sprechen. Die unterste gestaltlose Schicht würde das Apeiron bilden, die oberste mit dem Geist verbundene Schicht die demiurgisch zu verstehende Ursache (Aitia). Die mittleren Schichten wären zum einen das Grenzartige (τὸ περατοειδές), das was den seienden Gegenständen Grenze, Kontur, Bestimmtheit verleiht, zum andern die aus Apeiron und Peras gemischten Entitäten selbst, die aber ihre Existenz dem Mischungsakt, der durch die demiurgische Ursache erfolgt, verdanken. Das ist natürlich nicht mehr als nur ein grober Umriss einer möglichen Theorie der vier Gattungen. Da es in dieser Abhandlung vor allem um die erste Gattung geht, möchte ich auf einen wichtigen Aspekt des Apeiron, nämlich seine Doppelnatur, ausführlicher eingehen.



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 55

V. Zur Doppelnatur des Apeiron Die Doppelnatur des Apeiron äußert sich in seiner komparativischen Verfasstheit. Da meine Inerpretation viel dem Kommentar von Hackforth verdankt, möchte ich ihn hier zu Wort kommen lassen. Er stützt sich in seiner Interpretation auf eine Stelle der Physik des Aristoteles, die er folgendermaßen übersetzt (Phys. 206 B 27): „The reason why Plato made the Infinite dual is that it is regarded as going further, proceeding indefinitely both towards increase and towards diminution.“ Soweit Aristoteles. Hackforth fährt dann fort: In the Philebus the term δυάς (Zweiheit, d.  Verf.) is not used, but plainly the ἄπειρον is thus conceived. Hot and Cold, Dry and Moist, Fast and Slow, Highpitched and Low-pitched are indefinites (instances of the class τὸ ἄπειρον), because there is no definite point at which an object is hot, cold, etc.: there is no τέλος (terminus) in heat, for what is called hot has always something hotter beyond it, and something less hot short of it. There is in fact a range or continuum of temperature (as of humidity, velocity and pitch), unlimited in both directions; and this feature is brought out by the use of pairs of antithetical comparative adjectives – hotter-colder, drier-moister, etc. (42).

Halten wir hier inne. Hackforth’s Analyse, basierend auf dem AristotelesZitat, kann man m. E. sicherlich zustimmen, doch lassen sich seine Einsichten in die merkwürdige Zweiheit oder Doppelnatur des Apeiron noch vertiefen. Bevor ich diese Ergänzungen vornehme, möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass wenn wir uns heute den platonischen Gedanken von kälterwärmer, feuchter-trockener, höher-tiefer (bei Tönen) etc. nähern wollen, wir unbedingt neuzeitliche Begriffe wie Temperatur, Feuchtigkeit, Frequenz (Tonhöhe) – alles Dinge, die man heute messen kann – zunächst einmal ganz ablegen und versuchen müssen, uns in den Erfahrungshorizont des vierten vorchristlichen Jahrhunderts zu versetzen. Dann stelle man sich vor, wovon Platon eigentlich nur ausgehen konnte, wenn er diese Gegensatzpaare bildete: doch wohl von der körperlichen Wahrnehmung von warm und kalt, von hohen und tiefen Tönen. Diese Wahrnehmung (griechisch: Aisthesis) funktioniert (a) ziemlich ungenau, (b) verschieden je nach Stimmung und Situation für den einzelnen, (c) intersubjektiv auch ziemlich verschieden, und außerdem (d) und das ist wohl das Wichtigste: sie funktioniert nicht punktuell-statisch, sondern immer in einem Prozess, der eine Bewegungsrichtung hat, entweder zum Höheren oder zum Niedrigeren hin. So ergibt sich ganz zwanglos, dass die Beschreibung beispielsweise „wärmer-kälter“ für das subjektive Wärmegefühl richtig das vergleichende

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

Moment beschreibt, woraus sich überhaupt erst eine intersubjektive Verständigung über diese Phänomene ergeben kann. Im Folgenden möchte ich noch die anschließende Textpassage von Hackforth anfügen, wo es um das Wirken der Grenze auf das Unbegrenzte geht (42): Any actual temperature is a definite temperature, which can be expressed quantitively and measured on a thermometer; any actual pitch is a definite pitch, expressible quantitively and measurably on a length of a string. This quantity or measure (τὸ ποσόν) is a fixed entity: unlike τὸ ἄπειρον it does not ‚advance‘ but ‚stands still‘ (24 D); it is a point in the continuum. And Plato thinks of the coming into existence of this point as a determining of the continuum by the principle of Limit (τὸ πέρας). This term signifies all mathematical, quantitative determination, which always takes the form of a simple ratio, such as 1:1, 2:1, 3:2. Why should this be so? We do not think of the temperature of our bodies, or the velocity of a wind, as a ratio.

In der Tat: hier scheint eine Schwierigkeit zu liegen, die aber m. E. nur deswegen auftritt, weil wir unseren modernen Temperaturbegriff bzw. Geschwindigkeitsbegriff dem platonischen Gedanken fast unbewusst überstülpen. Die Zahlenverhältnisse, die Hackforth erwähnt, betreffen natürlich die von den Pythagoreern entdeckten Zahlenverhältnisse der wichtigsten Intervalle: zu einer gegebenen Tonhöhe lässt sich eben die Oktave bzw. Quinte konstruieren, indem man die Saite auf die Hälfte verkürzt bzw. im Verhältnis 3:2 teilt. Das „Aufprägen“ oder Vermischen des principle of Limit mit dem principle of the Unlimited versucht Hackforth im Folgenden zu klären, indem er zurückgreift auf „the old Ionion notion of the Opposites“. Jede aktuelle Temperatur sei eine Mischung vom Heißen und Kalten in einer bestimmten Proportion. Meines Erachtens braucht man nicht auf diese sehr vage Theorie zurückzugehen, um die Intention, die Platon bezüglich der Rolle der Grenze bei Phänomenen der Wärme oder der Kraft hat, zu begreifen. Es genügt, sich noch einmal die Stelle im Philebos vor Augen zu führen (26 a, b), wo Sokrates an mehreren Beispielen die günstige Wirkung beschreibt, die das Maßvolle und Symmetrische in Fällen großer Kälte und Hitze bzw. in den Jahreszeiten hervorbringt und wo er diese nützliche Wirkung letztlich einer Göttin zuschreibt. Ganz ausdrücklich sagt er (in 26 b 9–10), dass sie, die Göttin,89 „Gesetz und Ordnung, welche eine Grenze hat“, aufgestellt habe. Um nochmals zu dem Problem der angemessenen Wärme zurückzukehren: Anstatt sie als eine zahlenmäßige Mischung aus ganz heiß und ganz kalt aufzufassen, würde ich lieber zu folgender Interpretation neigen: Die Wirkung des Grenzartigen tut sich dadurch kund, dass die „natürlichen“ dynamischen Schwankungen in die eine oder andere Richtung, reduziert werden, was mit einer gewissen Kraftausübung verbunden ist, sei diese physischer oder psychischer Art. Dadurch wird eine gewisse Konstanz 89  Sie

wird von Hackforth versuchsweise mit Harmonia identifiziert (48).



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 57

einer mittleren Wärme erreicht, die günstig ist für das Leben der Menschen und z. B. für die Landwirtschaft. Das würde aber bedeuten, dass die Grenze nicht von selbst oder allein wirken kann, sondern des vierten Genos, der demiurgisch gedachten Ursache, bedarf. Genau deshalb begnügt sich Sokrates an der Stelle 26 a–b, wo von den günstigen Wirkungen des Genos der Grenze die Rede ist, nicht damit, sie als „normal“ auftretende natürliche Phänomene zu schildern, sondern er nimmt seine Zuflucht zu einer sozusagen transzendenten Begründung: eine Göttin bringt diese Ordnung hervor. Hier liegt eine gewisse Parallele zum Timaios vor, wo die Kosmosentstehung auf das gemeinsame Wirken von Vernunft (νοῦς) und Notwendigkeit (ἀνάνγκη) zurückgeführt und ausdrücklich gesagt wird, dass der Nous zwar die Ananke beherrscht, sie aber in Richtung auf das Bessere hin „überreden“ muss.90 Das Apeiron des Philebos und die Ananke des Timaios haben gemeinsam, dass beide von irregulären Bewegungen in Richtung der Extreme erfüllt sind (immer wärmer- immer kälter, immer stärker werdend- immer schwächer werdend u. ä.). Beide müssen durch die Vernunft mit Hilfe des Prinzips der Grenze gebändigt werden, damit konstante Dinge hervorgebracht werden können. Da das Verhältnis der beiden Dialoge zueinander bei den Kommentatoren eine gewisse Rolle spielt, möchte ich an dieser Stelle auf die entsprechenden Einlassungen bei Hackforth und Frede eingehen. Hackforth meint (38 f.), zwar sei der Timaios „approximately contemporary“ zum Philebos, und es sei auch erlaubt, den einen Dialog im Lichte des anderen zu interpretieren, jedoch solle man sich hüten, bei jeder Wendung zu zeigen, dass der eine Dialog den anderen bestätige. Die beiden Dialoge stimmten eher im Grundsätzlichen überein. Auch D. Frede äußert sich in ihrem Kommentar mehrfach zum Verhältnis der beiden Dialoge, z. B. 186 (nebst einer Fußnote), wo sie im Kontext der Frage, ob die vierfache Gliederung des Seienden wirklich alles umfasse, meint: Es gebe gute Gründe, die von vornherein daran zweifeln lassen, dass Platon bei seiner Klassenbestimmung ernsthaft eine Vollständigkeit im Auge habe. Seine Einteilung sei primär auf eine Erklärung des Begriffs der Mischung zugeschnitten und der dafür relevanten Faktoren. Platon kümmere sich nicht um eine Vollständigkeit in dem Sinn, dass man alle, auch die peripheren Phänomene darin einordnen können müsse.91 Auf diese schwie90  πείθειν,

Tim. 48 a. der Fußnote 126 schreibt Frede wörtlich: „Dafür spricht die sorglose Art, in der Sokrates eine mögliche fünfte Klasse weder ausschließt noch annimmt. Das sieht auch Hackforth so (38), der allerdings den Schwerpunkt allzu einseitig auf die Rolle des nous verlegt und sich weitgehend auf eine an Cornford anknüpfende Interpretation des Timaios beschränkt. Zwar ist die innere Verwandtschaft mit der Grund91  In

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

rige Frage, ob der Philebos eine Art Vollständigkeit der Beschreibung aller möglichen Seinsphänomene intendiert oder nicht, möchte ich noch später im Zusammenhang mit der Frage des Verhältnisses der vier Genera zu den Ideen eingehen. Für den Leser mag sich schon des öfteren bei unserer Behandlung des platonischen Apeiron aus dem Text des Philebos heraus, die Frage gestellt haben: Was sind eigentlich die Quellen für diesen platonischen Begriff? Worauf fußt Platon? Gibt es vielleicht bei ihm den Einfluss der milesischen Naturphilosophie? Gibt es zeitgenössische Strömungen, aus denen Platon schöpft? All diesen Fragen sei im Folgenden nachgegangen. VI. Zum Einfluss mehrerer möglicher Quellen auf den platonischen Begriff des Apeiron Von welchen Philosophen, von welchen Wissenschaften war Platon möglicherweise beeinflusst, als er sein Konzept des Apeiron entwickelte? Für einen ersten oberflächlichen Blick liegt es nahe, an Anaximandros zu denken. Doch sieht man näher hin, so bemerkt man einen wesentlichen Unterschied: Während das Apeiron des Milesiers ein umfassendes Seins­ prinzip darstellt, welches, ähnlich wie das Wasser des Thales und die Luft des Anaximenes, ein Seinsgrund ist, aus dem alles Seiende sich herauskristallisiert und in das es wieder zurück geht, so hat Platons Apeiron doch eine viel eingeschränktere und auch ontologisch niedrigere Funktion: Es ist nur eines unter vier Prinzipien und gerade nicht das welches den höchsten, sondern das welches den niedrigsten ontologischen Rang in der Hierarchie beanspruchen kann. Von welchem Autor also wurde Platon bei der Konzeption dieses eher materiellen Prinzips – wenn man hier einmal eine spätere Unterscheidung zugrunde legen darf – beeinflusst? Ich denke, man kann einen Vorläufer für das platonische Apeiron in einem der Vorsokratiker finden: nämlich in Alkmaion von Kroton. konzeption des Timaios von großer Wichtigkeit, als eine Erklärung der Bedeutung der vierfachen Einteilung ist sie jedoch unzureichend.“ (Hervorhebung von mir.)  Dazu nur eine Bemerkung: Kein anderer Dialog, auch nicht der Sophistes oder der Politikos, weist eine größere Nähe und Verwandtschaft zum Philebos auf als der Timaios. Und da dürfte es nur angemessen sein, wenn man über eine immanente Erklärung schwieriger Stellen hinaus kommen will, zu verwandten Gedankengängen und zu einer verwandten Begrifflichkeit, wie sie sich im Timaios zeigt, zu greifen und beispielsweise die kosmisch zu verstehende Ursache für die maßvoll gemischten schönen Dinge im Lichte des Begriffs des Demiurgen aus dem Timaios zu deuten. Was läge näher als dies?



C. Zur Interpretation der vierfachen Gliederung des Seienden 59

Ein, wie ich meine, überzeugendes Indiz dafür ist der Gesundheitsbegriff des Alkmaion, wie er (natürlich nur sehr kurz und nicht entfaltet) in Fragment B 4 (Diels) erscheint. Ich zitiere es in der Übersetzung von W. Ca­pelle (107): Alkmaion behauptet, die Gesundheit werde durch das Gleichgewicht der Kräfte erhalten: des Feuchten und Trockenen, Kalten und Warmen, Bitteren und Süßen usw. Die ‚Alleinherrschaft‘ (μοναρχία) einer unter ihnen sei die Ursache der Krankheit. Denn die Alleinherrschaft einer von ihnen sei verderblich. Krankheit stelle sich ein, was ihren Ursprung anbetreffe, infolge von Übermaß (ὑπερβολή) von Wärme und Kälte; Was aber ihren Anlaß beträfe, infolge von Übermaß oder Mangel (ἔνδεια) an Speisen; was aber das „Wo?“ angehe, so habe sie entweder im Blut oder im Mark oder im Gehirn ihren Sitz. Zuweilen aber entständen hier Krankheiten auch aus äußeren Ursachen: infolge Beschaffenheit des Wassers oder des Landes oder infolge von Überanstrengung oder Foltern oder dergleichen. Die Gesundheit dagegen beruhe auf der gleichmäßigen Mischung der Qualität. (Hervorhebung von mir).

Bis in die Wortwahl hinein klingt der letzte Satz dieses Fragments an Platons Philebos an. Wofür nämlich Capelle das etwas schwache Wort „gleichmäßig“ gewählt hat, da steht im Griechischen σύμμετρος (symmetrisch), d. h. derselbe Ausdruck, den Platon in seinem Diskurs für die Wirkung des Peras-Prinzips gebraucht.92 Meine Übersetzung des Satzes in 26 a 7 f. ließ das σύμμετρον praktisch stehen. Und in der Tat: wenn das Prinzip der Grenze in Kälte- und Hitzeaufwallungen hineinkommt, so nimmt es das Allzusehr und das Unbegrenzte weg, das Maßvolle und zugleich Symmetrische bringt es zustande. Ich glaube also, die Parallele zu Alkmaions Gesundheitsdefinition ist offensichtlich.93 Seine Idee von der Krankheit als der Erscheinungsform einer gestörten Balance bestimmter fundamentaler Qualitäten wie warm-kalt, feucht-trocken etc. findet man auch bei Platons Zeitgenossen Hippokrates wieder, z. B. in der Schrift „Von der heiligen Krankheit“, die im Corpus Hippocraticum einen hervorragenden Platz hat und von den meisten Kommentatoren Hippokrates selbst zugeschrieben wird. Dort macht Hippokrates deutlich (cap. 13), dass es meteorologische Phänomene sind wie Nordwind und Südwind, die größere Trockenheit oder Feuchtigkeit im menschlichen Gehirn, woher ja die Epilepsie ihren Ausgang nimmt, erzeugen und damit die Krankheit hervorrufen bzw. beeinflussen: 92  Z. B. in 26 a 7 f., wo es zusammen mit ἔμμετρος (maßvoll) erscheint und von Hackforth verbal mit „create measure and balance“ wiedergegeben wird (48). 93  Beiläufig gesagt: Alkmaions Begriff des Übermaßes (ὑπερβολή) lässt sich bis zu Aristoteles’ Beschreibung des Tugendbegriffes als Mitte zwischen Übermaß und Mangel in der Nikomachischen Ethik verfolgen.

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Kap. 2: Die vierfache Gliederung alles Seienden

Ich behaupte, daß sie bei den Wechseln der Winde aus folgenden Gründen Anfälle erleiden, und zwar besonders bei den Südwinden … Der Südwind aber wirkt ihm (dem Nordwind, den H. als den gesündesten Wind bezeichnet) völlig entgegengesetzt: …. er kann nicht sofort die Luft überwältigen, die zuerst dicht und zusammengeballt ist, aber mit der Zeit löst er sie auf. Ganz dieselbe Wirkung übt er auch auf die Erde und das Meer, die Flüsse und Quellen und Brunnen und auf alles aus, was wächst und worin Feuchtigkeit enthalten ist. Alles fühlt diesen Wind, und aus dem klaren Himmel wird Düsternis und aus Kaltem Warmes und aus Trockenem Feuchtes (….) Und Sonne, Mond und Sterne macht er viel trüber, als ihre wirkliche Natur ist. Wenn er nun über diese so großen und mächtigen Dinge eine solche Gewalt hat und diese auch den Körper des Menschen fühlen und sich infolge dieser Winde bei deren Wechsel sich wandeln läßt, dann muß auch durch die Südwinde das Gehirn aufgelöst werden und zerfließen und die Adern sich erweitern. Dagegen wird bei Nordwind der feuchteste Teil des Gehirns zusammengeballt und das Krankhafteste und Feuchteste ausgeschieden, wenn es von außen umspült wird, und in dieser Weise müssen die Abflüsse von oben bei den Wechseln dieser Winde erfolgen. So entsteht diese Krankheit und wächst sowohl von dem was in den Körper eindringt, wie von dem was aus ihm abgeht, und sie ist, was ihre Erkenntnis und Heilung angeht, um nichts göttlicher als die anderen. (Übersetzung von W. Capelle, 79 f.)

Der letzte Satz nimmt Hippokrates’ schon am Anfang der Schrift geäußerte scharfe Kritik am Namen der Krankheit, als ob sie etwas Heiliges oder Göttliches an sich habe, wieder auf. Wie man sieht, spricht hier ein Empiriker, der zutiefst davon überzeugt ist, dass Krankheiten auf natürlichen Ursachen beruhen und nicht isoliert vom kosmischen Geschehen betrachtet werden können und dass sie – wie schon Alkmaion annahm – in einer Störung des natürlichen („symmetrischen“) Gleichgewichts der Säfte und anderer fundamentaler Qualitäten bestehen. Man kann wohl davon ausgehen, dass Platon mit den Wissenschaften seiner Zeit vertraut war. Bei der Mathematik ist er es ganz unzweifelhaft, hat er doch einen seiner tiefgründigsten späten Dialoge dem frühverstorbenen genialen jungen Mathematiker Theaitetos gewidmet, und seine Lehre von den fünf regelmäßigen Polyedern im Timaios zeigt, dass Platon schöpferisch mit den Erkenntnissen seiner Zeit umgehen konnte. So ist es wohl mehr als nur wahrscheinlich, dass er auch in der Medizin seiner Zeit bewandert war. Besonders das, was uns von Alkmaion überliefert ist, weist bis in die Wortwahl hinein (Beispiel σύμμετρος) eine klare Verwandtschaft mit dem Apeiron-Peras-Gegensatzpaar des Philebos auf.

Kapitel 3

Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung alles Seienden mit der Ideenlehre Auf ein weiteres, höchst umstrittenes Problem möchte ich eingehen, ohne es erschöpfend behandeln zu können. Auch ist es mir nicht möglich alle verschiedenen Ansichten darüber zu referieren. Gemeint ist die Frage des Verhältnisses der vier Genera des Seienden im Philebos zu dem was normalerweise die platonische Ideenlehre (oder theory of Forms) genannt wird. Mit einer hochinteressanten Deutung dieses Verhältnisses möchte ich mich besonders auseinander setzen: mit C. J. de Vogels Aufsatz La théorie de l’apeiron chez Platon dans la tradition platonicienne.94 Aber natürlich sollen in einer so wichtigen Frage auch andere Kommentatoren zu Wort kommen, bevor ich meine eigene Interpretation vorschlage. Zunächst sei kurz auf die Ansicht derjenigen Kommentatoren eingegangen, die wie Hackforth und Taylor das Problem der Vereinbarkeit beider Theo­ rien zwar sehen, aber offensichtlich nicht dazu neigen, eine eindeutige Lösung vorzuschlagen, vielmehr das Problem offen zu lassen. So schreibt Hackforth (39): „It is obvious that the Ideas cannot be assigned to τὸ ἄπειρον, and hardly less obvious that they cannot belong to τὸ μεικτόν in view of its description as γένεσις.“ Auch das vierte Genos, die Ursache, in der Hackforth zu Recht eine Parallele zum Demiurgen im Timaios sieht, kann nicht zu den Ideen gehören, da ja im Timaios der Demiurg klar von den Ideen getrennt ist. Weiter schreibt Hackforth (40): „There remains the class called τὸ πέρας, or τὸ πέρας ἔχον.“ H. zieht eine Timaios-Stelle zu Rate, um den eventuellen Ideencharakter des Peras zu eruieren. In Tim. 52 a heißt es, dass die Idee nicht in irgendetwas anderes hineingeht; sie wird in der klassischen Weise beschrieben (a) als unsichtbar und (b) als Gegenstand des Denkens, (c) als unterschieden von einem sichtbaren vergänglichen Gegenstand, sowie (d) als unterschieden von dem aufnehmenden Prinzip (ὑποδοχή, χώρα). Was in dies letztere, welches Platon auch die „Amme des Werdens“ nennt, hineingeht, sind nicht die Ideen selbst, sondern ihre Kopien (Tim. 50 c). 94  In:

Revue philosophique de la France et de l’étranger 149, 1959, 21–39.

62 Kap. 3: Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung mit der Ideenlehre

„These copies of the Ideas are clearly sensible characters or qualities.“95 Aufgrund dieser Parallele entscheidet sich Hackforth schließlich gegen eine Identifizierung von Peras mit den Ideen (41). Wenig später scheint er aber doch eine gewisse Rolle, die die Ideen im Zusammenhang der „fourfold classification“ spielen könnten, zuzulassen: „I believe that Plato means us to see that the Ideas are behind the πέρας ἔχοντα in the same way as they are behind the εἴδη καὶ ἀριθμοί of the Timaeus and that they are, as in the Timaeus, the model to which Cosmic Reason, τὸ δημιουργοῦν, looks in its causation of the mixture; to a Greek reader the verb δημιουργεῖν would at once imply a model.“ (41) Hackforths ein wenig schwankende Ansicht über das Problem der Vereinbarkeit von klassischer Ideenlehre und der Lehre von der vierfachen Gliederung alles Seienden lässt sich zusammenfassend so wiedergeben, dass sich zwar die Ideen keinem der vier Genera eindeutig zuordnen lassen, dass sie aber im Hintergrund des zweiten Genos, der Grenze, eine wichtige Rolle spielen. Hackforth geht nicht so weit wie Ross, der in seinem Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles (Met. I 171) schreibt: „Plato appears to be putting forward a fresh analysis whose relation to the ideal theory he has not thought out.“96 Andere Kommentatoren haben eine viel engere Verbindung zwischen der Ideenlehre und der ontologischen Grundlegung im Philebos gesehen. Als einen der interessantesten und tiefschürfendsten Beiträge in dieser Hinsicht möchte ich den Aufsatz von C. J. de Vogel von 1959 nennen und ihn in einigen wesentlichen Gedanken vorstellen. Nach einer kurzen Charakterisierung des Apeiron und Peras vollzieht de Vogel eine sehr kühne Gleichsetzung (22): „Si le principe de Mesure, d’Égalité et de Nombre appartient à la nature du πέρας, il faudra conclure que ce principe determinant n’est autre que le monde des Idées, par la participation auquel les choses concrètes sont ce qu’elles sont.“ Während Hackforth und andere mit einem gewissen Zögern die Ideen nur im Hintergrund des Genos der Grenze und des Genos der Ursache eine Rolle spielen lassen, identifiziert de Vogel das Peras mit dem Ideenkosmos. Aber auch das Genos des Apeiron bringt sie in eine Verbindung mit den Ideen – was der Hauptzweck ihres Aufsatzes ist. Sie stützt sich dabei zunächst auf eine Stelle in der Metapysik des Aristoteles (Met. A, ch. 6), wo es heißt: „… Da aber die Ideen für die anderen Dinge Ursachen sind, glaubte er (Platon), ihre Elemente seien die Elemente aller Dinge. Als Materie seien das Große und das Kleine Prinzipien, als Wesen (οὐσία) das Eine; denn aus dem Großen und dem Kleinen 95  Hackforth 96  Zitat

40. bei Hackforth 39, Fußnote 3.



Kap. 3: Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung mit der Ideenlehre63

seien kraft der Teilhabe am Einen [die Ideen] die Zahlen.“97 De Vogel übersetzt diese Stelle so ins Französische: Parce que les Idées sont les causes des autres choses, il était d’avis que les éléments des Idées sont les éléments de tout ce qui existe. Or, comme matière, c’est le Grand et le Petit qui sont les principes, et comme essence (c’est-a-dire comme principe formel)98 c’est l’Un. Car c’est du Grand et Petit que les nombres proviennent, par la participation à l’Un.99

Man sei erstaunt über diese Passage, bemerkt de Vogel, ja sogar entrüstet (indigné), zeige sie doch an, dass die Ideen, die die transzendenten Ursachen der sinnlichen Dinge sind, ihrerseits von „Elementen“ abhingen, von denen auch die materiellen Dinge abhängen. Die Ideen sollen also ihrerseits, ebenso wie sie von der Idee des Guten abhängen (wie aus der berühmten Stelle der Politeia hervorgeht)100 auch von einem principe illimité abhängen? Sie verschärft diese erstaunte Frage noch (25): Comment donc, encore une fois, pourraient-elles dependre elles-mêmes (les Idées) de l’ἄπειρον, notion-limite qui, dans l’échelle hiérarchique de l’être, ne pourrait avoir sa place qu’a l’autre extrémité de L’Un, c’est-à-dire: tout à fait en bas, au niveau inférieur aux choses sensibles […]

Aus diesen Gründen habe Cherniss die Metaphysik-Passage des Aristoteles als Missverständnis eines Schülers zurückgewiesen. De Vogel gibt zu, lange Zeit dieser Ansicht gewesen zu sein und sie war daher mit der Ansicht von D. Ross in seinem Buch Plato’s Theory of Ideas (1951) nicht einverstanden. Ross nämlich vertritt die Auffassung, das Große und Kleine als Prinzip eines vielfach Unbestimmten zu nehmen, welches notwendig sei für Platon, um die Vielfalt der geistigen Gegenstände (νοητά) zu erklären, und er siedelt dieses Prinzip in der Hierarchie des Seins unmittelbar unter dem Einen an. De Vogel hat die Ansicht von Ross schließlich übernommen und bekräftigt sie in ihrem Aufsatz mit einer Reihe von Zeugnissen.101 Als wichtigsten Zeugen für Ross’ Auffassung, dass das Apeiron auch im Ideenbereich eine wesentliche Rolle spielt, ruft de Vogel Plotin auf, der in seiner Abhandlung über die Materie (Enneaden II,4) die Theorie eines doppelten Apeiron aufstellt. Sie schreibt (33): A, 6, 987 b 18–22; Übersetzung von Th. A. Slezák (2003). der Klammer durch de Vogel (24). 99  Bezüglich der Athetierung von τοὺς ἀριθμούς durch Christ und Jaeger siehe Slezáks Metaphysik-Ausgabe (15) und die Jaeger-Ausgabe (19). 100  Rep. 509 b. 101  Z. B. Simplicius in seinem Kommentar zur Physik des Aristoteles, Diogenes Laertios u. a.; siehe ihr Aufsatz (26 ff.). 97  Met.

98  Einfügung

64 Kap. 3: Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung mit der Ideenlehre Dans son traité Περὶ τῶν δύο ὑλῶν102 il maintient l’existence d’une ὕλη νοητή contre ceux qui disent qu’il n’y a ni ἄπειρον ni ὕλη dans le monde intelligible, parce qu’il n’y a choses composées ni changement. Il ne faut pas toujours mépriser l’Infini, Plotin riposte; l’âme, par example, est dans un sens ὕλη par rapport au νοῦς. Ensuite, il existe sûrement des σύνθετα dans le monde intelligible, bien que d’une autre espèce que les corps.

De Vogel nennt dann (33) zwei Gründe (im Anschluss an Plotin), weshalb man ein Apeiron in der intelligiblen Welt annehmen müsse: (1) um die Existenz verschiedener Ideen zu erklären – das setze ein ὑποκείμενον voraus; (2) der intelligible Kosmos (κόσμος νοητός) ist der Archetyp für den sinnlichen Kosmos, oder: da der letztere aus Materie und Form zusammengesetzt ist, muss auch der erstere eine Materie (ὕλη) haben, eben das intelligible Apeiron. Als einen weiteren Zeugen für die Zweiheit des Apeiron (eines in der intelligiblen, ein anderes in der sinnlichen Welt) zitiert de Vogel Proklos, der ebenso wie Plotin ein ἄπειρον double angenommen habe.103 In ihrer Zusammenfassung am Schluss der Arbeit bricht de Vogel noch einmal eine Lanze für die Plotinsche Auffassung des Apeiron: […] c’est Plotin qui la premiére fois a traité la question d’une méthode de reflexion profonde et de critique claire et bien fondée. S’il est vrai, ce que dit Aristote, que celui seul qui possède de la connaissance scientifique est capable de l’enseigneur, alors c’est Plotin, qui pour la première fois paraȋt avoir compris notre question […]

Und zur Bedeutung Plotins als Platoninterpret bemerkt sie zum Schluss (39): Plotin se présente lui même comme continuateur de la philosophie de Platon et comme exégète de la pensée du grand maȋtre […] La théorie du double ἄπειρον n’est pas une speculation étrange. Elle est un problème necessaire de l’exégèse de Platon.

Folgt man der Auffassung Plotins und seiner modernen Interpretin von einem doppelten Apeiron, so müsste der früher von mir festgestellte niedrige ontologische Rang des Apeiron innerhalb der vierfachen Gliederung alles Seienden relativiert werden: Nur dem Apeiron, welches in der sinnlichen Welt das Mehr und Weniger in einem ständigen Wandel zum Ausdruck bringt, darf man die tiefste onto102  Εin anderer Name für den Traktat, der in der Oxford-Ausgabe von Plotin einfach περὶ ὕλης heißt. 103  Proclus in Tim. B, éd. Diehl, vol. I, p. 384, l.28–p. 385, l.12; trad. du P. Festugière.



Kap. 3: Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung mit der Ideenlehre65

logische Stufe zuweisen. Das intelligible Apeiron hingegen steht auf der Stufe der Ideen und hängt seinerseits mit dem Genos der Verschiedenheit (ἕτερον) aus dem Sophistes zusammen.104 Wie ist das Verhältnis der Ideen zum Genos der Grenze zu charakterisieren? Darf man dieses Genos einfach mit den Ideen gleichsetzen, wie es de Vogel tut? Wie wir gesehen haben, fasst Hackforth die Sache vorsichtiger auf, indem er formuliert, dass die Ideen irgendwie im Hintergrund des Peras seien. Dieser Auffassung möchte ich mich anschließen und versuchen, den „Hintergrund“ ein wenig aufzuhellen.105 Eine schwächere Hypothese als die von der Gleichsetzung des Reiches der Ideen mit dem Bereich des Peras wäre: das Grenzartige und die Zahlhaftigkeit als Eigenschaften der Ideen aufzufassen, wobei die Ideen noch über weitere Attribute verfügen. Die Grenze als Kontur, die sich scharf dem erkennenden Geist einprägt, ist ein Seiendes (ein Genos), welches in das Ungestaltete des Apeiron eindringt, sowohl im Kosmos der geistigen Gegenstände, wie auch im empirischen Kosmos. Die Grenze als eine wesentliche Qualität der Ideen kann aber auch selbst als Idee, vergleichbar mit den fünf „größten Gattungen“ (μέγιστα γένη) des Sophistes106 betrachtet werden. Genauso wie im Sophistes der Fremde z. B. die Bewegung als ein größtes Genos auffasst, welches auch im Reich der Ideen wirkt, kann man m. E. auch das Genos der Grenze des Philebos als eine Art „Super-Idee“ auffassen. Platon benötigt sie zusammen mit dem komplementären Genos des Apeiron, um die Vielfalt der Gestalten sowohl im Ideenkosmos wie auch im irdischen Kosmos zu erklären. Natürlich liegt im Philebos der Schwerpunkt darin, die Phänomene im empirischen Kosmos zu erklären. Jedoch haben Plotin und seine modernen Nachfolger Recht, wenn sie eine analoge Zweiheit von Peras und Apeiron auch für den intelligiblen Kosmos annehmen.107 (Die entsprechenden Stellen aus der aristotelischen Metaphysik sind kaum anders zu interpretieren.) Um zu der anfänglichen Frage zurückzukehren, wie die Ideen mit den vier Genera des Philebos zusammenhängen, hier die zusammenfassende Antwort: Das Unbegrenzte (Apeiron) wird im Philebos primär nicht als Idee beschrieben,108 sondern als eine Art Gegen-Prinzip zur Konstanz und FormSoph. 255 ff. Kapitel 5 über die Rolle des Apeiron in den empirischen Wissenschaften gehe ich nochmals auf das Problem ein. 106  Soph. 254 c–255 e. 107  Im Appendix über die Plotinische Schrift stelle ich diese vor und gehe nochmals auf die Problematik eines intelligiblen Apeiron ein. 108  Das ideale Apeiron im Sinne von Plotin und de Vogel muss man zwar im Gesamtrahmen der platonischen Spätphilosophie annehmen, wie das aristotelische 104  Vgl. 105  In

66 Kap. 3: Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung mit der Ideenlehre

haftigkeit einer Idee: es stellt die empirischen physikalischen und biologischen Prozessen eigentümliche Fluktuation dar. Die Grenze oder das Grenzartige (Peras, peratoeides) ist einerseits als eine Art Super-Idee zu betrachten – ähnlich wie die fünf größten Genera des Sophistes. Andererseits „geht“ es als begrenzender Faktor bei der richtigen Mischung in die empirischen Dinge „ein“: die Grenze manifestiert sich als ein zahlhaftes Element in den Dingen. Das ist so ähnlich zu sehen, wie sich die Idee der Schönheit in den schönen Reden oder Körpern manifestiert bzw. in ihnen aufscheint. Wie das zu denken ist, wie ein solches „Hineingehen“ des Grenzartigen in das fluktuierende Element des Apeiron vorgestellt werden kann, dafür gleich ein Beispiel. Was die gemischten Dinge anlangt: Zwar können ihre Vorbilder, wie z. B. Gesundheit oder Tugenden, als Ideen betrachtet werden, nicht aber die gemischten empirischen Dinge selber. Das vierte Genos, die demiurgisch wirkende Ursache, ist keine Idee, sondern wie im Timaios ein eigenes Prinzip, das eher eine Art von göttlicher Kraft darstellt. Hier nun das Beispiel für das „Hineingehen“ der Grenze in das Unbegrenzte: Wenn zu Beginn eines Konzertes die Streicher ihre Instrumente stimmen, so erlebt man als Zuhörer das Apeiron sozusagen in actu: Nehmen wir einen Geiger heraus. Nachdem die Oboe das a  =  440 Hz gegeben hat, dreht der Geiger am Wirbel der a-Saite (oder an der Feinstimmvorrichtung) so lange, bis die beiden a die gleiche Schwingungszahl (Frequenz) haben, bis also – platonisch gesprochen – das Peras in Form der richtigen Schwingungszahl in das Apeiron eingedrungen ist, welches sich im Höher- und Niedriger-Stellen des Wirbels und in der entsprechenden Frequenzbreite äußert. Sobald der Geiger dieses a erreicht hat, stimmt er das ganze Instrument, d. h. er legt die Quinten fest, die zu den Saiten seines Instruments gehören. Wenn die Geige fertig gestimmt ist, „stimmen“ auch die jeweiligen Zahlenverhältnisse (von 3:2 bei den Quinten) ganz genau, nicht nur bei der Idee der Quinte, sondern auch bei den in der empirischen Realität richtig gestimmten Streichinstrumenten. Verallgemeinert bedeutet das: Wenn das Peras im einzelnen empirischen Vorkommnis in der richtigen Weise das Apeiron ersetzt, gibt es in diesem Fall keinen Unterschied zwischen Ideal und empirischer Wirklichkeit. Natürlich wissen wir, dass im Gegensatz zur idealen Quinte, die ewig im Zahlenverhältnis von 3:2 ist, die empirische Quinte sich verstimmen kann, Metaphysik-Zeugnis zeigt, aber im Philebos beschäftigt sich Platon mit dem empirischen Apeiron.



Kap. 3: Zum Zusammenhang der vierfachen Gliederung mit der Ideenlehre67

d. h. dass das apeirotische Element (sit venia verbo) wieder sozusagen hervorlugt und durch einen erneuten Stimmvorgang bekämpft werden muss (z. B. das Nachstimmen in einem Orchester nach einem Satz). Noch intensiver wirkt sich dieses apeirotische Element beim Stimmen eines modernen Klaviers aus, wo bekanntlich nur die Oktaven rein gestimmt werden können und alle anderen Intervalle eine wenn auch geringe Abweichung von den reinen Zahlenverhältnissen haben, damit man in allen Tonarten einigermaßen erträglich mit den 88 festliegenden Tasten musizieren kann. Auch beim gerade erst gestimmten Klavier muss man also bei allen Intervallen außer den Oktaven Unreinheiten in Kauf nehmen: das apeirotische Element ist immer vorhanden. Diese Beispiele aus der Musikpraxis zeigen, so hoffe ich jedenfalls, dass man (a) Peras und Apeiron immer im Zusammenhang sehen muss und (b) dass das Peras im Gegensatz zu den anderen Ideen (wie der Idee der Schönheit) wegen seines Zahlcharakters in seinen empirischen Manifestationen manchmal und zeitweise in voller Reinheit erscheinen kann, dass also die ontologische Differenz zwischen Idee und Abbild beim Peras, zumindest für eine gewisse Zeitspanne, aufgehoben erscheint. (In dem Musikbeispiel ist die Zeitspanne gemeint, in der sich die Schwingungszahlen nicht verändern). Man könnte diesen Punkt als ein Mosaiksteinchen betrachten, das zur Weiterentwicklung der platonischen Ideenlehre – im Ausgang von den sogenannten mittleren Dialogen wie Menon, Phaidon, Symposion, Staat – beiträgt. Den größeren Sprung in der Weiterentwicklung der Ideenlehre hat allerdings Platon im Sophistes gemacht, wo er die Bewegung mit zu den fünf größten Gattungen zählt (wobei ja diese μέγιστα γένη als eine Art Super-Ideen fungieren), ein Gedanke, der der klassischen Auffassung der Ideen in den mittleren Dialogen noch sehr fernliegt. Doch es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf dieses Problem der Spätphilosophie Platons näher einzugehen.109 Im Folgenden soll das Thema Apeiron wieder in den engeren Zusammenhang des Dialogs gestellt werden. Das nächste Kapitel befasst sich mit dem Verhältnis des Unbegrenzten zur Lust (ἡδονή).

109  Hierher würde auch ein Eingehen auf die sogenannte „Ungeschriebene Lehre“ Platons gehören. Siehe dazu das Literaturverzeichnis, insbesondere die Werke von Krämer und Gaiser. Vgl. auch den „Appendix“ von D. Frede in ihrem Philebos-Kommentar (403–417) über „Peras, Apeiron und der esoterische Platon“, wo sie sich eingehend mit dem Problem des Verhältnisses der ontologischen Lehre des Philebos zu Gedanken der sogenannten „Ungeschriebenen Lehre“ beschäftigt. Allerdings kann ich nicht allen ihren Spekulationen folgen.

Kapitel 4

Das Apeiron und die Lust Auch nach der vierfachen Gliederung, die ich die ontologische Grundlegung für das Thema des Dialogs genannt habe, kommt Sokrates immer wieder auf das Apeiron zu sprechen. Daher möchte ich nun – ohne den Fortgang des Dialogs nach 27 c genau nachzeichnen zu wollen – einige Stellen herausgreifen, wo Platon einen Zusammenhang herstellt zwischen dem, was er Apeiron nennt und den beiden rivalisierenden Lebensformen: dem Leben der Lust und dem Leben der vernünftigen Besonnenheit. Das folgende Kapitel ist dem Verhältnis von Apeiron und Lust (ἡδονή) gewidmet. Eine bezeichnende Stelle zu diesem Verhältnis findet sich in 31 a. Dort sagt Sokrates:110 Wir wollen aber auch das über beide festhalten: dass die Vernunft (νοῦς) der Ursache verwandt ist und so ziemlich zu diesem Genos gehört, dass die Lust (ἡδονή) aber selber unbegrenzt ist und zu dem Genos gehört, das weder Anfang, Mitte noch Ende in sich von sich her hat noch jemals haben wird. Protarchos: Wir werden daran denken; wieso auch nicht?

(Im weiteren Verlauf des Gespräches kommt Sokrates auf den Zusammenhang von Lust und Schmerz zu sprechen und gibt eine interessante Analyse der Entstehung von Lust und Schmerz. Ich verweise auf den Text und die Kommentare.) Was können wir an dieser Stelle über das Apeiron erfahren? Nun, Platon macht ganz deutlich, dass das Apeiron weder Anfang noch Mitte noch Ende hat – an und für sich gesehen, d. i. wenn z. B. nichts Grenzartiges dazwischentritt wie bei den gemischten Dingen aus der vierfachen Gliederung, somit also zum Unbegrenzten gehört. Die Zusprechung des Charakters des Unbegrenzten für die Lust allgemein ist natürlich hier nicht mehr als eine These, aber es gibt andere Stellen im Dialog, wo sich Platon um eine tiefere Begründung bemüht. Eine weitere hochinteressante Stelle zum Verhältnis von Apeiron und Lust ist 52 c 1–d 1. Diese Stelle bringt auch eine Unterscheidung zwischen sogenannten reinen und unreinen Lüsten.111 Das Zitat folgt der Übersetzung von Schleiermacher. Die Klammern sind von mir. 110  31 a 7 ff. 111  καθαραί

bzw. ἀκάθατοι ἡδοναί, 52 c 2.



Kap. 4: Das Apeiron und die Lust69 Sokrates: Nun wir also schon ziemlich abgesondert haben die reine Lust und die, welche man mit Recht unrein nennen kann: so laß uns nun in der Erklärung noch hinzufügen für die heftigen Lüste Ungemessenheit (ἀμετρία), für die, welche es nicht sind, im Gegenteil Abgemessenheit (ἐμμετρία); und welche das Groß und Heftig annehmen, mögen sie nun oft oder selten solche werden, denen wollen wir hinzufügen, dass sie von jener unbegrenzten, bald mehr, bald weniger durch Leib und Seele sich bewegenden Art sind, die aber nicht (das Groß und Heftig annehmen), dass sie zu den abgemessenen gehören.

Sokrates scheint sagen zu wollen, dass die heftigen Lüste selber zum Genos des Apeiron gehören. Dieses Apeiron scheint sich selbst in mehr oder weniger großem Grade durch Körper und Seele zu bewegen. Liegt hier eine Erweiterung des Apeiron-Begriffs vor oder nur ein Beispiel für eine Manifestation des Apeiron im Hinblick auf die Lüste? Von einigen Kommentatoren ist eine gewisse Inkonsistenz im Gebrauch des Ausdrucks ἄπειρον in Bezug auf Lust (ἡδονή) im Philebos allgemein beobachtet worden. Eine Auseinandersetzung mit angeblichen Schwächen der sokratischen Argumentation im Philebos hinsichtlich des Apeiron-Charakters von Lust allgemein bzw. von bestimmten Lüsten findet sich bei Hackforth (102 f.). Es scheint zunächst eine sehr allgemeine These vorzuliegen, wenn z. B. in 31 a 7–10 festgestellt wird, dass Lust für sich selbst genommen, unbegrenzt ist und zum Genos gehört, das weder Anfang noch Mitte noch Ende in sich hat noch jemals haben wird. Das ist ein sehr emphatischer Ausdruck für die Zugehörigkeit der Lust zum Genos des Apeiron.112 Andererseits ist an unserer Stelle (52 c 1–d 1) die Rede davon, dass es im Gegensatz zu den heftigen Lüsten auch solche gibt, die nicht von der Art sind, dass sie sich als unbegrenzte, das Mehr oder Weniger aufnehmende, durch Leib und Seele bewegen, sondern dass sie abgemessen sind (ἔμμετραι), d. h. doch, dass sie ein starkes Element von Peras in sich haben. Wie ist diese Inkonsistenz aufzulösen? Hackforth glaubt, dass die in 52 c vorgetragene Theorie nicht voll ausgearbeitet sei. Uns werde nicht gesagt, in welch genauem Sinn die verschiedenen Arten von reinen Lüsten ein Maß oder eine Grenze besitzen. Platon scheine sich damit zufrieden zu geben, dass er keine positive Darstellung einer maßvollen Lust gibt, sondern nur die negative Kennzeichnung, dass die Maßlosigkeit abwesend ist. Nach weiterer Diskussion der Möglichkeiten, sich das Peras auch und gerade im Falle der Lüste in deren eigenes Apeiron hineinzudenken, womit praktisch ein Gemischtes entstünde, schreibt Hackforth (103): 112  Auch an anderen Stellen wird die Lust allgemein als unbegrenzt charakterisiert, z. B. in 41 d und 65 d.

70

Kap. 4: Das Apeiron und die Lust

Our answer should probably be that Plato’s conception of τὸ ἄπειρον suffers from a certain inconsistency as the result of his restriction of the class of μεικτά to good compounds […] That restriction leads him to think of the emotional condition called σφόδρα ἡδονή not only as ἄμετρον – devoid of due measure or moderation – but also as ἄπειρον. It is not of course ἄπειρον in the sense of lacking all determination, for its very σφοδρότης is quantitative determination; but it is ἄπειρον in the sense that it is characterised by the possibility of indefinite advance beyond the point of ἐμμετρία.

Im Gegensatz zu Hackforth und Ritter, auf den Hackforth sich bezieht,113 kann ich keinen „verwirrenden Doppelsinn“114 bzw. auch keine gravierende Inkonsistenz im Gebrauch des Ausdrucks ἄπειρον erkennen. Die Charakterisierung dieses Genos, die Hackforth doch sehr schön gibt als „possibility of indefinite advance beyond the point of ἐμμετρία“ kann man als allgemeines Kriterium jedes ἄπειρον auffassen. Wenn Platon (in 52 c, d) von gewissen „maßvollen“ Lüsten spricht, so ist das m. E. so aufzufassen, dass der allgemeine apeirotische Charakter der Lust durch das Dazwischentreten oder Eindringen des Peras verändert wird: sie wird durch die ἐμμετρία ein Seiendes, das nicht mehr nur von ihrem apeirotischen Charakter geprägt wird. Ähnlich verhält es sich bei der Gesundung kranker Körper: sie verlieren ihren apeirotischen Charakter: den Überschuss oder Mangel an bestimmten Säften, an Wärme etc. und werden gesund, d. h. sie erreichen einen stabilen Zustand aller Kräfte und Substanzen, die eben ein gesunder Körper braucht. Im Unterschied zu den Lüsten bleibt bei Körpern freilich festzuhalten: sie sind als Körper zunächst einmal neutral und nicht in allgemeiner Weise so wie Lüste als unbegrenzt zu bezeichnen. Das Einzige, was man Sokrates im Philebos vielleicht hinsichtlich des Gebrauchs des Prädikats „unbegrenzt“ vorwerfen kann, ist, dass er bei der allgemeinen Charakterisierung der Lust als eines Phänomens, das zum Unbegrenzten gehörig ist (in 31 a, 41 d und 65 d) nicht eigens das Wörtchen „in der Regel“ hinzugefügt hat oder eine Wendung wie „wie wir sie (die Lust) normalerweise antreffen“, um dann auf die Ausnahmen der maßvollen Lüste zu verweisen.

A. Der wahre Charakter der Lust An zwei anderen Stellen des Dialogs, nämlich 44 d, e und 45 a, kann man zeigen, an welchen Formen der Lust für Platon der wahre Charakter der Lust in exemplarischer Weise hervortritt. Der Kontext ist folgender: In 44 c beschäftigt sich Sokrates mit Leuten, die er mit der ihm eigenen Ironie 113  S. 103, 114  Ritter,

Fußnote. Platon II, 171.



A. Der wahre Charakter der Lust71

„gewaltig“ (δεινούς) nennt, welche behaupten, Lust sei nichts anderes als das Fehlen von Unlust (λύπη). Vorher (43 d) hatten Sokrates und sein Partner Protarchos eine Dreiteilung der Lebensweisen vorgenommen, nämlich das angenehme Leben (βίος ἡδύς), das unangenehme Leben (βίος λυπηρός) und als drittes das, was keines von beiden ist, also sozusagen ein neutrales Leben in Bezug auf die Lust. Die „gewaltigen“ Leute, mit denen sich Sokrates nun auseinandersetzen will, sind solche, die Folgendes behaupten würden (Sokrates spricht ihren Part): Wenn wir irgendeines Begriffes Natur115 in Betracht ziehen wollten wie z. B. die des Harten, würden wir, wenn wir auf die härtesten Dinge sähen, sie so am besten auffassen, oder wenn auf die, welche nur ein kleines Teilchen Härte haben? Du musst aber, o Protarchos, wie vorher mir, so auch nun diesen Gestrengen antworten. Prot.: Allerdings, und ich sage ihnen also, auf das größte ihrer Art. Sokr.: Also, wenn wir nun den Begriff der Lust (τὸ τῆς ἡδονῆς γένος), was für eine Natur sie wohl hat, betrachten wollten, müssten wir nicht auf die kleinsten Lüste sehen, sondern auf die, welche für die schärfsten und stärksten gelten.116

Zwei Zeilen tiefer werden solche „stärksten“ Lüste mit denen des Körpers identifiziert. Aus dieser interessanten Passage lassen sich m. E. einige für den Begriff des Apeiron aufschlussreiche Folgerungen ziehen. Zusammen mit der öfter gegebenen Kennzeichnung der Lust als zum Apeiron gehörig (zuletzt in 41 d) ergibt sich: Zum einen: Die Natur des Eidos bzw. Genos der Lust (beide Ausdrücke werden an dieser Stelle unterschiedslos gebraucht) lässt sich am besten erkennen, wenn wir eine besonders starke körperliche Lust betrachten. Dieser Satz ist ohne weiteres mit dem common sense vereinbar. Das vorher gegebene Beispiel des Harten, das sich am besten an etwas, das als das Härteste gilt (z. B. ein Diamant) erkennen lässt, zeigt, dass man diesen Schluss von einem Extrem innerhalb einer Gattung auf das Erkennen dieser Gattung selbst öfter ziehen kann. Man könnte diesen Schluss a fortissimo exemplo cuiusve generis nennen. Gegenüber der Kennzeichnung des Apeiron in der vierfachen Gliederung alles Seienden, wo es als das erschien, welches sich in einem durch Komparative (feuchter – trockener, härter – weicher, wärmer – kälter etc.) aufgespannten „Raum“ befindet, ergibt sich hier als sichere Kennzeichnung der Lust als solcher, dass ihr Wesen (ihre Natur) am besten durch einen Superlativ beobachtbar ist. 115  ὁτουοῦν

εἴδους τὴν φύσιν 44 e 1. in der Übersetzung von Schleiermacher.

116  44 d 9–45 a 2

72

Kap. 4: Das Apeiron und die Lust

Zum anderen lässt sich m. E. von dieser Stelle ableiten, dass das, was Platon die Grenze nennt, nicht als Superlativ einer in verschiedenen Stufen oszillierenden Entität (dem Apeiron) verstanden werden kann. Sondern die Grenze bringt das jeweilige Apeiron zu einem Stillstand, der für das Ganze des Mikro- oder Makrokosmos als schön gilt und eher eine goldene Mitte denn einen Superlativ beschreibt.

B. Die Lust als ein Werden (γένεσις) Um die Lust als etwas Apeironhaftes zu kennzeichnen, begnügt sich Sokrates jedoch nicht, diese These aufzustellen und eventuell zu illustrieren, sondern er geht, um sie zu begründen, einen bezeichnenden Umweg, indem er zunächst den Begriff des Werdens (γένεσις) mit der Lust verbindet. In 53 c sagt Sokrates ganz klar und unmissverständlich, dass die Lust immer ein Werden ist, kein Sein (οὐσία). 53 c 4 ff.: „Sokrates: Wie aber nun dieses? Haben wir von der Lust nicht gehört, dass sie immer nur ein Werden ist und dass es ein Sein der Lust ganz und gar nicht gibt?“ Im weiteren Verlauf des Dialoges wird die Frage gestellt,117 ob allgemein das Werden um des Seins willen ist oder umgekehrt das Sein um des Werdens willen. Die Antwort: Jegliches Werden ist um des Seins willen.118 Übertragen auf die Lust als ein Werden bedeutet dies, dass die Lust als ein Werden notwendig wegen irgendeines Seins wird.119 Es folgt ein allgemeiner Satz zur platonischen Ontologie, der das Gute als allgemeines Telos einführt: Sokrates: Nun muss doch dasjenige, wegen dessen jedes Mal das um eines andern willen Werdende wird, in der Ordnung (μοῖρα) des Guten befindlich sein: das eines andern wegen Werdende aber, o Bester, müssen wir in eine andere Ordnung setzen.120

Angewandt auf die Lust bedeutet der Satz: Die Lust als ein Werden kann nicht in die Klasse des Guten gestellt werden, denn sie kann, so jedenfalls Sokrates, kein Ziel sein, um dessentwillen etwas geschieht. Mit diesem Argument ist natürlich hinsichtlich der Ausgangsfrage des Dialogs, ob die Vernunft oder die Lust den zweiten Preis für das gute Leben davontrage, schon eine Vorentscheidung gefallen, was Sokrates in 54 d so ausdrückt: Also, was ich schon am Anfang dieser Rede sagte, dem, der uns von der Lust dieses angedeutet hat, dass es nur ein Werden, aber auch nicht im mindesten ein 117  54 a 7–10. 118  54 c 2–4. 119  54 c 6 f.

120  54 c 9–11.



C. Apeiron und Werden73 Sein derselben gäbe, müssen wir Dank wissen. Denn offenbar lacht dieser diejenigen aus, welche behaupten, die Lust sei das Gute.121

Ich übergehe den Schluss dieses Abschnitts122, wo Sokrates und Protarchos Einigkeit demonstrieren in der Auffassung, dass im Vernünftigsein (φρονεῖν) und in den Tugenden wie Tapferkeit und Besonnenheit das Gute bestehe und nicht etwa in der Lust.

C. Apeiron und Werden Ich habe diesen Abschnitt (53 c–54 d) über den Werdecharakter der Lust deshalb relativ ausführlich paraphrasiert, um dem Leser zu zeigen, dass Platons Gegensatzpaar Werden – Sein (γένεσις – οὐσία) mit dem anderen Gegensatzpaar Unbegrenztes – Grenze (ἄπειρον – πέρας) zusammenhängt, obgleich diese Parallele im Text des Philebos nicht explizit ausgeführt wird. Wie könnte man diesen Zusammenhang sehen? Nun, dass die Lust, allgemein gesehen, ein Unbegrenztes ist, wurde uns an mehreren schon erwähnten Stellen vorgeführt.123 Dass das Seinsmoment, um mit Gadamer zu sprechen, des Apeiron in der Lust allgemein auch im Falle der maßvollen Lüste anwesend ist – wenn auch in schwächerer Form als in den heftigen Lüsten – scheint mir evident zu sein. Wenn jetzt (in 53 c) der Lust ebenso allgemein der Charakter des Werdens zugesprochen und der des Seins abgesprochen wird, so liegt es, logisch gesehen, nahe, dass der Werdecharakter der Lust mit ihrem Apeiron-Charakter etwas zu tun hat. Und in der Tat folgt auch aus unseren bisherigen Interpretationen des Apeiron, dass dieses nichts Feststehendes ist, sondern Prozesshaftigkeit bedeutet. Nun muss man m. E. im Philebos zwischen ungerichteten und gerichteten Prozessen unterscheiden oder genauer (da die ungerichteten Prozesse zufällig zum einen oder anderen Extrem tendieren können): man muss zwischen einfachen Werdeprozessen, wo sich keine Gestalt ergibt, und Prozessen unterscheiden, die zu einem Seienden führen – sei es z. B. ein richtiges Intervall, sei es Gesundheit, sie es eine Tugend. Prozesse also, die ein Werden zum Sein (γένεσις εἰς οὐσίαν),124 das heißt: ein Werden zu einem gestalthaften Seienden darstellen. Diejenigen Werdeprozesse, die ich hier „einfach“ genannt habe, zu denen allgemein auch die Lust gehört, sind sozusagen der Spielplatz des Apeiron. Es handelt sich da, wie schon früher 121  54 d 4–7;

cher.

die Übersetzung dieser und der vorigen Stellen ist von Schleierma-

122  54 e 1–55 c 3. 123  31 a 7–10; 124  26 d 8.

41 d; 65 d.

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Kap. 4: Das Apeiron und die Lust

ausgeführt, um Schwankungen, um Oszillationen, ohne dass normalerweise ein Seiendes entsteht. Entsteht jedoch ein Seiendes wie Gesundheit, Jahreszeiten, Tugenden, so ist dies auf das Wirken des Peras zurückzuführen sowie auf das Wirken des vierten Genos, der Ursache, wie Sokrates in der ontologischen Grundlegung (23 c–27 c) ausführlich dargelegt hat. Das dort gegebene Vierer-Schema alles Seienden lässt sich, ohne dem Text Gewalt anzutun, mit dem in 54 gegebenen (und auch sonst bei Platon eine große Rolle spielenden) Kategorienpaar Werden und Sein harmonisieren. Allerdings nehmen die maßvollen Lüste, in denen ἐμμετρία125 eine Rolle spielt, eine gewisse Sonderstellung ein: als Lust allgemein sind sie ein Unbegrenztes und ein Werden; da aber das μέτρον, das Maß, welches ja zur Familie des Peras gehört, in ihnen wirkt, ist ihr Werden auch eher ein Werden zum Sein hin. Diese Sonderstellung der maßvollen Lüste – innerhalb des Gegensatzpaares Werden und Sein – hat Platon meines Wissens nicht näher ausgeführt.

125  52 c 4.

Kapitel 5

Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste Da Sokrates im Fortgang des Dialogs ständig die Frage gleichsam im Hinterkopf hat, welche Lebensform die bessere ist: das Leben der Lust (wie es der im Schweigen verharrende Philebos will) oder das Leben der Vernunft (wie Sokrates es für richtig hält), so gibt es im Dialog neben der Erörterung des apeirotischen Charakters der Lust auch eine eingehende Diskussion, inwiefern Apeiron und Peras in den Wissenschaften und Künsten (ἐπιστῆμαι, τέχναι) eine Rolle spielen. Während in den beiden ontologischen Exkursen, der Gabe der Götter und der Vierergliederung alles Seienden, das Moment des Peras betont wird, indem Sokrates für einen Grammatiker und Musikkundigen fordert, dass er sich wirklich auskenne in der durch Zahlen und genaue Relationen bestimmten Systematik seiner Wissenschaft, wird in der Passage 55 c bis 57 b mehr die empirische Seite der Wissenschaften betrachtet und Sokrates sucht die Künste und Wissenschaften gemäß ihrem Grad an Reinheit einzuteilen. Wie wir sehen werden, spielt dabei, ebenso wie bei der Einteilung der Lüste in maßlose und maßvolle, der Begriff des Apeiron eine gewisse Rolle. Zunächst stellt Sokrates die These auf (in 55 e), dass man bei den handwerklichen Künsten126 Grade der Reinheit beobachten kann: als Kriterium der größeren Reinheit nimmt er einen größeren Anteil an Arithmetik, Messkunst und Wägekunst an,127 also Elemente der reinen und angewandten Mathematik. Wenn man diese Elemente aus den handwerklichen Künsten entferne, bleibe nur etwas Geringfügiges übrig. Dieses „Geringfügige“128 identifiziert Sokrates im nächsten Satz mit dem Abschätzen, mit einer g ­ewissen Gewöhnung der Wahrnehmung, sowie mit Übung und Mutmaßung.129 Als erstes Beispiel dazu fällt ihm wieder die Musik ein; Hier ist es jedoch nicht die mathematische Bestimmung der Intervalle und des ganzen Tonsystems wie bei der Gabe der Götter, sondern Sokrates meint die praktische Musikausübung, die er sehr treffend charakterisiert: 126  χειροτεχνικαί

55 d 5. μετρητική, στατική. 128  φαῦλον, 55 e 2. 129  στοχαστική. 127  ἀριθμητική,

76

Kap. 5: Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste

Ist nun nicht irgendwie voll davon (gemeint ist Übung und Mutmaßung) die Musikausübung (μουσική), indem sie das Zusammenklingende nicht auf Grund des Maßes, sondern wie man es durch Übung versucht (μελέτης στοχασμῷ), zusammenfügt, und indem die ganze Flötenkunst und die Kunst, die Kithara zu schlagen130 danach sucht (jagt), das Maß jeder sich bewegenden Saite durch Probieren zu erfassen, so dass viel Gemischtes das Nicht-Klare aufweist, weniges aber das Sichere (sc. die sicheren klaren Töne).131

Sokrates meint also, dass die praktische Musikausübung nicht gerade den Regeln der strengen Wissenschaftlichkeit folgt, sondern von Herumprobieren gekennzeichnet ist und nur wenige klare Ergebnisse hervorbringt – immer gemessen am Standard der Mathematik. Ähnlich, so fährt Sokrates fort, verhalte es sich mit der Medizin, der Landwirtschaft, der Steuermannskunst und der strategischen Kunst. Herausgehoben wird die Baukunst (τεκτονική), die als kunstreicher als die genannten Künste bezeichnet wird, weil sie sich sehr vieler genauer Maße und Werkzeuge bedient (56 b).132 Zum Schluss dieses Abschnitts fasst Sokrates seine Einteilung der Künste (τέχναι) zusammen, indem er feststellt, dass es Künste wie die Musik gibt, die nur zu geringer Genauigkeit (ἀκρίβεία) fähig sind, und Künste wie die Baukunst, die zu größerer Genauigkeit fähig ist.133 Er fragt nun Protarchos nach den genauesten Künsten,134 worauf dieser, ganz in Sokrates’ Sinn, antwortet: „Du scheinst mir die Arithmetik zu meinen und diejenigen Künste, die du gerade mit dieser nanntest.“ (Gemeint sind die Messkunst und die Wägekunst von 55 e). Nun folgt eine wichtige Unterscheidung. Sokrates teilt nämlich die ­Arithmetik135 ein in (a) die der Vielen und in (b) die der Philosophierenfolge hier mit Hackforth (117) der Ergänzung des Cod. Ven.. eigene Übersetzung nach Schleiermacher. 132  Als Unterabteilungen der Baukunst erwähnt Sokrates den Schiffsbau, den Hausbau, sowie andere nicht eigens genannte Abteilungen der Holzverarbeitung (ξυλουργική); in all diesen Künsten und Fertigkeiten sind gewisse Werkzeuge in Gebrauch, die für Sokrates angewandte Mathematik bedeuten: das Richtscheit (κανών), der Zirkel (τόρνος), das Lineal (διαβήτης; Liddell&Scott: carpenter’s or stonemason’s rule), die Richtschnur (Lot) (στάθμη) und der Meßwinkel (προσαγωγεῖον); Liddell&Scott: stonemason’s or carpenter’s square, 56 b 8–c 2. Wie diese Werkzeuge genau ausgesehen haben, kann hier nicht erörtert werden. Auch für D. Frede ist die genaue Natur dieser Instrumente „schwer zu ermitteln“ (73, Fußnote 81). 133  56 c 4–6. 134  ἀκριβέσταται τέχναι. 135  Schleiermacher: Rechenkunst; Hackforth: art of numbering; ich habe den griechischen Ausdruck beibehalten, da wir heute mit ihm im Großen und Ganzen das meinen, was Platon auch meinte. 130  Ich

131  56 a 3–7;



A. Die Sonderstellung der Dialektik77

den136. Da Protarchos diese Unterscheidung nicht sofort begreift, muss Sokrates sie erklären. Er sagt (56 d 9–e 3): Es ist keine geringe Unterscheidung, o Protarchos. Die einen zählen nämlich ungleiche Einheiten137 der Dinge, die in Bezug auf Zahl bestimmbar sind, zusammen, wie z. B. zwei Heereslager und zwei Ochsen und zwei kleinste oder allergrößte Dinge. Die anderen aber würden ihnen niemals folgen, es sei denn, dass einer eine Einheit setzt, die sich in keiner Weise von einer anderen Einheit der unzählig vielen unterscheidet.

Protarchos stimmt zu und Sokrates bekräftigt noch einmal seine Unterscheidung, indem er dieses Mal etwas andere Ausdrücke gebraucht und den Unterschied artikuliert zwischen angewandter Berechnungskunst138 (innerhalb der Baukunst, sowie der kaufmännischen Berechnungskunst) und der Geometrie innerhalb der Philosophie derer, die sich mit theoretischen Berechnungen beschäftigen. Sokrates spricht ausdrücklich von zwei Arten der Arithmetik und zwei Arten der Messkunst (57 d 6). Es ist jeweils eine Art Zwillingspaar, welches zwar den Namen gemeinsam hat, aber den Inhalt nur partiell. Heute würden wir von einem theoretischen und einem praktischen Zweig der Arithmetik sprechen oder allgemeiner von reiner und angewandter Mathematik. Aber noch ist Sokrates nicht bei der höchsten und reinsten Wissenschaft angelangt.

A. Die Sonderstellung der Dialektik innerhalb der Wissenschaften und Künste (57 e 6–59 b 9) Sokrates nennt und behandelt die Dialektik im folgenden Abschnitt unter dem Namen: die Kraft des Miteinander-Redens139. Es ist dieselbe Disziplin, die er zuvor im Dialog als Gabe der Götter (16 d, e) geschildert hatte. Dort hatte er, bevor er zu den drei Beispielen überging, das richtige Verfahren in Bezug auf die Einteilungen der Ideen als ein „Verfertigen von Reden in dialektischer Art“140 genannt und er hatte dieses richtige Verfahren von dem „streitsüchtigen“ abgesetzt. Die Parallele zu unserer Stelle (zu 57 e) ist augenfällig. Während Sokrates aber bei der Gabe der Götter den Akzent auf richtige Einteilungen und Subsumtionen legt und das Apeiron einführt als dasjenige, das die Zahllosigkeit der Einzelphänomene, die nicht weiter in 136  56 d 4–6. 137  μονάδας

ἀνίσους. gebraucht Platon den Ausdruck λογιστική statt ἀριθμητική, 56 e 7. 139  ἡ τοῦ διαλέγεσθαι δύναμις, 57 e 6 f. 140  τὸ […] διαλεκτικῶς […] ποιεῖσθαι πρὸς ἀλλήλους τοὺς λόγους 17 a 3 f. 138  Jetzt

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Kap. 5: Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste

Klassen eingeteilt werden können, verkörpert, schildert er im Folgenden die Sonderstellung der Dialektik als des genauesten und wahrsten Wissens und gibt auch ein interessantes Urteil über ihren praktischen Nutzen ab. In Abschnitt 58 c, d sagt er nämlich – ich fasse zusammen: Jetzt werde nach einer Wissenschaft bzw. Kunst gefragt, die nicht deshalb den Vorzug verdient, weil sie die größte, stärkste und nützlichste ist, sondern deshalb, weil sie das Gewisse, das Genaue, das Wahrste141 betrachtet, auch wenn sie selbst nur klein ist. Er vergleicht sie mit dem reinen Weiß, das er vorher (in 53 a, b) im Vergleich mit anderen Farben herausgestellt hatte. Es sei die reinste Farbe, die man aber nicht als die größte und meiste Farbe ansehen könnte. Genauso wie ihm das reine Weiß Vorbild für Reinheit ist, so ist ihm die Dialektik Vorbild für das Streben nach der Wahrheit. In 58 d spricht er davon, dass sie nicht auf irgendwelche Vorteile, die die Erkenntnis bringen könnte, sieht, sondern dass sie das Wahre um seiner selbst willen liebt. Es wäre sicherlich lohnend, den ganzen Abschnitt über die Dialektik von 57 e 6 bis 59 b 9 in extenso zu interpretieren, aber das würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.142 So möchte ich mich darauf beschränken, aus der ganzen Passage einige Hauptgedanken kurz zu umreißen und zusammenzufassen und zu fragen, was für Konsequenzen sich daraus für die Auffassung des Apeiron ergeben. In 59 a stellt Sokrates die These auf, dass viele Künste Meinungen gebrauchen143 und dass sie angestrengt die Dinge, die die Meinung betreffen,144 untersuchen. Auch wenn jemand Forschungen über die Natur anstellt, so untersucht er nur diesen irdischen Kosmos, wie er entstanden ist, was er erleidet und inwiefern er etwas bewirkt. Das ist wohl eine Polemik Platons gegen die Naturphilosophie seiner Zeit, worin er die Polemik aus dem Phaidon gegen Anaxagoras wieder aufnimmt.145 Ein solcher Forscher begeht den Fehler – nach Sokrates – nicht auf das Immer-Seiende (die Ideen) sein Augenmerk zu richten, sondern nur auf das 141  τὸ ἀληθέστατον 58 c 3. Sokrates gebraucht bei der Behandlung der Dialektik des öfteren den Superlativ von wahr. 142  Vgl. dazu das Buch von G. Mouroutsou, welches das Thema ausführlich behandelt. 143  δόξαι; man könnte das Wort auch mit „Vermutungen“ übersetzen; Schleier­ machers Version „Vorstellungen“ finde ich unpassend. 144  τὰ περὶ δόξαν. 145  Phaidon 97 c–99 c.



A. Die Sonderstellung der Dialektik79

Werdende, das zukünftig Werdende und das Gewordene.146 Die Partizipien der drei Zeitformen Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit drücken Platons Auffassung von der Zeitlichkeit der Phänomene im irdischen Kosmos aus.147 In solchen Forschungen kann nach Sokrates’ Auffassung nichts klar werden in der Weise einer „genauesten Wahrheit“.148 Der Grund dafür liegt darin, dass die betrachteten irdischen Einzelphänomene keine Beständigkeit (βεβαιότης) bieten und daher sich für uns, die Menschen, nichts Beständiges ergibt. Nun zieht Sokrates die Schlussfolgerung: Also gibt es über diese Dinge (die empirischen Phänomene) weder Vernunft (νοῦς) noch ein Wissen (ἐπιστήμη), welches seinerseits das Wahrste (die vollkommene Wahrheit) besitzt.149 Mit diesem Satz charakterisiert Sokrates die Mängel einer bloß empirischen Naturforschung und stellt ihr, allerdings ohne genauer auf die Methode einzugehen, die Wahrheitssuche im Ideenbereich gegenüber. Es sei einmal der Versuch gewagt, den Gedanken in modernerer Terminologie zu paraphrasieren: Die mit reinen abstrakten Begriffen arbeitende Vernunft kann auf dem Feld der empirischen Wissenschaften nichts ausrichten; auf diesem Feld kann freilich auch kein Wissen erlangt werden, das als Ziel die absolute Wahrheit hat. In Verbindung mit dem Satz über die Meinungen (δόξαι; 59 a 1) kann man dann in gut Popperscher Manier folgern: Die empirischen Wissenschaften haben es letztlich mit mehr oder weniger guten Vermutungen und Meinungen zu tun. Die Wahrheit bleibt ein unerreichbares Ziel. Meiner Ansicht nach lassen sich Platons Gedanken in 59 in dieser Weise interpretieren, ohne die gewaltige historische Distanz der damaligen zu den heutigen Wissenschaften aus dem Auge zu verlieren. Welche Folgerungen ergeben sich aus der von Platon vollzogenen Trennung von empirischen und reinen Wissensformen für die Auffassung des Apeiron?

146  περὶ

δὲ τὰ γιγνόμενα καὶ γενησόμενα καὶ γεγονότα (59 a 7 f.). dazu meine Arbeit (1976), 45 ff. 148  τῇ ἀκριβεστάτῃ ἀληθείᾳ 59 a 11. 149  Wieder gebraucht er den Superlativ von ἀληθής: ἀληθέστατον 59 b 8. 147  Vgl.

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Kap. 5: Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste

B. Die Trennung zwischen empirischen und reinen Wissenschaften und das Apeiron Es gibt im Philebos eine Hierarchie der Künste und Wissenschaften.150 An der Spitze steht die Dialektik.151 Dann folgt die reine Arithmetik, darauf die Wissenschaften bzw. Künste, die sich um besondere Genauigkeit bemühen wie die Baukunst, indem sie so etwas wie angewandte Mathematik darstellen, zuletzt kommt das Gros der Künste wie z. B. die Medizin und die Strategik (56 b 1 f.), wo es vor allem um Vermutungen (δόξαι 59 a) geht. Freilich handelt es sich hier im Philebos nicht um eine genaue Einschätzung der Rangfolge der einzelnen Wissenschaften und Künste, sondern nur um den Aufweis in großen Zügen. Die Kriterien für den Rang einer Kunst bzw. Wissenschaft nennt Sokrates mehrere Male, besonders deutlich in 58 c 3 bei der Charakterisierung der Dialektik, die diese Kriterien in vollendetem Maße enthält: (a) das Deutliche, Klare (τὸ σαφές), (b) das Genaue (τἀκριβές) und (c) das Wahrste (τὸ ἀληθέστατον). Ausdrücklich lehnt Sokrates als Kriterium seiner Wertschätzung den Nutzen ab, ebenso die Größe einer Kunst, wobei er nicht zwischen Größe als Verbreitetheit und Größe im allgemeinen Ansehen unterscheidet. Seine höchste Kunst – selten, wie das analoge Weiß bei den Farben – und daher auch als klein und als wenig nützlich zu bezeichnen, ist nun einmal die Dialektik. Die axiologische Höhe der anderen Künste und Wissenschaften wird im Philebos durch den mehr oder minder hohen Grad ihrer Mathematisierung festgelegt. Je mehr eine Wissenschaft mit mathematischen Größen (also vor allem mit Zahlen und geometrischen Gebilden) arbeitet, als desto reiner und genauer und klarer gilt sie bei Platon. Was für eine Rolle spielt das Apeiron in den Wissenschaften? Das wäre nun zu untersuchen – und hier dürfte nach allem bisher Gesagten klar sein, dass nur die mit der sinnlichen Erfahrung verbundenen Wissenschaften gemeint sein können, wo das Apeiron sozusagen zuhause ist.

150  Wie Hackforth richtig bemerkt (113, Fußnote 1), gebraucht Platon die beiden Ausdrücke τέχνη und ἐπιστήμη auf den Seiten 55 c–59 a synonym. 151  57 e 6 f., 58 c.



C. Die Rolle des Apeiron in den empirischen Wissenschaften 81

C. Die Rolle des Apeiron in den empirischen Wissenschaften152 Offensichtlich spielt das Prinzip der Unbestimmtheit und des Grenzenlosen bei der Einteilung der Künste und Wissenschaften implizit eine wesentliche Rolle, und zwar in den empirischen Künsten (der großen Mehrheit aller Künste), angefangen bei der Musik (56 a), über die Medizin, die Landwirtschaft, die Steuermannskunst bis zur Strategik (Feldherrnkunst). Das sind nur die Künste, die Sokrates direkt nennt. Natürlich meint er noch viele andere. Um das Apeiron bei den empirischen Künsten deutlicher hervorzuheben, lohnt es sich, einmal den kurzen Passus in 55 e 5 bis 56 a 1 zu betrachten, wo Sokrates das Eigentliche der empirischen Wissenschaften und Künste folgendermaßen charakterisiert. Wenn man, so heißt es vorher, die arithmetische und die Messkunst sowie die Wiegekunst entfernt habe, so bleibe nur etwas Geringfügiges153 übrig. Er fährt fort: Danach bliebe wohl das Abschätzen (εἰκάζειν) übrig und das Einüben (καταμελετᾶν) der Wahrnehmungen durch Erfahrung und Training, indem man die Möglichkeiten der Mutmaßung (ταῖς τῆς στοχαστικῆς δυνάμεσιν) dazu nimmt, welche von vielen Leuten Künste genannt werden, wenn diese durch andauernde Beschäftigung und Mühe ihre Stärke bewiesen haben.

Aus dieser, etwas ironisch gefärbten, Stelle kann man sich leicht die Kriterien der empirischen Künste und Wissenschaften erschließen: Erstens: Sie haben wenig oder nichts Arithmetisches bzw. Messtechnisches an sich. Zweitens: Die Tätigkeiten und Fähigkeiten, die man für sie anwendet, sind: (a) Abschätzen (εἰκάζειν); (b) Einübung (καταμελετᾶν) der Wahrnehmung, also der fünf Sinne; (c) Erfahrung (ἐμπειρία); (d) Training (τριβή); im Vergleich mit (b) wird damit das Anstrengende betont; (e) Möglichkeiten (Kräfte) der Mutmaßung (αἱ τῆς στοχαστικῆς δυνάμεις). 152  Auf das Problem, ein von dem „irdischen“ Apeiron sehr verschiedenes Apeiron für den Ideenkosmos – also auch für die Dialektik anzunehmen – in der Nachfolge Plotins und seiner modernen Befürworter wie C. J. de Vogel – bin ich in Kap. 3 eingegangen. Das Thema wird auch im Appendix zu Plotin behandelt. Diese spezielle Bedeutung des Apeiron als verantwortlichen Prinzips für die Vielfalt der Ideen spielt aber hier im Kontext der Unterscheidung reiner und empirischer Wissenschaften keine Rolle. 153  φαῦλον 55 e 2.

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Kap. 5: Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste

Wenn dies alles gegeben ist, so schließt Sokrates seine Aufzählung, dann sprechen Viele (πολλοί) von Künsten, da ja diese so ausgeübten Tätigkeiten „durch andauernde Beschäftigung (μελέτῃ) und Mühe (πόνῳ) Stärke hervorgebracht haben“.154 Nach der Abtrennung des letztlich auf Zahlen beruhenden Anteils in den empirischen Wissenschaften bleibt also nur das übrig, was Sokrates von (a) bis (e) als charakteristische Tätigkeiten in und für die empirischen Wissenschaften benennt. Lassen sich diese fünf beschriebenen Tätigkeiten – oder anders ausgedrückt: diese Formen der wissenschaftlich-handwerklichen Beschäftigung – irgendwie mit dem Begriff (Genos) des Apeiron in Beziehung setzen? Beginnen wir mit der ersten Tätigkeit, dem Abschätzen (εἰκάζειν). Es ist offensichtlich, dass dies in der Steuermannskunst und der Strategik eine bedeutende Rolle spielt. Genauso offensichtlich ist es, dass z. B. der Arzt – damals wie heute – bei der Diagnose und Therapie der Krankheiten mit einem Moment des Schwankenden, schwer Abschätzbaren, ja Chaotischen konfrontiert ist, was sehr oft eine genaue und sozusagen perfekte Einordnung der Krankheit in ein wissenschaftliches Schema erschwert oder sogar verhindert. Das Moment des Apeiron ist z. B. enthalten im Oszillieren vom Feuchteren zum Trockeneren oder im ständig sich verändernden Einfluss der Psyche (bei psychosomatischen Störungen) oder bei Herzrhythmusstörungen oder bei Dysfunktionen von Niere und Leber, beim unkontrollierten Zellwachstum und bei vielen anderen Prozessen. Daher muss sich der Arzt – neben dem heute im Gegensatz zum 4. Jahrhundert v. Chr. unvergleichbar häufigeren Gebrauch von Messapparaturen – auch immer auf seine Kunst des Abschätzens verlassen. Das hat Platon m. E. ganz richtig gesehen. Ähnliches gilt für andere Künste wie die Steuermannskunst oder die Strategik. Der Stratege z. B. ist immer mit einem ganzen Spektrum von Möglichkeiten, die er abschätzen muss, konfrontiert. Die Kunst eines erfolgreichen Feldherrn beruht zum Geringsten auf genauer Zählung der Truppen und Waffen des Gegners – das wäre der arithmetische Anteil bei der Strategik –, sondern vor allem auf der mit Hilfe von Intuition und Erfahrung gewonnenen Einschätzung möglicher Reaktionen des Gegners, wobei natürlich das Apeiron in Form des Unbestimmten eine gravierende Rolle spielt. Es lässt sich ebenso leicht zeigen, dass die unter (b) aufgezählte Tätigkeit des Einübens der Wahrnehmung in den genannten empirischen Wissenschaften und Künsten einen hervorragenden Anteil hat. Die Wahrnehmung kon154  56 a 1. Für mich klingt der letzte Halbsatz – im Griechischen eine Partizi­pial­ konstruktion – leicht ironisch. Denn Sokrates ist offensichtlich nicht so sehr von einer bloßen Stärke beeindruckt, die durch Beschäftigung und Mühe erreicht wird.



C. Die Rolle des Apeiron in den empirischen Wissenschaften 83

zentriert sich im Gegensatz zur Dianoia, dem rechnenden Verstand, eben nicht auf klare, wohlunterschiedene Entitäten im Ideenbereich, sondern auf die sich ständig ändernden Phänomene der konkreten sinnlichen Umwelt, die – zumindest bei Platon – vom Apeiron stark geprägt ist. Ja, man kann sagen, dass sie zu einem nicht geringen Teil unter dessen Herrschaft steht. Das Training der Beobachtungsgabe (αἴσθησις) ist demnach unerlässliche Voraussetzung für Erfolg in den empirischen Wissenschaften. Die Fähigkeiten, die Sokrates unter (c) und (d) aufzählt, möchte ich hier aus zwei Gründen überspringen: erstens, weil sie viel mit (a) und (b) gemeinsam haben und zweitens, weil natürlich eine Form der Übung und auch Anstrengung des Geistes bei den reinen Wissenschaften wie der Mathematik ebenso unerlässlich sind.155 Zum Schluss noch ein kurzer Blick auf das, was Sokrates in (e) die „Kräfte der Mutmaßung“ nennt, welche ihrerseits Stärke hervorbringen. Der griechische Ausdruck dafür ist: αἱ τῆς στοχαστικῆς δυνάμεις 55 e 6.156 In dieser Formel wird meiner Ansicht nach das εἰκάζειν, das Abschätzen von 55 e 5, wieder aufgenommen und vertieft. Im Gegensatz zum genauen Zählen, Messen, Aufstellen mathematischer Proportionen etc. ist das στοχάζεσθαι eine andere Tätigkeit und aktiviert andere geistige Fähigkeiten. Liddell&Scott hat für unsere Stelle als Bedeutung für das Adjektiv στοχαστικός: proceeding by guesswork. Nach dieser Interpretation würde Platon also die Möglichkeiten und Kräfte des richtigen Ratens meinen. Das klingt dem ersten Anschein nach harmloser als es ist. Denn man darf nicht vergessen, dass das zugehörige Verbum στοχάζομαι ursprünglich das Zielen des Bogenschützen meint, was natürlich für den griechischen Hörer beim Adjektiv στοχαστικός mitschwingt. Es ist also kein Herumgerate gemeint, was ja auch die empirischen Künste zu sehr abwerten würde, sondern es ist (im Zusammenhang mit dem Substantiv δύναμις) eine geistige Anspannung gemeint, die zum Ziel hat, das Richtige zu treffen, z. B. bei der Diagnose des Arztes eine treffende Diagnose. Nichtsdestoweniger stellt sich den „Kräften des zielbewussten Ratens“ natürlich immer das Apeiron entgegen: das Unsichere, Unbestimmte. Eine Bemerkung noch zu der „Stärke“ (ῥώμη), die in den Künsten vermittelt werden will. Meines Erachtens ist damit gemeint, dass aufgrund von Übung und Anstrengung in der Ausbildung der hohen Ratekunst eine gewis155  Man vergleiche hiermit nur die Anforderungen, die Sokrates an die jahrzehntelange Ausbildung der Wächter in der Politeia stellt, z. B. Rep. II, 377 ff. (musische Bildung) und III, 403 c ff. (gymnastische Erziehung). 156  Zu der hier στοχαστική genannten Kunst gibt es bei Platon eine ganze Reihe Parallelstellen, z. B. Gorg. 465 a; 464 c; Leg. 635 a; 706 a; Rep. 462 a.

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Kap. 5: Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste

se „Stärke“ der Künste hervorgebracht wird, d. h. dass die Künste durch die Ausbildung der Fähigkeit zum educated guess an Plausibilität und Ansehen gewinnen. Leider ist der ganze Passus 55 e 5 bis 56 a 1 so lapidar und dicht geschrieben, dass die vorgetragene Interpretation ihrerseits Vermutung, guesswork, bleiben muss. Am Ende des Exkurses über die reinen und weniger reinen Wissenschaften (der von 55 c bis 59 b geht) kontrastiert Sokrates eine Art der empirischen Naturforschung mit der höchsten Erkenntnisform, der Dialektik. In 59 a spricht er von jemandem, der über die Natur (Physis) Untersuchungen anstellt und sein Leben lang über den irdischen Kosmos forscht, wie er entstanden ist, in welcher Weise er etwas erleidet bzw. etwas bewirkt. Leider sagt Platon uns nicht, wen er hier meint, und ob es überhaupt ein bestimmter Naturphilosoph ist, den er im Auge hat. Hackforth157 meint, dass Platon womöglich seinen Zeitgenossen Demokrit gemeint haben könnte, den er ja in keinem seiner Dialoge namentlich erwähnt. Wie dem auch sei, jedenfalls erwähnt Platon hier einen solchen empirischen Naturforscher, um dessen Forschungsobjekte von denjenigen des Dialektikers abzuheben.158 Er sagt nämlich:159 Ein solcher Forscher hat doch wohl die Mühe auf sich genommen nicht in Richtung auf das Immer-Seiende (τὰ ὄντα ἀεὶ), sondern in Richtung auf das Werdende, das zukünftig Werdende und das Gewordene? Protarchos: Sehr wahr. Sokrates (fährt fort): Dürfen wir denn sagen, dass von diesen Dingen irgendetwas deutlich werden kann in der Weise genauester Wahrheit,160 von denen niemals irgendetwas sich auf die gleiche Weise verhalten hat noch sich verhalten wird noch jetzt gegenwärtig sich verhält? Prot.: Und wie sollte das der Fall sein?

In diesem kurzen Abschnitt wird dem Leser noch einmal klar gemacht, dass das empirisch Werdende und Vergehende einen ganz anderen Rang hat als das unvergängliche Immer-Seiende. Geradezu programmatisch beharrt Platon auf seiner grundlegenden Dichotomie des Seienden. Den Anspruch der „genauesten Wahrheit“ kann nur der Dialektiker erfüllen.161 Abschließend sagt Sokrates über empirische Naturforschung: 157  121,

Fußnote. wiederholt Sokrates die scharfe Dichotomie alles Seienden aus dem Timaios (Tim. 27 d 5–28 a 4). 159  59 a 7–9. 160  τῇ ἀκριβεστάτῃ ἀληθείᾳ 59 a 11 f. 161  Das ist auch der tiefere Grund dafür, dass die ganze Kosmogonie und Kosmologie des Timaios ein „bildhafter Mythos“ (εἰκώς μῦθος, Tim. 29 b–d) ist, der keine reine Wahrheit ausdrücken kann. Vgl. dazu meine Arbeit (1976), besonders 32 f. 158  Dabei



C. Die Rolle des Apeiron in den empirischen Wissenschaften 85 Sokr.: Von den Dingen also, die keine irgendwie geartete Beständigkeit besitzen, wie könnte da uns jemals irgendetwas Beständiges zuteil werden? Prot.: Ich glaube, überhaupt nie. Sokr.: Weder Vernunft noch irgendeine Erkenntnis gibt es über sie, welche das Wahrste besäße. Prot.: Nein, wie es wenigstens scheint.162

Diese für moderne Ohren äußerst provozierenden Thesen Platons über empirische Naturforschung, insbesondere Kosmologie, sind aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen zeigen sie, wie schon öfter erwähnt, dass Platon auch in einem seiner spätesten Werke nicht an der Sonderstellung der Ideen in Bezug auf die Wahrheit rütteln lässt. In kompromissloser Härte stellt er fest, dass alle irdischen Phänomene der Zeitlichkeit, dem Werden und Vergehen, unterworfen sind und daher in ihnen nichts Beständiges und keine „genaueste Wahrheit“ zu erfahren ist. Zum anderen – und dieser Punkt ist für unsere Auffassung des Apeiron wichtig – scheinen die Anspielungen auf die Unbeständigkeit der empirischen Phänomene wiederum einen Hinweis auf das Apeiron zu enthalten: Gerade weil alle sinnlich fassbaren empirischen Phänomene den drei Modi der Zeitlichkeit,163 Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart unterworfen sind sowie von dem allgemeinen Aspekt des Werdens und Vergehens beherrscht sind, verweisen sie auch ihrerseits auf den Charakter des Apeiron als einer Seinsweise der Unbeständigkeit und Unbestimmtheit. Schließlich fasst Sokrates für seinen Dialogpartner (und den Leser) zusammen, was er über den Gegensatz Dialektik versus Beschäftigung mit empirischen Gegenständen denkt – nicht ohne vorher eine kleine Spitze gegen Gorgias und Philebos loszulassen: Sokr.: Dich und mich und Gorgias und Philebos sollte man des öfteren (ruhig) gehen lassen, für unsere Rede aber muss dieses Zeugnis abgelegt werden. Prot.: Welches? Sokr:: Dass es entweder für uns in Bezug auf jene Gegenstände das Beständige und Reine und Wahre gibt, und was wir das Lautere nennen, (nämlich) in Bezug auf das absolut Unvermischte, das sich immer auf dieselbe Weise hinsichtlich desselben verhält, oder (zumindest) in Bezug auf jene Gegenstände, die den (oben genannten) am meisten verwandt sind; dass von allem anderen aber zu sagen ist, dass es zweitrangig ist und später kommt. Prot.: Du sprichst sehr wahr.164 162  59 b 4–9.

163  Sehr treffend ausgedrückt in 59 a 7 f.: τὰ γιγνόμενα, καὶ γενησόμενα καὶ γεγονότα. 164  59 b 10–59 c 7.

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Kap. 5: Das Apeiron und die Wissenschaften und Künste

In dieser kurzen und sehr dichten Schlussbemerkung über den Gegenstandsbereich der Dialektik und den sekundären Objektbereich der empirischen Wissenschaften kommt noch einmal und mit starker Emphase die Priorität der Dialektik, was den Anspruch auf Wahrheit angeht, zum Vorschein.

D. Folgerungen für Peras und die Ideen Wenn man diese Stelle und die anderen Bemerkungen über die Dialektik sich vergegenwärtigt, vor allem die Rede über das absolut Unvermischte, das die Gegenstände der Dialektik auszeichnet – selbstverständlich können nur die Ideen damit gemeint sein – fällt es schwer, das zweite Genos, Peras, die Grenze, diesem Bereich in Gänze zuzurechnen. Daher hatte auch Hackforth bei der Diskussion des schwierigen Problems, wie die Ideenlehre mit der Ontologie der vier Genera zu vereinbaren sei, Bedenken, das zweite Genos einfach dem Ideenbereich zuzuweisen.165 Die Frage ist nämlich: Wie kann man unter der Voraussetzung, dass das Grenzartige doch nach der Formulierung des Sokrates eine Mischung mit dem Unbegrenzten ergeben soll,166 noch von „unvermischtesten Seienden“167 sprechen oder von einer „rechten Gemeinschaft“?168 Wie ist also das Verhältnis der Grenze zu den Ideen zu bestimmen, wenn man beide nicht einfach identifizieren kann? Da die vorliegende Arbeit kein fortlaufender Kommentar zu allen Problemen des Philebos sein kann, möge an dieser Stelle eine Mutmaßung genügen, die keinen Anspruch auf eine gründliche Lösung des Problems erhebt, wie sich die Ideen zu der vierfachen Gliederung alles Seienden verhalten. Mein Vorschlag wäre: das zweite Genos (Peras) als eine Art Abkömmling der Ideen zu betrachten, und zwar dergestalt, dass Platon diesen Begriff eingeführt hat, um den Chorismos, die Kluft zwischen den Ideen und den an ihnen Anteil habenden sinnlichen Gegenständen, zu überbrücken. Schon die Zahlen und die mathematischen Gegenstände der klassischen Form der Ideenlehre in der Politeia, in Liniengleichnis und Höhlengleichnis,169 haben eine Art Zwischenstellung zwischen den sinnlichen Gegenständen und den reinen Ideen.170 Im Philebos erweitert Platon m. A. n. diese Lehre 165  40 f.

166  25 d.

167  ἀμεικτότατα 59 c 4, ein genauso wie bei ἀληθέστατα bewusst und mit Emphase gesetzter Superlativ. 168  ὀρθὴ κοινωνία 25 e 7. 169  Rep. 509 d–518 b. 170  Dazu W. Wieland, Die Formen des Wissens, 2. Kap., § 12, besonders 207 ff.



D. Folgerungen für Peras und die Ideen87

und erfindet ein eigenes Genos der Grenze, in dem alles Mathematische: das Gleiche, das So-und-soviel-Fache, alle strengen Proportionen etc. erfasst ist, um ein Gegengewicht zum Apeiron zu erhalten und damit ein plausibles Instrument für seine gute Mischung, auf die es ihm ja gerade im Philebos ankommt. Wenn ich also eine Vermutung wagen darf – das ist allerdings reine Spekulation – so würde ich sagen, dass Platon im Philebos zwar nicht die strenge Dichotomie aus dem Phaidon, der Politeia und dem Timaios aufhebt – das Gegenteil ist der Fall, wie wir gesehen haben –, sondern dass er versucht, das Problem des Chorismos auf ingeniöse Weise zu lösen: indem er ein Genos erfindet, das weder eine reine Idee ist, die sich jeglicher Mischung entzieht, noch ein nur dem Vergänglichen zuzuordnendes Attribut hat wie z. B. das Attribut des Abnehmens. Die Grenze (Peras) und alles, was Grenze hat, ist ein der Mathematik entlehntes Instrument zur Verleihung von Beständigkeit und Dauer an „Gemischtes“. Da das Apeiron aber in all diesen „Gemischten“ ebenfalls anwesend ist, kann die Grenze hier keine ewige Beständigkeit verleihen. Was evident ist bei der Gesundheit, bei den Jahreszeiten, bei den Tugenden, den Lebewesen und vielen anderen „gemischten“ Seienden. Daher bin ich geneigt, Hackforth zuzustimmen wenn er sagt:171 […] I believe that Plato means us to see that the Ideas are behind the πέρας ἔχοντα in the same way as they are behind the εἴδη and ἀριθμοί of the Timaeus, and that they are, as in the Timaeus, the model to which Cosmic Reason172, τὸ δημιουργοῦν, looks in its causation of the mixture.

Zu Recht, wie ich meine, zieht Hackforth hier eine Parallele zum Timai­ os, in dem die fünf platonischen Körper, ihrerseits aufgebaut aus regelmäßigen geometrischen Flächen, die atomaren Elemente des materiellen Kosmos bilden und somit eine Art Zwischenstellung zwischen den Ideen und den körperhaften Dingen darstellen.173 Ob man sich nun auf den Timaios beruft oder nicht, festzustehen scheint jedenfalls, dass die begrenzende Funktion von Peras, welche das Apeiron bändigt und in seine Schranken weist, mehr Verwandtschaft mit den Ideen hat als mit irgendetwas anderem. Festzustehen scheint aber auch – um es nochmals zu wiederholen – dass man die „Grenze“ wegen des Reinheits- und Unvermischtheitscharakters der Ideen nicht mit diesen identifizieren darf.

171  Hackforth

41. Übersetzung für das 4. Genos, die Ursache. 173  Hackforth: „mathematical entities intermediate between Ideas and Sensibles.“ 172  Hackforths

Kapitel 6

Das Apeiron innerhalb der Mischung des guten Lebens Im folgenden großen abschließenden Teil des Dialogs (von 60 a bis 67 b) geht es darum, mit Hilfe der neuen Werkzeuge endgültig zu entscheiden, ob in dem aus Vernunft und Lust gemischten guten Leben eher die Vernunft (wie Sokrates es will) oder die Lust (wie Philebos es will) den Vorzug ver­ dient. Der Abschnitt enthält auch wesentliche Überlegungen zur Natur des Guten,174 die hier aber nicht ausgebreitet werden können, obwohl sie Wesentliches beitragen zur Frage der Idee des Guten und ihrer Entwicklung von der Politeia bis in die späteste Schaffensphase des Philosophen.175 Wenn jedoch – auf direkte oder indirekte Weise – noch etwas zur Frage des Apeiron in diesem Abschnitt auftauchte, so müsste dem nachgegangen werden. Und in der Tat: das Apeiron wird in indirekter Form sozusagen herbeizitiert. Der Zusammenhang ist folgender: Sokrates und Protarchos, das Ergebnis von 22 a (wo es hieß, dass das aus Lust und Einsicht gemischte Leben dasjenige ist, was man wählen sollte) aufnehmend, gehen auch in 61 b davon aus, dass das aus Vernunft und Lust gemischte Leben das wirklich gute Leben ist und daher den Siegespreis verdient. Die folgenden Überlegungen kreisen darum, wie man am besten die Mischung vollziehen sollte. Dabei gebraucht Sokrates zur Veranschaulichung eine humorvolle Metapher: Er stellt sich vor, sie beide stünden wie Weinschenken an zwei Quellen: aus der einen rinne der Honig der Lust, aus der anderen das nüchtern machende gesunde Wasser der Vernunft, und nun komme es auf die schönste Mischung an.176 Ich kürze die Paraphrase etwas ab und erwähne nur die wichtige Frage, die sich für Sokrates nun erhebt (61 e 6 ff.): Sollte man für die gelingende richtige Mischung nur die reinen Lüste für den Bestandteil der Lust bzw. nur die genauesten Erkenntnisse für den Bestandteil der Einsicht (Phronesis) nehmen oder auch die weniger reinen? Damit 174  ἡ

τἀγαθοῦ φύσις 60 a 10. dazu Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), jetzt in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 7, Griech. Philosophie III, 128–227. 176  61 c 4 ff. Hier zeigt sich wieder einmal die Kunst Platons, „lächelnd die Wahrheit zu sagen“. 175  Siehe



Kap. 6: Das Apeiron innerhalb der Mischung des guten Lebens89

berührt Sokrates ein fundamentales Problem: nämlich ob man ein wirklich gutes Leben führen kann nur in Kenntnis der reinsten, wahrsten und genauesten Wissenschaften und Künste oder ob es noch anderer Kenntnisse bedarf. Der entscheidende Satz steht in 62 a 7 bis 62 b 2: Sokr.: Wird nun derjenige hinreichend Erkenntnis haben, der die Konzeption (Logos) des Kreises und der göttlichen Kugel selbst besitzt, aber diese menschliche Kugel und diese Kreise hier nicht kennt, und nun seine Kenntnisse anwendet beim Hausbau wie auch in gleicher Weise die anderen Richtmaße und Kreise? Prot.: Eine lächerliche Verfassung für uns, o Sokrates, meinen wir da, die sich nur in den göttlichen (Kenntnissen) aufhält.

Aus dieser Vorstellung eines philosophischen Geistes, der nur in der Ideen­sphäre zu Hause ist,177 zieht Sokrates den Schluss: Wie meinst du? Soll man zugleich auch die unsichere und unreine Kunst der falschen Richtschnur und des falschen Kreises gemeinsam hineinwerfen und zusammenmischen? Prot.: Das ist doch notwendig, wenn einer von uns auch nur jedes Mal den Weg nach Hause finden soll.178

Wie man sieht, erfordert allein das tägliche Leben, wenn es Anteil am guten Leben haben soll, auch die Beimischung dessen, was wir vorher die empirischen Wissenschaften und Künste genannt haben. Auch die Musik, die Sokrates überraschenderweise im nächsten Satz erwähnt, ermangelt durchaus nicht der empirischen „Unreinheit“: Sokr.: Etwa auch die Musik (sollen wir beimischen), von der wir doch kurz vorher sagten, dass sie voll sei von Mutmaßung und Nachahmung und der Reinheit ermangele? Prot.: Mir scheint das wenigstens notwendig, wenn doch unser Leben irgendwie noch ein Leben sein soll.179

Das heißt wohl, dass auch die Musik – jetzt nicht als reine mathematische Tonkunst aufgefasst, sondern in ihrer empirischen Ausprägung als Musikpraxis, welche „voll ist von Mutmaßung und Nachahmung“180 – in die Mischung des guten Lebens hineinkommen soll. Sokrates beschließt dieses „Register“ der Mischungselemente mit der ironisch gefärbten Metapher des Türstehers, der, von einer stoßenden und drängenden Menge überwältigt, 177  Vgl. dazu die bekannte Stelle aus dem Höhlengleichnis der Politeia, wo von der Blindheit desjenigen die Rede ist, der aus der oberen Welt wieder in die Höhle zurücksteigt, Rep. 516 e–517 a. 178  62 b 5–9. 179  62 c 1–4. 180  στοχάσεώς τε καὶ μιμήσεως μεστή.

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Kap. 6: Das Apeiron innerhalb der Mischung des guten Lebens

alle Wissenschaften hineinlässt, und so soll auch die reine Wissenschaft mit der „bedürftigeren“181 gemischt werden. Spätestens an dieser Stelle drängt sich dem aufmerksamen Leser der Gedanke auf, dass hier dem Apeiron wieder sozusagen Tür und Tor geöffnet wird. Die „Unreinheit“ in den empirischen Wissenschaften und in der Musikpraxis ist ja durch nichts anderes als das ihnen inhärente Grenzenlose verursacht. Nichtsdestoweniger sind zum guten Leben außer den reinen Wissenschaften als Betätigungsfeld des Nous auch die weniger reinen unerlässlich, allein um den Alltag zu bewältigen und ebenso auch, um das Schöne in der Musikausübung zu genießen. Man versteht jetzt auch besser, wieso Platon einen so tiefschürfenden Exkurs wie die vierfache Gliederung brauchte, um den Mischungscharakter des guten Lebens hinreichend zu begründen und nicht einfach nur zu behaupten.182 Nachdem Sokrates die Frage gestellt hat, ob man bei den Lüsten genauso vorgehen kann wie bei den Wissenschaften, nämlich sie alle aufnehmen in die Mischung des guten Lebens, entwickelt er Kriterien für die Aufnahme. Zunächst stellt er fest: Es sind alle die Hedonai aufzunehmen, die für das Leben nützlich und unschädlich sind.183 Aber dieses abstrakte Kriterium genügt ihm noch nicht. Deshalb verfällt Platon jetzt auf den schriftstellerischen Trick, die Lüste selber wie Personen anzureden und sie sprechen zu lassen.184 In der gleichen Weise werden der Nous (Vernunft) und die Phronesis (Einsicht) befragt und sie müssen antworten.185 Im Rahmen dieser Untersuchung kann ich leider nicht auf die künstlerischen Aspekte und auf die Dramaturgie dieser „Befragung“ eingehen. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesenform mag genügen. Für die Lüste (Hedonai) gilt: (1) Die absolute Isoliertheit einer Gattung ist weder möglich noch nützlich. (2) Die Hedonai wollen mit einem Genos zusammensein, das sie nach Möglichkeit erkennt. Für den Nous und die Phronesis gilt: (1) Sie benötigen nicht die größten und heftigsten Hedonai; das sind eher Hindernisse für ihre Tätigkeit. 181  τὴν

ἐνδεεστέραν, 62 c 8. für diesen Zusammenhang sind Gadamers Überlegungen in seinem Aufsatz: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), jetzt in: Gadamer, Griechische Philosophie III, Plato im Dialog, 128–227, besonders 190 ff. 183  63 a. 184  63 a 8–c 4. 185  63 c 5–64 a 3. 182  Erhellend



A. Das Apeiron als Gegenkraft zu Maß, Schönheit und Wahrheit 91

(2) Die wahren und reinen Hedonai aber und die, welche zusammen mit Gesundheit und Besonnenheit bestehen können, sollen mit hineingemischt werden. (3) So ergibt sich eine sehr schöne und in keiner Weise aufrührerische Mischung.186 Diese dürre Zusammenfassung verdeckt, mit welcher Emphase und Ausführlichkeit im Abschnitt 63 d, e die schlechten Hedonai zurückgewiesen und die guten zugelassen werden. In der Beschreibung der schlechten Lüste durch den Nous klingen – in etwas veränderter Weise als in den entsprechenden Abschnitten der vierfachen Gliederung – einige Attribute des Apeiron wieder an, so z. B. in 63 d 3 f., wo von den größten und heftigsten Lüsten die Rede ist.187 Der einzige Unterschied zur Beschreibung des Apeiron in 24 ist, dass hier statt Komparative Superlative gebraucht werden. Aber die Anspielung auf den – wie ich es nennen möchte – apeirotischen Charakter der schlechten Lüste scheint mir evident zu sein. Zumal sie vom Nous des weiteren so charakterisiert werden, dass sie die Seelen verwirren, Vergessenheit erzeugen und die Kinder der Vernunft (d. h. die Erkenntnisse) verderben.188 Dieselben Attribute könnte man dem vom Peras nicht gebändigten Apeiron beilegen. Hier ist also eine klare Parallele zu beobachten.

A. Das Apeiron als Gegenkraft zu Maß, Schönheit und Wahrheit Im folgenden Abschnitt (64 a 7–66 a 3) erreicht der Wettlauf zwischen Hedonē und Nous eine gewisse Klimax, bevor dann (ab 66 a 4) bis zum Schluss des Dialogs eine Art Resümee gezogen wird und sozusagen die Preise verteilt werden. Überraschenderweise bringt Sokrates in 64 b einen neuen Begriff – oder soll man sagen: ein neues Genos? – ins Spiel: die Wahrheit.189 Ιn adjektivischer Form hat sie schon vorher eine Rolle gespielt, z. B. zur Kennzeichnung der Hedonai, die in die Mischung zugelassen werden sollen.190 Aber an unserer Stelle soll die Wahrheit als Genos in der guten Mischung eine Rolle spielen, zusammen mit den vorher erwähnten Elementen (also mit allen Wissenschaften und mit den reinen Hedonai).191 186  καλλίστη

καὶ ἀστασιαστοτάτη μεῖξις καὶ κρᾶσις 63 e 9. μεγίστας ἡδονὰς … καὶ τὰς σφοδροτάτας. 188  63 d 5–e 3. 189  ἀλήθεια. 190  62 d 8 und e 5. 191  Hackforth (132) findet die Forderung des Sokrates, die Wahrheit mit hineinzumischen, „puzzling“ und übersetzt ἀλήθεια hier mit „reality“, was ich nicht glück187  τὰς

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Kap. 6: Das Apeiron innerhalb der Mischung des guten Lebens

Der Satz über die Wahrheit192 heißt, wörtlich übersetzt: „Welchem wir Wahrheit nicht beimischen werden, das dürfte wohl nie wahrhaft werden noch als ein Gewordenes sein.“ Meines Erachtens heißt diese etwas kryptische Formulierung soviel wie: zu jeder guten Mischung, welche das gute Leben ausmacht, gehört als ein wichtiges Element die Wahrheit – als Gegensatz zu jeder Art von Täuschung – dazu; sonst kann das Ganze nicht wahrhaft werden, d. i. sich zu dem entwickeln, zu dem es sich entwickeln soll; es würde also ohne das Ingrediens der Wahrheit seinen Zweck verlieren. Protarchos stimmt dem zu und Sokrates sieht sich nicht veranlasst, die Beimischung der Wahrheit näher zu erläutern. Er fragt stattdessen, ob Protarchos und Philebos (der ja die ganze Zeit schweigt) noch mehr wüssten, was man für die Mischung des guten Lebens brauchen könnte. Er seinerseits sieht den bisherigen Logos als hinreichend an, wobei er ihn mit einer unkörperlichen Ordnung vergleicht, die in schöner Weise über einen beseelten Körper herrscht. Ohne in aller Ausführlichkeit auf das Folgende eingehen zu können, möchte ich wiederum nur einige Punkte herausgreifen, die einen Bezug zum Apeiron haben. Da wäre zunächst eine sehr wichtige Feststellung des So­ krates über das Maß und die Natur des Symmetrischen. Er leitet sie ein mit der Bemerkung, dass kein Mensch darüber unwissend sei. Protarchos fragt: „Worüber?“ Sokrates: Dass jede beliebige Mischung, wenn sie nicht das Maß und die Natur des Symmetrischen193 in irgendeiner Weise trifft, notwendig das Gemischte verdirbt und (dazu) zuerst sich selbst; denn keine Mischung wird solches, sondern wahrhaftig nur jedes Mal ein unordentlich zusammengehäufter Unglückshaufen für die, die ihn haben.194

Der Leser dieses Satzes begreift nach der bisherigen Lektüre des Philebos unschwer, dass hier letztlich von Peras und Apeiron die Rede ist. Für Peras steht das Maß und die Natur des Symmetrischen, für Apeiron, wenn es denn entfesselt ist, der zusammengewürfelte Haufen mit der Assoziation des Unheils, die ja in dem griechischen Wort συμφορά steckt. Im Folgenden werden ganz ausdrücklich die drei Dinge (Wesenheiten) erwähnt, welche die Mischung gut machen: Maß (μετριότης), Schönheit lich finde, da „Wahrheit“ umfassender ist und eher dem ontologischen Anspruch Platons entspricht. 192  64 b 2–3. 193  μέτρου καὶ τῆς συμμέτρου φύσεως μὴ τυχοῦσα 64 d 9 f. 194  Das griechische Wortspiel συμπεφορημένη … συμφορά ist nur schwer wiederzugeben.



B. Der Wettstreit von Vernunft und Lust93

(κάλλος) und Wahrheit (ἀλήθεια). Alle drei werden mit der Idee des Guten verbunden. Der entscheidende Satz lautet:195 Wenn wir demnach das Gute nicht in einer Form196 erjagen können, ergreifen wir sie (doch) in drei Formen: der Schönheit, der Symmetrie und der Wahrheit und wollen sagen, dass wir dieses wie Eines mit vollem Recht als Ursache ansehen für die Elemente in der Mischung, und dass deswegen eine solche Mischung als ein existierendes Gutes geworden ist.

Man könnte an dieser Stelle, wenn man die Bemerkung des Sokrates von 64 e 5 ff. dazu nimmt, nämlich dass die Kraft des Guten in die Natur des Schönen hinein entflohen sei, lange spekulieren, wie die Idee des Guten mit der Schönheit und dem Maß zusammenhängt.197 Das würde hier jedoch den Rahmen der Untersuchung sprengen, zumal auch Sokrates keine weiteren Erklärungen gibt. Festzuhalten aber bleibt: das Apeiron kann in der Mischung des guten Lebens nur eine geringe Rolle spielen, insofern es nämlich an den empirischen Wissenschaften einen gewissen Anteil hat und ebenso in den reinen Lüsten vertreten ist. Wo es freilich einen größeren Anteil hat, nämlich in den starken und unmäßigen Lüsten, soll es „draußen“ bleiben, d. h. der Zutritt zur Mischung des guten Lebens wird ihm in dieser Gestalt verwehrt. Diese gedankliche Linie wird von Sokrates in den Abschnitten 65 b–66 a weiter verfolgt.

B. Der Wettstreit von Vernunft und Lust: Welche von beiden hat mehr Anspruch auf Verwandtschaft mit dem Schönen, der Wahrheit und dem Maß? Eigentlich ist für den Leser, der den Dialog bis hierher aufmerksam verfolgt hat, diese Frage schon entschieden, aber Sokrates lässt es sich nicht nehmen, die Frage ausführlich zu stellen und sich von Protarchos beantworten zu lassen.198 Zuerst beantwortet Protarchos die Teilfrage, ob Nous oder Hedonē (Vernunft oder Lust) näher mit der Wahrheit verwandt ist. Zusammengefasst lautet seine Antwort:199 Lust und Wahrheit sind sehr verschieden. Die stärksten Lüste, diejenigen, die die körperliche Liebe 195  65 a 1–5. 196  μιᾷ

ἰδέᾳ. dazu vor allem Gadamer 1978. 198  Hier kommt eine Eigenart Platons als Autor zum Vorschein, nämlich die Tatsache, dass er in seinem gesamten Oevre der Wiederholung großen Wert beimisst. Vgl. z. B. Gorgias 482 a und zuletzt hier im Philebos die Stelle 59 e 10–60 a 2. 199  65 c 4–d 2. 197  Vgl.

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betreffen,200 sind so geartet, dass sie für falsche Schwüre verantwortlich sind, dass sie wie Kinder nicht die mindeste Vernunft haben. Demgegenüber ist die Vernunft entweder mit der Wahrheit identisch oder aber ihr von allen Dingen am ähnlichsten und am wahrsten.201 Diese Antwort des Protarchos sollte nicht zu sehr auf die Goldwaage gelegt werden. Sie ist locker formuliert und entbehrt ein wenig der logischen Strenge, aber darauf scheint es Sokrates hier nicht anzukommen. Wichtig ist für ihn nur, dass Protarchos erkennt, dass Lust und Wahrheit sich jedenfalls unähnlicher sind als Wahrheit und Vernunft.202 Daher geht er auch ohne Umschweife zur nächsten Teilfrage über, ob die Vernunft203 oder die Lust das Maß in höherem Grade besitze. Protarchos antwortet mit besonderer Emphase, dass man nichts Maßloseres finden könne als Lust und übermäßige Freude (περιχάρεια) und dass es nichts Maßvolleres gebe als das Wissen (ἐπιστήμη).204 Wenn diese Formulierung auch ein wenig undifferenziert klingt, so entspricht doch ihr Gehalt allem, was Sokrates bisher zu Maßvollem und Maßlosem gesagt hat. Es bleibt noch die Frage nach dem Vergleich von Lust und Vernunft hinsichtlich der Schönheit übrig. Protarchos antwortet dieses Mal interessanterweise mit Hilfe des Gegenteils von Schönheit:205 Es hat doch nun keiner, o Sokrates, jemals weder im Wachen noch im Träumen die Einsicht (φρόνησις) und die Vernunft (νοῦς) als etwas Hässliches gesehen noch hat er es in irgendeiner Weise so geistig aufgefasst in ihrer Entstehung, ihrem Sein und ihrem zukünftigen Werden.

Im Gegensatz zu den beiden vorigen Antworten ist diese Antwort sozusagen auf sokratischem Niveau formuliert: logisch stringent und differenziert, dabei auch originell, weil Protarchos hier die drei Zeitstufen der Existenz ins Spiel bringt – was Platon sonst an wichtigen Stellen den Hauptgesprächsführer selbst tun lässt.206 Sokrates lobt diese Antwort.207 Protarchos, durch das Lob ermutigt, fährt fort mit einer Beschreibung der äußeren Erscheinungsweise der Hedonai, 200  τἀφροδίσια

65 c 6. wiederum der im Philebos häufige Superlativ von ἀληθής. 202  Übrigens erhellt aus dieser Stelle ziemlich eindeutig, dass Hackforths Übersetzung „reality“ für ἀλήθεια nicht zutreffend sein kann. Denn warum sollen die starken Lüste nicht genauso real sein wie die Vernunft? 203  Hier φρόνησις. Platon benutzt in dem ganzen Abschnitt νοῦς und φρόνησις mehr oder weniger als Synonyme. 204  65 d 7–10. 205  65 e 4–7. 206  Vgl. z. B. Tim. 38. 207  „Richtig (gesagt).“ 65 e 8. 201  Hier



C. Die Rangfolge der Güter95

welche geprägt sei von einer gewissen Lächerlichkeit208 und eine starke Hässlichkeit im Gefolge habe.209 Daher müssten die wirklich starken Lüste – er spielt wohl wieder auf die Aphrodisia an – sogar das Tageslicht scheuen.210

C. Die Rangfolge der Güter Sokrates hat jetzt sozusagen alle gedanklichen Mittel bereit, um eine Rangfolge der Güter für die Menschen aufzustellen und der Lust den angemessenen Platz zuzuweisen. Zugleich wird mit den folgenden Platzierungen die Ausgangsfrage des ganzen Dialogs beantwortet, ob eher die Lust oder die Vernunft das gemischte gute Leben bestimmt. Interessanterweise benutzt Sokrates hier das Wort κτῆμα, wörtlich: Besitz (66 a 5), um ein uns Menschen betreffendes Gut zu bezeichnen. Er zählt fünf Güter auf: Erstes Gut: Bei der Benennung des ersten und zugleich höchsten Gutes drückt sich Sokrates ziemlich locker aus und nicht gerade auf äußerste Präzision bedacht: Das erste ist irgendwie in der Gegend des Maßes, des Maßvollen und des den rechten Zeitpunkt Treffenden angesiedelt und alles dessen, wovon man annehmen muss, dass es die ewige Natur gewählt hat.211

In anderen Zusammenhängen, wo es Platon darauf ankommt, eine Hie­ rarchie im Bereich der Ideen aufzustellen, z. B. in dem berühmten Sonnengleichnis im 7. Buch der Politeia,212 wäre der erste Platz für die Idee des Guten reserviert worden, welche bekanntlich alles Seiende, auch alle anderen Ideen, an Kraft und Vermögen übertrifft.213 Hier, am Schluss des Philebos, geht es aber nicht um eine allgemeine Ontologie, sondern um eine Rangfolge der Güter oder Besitztümer im menschlichen Leben – mit der schon von vornherein bestehenden Absicht, der Lust den geringsten Rang zuzuweisen. Letzteres steht für den Leser des Philebos insofern fest, als Sokrates ja schon des langen und breiten gezeigt hat, dass auch in dem 208  τὸ

γελοῖον 65 e 10. πάντων αἴσχιστον ἑπόμενον 66 a 1; beim Superlativ αἴσχιστον ist zu beachten, dass der griechische Terminus αἰσχρός zwischen „hässlich“ und „schändlich“ changiert. 210  66 a 2–3. 211  66 a 6–8. Bei 66 a 8 gibt es eine Korruptele; ich lese: τὴν αἴδιον φύσιν ᾑρῆσθαι, weil das m. E. den meisten Sinn ergibt. 212  Rep. 508–509. 213  Rep. 509 b 8–10. 209  τὸ

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erstrebenswerten aus Lust und Einsicht gemischten Leben die Einsicht (φρόνησις) den absoluten Vorrang hat. Die am Schluss des Philebos stehende fünffache Rangordnung der Güter soll diese These noch einmal systematisch untermauern. Sokrates erhebt m. E. nicht den Anspruch auf einen allgemein-ontologischen Charakter dieser Rangfolge. Er hat auch nicht den Kosmos als ganzen im Visier, sondern „nur“ das menschliche Leben.214 Dass das Maß und das Maßvolle und das den rechten Zeitpunkt Treffende hier unter den menschlichen Gütern – man könnte auch sagen: Errungenschaften – an der ersten Stelle steht, ist insofern nicht verwunderlich, als das Maß selbst die Ursache darstellt für alles Symmetrische und Schöne, welches hier an zweiter Stelle genannt wird. Bei Platon ist immer das was für ein anderes ursächlich ist, höherrangig als das Verursachte.215 Zweites Gut: Das Symmetrische und Schöne und Vollendete und Hinreichende und alles was zu dieser Abkunft gehört. (66 b 1–3)

Auch dieses zweite Gut wird relativ locker benannt; es ist für den Leser nicht einsichtig, ob die genannten Qualitäten als Synonyme gemeint sind oder eher in komplementärer Weise ein Ganzes ergeben sollen im Sinne verschiedener Aspekte eines Gutes. Ich neige zu der letzteren Auslegung. Da Sokrates selbst keinerlei Beispiele gibt für dieses zweite Gut, sei es erlaubt, ein wenig zu spekulieren. Vielleicht wäre ein treffendes Beispiel für etwas Symmetrisches und Schönes, das zugleich in sich vollendet (τέλεον) und sozusagen autark (ἱκανόν) ist, eine schöne und in sich ausgewogene Melodie, die keinen Ton zuviel oder zuwenig enthält, den Gehörsinn anspricht und durch den entsprechenden Rhythmus im Rezipienten ein Einschwingverhalten hervorruft. Drittes Gut: Das dritte Gut nun, so meine Weissagung, wenn du es als Geist und Einsicht setzest,216 dürftest du nicht viel an der Wahrheit vorbei gehen.

Wiederum eine ganz lockere, dem Gesprächston angemessene Formulierung, die zudem durch den Ausdruck „so meine Weissagung“ etwas ins Ironische relativiert ist. 214  Vielleicht könnte man mit gewissen Abänderungen ein analoges Modell von Rangstufen für den Kosmos entwerfen, aber davor hütet sich Sokrates hier. 215  Was „das den rechten Zeitpunkt Treffende“ (καίριον) angeht, so verweise ich auf den Kommentar von Hackforth (138, Fußnote), der seinerseits Souilhé zitiert (La notion platonicienne d’intermédiaire, 34), welcher auf die eminent wichtige Rolle des καιρός in den Hippokratischen Schriften hinweist. 216  νοῦν καὶ φρόνησιν τιθείς 66 b 5 f.



C. Die Rangfolge der Güter97

Dass der Geist (Nous) und die praktische Vernunft (Phronesis) erst an dritter Stelle kommen, ist für den modernen Leser, der durch die neuzeitliche Philosophie geprägt ist, einigermaßen erstaunlich, würden wir doch beim Vergleich von etwas, das in sich maßvoll und symmetrisch ist, mit der Kraft des Geistes und der Vernunft, für den Vorrang der letzteren beiden votieren; dies schon deshalb, weil der Geist ja schließlich das Vermögen ist, etwas Maßvolles (Gut 1) oder Symmetrisches (Gut 2) hervorzubringen. Doch um die bei Platon umgekehrte Rangfolge zu verstehen, muss man sich erinnern, dass die ganze Ideensphäre in gewisser Weise unabhängig ist vom menschlichen Geist, und dass es bei Platon nicht darum geht, dass eine im Kantischen Sinn autonome Vernunft der Natur die Gesetze vorschreibt, sondern dass der menschliche Geist ein Vermögen ist, das im besten Fall die Gesetze der kosmischen Vernunft nachzeichnet und diese in gewisser, durchaus unvollkommener Weise – bedingt durch die Schwäche der menschlichen Auffassungsgabe – rezipiert. Das Maßvolle sind letztlich die idealen Strukturen, welche ihrerseits Schönes und Vollendetes im menschlichen Leben hervorbringen. Geist und Vernunft sind in einem gewissen Sinne Träger dieser inneren Bewegung, die von der Ideensphäre – letztlich von der Idee des Guten – ausgeht. Man könnte es philosophiehistorisch etwas zugespitzt so formulieren: da in der Antike die Autonomie des denkenden Subjekts (noch) nicht entdeckt bzw. gedacht war, haben die objektiven kosmischen Strukturen, die, heraklitisch gesprochen, den Logos des Weltganzen bestimmen, immer Vorrang vor der Erfassung durch den menschlichen Geist. Viertes Gut: Das vierte Gut wird im Plural eingeführt: (Sind) nicht die vierten Besitztümer, die wir gesetzt haben als zur Seele selbst gehörig: die genannten Wissenschaften und Künste und richtigen Ansichten217, sind nicht diese die vierten, wo sie doch mehr als die Lust dem Guten verwandt sind? Prot.: Vielleicht wohl.

Die vierte Stelle unter den Gütern nehmen damit Wissenschaften und Künste ein, von denen vorher218 gesagt wurde, dass sie alle hinein gelassen werden müssten, damit das gute Leben funktioniert. Was hier neu hinzukommt, sind die „richtigen Ansichten“. Man muss dies wohl als weiteres Zugeständnis Platons zur Aufwertung der Empirie auffassen. Denn es ist ja wirklich so, dass es auf manchen Gebieten des Lebens noch keine voll entwickelten Wissenschaften bzw. Künste gibt, die wert 217  ἐπιστήμας 218  62 c,

d.

τε καὶ τέχνας καὶ δόξας ὀρθάς, 66 b 9.

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sind gelehrt zu werden, sondern nur richtige, d. h. an der Empirie geprüfte Ansichten über die besten Vorgehensweisen. Fünftes Gut: Schließlich wird als fünftes Gut die Hedone (Lust, Freude) genannt, allerdings auch im Plural und mit einer typischen Einschränkung versehen: Sokr.: (Nennen wir) nun als fünfte die Freuden, welche wir als schmerzlose bestimmten und sie als reine Freuden der Seele selbst benannten, wobei die einen den Wissenschaften, die anderen den Wahrnehmungen folgen? Prot.: Vielleicht.219

Damit ist die Rangordnung vollständig. Es ergibt sich daraus, dass gewisse reine und wahre Freuden220 noch als Güter betrachtet werden können, wenn sie auch in der fünffachen Hierarchie der Güter nur den letzten Rang einnehmen. Daraus folgt ferner (wie schon vorher des öfteren betont wurde), dass die heftigen und unreinen Lüste das Prädikat „gut“ nicht verdienen. Zwar spielt Sokrates zum Abschluss dieser Aufzählung kurz mit der Vorstellung eines 6. Ranges, indem er eine Zeile des Orpheus zitiert, die sonst nicht bekannt ist, wie Hackforth in seinem Kommentar schreibt; aber damit könnten entweder weitere Freuden gemeint sein221 oder es könnte eine Anspielung darauf sein, dass jetzt mit der 6. Stufe Schluss ist.222 Insgesamt zeigt diese fünffache Rangordnung der Güter wohl das Bestreben des platonischen Sokrates, auch in der Zusammenfassung klar zu zeigen, dass das Gute viel mehr auf der Seite von Maß, Symmetrie und Vernunft ist als auf der Seite der Lust. Trotzdem sollte man realisieren, dass die Diskussionen des Philebos über den möglichen Wert der Lust in Bezug auf ein gutes und erfülltes Leben weit über alles hinausgehen, was Platon in seinen frühen und mittleren Dialogen über die Hedone gesagt hat. Reine Freuden gehören zu einem guten Leben dazu: diese These hat es früher bei ihm so nicht gegeben. Kann man aus dieser Rangfolge der Güter etwas über das Apeiron ableiten? Oder bleibt dieses Genos hier völlig außer Betracht? Sicherlich gibt es, was die fünf Güter und ihre Rangordnung betrifft, keine direkte Anspielung auf das Grenzenlose. Vielleicht aber gibt es einen indirekten Hinweis.

219  66 c 4–7. 220  Näher

ausgeführt in 62 e–63 e. 140, Fußnote 3. 222  Das Zitat heißt: „Bei der 6. Abkunft (ἕκτῃ δ’ ἐν γενεᾷ, 66 c 8) aber schließt die Ordnung des Gesangs.“ 221  Hackforth



D. Die fünf Güter und die vierfache Gliederung des Seienden99

D. Die fünf Güter und die vierfache Gliederung des Seienden Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass ein Vergleich der gerade besprochenen Rangfolge von fünf Gütern mit der vierfachen Gliederung alles Seienden aus dem großen ontologischen Exkurs (23 c–27 c) nicht einfach ist, verfolgt Sokrates doch in beiden Fällen unterschiedliche Ziele. Die vierfache Gliederung alles Seienden, die natürlich auch Rangunterschiede enthielt, diente ihm dazu, die Lust und die Vernunft auf ganz allgemeine Prinzipien zurückzuführen, die jenseits einer rein anthropologischen Begrenzung auf das was dem Menschen nützlich bzw. wesentlich ist, liegen. Wohingegen die jetzige Rangfolge der fünf Güter ganz auf die Natur des Menschen zielt und in gewisser Hinsicht aus allem was vorher gesagt und gedacht wurde, abgeleitet ist. Um mit der Nr. 1 der fünf Güter zu beginnen: Während in der vierfachen Gliederung das zweite Genos, die Grenze, eingeführt wurde, um zu erklären, wie das erste Genos, das Unbegrenzte, in der Natur gebändigt und eingefasst werden kann und wie es dann mit Hilfe des 4. Genos, der Ursache, schöne geordnete Dinge hervorbringt – eben die Mischungen des dritten Genos – wird in der Rangfolge der fünf Güter das Maß (μέτρον) ebenso wie das Maßvolle (μέτριον) und das zur rechten Zeit Eintretende (καίριον) als ein Besitztum für uns Menschen eingeführt, und zwar als das höchste Vorstellbare. Dass für dieses erste Gut der fünffachen Rangordnung das zweite Genos, die Grenze aus dem ontologischen Exkurs, eine eminente Rolle spielt, dürfte sofort einleuchten, wenn Sokrates es auch unterlässt, eine entsprechende Ableitung zu konstruieren. Beim zweiten Gut der fünffachen Rangordnung, dem Symmetrischen und Schönen, scheint auf den ersten Blick eine Identifikation mit dem aus Peras und Apeiron Gemischten (dem dritten ontologischen Genos) möglich zu sein; jedoch muss wohl festgehalten werden, dass das Symmetrische und Schöne, zu dem auch das Vollendete und Hinreichende gehört, hier (in 66 b) ganz allgemein gefasst ist, ohne den Rückgang auf eine mögliche Entstehung aus einer Mischung zweier Genera. Am schwierigsten scheint mir die Einordnung des dritten Gutes zu sein. Nous und Phronesis – nur ungenügend als „Vernunft und praktische Einsicht“ übersetzt – werden nicht weiter in systematischer Hinsicht ausgeführt. Sokrates enthebt sich jeglicher Erklärung, indem er sich auf seine göttliche Eingebung223 beruft. Wenn man dieses Gut, das sich allein auf die 223  μαντεία 66 b 5. Wiederum eine Stelle, wo die Frömmigkeit des Sokrates zum Ausdruck kommt, die ihm freilich hier nur helfen soll, einer rationalen Erklärung des Platzes in der Rangfolge auszuweichen.

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Seele bezieht, mit der vierfachen Gliederung vergleicht, so ist wohl am ehesten eine Parallele zum 4. Genos, der Ursache, zu beobachten. Während aber diese innerhalb der vierfachen Gliederung einen sehr hohen Status beanspruchen kann224, nimmt die Vernunft hier nur den dritten Rang ein. Meine Vermutung wäre – wie schon oben bemerkt –, dass hier die menschlichen Fähigkeiten zu vernünftigem und besonnenem Handeln gemeint sind, während in der vierfachen Gliederung (und noch deutlicher in 28 e) die kosmische Vernunft gemeint ist: das demiurgische schöpferische Prinzip. Auch das nächste Gut bzw. Besitztum zeigt deutlich an, dass Sokrates hier menschliche Fähigkeiten und Tätigkeiten im Blick hat: Episteme und Techne, Wissenschaft und Kunst, zusammen mit rechten Vorstellungen, nehmen den vierten Platz der Güter ein. Bemerkenswert ist Sokrates’ Begründung: sie sind mehr verwandt mit dem Guten als mit der Lust. Diese fast nebenbei gemachte Bemerkung legt für den Interpreten der drei vorauf gehenden Güter den Schluss nahe, dass sich auch in ihnen – entsprechend ihrem Rang – das Gute zeigt, am meisten im Besitztum des Maßes. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass Platon hier (66 c 1) auf die Idee des Guten anspielt. Nun bleibt für die Lüste – und zwar für eine ganz besondere Art von Lüsten (die ἡδοναὶ ἄλυποι, d. h. etwa: die kummerlosen Freuden) der fünfte Platz übrig. Warum hebt Sokrates diese Art von Hedonai heraus? Weil, so dürfte wohl die Begründung lauten, dies die einzigen Hedonai sind, die unmittelbar mit den Kenntnissen (ἐπιστῆμαι) und Wahrnehmungen (αἰσθήσεις) verbunden sind und die als einzige als „rein“ (καθαραί) bezeichnet werden können. Mit anderen Worten: alle anderen Lüste können gar keinen Platz in der Folge der echten Besitztümer beanspruchen: sie sind zu heftig und verwirren die Seele. Die Rangfolge der fünf Güter zeigt unmissverständlich, dass Sokrates hier, am Ende des Dialogs, zielbewusst auf seine Eingangsthese zusteuert, dass nämlich im gemischten guten Leben die Vernunft weit größeren Anteil hat als die Lust.

E. Zusammenhang der fünf Güter mit dem Apeiron Wie schon oben erwähnt, erscheint das Apeiron – das 1. Genos der vierfachen Gliederung – nicht direkt in der fünffachen Klassifikation der menschlichen Güter. 224  Vgl.

27 a und 28 c.



E. Zusammenhang der fünf Güter mit dem Apeiron101

Jedoch lässt sich nach meiner Ansicht ein indirekter Zusammenhang konstruieren. Diese Konstruktion ist zugegebenermaßen spekulativ. Sie versucht aber unter anderem plausibel zu machen, warum gerade das Metron als das höchste menschliche Gut eingeführt wird und warum (was manchen Interpreten Schwierigkeiten bereitet) Sokrates das Symmetrische und Schöne, das Vollendete und Hinreichende als zweites Gut einführt. Folgendermaßen, so könnte man denken, spielt das Apeiron im Hintergrund der fünf Güter seine Rolle; dazu halten wir drei aus den bisherigen Textstellen und Überlegungen gewonnenen Punkte fest: zum einen, dass das Grenzenlose einen dynamischen Charakter hat, zum anderen, dass es zum „Oszillieren“ nach „oben“ und nach „unten“ neigt, und schließlich, dass es durch die Grenze gebändigt und beherrscht werden muss, soll etwas Schönes entstehen. Sieht man sich nun die im ontologischen und axiologischen Sinn absteigende Rangfolge der fünf Güter an, so liegt die Annahme nicht fern, dass so wie sich die anderen Güter vom ersten Gut, dem Maß, entfernen, das Apeiron zunimmt. Das heißt: beim Metron, dem höchsten menschlichen Gut, beträgt das Apeiron noch Null, während es bei den folgenden Gütern leicht zunimmt, bis es beim fünften Gut, den reinen und „kummerlosen“ Freuden, ein gewisses Maximum erreicht – das freilich immer noch viel geringer ist als bei den Beispielen, die Sokrates in 26 a erwähnt oder bei den heftigen Lüsten, wo es gar kein Maß mehr zu geben scheint. Vom ersten Gut bis zum zweiten Gut (dem Symmetrischen und Schönen) schleicht sich insofern ein gewisser Betrag an Grenzenlosem ein, als sich das Symmetrische und Schöne im menschlichen Leben immer an einer bestimmten Grundlage zeigen muss, die ihrerseits auch anderen Kräften ausgeliefert ist. Nehmen wir das von Sokrates öfter angeführte Beispiel der Musik: Die Schönheit und Symmetrie einer musikalischen Passage ist immer in Gefahr, in der Praxis, also im Spiel, Fehler in den Tönen und Ungleichmäßigkeiten im Rhythmus zulassen zu müssen. Das Apeiron lauert sozusagen immer im Hintergrund. Beim dritten Besitztum, dem Nous und der Phronesis, kann man in ähnlicher Weise argumentieren – natürlich immer unter der in dieser Interpretation angenommenen Voraussetzung, dass es sich innerhalb der Rangfolge der Güter um die menschliche Vernunft handelt, nicht etwa um die göttliche. Bei realistischer Betrachtung der menschlichen Vernunft kommt man nicht umhin zuzugeben, dass sie nicht über einen längeren Zeitraum wirkungsmächtig sein kann – wegen der Begrenzung der menschlichen Fähigkeiten.225 225  Vgl. dazu Aristoteles’ Bemerkungen in der Nikomachischen Ethik (EN 1177 b 24 ff.) zur Begrenztheit der menschlichen Vernunft im Vergleich zur gött­lichen.

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Kap. 6: Das Apeiron innerhalb der Mischung des guten Lebens

Noch deutlicher beobachtbar ist der Anteil des Apeiron beim vierten Gut, den Kenntnissen und Künsten, sowie den richtigen Vorstellungen. Schon in dem Abschnitt über die reinen und angewandten Wissenschaften und Künste226 hatte Sokrates den mehr oder minder großen Einfluss des Ungenauen hervorgehoben. Die Unterscheidung zwischen reinen und angewandten Künsten bzw. Wissenschaften wird hier beim vierten Besitztum zwar nicht mehr explizit gemacht, sondern alle Wissenschaften und Künste werden zusammen mit den rechten Vorstellungen genannt, aber es dürfte offensichtlich sein, dass der Einfluss des Apeiron in der Praxis der Wissenschaften und Künste immer spürbar bleibt und dass die Instrumente einer Kunst, z. B. der Baukunst, obwohl sie natürlich das Schöne und Vollendete hervorbringen sollen, immer auch dank materieller und menschlicher Unzulänglichkeiten, zeitweise mit dem Apeiron in ihrer Kunst konfrontiert sind. Nun zum fünften Besitztum, den „kummerlosen Freuden“: Dass die Lust (Freude) als Empfindung und Emotion selbst zu den Apeira gehört, wird von Sokrates schon in 31 a festgestellt, wo es heißt: Lasst uns aber dieses über beide (sc. Vernunft und Lust, νοῦς und ἡδονή) im Gedächtnis behalten, dass die Vernunft der Ursache verwandt ist und so ziemlich aus diesem Genos stammt; dass hingegen die Lust selbst grenzenlos ist und aus dem Genos stammt, das weder Anfang noch eine Mitte noch ein Ende besitzt in ihm selbst und von sich her, noch je haben wird.

Mit großer Deutlichkeit wird hier das Genos des Apeiron noch einmal vorgestellt, welches als solches, wie es heißt, weder Anfang noch Mitte noch Ende hat – alles Attribute des Begrenzten; und die Lust wird ausdrücklich „grenzenlos“ genannt, d. h. sie wird dem Genos des Apeiron zugeschlagen. Später im Text unterscheidet dann Sokrates alle möglichen Arten von Hedonai, körperliche und seelische, sanfte und heftige, mäßige und unmäßige. Schließlich, in 50 e, spricht er von den reinen Lüsten, die nicht mit Unlust gemischt sind und im Sehen, Hören und Riechen von schönen Gestalten, Tönen und Gerüchen bestehen. Wenn ich hier von Begrenztheit spreche, darf das natürlich nicht mit dem platonischen Prinzip von Peras verwechselt werden. In dem Appendix zu ihrem Kommentar zum Philebos Peras, Apeiron und der esoterische Platon (416) weist D. Frede auf die Schwierigkeiten hin, die Ideenzahlen in ihrer Gesamtheit zu ermitteln. Dann fährt sie fort: „Vielleicht hält er (sc. Platon) das für die Domäne der göttlichen Vernunft allein; schließlich unterscheidet er scharf zwischen göttlicher und menschlicher Produktion und damit zwischen göttlichem und menschlichem Wissen. Daß Gott das Maß aller Dinge ist (Lg. 716 c), stellt für Platon vermutlich nicht eine façon de parler dar, sondern markiert grundsätzlich die Grenze menschlichen Wissens.“ 226  56 ff.



E. Zusammenhang der fünf Güter mit dem Apeiron103

Da hier, vermittelt durch das Maß in den Objekten der jeweiligen Lust, der Einfluss des Apeiron zwar da ist, aber zurückgedrängt wird durch den Einfluss von Peras und Metron, kann man mit Recht von einem für die Menschen existierenden Besitztum reden: einer kummerlosen Freude. Dabei spielt das mathematisch zu verstehende Maß eine wichtige Rolle und reduziert so den apeirotischen Charakter der entsprechenden Schaulust auf ein Minimum. Das wird aus dem von Sokrates gegebenen Beispiel in 51 c deutlich, wo nicht die Lust an der Schönheit lebender Körper oder an der Schönheit von Gemälden gemeint ist, sondern die eigentümliche Lust an Flächen und Körpern, die durch Richtschnur und Winkelmaß „entstehen“, also die Lust an der Betrachtung geometrischer Körper und Flächen. So kann in der Hierarchie der menschlichen Güter die „kummerlose Freude“ wenigstens den fünften Rang beanspruchen – während alle unreinen und maßlosen Lüste überhaupt nicht zu den Besitztümern (κτήματα) gehören, die, so muss man wohl annehmen, den Menschen von den Göttern geschenkt worden sind. Im folgenden Kapitel sollen bestimmte Aspekte des Apeiron noch differenzierter dargestellt werden.

Kapitel 7

Der quantitative und der qualitative Aspekt des Apeiron Wie manche Kommentatoren, besonders aber Gosling (1975), festgestellt haben, ist es nicht ganz einfach, das was Sokrates in der Passage über die Gabe der Götter (16 c ff.) zum Apeiron anmerkt, mit seinen Ausführungen über das Apeiron als erstes Genos in der vierfachen Gliederung (23 c–27 c) in Einklang zu bringen.227 Da es zu weit führen würde, hier die Vorstellung der verschiedenen möglichen Inkonsistenzen zwischen den beiden Passagen, so wie Gosling es sieht, zu untersuchen und gegebenenfalls zu widerlegen, möchte ich mich darauf beschränken zu zeigen, dass Platon zwei Anläufe macht. In zwei Anläufen möchte Platon den Leser auf die Diskussion über Lust und Vernunft als Rivalen für das gute Leben vorbereiten, indem er Prinzipien eines zureichenden Logos entwickelt. Der erste Anlauf ist die Gabe der Götter (16 c–18 d) mit den drei Beispielen. Was das Apeiron angeht, welches in 16 c–17 a zum ersten Mal vorgestellt wird, und was dann in den drei Beispielen illustriert und dem jeweiligen Peras gegenübergestellt wird, so möchte ich vor allem auf zwei Dinge hinweisen: (1) Bei der Schilderung des allgemeinen Verfahrens in 16 d zeigt schon die Wortwahl, dass man eine Idee jedes Mal bei allen Dingen, die man untersucht, auffinden solle, dann weiter fortschreiten solle, um nach der einen Idee zwei bzw. drei oder eine andere Zahl zu finden; hier wird zweifellos von der dihäretischen Methode gesprochen, von Subsumtion und Einteilung in UnterIdeen. Heute würde man von Klassen und Unterklassen reden.228 Die Gestalt 227  Abgesehen von vielen zutreffenden Beobachtungen Goslings, z. B. dass Platon bei der Konstruktion seines Paares Peras – Apeiron von der pythagoreischen Tradition ausgeht (165 ff.), hat man bei Gosling manchmal den Eindruck, als ob er es sich bei der Aufdeckung von angeblichen „inconsistencies“ und von Widersprüchen innerhalb des Philebos zu schwer macht. 228  Gegen diese Interpretation des dihäretischen Verfahrens, wie es Platon zuerst im Sophistes gezeigt hat, wendet Gosling (148) unverständlicherweise ein, dass eine solche Interpretation voraussetze, „that Plato expects his reader to read the Philebus with the Sophist open before him“. Als ob es nicht bei jeder Platon-Lektüre ange-



Kap. 7: Der quantitative und der qualitative Aspekt des Apeiron105

des Unbegrenzten229 solle man nicht eher „heranbringen“, bis man die ganze Zahl zwischen dem Unbegrenzten und dem Einen gesehen habe. Diese Stelle ist die einzige in dem gesamten Dialog, wo Platon den Ausdruck ἰδέα mit dem ἄπειρον verbindet. Später spricht er von γένος und φύσις und γέννα, Ausdrücke, die eher das Naturhafte und die Familienzugehörigkeit betonen. (2) Wenn Sokrates zum Schluss der allgemeinen Vorstellung der Gabe der Götter davon spricht, dass man erst nach diesem Schritt einer genauen zahlenmäßigen Einteilung der ersten Idee in Unter-Ideen „jedes Einzelne von allen ins Unbegrenzte entlassen solle“ (16 e 1 f.), so bedeutet dies wohl nichts anderes, als dass die Entitäten, die nach einer vollständigen Dihärese übrig bleiben, nur die vielen einzelnen konkret wahrnehmbaren Dinge sein können. Das heißt mit anderen Worten: Die Gabe der Götter erlaubt uns einen ersten Blick auf die Natur des Apeiron zu werfen: es ist zunächst einmal der quantitative Aspekt des Apeiron, der Platon hier interessiert. Genau diesen Aspekt wird Aristoteles in seiner Physik wieder aufnehmen230 und daraus seinen Begriff des potentiell Unendlichen ableiten. In der Gabe der Götter kommt der qualitative Aspekt des Apeiron, der für Platon mindestens ebenso wichtig ist wie der quantitative, noch nicht ausdrücklich ins Spiel. Man ahnt ihn höchstens, wenn man sich die Beispiele, die Sokrates auf die Nachfrage des Protarchos hin gibt, genauer ansieht. Um den qualitativen Aspekt des Apeiron in aller Ausführlichkeit vorzustellen, braucht Platon den zweiten ontologischen Exkurs: die vierfache Gliederung. Dass er für ein- und dasselbe Thema (hier die Darlegung des Paares Peras – Apeiron) mehrere Anläufe benötigt, ist auch aus anderen Dialogen bekannt, z. B. die verschiedenen Unsterblichkeitsbeweise im Phaidon. Damit möchte ich freilich nicht gesagt haben, dass Platon einfach nur dasselbe mehrfach und mit gleicher Akzentsetzung vorbringt; vielmehr entwickelt er denselben komplexen Gedanken unter verschiedenen Aspekten, so dass der Leser zum Schluss ein abgerundetes Bild von der Sache erhält. Es ist ein methodischer und zugleich literarischer Kunstgriff Platons, die Schwierigkeiten eines philosophischen Themas nicht im ersten Anlauf bewältigen zu wollen und es ist ein Grundzug seines ganzen Philosophierens.231 zeigt ist, bei Verständnisschwierigkeiten in einem Dialog in anderen Dialogen nachzusehen, was dort zum Thema steht. 229  τὴν τοῦ ἀπείρου ἰδέαν, 16 d 7. 230  Physica III, 4.–8. 231  Man sollte daher mit der Zuschreibung von angeblichen Inkonsistenzen zwischen den verschiedenen Anläufen sehr vorsichtig sein.

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Kap. 7: Der quantitative und der qualitative Aspekt des Apeiron

Sieht man sich das Musikbeispiel in 17 b – e näher an, so scheint neben dem quantitativen Aspekt des Apeiron auch der qualitative in einem gewissen Grade durch. Und zwar an der Stelle, wo Sokrates darauf hinweist, dass man als ein in Musikdingen Kundiger (σοφός) die Tonabstände (Intervalle) zu nehmen habe, wie viele232 es der Zahl (dem Zahlverhältnis) nach sind, bezogen auf Höhe und Tiefe und was für welche233, und dass man dann zusehen müsse, was für Zusammenstellungen daraus werden.234 Hier wird – in sehr gedrängter Art – ein wenig von dem vorweggenommen, was dann später in der vierfachen Gliederung genauer expliziert wird. Jedenfalls wird hier der reine Zahlcharakter (ὁπόσα) durch einen qualitativen Ausdruck (ὁποῖα), der sich auf die Höhen und Tiefen bezieht, ergänzt. Auch erscheint das später in der vierfachen Gliederung vorgestellte 3. Genos, die Mischung aus Peras und Apeiron, hier in einer Art Vorwegnahme als Systemata, als „Zusammenstellungen“ d. h. heißt als Kompositionen musikalischer Strukturen.235 Nun zum qualitativen Aspekt des Apeiron, wie er ausführlich im Rahmen der vierfachen Gliederung und auch an vielen späteren Stellen entwickelt wird. Im Folgenden kann ich mich kurz fassen, da dieser Aspekt sowohl allgemein wie auch konkret (siehe mein Musikbeispiel in Kap. 3) schon dargestellt worden ist. Hier nur die wichtigsten Charakteristika des Apeiron in seinem qualitativen Aspekt; es ist dadurch charakterisiert: (a) dass es immer das Mehr und Minder aufnimmt;236 (b) dass es unvollendet ist (24 b 8); (c) dass es zusammen mit der Grenze in den gemischten Dingen im besten Falle eine gute Mischung bilden kann und dann, gebändigt durch das Peras, etwas Schönes wie Gesundheit entstehen kann;237 (d) dass es, wie die letzten Kapitel gezeigt haben, anwesend ist in allen empirischen Dingen, insbesondere in der Lust und Unlust (25 e); 232  ὁπόσα. 233  ὁποῖα.

234  συστήματα habe ich hier wörtlich wiedergegeben. Die ganze Stelle steht in 17 c 11–d 2. 235  Für das Buchstabenbeispiel, besonders in der Version des Theuth-Mythos, lassen sich ähnliche Beobachtungen machen. 236  Beispiele werden von Sokrates in 24 a 7–9, 24 c 1–d 7 und anderswo gegeben. 237  Mit der Einschränkung „im besten Fall“ gebe ich etwas locker die sokratische Formulierung ὀρθὴ κοινωνία aus 25 e 7 wieder, welches ja wörtlich „rechte Gemeinschaft“ bedeutet.



Kap. 7: Der quantitative und der qualitative Aspekt des Apeiron107

(e) dass es ebenso anwesend ist in den angewandten Wissenschaften und Künsten, wo es einen Kontrapost bildet zur Genauigkeit der Arithmetik und Geometrie, in der das Maß und die Grenze allein herrschen. Diese fünf Charakteristika sollten genügen, um einzuschätzen, wie wichtig Platon das qualitativ verstandene Apeiron war, um als allgemeines ontologisches Prinzip seinen Beitrag zur Erklärung vieler empirischer Phänomene – insbesondere auch der Lust – zu leisten. Je weiter man den sokratischen Weg durch den Dialog verfolgt, desto reicher wird das zunächst abstrakte Gegensatzpaar Peras – Apeiron illus­ triert, desto mehr gewinnt es sozusagen an „Fleisch“ auf dem Skelett der pythagoreischen Gegensätze, und es zeigt sich wieder einmal, dass Platon zwar zweifellos durch die Pythagoreer beeinflusst war, aber deren Lehren eigenständig und fruchtbar weiter entwickelt hat.238 Eine schwierige Frage bleibt allerdings noch bestehen: Wie verhält sich der quantitative Aspekt des Apeiron – die bloße Zahllosigkeit und insofern Unbegrenztheit der einzelnen nicht weiter teilbaren empirischen Phänomene – zu seinem qualitativen Aspekt, d. h. zu dem Moment des Ungenauen, des Mehr und Minder, des Schwankenden und Oszillierenden? Muss man diese Doppelheit in der Natur des Apeiron einfach hinnehmen und bequemerweise auf die beiden von Aristoteles erfundenen Kategorien Quantität und Qualität verteilen oder gibt es etwas Gemeinsames? Der Verfasser ist der Meinung, dass es etwas Gemeinsames gibt, das sozusagen „hinter“ den beiden Aspekten wohnt – oder mit anderen Worten: das beide Sichtweisen aus sich heraus entlässt. Er ist sich allerdings bewusst, dass darüber im Philebos allenfalls Andeutungen stehen und dass ein Versuch der Rekonstruktion Spekulation bleiben muss. Bei der Einteilung der Wissenschaften in reine, genaue, an der Arithmetik orientierte und in angewandte, unreine, mit ungenauen Mitteln arbeitende (55 c–59 b) hält Sokrates an dem Kriterium der höchstmöglichen Genauigkeit fest, um über die Wahrheit bzw. Wahrheitsnähe einer Wissenschaft etwas auszusagen. Diese Genauigkeit ist mit Wahrheit so eng verbunden, dass sie, gesetzt als Attribut zu Wahrheit im Superlativ des Adjektivs, die besondere Nähe zur Wahrheit ausdrückt: „mit der genauesten Wahrheit …“239. Für Platon ist diese „genaueste Wahrheit“ untrennbar mit Mathematik und dem höchsten Gut, dem Maß (66 a), verbunden. Es sei erlaubt, daraus folgende mutmaßliche Folgerungen zu ziehen: 238  Vgl. dazu Gadamer, Plato als Porträtist (1988), jetzt in Bd. 7 seiner Gesammelten Werke (1991), besonders 251 f. 239  τῇ ἀκριβεστάτῃ ἀληθείᾳ 59 a 11.

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Kap. 7: Der quantitative und der qualitative Aspekt des Apeiron

Mathematik in der Form der Arithmetik hat mit Zahlen zu tun. Alles, was mit reinen Zahlen zu tun hat, ist den Schwankungen der Empirie entzogen. Das Gegenteil der Möglichkeit des Zählens ist die Unmöglichkeit der Anwendung von Zahlen. Diese Unmöglichkeit erscheint im Apeiron als das Unzählbare, d. h. in dieser Hinsicht ist das Apeiron „ohne Ende“, unendlich (ἀτελής). Εin Grund für diese „Unendlichkeit“ ist aber seine ständige Bezogenheit auf die Komparative Mehr und Weniger, letztlich also sein dynamisches Schwanken. Diese Art von Dynamik lässt, bezogen auf die eigene Natur des Apeiron, keinerlei Statik zu, lässt also von sich aus (ohne die Hilfe von Peras) keinerlei beruhigendes Moment zu. In dieser – zugegebenermaßen spekulativen Weise – könnten die beiden Aspekte des Apeiron, der quantitative und der qualitative, verbunden werden. So würde auch ein Beitrag zur Erklärung der zwei Anläufe geliefert, welche Platon offenbar benötigt, um die Natur des Apeiron aufzudecken.240

240  Eine ähnliche Auffassung des Apeiron wie sie hier entwickelt wird, findet man in einer kurzen Bemerkung von Hans Blumenberg in seinem Aufsatz Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen (1956); jetzt in: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1999, 55–103. Dort heißt es vom antiken infinitum (82): „[…] das infinitum ist im antiken Verständnis mit Ratio­ nalität unvereinbar, es ist das hyletische ἄπειρον.“ Allerdings gilt der Mangel an Rationalität, den Blumenberg zu Recht feststellt, nicht für das ideale Apeiron Plotins, wie im folgenden Appendix gezeigt werden soll. Wohl aber ist das im platonischen Philebos dargestellte Unbegrenzte durch einen Mangel an Rationalität charakterisierbar: Rationalität ist eine mit dem Peras verschwisterte Größe.

Appendix

Plotins Abhandlung über die zwei Materien in Enneaden II, 4, 1–16 In Kapitel 3 über den Zusammenhang der vier Gattungen mit der Ideenlehre bin ich auf C. J. de Vogels Aufsatz La théorie de l’apeiron chez Platon […] eingegangen, wo sie im Anschluss an Plotin für ein Apeiron im intelligiblen Bereich plädiert. Diese Überlegungen sollen hier vertieft und erweitert werden, indem ich für den Leser, der die hochinteressante Abhandlung Plotins nicht kennt, diese hier in einer zusammenfassenden Paraphrase vorstelle und einige Bemerkungen anschließe, die sich auf die Legitimität und zugleich Origi­nalität dieses Ansatzes einer Interpretation des platonischen Apeiron be­ziehen. Es geht, kurz gesagt, um die Möglichkeit einer intelligiblen Materie (Hyle), welche, wie die nachfolgende Vorstellung von Plotins doppeltem Materiebegriff zeigen soll, starke Parallelen zum platonischen Apeironbegriff aufweist. In seiner Abhandlung unterscheidet Plotin streng zwischen zwei Arten von Materie (Hyle). In den Kapiteln 1–5 behandelt er die intelligible Materie, in den restlichen Kapiteln die körperliche Materie. Der Terminus ἄπειρον fällt allerdings bei ihm erst in der Vorstellung der körperlichen Materie. Für die intelligible Materie gebraucht Plotin den Ausdruck ἀόριστον (unbestimmt), der ja eine große Ähnlichkeit zum platonischen ἄπειρον hat.

A. Die intelligible Materie (Hyle), Kap. 1–5 Zunächst sollen die Kapitel 1–5 mit den meiner Ansicht nach wichtigsten Thesen vorgestellt werden, wobei diese Paraphrase mehr eine Skizze darstellt und nicht auf alle textlichen und gedanklichen Schwierigkeiten eingehen kann. Gleich am Anfang seiner Abhandlung erwähnt Plotin Leute, die eine Materie (Hyle) angenommen haben, die – anders als die den Körpern zugrunde liegende – im Bereich der Gedankendinge (Noeta) den dortigen Formen zugrunde liegt. (1, 17.18) Nachdem Plotin in Kap. 2 einige Gegengründe für diese Annahme angeführt hat, fällt am Anfang von 3 ein wich-

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Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien

tiger Satz: „Zuerst ist nun hiergegen zu sagen, dass man das Unbestimmte (τὸ ἀόριστον) nicht überall gering achten muß“.241 Als Beispiel für etwas Gutes, das noch unbestimmt ist, führt er die Seele an, die in Hinsicht auf Nous und Logos von diesen geformt wird. In 3, 9–10 heißt es dann: „Die Materie der vergänglichen Dinge erhält eine immer neue Gestalt, die Materie der ewigen (Dinge) ist aber stets dieselbe und hat stets die gleiche Gestalt.“ Die intelligible Materie ist „alles zugleich“.242 Es gibt nichts, in das sie sich verwandeln könnte. (3, 14) Am Anfang von Kap. 4 stellt Plotin fest: „Wenn nun die Ideen viele sind, so muß es notwendig ein Gemeinsames in ihnen geben […]“243 Er fährt fort: […] „und auch ein Eigenes (ἴδιον), wodurch sich die eine (Idee) von der anderen unterscheidet. Dies Eigene also, dieser absondernde Unterschied (ἡ διαφορὰ ἡ χωρίζουσα), ist die individuelle Gestalt (μορφή) der Idee.“ Wenn es aber eine individuelle Gestalt (der Idee) gibt, so gibt es auch etwas, das gestaltet wird (ἔστι τὸ μορφούμενον), an dem der spezifische Unterschied ist. „Es gibt dort also auch eine Materie, die die Form aufnimmt und für jede das Substrat ist.“ (4, 7–8). Auch aus der Parallelität des intelligiblen Kosmos mit dem irdischen schließt Plotin: da der irdische eine Materie hat, müsse auch der intelligible eine besitzen. Parallelität insofern, als der irdische Kosmos ja eine Nachahmung (μίμημα) des intelligiblen ist. Jetzt kommt eine schwierige Passage (bis Ende 4). Plotin sagt, dass die intelligible Welt ganz und gar teillos sei (ἀμερές), doch wieder in gewissem Sinne teilbar (μεριστόν). Wie ist das gemeint? Es folgt eine Paraphrase der Passage 4, 13–20: Ein irdischer Gegenstand kann zerschnitten und zerrissen werden. Dies ist eine Affektion (πάθος) der irdischen Materie. Bei einem intelligiblen Gegenstand hingegen, der zugleich vieles und unteilbar ist, ist die Vielfältigkeit in dem Einen als in einer Art Materie. Die Vielfältigkeit ist nicht etwas das materiell greifbar wäre – dann könnte man einen intelligiblen Gegenstand genau so zerschneiden wie einen Brotlaib. Nein, der intelligible Gegenstand, der zugleich Eines und vieles ist, ist in seiner Vielfältigkeit nur geistig erfassbar. Dieses Eine (Intelligible), sagt Plotin, ist an sich gestaltlos, ehe es vielfältig ist, d. h. denkt man sich die Vielfältigkeit der Formen (der Logoi und 241  Übersetzung von R. Harder, aus dessen zweisprachiger Ausgabe Plotins in diesem Appendix, wenn nicht anders erwähnt, immer zitiert wird. 242  ἐκεῖ δὲ ἅμα πάντα 3, 13 f. 243  Vgl. D. Ross (zitiert bei de Vogel 33): „Platon avait besoin de ce principe pour expliquer la multiplicité dans le monde intelligible.“



A. Die intelligible Materie (Hyle), Kap. 1–5111

νοήματα) weg, so bleibt etwas Gestaltloses und Unbestimmtes übrig: die intelligible Hyle. In Kap. 5 begegnet Plotin dem Einwand, dass man so etwas, wie gerade ausgeführt war, nicht Materie (Hyle) nennen sollte, da, wenn die intelligible Materie immer alle Formen in sich hätte, eine vollkommene innere Einheit von Formen und Materie vorläge und man daher eine Materie nicht abtrennen könne, mit dem Argument, dass dasselbe auch von der körperlichen Materie gilt, die immer zusammen mit einer Form existiert und daher nur im Geist abtrennbar ist. Nun folgt ein hochinteressanter Satz über Materie allgemein (5, 6 f.): „Die Tiefe aber jeden Dinges ist seine Materie, weshalb sie denn auch gänzlich dunkel ist, weil das Licht Vernunft und Geist ist.“244 Plotin sagt: So wie das lichthafte Auge das unter dem Licht und den Farben Liegende als dunkel und stofflich annimmt, so hält auch die Vernunft das, was unter dem Logos des Einzeldinges liegt, für dunkel. Es besteht allerdings eine Differenz zwischen dem Dunklen in der geistigen und dem im der sinnlichen Welt, d. i. die Materie in beiden Welten bedeutet etwas Verschiedenes. Die intelligible Materie nimmt Bestimmendes (die Eide) auf und hat selbst ein bestimmtes geistartiges Leben, wie sich Plotin ausdrückt. Demgegenüber nimmt die irdische Materie zwar auch ein Bestimmtes auf, aber dieses ist nicht selbst lebendig und geistig, sondern ein „geformtes Totes“.245 Während das irdische Substrat (= Materie) nur ein Schattenbild ist, ist das intelligible Substrat Substanz (οὐσία) und als Ganzheit zusammen mit seiner Form eine „durchlichtete Substanz“.246 In diesem ersten Teil von Kap. 5 sieht man deutlich, wie wesentlich für Plotin die Lichtmetaphorik ist: Licht als das was sowohl das Seiende wie auch den Geist erhellt; Dunkelheit als das Gegenteil, was aber hier schwerpunktmäßig der körperlichen Materie zugesprochen wird. Der Philosoph wendet sich nun der Frage zu, ob die intelligible Materie ewig ist. Er sieht diese Frage parallel zu der Frage nach der Ewigkeit der Ideen. Seine Antwort: Die Ideen wie auch die intelligible Materie sind in gewissem Sinn entstanden, in anderem Sinn unentstanden. „Entstanden“ sind sie, insofern sie einen Ursprung haben, unentstanden, insofern sie keinen Ursprung in der Zeit haben.247 244  τὸ δὲ βάθος ἑκάστου ἡ ὑλη, διὸ καὶ σκοτεινὴ πᾶσα, ὅτι τὸ φῶς ὀ λόγος καὶ ὁ νοῦς. 245  νεκρὸν κεκοσμημένον 5, 18. 246  Harder für πεφωτισμένη οὐσία 5, 23. 247  γενητὰ μὲν γὰρ τῷ ἀρχὴν ἔχειν, ἀγένητα δὲ ὅτι μὴ χρόνῳ τὴν ἀρχὴν ἔχει. 5, 25 f.

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Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien

Das „Entstandensein“ der intelligiblen Materie und der Ideen ist also ein Bedingtsein von einem anderen, wie Plotin sagt. Gemeint ist etwas Höheres. Von beiden, der intelligiblen Materie und den Ideen, wird das Prädikat „immer-seiend“ (ὄντα ἀεὶ) ausgesagt. Das was als Höheres die intelligible Materie „hervorbringt“, nennt er die Andersheit (ἑτερότης) sowie als zweites die Bewegung (κίνησις). Andersheit und Bewegung ihrerseits entstammen dem „Ersten“. Damit ist wohl das berühmte Eine (ἕν) des Plotin gemeint. Beide Entitäten, Andersheit und Bewegung, sind unbestimmt und bedürfen der Bestimmung durch das Eine. Ιn wenigen lapidaren Sätzen (5, 31–39), in denen die Lichtmetaphorik wieder eine wesentliche Rolle spielt, behandelt Plotin das quasi-mystische Verhältnis des Einen zu den von ihm abhängigen Prinzipien Andersheit, Bewegung, unbestimmte Materie. Wir können uns an dieser Stelle eine weitere Kommentierung der schwierigen Passage sparen; für unsere Absicht genügt es den besonderen Charakter der intelligiblen Materie als eines zeitlich unentstandenen Prinzips herausgestellt zu haben, welches als eine Art Grundlage für die Ideen funktioniert.

B. Die körperliche Materie, Kap. 6–16 In den folgenden Kapiteln erörtert Plotin die Eigenschaften der körperlichen Materie. Diese wird am Anfang von Kap. 6 als der „Aufnahmeort der Körper“ bezeichnet (ἡ τῶν σωμάτων ὐποδοχή). Es muss etwas geben, verschieden von den Körpern, was diesen zugrunde liegt. Das beweist die Verwandlung der Elemente ineinander. Außerdem ist es nicht so, dass es eine vollständige Vernichtung eines Seienden ins Nichtseiende gäbe. Ebenso wenig gibt es ein Werdendes aus einem vollständigen Nichtseienden heraus in ein Seiendes hinein.248 Dabei bleibt dasjenige, welches die Gestalt des Werdenden aufnimmt und die des Vergehenden verliert. (6, 8 f.)

Das Einzelding besteht – gut aristotelisch formuliert – aus Materie und Form (ἐξ ὕλης καὶ εἴδους). Die Gestalt (εἶδος) steht auf der Seite vom Qualität und Form (κατὰ τὸ ποιὸν καὶ τὴν μορφήν), während die Materie auf der Seite des darunter liegenden Unbestimmten steht (κατὰ τὸ ὑποκείμενον ἀόριστον). Kap. 7 ist eine Widerlegung der Materiebegriffe von Empedokles, Anaxagoras und der Atomisten. Gegen Anaxagoras (?) gerichtet heißt es (7, 13 ff.): 248  Vgl.

dazu die Formel „Werden zum Sein“ in Philebos 26 d 8.



B. Die körperliche Materie, Kap. 6–16113 Wer aber das Unendliche setzt, soll sagen, was es bedeutet. Und wenn er das Unendliche so setzt wie ein Undurchschreitbares (ὡς ἀδιεξίτητον), dann ist klar, dass ein solches in den Seienden nicht existiert, weder als ein Unendliches an sich noch ein Unendliches an einem anderen Wesen als Akzidens an irgendeinem Körper; das Unendliche an sich (deshalb) nicht, weil dann auch sein Teil mit Notwendigkeit unendlich wäre; das Unendliche als Akzidens nicht, weil dasjenige, welchem es als Akzidens zukäme, nicht für sich unendlich wäre, weder einfach noch auch als Materie.249

Ohne auf die Einzelheiten dieser Zurückweisung einer nach Plotins Ansicht unreflektierten Auffassung des Apeiron eingehen zu können, mag folgende Anmerkung genügen. Plotin wendet sich gegen eine Auffassung, die eine grenzenlose Zahl von körperlichen Dingen voraussetzt. Auch eine Unendlichkeit als ein Akzidens an einem Ding lehnt er ab. Im folgenden Abschnitt (7, 20 ff.) setzt er sich mit den Atomisten auseinander. Er behauptet schlankweg, dass es keine Atome gäbe, weil jeder Körper immer weiter teilbar sei. Damit widerspricht er allerdings dem gerade Gesagten über das Unendliche als Akzidens. Denn die unendliche Teilbarkeit könnte man als ein (wesentliches) Akzidens eines Körpers betrachten.250 Ein weiteres Argument gegen die Atomisten wäre nach Plotin, dass die Einzeldinge unmöglich ohne Geist und Seele, also ohne einen Schöpfungsakt zustande kommen können. Das erinnert stark an das vierte Genos im Philebos (Phil. 27 b und 28 c 6 ff.), wo Platon die Gattung der Ursache als demiurgisch bezeichnet und an der späteren Stelle mit dem Nous identifiziert. Und die Seele kann nach Plotin unmöglich aus Atomen bestehen. (7, 23 f.) Am Anfang des 8. Kapitels nennt Plotin gleich zwei wesentliche Prädikate der Materie: sie sei kontinuierlich und qualitätslos (συνεχὴς καὶ ἄποιος). Materie als reine Materie (und nicht etwa als eine bestimmte wie z. B. der Ton für den Töpfer) darf nichts von dem haben, was wir den Sinnesdingen zuschreiben, also weder Kälte noch Wärme, auch keine Leichte und Schwere, keine Dichte und Dünne, natürlich auch keinerlei Gestalt oder Größe. An dieser Stelle erkennt man eine deutliche Differenz zu Platons Apeiron im Philebos, wo Platon ja gerade diese Eigenschaften, allerdings in komparativischer Form, dem Apeiron zuspricht.251 Nur in Bezug auf die Gestalt (σχῆμα) würde Platon ein ähnliches Urteil über das Apeiron fällen wie Plotin über die Materie. 249  Meine

Übersetzung. dazu Aristoteles, Physik III, 206 a 25 ff. 251  Phil. 24 d, 25 c und öfter. 250  Vergleiche

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Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien

Man sieht an dieser Stelle deutlich, dass man Platons Apeiron nicht mit dem Begriff der körperlichen Materie bei Plotin gleichsetzen darf. Ferner sei die Materie, so sagt Plotin weiter, einfach und nicht zusammengesetzt. Derjenige, der ihr eine Gestalt (μορφή) gibt (es ist wohl der Demiurg gemeint), gibt sie ihr als etwas, das von ihr verschieden ist; dasselbe gilt, wenn er ihr Größe und die anderen Eigenschaften gibt. Da das schöpferische Prinzip (τὸ ποιοῦν) früher ist als die Materie, wird sie in jeder Hinsicht so sein, wie das Schöpferische es will und ist ihm in jeder Hinsicht folgsam.252 Auch an dieser Stelle bemerkt der Leser eine deutliche Differenz zur Konzeption Platons über die Entstehung des Kosmos. Der platonische Demiurg – Verkörperung des Nous – muss die reine Notwendigkeit (Ananke) „überreden“, ihm zu folgen und bei dem ganzen Geschäft der Kosmoserschaffung bleibt ein Rest von Irregulärem, das der Geist nicht bis ins Letzte auflösen kann.253 Weiter mit Plotin: Erst die in die Materie eindringende Gestalt (dieses Mal verwendet Plotin den Ausdruck εἶδος) bringt ihr alles, d. i. alle Eigenschaften. Bei allen Gattungen des Seins wird mit der Gestalt auch das Wieviel bestimmt, z. B. die Größe des Menschen oder Vogels, ja auch die Größe einer bestimmten Vogelart.254

Wieder könnte man hier eine Differenz zur platonischen Theorie im Philebos konstruieren: Die Quantität gehört bei Platon zur Gattung des Peras, der Grenze, und diese bewirkt beim Eintritt ins Apeiron das Gemischte, d. i. die einzelnen seienden Dinge. Das bedeutet aber, dass nicht die Gestalten (εἴδη) selber in das formlose Apeiron eintreten, sondern das Grenzartige in der Weise von Zahlen und Zahlverhältnissen konstituiert erst die jeweiligen Gestalten. Allerdings ist bei beiden Philosophen die Neigung erkennbar, eine enge Beziehung von Quantität und Zahlhaftem mit Gestalt und Form aufzu­ decken. In Kap. 9 stellt sich Plotin die Frage, wie man überhaupt etwas, das keine Größe hat, geistig erfassen könne. Seine Antwort: Wir erfassen auch sonst viele Dinge, die man nicht dem Wieviel, der Quantität, zuordnen kann. Jede unkörperliche Wesenheit muss als „ohne Quantität“ (ἄποσον) angesetzt werden. Und die Hyle ist ja unkörperlich in dem Sinne, dass sie selbst 252  εὐάγωγος

εἰς ἅπαντα 8,21. Tim. 48 a und Scheffel, Aspekte der platonischen Kosmologie 58 f. 254  8, 25–27. 253  Vgl.



B. Die körperliche Materie, Kap. 6–16115

nichts dreidimensional Abgegrenztes darstellt, sondern eben nur die Grundlage dafür: deshalb wird sie in diesem abgeleiteten Sinn „körperlich“ genannt. Genauso wie die Natur der Quantität selbst kein Wieviel ist, sondern erst das, was an ihr teilhat. Plotin betont, dass die Wievielheit (ποσότης) ein Eidos ist. – Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Größe. Was eine bestimmte Größe hervorbringt, ist die „Großheit“ (πηλικότης). Kann diese „Großheit“ auch die Materie zur Größe entfalten und sie groß machen? Nein, denn, wie Plotin sich ausdrückt, die Materie war ja nicht auf kleinem Raum zusammengewickelt. Sie „gab“ ihr vielmehr die Größe (μέγεθος), die früher nicht existierte, so wie auch sie (die Materie) eine früher nicht existierende Qualität erhielt.255 Kap. 10 beschäftigt sich mit dem Problem, die Unbestimmtheit (ἀοριστία) begrifflich, d. i. durch einen Logos zu erfassen. Plotin unterscheidet den Begriff (Logos) des Unbestimmten (ἀόριστον) von dem „Hinblicken der Überlegung“256 auf das Unbestimmte. Ersterer sei ein bestimmter (ὡρισμένος) Logos, letzteres sei unbestimmt. (10,4 f.) Diese etwas dunkle Erklärung versucht er weiter aufzuhellen: Jedes Einzelne (Seiende) wird durch Begriff und Erkennen (λόγῳ καὶ νοήσει) erkannt; im Fall der Materie aber ist das Erkennen eher eine Art Nicht-Erkenntnis (ἄνοια μᾶλλον); die Vorstellung (τὸ φάντασμα) der Materie ist unecht und nicht rechtmäßig, da sie sich zum einen aus einem Unwirklichen und zum andern aus dem diesem entsprechenden Begriff (Logos) zusammensetzt. Um diese zugegebenermaßen schwierige Konstruktion plausibel für seine Leser zu machen, rekurriert Plotin jetzt auf eine Stelle im platonischen Timaios, wo Platon, zwar nicht von der Materie = Hyle, aber von dem Raum (Chora), die er „Amme des Werdens“ nennt, sagt, sie sei nur durch eine „unechte Überlegung“ (νόθος λογισμός) zu erfassen.257 Klarer wird das, was Plotin mit der Unbestimmtheit bei der geistigen Erfassung der Materie meint, wenn er nun die Seele und ihre Sichtweise mit dem Sehen bei Licht und Dunkelheit vergleicht. Die bestimmenden Eigenschaften sind wie das Licht auf den Dingen; denkt man sie sich weg, so ist analog zum Sehen im Dunkeln die Seele nicht mehr imstande, irgendetwas Bestimmtes zu erfassen. Sie wird dann dem gleich, was sie sieht bzw. gerade nicht sieht. Plotin fragt: Sieht sie dann überhaupt noch? Die Antwort: 255  Der Unterschied, auf den Plotin hier Wert zu legen scheint, ist für den modernen Leser nicht ohne weiteres nachvollziehbar; Vermutungen darüber sollen an dieser Stelle nicht angestellt werden. 256  Harder für ἐπιβολὴ τῆς διανοίας. 257  Tim. 52 b 2.

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Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien

Sie bemerkt dann nur noch Gestaltlosigkeit (ἀσχημοσύνη), Farblosigkeit (ἄχροια), das Lichtlose (ἀλαμπές) und das was keine Größe hat: alles negative Prädikate, die man eigentlich einer unkörperlichen Entität zuschreiben würde. Plotin fragt jetzt: Ist ein solcher Zustand der Seele nicht identisch mit einem völligen Nicht-Denken? Also einer Bewusstlosigkeit? Nein, denn im Zustand des Nicht-Denkens sagt die Seele auch nichts aus, sie erleidet auch nichts (πάσχει οὐδέν), Wenn sie jedoch Materie denkt, erleidet sie eine Affektion (πάθος), gleichsam den Abdruck des Formlosen (τύπον τοῦ ἀμόρφου 10, 23).258 Letztlich sieht Plotin die Lösung der Schwierigkeit, eine unbestimmte Materie zu denken, darin, dass wir im Denken immer schon von Geformtem und mit Größe Versehenem ausgehen, also etwas Zusammengesetztes denken. Die Seele denkt immer das Ganze: das was Farbe und Qualität erhält, die geformte Materie. Dabei sind die Wahrnehmung und das Denken der Entitäten, die „darauf“ sind (d. h. „auf“ der zugrunde liegenden Materie), deutlich (ἐναργής), während die Erfassung des Zugrundeliegenden selbst unklar ist (ἀμυδρά). Ersteres sind die Qualitäten bzw. Formen, letzteres ist die Materie. Zum Schluss möchte ich die Sätze zitieren, mit denen Plotin dieses Kapitel in einer Weise abschließt, die sozusagen um psychologisches Verständnis seiner Position wirbt: „Da nun die Materie auch selbst nicht gestaltlos bleibt, sondern in den Dingen als gestaltete ist, prägt auch die Seele ihr alsbald die Gestalt der Dinge auf; sie leidet unter Unbestimmtheit, hat gewissermaßen Angst außerhalb des Seienden zu sein und hält es nicht aus lange bei dem Nichtseienden stehen zu bleiben.“ (10, 31–35, Übers. von Harder.)

Am Anfang von Kap. 11 formuliert Plotin Einwände eines mögliche Kritikers seines Materiebegriffes: Warum brauche man überhaupt den Begriff der Materie? Als aufnehmende Wesenheit genüge doch die Masse (ὄγκος); Die aber sei nicht ohne Größe denkbar. Was antwortet Plotin seinem Kritiker?259 Gegen den neuen Begriff der Masse sagt er, das aufnehmende Prinzip ist nicht notwendig Masse, solange ihm noch eine Größe beiwohnt. Die Materie empfängt das was sie aufnimmt deshalb in räumlicher Ausdehnung (ἐν διαστήματι), weil sie die Ausdehnung aufzunehmen fähig ist. Sie ist aber, 258  Für jeden Leser, den antiken wie den modernen, dürfte es schwer nachvollziehbar sein, wie etwas absolut Formloses einen Abdruck hinterlassen kann. Hier liegt m. E. eine Schwäche in der Argumentation Plotins. 259  Ab 11, 13 ff.



B. Die körperliche Materie, Kap. 6–16117

so muss man wohl folgern – das überlässt Plotin dem Leser – sie ist nicht a priori ausgedehnt. Die Materie schlechthin (ἁπλῶς 11, 24) muss ihre Größe von einem anderen erhalten.260 Daher ist das Form Aufnehmende nicht Masse, sondern das Masse-Werden der Form, und das Aufnehmen der anderen Qualitäten geschieht gleichzeitig. Plotin lehnt freilich die Vorstellung von einer Masse, die aufnimmt, nicht vollständig ab, aber er reduziert sie auf eine leere Masse, eine Vorstellung, die in der Seele ist; wenn diese mit Materie umgeht, kann sie nicht Bestimmtes erfassen und gießt sich sozusagen ins Unbestimmte aus261; sie kann die Konturen nicht umschreiben und sich nicht auf einen Punkt richten. Die in dieser Weise unbestimmte Masse ist nach Plotin weder groß noch klein, sondern man dürfe sie nur „groß-und-klein“ nennen.262 Sie ist Masse ohne bestimmte Größe, d. h. aber, sie ist die Materie der Masse. So ist die Unbestimmtheit der Materie in dem Sinne Masse, als sie Aufnahmeort (ὐποδοχή) der Größe in ihr ist. (11, 36–38)

Die Unbestimmtheit und Größelosigkeit der Materie äußert sich auch darin, dass sie – wie Plotin sich ausdrückt: […] hierhin und dorthin in alle mögliche Gestalt sich bewegend, nicht fest bei sich steht, sie ist überall (in jeder Hinsicht) leicht zu führen (εὐάγωγος) und indem sie in alles überführt werden und in allem werden kann, wird sie vielfältig und bekommt auf diese Weise die Natur der Masse. (11, 41–44, meine Übers.)

Was hier in den letzten Sätzen von Kap. 11 hervorsticht, ist der quasidynamische Charakter von Plotins Materie, der durchaus eine Ähnlichkeit mit dem ebenfalls dynamischen Zug des Apeiron im platonischen Philebos hat. In Kap. 12 werden folgende Fragen behandelt: Wie bilden sich die Körper? Wie treten die Formen mit der Materie in Verbindung? Eine gewisse Rolle spielt dabei die Größe (μέγεθος). Plotin sagt, dass die Formen nicht direkt an der Größe in Erscheinung treten, sondern an dem mit Größe ausgestatteten Ding (τὸ μεμεγεθυσμένον 12, 3). Dahinter aber, so muss man wohl ergänzen, steckt die reine Materie. 260  Z. B. von der Form eines Lebewesens, die immer mit einer bestimmten Größe verbunden ist, selbst wenn man „Größe“ jetzt als Spielraum für Wachstumstendenzen auslegt. 261  εἰς ἀοριστίαν χεῖ ἑαυτήν 11, 31 f. 262  μέγα καὶ μικρόν 11, 34. Wie nebenbei taucht hier ein aus der Diskussion in der platonischen Akademie bekannter Terminus auf, der in der „Ungeschriebenen Lehre“ Platons eine wichtige Stelle einnimmt. Vgl. dazu vor allem Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre.

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Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien

Ein weiteres Argument für die Bedeutung der Materie für Dinge ist das Phänomen der Mischung: was sich in unserer263 Welt mischt, kann nur deshalb in ein- und dasselbe zusammen treten, weil es Materie hat. Einer anderen Sache bedarf die Mischung nicht. Wohl aber bedarf es einer Grundlage, die die Mischung aufnimmt: eines Gefäßes bzw. eines Raumes (ἢ ἀγγείου ἢ τόπου). Der Raum aber, so Plotin, ist später als die Materie und die Körper; daher bedürfen die Körper zuvor der Materie.264 Es gibt allerdings auch materielose (ἄυλοι) empirische Entitäten: Hervorbringungen und Handlungen (ποιήσεις καὶ πράξεις). Körper haben demgegenüber immer Materie, weil sie zusammengesetzt sind, eine Eigenschaft, die Handlungen fehlt; bei Handlungen bleibt die Materie in den Dingen, womit man handelt; die Handlung selber hat keine Materie. Handlungen gehen nicht ineinander über wie materielle Dinge (bei Mischungen z. B.), sondern der Handelnde geht von einer Handlung zur nächsten. Im Folgenden betont Plotin noch einmal den Realitätscharakter der Materie (12, 20 ff.): Sie ist notwendig für Größe und Qualität und damit auch für die Körper; sie ist, an und für sich selbst unsichtbar und ohne Größe, das Zugrundeliegende für die Körper; sie ist kein leerer Name (12, 22). Man darf, so Plotin, nicht den Fehler begehen, aus der Tatsache, dass sowohl Materie wie auch Größe und Qualität für sich allein schwer zu erfassen sind, zu folgern, dass sie nichts sind. Man kann zwar die Materie mit den fünf Sinnen nicht erfassen; trotzdem ist Materie erschließbar, und zwar durch einen, wie Plotin es nennt, „unechten Schluss“ (νόθος λογισμός 12, 34). Dieser Schluss kommt nicht aus der Vernunft. (Woher er kommt, sagt Plotin nicht.) Auch wenn man Körperlichkeit als Begriff (Logos) nimmt, ist dieser von der Materie verschieden. Denkt man sich aber die Materie als eine, die schafft; fasst man sie ferner als ein Gemischtes auf, so ist sie offenbar schon Körper und nicht mehr nur Materie.265 263  So übersetzt Harder das Wörtchen νῦν in ἐπεὶ καὶ νῦν ὅσα μίγνυται … 12,8. Dass νῦν hier für die empirisch fassbare Welt steht, ist wohl unzweifelhaft. Es liegt nahe, auch eine ähnliche Stelle im Philebos am Anfang der vierfachen Gliederung des Seienden so zu deuten: πάντα τὰ νῦν ὄντα „ alles was hier und jetzt ist“ … Phil. 23 c 4. 264  12, 10–13. Auf diese interessante naturphilosophische Spekulation kann leider im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. Nur soviel: Plotin formuliert die letzten beiden Sätze im Gegensatz zum aristotelischen Topos-Begriff, der ja die Grenze eines Körpers darstellt. Die Sätze sind auch gegen den common sense gerichtet, der wohl ohne vorherige Setzung eines Worin, also ohne Setzung einer Art Gefäß für die Konstituierung materieller Körper nicht auszukommen scheint. 265  Man sieht an diesen letzten Sätzen des Kap. 12, und auch am ganzen Kapitel, wie Plotin mit dem Begriff der Materie ringt. Nicht alle Argumente wirken stimmig.



B. Die körperliche Materie, Kap. 6–16119

In Kap. 13 führt Plotin seine Überlegungen zur Materie weiter. Er wendet sich gegen jeden Versuch, eine Art Qualität (ποιότης) in die zugrunde liegende Materie hineinzudenken. Jede „Wiebeschaffenheit“266 ist etwas Bestimmtes, Materie aber ist unbestimmt. Auch Privation ist keine Art von Qualität, sondern ihre Abwesenheit. Reine Materie ist also sowohl größelos wie formlos wie qualitätslos. Allenfalls, das gibt Plotin gegen Ende von Kap. 13 zu, könnte man die Materie charakterisieren als etwas anderes als die anderen Dinge. Kap. 14 enthält eine Abgrenzung zwischen Privation und Materie. Es werden mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben: ein Zeichen dafür, für wie schwierig Plotin diese Probleme hält. Ein Beispiel mag genügen. Gegen Ende des Kapitels fragt Plotin, ob, wenn man mit dem Begriff der Materie das Verhältnis zu den anderen Dingen wie auch das Zugrundeliegende meint, dann der Begriff der Privation vielleicht das Unbestimmte an der Materie bezeichnet und damit an ihr Wesen heranreicht. (14, 25 ff.) Allerdings hätte man dann zwar eine Sache, worauf sich beide (Materie und Privation) bezögen, aber doch zwei verschiedenen Begriffe (Logoi). Wenn jedoch die Privation, dadurch dass sie Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit und ohne Wiebeschaffenheit ist, mit der Materie identisch ist, dann können die Begriffe nicht mehr zwei sein.267

In Kap. 15 fällt zum ersten Mal der Ausdruck Apeiron innerhalb der Diskussion um den (empirischen) Materiebegriff. Es handelt sich um einen neuen Anlauf Plotins, das Unbegrenzte (ἄπειρον) und das Unbestimmte (ἀόριστον) mit dem Begriff der Materie (ὕλη) zu verbinden. Es müsse nochmals geprüft werden, so schreibt er, ob diese beiden Entitäten als Akzidenzien an einer davon verschiedenen Physis gedacht werden können. Er setzt die Materie mit dem Unbegrenzten gleich (15, 10) auf Grund folgender Argumentation, die sich eng an Platons Philebos anschließt. Alles was Zahl oder Logos ist – im Griechischen steht jeweils der Plural  – ist „außerhalb des Unbegrenzten (ἀπειρίας ἔξω); es ist Grenze und Ordnung (ὅροι καὶ τάξεις).268 Die anderen Dinge – im Philebos sind das die gemischten – erhalten ihre Geordnetheit (τὸ τεταγμένον) von ihnen (d. h. also, von den Zahlen und Ordnungen). Das ordnende Prinzip ist etwas anderes als das Geordnete. Es 266  Harders

Übersetzung von ποιότης. 28–30 Harder. 268  Vgl. Phil. 25 b und 26 b 9 f. 267  14,

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Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien

wird jeweils das Unbegrenzte geordnet, und das ist die Materie. Daher gilt die Gleichsetzung von Materie mit dem Unbegrenzten. Freilich ist das Unbegrenzte kein Akzidens der Materie. Dann würde es nämlich die Materie in irgendeiner Weise bestimmen. Was aber irgendeinem zukommt, d. i. es bestimmt, muss ein Logos, ein Begriff, sein. Das Unbegrenzte aber ist kein Logos.269 Das ist ein sehr wichtiger Satz, gerade auch für die Philebos-Interpretation. Er widerspricht nämlich allen modernen Kommentatoren, die auch für das Unbegrenzte im empirisch-materiellen Bereich den Status eines Ideellen annehmen.270 Wie der Leser bemerkt, mache ich hier die Voraussetzung, dass Plotin den Philebos richtig verstanden und ausgelegt hat. Derselben Spur folgen die nächsten Sätze in Kap. 15. Ferner, wenn das Unbegrenzte an das Begrenzte kommt, muss es dessen Wesen vernichten.271 Folglich ist das Unbegrenzte kein Prädikat der Materie. Die Materie ist aber selbst das Unbegrenzte. (15, 15–17 Harder)

Es folgen einige sehr wichtige Sätze über das Verhältnis der beiden Materien, die Plotin annimmt. Die Frage, inwiefern sie beide als das Unbegrenzte gelten müssen, soll beantwortet werden. Ich zitiere nach Harder: Auch in der geistigen Welt ist ja die Materie das Unbegrenzte; es ist eine Hervorbringung aus der Grenzenlosigkeit des Einen, oder aus seiner Kraft oder seiner Ewigkeit, da es im Einen keine Grenzenlosigkeit gibt, sondern es sie nur schafft. Wie kann nun aber das Unbegrenzte dort oben und hier unten sein? Nun, auch das Unbegrenzte ist doppelt. Und wie unterscheiden sich beide? Wie Urbild und Abbild.272 So ist also das irdische Unbegrenzte in geringerem Grade unbegrenzt? Nein, in höherem: denn um so mehr es zum Abbild wurde, auf der Flucht vor dem Sein und dem Wahren, so viel mehr ist es unbegrenzt. (15, 17–24)

Abgesehen von der Spekulation über das Eine, dass es die Grenzenlosigkeit erst hervorbringt, was man als typisch plotinisches Gedankengut auffassen muss, kann man die anderen Gedanken dieses Abschnitts als eine, wenn auch kühne, so doch in sich konsistente Interpretation des platonischen Apeiron verstehen. So sieht es auch C. J. de Vogel.273 Es scheint auch eine Interpretation zu sein, die den meisten Aspekten des Apeiron an den verschiedenen Stellen im Philebos gerecht wird. Im irdischen materiellen Bereich nimmt Plotin also eine stärkere Unbegrenztheit 269  τὸ

δὲ ἄπειρον οὐ λόγος 15, 13. z. B. Striker und Frede. 271  Eine klare Anspielung auf Phil. 24 c 6. 272  ὠς ἀρχέτυπον καὶ εἴδωλον 15, 22. 273  In ihrem Aufsatz, 28. 270  Wie



B. Die körperliche Materie, Kap. 6–16121

an als im ideellen Bereich. Und zwar deshalb, weil der gesamte irdische Bereich weiter vom wahren Sein und dem Guten entfernt ist. Daher kann sich sozusagen die Unbegrenztheit mehr ausbreiten; sie wird weniger stark begrenzt als im Bereich der Ideen. So ist also die Materie als von sich aus her unbegrenzt anzusehen vermöge ihres Gegenüber zur begrifflichen Form (Logos). (15, 33 f.)

In Kap. 16, dem letzten seiner Schrift, geht Plotin auf das Verhältnis der Materie zur Andersheit, zur Privation und zum Schlechten (κακόν) ein. Materie und Andersheit (ἑτερότης) sind nicht völlig identisch; Materie ist mit einem Teil der Andersheit identisch, nämlich mit dem, der den seienden Dingen entgegengesetzt ist. In ähnlicher Weise ist Materie mit Privation (στέρησις) identisch, insofern man Privation als Gegensatz gegen das in der Vernunft Seiende (τὰ ἐν λόγῳ ὄντα) verstehen kann. Die Privation wird ihrerseits nicht aufgehoben, wenn ihr Gegenteil hinzutritt. Wenn also an das Unbegrenzte (die Materie) die Grenze hinzutritt, so wird die Seinsform des Unbegrenzten nicht zerstört.274 Die Grenze würde freilich das Unbegrenzte aufheben, wenn es nur quantitativ unbegrenzt wäre. Das scheint Plotin aber als nicht angemessen für seinen Materiebegriff zu halten. Dagegen betont er den Aufnahmecharakter des Unbegrenzten, d. i. der Materie. Die Grenze führt, wie er sich ausdrückt, die Natur des Unbegrenzten zur Verwirklichung und Vollendung (εἰς ἐνέργειαν καὶ τελείωσιν ἄγει 16, 12 f.). Als Leser fühlt man sich an Aristoteles erinnert, der genau diese Eigenschaft (das Zur- Vollendung – und – Verwirklichung – Geführtwerden) der Dynamis zuspricht. Zum Schluss seiner Abhandlung über die zwei Materien geht Plotin noch auf das Verhältnis der Materie zum Schlechten (κακόν) ein. Dadurch dass die Materie Anteil am Guten bekommt, ist sie selber als schlecht anzusehen. Sie bedarf des Guten. Man kann sie auch nicht als in der Mitte zwischen gut und schlecht stehend auffassen, denn dann müsste sie wenigstens teilweise gut sein. Da sie aber als solche nichts Gutes in sich hat, muss sie notwendig „schlecht“ sein.275 Als eine die Materie charakterisierende Bezeichnung führt Plotin zum Schluss „Mangel“ (πενία) ein. Es sei aber 274  Dieses Argument scheint Phil. 26 a zu widersprechen, wo es heißt, dass wenn die Grenze (das Grenzartige) in Kälte und Hitze hinzu kommt, es dann das allzu Heftige und Unbegrenzte wegnimmt: καὶ ἄπειρον ἀφείλετο  26 a 7. 275  Harder übersetzt in diesem letzten Teil von 16 κακός immer mit „böse“; das habe ich nicht übernommen, weil der Ausdruck „böse“ eher in die Ethik als in die Ontologie gehört. Vielleicht wäre es sogar besser, κακός hier mit „mangelhaft“ wiederzugeben.

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Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien

nicht Mangel an Reichtum gemeint, sondern „Mangel an Besonnenheit, Mangel an Tugend, an Schönheit, an Stärke, an Form, an Gestalt, an Qualität“.276 So stellt er die rhetorische Frage: „Wie sollte sie aber nicht unansehnlich, nicht allseits hässlich, nicht ganz und gar schlecht sein?“ (16, 24 f.) Im nächsten Satz gibt er noch einmal einen letzten sehr wichtigen Hinweis auf die obere Materie, die Materie im Ideenbereich, mit deren Beschreibung er die Abhandlung begonnen hat: „Jene Materie aber dort (ἐκεῖ) ist seiend. Denn das was vor ihr liegt, ist das, was jenseits des Seienden ist.“ (16, 25 f.) Damit ist natürlich das Höchste gemeint, das Eine, welches sozusagen der oberen Materie den Seinscharakter spendet, welchen man der unteren irdischen Materie keinesfalls zubilligen kann.277

C. Resümee: Differenzierung und Weiterentwicklung des platonischen Apeironbegriffs Nach dieser zugegebenermaßen unvollständigen, nicht alle Probleme berücksichtigenden Paraphrase der Abhandlung Plotins über die zwei Formen der Materie stellt sich für den Platoninterpreten die Frage, was man davon für die Erhellung des Apeiron im Philebos verwenden kann. Vor allem ist zu entscheiden, ob durch die von Plotin vorgenommene Zweiteilung des Materiebegriffes etwas für den Philebos zu gewinnen ist. Im Anschluss an C. J. de Vogel neige ich dazu, diese Frage im Großen und Ganzen zu bejahen. Vor allem spricht für die These, dass Plotins ZweiMaterien-Theorie für die Erhellung des platonischen Apeiron-Begriffs hilfreich ist, Folgendes: Von mehreren Kommentatoren des Philebos (besonders aber von Gosling) wurde bemerkt und bemängelt, dass Platon in den zwei ontologischen Passagen (15 a–e, der „Gabe der Götter“ und 23 c-27 c, der vierfachen Gliederung) verschiedene Prädikate für das Apeiron aussagt. Ja, es wurden sogar Widersprüche zwischen den beiden Passagen konstruiert. Nimmt man nun allerdings die plotinische Interpretation des Materiebegriffs (der ja, wie wir gesehen haben, ein Synonym für den Apeironbegriff ist) hinzu, so werden die Schwierigkeiten des platonischen Apeironbegriffs zumindest einer Auflösung näher geführt. 276  πενία μὲν φρονήσεως, πενία δὲ ἀρετῆς, κάλλους, ἰσχύος, μορφῆς, εἴδους, ποιοῦ 16, 22–24. 277  Den letzten Satz der Abhandlung lasse ich unkommentiert, da er auch korrupt zu sein scheint.



C. Resümee123

So könnte man folgende Gedanken aus Plotins Abhandlung für Platons Apeiron gewinnen, ohne die Unterschiede zwischen beiden Philosophen zu verwischen: Was ich in Kapitel 7 den quantitativen und qualitativen Aspekt des Apeiron genannt habe, wird in Plotins Abhandlung auf die zwei verschiedenen Materien verteilt: der quantitative Aspekt geht in die intelligible Materie ein, der qualitative Aspekt geht in die den Körpern zugrunde liegende Materie ein. Als Unterschied zur platonischen Lehre bleibt freilich festzuhalten, dass Platon sich – zumindest im Philebos – nicht zu einer möglichen grenzenlosen Anzahl der Ideen äußert.278 Wie schon mehrfach bemerkt, ist im Philebos der quantitative Aspekt des Apeiron, die Unendlichkeit der Anzahl, auf empirisch-sinnliche Einzelphänomene bezogen. Plotins Ansatz einer quantitativ grenzenlosen Anzahl von Ideen im Begriff der intelligiblen Materie ist also eine interessante Weiterentwicklung der im Philebos gelehrten Ontologie. Was den axiologischen Rang der plotinischen intelligiblen Materie angeht, so ist dieser natürlich viel höher einzuschätzen als der Rang des im Philebos gelehrten Apeiron, das ja, wie wir gesehen haben, die niedrigste ontologische Stufe unter den vier Genera einnimmt. Vielleicht versteht man das Entscheidende und die Neuheit dieses Gedankens besser, wenn man im Deutschen vom „unendlichen Formenreichtum“ spricht. Ist Plotins intelligible Materie möglicherweise das Bindeglied zwischen der eher negativen Auffassung des Apeiron beim Platon der Dialoge und der sehr positiven Auffassung der Unendlichkeit in der frühen Neuzeit, z. B. bei Bruno? Wie Platon selber das, was er Apeiron nannte, in seiner spätesten Phase außerhalb der Dialoge, aufgefasst hat, bleibt trotz des aristotelischen Zeugnisses (und der übrigen antiken Zeugnisse) dunkel. Jedenfalls wage ich nicht, angesichts der Schwierigkeiten nicht nur der Überlieferung, sondern auch der philosophischen Probleme an sich, ein affirmatives Urteil darüber abzugeben, ob Platon in der letzten Phase seines Philosophierens sich zu einer Revision seines im Philebos vorgestellten Apeiron gedrängt fühlte. 278  Ross und de Vogel scheinen die multiplicity der Ideen für unendlich zu halten, wenn ich sie recht verstehe. Das scheint auch aus der Metaphysikstelle der Aristoteles (Met. A 6, 987 b 19 ff.) zu folgen, wenn man für das Prinzip, welches Aristoteles das „Große-und-Kleine“ nennt (τὸ μέγα καὶ μικρόν) das Apeiron oder die intelligible Materie setzt. Das aber ist ein Schritt über den Philebos hinaus und ist, wenn man Aristoteles und den anderen antiken Zeugen, die de Vogel in ihrem Aufsatz aufführt, folgt, der mündlichen Lehre Platons zuzuschreiben.

124

Appendix: Plotins Abhandlung über die zwei Materien

Andererseits muss man sich als Interpret eines Dialogs immer auch den Zweck vergegenwärtigen, und der heißt im Philebos: Entscheidung der Streitfrage, ob die Lust vor der Vernunft oder die Vernunft vor der Lust im guten Leben Priorität genießt. Wenn man dieses bedenkt, so kann man m. E. die in diesem Dialog vorgeführte ontologische Lehre nur als ein Instrument für die Auflösung dieser Streitfrage betrachten, allerdings ein sehr grundlegendes Instrument.

Zusammenfassung einiger Hauptgedanken über das platonische Unbegrenzte im Kontext der Intention des Philebos Das Apeiron bezeichnet sowohl das quantitativ Unbegrenzte der indivi­ duellen empirischen Phänomene wie auch das qualitativ Unbestimmte und Oszillierende („Mehr und Weniger“) in den Dingen und Prozessen der sinnlich erfahrbaren Welt. Es ist in allen Lebensbereichen präsent und spielt diens des kosmischen Geschehens, sondern auch im eine wichtige Rolle. Das Apeiron ist auch eng mit Man kann zugespitzt sagen: Je stärker die Lust, desto des Apeiron.

nicht nur als Ingre­ menschlichen Leben der Lust verknüpft. größer ist der Anteil

Der Gegenbegriff zu Apeiron ist Peras: Grenze, Bestimmtheit im ontologischen Sinn. Peras ist mit dem Begriff des Maßes (Metron) korreliert. Ähnlich wie Apeiron im Bereich der Lüste, funktioniert Peras im Bereich der Wis­ senschaften und Kunstfertigkeiten (Technai): Je klarer das Peras hervortritt, desto „wissenschaftlicher“ ist eine Wissenschaft oder eine Techne. Das Zusammenspiel von Apeiron und Peras bringt die Dinge hervor, auf die es im menschlichen Leben ankommt, wie z. B. Gesundheit und Schönheit – wahrscheinlich auch die Tugenden, obgleich sie nicht eigens erwähnt werden. Für das Hervorbringen schöner Dinge ist nicht nur die Zweiheit von Apeiron und Peras – mit dem Akzent auf Peras – notwendig, sondern auch das, was Platon Aitia nennt, die Kategorie der Ursache, die ihrerseits eng mit der Vernunft verbunden ist. Daher folgt auch für die Ausgangsfrage des Dialogs, was für ein gutes Leben Priorität genieße: die Lust oder die Vernunft, dass die Vernunft den Preis davonträgt. Allerdings werden die sogenannten reinen und maßvollen Lüste, die einen nicht geringen Anteil am Peras haben, durchaus auch dem guten Leben zugeordnet. Da auch die angewandten „unreinen“ Wissenschaften ihren Beitrag zum guten Leben leisten, ergibt sich für das Apeiron: es ist nicht nur ein notwendiges Übel, sondern es ist etwas Unerlässliches im (guten) menschlichen Leben. Damit ist insgesamt eine Aufwertung der Empirie im platonischen Philosophieren bezeichnet – im Gegensatz zu den frühen und mittleren Dialogen Platons.

126 Zusammenfassung

Abschließend sei noch einmal betont, dass in der Philosophie Platons keine Trennung gemacht wird zwischen ethisch-praktischem und ontologisch-theoretischem Argumentieren. Diese Trennung ist erst von Aristoteles vollzogen worden.

Literaturverzeichnis Textausgaben Burnet, J.: Platonis Opera, Tomus I–V, Oxford 1901–1907; repr. 1961–1967 (Philebos in Bd. 2) Bywater, I.: Aristotelis Ethica Nicomachea, Oxford 1894; repr. 1962 Diels, H. / Kranz, W.: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch, Bd. 1, Dublin / Zürich 1903 (6. Aufl. 1966) Diès, A.: Platon, Oevres Complètes. Bd. 9 (Texte établi et traduit), Paris 1941 Fowler, H. N.: Philebus. Plato Bd. 3 (The Loeb Classical Library), London 1925 Harder, R.: Plotins Schriften, Bd. I a (Text und Übersetzung), Hamburg 1956 Henry, Paul / Schwyzer, H. R.: Plotini Opera, Tomus I, Enneades I–III, Oxford 1964 Ross, W. D.: Aristotle’s Metaphysics, A revised text with introduction and commentary, vol. I–II, Oxford 1924; repr. 1970 – Aristotle’s Physics, A revised text with introduction and commentary, Oxford 1936; repr. 1960 Ziegler, K.: Plutarch, Peri Mousikes, in: Moralia VI,3, Leipzig / Berlin 1965

Übersetzungen und Kommentare sowie Darstellungen der platonischen Spätphilosophie (in Auswahl) Apelt, O.: Platon Philebos, Hamburg 1922 (jetzt in: Platon, Sämtliche Dialoge, Bd. 4, Hamburg 1988) Capelle, W.: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet. Stuttgart 1968 Frede, D.: Platon Philebos, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1997 Gauss, H.: Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platos III, 2 (Die Spätdialoge Philebus, Timaeus, Critias und Gesetze), Bern 1961 Gosling, J. C. B.: Plato Philebus, translated with Introduction and Notes, Indiana­ polis 1993 Guthrie, W. K. C.: A History of Greek Philosophy, vol. V: The later Plato and the Academy (Philebus 197–240), Cambridge 1978 (repr. 1989) Hackforth, R.: Plato’s Philebus, translated with an Introduction and Commentary, Cambridge 1945 (repr. 1972)

128 Literaturverzeichnis v. Kutschera, F.: Platons Philosophie III. Die späten Dialoge, Paderborn 2002 Schleiermacher, F.: Philebos (Platon, Sämtliche Werke Bd. 3 nach der Übers. von F. Schleiermacher und H. Müller, neu herausgegeben von U. Wolf, Hamburg 2010 Slezák, Th. A.: Aristoteles Metaphysik (Übersetzung mit Einleitung), Berlin 2003 Taylor, A. E.: Philebus and Epinomis, London 1956 Waterfield, R. A. H.: Plato Philebus, translated with Introduction, Harmondworth 1982

Monographien und Aufsätze Ackrill, J. L.: In Defense of Platonic Division, in: O. Wood / G. Pitcher (Hg.), Ryle – A Collection of Critical Essays, New York 1970, 373–392 Allen, R. E. (Hrsg.): Studies in Plato’s Metaphysics, London 1968 Anscombe, G. E. M.: The New Theory of Forms: The Monist 50, 1966, 21–33 Apelt, O.: Zu Platons Philebos: Jahrbücher für Classische Philologie 147, 1883, 283–288 Barker, A.: Greek Musical Writings (2 Bd.), Cambridge 1987, 1989 Beierwaltes, W.: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, Frankfurt / M. 1991 Benitez, E. E.: Forms in Plato’s Philebus, Assen 1989 Blumenberg, H.: Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen (1956); jetzt in: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1999 Cherniss, H. F.: Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy, Baltimore 1944 Cornford, F. M.: Plato’s Theory of Knowledge, London 1949 – Plato’s Cosmology, London 1937 (1956) Davidson, D.: Plato’s Philebus. Harvard Dissertation in Philosophy (1949) New York 1990 Davis, P. J.: The Fourfold Classification in Plato’s Philebus. Apeiron 13, 1979, 124–134 Failla, M.: H. G. Gadamer als Platon-Interpret: Die Musik, Frankfurt 2009 Ferber, R.: Platos Idee des Guten, St. Augustin 1989 Findlay, J. N.: Plato: The Written and Unwritten Doctrines, New York 1974 – Plato und der Platonismus. Eine Einführung, Königstein / Ts. 1981 Frede, D.: Rumpelstiltskin’s Pleasures: True and False Pleasures in Plato’s Philebus: Phronesis 30, 1985, 151–180 – Disintegration and Restoration. Pleasure and Pain in Plato’s Philebus, in: The Cambridge Companion to Plato, (hg.) R. Kraut, Cambridge 1992, 425–463 Gadamer, H. G.: Platos dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie, Hamburg 1968 (ursprünglich Leipzig 1931)

Literaturverzeichnis129 – Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), in: Plato im Dialog. Gesammelte Werke, Bd. 7, Tübingen 1991, 128–227 – Plato als Porträtist (1988), ebenda 228–257 Gaiser, K.: Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1968 Gosling, J. C. B.: Pleasure and Desire, Oxford 1969 Hampton, C.: Pleasure, Truth and Being in Plato’s Philebus: A Reply to Prof. Frede. Phronesis 32, 1987, 252–62 – Plato’s Late Ontology: A Riddle Unresolved: Ancient Philosophy 8, 1988, 105– 116 – Pleasure, Knowledge and Being: An Analysis of Plato’s Philebus, Albany 1990 Kolb, D.: Pythagoras Bound: Limit and Unlimited in Plato’s Philebus: Journal of the History of Philosophy 21, 1983, 497–511 Krämer, H. J.: Arete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg 1958 McGinley, J.: The Doctrine of the Good in the Philebus. Apeiron 11, 1977, 25–57 Mouroutsou, G.: Die Metapher der Mischung in den platonischen Dialogen Sophistes und Philebos, Sankt Augustin 2010 Natorp, P.: Platons Ideenlehre: Eine Einführung in den Idealismus, Leipzig 1921 Reale, G.: Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der großen Dia­loge im Licht der „ungeschriebenen Lehre“ (übers. L. Hölscher), Paderborn 1993 Richter, L.: Zur Wissenschaftslehre von der Musik bei Platon und Aristoteles, Berlin 1961 Ross, W. D.: Plato’s Theory of Ideas, Oxford 1951 Sayre, K.: Plato’s Late Ontology: A Riddle Resolved, Princeton 1983 Scheffel, W.: Aspekte der platonischen Kosmologie. Untersuchungen zum Dialog Timaios, Leiden 1976 de Vogel, C. J.: La théorie de l’apeiron chez Platon et dans la tradition platonicienne. Revue Philosophique de la France et de l’Étranger 149, 1959, 21–39 van der Waerden, L.: Die Harmonielehre der Pythagoreer: Hermes 78, 1943, 163– 199 Waterfield, R. A. H.: The Place of the Philebus in Plato’s Dialogues: Phronesis 25, 1980, 270–305 West, M. L.: Ancient Greek Music, Oxford 1992 Wieland, W.: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982 Wippern, J. (Hrsg.): Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Beiträge zum Verständnis der platonischen Prinzipienphilosophie, Darmstadt 1972 Zellini, P.: Eine kurze Geschichte der Unendlichkeit, München 2010

Sachverzeichnis Auf eine Seitenzahlnennung bei den passim erscheinenden Begriffen Apeiron, Peras (Grenze), sowie Genos (Gattung) und deren Ableitungen wurde verzichtet. Aporie  17, 31 Atomist  9, 112 ff. Corpus Hippocraticum  59 Demiurg  43, 52 ff., 61, 114 – Demiurgische Ursache (demiurgisches Prinzip, schöpferisches Prinzip)  52, 57, 66, 100, 113 Dialektik  14, 20, 77 ff., 84 ff. – Dichotomie  20, 84, 87 – Dihairesis (Dihärese, dihäretische Methode)  16, 20, 104 f. Ethik  14, 39, 50, 59, 101, 121 Gabe der Götter  10, 12, 15, 18, 19 ff., 30, 53, 75, 77, 104 f., 122 Gut, das; Güter  11, 14, 16, 50, 72, 95 ff., 107, 110, 121 Ideenlehre  11, 17, 33, 35, 45, 50, 61 ff., 67, 86, 109 – Chorismos  86 f. – das Eine (bei Plotin)  16, 26, 62, 112, 120, 122 – Einheit  16 ff., 22 ff., 77, 111 – Gestalt  19 ff., 35, 52, 65, 73, 102, 104, 110 ff., 122 – Höhlengleichnis  32, 86, 89 – Idee (Eidos, Idea)  16 ff., 29, 35, 39 f., 45, 49, 61 ff., 69, 77 f., 85 ff., 93, 104, 110 ff., 123 – Idee des Guten  50, 63, 88, 90, 93, 95, 97, 100

– Ideenbereich  21, 63, 79, 83, 86, 122 – Ideenkosmos  62, 65, 81 – Ideensphäre  89, 97 – Ideenstatus 18 – Liniengleichnis  32, 86 – Methexis (Teilhabe)  17 f., 63 – Problem des Einen und Vielen  (Eines und Vieles)  16 ff., 33, 110 – Sonnengleichnis  95 Lust (Lüste, Hedone, Hedonai)  10 f., 13, 30 f., 37, 47, 50, 53, 67, 68 ff., 88, 90, 93 ff. – kummerlose Freude  103 – reine, maßvolle Lust  14, 68 ff., 88, 93, 102, 125 – unreine, heftige Lust  14, 68 f., 73, 90 f., 98, 99, 102 f. – starke Lüste  94 f. Maß (Metron)  14, 35, 42 f., 50, 69 – maßvoll  34, 36, 47, 59, 70, 73 – Symmetrie, symmetrisch  36, 45 f., 56, 59 f., 92 f., 96 ff., 101 Materie (Hyle)  47, 62 ff., 109 ff. – intelligible M.  109 ff., 123 – körperliche M.  112 ff. – Zwei-Materien-Theorie  121 f. Mathematik  60, 75 ff., 80, 83, 87, 107 f. – Arithmetik (arithmetisch)  43, 75 ff., 107 f. – Geometrie (geometrisch)  43, 77, 80, 87, 103, 107 – Infinitesimalrechnung  9

Sachverzeichnis131 – Mathematisch  26, 43, 75, 80, 83, 86 f., 89, 103 – Zahl  16 ff., 22 ff., 30, 35 ff., 42 ff., 52, 63, 75, 80, 82, 86, 104 ff., 113, 119 Mischung des guten Lebens  88 ff. – das gute Leben (gemischtes Leben)  88, 92, 95, 97, 104 Musik  23 ff., 36, 47, 75, 79, 89, 101 – Harmonie  25, 50 – Intervalle  24 f., 56, 67, 73, 75, 106 – Musikbeispiel  24, 29, 67, 106 – musikkundig  23, 25, 75 – pythagoreische Musiktheorie  24 – Rhythmus  96, 101 – Theorie der Metren  26 Nomos  48 Ontologie, ontologisch  10 ff., 30 f., 39, 50 f., 53, 58, 62 ff., 74 f., 86, 95 f., 101, 105, 107, 121 ff. – Einzelding  21 f., 111 ff. – Einzelerscheinung, einzelnes Phänomen  26, 29, 77, 79, 123 – empirisches Phänomen  26, 29, 66, 79, 85, 107, 123, 125 – Gemischtes  35, 44 ff., 50, 53 f., 66, 69, 76, 87 f., 95 f., 99, 114, 118 – Immer-Seiendes  21, 78, 84, 112 – irdisches Phänomen  79, 85 – Sein, Seiendes  20 f., 30 ff., 34, 39 ff., 50, 53 f., 57, 61 ff., 70 ff., 84, 94 f., 99 ff., 114 ff., 121 – sinnlicher Gegenstand, sinnliches Ding  16, 63, 86 – Ursache (Aitia)  33, 38, 40, 50 ff., 57 ff., 66, 74, 93, 96, 99 f., 102, 113, 125 – Vierfache Gliederung (alles Seienden)  30 ff., 53, 57, 90, 99 ff., 105 – Werden, Werdendes  16 ff., 37 f., 50 f., 72 ff., 79, 84 f., 94, 112 – Werden zum Sein   37, 48 ff., 73 f. Pythagoreer  47, 52, 56, 107

Schönheit  37, 47, 66 f., 91 ff., 101, 103, 122, 125 – Schönes  96 f., 101, 106 Sprache  12 – Alphabet  12, 28 – Grammatik  23, 28, 75 – Sprachkundig  23 – Theuth-Mythos  22 f., 27 ff., 106 Taxis  48 Theologie  48 Tugend  47, 59, 66, 73 f., 87, 122, 125 Ungeschriebene Lehre (mündliche Lehre)  15, 67, 117, 123 Universum  9 Vernunft (Geist, Nous)  27, 30 f., 39, 43, 53, 57, 68, 72, 75, 79, 85, 88 ff., 93 ff., 104, 110 f., 124 – Einsicht (Besonnenheit, Phronesis)  25, 31, 53, 55, 68, 73, 88, 90 f., 94, 96 f., 99, 101, 122 Vorsokratiker  9, 58 Wahrheit  78 f., 84 ff., 91 ff., 96, 107 Wissenschaften und Künste  75 ff., 89, 97, 100, 102, 107 – Baukunst  76 f., 80, 102 – Hierarchie der Wissenschaften  14, 80 – Kunst (Techne)  19 ff., 26, 29, 75 ff., 100, 125 – Landwirtschaft  57, 76, 81 – Medizin  46, 60, 76, 80 f. – Messkunst  75 ff., 81 – Steuermannskunst  76, 81 f. – Strategische Kunst (Strategik)  80 ff. – Wägekunst (Wiegekunst)  75 f., 81 – Wissenschaft  27 f., 58, 60, 65, 75 ff., 89 ff., 107, 125 Zahl  16 ff., 30, 35, 42 f., 46 f., 52, 63, 75, 82, 86, 104 ff., 113 f., 119