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German Pages 143 [144] Year 2019
Das schweigende Tier Sprachphilosophie und Ethologie Dirk Westerkamp
Meiner
Dirk Westerkamp
Das schweigende Tier Sprachphilosophie und Ethologie
Meiner
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3700-2 ISBN eBook: 978-3-7873-3701-9
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INHALT
Einleitung 7
◊
I · Das Tier, das Sprache hat 9 ( animal symbolicum )
1 · Unvergleichbarkeit 9 2 · Negativität 11 3 · Symbolreflexivität 14 4 · Differentialität 18 5 · Rekursivität 21 6 · Referentialität 23 7 · Inferentialität 26 8 · Simplizität 29 9 · Komplexität 33 ◊
II · Tiere, die kommunizieren 37 ( animalia communicantia )
10 · Intentionalität 37 11 · Mentalese 42 12 · Metabewusstsein 45 13 · Signalkommunikation 47 14 · Sprechmimesis 50 15 · Funktionsreferenz 55 16 · Eigennamen 57 17 · Vokalisierung 61 18 · Multiperspektivität 63 19 · Begriffsbildung 68 20 · Sagazität 72 ◊
III · Das Tier, das einbildet 77 ( homo pictor )
21 · Bildlichkeit 77 22 · Nachbildungskraft 82 23 · Spontaneität 84 24 · Nichtung 88 25 · Mediasphären 92 26 · Metaphorizität 95 27 · Bedeutungssynthesis 98 28 · Selbstbewusstsein 100 29 · Wir-Intentionalität 104 ◊
IV · Das Tier, das nicht spricht 109 ( homo silens )
30 · Sprachgrenzen 109 31 · Schweigen 111 32 · Leerzeichen 114 33 · Stille 117 34 · Entsagen 120 35 · Nichtsagen 123 36 · Entsprechen 126 ◊ Literaturverzeichnis 129 Sachregister 141
6 | Inhalt
EINLEITUNG
D
as Subjekt, sagt Lacan, sei ein »Leibeigener«1 der Sprache. Sie gehört nicht uns, wir gehören ihr. Subjektivität ist von Sprache, nicht diese von jener abhängig. Eine Übertreibung, vielleicht; doch bleiben wir der Sprache in dem Maße vereignet, in dem sie uns zuletzt auch das noch begreifen lässt, was selbst nicht sprachlicher Natur ist. Was wir in dieser Weise verbegrifflichen, wird in seiner Versprachlichung evidenterweise immer schon vermenschlicht. Anthropomorphisierende Sprechweisen und Beschreibungssprachen sind unhintergehbar. Allerdings sind sie auch der eigenen Reflexion und Überprüfung fähig. Dank ihrer inneren Mehr- und Metasprachlichkeit sind natürliche Sprachen jederzeit in der Lage, anthropomorphisierende Redeweisen an sich selbst zu durchschauen, zu erkennen, zur Sprache zu bringen. Im Ganzen bleibt das »Vorhaben, Anthropomorphismus zu vermeiden […] ähnlich absurd wie der Vorschlag, wir sollten einen voraussetzungslosen Blick auf uns selbst werfen, indem wir aus unserer Haut springen«.2 Gegenwärtig scheint dieser Sprung für einen Bereich reklamiert zu werden, der bislang für genuin menschlich und daher für anthropomorphismus-unverdächtig gehalten werden durfte: die Sprache. Vereinnahmt wird ihr Begriff einerseits von einer Robotik, die alle Hände voll zu tun hat, informationsverarbeitenden Systemen das »Sprechen«, »Denken« und »Fühlen« beizubringen. Vindiziert wird sie andererseits von einer Tierverhaltensforschung (Ethologie), die in ihrer rasanten Entwicklung der vergangenen Jahre bedeutende Erkenntnisse gewonnen hat, nicht zuletzt im Bereich der Tierkommunikation. Doch tragen viele ihrer Studien einen aus sprachphilosophischer Perspektive unterkomplexen Sprachbegriff an die Untersuchungsgegenstände
J. Lacan, Écrits I, Paris 1966, 492. Vgl. zum Problem im Ganzen: R. Becker, Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus, Frankfurt/M. 2011, ebd., 13, auch das Schiller-Zitat. 1 2
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heran, um im selben Atemzug überzogene und anthropomorphistische Behauptungen über Sprache und Kultur, über Moral und Denken »der« Tiere aufzustellen. Daraus folgt ein eigentümlicher Chiasmus: In dem Maße, wie Denken und Sprechen deanthropomorphisiert werden, scheint dieser Diskurs den Leibeigenen der Sprache ihr genuines Ausdrucksmedium zu enteignen. Das Buch kritisiert die ethologische façon de parler dort, wo sie einem undifferenzierten Begriff von Sprache aufsitzt. Eröffnet wird es deshalb von einer skizzenhaften Philosophie der natürlichen Sprache, die zur Orientierung vielleicht auch anderer Disziplinen dienen könnte. Im Gegenzug greifen die sprachphilosophischen Überlegungen Ergebnisse der jüngeren ethologischen Debatten auf. Dies in der Absicht, den eigenen Sprachbegriff wenn nicht zu revidieren, so doch zu präzisieren. Entsprechend gliedert sich die Untersuchung in vier Teile. Sie umreißt einen unreduzierten Begriff der natürlichen Sprache (I.), geht (wenngleich nicht streng entlang einer scala naturae) verschiedene Formen animalischer Kommunikation durch (II.), untersucht jene Wechselwirkung von Sprache und Einbildungskraft, die natürlichen Sprachen eigen ist (III.), um im Schweigen den vielleicht neuralgischen Punkt menschlichen Symbol-, Vorstellungs- und Sprachvermögens aufzusuchen (IV.).3 Absicht der Studie ist eine sprachphilosophische Klärung, keine anthropologische, geschweige denn ontologische Grundlegung. Ihre übergreifende Prämisse besteht gleichwohl darin, dass sich die symbolisch-einbildungskräftige Vernunft des Menschen sowohl von der natürlichen Intelligenz anderer Spezies als auch von der künstlichen Intelligenz informationsverarbeitender Systeme unterscheidet.
Für zahlreiche Hinweise und Einwände zum Sachgebiet des Kapitels II danke ich Yogi H. Hendlin, Matthias Wunsch, Heike K. Behnke, Ralf Becker und Kristian Köchy, für kritische Anmerkungen zum Kapitel IV Katia Hansen und Markus Hundt. Gedankt sei dem Karl Alber Verlag (Freiburg/München) für die Erlaubnis zur Wiederverwendung bereits veröffentlichter Textpassagen in den ersten beiden Kapiteln. 3
8 | Einleitung
I
DAS TIER, DAS SPR ACHE HAT ( animal symbolicum )
1 · Unvergleichbarkeit
Der Mensch ist nicht das einzige Tier, das spricht. Darüber belehren uns neuere Studien der Ethologie eindrucksvoll. Sprechen scheint kein Alleinstellungsmerkmal, kein Privileg einer Gattung im biologischen Sinn.1 Sprechende Spezies sperren sich eindimensionaler Taxonormierung: Schimpansen sprechen, Orang-Utans kaum; Vögel sind Sprechkünstler, Katzen nicht. Innerhalb der nicht nur kommunizierenden, sondern auch sprechenden Spezies allerdings scheint die menschliche Sprache (in ihrem Ensemble von langage, langue, parôle und idiôme) ein evolutionärer Sonderfall.2 Wir sprechen nicht nur, sondern haben eine Sprache; wir gebrauchen sie nicht nur, sondern verändern sie nach selbstgewählten Regeln. Keine andere Kommunikationsart scheint ähnlich differenzierte Formen symbolischer Repräsentation ausgebildet zu haben. Menschliche Normalsprachen sind semiotisch differentiell, syntaktisch rekursiv, semantisch reflexiv und pragmatisch inferentiell verfasst. Keine andere Kommunikationsart übersteigt sich selbst zu etwas, das mehr ist als Informationsaustausch. Keine andere hat ähnlich verschachtelte Formen der Diskursivität entwickelt. Was dieser Umstand für komparative Studien innerhalb der Schnittfläche von Ethologie, Sprach- und Kulturwissenschaft oder, enger gefasst, für den Diskurs zwischen Sprach-, Kultur- und Tierphilosophie bedeutet – und ob er die Frage nicht nur nach dem einen
A. Liberman, Speech: A Special Code, Cambridge/Mass. 1996. T. W. Deacon, The Symbolic Species: The Co-Evolution of Language and the Brain, New York 1997, 31–34; M. D. Hauser, N. Chomsky, W. T. Fitch, The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?, in: Science 298 (2002), 1569–1579; 1570; J. R. Hurford, The Origins of Meaning. Language in the Light of Evolution, Oxford 2007. 1 2
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animal symbolicum, sondern möglicherweise auch nach weiteren animalia symbolica erlaubt –, ist das Thema dieser Studie. Es scheint deshalb sinnvoll, zunächst den Begriff des Sprechens und der Sprache genauer zu bestimmen. Dies nicht mit dem Ziel, Sprache als die entscheidende anthropologische Differenz zu behaupten, sondern in der kritischen Absicht, die Verwendungsweise des Begriffs »Sprache« in der ethologischen Fachforschung zu präzisieren, die meist der anthropomorphistischen Verlockung nicht widerstehen kann, die jeweils untersuchte Tierkommunikationsform mit der spätevolutionären Sonderstellung menschlicher Sprache(n) zu vergleichen. Differenz, zumal als »anthropologische«, kann es jedoch schon aus logisch-semantischen Gründen nur dort geben, wo das Differente in Bezug auf eine ihnen gemeinsame Einheit überhaupt als Unterschiedenes fassbar wird. Wäre »Sprache« dieser allgemeine Beziehungsgrund für höchst verschiedene Arten von Kommunikation, dann gäbe es schlicht keine Comparanda, die miteinander verglichen und darin voneinander unterschieden werden könnten. In einem solchen Ranking bliebe die symbolische Reflexivität menschlicher Sprachen schlicht unter sich – inkommensurabel. Wäre allerdings »Kommunikation« die Gattung, unter die Sprache (und Schweigen) subordiniert würden, dann würde man die Sprache zu einer Kommunikationsform unter anderen herabsetzen. Dem Eigensinn natürlicher Sprachen würde dies nicht gerecht. Als anthropologische Differenz für einen natursystematischen Begriff des Menschen ist die Sprache untauglich. Fruchtbar bleibt sie aber für einen kultursystematischen Begriff vom Menschen.3 Denn dieser reflektiert nicht allein auf evolutionäre, morphologische oder genetische Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit anderen Spezies, sondern auf unser kulturelles Selbstverständnis. Dieses gewinnen wir heute, geschichtlich aufgeklärt und daher skeptisch gegenüber vermeintlichen anthropologischen Invarianten, vor allem per negationem: indem wir sagen, was wir nicht sind oder nicht sein wollen. Diese Negativität führt auf das Moment des radikal Unrealistischen alles Kontrafaktischen, Potentiellen Zu Schelers Differenz zwischen dem natursystematischen Begriff und dem Wesensbegriff des Menschen vgl. R. Becker, Mensch, in: Naturphilosophie. Ein Lehr und Studienbuch, hrsg. von Thomas Kirchoff u. a., Tübingen 2017, 165–170. 3
10 | Das Tier, das Sprache hat
und Irrealen, das sich einzig mit den synthetischen Vermögen reicher sprachlicher Innenwelten erfassen lässt: mit dem Vermögen zum Imaginären. An dieser Negativität partizipiert zuletzt auch das Schweigen der Sprache. Weder linguistisch noch anthropologisch scheint diese Bedeutung des Entsagens bislang angemessen berücksichtigt. 2 · Negativität
Versteht man Sprechen nicht schon als elaborierten Sprechakt, sondern zunächst schlicht als ein Äußern, Vernehmen und Austauschen von Lautzeichen, so lassen sich systematische Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einem ersten Schritt auf organisch-physiologische Differenzen zurückführen. So galt etwa die Stellung des Larynx, des die Luft- von der Speiseröhre trennenden Verschlussknorpels (Kehlkopf), lange Zeit als physiologische Hauptvoraussetzung variabler Lautproduktion.4 Der menschliche Larynx sitzt weit tiefer als etwa die Laryngen der Schimpansen. Seine Absenkung datiert phylogenetisch auf die Frühentwicklung des Homo sapiens vor 300 000 Jahren; sie wiederholt sich ontogenetisch bei 18 Monate alten Kindern und schließt mit der Pubertät ab. Das lässt Schlüsse auf die evolutionäre Wechselwirkung von Larynxentwicklung und Sprachevolution zu, die allerdings nicht unumstritten, geschweige denn zwingend sind. Phonetisch jedenfalls erlaubt die Entwicklung eine beträchtliche Erweiterung des Lautspektrums und unterstützt die Kontrolle von Konsonanten wie /k/, /p/, /t/, /d/, die auf raschem Wechselspiel von labialer und dentaler Lautproduktion beruhen. Bei Vögeln etwa erhält der Larynx nur eine Funktion im Atemvorgang, während für die Stimmbildung der untere Kehlkopf, die Syrinx, verantwortlich ist. Mag umstritten sein, ob die Absenkung des Larynx nun spezifisch humanoid und damit verantwortlich für die Revolution lautsprachlicher Elemente war,5 so ging doch – so die anthropolinguistische Standarderzählung – die zunehmende Fülle differenzierter Vgl. P. Lieberman, Uniquely Human, Cambridge/London 1991; B. G. Campbell, Entwicklung zum Menschen, Stuttgart/New York 1972, 384–386. 5 Dagegen: W. T. Fitch und D. Reby, The Decended Larynx is not Uniquely Human, in: Proceedings of the Royal Society London B 268 (2001), 1669–1675. 4
Negativität | 11
Laute, vor allem aber die »doppelte Artikulation«6 von Phonemen und Morphemen als Kombination komplexer Lautverbindungen aus einer recht begrenzten Menge einfacher Laute Hand in Hand mit der Entwicklung größerer Gehirne.7 Terrence Deacons Begriff der »Koevolution«8 von Sprache und Gehirn trägt dem Umstand Rechnung, dass sich Gehirn- und Sprachentwicklung wechselseitig rückkoppeln, also nicht im Sinne eines chronologisch Ersten und Zweiten getrennt werden können. Offensichtlich beansprucht schon die Sprechkoordination erhebliche Ressourcen des Motorcortex. Im Fall des primären motorischen Cortex des Menschen gelten ein Drittel seiner gesamten Aktivitäten der Koordination und Kontrolle von Mund, Zunge, Gesicht und Rachen; bei Primaten sind es ungefähr zehn Prozent.9 Viel spricht dafür, dass die Bildung von Syntagmen, von Lautsequenzen und Zeichenketten, die sich zeitlich und räumlich ausdehnen,10 kognitive Ressourcen mobilisierte, in deren Verausgabung die Sprache als »parasitäres« System solche Hirnfunktionen usurpieren musste,11 die zuvor allein der basalen motorischen Koordination galten.12 Spätestens seit klar scheint, dass auch Schimpansen über das verfügen, was in der linken menschlichen Großhirnrinde als die Sprachzentren des Broca- und des Wernicke-Areals identifizierbar sind,13 müssen Sprachverständnis und Sprachproduktion des Menschen als neurophysiologisch noch weit stärker vernetzt begriffen werden als bisher bereits angenommen. A. Ellgård, Om det mänliska språkets ursprung, in: KVHAAs årsbok 1979, 131–148; zit. nach P. Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, Oxford 2004, 169. 7 Vgl. Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, 169. 8 Deacon, The Symbolic Species, 401. 9 Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, 168. 10 Vgl. R. Barthes, Elemente der Semiologie, Frankfurt/M. 1981, 41. 11 Vgl. E. Bates, Language in Context, New York 1976. 12 Vgl. M. C. Corballis, From Hand to Mouth: The Origins of Language, Princeton 2002; vgl. ders., The Gestural Origins of Language, in: The American Scientist 87 (1999), 139–145; 144–145. 13 C. Cantalupo und W. D. Hopkins, Asymmetric Broca’s Area in Great Apes, in: Nature 414 (2001), 505; P. Gannon, R. L. Holloway, D. C. Broadfield, A. R. Braun, Asymmetry of Chimpanzee Planum Temporale: Humanlike Pattern of Wernicke’s Brain Language Area Homolog, in: Science 279 (1998), 220– 222. 6
12 | Das Tier, das Sprache hat
Vieles wäre einer möglichen Liste physiologischer Differenzen hinzuzufügen, die die Sprechfunktionen unterschiedlicher Spezies auf ihre evolutionäre und physiologische Entwicklung beziehen – und wie alle empirischen Befunde oft auch anders interpretiert werden können. Sprach-, kultur- und tierphilosophisch relevanter ist deshalb eine andere, nichtphysiologische, weil systematische Differenz: das willkürliche Nichtsprechen. So wie alle Formen der Negation und des Neinsagens (die nicht schon identisch sind mit dem Zurückweisen, Ablehnen oder Verweigern von etwas) bereits auf einer entwickelten, symbolisch-reflexiven Normalsprache beruhen, so ist auch das bewusste Verharren in der Grenze der Sprache nur auf deren eigenem Boden möglich. Diese Grenze des Sprechens liegt im Schweigen. Wir wissen bislang von keiner anderen Spezies, die nicht nur unwillkürlich verstummt, sondern auch bewusst schweigt. Sich dem Sprechen intentional zu verweigern, um etwas Unsagbares zu zeigen, impliziert einen Akt der Negation. Verneinung aber ist unhintergehbar sprachabhängig.14 Der Hund mag ahnen, dass sein Herrchen vor der Tür steht; aber ist er auch des »Gedankens« fähig, dass sein Herrchen nicht vor der Tür steht, sondern der Bankdirektor?15 Negation indiziert eine Weite des gedanklichen Horizonts, die mit der Fähigkeit und Freiheit zusammenhängt, Anderes: Kontrafaktisches, Negativ-Existentiales, Unmögliches, Widersprüchliches zu denken. Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht spricht. Bewusst nicht zu sprechen, schließt eine Reflexion über die Gründe des Schweigens ein; es impliziert die intentionale Negation des Sprechens. Negation ist entscheidendes Moment sowohl des Wahr-Nehmens als auch des Vorausschauens und Planens. Zwischen dem Wahrnehmungsgehalt von »ein Tier kauert dort« und »es ist ein Tier, aber kein Busch, das da drüben steht« liegt die Differenz einer Negation, die den Unterschied der genaueren Einsicht macht.16 Auch Planungsszenarien, die – anders etwa als die Vorratshaltung von Eich Vgl. N. Malcolm, Thoughtless Brutes, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Society 46 (1972/73), 5–20. 15 Vgl. H.-J. Glock, Animals, Thoughts, and Concepts, in: Synthese 123 (2000), 35–64; 40. 16 Vgl. H. Jonas, Organismus und Freiheit, in: Kritische Gesamtausgabe I/I, hrsg. von D. Böhler, W. Ch. Zimmerli, Darmstadt 2009, 308–312. 14
Negativität | 13
hörnchen – nicht biologisch programmiert sind oder die – wie bei Schimpansen17 – über ein rudimentäres »anticipatory planning«18 nicht hinausgehen (weil sie vielleicht noch den nächsten, nicht aber auch noch den übernächsten Schritt antizipieren), erfordern beträchtliche imaginative Fähigkeiten des Durchspielens faktischer und kontrafaktischer Bedingungen. Beide verlangen nach Imagination und Kooperation im Angesicht »situationsunabhängiger Zielsetzungen« (detached goals).19
3 · Symbolreflexivität
Die Ethologie ist eine empirisch höchst differenzierte, aber terminologisch zuweilen noch unbedarfte Versammlung einzelner Forschungszweige. Elaborierte Erhebungsverfahren paaren sich mit begrifflicher Nachlässigkeit – wozu auch die Unübersichtlichkeit der Gegenstandsbereiche beitragen mag. Als Muster kristallisiert sich ein ethologischer Fehlschluss heraus, der naturale Teilaspekte zu einem ontologischen Ganzen hypostasiert. »Kommunikation« wird gleichbedeutend mit »Sprache«, rudimentärste Sozialformen werden unbesorgt als »Kulturen« gefasst. So faszinierend die Ergebnisse der Tierverhaltensforschung im Einzelnen sind, so unbestimmt ist der allgemeine Begriff von Sprache, mit dem viele ihrer Disziplinen operieren, ohne zu zögern, ihn umschweiflos an die Untersuchungsgegenstände heranzutragen. Dieser Achtlosigkeit begegnen zu können, soll Aufgabe der im Folgenden skizzierten Philosophie der normalen Sprache sein. Daher wird es zunächst darum gehen müssen, näher zu bestimmen, worin der Wesenskern natürlicher Sprachen besteht. Natürliche Sprachen sind ein Sonderweg in der Evolution. So unwahrscheinlich es war, dass es sie geben konnte, so notwendig und funktional erscheint zugleich ihre Existenz. Das zeigt sich Vgl. S. Boysen und G. Bernston, Responses to Quantity: Perceptual versus cognitive Mechanisms in Chimpanzees (Pan troglodytes), in: Journal of Experimental Psychology and Animal Behaviour Processes 21 (1995), 82–86. 18 A. Gulz, The Planning of Action as Cognitive and Biological Phenomenon, Lund 1991. 19 Vgl. Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, 177–178. 17
14 | Das Tier, das Sprache hat
auch in dem Rätsel, dass es keine einfachen, nicht-symbolischen menschlichen Sprachen gibt. Ein philosophisch anspruchsvoller Begriff der natürlichen Sprache(n) müsste genauer unterscheiden nicht nur zwischen Code-Kommunikation und Sprechen, sondern auch zwischen Sprechen und Sprache. Erst aus dieser Differenzierung kann dann auch die Bedeutung des Schweigens ermessen werden, das als Symbolhandlung, die nur in natürlichen menschlichen Sprachen vorkommt, selbst im Zentrum der Sprache steht. Einzig die Symbolhandlungen von Sprechen, Sprache und Schweigen und die durch sie allererst möglichen, wenngleich nicht selbst von Haus aus sprachförmigen Techniken vermögen so etwas wie »Kultur« hervorzubringen. Denken ist radikal sprachabhängig und Kultur nur möglich auf dem Boden natürlicher Sprachen, ihrer Schrift und der durch sie informierten Handlungen. Kultur und Geschichte, bemerkt Schiller, sind ohne Sprache und Schrift nicht denkbar: »daher sind alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die Weltgeschichte so gut als verloren«20. Nicht alles in unserer Kultur ist Sprache (z. B. das Papier dieses Buches nicht), aber ohne Sprache ist alles Kulturelle nichts (dieses Papier wäre nicht hier, man bräuchte es auch gar nicht). Natürliche Sprachen sind in einem präzisen Sinne symbolischreflexiv.21 Darunter ist eine Diskursivität zu verstehen, die fast beiläufig einem systematischen Geviert von semiotischer Differentialität, syntaktischer Rekursivität, semantischer Referentialität und pragmatischer Inferentialität entspringt. Die Mitte dieser Vierung verweist auf die selber noch sprachliche Grenze der Sprache selbst, auf die bestimmte Negativität des Schweigens. An ihr bricht auch die Selbsttransparenz der Sprache auf; zugleich zeigt sich ihre interne Metasprachlichkeit: Natürliche Sprachen (und ihre Verschriftung) können jederzeit nicht nur auf Nichtsprachliches, sondern eben auch auf natürliche, künstliche oder formale Sprachen selbst Bezug nehmen. Im mühelosen Bezug auf andere Objektsprachen wird an der normalen Sprache als der einzigen universalen Meta F. Schiller, Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789), in: Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, Darmstadt 1980, Bd. IV, 761. 21 Vgl. D. Westerkamp, Sachen und Sätze. Untersuchungen zur symbolischen Reflexion der Sprache, Hamburg 2014, 11–36. 20
Symbolreflexivität | 15
sprache überhaupt erst deren alltägliche Selbsttransparenz ansichtig. Aufmerksam wird man auf Sprache in der Regel erst dann, wenn sie stockt, misslingt, nicht das Nötige auszudrücken vermag. Auch im Schweigen wird diese Selbsttransparenz der Sprache an deren eigener Grenze auffällig. Sich dem Sprechen aus Gründen zu verweigern, um etwas Unsagbares nicht zu sagen, erfordert einen Akt der Negation. Negation eröffnet eine Weite des gedanklichen Horizonts, die mit der Freiheitsfähigkeit zusammenhängt, Anderes und anders zu denken. Gedanken (nicht etwa schon Wahrnehmungen oder Vorstellungen) sind Negations- und damit sprachabhängig. Sie entspringen den propositionalen und prozeduralen Möglichkeiten des Gevierts symbolisch-reflexiver Normalsprachen. Denken (im Unterschied zu fühlen, wahrnehmen und vorstellen) können sensu stricto deshalb nur solche Tiere, die situationsunabhängige, aber sprach abhängige Sachverhalte zu formulieren imstande sind: (1) »Wenn ich gewusst hätte, in welche Geschichte ich mich verstricken würde, wäre ich davongelaufen.« (Baghira im DisneyFilm Dschungelbuch) (2) »Dieses Buch sollte eigentlich gar keines werden.«22 (M. Theunissen) (3) »die drei lustigen Zwei« (Helge Schneider) (4) »Relativsätze gibt es ebenso wenig wie Gespenster.« Solche Gedanken sind komplexe, ipsoflexive mentale Operationen, die ohne Sprache nicht aufgefasst, repräsentiert oder geäußert, mit einem Wort: nicht gedacht werden können. Nichts an den angeführten Sätzen ließe sich durch Zeigen auf Gegenstände oder Personen verständlich machen. Das hat mit der Zeit und Art, mit Tempus und Modus von Gedanken zu tun. Sie verlangen nach Formulierung durch eine besonders flexible Art von Zeichen. Während situationsgebundene Signale durch die Situation auch die Art der Reaktion festlegen, stehen situationsunabhängige Symbole für Gegenstände oder Ereignisse, die weder anwesend noch durch eine unmittelbare Situation ausgelöst sind. M. Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt/M. 1978, 9. 22
16 | Das Tier, das Sprache hat
Die Diskursivität normaler Sprachen beruht auf einem komplexen Zusammenspiel symbolischer Ordnungen,23 deren systematisches Geviert sich in semiotische, syntaktische, semantische und pragmatische Funktionen differenzieren lässt (vgl. Abb. 1):
semiotische
syntaktische
Differentialität
Rekursivität
semantische
pragmatische
Referentialität
Inferentialität
Abb. 1: Das systematische Geviert symbolischer Reflexivität natürlicher Sprachen
Auch die Tiersprachenforschung kann sich eines differenzierten Begriffs von Sprache nicht entschlagen, wenn sie nicht begriffliche Verwirrung oder Äquivokationsketten stiften möchte. Umgekehrt haben Linguistik und Sprachphilosophie guten Grund, ihr Verständnis von Referenz, Sprache, Sprechen und Schweigen im Spiegel der ethologischen Erkenntnisse zu überdenken. Dazu würde Formale Sprachen (etwa der Logik) verzichten zwar nicht generell auf materiale Bezugnahme, doch muss diese semantisch vereindeutigt, also operationalisierbar werden – was nur durch den Ausschluss jeden Weltbezugs gelingen kann. Mit gutem Grund wird die referentielle Mehrdeutigkeit und Opazität natürlicher Sprachen in den Funktionssprachen der Logik, der Informatik, der Robotik getilgt. Singuläre und allgemeine Termini sind durch Variablen ersetzt, die Verknüpfungsformen der Sätze zu Schlüssen durch Wahrheitsfunktionen vereindeutigt und diese durch Wahrheitswertverteilungen präzise definiert. 23
Symbolreflexivität | 17
helfen, zwischen apriorischen bzw. sprachbegrifflichen Begründungsebenen (hier etwa hat das Geviert symbolischer Reflexivität seinen systematischen Ort) und sprachempirischen Erklärungsebenen (im Rückgriff auf die einzelnen Signal- oder Lautkommunikationsarten) zu unterscheiden. Die folgenden vier Abschnitte erläutern zwar nicht alle Querbezüge und Binnendifferenzierungen, wohl aber die Hauptmomente dieses Gevierts.
4 · Differentialität
Symbolische Kommunikation, auch als phonetische, beruht auf einem selbst nicht hörbaren, weil skripturalen Prinzip: der Diakritizität. Kein uns bislang bekanntes nichtmenschliches Sprechen hat in seiner Evolution eigene, mit dem Gesprochenen vermittelte und doch von ihm zugleich unabhängige, diakritische Schriftformen entwickelt. Andere Spezies mögen Spuren hinterlassen, nicht aber Schriftzüge. Schrift kann nicht als bloße Repräsentation gesprochener Sprachen, sie muss vielmehr als deren Reflexion, Präzision und Produktion verstanden werden. Das Prinzip skripturaler Sinnerzeugung heißt: Differenz. Darin gehorcht auch es dem negatorischen Wesen der Sprache. Diakritizität herrscht dort, wo Zeichen sich im System unterscheiden; wo eines nur deshalb mit sich identisch ist, weil es ein anderes nicht ist. Indes müssen sich Zeichen nicht nur unterscheiden; vielmehr verlangt auch alles Gleichlautende (Homophone), aber Bedeutungsunterschiedene nach einer anderen Schreibweise (Allographie), um diesen Bedeutungsunterschied sehen zu lassen.24 Tonzeichen (Akusteme) sind Sprachen vieler Spezies eigen, Schriftzeichen (Grapheme) offenbar nur der menschlichen. Spuren »entziffern« können alle Spezies (zuweilen viel genauer als die menschliche), lesen indes nicht. Schriftzeichen sind deshalb, pace Derrida, keine Spuren. Denn sie werden produziert, nicht hinterlassen;25 sie werden auch nicht wahrgenommen, sondern begriffen. Vgl. J. Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, 3–29. Vgl. W. Kogge und G. Grube, Der Begriff der Schrift und die Frage nach der Forschung in der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), 81–96. 24 25
18 | Das Tier, das Sprache hat
Schrift ist kein Ensemble substantieller Bedeutungen, sondern ein Aggregat relationaler Differenzen. Ihre Systeme beruhen auf dem Prinzip der Relation arbiträrer, konventioneller Zeichen, die seit Peirce symbolische heißen. Im Unterschied zu indexikalischen Zeichen, die im Verhältnis der Kausalität zum Bezeichneten stehen, sowie zu mimetischen Zeichen, die ein Verhältnis der Ähnlichkeit zum Bezeichneten unterhalten, beruhen symbolische Zeichen auf rein willkürlichen, historisch und kausal kontingenten Relationen von Ausdruck und Bedeutung: Sie bedeuten schlicht das, wofür es Gebrauchsregeln gibt, wie sie zu verstehen seien.26 Symbol in einem weiteren, Cassirerschen Sinne ist aber auch die Form, in der Geistiges erscheint. Dann kann das Zeichen auch einen über die bloße Bedeutung hinausgehenden Sinn erhalten. Die Kultivierung solcher Symbole ermöglicht die Unterscheidung von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion ihrer Symbolisierung.27 Dass nichtmenschliche Sprachen mit indexikalischen und mime tischen Zeichen operieren, ist unumstritten. Fraglich aber dürfte sein, ob (i) in nichtmenschlicher Signalkommunikation symbo lische Zeichen überhaupt vorkommen können und (ii) ob innerhalb menschlicher Normalsprachen deren Symbolizität nicht einen Unterschied ums Ganze macht und damit auch die indexikalischen und ikonischen Zeichen ihres Repertoires derart verwandelt und rekontextualisiert, dass sie mit den indexikalischen und mimetischen Zeichen nichtmenschlicher Sprachen nicht mehr vergleichbar sind. Als Symptome sind Zeichen Ausdruck der Innerlichkeit Sprechender (Ausdrucksfunktion), als Signale richten sie sich an Empfänger (Appellfunktion), als Symbole vergegenwärtigen sie Sachverhalte (Darstellungsfunktion).28 Auch hier scheint evident, dass Symptome und Signale in nichtmenschlichen Kommunikationsformen gebraucht und entschlüsselt (also »verstanden«) werden; ob sich in ihnen allerdings auch propositionale Gehalte artikulieren lassen, ist fraglich. Phonemen und Graphemen ist gemeinsam, dass sie nicht Bedeutung tragen, sondern Bedeutung unterscheiden. Ihr Vgl. Ch. S. Peirce, Schriften, hrsg. von K.-O. Apel, Frankfurt/M. 1967, Bd. 2, 279. 27 E. Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in: ECW 17, 253–282; 276. 28 Vgl. K. Bühler, Sprachtheorie (1934), Stuttgart 1982, 34. 26
Differentialität | 19
Unterschied allerdings besteht darin, dass Grapheme diese bedeutungsunterscheidende Funktion selbst dort noch sichtbar machen, wo sie unhörbar bleiben. Für natürliche Sprachen ist entscheidend, nicht nur über bedeutungstragende (Morpheme, Sememe, Lexeme), sondern über bedeutungsunterscheidende Zeichen zu verfügen. Denn bedeu tungsunterscheidende Segmente sind die Bedingung bedeutungstragender; semiotische Differentialität heißt: Bedeutungsunterscheidung. Auf einer apriorischen Begründungsebene ist dabei unerheblich, ob eine reale Sprache auch tatsächlich Schriftform angenommen oder ausgebildet hat: Entscheidend ist nicht, ob sie empirischerweise verschriftlicht wurde, sondern ob sie prinzipiell ihrer Verschriftlichung fähig ist. Eine zweite Differenz waltet in dem Unterschied zwischen den phonologischen, phonographischen und grammatologischen Prinzipien von Sprache. Offensichtlich stehen symbolisch-reflexive Normalsprachen zu ihrer alphabetschriftlichen »Repräsentation« in keinem systematisch-phonographischen Verhältnis. Die Phonologie der gesprochenen Sprache ist keine Phonographie, sie baut nicht auf einem streng phonologischen Prinzip. Weder kann man das Atemholen der gesprochenen Sprache in ihrer Verschriftung sehen – noch kann man den Raum zwischen den Worten oder die Interpunktion der geschriebenen Sprache hören. Erkennbar wird daran, wie zuinnerst variabel die Zuordnung Graphem/Schriftzeichen und Laut/Phonem ist. Problemlos kann ein Zeichen für mehrere Laute verwendet werden; möglich aber auch, dass sich mehrere Zeichen auf denselben Laut beziehen. Und dass ein Zeichen für ganze Lautverbindungen, etwa ein Graphem für zwei Phoneme, stehen kann, schließt keinesfalls aus, dass umgekehrt auch ganze Zeichenverbindungen nur einen Einzellaut repräsentieren. An dem komplexen Wechselverhältnis von signifikativen Einheiten und distinktiven Einheiten, die an der Form mitwirken, selbst aber unmittelbar keine Bedeutung tragen, zeigt sich die einzigartige Ökonomie alphabetschriftlich organisierter Standardsprachen, in denen durch nur gut 20 distinktive Einheiten ca. 100 000 signifikative Einheiten darstellbar werden.29 Vgl. Chr. Stetter, Alphabetschrift und Sprache, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), 97–110. 29
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Ob die Alphabetschrift deshalb auch die »intelligentere« sei (wie von Humboldt und Hegel behauptet), ist damit nicht gesagt.30 Wohl aber zeigt ihr Beispiel, dass natürliche Sprachen auch dort auf einen skripturalen Grund verweisen, wo sie, aus historisch kontingenten Gründen, keinen eigenen schriftsprachlichen Ausdruck entwickelt haben. 5 · Rekursivität
Die bislang bekannten nichtmenschlichen »Sprachen« zeigen durchgehend holophrastische Sequenzen. Die meisten von ihnen, vermuten Ethologen, kennen deshalb nur den Modus des Imperativs.31 Nach allem, was diese Studien nahelegen, beschränkt sich die Grammatikalität der Tierkommunikation auf das Beginnen und Enden von Lauten.32 Möglicherweise flankierte der Übergang von Protosprachen zu Zwei- und Mehrwortsätzen, d. h. zu rudimentären syntaktischen Strukturen, den Übergang vom homo erectus zum homo sapiens.33 In diesem Zusammenhang haben Hauser, Chomsky und Fitch zwischen einem Sprachvermögen im weiteren und einer Sprachkompetenz im engeren Sinne unterschieden. In einem weiten Sinn (faculty of language – broad sense = FLB) meint Sprache ein grammatisches System, das sich mit verschiedenen senso-motorischen und begriffsintentionalen Systemen zusammenschließt; im eingeschränkten Sinn (faculty of language – narrow sense = FLN) meint es nur solche Sprachsysteme, die auf dem Prinzip der Rekursivität beruhen. Formen von FLN sind für Hauser, Chomsky und Fitch das eindeutige Privileg menschlicher Sprachen. Sie gelten ihnen als »computational system (narrow syntax) that generates internal representations and maps them into the sensory-motor interface by the phonological system, and into the contentual-intentional interface by the (formal) semantic system«34. Vgl. Westerkamp, Sachen und Sätze, 101–137. E. von Glasersfeld, Linguistic Communication: Theory and Definition, in: Language Learning by a Chimpanzee: The LANA project, hrsg. von D. M. Rumbaugh, New York 1977, 55–71; 65. 32 T. Deacon, The Symbolic Species, 32. 33 D. Bickerton, Language and Species, Chicago 1990, 183. 34 Hauser, Chomsky, Fitch, The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?, 1571. 30 31
Rekursivität | 21
Rekursivität kennzeichnet jedes endliche Set diskreter, wahrnehmbarer und bedeutungstragender Elemente, aus dem sich virtuell unendlich viele Kombinationen gewinnen lassen – parallel zur arithmetischen Unendlichkeit von Zahlzeichen. Rekursiv heißt diese Struktur genau dann, wenn es in dem Sprachsystem i) keinen längsten Satz geben kann und ii) die Diskretion (Teilung) der Elemente distinkt ist. i) ist dann der Fall, wenn ein noch so langer Satz X (bestehend z. B. aus 200 Wörtern) stets wieder in einen anderen Teilsatz, etwa: (5) Mary glaubt, dass X oder (6) X ist wahr eingebettet und damit prinzipiell erweitert werden kann. ii) ist dort der Fall, wo es nur 6-Wort- und 7-Wort-, aber keine 6,5-Wort-Sätze geben kann. Beide Aspekte der Rekursivität als »discrete infinity«35 haben nach Hauser, Chomsky und Fitch keine Parallele »in animal communication and possibly other domains as well«. Doch muntern die Autoren zu einem »comparative evolutionary approach to language« auf, der ihre Hypothese der Rekursivität prüfend he rausfordert.36 Rekursivität kann generell als eine Form der Kompression von Semantik verstanden werden. Deshalb zeigt sie sich an weiteren, von Hauser, Chomsky und Fitch nicht eigens untersuchten Funktionen, die weit über protosprachliche und grammatisch primitive Formen hinausgehen. Auch sie zählen zu den originären und exklusiven Elementen menschlicher Normalsprachen. Neben den anaphorischen, d. h. rückverweisenden und kataphorischen, d. h. vorausweisenden Funktionen von Pronomina sind dies vor allem die grammatischen Modi der Zeiterfahrung. Mögen lineare Formen des Vorhers und Nachhers, des Jetzt und des Später kognitiv basal sein und so auch zahlreichen anderen Spezies offenstehen, so erlauben doch erst symbolisch-reflexive Sprachen die Differenzierung zeitlicher Binnenmodi. Anders als die Lagezeit sind Modalzeit und Zeitdauer nicht von konkreter Erfahrung zu lösen. Dass Ebd., 1573. Ebd., 1571.
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sich etwas in der Vergangenheit ereignet, aber noch präsentische Folgen hat; dass etwas in der Zukunft abgeschlossen sein wird, aber sich jetzt noch nicht einmal ankündigt; dass etwas im Präsens ausgedrückt wird, aber futurisch gemeint ist – all dies scheint möglich einzig auf dem Boden ausgebildeter grammatischer Formen und ihrer durativen, ingressiven, iterativen, konativen und effektiven Zeitaspekte. Kognitive Binnendifferenzierungen solcher Art stehen sprach losen, protosprachlichen oder signalsprachlichen Zeichenbenutzern nicht zur Verfügung. Wenngleich ein Hund zeigen kann, dass er ärgerlich ist, so kann er nicht zeigen, dass er gestern ärgerlich war.37 Noch weniger kann er zeigen, dass er gestern nicht ärgerlich war. Zeitbezüge der Negation lassen sich weder zeigen noch andeuten, sondern nur sagen. So bleibt der gesamte Bereich von Bedeutungen, der mimisch, gestisch oder lautmalerisch nicht darzustellen ist, vorsymbolischen Kommunikationsformen ebenso verschlossen wie den symbolischen menschlichen Sprachen die Feinkörnigkeit und Scharfsinnigkeit der 1:1-Referenzzuordnungen einer Signalkommunikation. 6 · Referentialität
Innerhalb rekursiv-syntaktischer Strukturen verändert sich auch die Bezugnahme von Zeichen, Wörtern und Sätzen ums Ganze. Syntax ist eine Form der Kompression von Semantik. Erst syntaktische Strukturen verleihen der Sprache Situations unabhängigkeit. Sie erlauben den Ausdruck von Komplexität. Im Kontext normalsprachlicher Symbolsysteme referieren Wörter deshalb auch nicht auf Gegenstände, sondern auf Bedeutungen. Ihre Referenz stiftet, außer bei Eigennamen (und auch hier nur in einem speziellen Sinn), Bedeutung durch einen Bezug auf Referenten, die entweder gar keine sind – oder abwesend und opak bleiben. Sprachliche Referenz ohne Referenten38 kennen nur menschliche Normalsprachen. Sätze wiederum beziehen sich in der Regel nicht auf Ereignisse, sondern auf Sachverhalte. Der Satz Vgl. S. Sjölander, Some Cognitive Breakthroughs in the Evolution of Cognition and Consciousness, in: Evolution and Cognition 3 (1993), 1–10; 10. 38 Vgl. R. M. Sainsbury, Reference Without Referents, Oxford 2005. 37
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(7) »Deine Gewinnchance verhält sich zu deinen Verlustchancen wie eins zu tausend«39 kann ohne Sprache nicht aufgefasst, repräsentiert oder gedacht werden. Er hat kein konkretes Referenzobjekt, sondern ein ab straktes Sachverhältnis zum Gegenstand. Nichts an dem Satz ließe sich durch Zeigen auf Gegenstände oder Personen verständlich machen. Die Aussage (8) Gestern war der Himmel traumhaft blau, wenngleich auf einen konkreten, außersprachlichen »Gegenstand« verweisend, bezieht sich dann auf einen abwesenden oder leeren Referenten, wenn der Himmel aktuell grau ist. Gleichwohl würde diese Leerheit oder gar Falschheit der Aussage problemlos von kompetenten Sprecher(inn)en verstanden.40 Nominalisierungen wie (9) der gegenwärtige König von Frankreich erhalten ihre Bedeutung durch einen Pseudoreferenten, während negative Existentialien wie (10) Es gibt keinen Kontinent Atlantis auf nicht existierende Referenzobjekte Bezug nehmen. Überdies zitieren indexikalische Ausdrücke wie »hier« oder »dort« meist opake Referenten,41 weil sie entweder einen höchst unbestimmten oder gar keinen Ort meinen, wie etwa in dem Satz (11) Was haben wir denn hier? Symbolisch-reflexive Normalsprachen haben den Vorzug, ein Verständnis von Bedeutungen (im Sinne Freges) auch ohne bestimmte Referenten stiften zu können. Bedeutende Ausdrücke sind folglich weniger abhängig von konkreten Referenten selbst als vielmehr von den Referenzbedingungen: »Reference is an absolute relation, and is not world-relative.«42 Auch ein Satz wie
S. K. Langer, Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt/M. 1965, 81. Derrida, Signature Événement Contexte, in: Marges de la philosophie, 379. 41 G. Evans, The Varieties of Reference, Oxford/New York 1982, 151–191; 164. 42 R. M. Sainsbury, Reference without Referents, 46. 39
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(12) In diesem Raum schwirrt eine Mücke kann sich auf einen so ausgedrückten Sachverhalt selbst dann sinnvoll beziehen, wenn zwei oder viele Mücken im Raum sein sollten.43 Sätze mit opaker Referenz sind deshalb nicht etwa der Ausnahme-, sondern der Regelfall normalsprachlich-rekursiver Aussagen. Die systematische Unbestimmtheit menschlicher Sprachen beeinträchtigt keineswegs deren Funktionalität, sondern ruft sie allererst hervor. Dabei sind menschliche Normalsprachen durch eine innere Mehrsprachigkeit charakterisiert, die mühelos zwischen Objektund Metaebenen zu wechseln erlaubt. Hier spiegelt sich das Prinzip syntaktischer Rekursivität in der Reflexivität von Äußerungsebenen, wie etwa im folgenden Beispiel: (13) Können wir auf das, was Du eben gesagt hast, noch einmal zurückkommen? Dass es dabei zu vollkommen verschiedenen Interpretationen der Wörter eines Satzes und damit des Satzes selbst kommen kann, hat Quine die »Unbestimmtheit der Referenz«44 genannt. Unbestimmte Referenz ist kein Mangel, sondern das semantische Prinzip symbolischer Normalsprachen. Denn im Unterschied zu Symptomen oder Signalen rufen Symbole gerade »kein der Anwesenheit [ihres] Gegenstandes angemessenes Verhalten«45 hervor. Sie sind »nicht Stellvertretung ihrer Gegenstände, sondern Vehikel für die Vorstellung von Gegenständen«.46 Symbole ermöglichen die Präsenz von Objekten, ohne dass diese Objekte anwesend wären. Whitehead bereits hatte diese Form der Referentialität »symbolische Referenz«47 genannt. Weder legt Referenz eine eindeutige Zuordnung von Symbol und Symbolisiertem fest, noch ist die Referenz solcher – per se kultureller – Symbole »so clear as to be imperative«.48 Vgl. D. Davidson, Essays on Actions and Events, Cambridge 1980, 167. W. V. O. Quine, Pursuit of Truth, Cambridge (Mass.)/London 1992, 50–52; vgl. auch D. Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 2001, 227. 45 Langer, Philosophie auf neuem Wege, 68. 46 Ebd., 69. 47 A. N. Whitehead, Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1927/ 1955, 7. 48 Ebd., 66. 43
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Unterscheiden lässt sich vor diesem Hintergrund zwischen situationsgebundenen und situationsunabhängigen Repräsentationen. Situationsgebundene Zeichen (cued representations) präsentieren etwas, das in einer gegebenen Situation tatsächlich anwesend ist oder durch etwas in dieser unmittelbaren Situation ausgelöst (triggered) wird.49 Dann legt die Situation auch die Art der Reaktion fest, die stets eine andere wäre, würde das wahrgenommene Objekt etwa als Fress- oder aber als Paarungsobjekt kategorisiert. Demgegenüber stehen situationsunabhängige Symbole (detached representations) für Gegenstände oder Ereignisse, die weder anwesend noch durch eine unmittelbare Situation ausgelöst sind. So wie menschliche Kommunikation eine Vielzahl von non-, prä- oder parasymbolischen Anzeichen einschließt, so verfügen durchaus auch Primaten (etwa im Suchverhalten) über ausgeklügelte Formen situationsunabhängiger Repräsentationen, kognitiv-sensomotorischer Schemata oder »spatial maps«.50 Es empfiehlt sich wohl, Grade der Situationsunabhängigkeit zu unterscheiden – von einfachen Antizipationen bis hin zu jenen instinktunabhängigen Innenwelten, die sich ab einem bestimmten Komplexionsgrad nur noch mit symbolischen Normalsprachen bewältigen und ausdrücken lassen. Wenn Reaktionen nicht mehr von der Situation regiert werden, sondern von Rückblicken, reflektierten Erfahrungen oder Antizipationen, bedarf es nicht einfach weiterer Zeichen (Quantität), sondern anderer (Qualität). Nötig ist dazu nicht ein Maximum an Zeichen, sondern ein Optimum.
7 · Inferentialität
Normale Sprachen sind nicht nur referentiell organisiert, sondern inferentiell. Wörter referieren nicht auf Dinge, sondern auf Bedeutungen, die sich begrifflich berühren, überlappen, inein anderblenden. Normale Sprachen repräsentieren nicht Begriffe, Gärdenfors, The Detachment of Thought, in: ders., The Dynamics of Thought, Dordrecht 2005, 227–228. 50 A. M. Leslie, Pretense and Representation: The Origins of ›Theory of Mind‹, in: Psychological Review 94 (1987), 412–426. 49
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sondern drücken sie aus.51 Die inferentielle Struktur normaler Sprachen zeigt sich vor allem in dem praktischen Vermögen des Verstehens. Begriffliche Klassifikation ereignet sich im Kontext einer Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen, d. h. in Verwendung der »inferentiellen Rollen«,52 die Begriffe in unserem Sprechen annehmen können: »Understanding can be understood […] as practical mastery of a certain kind of inferentially articulated doing.«53 Im Sprechen bedienen wir uns dieses praktisch unendlichen und dicht verwobenen Netzes inferentiell organisierter Bedeutungen: Wer sagt, dass seine Schwiegermutter verstorben sei, sagt implizit auch, dass er verheiratet ist; wer sagt, dass Jacks Kinder allesamt kahl sind, setzt implizit voraus, dass Jack mindestens zwei Kinder hat;54 wer sagt, dass diese Münze aus Kupfer ist, sagt implizit auch, dass sie bei 1084 °C schmilzt. Verstehen ereignet sich in dem impliziten Gebrauch solcher »materialen Inferenzen«55 – ein Gebrauchswissen, das sich auf Nachfrage oder Rechtfertigungsdruck explizit machen lässt. Diese Praxis beruht zwar auf der Praxis formaler Inferenz, also des logischen Schließens der Implikation, des modus ponens, des hypothetischen Syllogismus etc.; aber die Form der Implikation oder des Konditionals bleibt in normalen Sprachen an die materiale Inferenz der Bedeutungen gebunden, die da in Beziehung gesetzt werden und stets Antezedens eines Konsequens sein können, welches seinerseits zum Antezedens eines anderen Konditionals oder einer anderen Implikation werden kann. Dieser semantische Inferentialismus hat, wie Brandom zeigt, »holistische Konsequenzen: Begriffe werden zum Teil über ihre wechselseitigen inferentiellen Beziehungen definiert (so daß es keinen Sinn ergibt, über jemanden zu sagen, er oder sie verfüge nur über einen einzigen Begriff).«56 Wir beherrschen nie nur ein Vgl. R. B. Brandom, Making It Explicit, Cambridge/London 1994, 70. Ebd., 89. 53 Ebd., 120. 54 Vgl. J. L. Austin, How To Do Things With Words, Cambridge, London 1960, 47–52. 55 W. Sellars, Pure Pragmatics and Possible Worlds. The Early Essays of Wilfrid Sellars, hrsg. von J. Sicha, Reseda/Cal. 1980, 265. 56 Brandom, Hegelianischer Pragmatismus, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2008), 305–326; 310. 51
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Inferentialität | 27
konzeptuelles Schema, sondern mit dem einen immer auch schon andere.57 Den Begriff »Junggeselle« kann nur sinnvoll anwenden, wer auch den Begriff »verheiratet« meistert; und diesen meistert nur, wer weiß, dass man in unseren Breiten nicht absichtlich seine Schwester heiraten kann. Benötigt wird dafür ein bestimmtes, in der Regel geteiltes Hintergrund- und Gebrauchswissen von Begriffen wie »Ehemann«/»Ehefrau«, die Kenntnis der jeweiligen kulturellen Heiratspraktiken usw. Wie unsinnstolerant unsere üblichen pragmatischen Sinnkontexte sind, zeigen zahllose Beispiele formal misslungener, dennoch praktisch gelingender Kommunikation: Man verwechselt Namen, und dennoch weiß der Gesprächspartner, wer gemeint ist; wir verwenden die falschen Wörter, ohne dass das Verständnis des Gegenübers maßgeblich darunter leidet; unsere Aussprache ist undeutlich oder verzerrt, wird vom Gegenüber aber automatisch ergänzt. Auch hier greifen Praktiken eines Sich-immer-schon-verständigtHabens durch nichtdiskursive Elemente der Kommunikation; sie stellen kraft ergebnisgleicher Inferenzen (also dysfunktionaler Antezedenzen, mit gleichwohl funktionalen Konsequenzen) Evidenzen her, die dem tatsächlichen Wortlaut nicht zu entnehmen wären. Dass wir in der Regel selbst Satzfetzen immer schon als vollständige Sinneinheiten verstehen, lässt sich mit Brandoms inferentieller Semantik oder auch mit Merleau-Pontys Sprachphänomenologie der Ausdrucksfunktion beschreiben, die dafür den Ausdruck des sous-entendue und der sprachlichen »Sedimentation« geprägt hat.58 Inferentielle Begriffsnetze reißen auch in Fällen von Un- oder Missverständnissen nicht. Sie scheinen, im Gegenteil, sich an ihnen noch fester zu verknüpfen. Denn wir können Begriffe offenbar nicht streng nicht-inferentiell gebrauchen.59 Sinneinheiten werden unter der Hand auch dort hergestellt, wo wir keine vermuten; Satzellipsen werden automatisch rekontextualisiert und ergänzt durch jene eigentümlich normale Selbst- und Vorverständlichkeit (sousentendue) der Sprache, deren Prinzip Merleau-Ponty als »kohä Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, 183–198. M. Merleau-Ponty, Signes, Paris 1960, 145. 59 Vgl. Westerkamp, Inferentielles Nichtverstehen, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 16 (2017), 121–138. 57
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rente Deformierung«60 bezeichnet. Daraus beziehen Redensarten, Phraseologismen und Metaphern ihre nichtverstehenskompensatorische Funktion, die auf einem – zwar individuell verschiedenen, aber im Ganzen erstaunlich gleichförmigen – Vorverständnis beruht, das sich material-semantischer Inferenzen verdankt. Pragmatisch missverständnisanfällige Formen semantischer Unbestimmtheit wie (14) »so oft wie möglich« sind problemlos verständlich, obwohl höchst Verschiedenes, ja Gegensätzliches darunter verstanden werden kann: von »einmal im Jahr« bis »jede Woche«. Solche Formulierungen stiften Sachverhalte, die es nur als sprachliche gibt. Es steht zu vermuten, dass es in den Kommunikationswelten anderer Spezies keine rein sprachlichen Fakta gibt. 8 · Simplizität
Ein hinreichend bestimmter, gehaltvoller Begriff von Sprache, der überhaupt erst als differentia specifica einer »anthropologischen Differenz«61 in Anspruch genommen werden könnte, müsste die Aspekte von Differentialität, Rekursivität, Reflexivität und Inferentialität vereinen. Nicht erst die moderne Sprachphilosophie, nicht erst Donald Davidson, der mit Descartes zum speziesistischen »bad boy« der gegenwärtigen animal philosophy wurde, sondern schon Aristoteles hatte die spezifische Differenz der rationalitas, die dann innerhalb der arbor porphyriana die letzte Weggabelung der anima sensitiva motivierte, an die Sprach- und damit Denkfähigkeit gekoppelt: Der Mensch sei das einzige Tier, das Sprache hat (zōon logon echōn).62 Wer so argumentiert, muss vor dem Hintergrund des hier skizzierten Sprachbegriffs dreierlei unterstellen: zum einen, dass zwischen der apriorischen und der empirischen Erklärungsebene nicht eigentlich unterschieden werden muss; zum anderen, dass man entwickelte, am vorläufigen Ende der biologischen und Merleau-Ponty, Signes, 149. M. Wild, Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin/New York 2006. 62 Vgl. Aristoteles, Pol. 1253a9. 60 61
Simplizität | 29
sozialen Evolution stehende menschliche Normalsprachen mit den Kommunikations- und Lebensformen anderer Spezies überhaupt ahistorisch vergleichen darf; und schließlich, dass tatsächlich alle menschlichen Normalsprachen die genannten Charakteristika symbolischer Reflexivität aufweisen. Die erste Prämisse ist methodologisch, die zweite biophilosophisch, die dritte sprachempirisch diskutabel. Schon die Sprach ursprungstheoretiker der Aufklärung blickten fasziniert auf die so gar nicht primitiven Sprachen sogenannter »primitiver« Naturvölker. Lange vor den Studien Chomskys hatte Johann Peter Süßmilch aus den komplexen Strukturen ihm bekannter Naturgruppensprachen auf bestimmte grammatische Universalien geschlossen.63 Wie sonst ließe sich, fragt er, die »höchstmerkwürdige Übereinstimmung so verschiedener Sprachen und entfernter Völker«64 erklären – insbesondere die Universalität der Existenz von Wortarten und Satzteilen? Der phonetischen, semantischen und skripturalen Varianz natürlicher Sprachen innerhalb ihrer universalen Grammatikalität stellt er die Gleichförmigkeit der Tierkommunikation gegenüber: Der Hund in China belle geradeso wie der in Deutschland.65 Mag man die Gleichförmigkeitsthese auch bezweifeln, so blieb das Argument der mangelnden Simplizität natürlicher Sprachen diskussionswürdig. Auch Deacon, Fauconnier/Turner, Bickerton und andere gehen davon aus, dass es keine primitiven mensch lichen Sprachen gibt. Im erklärten Gegensatz zu Chomsky rekurrieren ihre Arbeiten allerdings nicht auf die Universalität vorgeblich eingeborener grammatischer Funktionen, sondern auf die Eigenart spezifisch menschlicher Begriffsintegration (die in einer doppeltreflexiven Synthesis gründet: double-scope conceptual integration)66 bzw. auf die höchst praktische – nämlich symbolische – Opazität des Bezugs sprachlicher Repraesentantia auf ihre nicht-sprachlichen J. P. Süßmilch, Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, Berlin 1766, § 31. 64 Ebd., § 33. 65 Ebd., § 3. 66 Vgl. G. Fauconnier und M. Turner, The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2003, insbes. 171–194; vgl. auch den III. Teil dieses Buchs. 63
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Repraesentanda. Vor diesem Hintergrund erscheint die opak-referentielle, symbolische Sprache als Anomalie der Evolution; sie kann deshalb kaum zum Vergleichsmaßstab genommen werden. Es gäbe, folgert Deacon, in einem derart verzerrten Ranking schlicht keine Konkurrenten. Um mit symbolisch-referentiellen Normalsprachen vergleichbar zu sein, müssten tiersprachliche oder extraterrestrische Vergleichsobjekte ▷ eine Formenkombinatorik aufweisen, die unterscheidbare Elemente in höchst verschiedene Konstellationen bringen kann; ▷ einen hohen Produktivitätsoutput bei gleichzeitig niedriger Redundanzrate erreichen; ▷ eine Zeichenkombinatorik an den Tag legen, die Variantenreichtum erlaubt, gleichwohl aber die Mehrzahl der kombinatorischen Möglichkeiten ausschließt; ▷ ein Zeichensystem bereitstellen, das jedes »simple one-to-one mapping« zwischen Zeichen und Bezeichnetem verhindert; ▷ einen Zeichengebrauch erlauben, der den Zeichen maximale Anpassungsfähigkeit an jeweils neue Situationen einräumt.67 Deacon leitet dieser Kriterienkatalog zu zwei »Mysterien«: Warum eigentlich gibt es keine primitiven menschlichen Sprachen? Und weshalb war symbolische Referenz so schwer zu entwickeln (welchen Selektions- und Adaptionsdruck mag es gegeben haben),68 um dennoch für Menschen so mühelos beherrschbar zu sein? Dabei ist die Suggestivität der ersten Frage alles andere als selbstverständlich. Seit Daniel L. Everetts Studien zur indigenen Sprache der brasilianischen Pirahã sind die Untersuchungsakten der Frage nach Existenz einfacher, nicht-symbolischer und nichtrekursiver Normalsprachen wieder offen. Everetts Analyse zufolge zeigt sich die Exzeptionalität von Pirahã in der Absenz hypotaktischer Strukturen; es gebe keine Möglichkeit syntaktischer Einbettung von Sätzen.69 Parallel dazu steht die Absenz von Numeri: Deacon, The Symbolic Species, 32–43. Vgl. ebd., 45: »The incessant demands of efficiently reconstructing a symbolic system in each generation would have created selection pressures to reshape our lineage’s ape brains to fit this new function.« 69 D. L. Everett, Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Pirahã, in: Current Anthropology 4 (2005), 621–634; 628–631. 67
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Pirahã verfügt einzig über Worte relativer Mengenbezeichnungen (»kleine Anzahl«/»größere Anzahl«) und kennt keine Unterscheidung von Singular und Plural. Auch nach intensiven Lernübungen gelänge es monolingualen Pirahã-Sprecher(inn)en nicht, bis Zehn zu zählen oder Zahlen zu addieren.70 Auffällig sind auch die Abwesenheit von Zeitwörtern für Modi der Vergangenheit, die Absenz eigener Farbwörter und das – je nach (umstrittener) Zählung – auf 10 bzw. 7 Phoneme reduzierte Lautsystem. Die ursprüngliche Abwesenheit eines Pronominalsystems (von dem Everett vermutet, dass ein solches erst spät aus einer Tupi-Guarani-Sprache importiert wurde)71 dürfte folglich eine ana- oder kataphorische Bezugnahme ebenso wenig erlauben wie die Unkenntnis eines Perfekts den Bezug auf Vergangenes erschweren. Auch werden Verwandtschaftsverhältnisse nur in wenigen Worten ausgedrückt und wird zwischen Vater und Mutter morphologisch nicht unterschieden. Die Deutung dieser Befunde wird bis dato kontrovers geführt.72 Fraglich ist zum einen, ob die Materialien die Hypothese fehlender primitiver Sprachen widerlegen; fraglich zum anderen, ob sie die Exklusivität bzw. Inkommensurabilität menschlicher Normalsprachen tatsächlich entkräften. Insbesondere kann man die Befunde, pace Everett, auch so deuten, dass die Erfahrungsunmittelbarkeit der Pirahã-Kultur keineswegs die Strenge eines »nur-ein-Ereignispro-Äußerung«-Schemas (one event per utterance 73 – Deacons »one-to-one mapping«) und so auch keineswegs deren strenge Nicht-Rekursivität erzwinge. Weniger umstritten scheint unter Linguisten das auch an der Pirahã-Sprache sich zeigende Verhältnis von Sprachform und Sprachgebrauch. Nicht weil »grammatische Marker«74 fehlten, um über zeitlich oder örtlich weit entfernte Sachverhalte zu sprechen, bleiben solche Sachverhalte unthematisiert. Sondern weil diese bis Vgl. Everett, Pirahã Culture and Grammar: A Response to some Criticism, in: Language 85 (2009), 405–442. 71 Vgl. Everett, Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Pirahã, 628. 72 Vgl. A. Nevins, D. Pesetsky, C. Rodrigues, Pirahã-Exeptionality: A Re assessment, in: Language 85 (2009), 355–402. 73 Ebd., 363. 74 M. Tomasello, Comment, in: Current Anthropology 46 (2005), 640. 70
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lang isolierte Gemeinschaft offensichtlich nicht über zeitlich oder örtlich weit Entferntes spricht oder zu sprechen nötig fand (Everett ermittelte nur zwei Pirahã-Sprecherinnen, die sich an Urgroßeltern erinnern konnten; wenige nur erinnerten die Namen ihrer Groß eltern), gibt es auch keine Begriffe oder grammatischen Formen für derart situationsunabhängige Bedeutungen. Allerdings beweist in inferentiellen Sprachsystemen die Abwesenheit bestimmter Wörter nicht auch schon die praktische Nichtexistenz ihrer Bedeutung; nicht jeder Begriff erhält ein eigenes Wort. Es möchte also sein, dass fehlende Ausdrücke und morphologische Unterscheidungen auch in »einfachen« Sprachen spielend durch die Pragmatik der Kommunikationssituation ausgeglichen werden.
9 · Komplexität
Das Geviert symbolischer Reflexivität wird weder von der Simplizität noch der Komplexität natürlicher Sprachen widerrufen. Symbolische Reflexivität ist kein gradueller Komparativ. Kaukasische Sprachen mögen morphologisch reicher sein als kreolische. Sie mögen komplexere Flexionsformen erlauben, aber keiner der morphologisch sparsameren Sprachen ermangelt es prinzipiell an symbolischer Reflexivität. Was die Morphologie vermissen lässt, gleichen situative Kontexte und pragmatische Redesituation aus. Das Artschinische etwa hat mehr als ein Dutzend Kasus für Substantive und ebenso viele Modusformen für die Verbflexion: »Indikativ, Konjunktiv, Imperativ, aber auch einen »›Dubitativ‹, ›Admirativ‹, ›Reportativ‹ oder ›Evidential‹, die Zweifel oder Überraschung ausdrücken und Selbsterlebtes von bloß Gehörtem unterscheiden.«75 Die Frage nach Komplexität oder Simplizität natürlicher Sprachen gehört in die fachlinguistische Forschung,76 ihre verallgemeinerbaren Einsichten in die Struktur der symbolischen Reflexivität W. Krischke, Der Evidential lässt dem Faktenzweifel keine Chance, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 6. 2014, N 4. Vgl. zum Ganzen: Archi. Complexities of Agreement in Cross-Theoretical Perspective, hrsg. von O. Bond, G. G. Corbett, M. Chumakina und D. Brown, Oxford 2016. 76 Vgl. J. Nichols, Linguistic complexity: A comprehensive definition and survey, in: Language Complexity as an Evolving Variable, hrsg. von G. Sampson, 75
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natürlicher Sprachen auch in den Diskurs der Sprachphilosophie. Doch sie hat allen Grund, sich nicht nur von der linguistischen, sondern auch von der ethologischen Fachdiskussion informieren, beirren, präzisieren zu lassen. Seit der linguistischen Wende war die sprachphilosophische Diskussion meist auf die Frage nach der Bedeutung von Ausdrücken konzentriert.77 Das gilt sowohl für die sprachanalytische Tradition, der die Frage nach der Wahrheitsfunktion der Semantik oder der semantischen Funktion der Wahrheit wichtig war, wie auch für die semiologische Tradition, der es um die differentielle Konstitution von Bedeutung ging. Bedeutungstheorien machen indes nur einen Teil jenes Gevierts symbolischer Reflexivität aus, das für natürliche Sprachen kennzeichnend ist. Die sprachphilosophische Konzentration auf bedeutungstheo retische Fragen war mit methodischen Einseitigkeiten erkauft, die zur Gegenbewegung einer Aufwertung der kommunikativen Funktion der Sprache geführt haben.78 Allerdings ist die Juxtaposition des Paradigmas der objektiven Darstellung von Welt zu dem der interpersonalen Verständigung über sie ihrerseits mit der Einseitigkeit behaftet, die welterschließende und weltkonstitutive Rolle der Sprache nicht angemessen in den Blick zu bekommen: ihre figurative, diskursive und narrative Kraft. Entsprechend rekonstruiert Charles Taylor die Differenz von Konstitutions- und Bedeutungstheorien vor allem in der Absicht, die Angewiesenheit dieser auf jene nachzuweisen. Während Bedeutungstheorien die Weltbeschreibung durch Sprache und Schrift mit einem Funktionalismus und Reduktionismus der Beschreibungssprachen verbinden, berücksichtigen Konstitutionstheorien auch den ungeschmälerten Einfluss der Narrativität, der Figurativität, der Sozialität, kurz: der menschlichen Kultur auf die Sprache. Während Oxford 2009, 110–125; dies., Linguistic Diversity in Space and Time, Chicago 1992. 77 Stellvertretend dafür die Definition von S. Rödl, Sprachphilosophie, in: Disziplinen der Philosophie. Ein Kompendium, hrsg. von Horst D. Brandt, Hamburg 2014, 645–672; 645: »Die grundlegende Frage der Philosophie der Sprache ist: Was heißt es, dass Ausdrücke etwas bedeuten? Was heißt es, sprachliche Ausdrücke verstehen und verwenden zu können?« 78 Vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2004, 65–101. 34 | Das Tier, das Sprache hat
für bedeutungstheoretische Ansätze Wörter primär Signifikanten außersprachlicher Referenten sind, die figurative Dimension der Sprache der Weltbeschreibung nichts Wesentliches hinzufüge, die Beschreibungssprachen ihrerseits mit den Weltbeschreibungsregeln des Physikalismus kompatibel sein sollen und die richtige Optik auf eine so beschriebene Welt die Beobachterperspektive der Dritten Person sei, setzt eine Humboldtianische Traditionsline der Konstitutionstheorie auf einen semantischen und pragmatischen Holismus.79 Taylor begreift diese Differenz auch als Unterschied in der gleichsam illukutionären Rolle, die der Sprache im Ganzen zuerkannt wird. Entfaltet sie sich selbst in einem bereits vorgegebenen Rahmen oder stiftet sie diesen allererst? In Taylors Debattenstilisierung begreifen bezeichnungstheoretische Auffassungen (enfram ing-theory) Sprache als Epiphänomen menschlicher Praktiken und Lebensformen, die für sprachunabhängig gelten, aber selbst den Rahmen schaffen, in welchem Sprache sich entfaltet. Demgegenüber bestimmen konstitutive Sprachauffassungen (constitutive theories) die Sprache selbst als den Rahmen eines ›logischen Raums‹, in welchem sich menschliche Verständigungspraktiken situieren. Taylor argumentiert, dass Designationstheorien ohne konstitutionstheoretische Elemente nicht auskommen können. Während nämlich die bedeutungstheoretische Auffassung ein Bild der Sprache privilegiert, in welchem diese wesentlich als Repräsentation einer »weitgehend ›äußeren‹ Realität«80 fungiert, bedarf sie spätestens dort der konstitutionstheoretischen Ergänzung, wo es um Phänomene einer innersprachlichen Realitätsbewältigung geht – oder um eine Wirklichkeit, die zuinnerst sprachabhängig ist: soziale und kulturelle Tatsachen. Konstitutionstheorien betrachten Sprache weniger in ihrer Repräsentationsfunktion denn vielmehr als Ermöglichungsgrund, der nicht selbst immer schon innerhalb eines sprachunabhängigen Rahmens situiert sein kann. Nur auf dem Boden einer nicht nur weltrepräsentierenden, sondern auch weltkonstituierenden Spra Vgl. Ch. Taylor, The Language Animal, The Full Shape of the Human Linguistic Capacity, Cambridge, Mass. / London 2016; dt.: Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens, Berlin 2017, 325–329. 80 Taylor, The Language Animal, 4. 79
Komplexität | 35
che könnte dann genauer zwischen der »intrinsischen Richtigkeit« der Signalkommunikation (die beschriebene Sache gibt die Kriterien für ihre korrekte sprachliche Darstellung vor; Repräsentation ist vor allem Reaktion) und der »extrinsischen Richtigkeit« von Symbolhandlungen unterschieden werden, die die Merkmale der sprachlich aufgefassten Sache selbst bestimmt. Diese Spontaneität – Herders »Besonnenheit« – fasst Taylor als die spezifische Reflexivität jener Wesen auf, die natürliche Sprachen meistern; die, wie er sagt, sich »in einer semantischen Dimension bewegen«: »Ein reflektierendes Wesen sein heißt: in einer Dimension operieren, was wiederum bedeutet, daß man aus Empfänglichkeit für Fragen der intrinsischen Richtigkeit handelt.«81
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Ebd., 11; Das sprachbegabte Tier, 30 (Übers. J. Schulte).
36 | Das Tier, das Sprache hat
II
TIERE, DIE KOMMUNIZIEREN ( animalia communicantia )
10 · Intentionalität
Weder ist Intentionalität ein artspezifisches Charakteristikum, noch bedürfen ihre Formen des »Über-etwas-Seins« (aboutness) oder des »Bewusstseins von Etwas« notwendig symbolisch-reflexiver Sprachen. In dem trivialen Sinn, dass Systeme dann intentional heißen, wenn sie ein intentionales Objekt »haben«, also irgendeine Repräsentation von Etwas gewinnen, wäre auch der von von Uexküll in seinen Reaktionen auf die Umwelt beschriebene Holzbock (Ixodes ricinus) ein »intentionales System«1 zu nennen. Das intentionale Wahrnehmungsobjekt der Zecke wäre dann jene Buttersäure, die dem Schweiß des Säugetiers entstammt, auf das sie sich aus genau diesem Grund fallen lässt.2 In einem philosophisch anspruchsvolleren Sinn lassen intentionale Systeme (pseudo- oder proto-)propositionale Einstellungen erkennen: x nimmt an, dass p. y wünscht, dass q. z grübelt, ob r. Intentionalität meint das Verhältnis dreier Relata: die Beziehung zwischen einem System (x, y, z), seiner Einstellung (annehmen, wünschen, grübeln) und dem Inhalt dieser Einstellung (p, q, r).3 Statt von Lebewesen von »intentionalen Systemen« zu sprechen, enthebt zunächst der Misslichkeit, den problematischen Kollektivsingular »Tier« zu verwenden, dessen Absurdität nament D. Dennett, Kinds of Minds. Toward an Understanding of Consciousness, New York 1996, 34. 2 J. von Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Frankfurt/M. 1970, 6–14. 3 Vgl. Dennett, Kinds of Minds, 45. 1
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lich Derrida sistiert und mit dem Kunstwort l´animot gekontert hat.4 Daniel Dennett unterscheidet zwischen intentionalen Systemen, die aus Gründen handeln, die ihnen selbst nicht durchsichtig sind, und solchen, deren Gründe transparente Motive, Ursachen und Absichten auch für diese »Systeme« selbst sind: »reasons for us«5 – eine Formulierung, die an Kants Bestimmung der Erscheinungen erinnert, die nur kraft ihrer kategorialen Formierung durch den Verstand auch Gegenstände »für uns«6 sein können. Gründe, die »für uns« sind, haben eine reflexiv-intentionale Struktur. Sie »sind« über etwas Zweifaches – nämlich nicht nur über ihren unmittelbaren Gegenstand, sondern mittelbar auch über uns selbst. Sie beziehen sich auf uns, insofern wir uns mit ihnen auf uns selbst beziehen können. Solche Gründe sagen deshalb nicht nur etwas über dieses oder jenes Motiv, sondern mit ihnen auch etwas über uns im Ganzen: dass wir reflexive, intentionale, Gründe gebende Wesen sind. Von reflexiver Intentionalität abhängig, aber noch einmal eigens von ihr zu unterscheiden ist jene tertiäre Intentionalität, die nach Auffassung von Sprachphilosophen (wie Grice und Searle) und Anthropologen (wie Deacon und Tomasello) das Spezifikum menschlichen Bewusstseins ausmacht. Mit ihr erst wird das Feld nicht nur subjektiv, sondern auch intersubjektiv selbsttransparenter Bewusstseinsakte erreicht. Grice zufolge passen wir unsere propositionalen Einstellungen nicht nur stets einem Gegenüber an, sondern wir unterstellen auch, dass dieser weiß, dass ich meine Einstellungen im Wissen um die seinen diesen immer schon angepasst habe, um von ihr/ihm verstanden zu werden.7 So entsteht eine – uns in der Regel gar nicht bewusste – rekursive Intentionalitätsstruktur, die durch ihren impliziten »Ich-weiß-dass-Duweißt-dass-ich-weiß…«-Erwartungsabgleich zur Voraussetzung geteilter Intentionalität, gemeinsamen Planens oder koordinierten Handelns wird. Manche Analysen schreiben deshalb bereits so alltäglichen Aussagen wie Vgl. J. Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, 47. Dennett, Kinds of Minds, 48. 6 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 90. 7 H. P. Grice, Utterer’s Meaning and Intentions, in: The Philosophical Review 78 (1969), 147–177. 4 5
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(15) Kann ich bitte das Salz haben? die Struktur einer fünffachen Intentionalität zu: Person A möchte nicht einfach nur einen Gegenstand, sondern A möchte Person B zu verstehen geben, dass sie möchte, dass B versteht, dass sie das Salz haben möchte.8 Damit legt sich die These nahe, dass für die Kommunikation anderer Lebewesen, etwa von Primaten, eine derart verwickelte Intentionalitätsstruktur weder nötig noch möglich sei.9 Terrence Deacon möchte zeigen, dass sich symbolische Sprachen erst auf dem Boden tertiär-intentionaler Bewusstseinsstrukturen ausbilden, diese Strukturen aber auch nur vermöge symbolischer Formen hervorgebracht werden können. Gómez und Gärdenfors setzen voraus, dass die menschliche Fähigkeit »to share visions« unhintergehbar an die sprachlichen Formen von higher order intentions gebunden ist: »The inner worlds of other animals are not sufficiently rich to manage the complexity of detached representations that language refers to.«10 Auch die umgekehrte Auffassung wird vertreten: Primaten verfügen sehr wohl über inneren Gedankenreichtum, protopropositionale Auffassungen und abstrakte Gedanken, können sie aber nicht sprachlich äußern11 – eine andere Variante des ethologisch-naturalistischen Fehlschlusses. Unkontrovers dürfte sein, dass die geistige Innenwelt der menschlichen Spezies über fast beliebig verschachtelbare Vorstellungen (nesting of inner worlds)12 und ipsoflexive Gedanken verfügt. Wir können eine – von diesen selbst unabhängige – Vorstellung unserer inneren Vorstellungen bilden, z. B. kontrafaktische Wünsche. Denn ein situationsunabhängiger, »freier« Wille ist nicht schon dort, wo die Voraussetzungen des Libet-Experiments ihn vermuten: In der (neuronalen bzw. subkortikalen) Ermöglichung instruierter Gedanken-, Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit Gärdenfors, How Homo, 147. J. C. Gómez, Mutual Awareness in Primate Communication: A Gricean Approach, in: Self-Awareness in Animals and Humans, hrsg. von S. T. Parker, R. W. Mitchell und M. L. Boccia, Cambridge 1994, 61–80. 10 Gärdenfors, How Homo, 143. 11 Vgl. X. Hurford, The Origins of Meaning, Oxford 2007. 12 Gärdenfors, How Homo, 148. 8 9
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(= schwacher Freiheitsbegriff).13 In einem philosophisch wie alltagspragmatisch anspruchsvollen Sinn ist der Wille erst dort frei, wo wir ihn auch anders wollen, uns willentlich in eine Distanz zu ihm setzen können (= starker Freiheitsbegriff). Der Wille muss, mit Hegel gesprochen, seine eigene Negativität enthalten.14 Nicht schon Wahlfreiheit, sondern die Möglichkeit zu Wünschen zweiter Ordnung ist, nach Harry Frankfurts berühmter Analyse, zuverlässiges Zeichen freier Willensäußerungen. Wer rauchen will (Wunsch erster Ordnung), zugleich aber den Wunsch hat, nicht mehr rauchen zu wollen (Wunsch zweiter Ordnung), zeigt, dass er in der Lage ist, frei seinen eigenen Willen zu wählen, indem er eine Differenz im Wünschen selbst herstellt.15 Von Intentionalisten wird nun bezweifelt, dass solche Intentionen und Wünsche höherer Ordnung anderen Spezies als dem animal symbolicum zur Verfügung stehen: »Only humans […] can ponder on their wishes and want them to be different.«16 Die zwischen Primatologen lebhaft geführte Diskussion um die Formen geteilter Intentionalität haben vielleicht weniger Erkenntnisse über die kognitiven Fähigkeiten von Tieren als über die des Menschen erbracht. Zweifellos vollziehen Primaten Gruppen aktivitäten. Doch nach Michael Tomasellos Deutung haben die kollaborativen Tätigkeiten schon 18 bis 24 Monate alter Kinder diese Tätigkeiten selbst zum Gegenstand, kein übergeordnetes Ziel. Kooperation um des Kooperierens willen verdankt sich dem schon früh aufkommenden Motiv, Interesse und Aufmerksamkeit zu teilen. Diese gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention) als ein »two people experiencing the same thing at the same time and knowing together that they are doing this«17 führt zu Formen von Gruppenaktivitäten, die sich von denen der Primaten darin unter Vgl. D. Linke, Die Freiheit und das Gehirn. Eine neurophilosophische Ethik, Reinbek bei Hamburg 2006, 14. 14 Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Gesammelte Werke 14/1, hrsg. von K. Grotsch, E. Weisser-Lohmann, Hamburg 2009, 45. Hegel spricht dort vom »freye[n] Wille[n], der den freyen Willen will«. 15 Vgl. H. G. Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 68 (1971), 5–20. 16 Gärdenfors, The Detachment of Thought, 236. 17 M. Tomasello, M. Carpenter, Shared Intentionality, in: Developmental Science 10 (2007), 121–125; 121. 13
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scheiden, dass sie auch dann ausgeführt werden, wenn keinerlei »benefit for themselves« zu erwarten steht. Nicht erst Sprache an sich oder Bewusstsein von Etwas, sondern deren noch vorsprachliche Präadaptation, nämlich die symbolische Beziehung einer shared intentionality, markiert für Tomasello die mögliche Gattungsdifferenz: »Shared intentionality is a small psychological difference that made a huge difference in human evolution in the way that humans conduct their lives.«18 Eine solche gruppenpsychologische Wir-Intentionalität wäre also nicht erst durch ein explizites Bewusstsein von dem so entstandenen »Wir« erzeugt (im Unterschied zur gruppensoziologischen WirIntentionalität)19, sondern durch eine Tätigkeit, innerhalb deren »the collaborative activity itself seemed to be more rewarding than the instrumental goal.«20 Das hat Auswirkungen auf Blickfolge und Gestik. Beide Verhaltensformen äußern sich artspezifisch verschieden und wurzeln in der Eigenart der jeweiligen kollaborativen Tätigkeiten. Weil Primaten weder perlokutionäre kommunikative Intentionen verstünden noch zu Rollenwechseln in nicht-zweckgerichteten kollaborativen Tätigkeiten fähig seien, beherrschten sie auch die symbolisch hochprägnante Geste des Fingerzeigs nicht.21 Dagegen führen Primatologen wie Volker Sommer empirische Befunde an, die belegen sollen, dass etwa auch bei Schimpansen explizit unzweckmäßige Tätigkeiten und »irrationale Traditionen« (wie die des Augeneindrückens oder Kieselklackerns) der »emotionalen Synchronisation« und so dem »Gefühl eines kollektiven ›Wir‹«22 dienten.
Ebd., 124. Vgl. M. Gilbert, On Social Facts, Princeton 1989. 20 Tomasello, Carpenter, Shared Intentionality, 123. 21 Tomasello, Why Don’t Apes Point?, in: Roots of Human Sociality: Culture, Cognition and Interaction, Oxford, New York 2006, 506–524; 516. 22 V. Sommer, Kulturnatur – Naturkultur, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 5 (2011), 9–39. 18
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Mag umstritten sein, ob nun die Geste des Fingerzeigs artspezifisch menschlich ist und in ihrem Gebrauch bereits das Vermögen geteilter Intentionalität anzeigt oder ob das Begreifen der kollaborativen Intentionalitätsstruktur imitativ erlernter Interaktionen den – taxonomisch gesehen – »anderen« hominidae nicht offen steht, so scheint doch unbestritten, dass auch diese im Spielverhalten, im Suchen und Planen über situationsunabhängige Repräsentationen verfügen. Daher scheint die derzeit kontrovers geführte Debatte, ob Tiere denkfähig seien oder gar eine »theory of mind« besäßen, auf einer Reihe von Missverständnissen, mindestens aber begrifflichen Unschärfen zu beruhen. Nicht nur gehen transzendentale und empirische Argumente durcheinander, sondern es konkurrieren auch höchst verschiedene Begriffe davon, was in der abstrakten, schon von problematischen Voraussetzungen ausgehenden Frage »What Do Animals Think?« eigentlich »think« und was »animals« heißen mag. Aus empirischer wie philosophischer Perspektive ist bereits der Kollektivsingular animal (das Tier) unhaltbar und auch der Plural »animals« (die Tiere) nicht sinnvoller. Derrida hat eindrücklich auf die Absurdität einer Opposition von homo und animal bzw. animals hingewiesen, die dem Taxon »animal(s)« schlicht alle nichtmenschlichen, aber nicht-pflanzlichen Lebewesen subsumiert. Um das ›Chimärenhafte‹ solcher Unterscheidungen zu vermeiden, die – nach älterer Terminologie – auf einem logisch fragwürdigen »unendlichen Urteil« beruhen, hat Derrida das Kunstwort l´animot vorgeschlagen: Ein Wort, das (pseudo-)homophon zum Plural animaux steht, allographisch aber mit dem Wort »mot« kenntlich macht, dass sich die Unterscheidung nomenklaturischer Willkür verdankt.23 Unbestimmt bleibt bei Verfechtern der Theorie, dass »Tiere« (verstanden als ein relativ undifferenziertes singulare tantum von Fischen über Bienen bis zu Schimpansen)24 »denken« können, Vgl. Derrida, Das Tier, das ich also bin, 47; 71–84. So die grobe Eingrenzung in R. W. Lurz, Introduction, in: R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009, 1–14; 9. 23
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allerdings auch, was genau dies heißen soll. Donald Davidsons Bestimmung, an der die Kritik der animal-minds-Theoretiker sich entzündet, hatte den Vorteil begrifflicher Klarheit. Davidson band das »Habenkönnen« von Gedanken radikal an das Interpretierenkönnen natürlich-sprachlicher Rede,25 weil nur in ihnen propositionale Einstellungen allgemein vernehmbar werden (Responsivität), diese Einstellungen sich auch als (überraschend) falsch herausstellen können (Negativität) und überhaupt wahre und falsche Einstellungen mit anderen wahren oder falschen Einstellungen semantisch vernetzt sind (Inferentialität).26 Denken würde dann sehr wohl an Sprache gebunden, nicht aber schon und einzig an mentale Repräsentationen bzw. Bewusstseinstätigkeiten. Im Anschluss an Davidson hat Richard Rorty darauf aufmerksam gemacht, dass es notwendig ist, bestimmte Auffassungen an die Voraussetzung ihrer sprachlichen Artikulation zu binden. Denn sonst könnten wir, abgekoppelt von sprachlichen Äußerungen, Hunden oder Amöben auch keine Auffassungen über Kosmologie oder Transsubstantiation sinnvoll absprechen.27 Dann nämlich müsste von einer signifikantenfrei möglichen Gedanken»sprache« reiner Signifikate ausgegangen werden. Offenbar scheinen generative Grammatiker, Assoziationspsychologen und Kognitionswissenschaftler durchaus gewillt, der Hypothese einer solchen sprachlosen Sprache des Bewusstseins zu folgen: »Mentalese«. Eine Sprache zu beherrschen, wäre dann das Vermögen, Übersetzungen aus dieser innativen Sprache in Laut- oder Wortreihen zu meistern.28 Solche Ansätze kranken freilich an der bereits von Rousseau aufgedeckten Sprachentstehungsaporie:29 Man muss einen Geist voraussetzen, dessen sprachlose Operationen Sprache hervorbringen, in welcher all jene propositionalen Gehalte expressiv werden, die auch ohne sie möglich sein sollen. Wozu dann aber Sprache? D. Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, 157. Ebd., 193–197. 27 Vgl. R. Rorty, Philosophy and Social Hope, London 1999, 45–46. 28 Vgl. S. Pinker, The Language Instinct. How the Mind Creates Language, New York 1994, 82. 29 Vgl. J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, hrsg. von H. Meier, Paderborn, München, Wien, Zürich 2001, 116–122. 25
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Mag unproblematisch sein, dass andere Lebewesen (welche, wäre jeweils zu klären) zu subsprachlichen Repräsentationen, zu intentionalen Auffassungen oder sogar zu propositionalen Einstellungen fähig sind, so ist doch höchst umstritten, ob hier nicht nur von Repräsentationen erster Ordnung (first order represententional approach: FOR), sondern auch von Repräsentationen höherer Ordnung (higher order represententional approach: HOR) gesprochen werden kann.30 HOR-Theoretiker müssen folglich plausibel machen, dass die de-dicto-Auffassungen nichtmenschlicher Lebewesen auch de-re-Auffassungen sind. Dale Jamieson weist auf einen logisch-semantischen Aspekt dieses Problems hin.31 Die Auffassung, (i) dass Tiere denken, scheint unvereinbar mit der zunächst plausibel wirkenden Auffassung, (ii) dass wir (aufgrund mangelnder expliziter Responsivität) nicht wissen können, was genau sie in besonderen Situationen denken. Denn wenn »denken« stets heißt: »etwas Bestimmtes denken«, und »wissen« stets heißt, dass die Wahrheit dieses Wissens irgendwie feststeht oder überprüfbar ist, dann wäre Auffassung (i) nur unter der Bedingung der Negation von Auffassung (ii) möglich. Einfacher gesagt: Dass Tiere denken, würde nur behaupten können, wer auch wissen kann, was sie konkret denken. Jamiesons argumentative Scholastik beruht allerdings schon auf einem unter- bzw. überbestimmten Begriff von Denken, der alle Formen sensitiver, emotionaler und rationaler Repräsentationen einzuschließen scheint. Würden wir den gemeinten nichtmenschlichen Organismen schlicht Bewusstseinstätigkeiten zuschreiben und a) alle Formen des impliziten und expliziten Metabewusstseins (des sich GründeGebens und Rechenschaft-Ablegens über diese und jene Bewusstseinsinhalte) oder der geteilten Intentionalität »Repräsentationen höherer Ordnung« nennen sowie b) deren unhintergehbare Sprachabhängigkeit durchsichtig machen, dann blieben wenigstens basale, einigermaßen belastbare begriffliche Unterscheidungen gewahrt. R. W. Lurz, Introduction, in: ders. (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009, 8–9, 31 D. Jamieson, What Do Animals Think?, in: R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, ebd., 15–34. 30
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Damit liesse sich auch eine zweite, vermutlich einfach nur begrifflicher Sorglosigkeit entspringende Frage von HOR-Theoretikern angemessener reformulieren: »Haben Schimpansen eine Theo rie des Geistes/Bewusstseins?« Denn gemeint ist keine »Theorie«, sondern eine Form des Metabewusstseins eigener Bewusstseins inhalte: »Ich denke, dass ich weiß, dass …«. Aus den Befunden, die der Debatte zwischen Premack und Woodruff einerseits und Tomasello und Call andererseits zugrunde liegen, scheint hervorzugehen, dass Schimpansen in der Lage sind, nicht nur die Handlungsziele von Artgenossen und Experimentatoren zu »verstehen«, sondern auch zu antizipieren. Aus Experimentalanordnungen, in denen Probanden ihr Handlungsziel nicht erreichten (etwa in Futtersuchexperimenten), die Schimpansen aber gleichwohl reagierten, als ob es erreicht wurde, lässt sich schließen, dass die Tiere auf »mögliche Absichten« reagieren und diese mental vorwegnehmen: Sie folgen einem »imitation paradigm in which the chimpanzee subject actually acts out in her own behaviour what she understands the other to be attempting to do.«32 Damit scheint die Möglichkeit einer Art Rollentausch eröffnet, in der das Versuchstier die Handlungen des Aktors übernimmt. Zugleich zeigen solche Versuche die Grenzen des Antizipationsvermögens auf. Call und Tomasello vermuten, dass Schimpansen nicht unterscheiden zwischen Bedingungen der Nichtinformation (etwa über den Ort eines bestimmten Objekts) und solchen der Fehlinformation. Anders gesagt: »chimpanzees understand knowledge-ignorance, but not false-belief«.33 Entsprechend scheint Davidsons begriffliches Argument, dass Auffassungen zu haben notwendig auch die Überraschung über die Falschheit der eigenen Auffassungen implizieren müsse, auf empirischen Wege nicht einfach widerlegbar zu sein. In diesem Zusammenhang hat HansJohann Glock ein Vermittlungsargument für die Kontroverse zwischen Lingualisten (Denken ist nicht ohne Sprache möglich) und ethologischen Mentalisten (Denken ist auch in subsprachlichen J. Call, M. Tomasello, Does the Cimpanzee Have a Theory of Mind? 30 Years Later, in: Trends in Cognitive Sciences 12 (2008), 187–192; 189. 33 Ebd., 191. 32
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Formen bestimmter Tierarten möglich) zur Diskussion gestellt. Begriffsgebrauch lasse sich, so die moderat mentalistische Prämisse seines Arguments, auch an nicht-linguistischem Verhalten feststellen. Auch Tiere gewinnen holodoxastische Auffassungen, die gleichwohl nicht »holophrastisch«34 (ein unglücklicher Begriff, weil er in der Linguistik protosprachliche Ein-Wort-Sätze meint, bei Glock aber Davidsons inferentialistischen Holismus bezeichnen soll) sein müssen. Dass eine Honigbiene über grobe kognitive Schemata der Pflanzenobjekte verfügt, die sie auf ihrer Pollensuche ansteuert, scheint ebenso evident wie der Umstand, dass Hunde unterschiedliche Schemata für »Katze« und »Hamster« besitzen. Glocks springender Punkt ist nun der, dass holodoxastische, aber subsprachliche »Begriffe« im Unterschied zu den sprachabhängigen (»holophrastischen«) nicht inferentiell verfasst sein können – und auch nicht müssen. Begriffliches Vermögen braucht dann auch nicht über ein dichtes Netzwerk verwandter Auffassungen oder über Metaauffassungen zu verfügen.35 Weder muss der Hund, der einer Katze nachjagt, »wissen«, dass es eine Eiche ist, auf die sie sich flüchtet,36 noch muss er »wissen«, dass Eichen – wie andere Bäume auch – brennen können.37 Dies zeige zum einen, dass das empirische Wissen von Tieren nicht auch schon ein konzeptuelles ist, und zum anderen, dass die »Begriffe«, über die Tiere verfügen, schlicht nicht die gleiche semantische Intension und inferentielle Rolle haben müssen wie die Begriffe, über die wir verfügen. Ein solcher negativer Beweis, dass die Argumente eines holistischinferentialistischen Lingualismus nicht die Annahme von animal minds widerlegen, soll indes nicht Differenzen verschleifen, sondern deren Demarkationslinien transparenter machen. Sie wäre dann dort aufzusuchen, wo wir nichtmenschlichem Bewusstsein zwar die Anwendung von (nicht nur perzeptiv gewonnenen, sondern auch erlernten) Begriffen zuschreiben – nicht aber auch das Vermögen, diese Begriffe erläutern zu können.38 H.-J. Glock, Animals, Thoughts and Concepts, 42. Ebd., 49. 36 N. Malcolm, Thoughtless Brutes, 13. 37 Glock, Animals, Thoughts and Concepts, 53. 38 Ebd., 61. 34 35
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13 · Signalkommunikation
Je eindimensionaler und weltärmer ein Organismus an seine Umwelt gebunden ist, desto situationsabhängiger dürften dessen mentale Repräsentationen sein. Wenn diese Prämisse zutrifft, dann lässt sich der Begriff der situations(un)abhängigen Repräsentationen (cued vs. detached representations)39 zum einen mit Uexkülls biosemiotischem Konzept organismusspezifisch bedeutungsvoller Umwelten verbinden.40 Zum anderen ließe er sich mit der Unterscheidung zwischen holodoxastischen und inferentiell-holistischen Begriffen noch wesentlich genauer differenzieren. Wie sehr Umweltbindung und Spezialisierung die Situationsabhängigkeit von Reaktionen auf diese Umwelt prägt, zeigt die Signalkommunikation von Insekten. Hier scheint einer quantitativ hochspezifischen Signalcodierung durch das Communicans die qualitativ wenig variationsreiche Breite des übermittelten Communicatum zu entsprechen. In der Verbindung von chemischen, akustischen, taktilen und optischen Signalen erweitert sich zwar das Kommunikationsspektrum beträchtlich, kaum aber das Informationsspektrum. Überdies dürfte es den wenigen Informationen an Opazität mangeln, sie haben exakt zu sein. Seidenspinnerweibchen (Bombicidae) verströmen aus Duftdrüsen die Locksubstanz Bombykol, die die Seidenspinnermännchen selbst über kilometerlange Distanzen mit ihren an den Antennen sitzenden Chemorezeptoren auch in kleinster Verdünnung zu dekodieren in der Lage sind.41 Die Passgenauigkeit der Informationen etwa im Paarungsverhalten ruft eine Eindeutigkeit und Eindimensionalität dieses Verhaltens hervor, das keine Wahl erlaubt. Passen Locksubstanzsender und Locksubstanzempfänger, so steht keine Möglichkeit offen, sich anders zu verhalten. Zur chemischen Lockstoffkommunikation kann die akustische Signalkodierung hinzutreten. Borkenkäfer (Scolytidae) zirpen mit Hinterleib und Flügeldecken – ohne die Luftschwingungen indes Vgl. Gärdenfors, The Dynamics of Thought, 227–228. Vgl. B. Buchanan, Onto-Ethologies: The Animal Environments of Uexküll, Heidegger, Merleau-Ponty, and Deleuze, New York 2008, 7–38. 41 Vgl. T. Bauer, Die Sprache der Insekten, in: Christiana Albertina 58 (2004), 6–17; 7. 39
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»hören« zu können. Vielmehr vermitteln die Schwingungsrezeptoren ihres Körpers die sich auf dem Holz übertragenden Vibratio nen zu »Informationen«. Vibrationssignale können artspezifisch hochdifferenzierte Rhythmen erzeugen, wie etwa beim Paarungsverhalten der Klopfkäfer (Anobidiae). Die relativ geringe Reichweite von Vibrationssignalen, die auch als Warnsysteme eingesetzt werden, wird deshalb von den im engeren Sinne akustischen Signalen übertroffen. Auch diese sind art- und umweltspezifisch so exakt und angepasst, dass Irrtümer oder Fehldeutungen tendenziell ausgeschlossen werden. Um die Fluggeräusche (von ca. 200 Hz) einer Wespe eindeutig dekodieren und sich vom Blatt fallen lassen zu können (= cued representations), darf es für die Schmetterlingsraupe evidenterweise keine Konflikte mit Frequenzen geben, die andere Informationen übermitteln. Warn- und Paarungssignale müssen notwendig differieren. Auch sind Interferenzen von fremd- und selbsterzeugten Signalen auszuschließen, wie das Beispiel des Paarungsverhaltens von Mücken zeigt: »Die Resonanzfrequenz der Fühlergeißel der Männchen von Culex pipiens liegt […] bei 350 Hz, und das entspricht dem Flügelton der Weibchen. Nur diesen ›hört‹ das Männchen und nicht viel mehr, z. B. auch seinen eigenen nicht, der bei >500 Hz liegt.«42 Gleichwohl unterscheidet sich die semiotische Differentialität von Sprachzeichen wie /b/ und /p/ ums Ganze von einer vermeintlich analogen »semiotischen« Differenz wie etwa der von 350 Hz und 500 Hz. Letztere wäre, (i) semiotisch zwar distinkt, aber nicht disjunkt, vor allem aber (ii) immer schon (jeweils speziesabhängig) situationsstabil bedeutungstragend, nicht bloß situationsunabhängig bedeutungsunterscheidend. Situationsgerechtes Verhalten durch situationsabhängige Kommunikation folgt funktional den evolutionären Notwendigkeiten, in aller Regel: Selektionsanpassungen. Die Eindeutigkeit der Signalkommunikation von Insekten gehorcht einzig der Effektivität von Fortpflanzung, Nahrungsbeschaffung und Feindabwehr. Eindeutigkeit heißt dabei keineswegs Einfachheit oder Einzügigkeit. Die verschiedenen Ameisenarten verfügen durchschnittlich über 20 verschiedene, sei es chemische, akustische oder taktile Signal Ebd., 10–11.
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formen.43 Allgemein gelten die Kommunikationsformen der Honigbienen (Apidae) zu den variantenreichsten innerhalb das Taxons »Insekten«.44 Die verschiedenen »Tanz«formen und die Übergänge dieser Figuren, etwa des »Rundtanzes« in den »Schwänzeltanz«, kodieren und dekodieren indes nicht weniger eindeutig überlebenswichtige »Informationen«. In der Koordination von Laufrichtung, Stellung zur Sonne, Tanzgeschwindigkeit und -intensität geben die »Tänzerinnen« äußert genaue Informationen zur Entfernung und Richtung der von ihnen entdeckten Futterquellen.45 Ungeachtet ihrer Varianz sind diese Informationen so eindeutig kodiert, dass sie auch von elektromotorisch bewegten Kunstbienen übermittelt werden können.46 Der an einem Metallgestänge über den Waben sich bewegenden, programmiert schwänzelnden Vortänzerin folgten ihre Nachtänzerinnen »umgehend an [ jene] künstliche Futterquellen, deren Lage man in der Tanzfigur der Kunstbiene kodiert«47 hatte. Diese »Manipulation« scheint problemlos möglich, ohne dass die Tänzerinnen ihre falsche Artgenossin erkennen mussten. Kollektiv ist folglich nicht nur das Nahrungssuch- und Abwehrverhalten, sondern auch das Getäuschtwerden – was die Frage aufwirft, ob sich ein Bienenstaat von der beständig täuschenden Motorbiene beliebig oft an Futterquellen locken ließe, die keine sind; ob also kollektives Lernverhalten im Sinne einer Täuschungsresistenz möglich wäre. Kommunikation mit funktionsreferentiellen optischen Signalen ist keineswegs auf Insekten beschränkt. Humboldt-Kalmare (Dosidicus gigas) verständigen sich über blitzartig wandelnde Farbmus Vgl. B. Hölldobler, E. O. Wilson, The Ants, Cambridge, Mass. 1990. Mit Bedacht hat Karl von Frisch in seiner klassischen Studie zur Bienenkommunikation den Begriff der Sprache in Anführungszeichen gesetzt, vgl. K. von Frisch, Über die ›Sprache‹ der Bienen. Eine tierpsychologische Untersuchung, in: Zoologische Jahrbücher 40 (1923), 1–186. 45 Vgl. R. Menzel, Von der reduktionistischen zur kognitiven Verhaltensbiologie. Wie Verhaltensbiologen über Kognition bei Tieren streiten – Forschungen über die Navigation bei Insekten, in: Philosophie der Tierforschung. Bd. 1: Methoden und Programme, hrsg. von M. Böhnert, K. Köchy, M. Wunsch, Freiburg/ München 2016, 341–369. 46 Vgl. A. Michelsen et al., How Honeybees Perceive Communication Dances, Studied by Means of a Mechanical Model, in: Behavioral Ecology and Sociobiology 30 (1992), 143–150. 47 T. Bauer, Die Sprache der Insekten, 15. 43
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ter ihrer Haut.48 Sie wechseln zwischen Weiß und einem tiefen Rot und scheinen sich dabei aufeinander abzustimmen. Was genau sie an Informationen austauschen, ist noch nicht bekannt. Aber auch hier steht zu vermuten, dass die Muster eindeutig codierbar sind; und auch hier wird deutlich, dass Signalkommunikation situa tionsangepasst und unzweideutig vollzogen wird.
14 · Sprechmimesis
In natürlichen Lebensräumen dient Kommunikation dem nackten Überleben. Deshalb kann sie auch nicht schrittweise eingeübt werden, sondern muss reibungslos erfolgen. Nur wenige Le bensformen durchlaufen im Erlernen des Sprechens eine Phase des Lallens. Beim Menschen wird der frühkindliche Instinkt des Brabbelns, der Einübung des Vokalisierens und Artikulierens, in der Regel über positiven Widerhall durch die Eltern gefördert. Jeder noch so klägliche Versuch der Artikulation von Sprache findet ein begeistertes Echo und wirkt so auf die Sprechkompetenz zurück. Schon das babbling dient, von noch unkoordinierten Handbewegungen unterstützt, der Einübung abstrakter linguistischer Strukturen.49 Während die Formen der Signalkommunikation Insekten angeboren sind und das Grummeln und Quietschen der Schimpansen kaum Entwicklungsstadien durchläuft, 50 scheint unter Wirbeltieren der Sprecherwerb von Singvögeln die größten Parallelen zum menschlichen aufzuweisen. Neueste komparative Studien an 48 Vogelarten gehen von 55 gemeinsamen Genen in den bei Vögeln und Menschen für die Sprechverarbeitung im Gehirn beteiligten Regionen aus.51 Sie scheinen ältere Studien zu bestätigen, die »in Vgl. H. Rosen et al., Chromogenic behaviors of the Humboldt squid (Dosi dicus gigas) studied in situ with an animal-borne video package, in: The Journal of Experimental Biology 218 (2015), 265–275. 49 L. A. Petitto und P. F. Marentette, Babbling in the Manual Mode: Evidence for the Ontogeny of Language, in: Science 251 (1991), 1493–1496. 50 R. M. Seyfarth, D. L. Cheney, Primate Vocal Development, in: M. D. Hauser/M. Konishi (Hrsg.), The Design of Animal Communication, Cambridge, Mass. 1999, 63–110. 51 O. Whitney et al., Core and Region-enriched Networks of Behaviorally Regulated Genes and the Singing Genome, in: Science 346 (2014), 1334–1345. 48
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triguing parallels«52 im Sprechen von Singvögeln und Menschen vermuteten.53 Während Neurowissenschaftler primär die offenbar erstaunlichen Parallelen zwischen den »neuralen Substraten«54 interessieren, lassen schon die phänomenalen Parallelen und Differenzen relevante sprachtheoretische Schlüsse zu. Sie betreffen in erster Linie das bereits von Aristoteles als spezifisch menschlich bestimmte, natürlich mitgegebene (sýmphỹtos) Vermögen zur Mimesis.55 Die ornithologische Fachterminologie unterscheidet zwischen »birdsongs« und »calls«. Bei Singvögeln sind »songs«, gegen die umgangssprachliche Gewohnheit, keine »calls«. Denn die rhythmisch und modulatorisch hochkomplexen songs scheinen mit holophrastischen Warn- oder Balzrufen kaum vergleichbar. Die kontroverse Frage ist, ob die Sequenzen von birdsongs mit grammatischen Strukturen vergleichbar sind. Auch hier neigt die Fachforschung zu einer recht sorglosen Assimilierung hierarchischer Liedstrukturen zu grammatischen Strukturen natürlicher Sprachen. Bestimmte Finkenarten (z. B. die Spitzschwanz-Bronzemännchen: Lonchura striata) scheinen eine postnatal erworbene Fähigkeit aufzuweisen, aus zusammengesetzten Silben »grammatische Regeln« und »neue auditive Informationen« ableiten zu können.56 Aus der Fähigkeit, bestimmte songs aufgrund ihrer syntaktischen Struktur zu »erkennen« wie auch aus der Existenz vermeintlich rekursiver songStrukturen, will man (so etwa die These der Studien von Abe und Dai) auf das grammatische Vermögen von Singvögeln schließen. Dann in der Tat wäre syntaktische Rekursivität kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Nur ist zu fragen, welcher Art diese Rekursivität ist. Streng (also mit Chomsky, Fitch und Hauser) genommen müsste das »spontane« Erkennen syntaktischer Strukturen dann auch die spontan-produktive Fähigkeit einschließen, den song Hauser, Chomsky, Fitch, The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?, 1572. 53 Vgl. A. Doupe, P. Kuhl, Birdsong and Human Speech: Common Themes and Mechanisms, in: Annual Revue of Neuroscience 22 (1999), 567–631; 567. 54 M. Konishi, Birdsong: From Behavior to Neuron, in: Annual Revue of Neuroscience 8 (1985), 125–170; 125. 55 Vgl. Aristoteles, Poet. 4, 1448b6. 56 Vgl. K. Abe, W. Dai, Songbirds Process the Spontaneous Ability to Discriminate Syntactic Rules, in: Nature Neuroscience 14 (2011), 1067–1074. 52
Sprechmimesis | 51
wiederum in syntaktische Metastrukturen einbetten zu können. Mimesis ist nicht schon poiesis und die Informationsgewinnung aus syntaktischen Strukturen noch nicht deren Beherrschung. Die überwiegende Zahl der Singvogelarten muss die anspruchsvollen songs mühsam und mimetisch einstudieren. Sie lernen in Phasen – »from baby talk to complex vocalizations«57. Dabei durchlaufen junge Singvögel nicht nur eine »frühkindliche« Periode des Brabbelns oder Lallens, sondern erleben auch später noch kritische Phasen, in denen offensichtlich noch-nicht-gelingende, d. h. »falsch« vorgetragene songs erst eingeübt und laufend verbessert werden müssen – vergleichbar (so die ethologische Spekulation) mit dem Erlernen von Fremdsprachen beim Menschen.58 Junge Singvögel imitieren die älteren, um zunächst nur recht amorph vokalisierte Varianten der song-Vorbilder erwachsener Vögel herauszubringen, subsongs genannt. Bekannt ist auch die Fähigkeit, die songs eines Artgenossen exakt zu kopieren, ins eigene Repertoire aufzunehmen und »zurückzuspielen«: das type-matching.59 Möglich scheint sogar die interspeziesistische Einprägung gehörter Gesänge. Zebrafinken-Jungvögel (Taeniopygia guttata) scheinen durch die neuronalen Verhältnisse nicht im tiefen, wohl aber im intermediären auditiven Cortex in der Lage, Gesänge anderer Arten (etwa der Spitzschwanz-Bronzemännchen) einzuprägen.60 Auch diese Studien erliegen der Verlockung, von den Parallelen in den neuronalen Mustern auf Ähnlichkeiten zur menschlichen Wahrnehmung sprachlicher Laute zu schließen. Näher liegen jedoch Schlüsse auf jene anderen Tierarten, die ebenfalls das Sprechen einlernen: Delphine, Seelöwen, Fledermäuse, Elefanten. Dann stellte sich die Frage, ob Sprecherwerb, im Unterschied zum bereits natal mitgebrachten Sprachbesitz (zumal bei entsprechenden Parallelen der neuronalen Muster und Transmitter) ein Indikator für das M. Fessenden, Massive Genetic Effort Confirms Bird Songs Related to Human Speech, in: The Scientific American, 15. 12. 2014, (www.scientificamerican.com (letzter Zugriff: 18. 11. 2019). 58 Hauser, Chomsky, Fitch, The Faculty of Language, 1572. 59 W. A. Searcy, M. D. Beecher, Song as an Aggressive Signal in Songbirds, in: Animal Behavior 78 (2009), 1281–1292. 60 Jordan M. Moore; Sarah M. N. Woolley, Emergent Tuning for Learned Vocalizations in Auditory Cortex, in: Nature Neuroscience 22 (2019), 1469–1476. 57
52 | Tiere, die kommunizieren
Vermögen zu higher order representations sein könnte. Wie immer drohen solche Fragen empirische und apriorische Unterscheidungen zu vermengen, deuten aber in die Richtung derzeit diskutierter Kompromisse wie etwa der von Glock vorgeschlagenen Synthese zwischen linguistischen und mentalistischen Positionen in Bezug auf holodoxastischen Begriffsgebrauch. Damit berühren sie erneut die Frage nach der – von Hauser, Chomsky und Fitch behaupteten – Exklusivität der Rekursivität menschlicher Sprachen. Birdsongs werden künftig noch genauer auf ihre grammatikanalogen Strukturen zu untersuchen sein. Denn das Merkmal der Rekursivität allein macht noch nicht das Ensemble symbolischer Reflexivität aus. Außerdem musste die Behauptung grammatikanaloger Strukturen bei bird songs ebenso angeben können, welche genaue, spezifisch morphologische Funktion das syntaktische Element hat, wie man dies im Falle der Grammatik natürlicher Sprachen problemlos angeben könnte. Solange diese Funktion nicht genau bestimmt werden kann, sollte man sich mit weitreichenden Analogien besser zurückhalten. Auch in der ornithologischen Fachforschung scheint der ethologische Fehlschluss, scheint die Hypostasierung eines Elementes zum Ganzen weit verbreitet. Ähnliche Fragen stellen sich für das Kriterium gestufter Intentionalität. Denn reflexiv, so ließe sich argumentieren, wird das Vermögen der Mimesis spätestens dort, wo es sich etwa zu einem Vermögen der Nachahmung zwecks Täuschung erweitert. Im Planen, Ablenken und Täuschen erblicken Ethologen Vorformen reflexiver Intentionalität. Das macht Experimente mit Sprechkünstlern wie Papageien interessant, bei denen sich, wie neuere Studien andeuten, das Vermögen zur Nachahmung menschlichen Sprechens mit dem zur intentionalen Verhaltensmanipulation anderer paart. Auch Primaten können bis zu einem bestimmten Grad die Inten tionen anderer antizipieren und deren Verhalten intentional beeinflussen.61 Dies mit durchaus unterschiedlichem Geschick: Schimpansen (Pan troglodytes) scheint dies auch in nicht-kompetitiven Vgl. J. C. Gómez, The Emergence of Intentional Communication as a Problem-solving Strategy in the Gorilla, in: S. T. Parker / K. R. Gibson (Hrsg.), »Language« and Intelligence in Monkeys and Apes: Comparative Developmental Perspectives, New York 1990, 333–355. 61
Sprechmimesis | 53
Situationen zu gelingen, Haubenkapuzineraffen (Cebus apella) dagegen nicht.62 Während Grüne Meerkatzen (Chlorocebus pygerythrus) falsche Warnrufe offenbar einzig in Gefahr-, Aggressions- und Konkurrenzsituationen zur Täuschung ihrer Feinde oder Konkurrenten abgeben, lassen sich an Graupapageien (Psittacus erithacus) Sprechversuche einer ungezwungenen Verhaltensmanipulation ihrer menschlichen Trainer beobachten. Dabei machen sprachmimetisch besonders »gebildete« Graupapageien offenbar keine Anstalten, durch körperliche Bewegungen an eine Nuss zu gelangen, sondern suchen mit holophrastischen »Sätzen« wie »Want nut« ihre Trainer dazu zu bewegen, sie ihnen zu geben. Auch auf die Forderung der Trainer »Go pick up nut« antworteten diese Graupapageien mit wiederholten »Want nut«-Ausrufen, während sich mittelfristig ihre körperlichen Fähigkeiten zur Beschaffung von Nüssen (etwa durch das Ziehen an einer Kette) im Vergleich zu ihren sprachlich weniger kompetenten Artgenossen konstant verschlechterten. Verbesserte Sprechkompetenz führt zur Verminderung der string-pulling-Performance. Ganz offensichtlich tendiert ihr Verhalten im Kontext solcher Psittacus-Homo-Interaktionen aufgrund der Imitation der »Äquipotentialität«63 menschlicher Sprache (dass sie in fast jeder Situation zur Problemlösung eingesetzt werden kann), zu einer gewissen Bequemlichkeit. Aus der vorübergehenden Vertauschung der Rollen von Versuchstier und Experimentator schließen Pepperberg und ihre Mitarbeiter(innen): »They were not treating humans as a physical object to be used […], but were engaging in deliberate communication as a problem-solving strategy, which is a fairly advanced stage of development, even for human infants.«64 Die Intentionalität eines solchen, nicht mehr rein-mimetischen Verhaltens wird allerdings umschweiflos als Beleg für die HOR-Theorie von animal minds gewertet: »A bird that responds in such a manner E. Visalberghi, Success and Understanding in Cognitive Tasks: A Comparison Between Cebus apella and Pan troglodytes, in: International Journal of Primatology 18 (1997), 811–830. 63 Vgl. Fauconnier/Turner, The Way We Think, 179. 64 I. M. Pepperberg, ›Insightful‹ String-pulling in Grey parrots (Psittacus erithacus) Is Affected by Vocal Competence, in: Animal Cognition 7 (2004), 263–266. 62
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might be considered to have demonstrated an alternative higher- order intelligence, in that it knows how to manipulate another individual to access its wants.« Auch dieser Satz ein heißer Kandidat für den ethologischen Fehlschluss.
15 · Funktionsreferenz
Zu den wohl besterforschten Tiersprachen gehört die Kommunikation der Präriehunde (Cynomys). Die der Gattung Erdhörnchen subsumierte Art verfügt offenbar nicht nur über »Dialekt«varietäten, sondern auch über einen erstaunlich breiten, informationsspezifischen »Wortschatz« etwa für Figuren, Farben und Fluchtwege. Untersuchungen legen nahe, dass die dialektalen Varietäten nicht einfach phänotypische Charakteristika sind, denen genetische Differenzen entsprechen. Vielmehr scheinen sich die Alarmrufe der Präriehunde relativ kurzfristigen geographischen Veränderungen anzupassen. Auch darf man eine Tradierung von Mustern erlernten Verhaltens »between generations independently of heritable traits«65 vermuten.66 Auf diese Weise können sie sich auch mit den Jagdgepflogenheiten neuer natürlicher Feinde vertraut machen und ihre Alarmrufe entsprechend »reformulieren«. Erstaunlich ist nicht nur, dass die nach Silbenlänge, Silbenzahl und Ruflänge klassifizierbaren Pfeiflaute geographisch variieren; erstaunlicher noch ist die Fähigkeit, die Rufe nicht allein nach der Art der Bedrohung, etwa einer menschlichen Person, sondern auch gemäß den spezifischen Charakteristika dieser Person (Geschlecht, Größe, Kleidungsfarbe) zu modifizieren. Präriehunde können blaue von grünen und gelben T-Shirts unterscheiden und beziehen diese Informationen in Warnrufe ein, die oft Anregungen für Fluchtmöglichkeiten enthalten.67 Alarmrufe unterscheiden sich C. N. Slobodchikoff, S. H. Ackers, M. Van Ert, Geographic Variation in Alarm Calls of Gunnison’s Prarie Dogs, in: Journal of Mammalogy 19 (1998), 1265–1272; 1270. 66 D. E. Thompson, Different Spatial Scales of Adaptation in the Climbing Behavior of Peromiscus maniculatus: Geographic Variation, Natural Selection and Gene Flow, in: Evolution 44 (1990), 952–965. 67 C. N. Slobodchikoff, A. Paseka, J. Verdolin, Prairie Dog Alarm Calls 65
Funktionsreferenz | 55
in der Tierwelt nicht zuletzt danach, ob die Gattung nur eine Antwortstrategie auf Feinde kennt (in aller Regel: Flucht) oder auch mehrere. Dass Warnrufe relativ genaue Informationen über Art und Gestalt der Gefahr sowie auf die Dringlichkeit einer ihr gemäßen Reaktion enthalten und entsprechend variiert werden können, ist sprachtheoretisch insofern relevant, als es sich um einen besonders komplexen Fall »funktionaler Referenz«68 handelt. Funktional bezugnehmende Zeichen werden von ihren Produzenten optimal an Objekt und Situation angepasst, auf die sie sich beziehen. Umgekehrt müssen ihre Rezipienten die entscheidenden Informationen der Zeichen wahrnehmen und »interpretieren«69 können.70 Im Fall der Präriehunde ist weniger der umfangreiche »Wortschatz« an spezifischen Alarmrufen für Menschen, Leoparden, Koyoten, Schlangen, Raubvögel etc. rätselhaft, sondern warum innerhalb dieser Kategorien erhebliche Binnendifferenzierungen vorgenommen werden. Warum sollte es für die Erdhörnchen wichtig sein, die herannahende Person noch einmal nach der Farbe ihres T-Shirts zu unterscheiden? Zumal den Studien zufolge die akustische Signatur der Rufe bei sich nähernden Menschen keine spezifischen Informationen über mögliche Fluchtstrategien enthält, sondern einzig über die Gestalt der Herannahenden. Die empirischen Befunde der Studie plausibilisieren möglicherweise eine selbst nicht mehr empirische, weil sprachanalytische Unterscheidung: Formen der Signalkommunikation und funktionaler Referentialität sind gewiss notwendige Bedingungen für soziale Systeme oder »animal societies«71; sie sind aber noch keine hinreichenden Bedingungen für kulturelle Organisation. Funktionale Referenz gewährt zwar eine erstaunliche Varianz und Breite informationsspezifischer Äußerungen. Doch die Frage ist, ob funktionale Referenz auch eine angemessene Bedeutungstiefe Encode Labels about Predator Colors, in: Animal Cognition 12 (2009), 435– 439. 68 C. S. Evans, L. Evans, P. Marler, On the Meaning of Alarm Calls: Functional Reference in an Avian Vocal System, in: Animal Behaviour 46 (1993), 23–38. 69 Slobodchikoff, Paseka, Verdolin, Prairie Dog Alarm Calls, 437. 70 Vgl. C. S. Evans, Referential Signals, in: Perspectives in Ethology 12 (1997), 99–143. 71 C. N. Slobodchikoff, B. Perla, J. L. Verdolin, Prairie Dogs: Communication and Community in an Animal Society, Cambridge, Mass. 2009. 56 | Tiere, die kommunizieren
sprachlicher Äußerungen erlaubt. Diese wird paradoxerweise erst durch die notwendige Unbestimmtheit opaker Referenz, d. h. durch eine selbst wiederum kulturell funktionale Ungenauigkeit, Ungebundenheit und Indirektheit von Bedeutung möglich. Die funktionale Referenz etwa von Alarmrufen wäre auch dort noch keine Form symbolischer Referenz, wo sie besonders variantenreich ist – sie bleibt ein Modus des direkten Bezugs auf eine große Varianz möglicher Situationen und Gefahrenarten.
16 · Eigennamen
Ein entscheidender Schritt im Fortgang von der funktionalen Kommunikation zur Sprache ist die abstrakte Bezeichnung abwesender Objekte. Nur wenige Tierarten lernen ihre Stimm- und Sprechproduktion; noch weniger Arten verwenden arbiträre Signale, um anwesende Objekte zu kennzeichnen. Bislang jedoch hat man einzig an Papageien72 und Delphinen73 die Fähigkeit beobachten können, Gegenständen und Artgenossen »Namen« zu geben (labelling), die auch in deren Abwesenheit gebraucht werden können. Diese »Namen« oder Signaturlaute (signature whistles) in der Familie des Großen Tümmlers (Tursiops truncatus) scheinen tatsächlich keine »natürlichen« (nach der älteren Terminologie), sondern arbiträre Zeichen zu sein – ohne damit freilich schon als symbolische Zeichen gelten zu können. Denn nicht die Individualität der Stimme selbst kennzeichnet den individuellen Namen eines solchen Delphins, sondern es wird eine artifizielle, einzigartige Frequenzmodulation als Signaturlaut verwendet, der auch von Artgenossen »gerufen« werden kann.74 Unklar bleibt, ob dieser Eigenname von anderen »getauft« und dann vom jeweiligen Individuum erlernt oder ob der Name »gewählt« bzw. von selbst verliehen Vgl. I. M. Pepperberg, Functional Vocalisations by an African Grey Parrott (Psittacus erithacus), in: Zeitschrift für Tierpsychologie 55 (1981), 139–160. 73 Vgl. V. M. Janik, Cognitive Skills in Bottlenose Dolphin Communication, in: Trends in Cognitive Sciences 17 (2013), 157–159. 74 V. M. Janik, L. S. Sayigh, R. S. Wells, Signature Whistle Shape Conveys Identity Information to Bottlenose Dolphins, in: Proceedings of the National Academy of Science USA 103 (2006), 8293–8297. 72
Eigennamen | 57
wird; das Lautmuster ist jedenfalls früh entwickelt und kennzeichnet fortdauernd genau dieses Individuum. Während bei Gruppen, die in Gefangenschaft leben, fast hundert Prozent des Wortschatzes aus Signaturlauten besteht, verfügen wild lebende Delphinpopulationen noch über dreißig Prozent anderer Lautsignale, die einen gemeinsamen Signalschatz bilden. Delphine sind jedenfalls in der Lage, bestimmte Artgenossen zu adressieren. Noch unklar ist den Forscherinnen und Forschern, ob die zuvor aufgezeichneten, dann ausgesendeten Lautsignale von den tatsächlichen Namensinhabern oder möglicherweise von ihren Artgenossen beantwortet wurden. Dies ist insofern von Interesse, als kollektive Antworten eindeutig belegbar sind und auf basale Kommunikationsformen abgestimmten Verhaltens und damit auf Formen geteilter Intentionalität bei Delphinen deuten könnten: »If two or more animals converge in their calls, these calls can only be used for adressing the group collectively rather than individuals. […] In bottlenose dolphins, the selective use of a signature whistle by one animal allows for the occasional copying of that whistle by another animal to be an effective way of adressing an individual.«75 Nur wer Einzelne als Einzelne identifiziert, kann sich überhaupt als Kollektiv namentlich distinkter Individuen begreifen. Ob ein kollektives Bewusstsein als Gruppe vorliegt – nach Margret Gilbert eine der notwendigen Bedingungen von shared intentionality –, können freilich auch diese Studien nicht belegen. Daher kommt alles darauf an, was deren Autoren in ihrer Schlusshypothese unter »representational use« verstehen wollen: »Such a representational use of learned identity labels represents an interesting parallel to humans and the apparent necessity for these vocal labels in maintaining group cohesion may lie at the root of the evolution of complex communication and cognition systems.«76 Nicht weniger wichtig, als auf die »Parallelen« zu achten, ist indes, die Differenzen in den Parallelen nicht zu übergehen. Weder sind die Namen der signature whistles mit den (symbolisch referierenden) Namen menschlicher Normalsprachen vergleichbar; noch S. L. King, V. M. Janik, Bottlenose Dolphins Can Use Learned Vocal Labels to Adress Each Other, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 110 (2013), 13216–13221. 76 Ebd., 13219. 75
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beweist die Kommunikationsform schon mit Notwendigkeit die behauptete Fähigkeit, »to use arbitrary signals to report the presence or absence of objects«77. Zum einen sind signature whistles Konkreta, die es in menschlichen Normalsprachen gar nicht geben kann. Solche Sprachen erlauben, mit wenigen Ausnahmen, keine Individualbezeichnungen für ein und genau nur ein Referenzobjekt. Selbst Eigennamen sind stets schon Abstrakta (z. B. Berufs bezeichnungen) und mehrfach verwendbar. Der gleiche Name kann zwei oder mehr Individuen meinen. Daher sind Taufakt, Kausalverkettung von Name und Individuum bzw. Satznominali sierungen und Kennzeichnungen (»der Lehrer Platons«) notwendig, um Individuen als Individuen zu kennzeichnen.78 Zum anderen erschöpft sich Referenz auf abwesende Objekte nicht schon in Rufen nach abwesenden Individuen. Das freilich soll nicht die (künftig gewiss noch viel genauer erforschten) Sozialformen einer hochentwickelten Delphinkommunikation geringschätzen, mit der erstaunliche Kooperationsphänomene möglich scheinen. Bekannt sind Fälle eines »reziproken Altruismus« der Nahrungsteilung oder Fälle der Freigiebigkeit (gift giving), die sich nicht nur zwischen Delphinfamilien oder -schulen, sondern mithin artübergreifend ereignen.79 Bekannt sind auch extra-spezifische Kooperationen, in denen Delphinschulen ortsansässige Fischer auf Fanggründe aufmerksam machen, um »gemeinsam« zu jagen. In beiden Fällen scheint sich zu zeigen, dass die zu extra-spezifischer Kooperation neigenden Individuen einer Delphingruppe auch inner-spezifisch stärker vernetzt sind und auf einem höheren Stand sozialen Lernens stehen: »The closer association among dolphins that engage in cooperative foraging with humans is likely to facilitate social-learning processes related to the development and maintenance of this cooperation.«80 Ebd., 13216. Vgl. S. Kripke, Naming and Necessity, Oxford 1980. 79 B. J. Holmes und D. T. Neil, ›Gift Giving‹ by Wild Bottlenose Dolphins (Tursiops sp.) to Humans at a Wild Dolphin Provisioning Program, Tangalooma, Australia, in: Anthrozoös: A Multidisciplinary Journal of the Interactions of People and Animals 25 (2012), 397–413. 80 F. G. Daura-Jorge et al., The Structure of a Bottlenose Dolphin Society Is Coupled to a Unique Foraging Cooperation with Artisanal Fishermen, in: Biology Letters 8 (2012), 702–705; 704. 77 78
Eigennamen | 59
In jedem Fall droht das ethologische Verständnis von Namen und deren Kontamination mit signature whistles an dem eigent lichen Problem der Eigennamen vorbeizugehen. Denn diese haben keine bloß identifizierende, sondern eine zuhöchst symbolische Funktion, die auch so hochintelligenten Spezies wie Delphinen und Walen kaum offenstehen dürfte. Zwar mögen Eigennamen auf Gegenstände oder Personen referieren, doch haben sie – schon als Berufsbezeichnungen, metaphorische, avatarische Namen usw. – keinerlei Intension, die den bezeichneten Gegenstand selbst charakterisieren könnten (sonst wären Menschen mit dem Namen »Müller« stets Müller). Intension und Extension von Eigennamen treten in natürlichen Sprachen notwendig auseinander. Die Intension der signature whistles dagegen ist mit seiner Extension identisch. Signaturlaute bilden den einzigartigen Fall eines tatsächlich nicht immer schon verallgemeinernden Indexikalium, das reine Einzelheit bezeichnet: ein Genau-Dieses-Da. Demgegenüber kann es bei Eigennamen symbolisch-reflexiver Normalsprachen keine Beschreibung geben, die den begrifflichen Gehalt des Trägers von Eigennamen bestimmen könnte. Von einem Individuum mit dem Namen »Paul« kann nicht bestimmt werden, was sein objektives Wesen ausmacht.81 Das schließt nicht aus, dass wir »Bedeutungsfixierungen« vornehmen können: »Paul ist das Baby, das von Mrs. Jones im Arm gehalten wird«. Später kann, wie Saul Kripke gezeigt hat, von solchen Tauf- und Namensfixierungszeremonien abgesehen werden, weil im Gebrauch der Namen eine solche (allenfalls mühsam, vielleicht gar nicht mehr rekonstruierbare) Bedeutungsfixierung schlicht immer schon unterstellt werden darf.82 Anders als bei signature whistles verbindet sich mit Namen, wie Plessner hervorgehoben hat, auch eine erste soziale Rolle, eine erste Distinktion.83 Der Name wird unterm Schutz der Götter, im Namen des Menschensohns, in Anrufung übersinnlicher Mächte etc. vergeben. Während signature whistles Zeichen einer reinen Iden Vgl. H. Putnam, On Negative Theology, in: Faith and Philosophy 14 (1997), 407–422; 415. 82 Vgl. Kripke, Naming and Necessity, 56–60. 83 Vgl. H. Plessner, Philosophische Anthropologie, hrsg. von J. Gruevska, H.-U. Lessing und K. Liggieri, Berlin 2019, 138–140. 81
60 | Tiere, die kommunizieren
tität mit sich, der schlechthinnigen Identität von Name und Namensträger sind, treten menschliche Namen in Differenz zu ihrem Träger. Sie sind Zeichen einer Einheit von Träger und Rolle, von Identität und Nichtidentität. Auch diese Differenzierung kann noch einmal symbolisch überstiegen werden, etwa in der menschlichen »Erfindung« göttlicher Eigennamen. Hier wird unterstellt, dass keinerlei Prozedur natürlicher Bedeutungsfixierung diesem Eigennamen, z. B. dem Tetragrammaton יהוה, gerecht werden könne: »However, in the case of the word ›God‹, or of any of the Names of God that Maimonides discusses (e. g. YHVH), there was never a point at which some human speaker was able to indicate to Whom he or she was referring by using a literally correct finite description.« Denn weder haben wir Beschreibungen, die kognitiv synonym mit dem Namen sein können (wie könnte man sie haben, wenn seine Intension unbekannt ist?): so sind auch kyrios oder »Herr« keine Synonyme; noch stehen Referenzfixierungen wie »das Baby auf Mrs. Jones’ Arm« (Extension) zur Verfügung: »How we come to understand the name of God remains a mystery.«84
17 · Vokalisierung
Sprechen ist von Lautproduktion abhängig, Sprache nicht. Um Sprechen zu können, muss man eine Stimme haben, um eine Sprache zu meistern nicht. Daher dreht sich der jüngste Streit um die Vokalisierungsfähigkeiten von Primaten nicht eigentlich um das Vermögen der Sprache, sondern um die Fähigkeit zum Sprechen. Strittig ist, ob die Produktion von Vokalen und bestimmten Konsonanten wie /p/, /b/, /k/ auch Primaten möglich ist, und damit auch, ob ihre unausgeprägte Sprechfähigkeit eine Folge anatomischer oder neuraler Beschränkungen sei. Gegen Liebermans klassische These, Rhesus- und andere Affen seien aufgrund der Larynxstellung und anderer anatomischer Beschränkungen wohl zur Affenkommunikation (zu welcher auch sonst?), nicht aber zu differenziertem menschlichen Sprechen fähig (warum sollten sie Putnam, On Negative Theology, 415 (ebd. das vorige Zitat).
84
Vokalisierung | 61
auch?),85 können neuere Studien ins Feld geführt werden, die die Möglichkeit eines weiten Spektrums der Lautproduktion etwa bei Makakenaffen nahelegen. Gestützt auf Computermodellierung der Anatomie dieser Spezies kommen Fitch et alii zu dem Schluss, dass Makaken über eine »sprechfertige« Stimmanatomie (im Sinne der Reproduktion menschlicher Laute) verfügen, der auch die Produktion von Vokalen (mit Ausnahme vielleicht des /i/) möglich wäre.86 Anders als Lieberman et alii schließen Fitch et alii, dass es nicht an »sprechfähigen« Stimmwerkzeugen, sondern an einem »sprechfähigen Gehirn«87 mangele, um diese erstaunlich breiten Lautspektren sprachlich einzusetzen. Mit einem Wort: nicht die Anatomie, sondern die Neurologie hindert Primaten an der Imitation menschlichen Sprechens.88 Aus sprachphilosophischer Perspektive fallen zwei Prämissen dieses Streits als systematisch geradezu schief ins Auge. Zum einen die Asymmetrie des Maßstabs: Vokalisierung und Primatenkommunikation werden an Standards der evolutionär bereits weit entwickelten menschlichen Lautsprache gemessen. Doch auch Menschen können nicht hören wie Hunde – und sind auch nur mehr oder weniger zur Imitation von Vogelstimmen begabt. Zum anderen die von beiden Streitpartien gleichermaßen unbesehen geteilte Prämisse, dass die – sei es anatomisch, sei es neuronal bedingte – Differenz zwischen Primaten und Menschen schon in der Sprechfähigkeit, nicht aber erst in der Sprachfähigkeit bestehe. Mit einem Wort: Der Streit über die Limitationen der Lautproduktion verdeckt die systematische Frage nach dem Wesen natürlicher
Vgl. P. H. Lieberman, D. H. Klatt, W. H. Wilson, Vocal Tract Limitations on the Vowel Repertoires of Rhesus Monkey and other Nonhuman Primates, in: Science 164 (1969), 1185–1187; P. Lieberman, Human Language and our Reptilian Brain: The Subcortical Bases of Speech, Syntax, and Thought, Cambridge (Mass.)/ London 2002. 86 W. T. Fitch, B. de Boer, N. Mathur, A. A. Ghazanfar, Monkey Vocal Tracts are Speech-Ready, in: Science Advances (Dec. 2016), 1–7 (e1600723). Fitch et alii vermuten allerdings, dass man mit gezieltem Training auch Makaken den /i/-Vokal antrainieren könne. 87 Ebd., 4. 88 Vgl. Liebermans Replik: Comment on »Monkey Vocal Tracts are SpeechReady«, in: Science Advances (July 2017), 1–3 (e1700442). 85
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Sprachen und vermengt sprechempirische mit sprachbegrifflichen Unterscheidungen. Nimmt man zum Differenzpunkt nicht das Sprechen, sondern die symbolisch-reflexive Sprache, so werden andere Anforderungen und Kriterien als die einer variablen Lautproduktion relevant. Gefragt werden müsste dann nach den imaginativen, kognitiven und sozialen Voraussetzungen und Fähigkeiten, die das Meistern einer semiotisch differentiellen, syntaktisch rekursiven, semantisch referentiellen und pragmatisch inferentiellen natürlichen Sprache notwendigerweise erfordert. Die kollaborativen Fähigkeiten »ontogenetischer Ritualisierungen«89 – das Kartoffelwaschen mancher Makakengruppen, der hochelaborierte Werkzeuggebrauch der Schimpansen, die körperlich-gestische Responsivität von Bonobos – deuten auf eine hochentwickelte soziale Abstimmungsfähigkeit, die offenbar auch auf einer subsprachlichen Ebene reibungslos funktionieren kann. Ob man deshalb bereits von »Primatenkulturen« oder »enkulturierten Affen« sprechen sollte,90 bleibt fraglich. Bindet man »Kultur« nicht allein an die Existenz von Sozialformen (also an soziale Tatsachen), sondern auch an die Möglichkeit (nicht unbedingt auch immer Wirklichkeit) ihres Metabewusstseins samt deren Reflexion in Sprache und Diskurs (also an Formen kultureller Tatsachen),91 dann kommen kollektive Vermögen in den Blick, die eine Rückkopplungsschleife zwischen Sprache, Handlung und Sozialität voraussetzen.
18 · Multiperspektivität
Das Zentrum dieses Vermögens entdeckt Michael Tomasello in einer spezifisch menschlichen Fähigkeit geteilter Aufmerksamkeit auf kollaborative Tätigkeiten (joint attentional scenes).92 Diese erfordern ein Metabewusstsein des gemeinsamen Wissens um diese Tomasello, The Cultural Origins of Human Cognition, 31. Ebd., 26; 34. 91 Vgl. Westerkamp, Kulturelle Faktizität, in: Deutsches Jahrbuch Philosophie 6: Geltung und Geschichte. Kolloquienbeiträge, hrsg. von M. Quante, Hamburg 2016, 759–727. 92 Vgl. Tomasello, The Cultural Origins of Human Cognition, 97. 89
90
Multiperspektivität | 63
geteilte Aufmerksamkeit: »two people experiencing the same thing at the same time and knowing together that they are doing this«93. Gemeinschaftliches Handeln auf der Basis wechselseitig geteilter Handlungsziele erkennen Kinder schon ab einem frühen Stadium vorsymbolisch. Im Unterschied zu Primaten sind sie, Tomasello zufolge, in einem hohen Maße motiviert, Interessen und Aufmerksamkeit zu teilen. Suchspiel-Experimente mit 14 Monate alten Kindern legen nahe, dass ihre Kommunikation andere Motive hat als die anderer Primaten. Denn sie teilen Informationen, »even when there is no benefit for themselves«94. Der entscheidende Unterschied liegt in den Motiven. Auch Primaten vollführen kognitiv komplexe Gruppenaktivitäten. Doch während Kleinkinder – in Tomasellos Experimentalanordnungen mit 18- und 24-Monatigen – den Erwachsenen ermuntern, das Spiel fortzuführen, versuchen Schimpansen allein weiterzumachen. Dies lässt den Schluss zu, dass Kinder primär um des Kooperierens willen kooperieren. Zeigen lässt sich, dass sie auch ihr vermeintliches Ziel aus den Augen verlieren, wenn ihnen die Kooperation selbst lohnender erscheint als der Gegenstand, worum willen sie anfangs zu kooperieren schienen. Schon früh beginnen Kinder, die Mittel der Kooperation selbst zum Zweck zu machen. Junge Kinder imitieren oft weniger, um eine Aufgabe zu lösen, als um Erwachsenen zu signalisieren, dass sie sich im Gleichklang (»in tune«) mit der gegenwärtigen Situation befinden.95 Folgern lässt sich daraus, dass nicht Sprache oder Geist, sondern eine bestimmte Verbindung aus beiden: linguistisch-symbolische Artikulation im Verbund mit einem Wir-Bewusstsein, den menschlichen Spracherwerb bestimmt. Sie mündet in das, was man spielerische Differenzierung nennen könnte: die symbolische Fähigkeit, etwas auch als etwas anderes aufzufassen. Dabei ist die Umkehrung von Handlungsrollen ein entscheidender Faktor. Offenbar erfordert der Ausdruck der eigenen Intentionalität bei Kleinkindern eine potenzielle Rollenvertauschung auf Seiten des Kindes: »I can do for her what she just did for M. Tomasello, M. Carpenter, Shared Intentionality, in: Developmental Science 10 (2007), 121–125; 121. 94 Ebd., 122. 95 Ebd., 123. 93
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me«96. Kinder werden in die Lage gebracht, eine Du-Perspektive einzunehmen, um an dem Ensemble von Handlungen, Gesichtszügen, Gesten und sprachlichen Aufforderungen des Erwachsenen abzulesen, was dieser von ihm wünscht. So ergibt sich als Grundmodell des Verständnisses kommunikativer Intentionalität: You intend for [ me to share attention to X ]. Der entscheidende Punkt ist, dass sich die erwachende Selbstrepräsentation des Kindes über die Wahrnehmung der Reaktion des Erwachsenen auf es herstellt. Es beginnt sich selbst durch den anderen von Außen zu sehen, so dass es – eine Idee der modernen Sozialphänomenologie – der Blick des Anderen ist, der unser Selbstsein bestimmt. Kleinkinder können sich also zunächst überhaupt nur in der Perspektive des Du auf sich selbst beziehen. Tomasello zeigt, dass nicht generell Imaginationsleistungen, sondern besondere Imaginationsleistungen notwendig sind: Das Kind begreift, dass sein Partner die Intention hat, eine gemeinsame Aufmerksamkeit herzustellen, um sich dann zu imaginieren, was diese Aufmerksamkeit meinen könnte: »Sharing means that both partners attend both to the referent and to one another’s attention to the referent. Self is conceptualized in the same way as the partner.«97 Die weitere Pointe besteht freilich darin, dass das Kind nicht bei der Du-Perspektive und dem durch sie Erlernten stehen bleibt. Da es sich beim Erlernen neuer Symbole nicht einfach an die Stelle des Erwachsenen setzen kann, weil es sonst das Symbol auf sich selbst beziehen müsste, geht seine innere Einstellung offenbar über die simple Vertauschung von Rollen hinaus. Das Kind lernt folglich, ein Symbol gegenüber einem Erwachsenen genauso zu gebrauchen, wie es der Erwachsene ihm gegenüber gebraucht hat. Und es ist in Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit genötigt, sowohl die eigene Rolle als auch die des Erwachsenen von einem beiden äußeren – also dritten – Standpunkt aus zu betrachten. In dem vermeintlichen Rollentausch wird in Wirklichkeit eine dritte Perspektive erzeugt, nämlich die des sich selbst Betrachtens (im und) durch den Anderen. Das Erstaunliche der Einnahme einer Zweite-Person-Perspektive, um über eine dritte Perspektive, die der gemeinsamen Situation Tomasello, The Cultural Origins of Human Cognition, 96. Ebd., 104.
96 97
Multiperspektivität | 65
einen Blick auf sich als – noch gar nicht konstituierte – erste Person gewinnen zu können, deckt die »Logik« des empraktischen Lernens symbolischer Formen auf. Rückschlüsse erlaubt der Grundgedanke dieser Studien auch auf die Konstitution des Selbstbewusstseins.98 Ganz offensichtlich ist der erste Schritt der »self-awareness« eine »you-awareness«99: »I can in my inner world have a detached representation of my own inner world. The most important aspect of this form of detachement is that I can attend to different aspects of my inner world and use this attention in my planning.«100 Erst durch die Dreidimensionalität der Personen- und Situationsaspekte kommt es zur Überwindung der reinen Innenperspektive, die Kommunikation, Repräsentation und Referenz unhintergehbar symbolisch werden lässt. Das Kind kann nun annehmen, »dass der Hörer dasselbe Symbol sowohl versteht als auch hervorbringen kann; und der Hörer weiß gleichfalls, dass beide das Symbol verstehen und hervorbringen können. […] Wenn also ein Kind dadurch lernt, anderen gegenüber auf etwas zu zeigen, dass es die Zeigegeste von Erwachsenen imitiert, die ihm gegenüber auf etwas zeigen, wird sein Zeigen dadurch symbolisch.«101 Sprachphilosophisch relevant ist die Multiperspektivität der Intentionen, die keine eindeutige Bezugnahme entfalten. Dann wird nicht das Ich, auch nicht das Du, sondern ein Wir zum Ersten – und dieses Wir wiederum ist selbst kein eindeutiger, sondern ein schwankender Referent.102 Multisperspektivität charakterisiert jeden symbolischen Zeichengebrauch, kraft dessen ein Gegenstand für uns zugleich »Blume, Rose und Geschenk«103 oder eine Person zugleich »Anführer, König, Präsident«104 sein kann. Aufgrund der Vgl. unten, Abschnitt III, 28. Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, 233. 100 Ebd., 236. 101 Tomasello, The Cultural Origins of Human Cognition; dt.: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt/M. 2006, 139. 102 Vgl. Westerkamp, Sachen und Sätze, 26–33. 103 Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 140. 104 Taylor, The Language Animal, 28; dt.: Das sprachbegabte Tier, 62: »Bei Affen, die in Gruppen leben, kann es zwar so etwas geben wie das (von uns so bezeichnete) ›dominante Männchen‹, aber nur sprachbegabte Wesen können zwischen Anführer, König, Präsident und dergleichen unterscheiden. Tiere paa98
99
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Unbestimmtheit von Referenz, die paradoxerweise auch zum Mittel sprachlicher Präzision werden kann, stellt die multiperspektivische Struktur der Sprache den frühkindlichen Spracherwerb zwar einerseits vor Schwierigkeiten, doch andererseits stehen die Perspektiven in Abhängigkeit voneinander. Sie formen ein Netz, dessen Verknüpfungen sich fortgehend erweitern und vertiefen – und immer leichter handhabbar werden. So erlangen Kinder zwischen 18 und 24 Monaten die Fähigkeit, »to refer to the exact same referent with differend linguistic expressions in different communicative circumstances«105. Erlernt wird, dass Symbole eine Bedeutung, aber verschiedenen Sinn haben können und dass diese, erstens, in verschiedenen Situationen verwendet werden können und damit, zweitens, nicht an den ursprünglichen Ort ihres Erwerbs in einer gemeinsamen Aufmerksamkeitssituation gebunden sind: Symbolisch-perspektivische Repräsentation macht sprachliche Zeichen situationsunabhängig. Wie anders könnte es Kindern sonst möglich sein, aus der Syntax einer Formulierung die Semantik der ihnen unbekannten Wörter zu erschließen (= funktional basierte Distributionsanalyse). Sprachliche wie subsprachliche Symbolisierungen erfordern in ihrer mehrfach verschachtelten Intentionalität die Fähigkeit der Einbildungskraft als eines Vermögens zu spielerischer Differenzierung.106 Es äußert sich einmal in der Rekombination gegebener Symbole (der Bonobo »Kanzi« beherrschte bekanntlich über hundert verschiedene Zeichen und Wörter, blieb aber – wenn man diese »schiefe« Konkurrenz zu akzeptieren bereit ist – in deren Kombination auf dem Niveau zweijähriger Kinder), zum anderen in der Kreativität des symbolischen Umgangs mit ihnen: »Surprisingly quickly they [the children] can themselves create combinations of words that nobody has uttered, standing for ideas that nobody has previously thought. Kanzi and some of the other language-trained apes can, to be sure, produce new combinations of the signs they have learnt, but they are far from human children’s creativity.«107 ren sich und haben Nachkommen, aber nur sprachbegabte Wesen definieren Verwandtschaftsverhältnisse.« 105 Tomasello, The Cultural Origins of Human Cognition, 120. 106 Zur Erläuterung dieses Terminus vgl. oben, Abschnitt III, 21. 107 Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, 157. Multiperspektivität | 67
Die verdeckten Intentionen und Implikationen hinter den sprachlichen oder gestischen Äußerungen anderer zu erfassen, ist Teil des Vermögens spielerischer Differenzierung. Weder wird eine ethologische (Sprach-)Forschung noch eine entfaltete Sprachphilosophie ohne Elemente einer Theorie der Einbildungskraft auskommen. Für Planungen, Kontrafaktisches, Zukünftiges ist der Reichtum innerer Welten, ist die Fähigkeit, vor einem geistigen Auge imaginäre Szenarien durchzuspielen, unverzichtbar. Sprachliche Symbolhandlungen sind weder bloßes Konversationsmittel noch sozialer Kitt,108 sondern erlauben überhaupt erst so etwas wie die Emanzipation von reiner Unmittelbarkeit. Vermöge der Imagination lassen wir die »primitive Gegenwart« hinter uns; und nur kraft Sprache wird sie uns zur Welt.109 Für uns ist Faktizität immer schon Logofaktizität: Welt als sprachlich gedeutete Gegenwart selbst noch des Nichtsprachlichen.110
19 · Begriffsbildung
Sprachfähigkeit ist nicht an Sprechfähigkeit, Denken nicht an Vokalisierung gebunden. Auch taubstumme Menschen können ebenso sprachlich denken wie blinde Menschen räumlich vorstellen.111 Sprache und Sprechen gehören auch linguistisch unterschiedlichen methodischen Registern an. Selbst eine ethologisch hellhörige Sprachphilosophie wird sich deshalb nicht in eine komparative Sprechforschung verwandeln können. Während laut- und tonsprachliche Phänomene auf einer empirischen Ebene zu behandeln sind, gehören die Wesensmerkmale symbolischer So die These von R. Dunbar, Grooming, Gossip and the Evolution of Language, London 1996. 109 Vgl. H. Schmitz, Gibt es die Welt?, Freiburg/München 2014, 82–108. 110 Vgl. Westerkamp, Die Beschreibungs(un)abhängigkeit der Welt, in: Die Gegenständlichkeit der Welt. Festschrift für Günter Figal zum 70. Geburtstag, hrsg. von A. Egel, D. Espinet, T. Keiling, B. Zimmermann, Tübingen 2019, 75– 96. 111 Vgl. J. M. Kennedy, Drawings and the Blind: Pictures to Touch, New Haven 1993; J. M. Krois, Für Bilder braucht man keine Augen, in: ders., Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hrsg. von H. Bredekamp und M. Lauschke, Berlin 2011, 149–158. 108
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Reflexivität auf eine begrifflich-transzendentale Methodenebene. Das apriorische Moment der Sprachphilosophie kommt in ihrem Sprachbegriff zum Tragen. Ganz der Empirie überlassen, wäre sie gezwungen, wie stets bei Fragen nach anthropologischen Differenzen, gänzlich Ungleiches, Inkommensurables zu vergleichen: Bonobos mit westlichen Mittelstandskleinkindern, »Angeborenes« mit »Vererbtem«, »Instinkthaftes« mit »Erlerntem«, »Arten« mit »Unterarten« oder »Gattungen« etc. Schon die meisten Vergleichskategorien sind heute entweder umstritten, überholt oder aufgelöst.112 Die anthropologische Differenz verflüchtigt sich entweder zu einem Phantom – oder gerät zum Fetisch. Nach und nach wurden deshalb die Demarkationslinien älterer Unterscheidungen zwischen animalitas und humanitas verwischt. Weder scheint der Werkzeuggebrauch spezifisch menschlich;113 noch ist antizipatorisches und planendes Verhalten ein reines Humanum.114 Weder scheint das evolutionär zwecklose Spielverhalten (»boredom play«) menschliches Privileg,115 noch ist intentional abgestimmte soziale Kooperation singulär menschlich.116 Offenbar ist schon die dieser Suche zugrunde liegende Frage falsch gestellt. Doch so müßig es scheint, nach der oder den anthropologischen Differenz(en) zu fahnden, so unsinnig wäre es allerdings, Differenzen zu leugnen, zu verwischen, zu verdrängen. Es hat für uns allemal einen guten pragmatischen Sinn, zu einem Selbstverständnis unserer Gattung und seiner Geschichte zu gelangen – auch wenn sich diese Selbstdifferenzierung nicht auf den entscheidenden anthropologischen Unterschied wird zurückführen lassen. Natursystematisch (um eine Unterscheidung Max Schelers aufzugreifen)117 lässt er sich angesichts der quantitativ geringen genetischen Dif Vgl. Sommer, Kulturnatur – Naturkultur, 16–19. Vgl. W. C. McGrew, Chimpanzee Material Culture. Implications for Human Evolution, Cambridge 1992. 114 M. Osvath, Spontaneous Planning for Future Stone Throwing by a Male Chimpanzee, in: Current Biology 19 (2009), 190–191. 115 Vgl. R. Fagen, Animal Play Behaviour, Oxford, New York 1981; S. L. Hall, Object Play in Adult Animals, in: M. Bekoff, J. Byers (Hrsg.), Animal Play: Evolutionary, Comparative, and Ecological Perspectives, Cambridge 1998, 45–60. 116 Vgl. Sommer, Kulturnatur – Naturkultur, 26–27. 117 Vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von M. S. Frings, Bern 1967, 7–71; 12. 112 113
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ferenzen zu anderen Arten ohnehin nicht rechtfertigen – der Verzicht auf einen (wie immer auch vage bestimmten und jeweils synchronen) kultursystematischen Begriff des Menschen indes ebenso wenig. Die Debatte zwischen Primatologen/Anthropologen wie Volker Sommer und Michael Tomasello zeigt deshalb vor allem die Haseund-Igel-Strategie dieser Diskussion: Es wird nach neuen begrifflichen oder empirischen Differenzen gesucht, die durch empirische Befunde von der Gegenseite »widerlegt« werden, um dann mit einer revidierten Begriffsdifferenzierung das Feld des Humanen neu abzugrenzen. Für die Kommunikationsform der menschlichen Sprache kann dies nur heißen, dass sie nicht die anthropologische Differenz ist (dies zu sagen, wäre schlicht tautologisch) – wiewohl sie als Differenz überhaupt nur durch Sprache gezogen werden kann –, wohl aber Hinweise auf für uns sinnvolle Unterschiede gibt. Sprache ist selbst Teil menschlicher Naturbeherrschung. Dies aber wird überhaupt nur in der Sprache als Herrschaft durchsichtig. Auch in dieser Hinsicht ist sie selbsttransparent. Menschliche Normalsprachen, so viel scheint sicher, haben in ihrem Ensemble von skripturaler Differentialität, syntaktischer Rekursivität, semantischer Reflexivität und pragmatischer Inferentialität kein Vergleichsobjekt. Sie können deshalb in keinem Ranking auftauchen. Denn mit den Comparanda fehlte zuletzt auch das entscheidende tertium comparationis. So kommt es zu experimentell wohl fundierten, aber a priori windschiefen Vergleichen, aus denen Anthropologen und Primatologen gegenwärtig so überhastete Schlüsse ziehen – sei es für, sei es gegen anthropologische Differenzen. Aus Experimenten ist bekannt, dass Bonobos bis zu 150 menschliche Lautzeichen zu gebrauchen und Zwei-WortSätze zu formulieren in der Lage sind. Doch schon bei abstrakteren Funktionswörtern wie »Müll« stellen sich Verständnisprobleme ein. Auch vernehmen Primaten Teile der menschlichen Sprache, können sie aber nicht reproduzieren. Am auffälligsten indes ist der Unterschied zwischen dem Erlernen und dem Kombinieren von Zeichen. Hier erreichen Bonobos im besten Falle das Niveau zweijähriger Kinder – in einer vollends unfairen Konkurrenz, weil die Lernrichtung von Bonobo- zu Menschensprache nicht auch umgekehrt wird. 70 | Tiere, die kommunizieren
Deshalb können dies keine Befunde für oder gegen die Intelligenz von Primaten sein, sondern einzig klären helfen, worin eigentlich die Eigenart sprachlicher Kognition besteht. Ihr Zentrum ist eine allgemeine symbolische Imagination, die sich in jedem einzelnen Spracherwerb schon früh in Wechselwirkung von Sprachfähigkeit und Einbildungskraft herausbildet.118 Sie besteht nach Fauconnier/Turner in einem bestimmten Vermögen begrifflicher Synthesis (double-scope blending). Diese Art der Begriffsintegration ist hochkomplex und steht doch schon Kindern intuitiv offen. Fast mühelos werden aus verschiedenen Bedeutungsfeldern mithilfe syntaktischer Strukturen einheitliche Kombinationen gebildet, die mehr sind als die Addition ihrer ursprünglichen Grundbedeutungen.119 Sie zehrt von der figurativen, diskursiven und narrativen Kraft natürlicher Sprachen. Phraseologismen wie (16) Er hat diesen Tiefschlag nie verdaut werden problemlos verstanden, auch wenn es in den jeweiligen Redekontexten weder um das Sinnfeld der Nahrungsdigestion (»verdauen«) noch um das Sinnfeld des Boxens (»Tiefschlag«) geht. Semantisch konfligierende Bedeutungsfelder werden mühelos zu kühnen Konstruktionen verbunden, deren Synthesis etwas Neues zeigt, das sich nicht restlos auf die semantischen Herkunftsfelder reduzieren lässt. Auf dieser Begriffintegration beruht auch die Fähigkeit des Perspektivenwechsels, welche zur irreduziblen Voraussetzung geteilter Intentionalität gehört. Die Begriffsynthese (17) Wenn ich Du wäre, dann … verdankt sich einem Irrealis, dessen Prämisse in der kontrafaktischen Annahme besteht, eine andere Person zu sein.120 Eine darüber hinausgehende Synthesisleistung erbrächte das Antezedens des Schlusses (18) Wenn Du an meiner Stelle wärst, dann …, weil sich hier nicht nur ein Ich als ein anderes Du imaginiert, sondern weil es, als Ich, immer schon und zuerst von einem Du ausge Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, 157. Vgl. Fauconnier/Turner, The Way We Think, 113–137. 120 Ebd., 255. 118
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hend die eigenen Möglichkeiten aus der Perspektive des Anderen reflektiert. Metaphorische Bedeutungssynthese steht am vorläufigen evolutionären Scheitelpunkt der produktiv-symbolischen Einbildungskraft des Menschen. Sie ist mit anderen Mitteln als denen einer äquipotentialen, auf Zeitunterscheidungen und grammatischen Modi beruhenden Sprache nicht zu gewinnen.
20 · Sagazität
Zu den jüngsten Strategien, den Begriff der anthropologischen Differenz(en) ad absurdum zu führen, gehört die Berufung auf die Kulturfähigkeit von Tieren. Auch der Begriff der Kultur markiere keinen »Rubicon«121 zwischen menschlichen Formen der Sozialität und denen anderer Primaten. Entsprechend ist von »animal cultures«122, sogar von »animal culture wars«123 die Rede. Es fragt sich allerdings, ob diese letzte begriffliche Verschleifung den nicht zuletzt tierethischen Absichten engagierter Primatologen einen Bärendienst erweist – von den philosophisch-begrifflichen Problemen gar nicht zu reden. Aus den Aporien einer total gewordenen menschlichen Naturbeherrschung führen auf philosophischer Ebene keine begrifflichen Assimilationen, sondern (wenn überhaupt) nur Distinktionen heraus. Nur im Unterschied zwischen den kulturellen Sozialformen des Menschen und anderen Formen lebendiger Sozialität kann der ethische Abgrund ausgemessen werden, in den wohl niemand seit Schopenhauer so tief geblickt hat wie die Autoren der Dialektik der Aufklärung: Dass die Behavioristen, heißt es dort, »auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie, entfesselt, in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehr Vgl. Sommer, Kulturnatur – Naturkultur, 21. V. Sommer, A. Parish, Living Differences. The Paradigm of Animal Cultures, in: U. Frey et al. (Hrsg.), Homo novus – A Human Without Illusions, Heidelberg 2010, 17–31. 123 W. C. McGrew, New Theatres of Conflict in the Animal Culture Wars. Recent Findings from Chimpanzees, in: E. Lonsdorf, St. R. Ross, T. Matsuzawa (Hrsg.), The Mind of the Chimpanzee. Ecological and Experimental Perspectives, Chicago 2010, 168–177. 121
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losen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluß, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, paßt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, daß er, und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert, wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zunutze macht.«124 Auf einer Differenz zwischen Kulturalität und Sozialität zu beharren, will also keiner ontologischen Herabsetzung des Tiers das Wort reden (der die faktische Erniedrigung zum Material oder zum epistemischen Artefakt schon so lange und fast unwidersprochen entspricht), sondern jenes Unterschieds innewerden, aus dem überhaupt nur, vielleicht irgendwann einmal, die unreduzierte Achtung für das Andere entspringen kann. Besteht die Dialektik der Naturbeherrschung auch darin, alles miteinander zu identifizieren oder zu verrechnen, so gehört Differenzierung zu den wenigen Möglichkeiten ihres Korrektivs. Allerdings kann auch die Differenz zwischen Sozialität und Kulturalität nicht einfach mit theoriesprachlicher Willkür plausibilisiert werden. Schon umgangssprachlich überschneiden sich die Bedeutungsverwendungen bis zur Unkenntlichkeit. Der folgende Vorschlag beruht auf einem analytisch gewonnenen Begriff der kulturellen Tatsache. Er bildet deshalb »nicht einfach Sachverhalte ab, die ohnedies klar vor Augen liegen«125, sondern unterscheidet die Form von Sachverhalten selbst. Während Erfahrungsgegenstände schlicht sind, entstehen Sachverhalte überhaupt erst in und durch die Form der Sprache. Was immer ihnen an Realem zugrunde liegen mag, vorliegen können sie einzig in der Form von Sätzen.126 Bestehende Sachverhalte nennen wir Tatsachen. Innerhalb dieser Differenzierung empfiehlt es sich, noch einmal eigens zwischen natürlichen, sozialen und kulturellen Tatsachen zu unterscheiden. Während natürliche Tatsachen vorfallen (z. B. das M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947), in: M. Horkheimer, Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von G. Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1987, 277–278. 125 R. Konersmann, Kulturelle Tatsachen, Frankfurt/M. 2006, 7. 126 Vgl. G. Patzig, Satz und Tatsache, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, Göttingen 1996, 9–42. 124
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Hervorgehen und Verenden von Lebewesen) und soziale Tatsachen gemacht werden (z. B. Gruppenkonflikte zwischen Schimpansen oder solche zwischen Menschen), können wir von kulturellen Tatsachen sagen, dass sie gelten. Sie verdanken sich sprachlich-symbolischen Statusfunktionen:127 Dass dieser Steinhaufen als ein Mahnmal gelten soll oder dieses Urinal als ein Readymade, kann nur durch symbolische Übertragungsprozesse und Legitimierungsverfahren festgelegt oder eingerichtet werden. Aus ihnen muss dann die allgemeine Anerkennung dieses Etwas als Etwas so Bestimmtes entspringen. Geltungsstiftende Prozesse schließen zugleich die Bestreitung oder Nichtanerkennung der Geltung von Etwas als Etwas immer schon ein. Soziale Tatsachen werden also dort zu kulturellen Tatsachen, wo sie sozialen Handlungen überindividuelle, d. h. institutionelle Geltung verschaffen; wo sie an und durch sich hindurch auf das Selbstverständnis einer Gruppe, einer Gesellschaft oder der Gattung als Ganzer selbst reflektieren. Claude Lévi-Strauss hat diese instituierten Sachverhalte »totale soziale Tatsache[n]« genannt und am Beispiel des potlatch verdeutlicht. Der von ihm beobachtete Artefakttausch indigener Gruppen scheint zunächst keinem zweckrationalen Ziel zu gehorchen. In einem geregelten »Spiel des Tauschs« lassen sich Gegenstände, soziale Werte oder Ehefrauen zweckfrei wechseln. Lévi-Strauss folgert daraus, dass sich die Gruppe in dem Spiel allererst als Gemeinschaft bestätige und von der »Natur zur Kultur«128 übergehe. Im Spiel des Tauschs reflektiert diese Gemeinschaft implizit ihr eigenes Selbstverständnis als Gruppe. Entsprechend können auch natürliche oder soziale Tatsachen problemlos zu kulturellen Tatsachen (oder als solche interpretiert) werden. Kulturelle Tatsachen lassen sich aber umgekehrt nicht schon auf soziale oder natürliche Vorfälle reduzieren. Nur ist das, was sie von diesen unterscheidet, keine eigens zu bestimmende Super-Eigenschaft, sondern eine Art Nichteigenschaft, die den Unterschied macht: die Fähigkeit, ohne ein natürliches Substrat Etwas als Etwas oder sogar: Etwas als Etwas nicht gelten zu lassen. Vgl. J. R. Searle, The Construction of Social Reality, London 1995, 31–57. C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frank furt/M. 1981, 121. 127
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Der Mensch wurde zu dem Wesen, dem das eigene Selbstverständnis und dessen Geschichte etwas gilt. Er nimmt zugleich ein reges Interesse an Wesen und Geschichte anderer Gattungen. Kant hat diesen Spürsinn, im Anschluss an Mendelssohn, »Sagacität« genannt. Unsere menschliche Fähigkeit zu entdecken, »was in uns selbst oder anderwärts verborgen liegt«129, setzt, als »Naturgabe«, eine immer schon mit symbolischen Zeichen operierende »Einbildungskraft«130 voraus. Sagazität bedarf folglich nicht bloß der Kommunikation zwischen Sendern und Empfängern; sie verlangt nach selbstbewussten, kulturell verbundenen Sprecherinnen und Sprechern einer äquipotentialen Sprache, aus deren Ensemble von semiotischer Differentialität, syntaktischer Rekursivität, semantischer Reflexivität und pragmatischer Inferentialität kein Element einfach herauszulösen wäre. Doch auch für uns ist die unverzichtbare Äquipotentialität der Sprache: ihre Kraft, sich an Stelle des Instinkts, der körperlichen Bewegungen und inzwischen medial auch an die Stelle persönlicher Begegnungen setzen zu können, nicht nur Glück. Der namenlose Schmerz, den unser Schweigen ebenso wie unsere Sprechhandlungen verursachen oder überhaupt erst bemerkbar machen, ist für das animal symbolicum, das der Mensch nun einmal ist, Segen und Fluch zugleich. Wenigstens das Leiden an Unbestimmtheit, das symbolisch-reflexive Normalsprachen uns aufzwingen, bleibt dem Sprechen anderer Lebewesen erspart.
Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), I, § 53, B 158. M. Mendelssohn, Über die Sprache (ca. 1756), in: Jubiläumsausgabe (JubA), VI/2, 7. 129
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III
DAS TIER, DAS EINBILDET ( homo pictor )
21 · Bildlichkeit
Der Mensch ist ein bildendes Wesen. Bilden, Bilder, Bildung sind Weisen der Distanznahme. Wir distanzieren uns von der »primitiven Gegenwart«1 weltlicher Unmittelbarkeit, um sie uns vermittelt wieder anzuverwandeln. In seinen bildanthropologischen Studien zum homo pictor hat Hans Jonas diese Distanznahme »kausale Detachierung« genannt. Bereits das Sehen distanziert uns von reiner Unmittelbarkeit, weil wir Dinge auf Abstand halten müssen, um sie an- und überblicken zu können. Einbildungskraft und Bilddarstellung sind die nächsten Schritte einer »Loslösung von der wirklichen Präsenz des ursprünglichen Objekts«2. Keineswegs widerspricht Jonas’ Bestimmung des homo pictor der Cassirerschen Einsicht in das animal symbolicum. Jonas’ philosophische Biologie geht nicht weniger davon aus, dass der Mensch »ein potentiell sprechendes, denkendes, erfinderisches, kurz ein ›symbolisches‹ Wesen ist«3. Doch erkennt sie im Bilden eine besondere symbolische Objektbeziehung, die der des Sprechens und der Sprache noch vorausliegt. Die menschliche Tätigkeit des Bildens bringt etwas hervor, das den Dingen, Situationen und Handlungen ebenso ähnlich wie unähnlich ist. Die »Familie«4 der Bilder – von Porträts über Imitationen und Schemata hin zu Vorstellungsbildern und Gemälden – ist sinnvollerweise »ontologisch unvollständig«5. Nur so kann sich in Schmitz, Gibt es die Welt?, 88–93. H. Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt/M. 1997, 261. 3 Ebd., 269. 4 J.-P. Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, in: Philosophische Schriften I/2, Reinbek/Hamburg 1994, 36–93; frz. Paris 2005, 40–113. 5 Jonas, Das Prinzip Leben, 271. 1 2
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ihnen die Freiheit der Auswahl bekunden, die darüber entscheidet, was mit welchen Mitteln wie dargestellt werden soll. Ihre Variation und Perspektivität ist indefinit. Das Bilden ist als Einbilden die Fähigkeit, Sinnliches in die Vorstellung zu erinnern; als Ausbilden ist es zugleich das Vermögen, die Vorstellung in die Darstellung zu übersetzen (»pikturale Differenz«6). Für Bilddarstellungen im engeren Sinn schlägt Jonas folgende Begriffsexplikation vor: »Das Bild ist inaktiv und in Ruhe, während es Bewegung und Aktion darstellen mag. Diese kann es in eine statische Gegenwart bannen, weil das Dargestellte, die Darstellung und das Darstellende verschiedene Schichten in der ontologischen Struktur des Bildes sind.«7 Bilddarstellungen sind nicht bloß Dinge, Substrate, Artefakte. Vielmehr scheint an der Differenz von »Bild und Bildträger [Darstellendes], mit des letzteren Selbstverleugnung im erste ren«, eine »dritte, ideelle Entität zwischen den beiden anderen, reellen Entitäten« auf. Diese dritte Entität »verknüpft« die beiden anderen Entitäten »in der einzigartigen Weise der Repräsentation [Darstellung]«. Auf diese Weise entfaltete sich die »nicht-kausale Gegenwart«8 des Bildes in der Triangulation von Darstellendem, Dargestelltem und Darstellung. Allerdings setzt diese Objektivität des Bildens auf der Seite der Bildner notwendig die Fähigkeit voraus, etwas als Bild zu erkennen. Für einen unreduzierten Begriff von Bildlichkeit ist die Trias der Bilddarstellung um eine Trias des Bildanblicks zu erweitern (vgl. Abb. 2). Denn auch hier sind drei Perspektiven zu unterscheiden. Wer auf Bilder blickt, sieht zunächst Formen, Farben, Gestalten; dies allerdings stets symbolisch prägnant: als ein irgendwie sinnhaftes Ganzes.9 Was sich am Wahrgenommenen schlicht beschreiben lässt, was sich also vordergründig und unmittelbar zeigt, erfasst unser Phänomensinn.10 Dessen Einbettung G. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild?, hrsg. von G. Boehm, München 1994, 11–38; 31. 7 Jonas, Das Prinzip Leben, 274. 8 Ebd., 276. 9 Vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, III. Band: Phänomenologie der Erkenntnis, in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe (ECW), hrsg. von B. Recki, ECW 13, Hamburg2002, 231. 10 Die folgende Begrifflichkeit folgt der Terminologie E. Panofskis, Ikono6
78 | Das Tier, das einbildet
Bildanblick Phänomensinn
he risc ng ele eru spi r enzi fe Dif
ans ch Ver auen we de ilen s
Wesenssinn
Bedeutungssinn
Bildbetrachtungszeit
Darstellung
Bildzeit
Bilddarstellung Dargestelltes
Bildentstehungszeit
Darstellendes
Bildinhaltszeit
Abb. 2: Triadisches Bildmodell und systematischer Ort der symbolischen Als-Funktion (spielerische Differenzierung)
in größere Sinnzusammenhänge, Stilrichtungen oder historische Kontexte erfordert einen den Bildanblick begleitenden Bedeutungssinn. Dessen nicht nur Sach-, sondern auch Wahrheitsgehalt geht möglicherweise unserem Wesenssinn auf. In diesem Sinn blicken wir auf Bilder und Artefakte, um sie auf etwas hin zu befragen; z. B. darauf, was sie für uns sind oder auch für andere sein könnten (ob Kunstwerke, Gebrauchsgegenstände oder Abfall). Diese zweite triadische Relation bezieht sich in vielfältiger Weise auf die erste, d. h. auf die Beziehung zwischen Darstellendem, Dargestelltem und Darstellung. Der Phänomensinn hat offensichtlich eine besondere Beziehung zum bildlich Darstellenden, der Bedeutungssinn zum Dargestellten, aber beide im Verein mit dem Wesenssinn auch eine unhintergehbare Beziehung zur Darstellung. Doch auch mit diesem Wechselverhältnis sind die präsentischen Relationen, die Bilder ausmachen, noch nicht hinreichend graphie und Ikonologie. Bildinterpretation nach dem Dreistufenmodell, Köln 2006. Bildlichkeit | 79
beschrieben. Eine dritte Trias betrifft die Zeitverhältnisse von Bild und Bildanblick. Diese können einmal die dargestellte Zeit im Bild betreffen, die Bildinhaltszeit; oder aber die Bildbetrachtungszeit, die Zeit also, die wir in der Regel benötigen, um ein Bild zu erfassen; schließlich die Bildentstehungszeit, die sowohl die Zeit meinen kann, die ein Bild benötigt, um zu entstehen (etwa die Belichtungszeit), als auch die historische Zeit, in die es situiert ist. Auf verschlungene Weise durchdringen sich in der Temporalität des Bilds Lagezeit (früher-als/später-als), Modalzeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und Dauer. Diese wiederum stehen in einem Verhältnis zum Bildanblick, der sich in seinem Phänomensinn vor allem an die Bildbetrachtungszeit heftet, während der Bedeutungssinn eine enge Beziehung zur Bildentstehungszeit pflegt, der Wesenssinn wiederum zur Bildinhaltszeit. Der Bildanblick verweilt nicht an sich selbst, sondern an Bilddarstellung und Bildzeit in ihren jeweiligen Grundaspekten. Anschauendes Verweilen meint das Verhältnis des Bildanblicks zur Bilddarstellung und seiner Zeit.11 Spielerische Differenzierung wiederum kann jene Kraft der Einbildung genannt werden, die in den Darstellungen auch das erblickt, was in ihnen nicht offensichtlich ist. Der Begriff verwandelt einen Terminus der Systemphilosophie Hermann Schmitz’, der unter »spielerischer Identifizierung«12 das menschliche Vermögen versteht, »etwas für ein anderes nehmen« zu können. Diese symbolische Als-Funktion, die nach Heidegger und Gadamer alles »ausdrückliche« Verstehen als ein Verstehen von Etwas als Etwas auszeichnet13 (und nur das explizite Verstehen ist auch ein »sprachliche[r] Vorgang«14), erlaubt allererst ein freies, situationsunabhängiges Bezeichnen. Gewiss können sich symbolische Als-ob-Handlungen dort, wo sie Gestalten eines impliziten Verstehens bleiben, auch in vor- oder subsprachlichen Handlungen äußern. Wir haben die Freiheit, nicht nur das runde Leder, sondern auch die herumliegende Konser Vgl. Westerkamp, Ästhetisches Verweilen, Tübingen 2019. Schmitz, Das Göttliche und der Raum. System der Philosophie, Bd. III/4, Bonn 1977, 453. 13 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1927, § 32, 149. 14 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, 361. 11
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venbüchse als Spielball zu verwenden; wir haben die Freiheit, das Ziehen des Hutes als Begrüßungs-, aber auch als Abschiedsgeste zu verstehen; wir haben die Freiheit, in der Wut statt zu sprechen besser zu schweigen. Je sprachlicher, desto expliziter wird das Verstehen. Wir haben die Freiheit, statt »Postbote« auch »Briefträger« sagen zu können und beide als sinnvolle Ausdrücke derselben Bedeutung zu begreifen. In ihrem nicht nur beziehenden, sondern darin unterscheidenden Tun ist die symbolische Einstellung zu den Dingen jedenfalls weniger eine Identifizierung, wie Schmitz glaubt, sondern eine Differenzierung. Tatsächlich erlaubt uns erst der Umgang spielerischer Differenzierung eine Freiheit und Distanz zum Objekt. Ihr Spiel ist selbstverständlich nicht beliebig, sondern praktisch, sozial und kulturell situiert; und ihre Distanznahme schränkt das freie Spiel unserer Einbildungskraft nur in dem Maße ein, wie es für ihr Gelingen notwendig ist. Die spielerische Differenzierung unseres »rahmenden Sehens«15 unterscheidet all diese Aspekte, um sie sogleich wieder aufeinander zu beziehen: das Sehen des Bildes und seines Bildseins (»ikonische Differenz«), die Wahrnehmung von Bildträger (Darstellendes), Bildsujet (Dargestelltes) und Bilderscheinung (Darstellung), das Gewahrwerden seines Phänomen-, Bedeutungs- und Wesenssinns. Das beziehende Unterscheiden des Bildanblicks führt auf die Frage zurück, was eigentlich das Ikonische, oder einfacher: was ein Bild ist. Bilder, so die hier skizzierte Antwort, sind Relationen der Relationen von Blick, Darstellung und Zeit:16 Bildproduktion und Bildbetrachtung wären kaum möglich, wenn das Bild uns nicht in irgendeiner Weise Form einnähme. Doch reproduziert sich in der Ergriffenheit auch stets die doppelte Distanz zum Eingenommenen. Distanznahme erscheint nicht nur spatial, sondern auch temporal: in dem stets präsentischen Charakter des zeitigenden Zeigens, welches den Modus alles Ikonischen auszeichnet.
Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 292. Westerkamp, Ästhetisches Verweilen, 45–66.
15 16
Bildlichkeit | 81
22 · Nachbildungskraft
Der Mensch ist ein einbildendes Wesen. Als Erinnerung ist die Einbildung von zuvor Wahrgenommenem eine Leistung der reproduktiven Einbildungskraft. In ihrer nachbildenden Funktion bleibt sie allerdings noch ganz von der Wahrnehmung und deren Objekten abhängig. Die vorstellungskonstitutive Funktion der Wahrnehmung zeigt sich innerhalb der reproduktiven Einbildungskraft in der Ergänzung fehlender Sinneseindrücke, in der Erinnerung an nicht mehr Anwesendes, in der Assoziation verwandter Vorstellungen. Kaum könnten wir uns den Eiffelturm, das Taj Mahal oder das Brandenburger Tor vorstellen, hätten wir es nicht, und sei es auf Bildern, zuvor wahrgenommen. Hier ist das Vorstellen noch bedingt, begrenzt, bestimmt. Dass der Eiffelturm auch jetzt noch »da« ist, lässt sich, ist man nicht vor Ort, evidenterweise nicht wahrnehmen, sondern nur vorstellen. Umgekehrt gilt aber auch für die stabile Wahrnehmung von Dingen, dass wir unterstellen, dass sie auch dann noch dieselben sind, wenn sie altern (wie Personen) oder saisonalen Veränderungen unterworfen sind (wie Bäume).17 Substanz- und Existenzunterstellungen sind schon keine Sache bloßer Wahrnehmung mehr, sondern auf Vorstellen und Denken angewiesen. Auch das Sehen von Bildern setzt Vorstellungskraft voraus.18 Erste Übergänge von der stabilen Wahrnehmung zu labilen Vorstellungsqualitäten machen sich an Leerintentionen bemerkbar. Die Rückseite der Tasse ist nicht wahrnehmbar, aber wir setzen sie mit; die nicht-sichtbare Unterseite des Aschenbechers wird diffus mitrepräsentiert; das Orchester im Orchestergraben ist nicht sichtbar, aber wir unterstellen, dass es die Opernmusik spielt, zu der auf der Bühne gesungen wird. Das leerintentional Mitrepräsentierte ist nicht mehr Wahrnehmungsbewusstsein, aber auch nicht schon reines Vorstellungsbewusstsein. Es schwebt, nur implizit thematisiert und eigentümlich neutral,19 zwischen beiden. Vgl. M. Warnock, Imagination, London/Boston 1976, 24. Vgl. L. Wiesing, Artifizielle Präsenz, Frankfurt/M. 2006, 26. 19 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, § 109, in: Husser liana (Hua), Bd. III/1, hrsg. von W. Biemel, Den Haag 1950, 269. 17 18
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Was wir wahrnehmen, setzen wir als daseiend, was wir vorstellen als nicht-daseiend. Die reale Raubkatze im Raum setzen wir notwendigerweise als existent und reagierten ganz anders als auf die als nichtexistent gesetzte, bloß imaginäre Raubkatze. Sehen wir in der Ferne eine Person, so handelt es sich um eine Existenzsetzung unseres Wahrnehmungsbewusstseins; die Antwort auf die Frage, wer es sein könnte, ist dagegen abhängig von einer Setzung unseres Vorstellungsbewusstseins. Dass wir auch Gesichter in Wolken oder Wolken im Kaffeeschaum ›sehen‹ können, verdankt sich dem Schweben zwischen Wahrnehmen und Vorstellen. Nun suggeriert die Metaphorik der Alltagssprache, dass wir bei Bildvorstellungen etwas sähen. »Sehen« aber ist ein Verb der Wahrnehmung, nicht der Vorstellung. Man erliegt schnell einer alltagssprachlichen »Verhexung«, deren eigentümliche Logik Gilbert Ryle aufgedeckt hat. Alltagssprachlich fassen wir Vorstellungen als papierlose Abbilder realer Gegenstände auf: »Ich betrachte vor meinem inneren Auge mein Kinderzimmer.«20 Dass diese Redeweise problematisch ist, dass daher jede Bildtheorie der Vorstellung Probleme aufwirft, verrät die Umgangssprache wiederum selbst. Denn es ist nicht absurd zu sagen, unsere Bildvorstellung des Kinderzimmers sei sehr »lebensecht«, »naturgetreu«, »detailgenau« oder »feinkörnig«. Kaum aber würden wir sagen, unsere Wahrnehmung des Kinderzimmers sei »lebensecht«, »detailgenau« oder »naturgetreu«. Sehen, Hören, Empfinden sind Verben der Wahrnehmung anwesender Sinnesobjekte; bei abwesenden Sinnesobjekten lassen sich Wahrnehmungsverben allenfalls metaphorisch verwenden. Hören wir tatsächlich eine Melodie, wenn wir sie uns vorstellen? Ryle spürt darin das Missverständnis einer nachlässigen Redepraxis auf. Denn es handelt sich nicht um ein inner-sinnliches Hören, sondern schlicht um ein Wissen, wie eine Melodie geht. Wir nehmen den Gegenstand »Melodie« nicht wahr, sondern bringen ihn hervor. Die Wahrnehmung kann ihre Gegenstände nun einmal nicht selbst hervorbringen – wir können nicht jetzt und hier den Eiffelturm wahrnehmen wollen. So ist, umgekehrt, auch das imaginative Hören kein Hören okkulter Geistertöne in unserem G. Ryle, The Concept of Mind, London 1949/2000, 234.
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Nachbildungskraft | 83
Vorstellungsbewusstsein, sondern die Anwendung eines bestimmten Wissens, das aber gerade nicht hörbare Töne hervorbringt. Das heißt nicht, dass unsere einbildungskräftige Vorstellung kein leiblicher Vorgang wäre, dass er mit »leiblicher Kommunikation«21 nichts zu tun habe. Denn auch die Vorstellung bedarf leiblicher Verkörperung. Tiere haben zweifellos Vorstellungen, technische Informationsverarbeitungssysteme nicht. Leiblos sind Vorstellungen aber in der Hinsicht, dass sie keine räumliche Beziehung zum vorgestellten Gegenstand unterhalten. Das Vorstellungsbild, sagt Sartre, ist eine bestimmte Art, den Vorstellungsgegenstand gerade nicht zu berühren – darin besteht seine idealisierende Funktion. Im Bild ist mir Peter »anschaulich-abwesend, der Anschauung als abwesend gegeben«22. Auch deshalb wirft die von Ryle aufgespießte metaphorische Redeweise Probleme auf: Wollten wir den vorgestellten Gongschlag auf eine Art inneren Gong im Ohr (induziert durch Hirnaktivitäten) zurückführen, dann stellt sich die Frage, wodurch und von wem dieser Gongschlag seinerseits gehört würde? Denn wir hören ihn ja nicht selbst – sonst müssten wir unser Gehör durch die Vorstellung eines immensen Lärms auch selbst schädigen können. Diese Redeweise zwingt zu einer Humunculus-Annahme, die Sartre »Immanenz-Illusion«23 genannt hat: Wir sehen Bilder, hören Töne, und diese Töne werden von einem inneren Betrachter gesehen und gehört. Doch wer ist dieser Betrachter? Und: Ist er selbst sichtbar oder hörbar? 23 · Spontaneität
Die Einbildungskraft ist spontan. Sie ist nicht nur Nachbildungs-, sondern auch Vorbildungskraft. Wir können uns jetzt, hier und sogleich das Taj Mahal, den Eiffelturm oder das Brandenburger Tor vorstellen. Gerade deshalb aber können uns Vorstellungsgegenstände nicht überraschen. Wer sich das Taj Mahal vorstellt, ist weder verwundert, dass es im Nu als nicht-daseiend in unserer Vorstellung dasteht, noch kann erstaunen, dass das Vorstellungs Schmitz, Die Wahrnehmung. System der Philosophie, Bd. III/5, Bonn 1978, 2. Sartre, Das Imaginäre, 34. 23 Ebd., 38. 21
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bild genauso »aussieht«, wie unsere Vorstellung es erzeugt. Vorstellungen enthalten das, was wir in sie hineingelegt haben.24 Das ist die Freiheit, Willkür und Spontaneität der Vorstellung, in der zugleich ihre Informationsarmut gründet. Objektabwesenheit und Spontaneität sind die zentralen vorstellungsspezifischen Aspekte des Imaginären. Deshalb übersteigen die Bilder, die das Bildbewusstsein hervorbringt, nie die Möglichkeiten des Bildbewusstseins selbst. Sartre spricht davon, dass die Struktur des Bildbewusstseins (conscience imageante) als durch sich selbst existierend bestimmt sei. Mit einem Wort: Es ist selbstbestimmt, spontan. Die Stärke der Spontaneität bedingt allerdings seine Freiheit. Denn wir haben durchaus Schwierigkeiten, Vorstellungen lange zu halten. Vor Wahrnehmungsobjekten lässt sich lange verweilen. Doch ein intentionales Vorstellungsobjekt zu verdauern ist schwierig, weil ungleich aufmerksamkeitsintensiver. Die Vorstellung entzieht sich permanent, muss spontan wiederhergestellt werden. Auch lässt sich, anders als im Wahrnehmungsbewusstsein, an Vorstellungsbildern nichts scharf stellen oder fokussieren. Sobald ein Aspekt unseres Vorstellungsbilds isoliert wird, haben wir es als ein neues Bild. Daran zeigt sich, wie wenig sich Aufmerksamkeit in der Bildvorstellung teilen lässt. Sind wir unaufmerksam, ist es fort und muss spontan erneuert werden. Das Vorstellungsbewusstsein erfordert hohe Konzentration, während Wahrnehmungen auch halbbewusst, halbaufmerksam bleiben können. In vielen unserer Tätigkeiten läuft die Wahrnehmung gleichsam im Hintergrund mit. In der Vorstellung aber gibt es keine abgeschatteten Momente. Nicht unaufmerksam, sondern unbestimmt ist die Wahrnehmung etwa von Vielheit:25 111111111111111111111111 Wie viele Einsen eigentlich sehen wir? Schwer zu sagen. Nehmen wir 24 Einsen wahr? Sicher nur, wenn wir es wissen. Denn auch die Vorstellung der 24 Einsen ergibt nicht das gezeigte Bild. Angewiesen sind Wahrnehmung wie Vorstellung auf einen hinzuzudenken Vgl. C. McGinn, Mindsight. Image, Dream, Meaning, Cambridge/Mass., London 2004, 18. 25 Das Beispiel stammt von A. Noë, Action in Perception, Cambridge/Mass., London 2004, 71. 24
Spontaneität | 85
den Begriff »24 Einsen«. Es ist ein Begriff der Sache nötig, um sie als Etwas wahrzunehmen. Wer kein Zahlenchaos wahrnimmt, sondern den Begriff »24 Einsen«, der muss dieses Wissen schon in die Wahrnehmung mithineingelegt haben. Deshalb ist es von Vorteil, dass unsere kategoriale Wahrnehmung nicht mit Bildern, sondern mit Schemata operiert. Das Wahrnehmungsbewusstsein ist damit also nicht nur eine Wahrnehmung von Etwas, sondern auch Wahrnehmung als Etwas (= symbolische Prägnanz). Die Wahrnehmung als Etwas benötigt den Begriff (nicht das Wort) der wahrgenommenen Sache. Begriffe können zwar der Erfahrung, müssen aber nicht der Wahrnehmung entsprungen sein: »1000« oder »Gerechtigkeit«, »reich«. Diese Begriffe dürfen dann auch in ihrer semantischen Extension unbestimmt sein: »1000« ist genau bestimmt, die Semantik von »reich« dagegen nicht. Sehr fraglich, ob Menschen ein Schema wie »1000« denken konnten, bevor es Zahlzeichen gab. Wahrnehmung und Vorstellung sind auf unterschiedliche Weise unbestimmt. Vagheit ist kein Mangel, sondern notwendige Voraussetzung der Vorstellung. Ohne Abschattungen und Leerintentionen gäbe es vermutlich keine gelingende Wahrnehmung. Alles wäre überscharf, zu feinkörnig, zu detailliert. Weder würden wir die Welt mit einem vor die Augen geschnallten Mikroskop noch mit einem breitfrequenten Hörgerät meistern. Deshalb ist die anthropologische These vom Mängelwesen schief. Unsere Mängel sind nur im Vergleich mit allen animalischen Eigenschaften Mängel; und sie werden durch Kompensationen an anderer Stelle, vor allem durch unsere symbolischen Vermögen zum Vorteil gewendet. Die Wahrnehmung hat eine notwendige Form der Unbestimmtheit: Wir sehen 40 Schwalben über uns, aber wir sehen sie nicht als 40 Schwalben.26 Wir nehmen – visuell – einen Kreis wahr, der sich jedoch physikalisch als ein 1000-Eck erweist. Wittgenstein hat daraus den naheliegenden Schluss gezogen, dass zwischen der physikalischen und der phänomenologischen Beschreibung der Dinge unterschieden werden sollte. Das gilt, wie Alva Noë zeigt, schon für die Wahrnehmung selbst: »The reason we don’t experience things as vague, even though our visual field is indeterminate at the edges (as it were) is that, in an important sense, we don’t experience our Vgl. Noë, Action in Perception, 71.
26
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visual fields. We experience the world.«27 In diese Wahrnehmung geht immer schon ein bestimmtes Wissen ein. Es lenkt die Wahrnehmung kategorial, und damit nicht unbedingt dahin, wie etwas »ist«, sondern wie es uns sinnvoll erscheint. Die Unbestimmtheit der Vorstellung ist eine andere als die der Wahrnehmung.28 Die Wahrnehmung ist welthaltig, gefüllt, gesättigt, einzig an den Rändern unscharf. Die einbildungskräftige Vorstellung ist weltarm, unausgefüllt, ungesättigt, unbestimmt. Die Vorstellung bedarf auch keiner spezifischen leiblichen Aktivität (Husserls »Kinästhese«29, Schmitz’ »Einleibung«30, Noës »en-action«31). Das Bildobjekt, die imaginierte Melodie, der eingebildete Schmerz sind auf eigentümliche Weise »leiblos«, bleiben schematisch; wenige »Pinselstriche« genügen, um sie in die Vorstellung zu bringen, das stets von dem Wissen begleitet wird, was es ist oder sein soll. Gerade dadurch ist es, wie Sartre sagt, das Gewisse. Der Vorstellungsobjekte sind wir gewiss – gewisser, als es je eine Wahrnehmung, die sich Täuschungen verdanken mag, sein könnte. Wir würden kaum sagen: Ich stelle mir jetzt den Petersdom vor, aber er ist es nicht. Mag das Wahrnehmungsbewusstsein von Medien abhängig sein: von der Brille, dem Fernrohr, dem Hörgerät, so ist das Vorstellungsbewusstsein unabhängig von Apparaturen und Hilfsmitteln. Es bedarf zu seiner Spontaneität einzig der leiblichen Binnenkommunikation der Einbildungskraft. Es bedarf freilich auch des Wissens und damit des Denkbewusstseins, um etwas als etwas bestimmen zu können. Wir müssen wissen, was der Petersdom ist und wie er aussieht; bei einem imaginierten Zahlenwürfel sollten wir vielleicht wissen, dass die Summe der Punkte der jeweils gegenüberliegenden Seiten die Zahl 7 ergibt. Ebd., 72. Vgl. auch die Übersicht in K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie (1913), Berlin/Heidelberg 41946, 59; vgl. die gekürzte Darstellung von Th. Fröschl, Interferenzen von Vorstellungen und Wahrnehmungen, Würzburg 1985 [Phil. Diss.], 9. 29 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzenden tale Phänomenologie, § 47, in: Hua VI, hrsg. von W. Biemel, Den Haag 1976, 164. 30 Vgl. H. Schmitz, Die Wahrnehmung. System der Philosophie III/5, Bonn 1978, 31. 31 Noë, Action in Perception, 1–34. 27
28
Spontaneität | 87
Dass das Imaginäre in »unsere gewöhnlichsten Wahrnehmungen von Welt eindringt«32, um Lücken zu füllen, Übergänge zu schaffen oder Identitäten herzustellen, steht jedoch auf einer anderen Stufe als das Hervorbringen von etwas, das sich nicht restlos auf wahrgenommene Qualitäten oder deren Rekombination zurückführen lässt. Das imaginäre Hervorbringen an etwas ist unterschieden vom imaginären Hervorbringen von etwas. Dann nämlich geht es nicht mehr um die wahrnehmungskonstitutive Funktion des Imaginären oder um die vorstellungskonstitutive Funktion der Wahrnehmung, sondern um die Einbildungskraft in ihrer Radikalität als geistig-sinnliches Vermögen suo genere. Eine solcherart produktive Einbildungskraft ist nicht auf die reproduktive reduzierbar, während diese auf jene angewiesen bleibt.
24 · Nichtung
Die Gewissheit der Vorstellung verdankt sich nicht der Sinnlichkeit, sondern dem geistigen Vermögen der Idealisierung. Das Idealsetzen eines beliebigen X zehrt von einem reflexiven »Nichten« durch das Vorstellungsbewusstsein. In dieser Negativität besteht das entscheidende Bindeglied zwischen Sprache und Einbildungskraft. Beide sind im »Nichten« durch die symbolische Als-Funktion wechselseitig aufeinander verwiesen. Hier ist Sartres Einsicht in die vierfache Struktur des Nichtens nach wie vor erhellend. Während die Wahrnehmung ihr Objekt als existierend setzen muss, kann die Vorstellung ihr intentionales Objekt X auf vierfache Weise »nichten«, und zwar: (1) als nichtexistent setzen (Negation): dieses X gibt es nicht; (2) als abwesend setzen (Absenz): dieses X ist nicht da; (3) als anderswo existierend setzen (Position): dieses X ist nicht einfach nur nicht am Ort O1, sondern wird als am Ort O2 seiend gesetzt (wobei diese Position die Negation der gegenwärtigen Existenz von X [also dessen Abwesenheit] voraussetzt);
32
M. Warnock, Imagination, London/Boston 1976, 21.
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(4) als nichtseiend gesetzt (Suspension): Es gibt X, aber es wird gesetzt, als ob es X nicht gäbe.33 Die vierfache Setzungsstruktur dieser Nichtung ist konstitutiv für jedes Vorstellungsbewusstsein. Negation, Absenz, Position und Suspension gehen dem vorgestellten Bild, dem imaginierten Ton, dem eingebildeten Gefühl voraus oder mit ihnen einher. Solche Setzungsakte sind definitiv, sie bestimmen ihr Objekt. Ändern wir sie, so erhalten wir stets ein neues Imaginationsobjekt. Zugleich markiert die Nichtung, aufgrund der sprachlichen Signatur ihrer Negativität, den neuralgischen Punkt des Zusammenhangs von Sprache und Einbildungskraft. Sie bedingen und befördern sich wechselseitig. Sprachliche und schriftliche Symbolsysteme stiften den logischen Raum der Vorstellung und Einbildung. Umgekehrt aber ist die Vorstellungskraft schon Bedingung der Möglichkeit zur Formation von Symbolsystemen. Gemeinsam ist beiden die Objekt abwesenheit: Der Entzug des Objekts in der Vorstellung steht systematisch parallel zum Entzug des Referenten in der Sprache. Ihrer Wechselwirkung verdankt das Vermögen des Imaginären seine Objektunabhängigkeit: dass wir Kontrafaktisches, Konditionales, Konjunktivisches, Irreales vorstellen und denken können. An diesem Punkt ist die Vorstellung nicht mehr von der Wahrnehmung, sondern vom Denken abhängig; und darin auch von symbolischreflexiven Normalsprachen. Gegenstand der üblichen empirisch-psychologischen Experimente ist die reproduktive Einbildungskraft. Ihr galten bereits die sog. Assoziationsgesetze, die Hume und die empirische Psychologie des 18. Jahrhunderts diskutieren. Eine Darstellung der formproduktiven Einbildungskraft, der die erste Transzendentale Analytik und das Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft gewidmet ist, war von Kant für unmöglich erklärt worden. Denn ihre »verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten werden«34, entzog sich auch dem transzendentalphilosophischen Zugriff. Sehr fraglich, ob die hirnphysiologischen Erkenntnisse über mentale Synthesis diese »verborgene Kunst« empirisch zu 33
Vgl. Sartre, Das Imaginäre, 28–32. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 181–182.
34
Nichtung | 89
entbergen vermöchten. Woher die Schemata und symbolischen Formen unseres Geistes kommen, kann aber durchaus auch die Fragestellung einer materialen Sprach-, Bewusstseins- und Kulturphilosophie sein. Begriffs- und Vorstellungsschemata sind Figuren, deren sich die reproduktive Einbildungskraft bedient, nicht aber selbst hervorbringt, sondern schlicht anwendet. Reproduktiv bleibt diese Einbildungskraft auch beim Nachvollzug von Anweisungen oder beim Befolgen von Anleitungen zu Vorstellungsexperimenten. Ob zwei der sog. Shepard-Figuren miteinander identisch sind, ist durch deren imaginäre Rotation leicht festzustellen (Abb. 3):35
Abb. 3: sog. Shepard-Figuren, die sich imaginativ drehen lassen
Wer vor dem ›geistigen Auge‹ (wenn diese, nach Ryle, problematische Metapher gestattet ist) die jeweils zweite Figur dreht und der ersten anzupassen versucht, wird rasch erkennen, dass die Figuren von (a) und (b), nicht aber auch die von (c) identisch sind. Insofern auch ermittelt wird, was nicht übereinstimmt, fallen sprachliche und imaginative Verneinung zusammen. Allerdings kommt das Vermögen schon bei komplexeren Figuren rasch an seine Grenze,36 Vgl. R. N. Shepard und J. Metzler, Mental Rotation of Three-Dimensional Objects, in: Science 171 (1971), 701–703. 36 Vgl. D. Dennett, Consciousness Explained, New York 1991, 289. 35
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was abermals sehen lässt, dass sich Einbildungskraft nicht schon in dem Imaginären der Wahrnehmung erschöpft.37 In der kognitionspsychologischen Literatur firmiert das willkürliche, überraschende oder kreative Hervorbringen solcher Verbindungen bereits als »mentale Synthesis«38, als Kennzeichen von Kreativität. Auch dies ist zu kurz gegriffen. Dennoch kommt an den gängigen experimentalpsychologischen Beispielen etwas symbolphilosophisch Relevantes zum Vorschein: Das Imaginäre ist abhängig von den Schemata und symbolischen Ordnungen, in denen und kraft deren es hervorbringt. Dass sie von symbolischen Ordnungen abhängig ist, schränkt die Radikalität der Einbildungskraft gerade nicht ein, sondern befördert sie – und macht sie auf einer höheren Explikationsebene auch allererst kenntlich. Es ist nicht bloß die Imagination – als das Tätige –, sondern vor allem das Symbolsystem – als das Ermöglichende –, welches den Bedeutungsrahmen stiftet, der erlaubt, neue und andere Bedeutungen zu entdecken, zu verbinden, zu erschließen. Bedeutungen, die ohne diese oder eine andere symbolische Ordnung nicht sichtbar werden könnten. Schemata bilden das Übergangsmoment von Bild- und Denkbewusstsein, von Vorstellen und Denken, von reproduktiver und symbolisch-produktiver Einbildungskraft. Sie müssen dort auf den Plan treten, wo das Bewusstsein »leer« bleibt, weil es nicht mehr mit reproduktiven Vorstellungsbildern auskommt.39 Denn was eigentlich stellen wir uns bildlich vor, wenn wir Begriffe wie »ähnlich« verwenden, Abstrakta wie »Dankbarkeit« meinen oder an den Inhalt von Kants Kritik der praktischen Vernunft denken? Offenbar nicht einfach Bilder von ungleichen Streichhölzern, händeschüttelnden Personen oder bedruckten Buchdeckeln – aber auch nicht einfach nichts.
Vgl. R. Finke; S. Pinker; M. G. Farah, Reinterpreting Visual Patterns in Mental Imagery, in: Cognitive Science 13 (1989), 51–78. 38 Vgl. Pearson, Mental Imagery and Creative Thought, in: Imaginative Minds, hrsg. von I. Roth, Oxford 2007, 187. 39 Vgl. Sartre, Das Imaginäre, 99. 37
Nichtung | 91
25 · Mediasphären
Medial ist das Imaginäre dort, wo die Einbildungskraft zur Erzeugung solcher Schemata auf symbolische, konventionalisierte Medien zurückgreifen muss. Ihre vier Grundformate:40 Bild, Ton, Zahl und Wort bilden die materialen Dispositive nicht nur allen Darstellens, sondern auch allen Vorstellens. Nichts scheint vorstellbar, was nicht zu seiner Vergegenwärtigung auf Grundmedien angewiesen wäre. Umgekehrt sind die vier Grundformate schon Produkte einer Einbildungskraft, ohne die sie nicht operieren könnten. Ihre Formen für sich bringen nichts hervor. Auch können sie in der Regel erst kraft der Kombination ihrer nicht konvertierbaren Formate adäquat etwas darstellen. Um eine komplexere mathematische Gleichung vorzustellen, bedarf es des Formats der Zahl, aber auch – in Form etwa der zuvor gestellten Aufgabe – des Worts bzw. der Schrift. Statt einer transzendentalen Deduktion der medialen Formate steht methodisch einzig die phänomenologische Reduktion in Gestalt einer Reflexion auf die Unhintergehbarkeit ihrer Formationsbedingungen zur Verfügung. So hat auch Dieter Mersch das Geviert dieser Grundmedien gewonnen aus dem systematischen Chiasmus von Sagen und Zeigen einerseits, von aisthetischen und diskursiven Medien andererseits. Während aisthetische Medien das Visuelle und Akustische, überhaupt das Sinnliche formieren, bestimmen diskursive Medien die Form des Sinns selbst. Als solche sind Medien keine Universalien, sondern so geschichtlich wie das, was sie formieren.41 Symbolische Medien ermöglichen und strukturieren jedoch nicht nur, sie definieren auch die Grenzen des Wahrnehmbaren, Vorstellbaren und Darstellbaren. Dabei beziehen sich aisthetische Medien (Bild und Ton) auf prinzipiell Wahrnehmbares: Optik, Akustik, Düfte, Taktiles; während sich mit diskursiven Medien (Wort, Zahl) Strukturen, Ordnungen, Einteilungen, Zäsuren hervorbringen lassen. Bilder sind, wie gezeigt, Relationen einer differenzierten Bezie hung zwischen Bildanblick, Bilderscheinung und Bildzeit. Entschei Vgl. D. Mersch, Kunst und Medium. Zwei Vorlesungen, Kiel 2002, 169–
40
253.
Ebd., 137.
41
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dend ist der Kontext, der auch das Bild erst zum Bild macht. Bilder verdanken sich (und hier ist nicht nach ihrer causa efficiens gefragt) einem Blick, der Distanz einschließt, um sich sowohl vom Bild als auch von sich selbst zu unterscheiden. Im Unterschied zum Bild ist der Ton einer strengeren temporalen Ordnung unterworfen.42 Jede Kominatorik von Tönen erscheint in der Zeit, fast könnte man sagen: als versinnlichte Zeit. Töne referieren auf ihren Ort innerhalb einer Abfolge, die zwar ihren Sinn bestimmt, nicht aber auf einen ihnen schon vorgängigen Sinn festlegt. Töne, sagt Hegel, bezeichnen nichts; sie werden »nicht als […] Zeichen von Vorstellungen genommen«43. Der Ton stellt nichts für sich dar, sondern ist selbst das Medium einer aisthetischen Darstellungsform. Indem sie in der Zeit verklingen, sind Töne auch nicht unmedial wiederholbar; sie verlöschen in ihrem Ereignen. Ihr »Klingen ist verschwunden, wie es gesetzt ist.«44 Bild und Ton sind in ihrem Verhältnis zur Zeit zwar getrennt, doch verbindet sie zugleich das Verhältnis zum Raum. Beide sind als sichtbarer bzw. akustischer Raum darstellend oder als im Raum dargestellte sinnlich erfahrbar. Mit dem Medium der Zahl ist der Bezirk der Sinnlichkeit verlassen. Zahlen können, sie müssen indes nicht in der Notation erscheinen. Umfangreichere Zahlenoperationen allerdings müssen (als besonders komplexe Form mentaler Synthesis) optisch dargestellt werden, um berechnet, nachvollzogen, verstanden zu werden. Auch das Rechnen und Operieren mit Zahlen ist performativ; zugleich eignet komplexen Zahlenoperationen (umfangreiche Beweisverfahren, Gleichungen mit vielen Unbekannten etc.) eine gewisse Form der Schriftbildlichkeit. Der geübten reinen Anschauung erscheinen sie auf einen oder mehrere Blicke erfassbar. Auch die Zahl ist referenzlos; sie ist ein Funktionsschema. Zahlen markieren keine Sinnstrukturen, wie das Wort und die Schrift, sondern »formale Schematismen, […] syntaktische Verfahren«45. Zahlen erscheinen stets als Funktion und Relation, die dem Prin Ebd., 191. Vgl. G. W. F. Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik (Sommersemester 1826), hrsg. von A. Gethmann-Siefert u. a., München 2004, 190. 44 Ebd. 45 Mersch, Kunst und Medium, 215. 42 43
Mediasphären | 93
zip des Unterschieds (schon die 1 setzt den Unterschied zur 0 oder einer anderen Zahl voraus) und, als Operation, dem Prinzip der Wiederholung durch verschiedene Formen der Selbstanwendung von Zahlen unterworfen sind. Die Prinzipien der Differentialität und Iterierbarkeit teilt die Zahl mit dem Format des Worts und der Schrift. Dass aisthetische Medien wesentlich an der Präsenz, am Präsens und an der Gegenwart hängen, während diskursive Medien der Logik der Verschiebung, Verspätung und Retardierung unterworfen sind, zeigt sich am Format des Worts und der Schrift(sprache) besonders deutlich. Ihnen ist die Struktur der Rekursivität wesentlich. Die Zeitlichkeit der Rekursion als eines Zurückkommens-auf-… ist nicht das Präsens, sondern das Perfekt. Das Wort nennt, was immer schon gewesen wäre – auch dort, wo es konditional, futurisch, konjunktivisch formuliert. Das zweite Prinzip des Worts, der Sprache und der Schrift ist ihre Als-Struktur.46 Auch sie verweist auf eine ursprüngliche Differentialität, die Etwas als etwas Anderes sehen zu lassen vermag und damit die Grundform aller Symbolisierung erfasst. Anders als die Zahl und ihre Konfigurationen verbleibt das Wort nicht ausschließlich im Bezirk binnensyntaktischer Regularitäten. Es überschreitet die Syntax hin zur Semantik und damit hin zur Deutung von Sinn. Sinnerzeugung ist von Sinndeutung, wie immer auch kontrovers sie ausfallen mag, nicht zu trennen. Darin liegen Aktivität und Performativität des Wortes. Es ist, und sei es dekontextualisiert, nicht abzulösen von den Sprech- und Schweigehandlungen sprachvermögender (nicht bloß sprechender) Wesen. Indem das Wort, wie überhaupt alle Zeichenhandlungen, an die Formen seines Sichzeigens gebunden ist,47 an die Materialität von Stimme oder Schrift, bleibt auch bei diskursiven Medien eine unhintergehbare aisthetische Sinnschicht im Spiel. Wort, Sprache und Schrift lassen sich nicht auf ihre sinnstiftende Funktion reduzieren. Zugleich ist das Wort nicht von den perlokutionären Effekten seiner Responsivität zu lösen. Es ist ursprünglich – akroamatisch – bezogen auf die Antwort durch Andere. Warum überhaupt sollten wir Zeichen äußern, wenn nicht aufgrund einer konjunktivischen Vgl. ebd., 233; C.-A. Scheier, Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne, Hamburg 2016, 60–63; 86–89. 47 Vgl. Mersch, Kunst und Medium, 244. 46
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Hoffnung auf Antwort. So bedingen Rekursivität und Responsivität die Struktur des diskursiven Mediums von Wort, Sprache und Schrift. Nicht mehr bloß medienphilosophisch zu beantworten ist dann allerdings die Frage, auf welche Weise die medialen Grundformate einer symbolischen Einbildungskraft eben jene mentale (und darin ebenso mediale wie materiale) Synthesis vollbringen, deren sie sich selbst verdanken. Diese Synthesis, so die These, besteht in einer bestimmten Art der Begriffsintegration, die man mit Ernst Cassirer radikale Metaphorizität oder mit Fauconnier und Turner conceptual blending nennen könnte.
26 · Metaphorizität
»Radikale Metapher« hat Ernst Cassirer eine Form der Welterfassung genannt, die nicht durch die Subsumption unter Gattun gen oder die Übertragung von einer bereits bestehenden Gattung in eine andere erfolgt, sondern bei der die Gattung, »in die die Übertragung erfolgt«, »selbst erst erschaffen«48 wird. Radikale Ein bildungskraft ist eine Übertragung, die zuletzt gar keine ist, weil sie ein Neues schafft, das aus den Gattungen, von denen die Übertragung ausgeht, nicht selbst schon hergeleitet werden kann. In dem Schritt der Übertragung oder des Hervorgehens dieses Neuen muss sich also etwas ereignen, das nicht schon angelegt, vorbestimmt und antizipierbar ist. Darin besteht die Logik einer Einbildungskraft, deren Einbildungsmedien mentale Synthesen zulassen, die nicht einfach die Rekombination ihrer Formate replizieren, sondern diese erst entfalten. Man könnte dies die spezifische Medialität der symbolisch-produktiven Einbildungskraft nennen. Und man müsste, erstens, im Einzelnen untersuchen, wie sich das Verhältnis von symbolischem Medium und Einbildungskraft jeweils im Blick auf die unterschiedlichen Aspekte des Gevierts symbolischer Reflexivität entfaltet. Zweitens aber auch, wie sich dieses Verhältnis zum Ganzen symbolischer Reflexivität verhält und damit die mühelose, fast vir Cassirer, Sprache und Mythos, in: ECW 16, 302.
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Metaphorizität | 95
tuose Beherrschung verschiedener Mediasphären bedingt, zu denen Sprecherinnen und Sprecher normaler Sprachen befähigt sind. Cassirers Begriff der radikalen Metaphorizität meint, dass in der metaphorischen Begriffssynthese nicht einfach Bedeutungen aus vorhergehenden semantischen Feldern übertragen oder addiert, sondern dass sie neu gebildet werden. Die Einbildungssynthesen erschöpfen sich nicht in der Übertragung aus einem Bildspenderbereich in einen Bildempfängerbereich, wie es die klassische Meta pherntheorie vorschlägt. Schon die einfache Probe, ob die Rückübertragung auf das semantische Ausgangsfeld passen würde, geht in der Regel fehl und zeigt, dass wir es nicht bloß mit Übertragungsvorgängen zu tun haben. Das lässt eine Verwandtschaft zum logischen Schließen sehen. Auch dem Schluss kommt etwas zu, das sich zwar der Übertragung des Wahrheitswertes von den Prämissen auf die Konklusion verdankt, aber als Ergebnis der Konklusion nicht schon in dem Inhalt der Prämissen aufgeht. Fauconnier und Turner haben ein Modell der Begriffsintegration (conceptual blending) vorgeschlagen (Abb. 4), das die entscheidenden Prozesse durchsichtig macht, die sich in symbolisch-reflexiven Einbildungssynthesen meist unbemerkt vollziehen.49 Nimmt man einen ebenso geschichtlich kontrafaktischen wie politisch kontraintuitiven, aber bei etwas Vorbildung problemlos nachvollziehbaren Gedanken wie (19) Wenn Kiesinger 1969 Kanzler geblieben wäre, dann hätte er die Entspannungspolitik eingeleitet, so integriert dieser Irrealis zwei Handlungs- und Bedeutungsfelder, deren Synthesis überraschende, kontrafaktische Inferenzen erlaubt. Da ist zum einen das semantische Inputfeld »Kanzlerschaft Kiesinger« (I1), deren wichtigsten Strukturmomente (1) das Ende der Kanzlerschaft 1969, (2) die Gegnerschaft zur Entspannungspolitik und (3) die Verdrängung der NS-Vergangenheit Kiesingers sind. Dem stehen in dem Inputfeld »Entspannungspolitik« (I2) die Fakta gegenüber, (1) dass die Entspannungspolitik erst nach 1969 von der sozial-liberalen Regierungskonstellation vorangetrieben wurde; dass (2) deren Architekten vor allem Brandt und Bahr 49
Vgl. zum Folgenden: Fauconnier/Turner, The Way We Think, 39–57.
96 | Das Tier, das einbildet
waren; und (3) dass diese Politik nicht zuletzt im Rahmen einer beginnenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Deutschlands situiert war. Unter dem gemeinsamen semantischen Dach (oder Gemeinplatz (G) (general space) »Politik« (bzw. »bunderepublikanische Geschichte«) unterhalten beide semantischen Felder eine Reihe teils analoger, teils disanaloger Parallelverbindungen (crossspace-mappings). Politik / Kanzlerschaft / Geschichte der Bundesrepublik
Generic Space G
· Kiesinger · 1969 · contra Ostpolitik · NS-Biografie
· Brandt ·