Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland: Bd 1: Text. Bd 2: Materialien [Reprint 2012 ed.] 9783110901245, 9783899491135

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German Pages 1380 [1384] Year 2004

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Table of contents :
Vorwort zur neunten Auflage
Einführung
I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen
1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
1.1. Gründungsbedingungen
1.2. Demokratischer und sozialer Rechtsstaat: die Bundesrepublik Deutschland 1949–1990
1.3. Das sozialistische Experiment: die Deutsche Demokratische Republik 1949–1990
1.4. Der Weg zur Einheit: die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung (1990–2003)
2. Grundzüge des Gemeinwesens
2.1. Territorium und Bevölkerung
2.2. Wirtschafts- und Sozialstruktur
2.3. Handlungsfelder deutscher Innenpolitik
3. Die Internationalisierung der deutschen Politik
3.1. Die Entgrenzung des Nationalstaats
3.2. Die Entwicklung der Europäischen Union
3.3. Handlungsfelder der deutschen Außenpolitik
II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung
1. Notwendige Erinnerungen: zur Geschichte der Staatlichkeit in Deutschland
2. Staat und Gemeinden: zwischen Konflikt und Kooperation
2.1. Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung
2.2. Das Verhältnis von Stadt und Staat
2.3. Zur Situation der kommunalen Selbstverwaltung heute
3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip
3.1. Föderalstaatliche Aufgabenteilung und Finanzverfassung
3.2. Verwaltungsföderalismus und Politikverflechtung
3.3. Der deutsche Föderalismus zwischen Vereinigung und Europäisierung
III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung
1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen
1.1. Das Grundgesetz als Rahmen und Programm
1.2. Repräsentationssystem und Demokratieverständnis
1.3. Zur Zukunft von Staat und Verfassung
2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte
2.1. Meinungsbildung und Massenmedien: Erscheinungsformen deutscher Politik
2.2. Die Organisation von Interessen: der „Verbändestaat“ vor der Auflösung?
2.3. Die Parteien: Garanten demokratischer Willensbildung oder „Staat im Staat“?
2.4. Wahlen und Wähler: die Bestellung der politischen Führung
IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat
1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust
1.1. Gesetzgebung
1.2. Das Parlament als Teil der politischen Führung
1.3. Haushaltsberatung und Haushaltskontrolle
1.4. Parlament und Öffentlichkeit
2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns
2.1. Die Zusammensetzung der Parlamente
2.2. Mandat und Fraktionsbindung
2.3. Formale und informelle Fraktionsstrukturen
3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive
3.1. Regierungsfunktionen
3.2. Minister und Ministerien
3.3. Ministerauswahl und Regierungsbildung
3.4. Der Bundeskanzler
4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ
4.1. Historischer Rückblick
4.2. Selbstverständnis und Wirkungsweise
5. Der Bundespräsident: das Staatsoberhaupt als „Hüter der Politik“
V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik
1. Die Grundlagen des Verwaltungssystems
1.1. Vertikaler und horizontaler Verwaltungsaufbau
1.2. Tätigkeitsfelder und Verwaltungsverfahren
1.3. Die Verwaltung als Organisation und Betrieb
2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem
2.1. Vorteil der Kontinuität – Last der Tradition
2.2. Verwaltungspolitik als Daueraufgabe
2.3. Ansätze zur Verwaltungsreform: ein Rückblick
2.4. Staats-, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Bund und Ländern
3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource“
3.1. Die Macht der Verwaltung
3.2. Organisationsgewalt und Haushaltshoheit
3.3. Aufsicht und Kontrolle
3.4. Personalführung
3.5. Verwaltung und politische Führung
VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel
1. Die Rechtsordnung: Grundlagen
1.1. Positives und überpositives Recht
1.2. Zur Struktur der Rechtsordnung
2. Die Rechtsprechung: Justiz als Gewährleistung
2.1. Die Organisation der Rechtsprechung
2.2. Die Rechtsprechung im Regierungssystem
3. Das Bundesverfassungsgericht als Stabilitätsgarant
3.1. Entstehung und Auftrag
3.2. Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik
3.3. Das Bundesverfassungsgericht im Prozess der europäischen Integration
4. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat – eine kontinuierliche Herausforderung
VII. Gefährdete Stabilität: das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung
1. Die Veränderungen der staatlichen Rolle und Funktion
2. Institutionelle und personelle Voraussetzungen
3. „Europäisierung“ als entscheidende Herausforderung
4. Erwartbare Entwicklungen
Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands
A. Deutschland 1945–1949
B. Deutsche Demokratische Republik 1949–1990
C. Bundesrepublik Deutschland 1949–2003
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Einführung
I. Völkerrechtliche Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland
I/1 Text der Militärischen Kapitulationsurkunde vom 8. Mai 1945
I/2 Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands durch die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der USA, der UdSSR und die Provisorische Regierung Frankreichs vom 5. Juni 1945 – Auszüge
I/3 Erklärungen der Alliierten vom 5. Juni 1945
I/4 Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 – Auszüge
I/5 Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Deutschlandvertrag) in der geänderten Fassung vom 23. Oktober 1954
I/6 Europäische Integration als Richtlinie deutscher Politik
I/7 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit vom 22. Januar 1963
I/8 Zum Grundlagenvertrag
I/9 Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag
I/10 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 – Auszüge
I/11 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (Einigungsvertrag)
I/12 Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 („2 + 4-Vertrag“)
I/13 Erklärung zur Aussetzung der Wirksamkeit der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten, abgegeben von den Außenministern Frankreichs, der Sowjetunion, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten am 1. Oktober 1990 in New York
I/14 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. August 1970 (Moskauer Vertrag)
I/15 Vertrag über die gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 9. November 1990
I/16 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 (Warschauer Vertrag)
I/17 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November 1990
I/18 Deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung vom 21. Januar 1997
II. Verfassungsrechtliche Dokumente
II/1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
II/2 Bisherige Änderungen des Grundgesetzes
II/3 Synopse der Bestimmungen des Grundgesetzes und der von der Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und Bundesrates empfohlenen Änderungen
II/4 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen
II/5 Verfassung des Freistaates Sachsen
II/6 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik
II/7 Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des Zentralen Runden Tisches – Auszüge
III. Deutschland als Bundesstaat – Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung
III/1 Ministerpräsidentenkonferenz und Fachministerkonferenzen
III/2 Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland
III/3 Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern über die Errichtung eines Wissenschaftsrates
III/4 Satzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
III/5 Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Länderfinanzausgleich
III/6 Das Prinzip der „Bundestreue“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Auszug aus einem Urteilsspruch
III/7 Staatsvertrag der Länder Berlin und Brandenburg über die Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes (Neugliederungs-Vertrag) – Auszüge
IV. Politische Willensbildung im Parteien- und Verbändestaat
IV/1 Zur Auslegung des Artikels 21 Absatz 2 GG
IV/2 Zur Auslegung des Artikels 21 Absatz 1 GG
IV/3 Bericht der Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung 2001 – Zusammenstellung der Empfehlungen der Kommission
IV/4 Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz)
IV/5 Zur Programmatik der Parteien
IV/6 Organisationsstatut der SPD
IV/7 Einnahmen der Bundesparteien
IV/8 Satzung der Konrad-Adenauer-Stiftung
IV/9 Satzung der Friedrich-Ebert-Stiftung
IV/10 Organisationsplan der Friedrich-Ebert-Stiftung
IV/11 Staatsfinanzierung der parteinahen Stiftungen aus dem Bundeshaushalt (1965–2001)
IV/12 Mitgliedsverbände der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
IV/13 Mitgliedsverbände des Bundesverbandes der Deutschen Industrie
IV/14 Mitgliedsverbände des Bundesverbandes der Freien Berufe
IV/15 Satzung des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) e.V.
IV/16 Gewerkschaftsmitglieder
IV/17 Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes
IV/18 Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz)
IV/19 Satzung des Bundes für Umwelt und Naturschutz e.V. (BUND)
IV/20 Liste der beim Deutschen Bundestag registrierten Verbände
IV/21 Kirchliches Leben
IV/22 Kirchensteuern und Kirchengeld
V. Wahlen und Wähler
V/1 Bundeswahlgesetz
V/2 Sitzverteilung nach d’Hondt und Hare-Niemeyer
V/3 Wahlen zum Deutschen Bundestag
V/4 Ergebnis der Volkskammerwahlen in der DDR vom 18. März 1990
V/5 Bayerisches Gesetz über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz)
V/6 Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen
V/7 Sitze der Parteien in den Länderparlamenten
V/8 Ratsmitglieder nach Parteien in Gemeinden mit 10 000 und mehr Einwohnern
V/9 Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland
VI. Die Parlamente - Aufgaben und Organisation
VI/1 Altersgliederung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages
VI/2 Berufsstruktur der Mitglieder des Deutschen Bundestages (11 -14. Wahlperiode)
VI/3 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
VI/4 Geschäftsordnung der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag
VI/5 Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 1989 zur Rechtsstellung eines fraktionslosen Abgeordneten des Deutschen Bundestages („Wüppesahl-Urteil") - Leitsätze
VI/6 Die ständigen Ausschüsse des Bundestages in der 15. Wahlperiode
VI/7 Vom Deutschen Bundestag eingesetzte Untersuchungsausschüsse
VI/8 Vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommissionen
VI/9 Tätigkeiten des Deutschen Bundestages und des Bundesrates
VI/10 Geschäftsordnung des Bundesrates
VI/11 Die Ausschüsse des Bundesrates
VI/12 Stimmengewichtung der Länder im Bundesrat gemäß Art. 51 Abs. 2 GG
VII. Regieren und Verwalten
VII/1 Die Geschäftsordnung der Bundesregierung
VII/2 Inhaltsübersicht der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien
VII/3 Organisationsstruktur der Bundesfinanzverwaltung und geplante Reformen
VII/4 Organisationsplan des Bundeskanzleramtes
VII/5 Organisationsplan des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
VII/6 Das System der Staatsorgane der DDR
VII/7 Nordrhein-westfälisches Gesetz über die Organisation der Landesverwaltung (Landesorganisationsgesetz)
VII/8 Organisationsplan der Landesregierung Baden-Württemberg
VII/9 Aufbau der Landesbehörden in Baden-Württemberg
VII/10 Die hamburgische Landesverwaltung
VII/11 Organisationsplan der Thüringer Staatskanzlei
VII/12 Behörden im Geschäftsbereich des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren
VII/13 Zur Stellung Politischer Beamter
VII/14 Gesetz zur Gleichstellung von Frau und Mann im öffentlichen Dienst des Landes Bremen
VII/15 Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zum Bremer Landesgleichstellungsgesetz vom 17. Oktober 1995 – Auszug
VII/16 Leitfaden Aufgabenanalyse. Empfehlungen der Stabsstelle Verwaltungsstruktur, Information und Kommunikation im Innenministerium Baden-Württemberg – Auszüge
VII/17 Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz)
VII/18 Gemeindeverfassungen
VII/19 Gliederung der Selbstverwaltung mit den Behörden der allgemeinen Aufsicht im Land Baden-Württemberg
VII/20 Verwaltungsgliederungsplan der Stadt Köln
VII/21 Dezernatsverteilungsplan der Stadt Erfurt
VII/22 Gesamtzuweisungen des Landes Nordrhein-Westfalen an die Gemeinden und Gemeindeverbände im Haushaltsjahr 2002
VIII. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat
VIII/1 Übersicht über den Gerichtsaufbau in der Bundesrepublik Deutschland
VIII/2 Rechtsvorschriften des Bundes
VIII/3 Gerichte der Länder
VIII/4 Richter und Richterinnen im Bundes- und Landesdienst
VIII/5 Staatsanwälte/-anwältinnen, Rechtsanwälte/-anwältinnen, Notare/Notarinnen
VIII/6 Gesetze zur Entlastung der Rechtspflege
VIII/7 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht
VIII/8 Geschäftsabwicklung beim Bundesverfassungsgericht
VIII/9 Tätigkeit der Landesverfassungsgerichte
IX. Daten zur Staatstätigkeit
IX/1 Personal der öffentlichen Haushalte nach Beschäftigungsbereichen (1950–2001)
IX/2 Personal der öffentlichen Haushalte: Vollzeitbeschäftigte der Gebietskörperschaften nach Aufgabenbereichen (1950–2000)
IX/3 Personal der öffentlichen Haushalte nach Laufbahngruppen
IX/4 Personalausgaben der öffentlichen Haushalte nach Arten und Aufgabenbereichen (1999)
IX/5 Die Bundesausgaben nach Aufgabenbereichen in den Haushaltsjahren 1952 bis 2006
IX/6 Rechnungsmäßige Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Haushalte (1998/1999)
IX/7 Ausgaben der öffentlichen Haushalte nach Ländern in ausgewählten Aufgabenbereichen (1999)
IX/8 Investitionsausgaben der öffentlichen Haushalte nach Arten und Aufgabenbereichen (1999)
IX/9 Die Ausgaben des Bundeshaushalts und ihre Finanzierung (1950–2006)
IX/10 Kassenmäßige Steuereinnahmen 2001
IX/11 Die Steuereinnahmen des Bundes in den Haushaltsjahren 1950 bis 2003
IX/12 Schulden der öffentlichen Haushalte
IX/13 Rechnungsmäßige Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Haushalte (1950–2001)
IX/14 Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (Haushaltsgrundsätzegesetz)
IX/15 Leistungen des Bundes für Ostdeutschland
IX/16 Nennkapital und buchmäßige Eigenvermögen der Unternehmen, an denen der Bund und seine Sondervermögen unmittelbar beteiligt sind
IX/17 Beteiligungen des Bundes
IX/18 Entwicklung der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes (1970–2000)
IX/19 Stand der Privatisierung von Treuhandunternehmen bis zur Auflösung der Treuhandgesellschaft am 31.12.1994
X. Die Bundesrepublik im internationalen Staatensystem
X/1 Texte des Vertrages über die Europäische Union (EUV) und der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EGV) in der Fassung des Vertrages von Nizza (2001)
X/2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Auszüge
X/3 Die Einsetzung des „EU-Verfassungskonvents“. Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union (Dezember 2001)
X/4 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 zum Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 („Maastricht-Urteil“) – Auszug
X/5 Leistungen der Bundesrepublik Deutschland zum Haushalt der Europäischen Gemeinschaften (1968–2001)
X/6 Nordatlantikvertrag
X/7 Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Auslandseinsatz der Bundeswehr vom 12. Juli 1994 – Auszug
X/8 Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation
X/9 Charta der Vereinten Nationen
X/10 Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975 – Auszüge
X/11 Budapester Treffen der Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE vom 6. Dezember 1994 – Auszüge
X/12 Deutsches Personal bei internationalen Organisationen
X/13 Leistungen der Bundesrepublik Deutschland an Entwicklungsländer und multilaterale Stellen
X/14 Entwicklungshilfeleistungen der Länder
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Joachim Jens Hesse/Thomas Ellwein Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Band 1 : Text

Joachim Jens Hesse/Thomas Ellwein

Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Band 1 : Text 9., vollständig neu bearbeitete Auflage

W G DE

RECHT

De Gruyter Recht und Politik · Berlin 2004

Das Werk ist von der 1. bis zur 8. Auflage erschienen im Westdeutschen Verlag, Opladen/Wiesbaden.

© G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

I S B N 3-89949-112-2 (Br.) I S B N 3-89949-113-0 (Geb.) Bibliografische

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Der Deutschen

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© Copyright 2004 by D e G r u y t e r Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung a u ß e r h a l b der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig u n d strafbar. D a s gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen u n d die Einspeicherung u n d Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Datenkonvertierung/Satz: W E R K S A T Z Schmidt & Schulz G m b H , G r ä f e n h a i n i c h e n D r u c k u n d Bindung: Kösel G m b H & Co., K e m p t e n

Für Jakob und Hanna

Inhalt Vorwort zur neunten Auflage

XIII

Einführung I.

1

Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen

11

1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

11

1.1. Gründungsbedingungen 1.2. Demokratischer und sozialer Rechtsstaat: die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990 1.3. Das sozialistische Experiment: die Deutsche Demokratische Republik 1949-1990 1.4. Der Weg zur Einheit: die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung (1990-2003)

11 14 20 25

2. Grundzüge des Gemeinwesens

31

2.1. Territorium und Bevölkerung 2.2. Wirtschafts- und Sozialstruktur 2.3. Handlungsfelder deutscher Innenpolitik

31 34 39

3. Die Internationalisierung der deutschen Politik

48

3.1. Die Entgrenzung des Nationalstaats 3.2. Die Entwicklung der Europäischen Union 3.3. Handlungsfelder der deutschen Außenpolitik II.

48 52 64

Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung

69

1. Notwendige Erinnerungen: zur Geschichte der Staatlichkeit in Deutschland

69

2. Staat und Gemeinden: zwischen Konflikt und Kooperation 2.1. Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung 2.2. Das Verhältnis von Stadt und Staat 2.3. Zur Situation der kommunalen Selbstverwaltung heute

73 74 81 88

3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip

97

3.1. Föderalstaatliche Aufgabenteilung und Finanzverfassung 3.2. Verwaltungsföderalismus und Politikverflechtung 3.3. Der deutsche Föderalismus zwischen Vereinigung und Europäisierung

.

97 107 111

VII

Inhalt

III.

Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung

118

1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen

118

1.1. Das Grundgesetz als Rahmen und Programm 1.2. Repräsentationssystem und Demokratieverständnis 1.3. Zur Zukunft von Staat und Verfassung 2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte

IV.

...

135

2.1. Meinungsbildung und Massenmedien: Erscheinungsformen deutscher Politik 2.1.1. Rechtliche Grundlegung 2.1.2. Die Entwicklung der Printmedien 2.1.3. Rundfunk und Fernsehen 2.1.4. Medienangebot und Medienpolitik

135 136 139 143 149

2.2. Die Organisation von Interessen: der „Verbändestaat" vor der Auflösung? 2.2.1. Grundlegung und historischer Überblick 2.2.2. Formen und Funktionen von Vereinigungen 2.2.3. Vereinigungen als Beteiligungsfeld 2.2.4. Verbandseinfluss auf die Politik

152 152 157 161 163

2.3. Die Parteien: Garanten demokratischer Willensbildung oder „Staat im Staat"? 2.3.1. Parteien in Staat und Recht 2.3.2. Die Binnenstruktur der Parteien 2.3.3. Politisches Profil und Programmatik der Parteien 2.3.4. Leistungen und Funktionsprobleme des Parteiensystems

168 171 175 185 191

2.4. Wahlen und Wähler: die Bestellung der politischen Führung 2.4.1. Wahlrecht und Kandidatenaufstellung 2.4.2. Wählerverhalten und Wahlergebnis 2.4.3. Wahlkampf und politischer Wettbewerb 2.4.4. Anmerkungen zur Bundestagswahl 2002

205 206 211 216 221

Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat 1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

225

226

Gesetzgebung Das Parlament als Teil der politischen Führung Haushaltsberatung und Haushaltskontrolle Parlament und Öffentlichkeit

227 236 243 246

2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns

252

2.1. Die Zusammensetzung der Parlamente VIII

118 125 129

253

Inhalt 2.2. Mandat und Fraktionsbindung 2.3. Formale und informelle Fraktionsstrukturen 3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Regierungsfunktionen Minister und Ministerien Ministerauswahl und Regierungsbildung Der Bundeskanzler

4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ 4.1. Historischer Rückblick 4.2. Selbstverständnis und Wirkungsweise

V.

265 265 269 276 282 288 289 293

5. Der Bundespräsident: das Staatsoberhaupt als „Hüter der Politik"

300

Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik

308

1. Die Grundlagen des Verwaltungssystems

309

1.1. Vertikaler und horizontaler Verwaltungsaufbau 1.2. Tätigkeitsfelder und Verwaltungsverfahren 1.3. Die Verwaltung als Organisation und Betrieb 2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Vorteil der Kontinuität - Last der Tradition Verwaltungspolitik als Daueraufgabe Ansätze zur Verwaltungsreform: ein Rückblick Staats-, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Bund und Ländern . .

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. VI.

256 261

309 312 314 316 316 319 322 326 333

Die Macht der Verwaltung Organisationsgewalt und Haushaltshoheit Aufsicht und Kontrolle Personalführung Verwaltung und politische Führung

334 336 340 346 351

Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel

356

1. Die Rechtsordnung: Grundlagen

356

1.1. Positives und überpositives Recht 1.2. Zur Struktur der Rechtsordnung

356 361

2. Die Rechtsprechung: Justiz als Gewährleistung

367

2.1. Die Organisation der Rechtsprechung 2.2. Die Rechtsprechung im Regierungssystem

367 372 IX

Inhalt 3. Das Bundesverfassungsgericht als Stabilitätsgarant

375

3.1. Entstehung und Auftrag 376 3.2. Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik 379 3.3. Das Bundesverfassungsgericht im Prozess der europäischen Integration . 383 4. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat - eine kontinuierliche Herausforderung . 385

VII. Gefährdete Stabilität: das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung

392

1. Die Veränderungen der staatlichen Rolle und Funktion

393

2. Institutionelle und personelle Voraussetzungen

396

3. „Europäisierung" als entscheidende Herausforderung

403

4. Erwartbare Entwicklungen

405

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands A. B. C.

Deutschland 1945-1949 Deutsche Demokratische Republik 1949-1990 Bundesrepublik Deutschland 1949-2003

409 414 425

Literaturverzeichnis

477

Personenregister

567

Sachregister

569

X

Inhalt Inhaltsverzeichnis von Band 2 - Materialien I.

Völkerrechtliche Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland

II.

Verfassungsrechtliche Dokumente

III.

Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung

IV.

Politische Willensbildung im Parteien- und Verbändestaat

V.

Wahlen und Wähler

VI.

Die Parlamente - Aufgaben und Organisation

VII. Regieren und Verwalten VIII. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat IX.

Daten zur Staatstätigkeit

X.

Die Bundesrepublik im internationalen Staatensystem

XI

Vorwort zur neunten Auflage „Gefährdete Stabilität" - mit dieser Metapher könnte die Entwicklung des deutschen Regierungssystems seit dem Erscheinen der achten Auflage dieses Buches beschrieben werden. Während die „Stabilität", nicht zuletzt im historischen Rückblick, auf solide rechtliche und politisch-institutionelle Voraussetzungen verweist, dokumentiert sich die „Gefährdung" in einer Reihe von Verwerfungen, die in den vergangenen Jahren deutlich wurden. So kam es zu einer Verschärfung jener Umbruchsituation, die sich mit ökonomischen und demographischen Entwicklungen, einer immer deutlicher werdenden Krise der sozialen Sicherungssysteme, erkennbaren Leistungseinbußen des öffentlichen Handelns und Glaubwürdigkeitsproblemen der Politik verbindet. Hinzu tritt, dass die Europäisierung nationalstaatlicher Politik inzwischen jeden Arbeits- und Lebensbereich umfasst, es einigen bereits als problematisch erscheint, noch von einem „Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland" zu sprechen. Wenn richtig ist, dass die Innenpolitik der Nationalstaaten heute wesentlich durch die europäische Ebene geprägt wird, schränkt sich der Spielraum staatlicher Reaktionen und Politiken ein. Dies deutlich zu machen, ist wie die Vermittlung von Grundlagen Aufgabe dieses Lehrbuchs und Nachschlagewerks, auf das inzwischen Generationen von Studenten der Staats-, Rechts- und Politikwissenschaften zurückgegriffen haben. Darüber hinaus gilt den immer offensichtlicher werdenden Schwierigkeiten, das politische System der Bundesrepublik flexibel und anpassungsfähig zu halten, das besondere Interesse, wird die von vielen diagnostizierte „Reformunfähigkeit" der deutschen Politik zum Thema allerdings nicht im Sinne einer konsequenzlos vorgetragenen Diagnose, sondern unter Diskussion möglicher Handlungsoptionen. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Voraussetzungen für ein leistungsfähiges politisches System unverändert gegeben sind, es einer „neuen Verfassung" oder einer grundlegend „neuen Politik" keineswegs bedarf. Gefragt ist vielmehr eine die politischen Lager übergreifende Reformpolitik, die konsequent jene „Modernisierung" einleitet, ohne die die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich zurückzufallen droht. Diese Gefahr freilich ist manifest, alle wesentlichen ökonomischen und sozialen Indikatoren deuten in diese Richtung. Allerdings ist die Reformbereitschaft und Reformfähigkeit der deutschen Akteure nicht nur durch politischen Willen und instrumenteile Kompetenz zu sichern; es tritt inzwischen auch ein notwendiges „Lernen" mit Blick auf die europäischen Partner hinzu. Gerade im Vergleich machten die vergangenen Jahre deutlich, dass die Ausgangsbedingungen der Politik, vor wenigen Jahren noch als „Modell Deutschland" gefeiert, heute selbst reformbedürftig sind. Die durch das Grundgesetz gegebene Stabilität des politischen Systems droht sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Dies an zahlreichen Beispielen deutlich zu machen und auf Abhilfe zu drängen, ist eine der Aufgaben dieser Publikation. Formal wird an der zweibändigen Darstellungsform des „Regierungssystems" festgehalten. Sie hat sich, folgt man Besprechungen wie Zuschriften aus der Leserschaft, bewährt. Durch erweiterte Querverweise zwischen dem Text- und dem Materialband wird es zudem möglich, die auch eigenständig zu nutzenden Teilbände themenspezifisch aufeinander zu beziehen. Auch diese Auflage des „Regierungssystems" hätte ohne die Hilfe zahlreicher Mitarbeiter nicht fristgerecht erscheinen können. Mein Dank gilt deshalb Dr. Florian Grotz, Alexander Somoza und, nicht zuletzt, Doris Müller-Ziem. Schon der rein technische Aufwand, ein inzwischen nahezu 1400 Seiten umfassendes Gesamtwerk zu überarbeiten, übersteigt die Kräfte eines Einzelnen. XIII

Vorwort Abschließend sei darauf verwiesen, dass zahlreiche in den beiden Bänden angesprochene Themen in gesonderten Publikationen vertieft wurden. Dies gilt vor allem für eine Reihe von Untersuchungen zur Funktionsfähigkeit des deutschen Regierungssystems. Nach früheren Arbeiten zur Bundes- und zur kommunalen Ebene wurden seit der vergangenen Auflage für die Länder der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe viel diskutierter Gutachten erstellt, die sich auf die Reform der Regierungs- und Verwaltungsorganisation konzentrierten; so entstanden im Zeitraum zwischen 1998 und 2002 nicht weniger als neun jeweils eigenständig publizierte Länderberichte zur Situation in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, SachsenAnhalt, Baden-Württemberg und Bayern. In allen Fällen haben diese Untersuchungen zu einer ungewöhnlich intensiven Diskussion um die Handlungsbedingungen der Landespolitik beigetragen, in einigen sogar umfassende Reformpolitiken angestoßen. Darüber hinaus wurden international vergleichende Untersuchungen zum Themenbereich vorgelegt. Ich verweise, neben näheren Nachweisen im Inhaltsverzeichnis, insbesondere auf „Paradoxes in Public Sector Reform: An International Comparison" (2003) sowie „Re-Constituting Statehood: Public Sector Reform in Central and Eastern Europe (1990-2000)". Schließlich ist auf die zunehmende Zahl europapolitischer Arbeiten hinzuweisen, die nicht nur „Brüsselfixiert" argumentieren, sondern auch und gerade von der unabdingbaren Interaktion nationalstaatlicher und europäischer Politik ausgehen. Ich benenne: „ Welche Verfassung für Europa?" (1999), „Europa professionalisieren" (2003) sowie „Nationalstaat und Europäische Union. Beiträge zum Integrationsprozess" (2004). Die in den letztgenannten Publikationen angestrebte Verbindung zwischen nationalstaatlicher und europäischer Entwicklung wurde erleichtert durch die Begründung des „Internationalen Instituts für Staats- und Europawissenschaften" (ISE), das an die Stelle unproduktiv werdender Forschungseinrichtungen trat und die heute führenden Staats- und Europawissenschaftler in Berlin vereinigt. Die in diesem Kontext seit Beginn 2003 erscheinende „Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften" (ZSE) mag den damit verbundenen empirisch-analytischen wie methodischen Anspruch verdeutlichen. Ein letzter Dank geht an die Leser. Sie haben - wie stets - durch zahlreiche Anregungen an dieser Neuauflage mitgewirkt. Dies gilt, zumindest indirekt, auch für meine Kinder Jakob und Hanna, denen ich diese neunte Auflage widme. Thomas Ellwein verstarb im Januar 1998, wir vermissen ihn sehr. Berlin und Garz, im Juli 2003

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Joachim Jens Hesse

Einführung Eine Darstellung des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland sollte von einer plausiblen Bestimmung ihres Gegenstandes ausgehen, diesem Gegenstand gerecht zu werden suchen und nach Möglichkeit den Stand der wissenschaftlichen Forschung und weiterer Erörterungen zum Thema widerspiegeln. Dieser Anspruch verweist auf drei unterschiedliche Schwierigkeiten, die es anzusprechen gilt, um die eigene Vorgehensweise zu verdeutlichen; eine kurze Kennzeichnung der Gliederungslogik und einige bibliographische Hinweise schließen sich an. Zur Konzeption Zunächst: Das Regierungssystem eines Landes ist ein theoretisches Konstrukt. Als solches bildet es einen der zentralen Gegenstandsbereiche der Staatswissenschaften. Inhaltlich wird dabei an das angeknüpft, was in Deutschland noch im 19. Jahrhundert als „Politik" gelehrt wurde, sich später im angelsächsischen Sprachraum als „government" herausbildete, schließlich - angereichert um den modernen Systembegriff - in Arbeiten zur vergleichenden Analyse politischer Systeme mündete. Empirisch zählt man zum Regierungssystem zunächst meist die obersten Staatsorgane des Bundes und der Länder, deren Organisation, Verfahrensweisen und Beziehungen untereinander sowie einige der institutionellen wie sozialen Voraussetzungen. Dieses eher politikwissenschaftliche Verständnis vom Regierungssystem lässt sich mit dem vergleichen, was innerhalb der Rechtswissenschaft in Lehrbüchern zum Verfassungsrecht dargestellt und diskutiert wird. Allerdings findet die Rechtswissenschaft ihren Gegenstand, eben die Verfassung, vor, während die Politikwissenschaft ihn erst bestimmen und eingrenzen muss. Zwar dürfte unstrittig sein, dass etwa jener Organbereich, den man als „politische Führung" bezeichnet, zum Themenbereich „Regierungssystem" gehört. Kaum umstritten ist auch die Berücksichtigung der Verwaltung und des kommunalen Bereichs sowie der Einbezug jener Einrichtungen und Gruppen, aus denen das Personal der politischen Führung hervorgeht und die auf die politische Führung Einfluss nehmen. Weniger eindeutig hingegen ist, inwieweit die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen des Regierungssystems im engeren Sinne zu berücksichtigen sind, ob man also das System in seinen Einzelheiten darstellen und bewerten kann, ohne auf grundlegendere Entwicklungsprozesse einzugehen. Hier sind - schon mit Blick auf den Umfang der Darstellung Abstriche zu machen, gleichwohl gilt der „Umwelt" des Regierungssystems ein besonderes Interesse. Dabei kommt neben den materiellen Einwirkungen und Wechselbeziehungen, etwa im Rahmen des Vereinigungsprozesses, jenen rechtlichen und institutionellen Veränderungen Bedeutung zu, die sich mit der fortschreitenden europäischen Integration und weitergehenden, ja globalen „Entgrenzungen" verbinden. Hier ist zu fragen, ob der Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte und der Verlust an Steuerungskompetenz bereits ein Ausmaß erreicht haben, das ein Regierungssystem nicht mehr in nationalstaatlichen Kategorien fassen und darstellen lässt. Zum Zweiten: Das Regierungssystem als zunächst wissenschaftliches Konstrukt, das einen auf inhaltlichen und methodischen Überlegungen beruhenden Ausschnitt der Wirklichkeit darstellt, soll in einer Weise beschrieben und analysiert werden, die seinem Gegenstand gerecht wird. Eine solche Forderung ist zunächst unerfüllbar. Wenn schon das Konstrukt selbst umstritten ist, gilt dies erst recht für seine Darstellung und Bewertung. Da hier prinzipiell von jeweils unterschiedlichen Sichtweisen auszugehen und auch bei der Erörte-

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Einführung rung von Einzelfragen der jeweilige Hintergrund zu berücksichtigen ist, macht Wissenschaft ihre Regeln geltend. Sie beruht immer auf Auswahl, zeichnet den von ihr gewählten Wirklichkeitsausschnitt mit Hilfe von Modellkonstruktionen nach und strukturiert Realität, indem sie sie um viele Einzelheiten reduziert. Dabei vollzieht sich Ersteres nach weitgehend anerkannten Regeln. Die Modellkonstruktion, die thematische Auswahl, die Zuordnung von Wirklichkeitsbefunden zum Modell sollen nachvollziehbar und damit nachprüfbar erfolgen; die Bewertungen sollten so offenkundig sein, dass der Betrachter entscheiden kann, ob er sie übernehmen will oder nicht. Der Zweck solchen Tuns wird dagegen von sehr unterschiedlichen Auffassungen bestimmt. Man kann sich mit einer „richtigen" Reduktion von Wirklichkeit begnügen, man kann Realtatbestände untersuchen, um einzelne Entwicklungen zu erklären und damit ggf. zur Prognose künftiger Entwicklungen beizutragen, und man kann Wirklichkeit erforschen, um sie zu verändern. Die Verbindung dieser einzelnen Stufen wird dabei zu einem zentralen wissenschaftstheoretischen Problem: Wer (nur) verbessern will und wer (grundlegend) zu verändern sucht, lässt unterschiedliche Prämissen in sein analytisches Verfahren eingehen. Für die folgenden Ausführungen stehen die Darstellung und vor allem die Analyse des Regierungssystems der Bundesrepublik im Vordergrund. Dies bringt es mit sich, dass auch Bewertungen vorgetragen werden, die auf Verbesserungen des politischen Systems zielen oder sich aus kritischer Distanz zu ihm ergeben; entsprechende Erweiterungen der Untersuchung sind aber jeweils kenntlich gemacht. Schließlich zum Dritten: Eine wissenschaftliche Darstellung des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland sollte nach Möglichkeit den Stand der Forschung widerspiegeln. Erneut ist sofort anzufügen, dass sich eine solche Forderung kaum erfüllen lässt. Kein deutscher Staatswissenschaftler - und diese disziplinäre Kennzeichnung umfasst hier vor allem die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften - vermag mehr zu übersehen, was im In- wie Ausland an theoretischen Erörterungen und empirisch-analytischen Untersuchungen zum Thema vorliegt. Infolge dessen muss auch hier eine Auswahl getroffen werden, die von den gegebenen intellektuellen und materiellen Möglichkeiten bestimmt ist. Anders formuliert: Wer darstellt, wird sich um vieles bemühen, muss aber auch seine wie des Gegenstandes Grenzen sehen und erkennbar machen. Eine „Darstellung" ist kein Handbuch. Gelingt sie, verbindet sich mit ihr der Vorteil der Übersichtlichkeit und der Darbietung „aus einem Guss", während ein Handbuch auf Vollständigkeit angelegt ist und die unterschiedlichen wissenschaftlichen (wie politischen) Positionen widerspiegeln müsste. Einzelne Autoren gehen dabei ihren jeweils eigenen Weg. Das Bemühen um Vollständigkeit und Objektivität stößt auf Grenzen. Auch dies gilt es möglichst transparent zu machen. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen wendet sich die folgende Darstellung des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland vor allem dem Staat und den in seinem Rahmen stattfindenden Prozessen der politischen Willensbildung zu. Der Staat ist durch die ihm zuzurechnenden Institutionen eindeutig und durch die von ihm eingesetzten Mittel relativ eindeutig bestimmt. Allerdings gilt dies nicht mehr für seine Zuständigkeit; eine präzise Abgrenzung seiner Tätigkeit von anderen Bereichen der Gesellschaft und ihren Einrichtungen gelingt kaum, sich mit dem fortschreitenden Europäisierungsprozess verbindende Relativierungen treten hinzu. Gleichwohl stehen zunächst die Institutionen des Bundes, aber auch die der Länder und der Gemeinden wie der Gemeindeverbände im Vordergrund. Dabei ist zum einen von der Aufgabenteilung zwischen den unterschiedlichen Ebenen, zum anderen von zunehmenden Verflechtungsprozessen die Rede. Sie finden sich nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene, sondern auch im europäischen Kontext. Den sich damit verbindenden Erweiterungen kommt in dieser Auflage besondere Bedeutung zu.

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Einführung Weniger eindeutig erscheint der Begriff der politischen Willensbildung. Er lässt sich in einem engeren Sinne begreifen als die Summe der Entscheidungsvorgänge, die das Grundgesetz in sein Modell der Willensbildung aufgenommen hat. Dieses Verständnis deckt aber nur den formalen Aspekt der Willensbildung ab und berücksichtigt außer den staatlichen Organen lediglich die Parteien. Dass darüber hinaus aber die Verbände und Medien eine entscheidende Rolle spielen, ist offensichtlich. Beiden Bereichen wendet sich der Staat zwar regelnd zu, sie sind ihm aber nicht direkt unterstellt. Daher wird gelegentlich empfohlen, auf ein abstrakteres und dem wissenschaftlichen Zugriff eher geöffnetes Modell - das politische System - auszuweichen. Auch das politische System lässt sich aber nicht trennscharf gegen seine Umwelt abgrenzen; entsprechende Entwürfe verschleiern eher die Wirklichkeit, also vor allem die unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten, die sich etwa durch die Umsetzung wirtschaftlicher in politische Macht, durch die Berücksichtigung von Gruppeninteressen oder durch eine kritische Öffentlichkeit ergeben. Für ein die Darstellung ordnendes Modell des politischen Systems gilt damit, was auch für den Staat gilt: die Abgrenzung zur Umwelt gelingt nicht oder doch nur unzureichend. Zusammenfassend wird der Staat im Folgenden als ein historisch gewachsenes Konstrukt begriffen, das spezifische Ordnungsleistungen erbringt und Herrschaft ausübt, das somit Gegenstand der politischen Auseinandersetzung ist und auf das hin entschieden werden muss, wer oder besser welche Gruppen sich seiner in besonderer Weise zur Durchsetzung oder Sicherung eigener Interessen bedienen können. Dabei ist der Staat weder in der Gesamtheit seiner Institutionen und Verfahrensweisen zu erfassen, noch sind es alle Prozesse, durch die auf ihn eingewirkt wird. Es ist vielmehr zu fragen, wie in der Bundesrepublik Deutschland • • • •

die politisch verantwortlich Handelnden beauftragt, beeinflusst und kontrolliert werden, politische Entscheidungen zustande kommen und deren Vollzug sichergestellt wird, die Bürgerschaft am Prozess der politischen Willensbildung beteiligt und zugleich vom Staat und seinen Organen abhängig ist und zu welchen Ergebnissen das politische Handeln führt.

Damit stehen das „ Wie" und (eingeschränkter) das „ Wer" und das „ Was" politischer Auswahl- und Entscheidungsprozesse im Vordergrund der Untersuchung. Dem wird der Versuch vorangestellt, das engere Thema in den weiteren Kontext der nationalen und internationalen Entwicklung einzuordnen, zumal die Ereignisse der vergangenen Jahre deutlich gemacht haben, dass nicht nur von einer Neubestimmung der Staatlichkeit in ihren historischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontexten auszugehen ist, sich vielmehr auch Fragen nach dem europäischen Standort und der nationalen Identität der Deutschen stellen. Die angesprochenen Auswahl- und Bewertungsprobleme bedürfen dabei der Offenlegung. Sie ergeben sich aus der in den ersten Kapiteln vorzutragenden Situationsbestimmung und aus einem Verfassungsverständnis, das die Verfassung als einen Rahmen begreift, der immer wieder neu zu interpretieren ist und innerhalb dessen unterschiedliche politische Programme möglich sind. Das Grundgesetz soll so die Herrschaft einer Mehrheit ermöglichen, die sich an den wandelnden Bedürfnissen und Erwartungen orientiert. Unbeschadet des notwendigen Minderheitenschutzes ergibt sich damit als ein erstes Beurteilungskriterium, in welchem Umfang Mehrheitsherrschaft möglich ist und wie in ihrem Rahmen sowohl die Regierungs- als auch die Innovationsfähigkeit des politischen Systems, seine Anpassung an wechselnde Erfordernisse also, gewährleistet sind. Dies folgt der Vorstellung, dass ein Regierungssystem nicht nur dem ökonomischen und sozialen Strukturwandel und der Veränderung von Werthaltungen und Einstellungsmustern gerecht zu werden hat, sondern dass

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Einführung darüber hinaus auch ein hohes Maß an Stabilität und damit Berechenbarkeit gegeben sein sollte. Nach der verbreiteten, häufig aber (idealistisch) überhöhten demokratietheoretischen Position sollen wechselnde Mehrheiten das eine und eine rechtsstaatliche Verfassung das andere bewirken oder - besser - den Widerspruch, der zwischen beiden Forderungen besteht, nach Möglichkeit vermindern. Mit Blick auf die Gewährleistung des Wandels und mit ihm der Verbesserung sollte das Regierungssystem also anpassungsfähig und flexibel sein; mit Blick auf die Gewährleistung von Stabilität sollte es anderen Anforderungen genügen. Hierbei sind die Gewichte häufig ungleich verteilt: Wer von den gegenwärtigen Verhältnissen begünstigt ist, wird eher auf Stabilität pochen als derjenige, der sich von Verbesserungen einen Positionsgewinn erhofft. Die jeweils aktuellen politischen Auseinandersetzungen verdeutlichen dies nachdrücklich. Aus dem damit angedeuteten Verfassungsverständnis folgt die Vorstellung einer auf Aufklärung und Emanzipation hin angelegten partizipatorischen Demokratie. Ohne dies hier näher theoretisch begründen zu wollen, sei daran erinnert, dass Demokratie unterschiedliche Formen annehmen kann, so auch die der Herrschaft durch wechselnde Eliten. Eine partizipatorisch verstandene Demokratie steht dabei der „Zuschauerdemokratie" gegenüber, in der von Zeit zu Zeit der Wähler die Machtverteilung zwischen konkurrierenden Herrschaftsgruppen zu regeln sucht. „Partizipatorisch" wendet sich aber auch gegen den gelegentlich noch immer vertretenen Glauben an die Möglichkeit eines unmittelbaren, von der „Basis" aus gesteuerten und auf umfassendem Konsens beruhenden politischen Prozesses. Partizipation meint demgegenüber Teilnahme und Mitwirkung, was die Teilnahme und Mitwirkung Anderer ebenso voraussetzt wie Interessenunterschiede, die sich nicht immer ausgleichen lassen. Sie zielt damit auf individuelle Freiheit und Entfaltung, vor allem aber auf Teilnahme an Prozessen der Willensbildung. Der Modus ist die Entscheidung der (legal zustande gekommenen und nur dadurch für die Minderheit erträglichen) Mehrheit. Andererseits kann sich Partizipation auch nicht nur auf die geregelten Mitbestimmungsvorgänge, wie etwa politische Wahlen, beschränken. Es verbindet sich mit ihr deshalb die Forderung nach einer möglichst weitgehenden Öffnung des Staates und seiner Einrichtungen hin zum Bürger und zu kooperativen Formen des Verhaltens. Das genannte Beurteilungskriterium wird ergänzt durch emanzipatorische Vorstellungen, die die politische Diskussion seit der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution begleiten. Nimmt man dabei den „klassischen" Emanzipationsbegriff als Maßstab, sind viele der ursprünglichen Emanzipationsforderungen inzwischen erfüllt. Andere sind neu hinzugetreten. Mit ihnen verbindet sich wie mit dem Begriff selbst, dass Emanzipation in ihren Möglichkeiten oft überschätzt wird und dass das anzustrebende oder doch zumindest erhoffte Ziel dem im Wege steht, was sich hic et nunc und im Sinne eines Aufeinanderangewiesenseins Aller erreichen lässt. Diese Einschränkung mitgedacht soll im Folgenden von einem emanzipatorischen Demokratieverständnis dann gesprochen werden, wenn es um das Ziel geht, die Abhängigkeit des Menschen zu vermindern und sie in ihrem unvermeidbaren Rest in eine berechenbare und transparente Form zu bringen. Dies kann sich nicht allein auf den staatlichen Bereich beschränken, es kann sich aber auch nicht auf jeden gesellschaftlichen Bereich erstrecken. Emanzipation deckt sich daher nur zu einem Teil mit „Demokratisierung" (außerhalb des institutionell abgegrenzten staatlichen Bereichs); eindeutige Forderungen lassen sich daraus kaum ableiten. Wie weit das Postulat reicht und auf welchem Wege es sich verwirklichen lässt, ist Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Vor dem Horizont des ersten Beurteilungskriteriums, das sich auf Herrschaft, Entscheidungsfähigkeit, Anpassung und Stabilität richtet, geht es um die Existenz des Gemeinwesens - dieser Begriff als Gesellschaft und Staat übergreifend verstanden - , um dessen Uber-

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Einführung lebensfáhigkeit im Sinne der Systemtheorie. Dass es dabei zugleich um die Existenz des Einzelnen geht, ist offensichtlich. Vor dem Hintergrund des zweiten Beurteilungskriteriums geht es dann um die Freiheit des Einzelnen und um die Gleichheit der Bürger. Partizipation zielt auf mehr Freiheit, Emanzipation auch und zudem als Voraussetzung auf mehr rechtliche, demokratische und - erneut in unvermeidbaren Grenzen - soziale Gleichheit. Man kann dies weiter ausführen, Hoffnungen und Einschränkungen hinzufügen, sich dabei aber nie der politischen Auseinandersetzung entziehen. Diese lapidare Feststellung muss hier zunächst genügen. Auf einer ganz anderen Ebene der Diskussion lässt sich das dritte Beurteilungskriterium einordnen. Während die ersten beiden Kriterien eher allgemeine Probleme der modernen Gesellschaft ansprechen und darauf abstellen, den Staat strukturell wie funktional neuen Gegebenheiten anzupassen und ihn zugleich für künftige Entwicklungen offen zu halten, bezieht sich das dritte Kriterium auf Besonderheiten der deutschen Entwicklung. Da es sich theoretisch hier nicht entfalten lässt und auch seine historische Ableitung zu großen Raum erfordern würde, sei zunächst nur folgende plakative Feststellung erlaubt: Die politische Entwicklung Deutschlands hat sich der allgemeinen demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung der westlichen Gesellschaften zwar nicht entzogen, sich ihr aber erst mit erheblichen Verspätungen angeschlossen. Das hat die deutsche Demokratie verletzlich gemacht. 1919 auch verfassungsmäßig etabliert, entartete sie schon nach wenig mehr als einem Jahrzehnt, weil die Demokraten in der Minderheit waren, die Staatsform ungeliebt blieb und es so an einem Integrationsfaktor mangelte, der der Gesellschaft den Weg aus den mannigfachen, nicht zuletzt ökonomischen Krisen erleichtert hätte. Nach 1945 wurde dann auf sehr unterschiedliche Art versucht, diese Erfahrungen zu verarbeiten. Zu diesen Erfahrungen gehörte eine für lange Zeit eher geringe Belastungsfähigkeit demokratischer Einrichtungen. Nicht zuletzt deshalb müssen Demokraten zum Schutz der Demokratie beitragen. Dazu gehört auch, dass man den gewährten Freiraum nicht überdehnt, gleichzeitig Macht nicht im Übermaß nutzt. An das daraus abzuleitende Kriterium verwirklichter Liberalität sei nicht nur mit Blick auf vielfältige Bedrohungen seit 1945, sondern auch an das problematische Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten erinnert. Die in diesem Prozess zutage tretenden Vorurteile, die Gleichgültigkeit, mit der man den erkennbaren ökonomischen und sozialen Ungleichheiten begegnete, die Versuche, „historische Rechnungen" zu begleichen, gehören hierher. Dabei ist mitzubedenken, dass Illiberalität und Willkür stets dort beginnen, wo man eine Mehrheit schrankenlos gegen eine Minderheit ausspielt oder eine Minderheit durch manipulative Maßnahmen zur Mehrheit erklärt - die Geschichte des wiedervereinigten Deutschland ist reich an entsprechenden Beispielen. Liberalität im hier angesprochenen Sinne ist offensichtlich nicht als Ausdruck einer politischen Richtung zu verstehen, wohl aber als ein Grundverständnis von Politik, das auf friedvoller Auseinandersetzung, der Möglichkeit des Irrens, auf Lernprozessen und schließlich auf der Bereitschaft beruht, einen „anderen" als den eigenen Weg als auch möglich zu akzeptieren. Auch in dieser Hinsicht wird sich der demokratische und soziale Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren zu bewähren haben.

Zur Anlage dieses Bandes Der Aufbau dieses Textbandes des „Regierungssystems" folgt im Wesentlichen den Gliederungsprinzipien der vorangegangenen Auflagen. Kapitel I („Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen") wurde aktualisiert und auf den Stand der Forschung gebracht, wobei zum Ausweis der innenpolitischen Herausforderungen ein Blick 5

Einführung auf die außen- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen tritt. Darüber hinaus finden sich erweiterte Ausführungen zu aktuellen politischen, ökonomischen und soziokulturellen Problemen. In Kapitel II („Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung") kam es zu einer Erweiterung jener Ausführungen, die sich mit der künftigen Entwicklung der „Staatlichkeit" beschäftigen. Angesichts aktueller bundesstaatlicher Probleme und des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Staat und Gemeinden wurden die entsprechenden Abschnitte nicht nur aktualisiert, sondern auch in ihren analytischen Teilen ausgeweitet. Der konsequente Einbau der mit dem Europäisierungsprozess verbundenen Veränderungen kam hinzu. Das dritte Kapitel („Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung") blieb in seiner Gliederungslogik unverändert, wurde allerdings durch stärkere Bezüge auf die laufende verfassungspolitische Diskussion ergänzt. Auch sollte deutlich werden, dass die Zukunft der intermediären Einrichtungen ein Überdenken inzwischen routinehafter analytischer Zugänge erfordert. Ein erster Blick auf Entwicklungen außerhalb Deutschlands macht zudem Anpassungsprozesse deutlich, die im Rahmen der vergangenen Auflagen so noch nicht erkennbar waren. Auch in Kapitel IV („Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat") kam es bei Beibehaltung der Gliederungslogik zu beträchtlichen Ergänzungen, die sich vor allem auf die Parlamentsfunktionen und das faktische Regierungshandeln richten. Der „Bedeutungsverlust der Parlamente" und die mit einem eher medial verstandenen Regierungsstil verbundenen Probleme werden in einer umfassenden Reformdiskussion aufgenommen. Bei der Überarbeitung von Kapitel V („ Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik") wird kaum überraschen, dass erneut Fragen der Verwaltungsreform im Vordergrund stehen. Angesichts der sehr ungleichen Aktivitäten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene werden umfassende Reformkonzepte diskutiert, die eine verstärkte Leistungsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen zum Gegenstand haben. Kapitel VI {„Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel") blieb in seinem Aufbau unverändert. Zur Aktualisierung treten Ausführungen zur Steuerungsfunktion des Mediums „Recht" im nationalstaatlichen wie internationalen Kontext. Das den Textband beschließende Kapitel VII („Das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung") summiert schließlich die erkennbaren Herausforderungen an das deutsche Regierungssystem. Über situative Anpassungen hinaus gilt strukturellen Veränderungen das Interesse, bis hin zu Fragen einer veränderten Arbeitsteilung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Es folgt der schon traditionelle Blick auf die Stärken und Schwächen des deutschen Regierungssystems im internationalen Vergleich, wobei erweiterte nationalstaatliche Erfahrungen und die europäische Entwicklung besondere Berücksichtigung erfahren. Am Ende des Inhaltsverzeichnisses des Textbandes sowie innerhalb der einzelnen Kapitel finden sich zudem gesonderte Hinweise auf die dem jeweiligen Themenbereich verbundenen oder ihn illustrierenden Dokumente im getrennt vorgelegten Materialband dieses „Regierungssystems". Die Hinweise sind vor allem deshalb notwendig, weil der Aufbau des Materialbandes der Gliederungslogik des Textbandes nur in Teilen folgt. Dies erklärt sich zum einen aus der beabsichtigten Eigenständigkeit auch des Materialbandes (als Informationsund Nachschlagewerk), zum anderen aus der Notwendigkeit, einzelne Dokumente, Statistiken und weitere aufbereitete Primärmaterialien zu Schwerpunkten zusammenzufassen. Der Aufbau des Materialbandes (I: Völkerrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutsch-

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Einführung land; II: Verfassungsrechtliche Dokumente; III: Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung; IV: Politische Willensbildung im Parteien- und Verbändestaat; V: Wahlen und Wähler; VI: Die Parlamente - Aufgaben und Organisation; VII: Regieren und Verwalten; VIII: Die Bundesrepublik als Rechtsstaat; IX: Daten zur Staatstätigkeit; X: Die Bundesrepublik im internationalen Staatensystem) weist die unterschiedlichen Schwerpunkte aus. Aufgrund der Hinweise im Textband sollte es möglich sein, sich ohne Schwierigkeiten die entsprechenden Materialien verfügbar zu machen und mit ihnen zu arbeiten. Methodische und bibliographische Anmerkungen Methodisch geht es mit der folgenden Darstellung des Regierungssystems zunächst darum, vorhandenes Wissen strukturiert und analytisch wie empirisch gehaltvoll zusammenzufassen; erst auf dieser Basis kommt die Erarbeitung eigener Untersuchungsansätze hinzu. Dabei herrscht angesichts der Komplexität des Regierungssystems und der rechts-, wirtschafts- wie sozialwissenschaftlichen Zugänge notwendigerweise Methodenvielfalt. Zwei Verfahren kommen vor allem zur Anwendung. Zum einen wird historisch-genetisch argumentiert, wobei etwa innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik Phasen ausgemacht und näher definiert werden, um dann anhand der gewählten Kategorien und Kriterien Veränderungen sichtbar zu machen und ggf. zu bewerten. Zum anderen wird bisweilen ein Analyseansatz (oder eine Modellkonstruktion) gewählt und vorgestellt, mit dessen (deren) Hilfe „Wirklichkeit" aufgearbeitet wird, um zu verdeutlichen, wo sich das Modell und die reale Entwicklung entsprechen oder Differenzen erkennbar sind; Letzteres kann dann wiederum unterschiedlich bewertet werden. All dies ist methodisch differenzierter darzustellen, sollte aber nicht den pragmatischen Hinweis überdecken, dass angesichts der empirischen Komplexität des Regierungssystems und der Pluralität disziplinärer wie analytischer Zugänge methodische „Offenheit" herrschen muss. Ohne hier näher auf die vor allem sozialwissenschaftliche Methodendiskussion einzugehen, sei im Übrigen festgestellt, dass Wissenschaft ihre Aufgabe bekanntlich nicht darin sehen kann, für als unumstößlich geltende Behauptungen die erforderlichen Belege zu erbringen. Den Glauben eines Anderen kann man nur teilen, nicht aber nach vollziehen. „Gläubige" gibt es freilich in allen politischen und auch wissenschaftlichen Lagern. Wissenschaft beruht demgegenüber auf begründeter Behauptung und gelungenem oder misslungenem Beleg, nicht zuletzt auch - bei aller Entschiedenheit - auf beträchtlichem Relativismus. Wenn der eine Part den anderen auffordert, „einzig richtige" Positionen zu übernehmen, ist der wissenschaftliche Diskurs beendet. Umgekehrt führt er gerade in der politischen Auseinandersetzung nur selten zu eindeutigen Ergebnissen. Dies gilt auch für die folgende Darstellung. Ansonsten wird in allen Kapiteln auf weiterführende, eher analytisch ausgerichtete und zuweilen theoretisch interpretierende Publikationen verwiesen, vor allem wenn sie nähere Ausführungen zu dem beinhalten, was im Rahmen dieses „Regierungssystems" eher kursorisch vorgestellt wird. Querverbindungen zu anderen Analyseansätzen und „Denkschulen" werden soweit als möglich aufgezeigt. Schließlich ein Wort zur bibliographischen Vorgehensweise und zur Verwendung von Primär- und Sekundärmaterialien. Angesichts der kaum mehr überschaubaren Literatur zu Einzelaspekten des deutschen Regierungssystems zielt der vorliegende Band zwar auf eine möglichst weitgehende Erfassung einschlägiger Publikationen, ohne dass eine vollständige Verwertung der Literatur möglich oder wünschenswert wäre. Zugängliche Veröffentlichungen werden dann einbezogen, wenn eine Auseinandersetzung mit ihnen notwendig oder 7

Einführung sinnvoll erscheint, wenn sie sich ausführlicher als im Textband möglich mit einem Thema beschäftigen, wenn sie weitere und wichtige Nachweise beinhalten oder wenn sie vorgetragene Positionen vertiefend darstellen bzw. zum gleichen Themenkomplex eine andere Position beziehen. Da die meisten Hinweise in den Text eingefügt werden, wird der Hintergrund für den Verweis nicht immer hinreichend deutlich. In der Regel bedeutet „vgl. ", dass sich in dem betreffenden Werk Bestätigungen, Ergänzungen oder Klärungen zu Feststellungen im Text finden. Wird nur der Autorenname genannt, handelt es sich meist um den Nachweis eines Zitats. Im Falle kontroverser Positionen steht „a.A. " für „anderer Ansicht". Die Zitierweise beschränkt sich ansonsten im Text auf den Autorennamen und das Erscheinungsjahr der betreifenden Veröffentlichung - ggf. ergänzt um einen Hinweis auf die Fundstelle (Seitenzahl); im Literaturverzeichnis findet sich dann der jeweils vollständige Titel. Bei der ausgewerteten Literatur sei zwischen politikwissenschaftlichen, staats- und verfassungsrechtlichen sowie schließlich finanzwissenschaftlichen Beiträgen unterschieden: •









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Mit Blick auf die politikwissenschaftliche Literatur sind unter den Gesamtdarstellungen zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland hervorzuheben K. von Beyme (1999»), O. W. Gabriel/E. Holtmann (1999), A. Grosser (1985), E. Jesse (1997 s ), F. Pilz/ H. Ortwein (2000 3 ), W. Rudzio (2000 5 ), K. Sontheimerl W. Bleek (2000 10 ) und D. Thränhardt (1984 2 ). Aspekte einer Regierungslehre und einer sich eher politikwissenschaftlich verstehenden Staatswissenschaft finden sich bei H. Adam (1995), K. von Beyme (1997), Th. Ellwein (1966 und 1976), Th. EllweinU. J. Hesse (1990), Th. EllweinlE. Holtmann (1999), H.-H. HartwichlG. Wewer (1990ff.), W. Hennis/P. Graf Kielmannsegg/U. Matz (1977/1979), R. Löwenthal/H. P. Schwarz (1974), K. Niclauß (1988), M. G. Schmidt (1988, 1992 und 2001) und W. Süß (2002). Ansätze zu einer vergleichenden Staats- und Regierungslehre sind D. Berg-Schlosserl F. Müller-Rommel (1997 3 ), K. von Beyme (1973 2 , 1988 und 1999), J. Blondel (1995 2 ), J. Blondel/F. Müller-Rommel (1997), G. Brunner (1979), K. W. Deutsch (1976), G. Doeker (1971), E. Fraenkel (1991), O. W. GabriellF. Brettschneider (1994 2 ), J. Hartmann (1995), J. J. HesselA. Benz (1990), W. Ismayr (20033), F. Lehner/U. Widmaier (2002 4 ), F. Nascholdl J. Bogumil (2000 2 ), Th. Stammen (1972 2 und 1976) und W. Steffani (1979 und 1997) zu entnehmen. Unter den Einführungen in die Politikwissenschaft sei vor allem verwiesen auf U. von Alemann (1995 2 ), J. Bellers/R. Kipke (19993), D. Berg-SchlosserlTh. Stammen (2003 7 ), K. von Beyme/E.-O. Czempiel/P. Graf Kielmansegg (1990), C. Bohret/W. JanniE. Kronenwett (1988 3 ), A. Görlitz (19782), H. H. Hartwich (1985), W. Hennis (2000), J. J. Hesse (1982), H. Maier (1985 2 ), A. Mohr (1997 2 ), M. MolslH.-J. Lauth/C. Wagner (2001 3 ), H. Naßmacher (20024), W. J. Patzelt (1997 3 ) und K. Schlichte (1999). Handbücher, Lexika und Bibliographien sind demgegenüber nur begrenzt verfügbar. Hinzuweisen ist hier neben der Hamburger Bibliographie auf U. Andersen! W. Woyke (2000 4 ), D. Berg-Schlosser/S. Quentner (1999), B. Blanke/S. von Bandemer/F. Nullmeier/ G. Wewer (20012), A. Görlitz/R Prätorius (1987), E. Holtmann (20002), W. Mickel ( 19862), D. Nehlen (1992ff.), M. G. Schmidt (1995), W. Weidenfeld/K.-R. Körte (1996) sowie auf das Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft (1989 7 ), und das Evangelische Staatslexikon, hrsg. von R. Herzog u . a . (1987 3 ). Methodenfragen schließlich finden sich bei U. von Alemann/E. Forndran (1995 5 ) angesprochen.

Einführung •

Mit Blick auf die staatsrechtliche Literatur seien unter den Grundgesetz-Kommentaren vor allem der Bonner Kommentar (Loseblattslg.), H. Dreier (1996-2000), H. von Mangold/H. Klein u.a. (1999 4 /2000 4 /2001 4 ), Th. Maunz/G. Dürig u.a. (Loseblattslg.), /. von Münch/Ph. Kunig (200072001 4 /2002 4 ) sowie M. Sachs (1996) benannt. • Unter den Handbüchern ragen die von E. Bendai W. MaihoferlH.-J. Vogel (1994 2 ) sowie von J. IsenseelP. Kirchhof ( 1987 ff.) herausgegebenen hervor. • Unter den Lehrbüchern zum Staats- und Verfassungsrecht sind vor allem zu nennen: P. Badura (1996 2 ), Ch. Degenhart (2002 18 ), K. Doehring (2000 2 ), K. Hesse (199520), J. Ipsen (2002 14 ), G. Manssen (20022), H. Maurer (20012), B. PierothlB. Schlink (2002 l8 ), I. Richterl G. F. SchuppertICh. Bumke (20014), E. SchuncklH.de ClerklH. Guthardt-Schulz (1995 l5 ), E. Stein (200218) und K. Stern ( 19842/1980/1988/1994/2000). • Mit Blick auf die wirtschaftlichen Staatswissenschaften sei auf die finanzwissenschaftliche Literatur verwiesen. Neben dem Handbuch der Finanzwissenschaft (hrsg. von F. Neumark; 1977 ff.) sind folgende Einführungen oder Lehrbücher zu nennen: N. Andel 8 (1998 4 ), C. Blankart (2001 4 ), D. Brümmerhoff(2m ), G. Kirsch (1997 4 ), R. A. Musgravel 6 5 4 P. B. MusgravelL. Kullmer ( 1994 /l 993 /1992 ), P. B. Musgrave (2002), E. Nowotny (1999 4 ), R. Pfeffekoven (1996 3 ), H.-G. Petersen (1993 3 ), B. RüruplH. Körner (1985 2 ), J. E. Stiglitz/B. Schönfelder (1996 2 ) und K. Zimmermann/K-D. Henke (2001s).

Materialien aus der politischen und administrativen Praxis werden im Text immer dann ausgewiesen, wenn sie den Argumentationsgang empirisch anreichern oder aber auf offiziell vertretene Positionen verweisen. Generell zugängliche Materialien, etwa einzelner Bundesministerien oder auch Unterlagen von Landesregierungen und kommunalen Spitzenverbänden, wurden nur dann in das Literaturverzeichnis aufgenommen, wenn sie von erweitertem Interesse für den Themenbereich sind. Zur disziplinären Ausrichtung des „Regierungssystems" sei abschließend hinzugefügt, dass sich ein monodisziplinärer Ansatz verbietet, wenn man den Anspruch ernst nimmt, strukturellen, prozessualen und inhaltlichen Ausprägungen des öffentlichen Handelns gerecht werden zu wollen. Wiewohl der Politikwissenschaft zugeordnet, wurde das „Regierungssystem" seit seiner ersten Auflage deshalb auch aus einer eher staatswissenschaftlichen Perspektive betrachtet. Dies ermöglichte den Nachvollzug der komplexen Grundlagen und der differenzierten Empirie öffentlichen Handelns, erschwerte die Darstellung aber insofern, als rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu berücksichtigen waren. Gleichwohl wird der Anspruch auch für diese neunte Auflage beibehalten, zumal die Darstellung eines Regierungssystems ohne den Ausweis seiner Rechtsgrundlagen unvollständig, eine Analyse seiner Handlungsfähigkeit ohne den Einbezug ökonomischer Erwägungen realitätsfern und der Ausweis von Politikergebnissen ohne den Hinweis auf deren auch gesellschaftlich/soziale Inzidenz unangemessen wäre. Nicht von ungefähr kam es in den vergangenen Jahren deshalb zu einer „Renaissance der Staatsdiskussion" und zu einer Wiederbelebung staatswissenschaftlicher Untersuchungsansätze, nicht zuletzt dokumentiert in unserer Zeitschrift Staatswissenschaften und Staatspraxis (seit 1990), dem Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft (seit 1991) und, seit 1996, dem European Yearbook of Comparative Government and Public Administration; die 2003 erstmals erscheinende Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften (ZSE) sucht diesen Weg konsequent fortzusetzen und ergänzt den staatswissenschaftlichen um einen explizit europawissenschaftlichen Zugang. Die mit diesen Veröffentlichungen dokumentierte Interdisziplinarität und „Entgrenzung" folgt der Empirie des Regierungssystems und seiner Wirkungsweise, relativiert

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Einführung disziplinäre Einseitigkeiten und erlaubt es, jene auch analytischen Innovationen auszulösen, von denen die heutige Wissenschaftsentwicklung lebt. Die Arbeiten an dieser neunten Auflage des „Regierungssystems" wurden im Juli 2003 abgeschlossen; neuere Ereignisse und bis zu diesem Zeitpunkt erschienene Literatur wurden soweit als möglich berücksichtigt.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes fand am 3. Oktober 1990 die erste erfolgreiche und zugleich friedvolle „Revolution" in Deutschland ihren auch formalen Abschluss. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten beendete eine vierzigjährige Geschichte der Trennung und löste damit die Präambel des Grundgesetzes ein, nach der das deutsche Volk aufgefordert war, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Nachdem der Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 und der Einigungsvertrag vom 31. August desselben Jahres die Grundordnung der Bundesrepublik auch für das Gebiet der D D R einführten und der sogenannte Zweiplus-Vier-Vertrag (vom 12. September 1990) die Vereinigung außen- und sicherheitspolitisch absicherte, wurde mit dem Beitritt die „äußere" Vereinigung vollzogen. Die „innere" Vereinigung steht demgegenüber vor noch erheblichen Schwierigkeiten. Sie erklären sich aus der langen Zeit der Trennung und den politischen, ökonomischen, sozialen und durchaus auch kulturellen Eigenständigkeiten, die dieser Zeitraum mit sich gebracht hat. Ein Blick auf die Geschichte der beiden deutschen Staaten soll dies verdeutlichen.

1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1.1. Gründungsbedingungen Als im Frühjahr 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet wurde und daraufhin im Herbst desselben Jahres (mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts) die obersten Organe des Bundes ihre Aufgaben übernahmen, handelte es sich - in der Rückschau - nur um einen Schritt innerhalb einer bereits länger andauernden Entwicklung. Zwar waren gewichtige Einzelentscheidungen in mehr oder weniger großer Souveränität der Handelnden möglich; die grundlegenden Entscheidungen waren aber bereits getroffen. Der Prozess der Gründung der Bundesrepublik setzt unmittelbar nach 1945 ein; für die späteren konstitutiven Akte waren Bedingungen maßgeblich, die längst vorher bestanden. Bei allem fundamentalen Charakter des Zusammenbruchs und der bedingungslosen Kapitulation von 1945 gab es in diesem Jahr keine „Stunde Null" (vgl. Materialband, 1/1-4). Die deutsche Geschichte hatte, gerade auch aufgrund ihrer zerstörerischen Kräfte, tiefe Spuren hinterlassen. Diejenigen deutschen Politiker, die in Zusammenarbeit und in Auseinandersetzung mit den Alliierten für den Wiederbeginn einer geordneten öffentlichen Verwaltung, für die Wahrnehmung der dringendsten öffentlichen Aufgaben und schließlich für die Tätigkeit demokratischer Organe in Gemeinden und Staat sorgten und zuerst Verantwortung übernahmen, waren selbst von der deutschen Geschichte und den sich mit ihr verbindenden Traditionen geprägt. Ihre unmittelbaren Erfahrungen mussten eine entscheidende Rolle spielen. Das kam etwa dem Föderalismus, dem Berufsbeamtentum, dem Sozialstaatsprinzip oder dem Bekenntnis zum Rechtsstaat zugute und hatte erhebliche Auswirkungen auf die kommunale Selbstverwaltung, auf den Wiederaufbau der Justiz oder auch auf die Art und Weise, wie man sich gegenüber dem Befund öffentlicher Aufgaben verhielt. Vieles davon stellt sich heute als bloße Reaktion dar, als Handeln unter dem unmittelbaren Zwang,

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen handeln zu müssen - und deshalb gar nicht anders zu können, als an die eigene Überlieferung anzuknüpfen. Wenngleich in vieler Hinsicht gebrochen oder auch direkt und wohlüberlegt korrigiert, die Gründung der Bundesrepublik steht innerhalb der deutschen sozialen und politischen Tradition. Auch für die Besatzungsmächte wirkte diese Tradition als Realität. Zwar versuchten alle vier Mächte, ihre eigenen Vorstellungen in die sich neu abzeichnende politische Landschaft einzubringen, doch stellten sie dabei Bezüge zu dem her, was sie vorfanden. Die Franzosen und die Amerikaner übernahmen - aus unterschiedlichen Motiven - die föderalstaatliche Tradition. Die Engländer betonten demgegenüber stärker die Selbstverwaltung und zögerten hinsichtlich des Länderaufbaus. Die Franzosen bemühten sich um eine gewisse Isolierung ihrer Besatzungszone und um eine stärkere Annäherung an das eigene Land. Die Amerikaner betonten Demokratisierung und Entnazifizierung als entscheidende Kategorien, während die Engländer sich unbefangener zu ihren wirtschaftlichen Interessen bekannten. Die Russen schließlich bildeten keine Besonderheit darin, dass für sie die Zuordnung der eigenen Zone zum sowjetischen Machtbereich ein ganz eindeutiges Ziel darstellte. Das Übermaß an Reparationen und wirtschaftlicher Ausbeutung verwies jedoch weder auf eine feste Überzeugung, dieses Ziel auch durchsetzen zu können, noch auf die Vorstellung, man müsse, wen man gewinnen wolle, auch pfleglich behandeln. Jedenfalls erfolgte die Abkehr von der deutschen Tradition in der sowjetischen Besatzungszone früher, um dann zu einem völlig neuen Staat auf deutschem Territorium zu führen. Unter Duldung oder direkter Einwirkung der Besatzungsmächte kam es bald zu politisch konstitutiven Akten. Die Lizenzierung von Parteien zählte ebenso hierzu wie die Einrichtung öffentlicher Rundfunkanstalten oder der zögerliche Aufbau eines neuen deutschen Pressewesens. Daneben zeigten sich alle Besatzungsmächte daran interessiert, die deutsche Verwaltung funktionsfähig zu machen und ihr die wichtigsten, von der Not diktierten kommunalen und staatlichen Aufgaben zu übertragen - die Versorgung mit Lebensmitteln, die Lösung der dringendsten Wohnbedürfnisse, die Unterbringung der Vertriebenen und Flüchtlinge, die Inangriffnahme der Produktion und die intensive Nutzung wie möglichst gleichmäßige Verteilung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Die allmähliche Wiederinbetriebnahme öffentlicher Einrichtungen, wie der Schulen und Hochschulen, folgte.' Dieser Entwicklung entsprechend fand der Parlamentarische Rat als verfassunggebendes Organ bereits eine Reihe von Einrichtungen vor: Länder mit einem inzwischen entwickelten Eigenleben, eine Verwaltung vor einem beträchtlichen Aufgabenbestand, Parteiorganisationen, welche die Grenzen der Besatzungszonen zu überschreiten suchten. All das entstand im Rahmen einer deutschen Staatstradition, die es als selbstverständlich erscheinen ließ, dass Beseitigung der unmittelbaren Not und allmählicher Wiederaufbau weithin Sache der Politik seien, und zwar einer Politik, die sich nicht auf die begrenzte Wirtschaftskraft der ein-

1 Über die Vorgeschichte der alliierten Deutschlandpolitik nach der Kapitulation liegt eine große Zahl von Darstellungen, Einzeluntersuchungen und Dokumentensammlungen vor. Ergänzend zu den in der Einführung genannten Hinweisen sind zu nennen: W. Cornides, 1957, E. Deuerlein, 1965, T. Vogelsang, 1966, W. Benz, 1999, vor allem aber H. P. Schwarz, 19802, Institut für Zeitgeschichte, 1976, T. Eschenburg, 1983 und H. Grami, 1985. Einzelne wichtige Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland werden von H. A. Winkler, 1979, und D. ThränhardtlW. D. Narr, 1984, behandelt. Ein gut dokumentierter Leitfaden liegt von M. Overesch, 1979, vor. Eine marxistische Kritik an der Nachkriegsentwicklung findet sich bei U. Albrecht u.a., 1979. Unter den neueren Veröffentlichungen sind hervorzuheben D. Kreikamp, 1994, D. Thränhardt, 1997, R. Steininger, 1996, P. Graf Kielmansegg, 2000, R. Morsey, 2000" sowie H. A. Winkler, 20012.

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1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zelnen vorläufigen Länder stützen konnte. Diese Einsicht hatte schon früher zu länder- und dann zonenübergreifenden Einrichtungen geführt. Sie bestimmte zweifelsfrei die Anweisung der drei westlichen Besatzungsmächte an die Ministerpräsidenten, den Prozess der Verfassunggebung einzuleiten. An ihr scheiterte wohl auch das Bemühen des Herrenchiemseer Verfassungskonvents um einen konsequenten Föderalismus, zudem führte sie später zur Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern im Grundgesetz. Sind die Gründungsbedingungen somit zum einen durch spezifisch deutsche Traditionen, erste Entscheidungen unmittelbar nach 1945, alliierte Festlegungen und Einflüsse sowie durch den enormen Aufgabenbestand geprägt, müssen auf der anderen Seite die internationalen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Die unterschiedlichen weltpolitischen Interessen der Sowjetunion und der Westalliierten führten dazu, dass beide Seiten letztlich dem jeweils besetzten Teil Deutschlands eine eigene staatliche Entwicklung und zunehmende Souveränität im völkerrechtlichen Sinne zubilligten. Unter diesem Aspekt stellt sich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland auch als ein Akt der Weltpolitik dar. Der Widerspruch war ihr damit in die Wiege gelegt. Ihre Gründung erfolgte zwar unter dem Vorbehalt einer späteren Wiedervereinigung, zugleich aber bedeutete sie den vorläufigen Verzicht auf eine gesamtdeutsche Lösung. Dabei geht es in diesem Zusammenhang nicht um die historische „Schuldfrage", nicht darum also, wer mit der Separation seiner Besatzungszone(n) den Anfang machte, sondern lediglich um die Feststellung: Wie stark man deutscherseits auch immer den provisorischen Charakter des Grundgesetzes betonen mochte, es änderte dies nichts daran, dass das isolierte Entstehen der Bundesrepublik auch das Entstehen der D D R begünstigte, dass beide deutsche Teilstaaten zugleich Glieder des westlichen oder des östlichen Bündnissystems wurden, und dass damit die Wiedervereinigung mit Ansprüchen verbunden war, auf die sich keine der beiden Seiten einlassen konnte. Der damit aufgezeigte Prozess bestimmte auch die weitere internationale Entwicklung: 1949 entstand mit der Bundesrepublik ein nichtsouveräner Staat, angelegt auf Zusammenarbeit mit den Westmächten. Für ihn war eine politische und rechtliche Eigenexistenz nur zu erreichen, indem man fortsetzte, was mit der Entstehung der Bundesrepublik schon begonnen war: die Westintegration. In diesem Sinne kam es in der Ära Adenauer zu einer konsequenten Politik. Sie bewirkte die Versöhnung mit dem Westen und den Anschluss an dessen Bündnissysteme, im Verbund damit eine wirtschaftliche Stabilisierung und den Gewinn der nominellen Souveränität sowie schließlich die Komplettierung der staatlichen Eigenexistenz unter Einschluss der Außenpolitik, der gleichberechtigten Teilhabe am westlichen Bündnis und zuletzt der Wiederaufrüstung als unvermeidlicher und von vielen auch erwünschter Konsequenz (vgl. Materialband, 1/5-6). Die Sowjetunion und die DDR zogen in ihrem Machtbereich schrittweise nach. Der Westintegration der Bundesrepublik entsprach somit die Ostintegration der D D R . Das im Grundgesetz erhobene Postulat der Wiedervereinigung galt deshalb vielen als nahezu unerfüllbar; die Politik des Souveränitätsgewinns für die Bundesrepublik, ihrerseits Legitimation einer Politik des Souveränitätsgewinns für die D D R , bewirkte jedenfalls, dass man sich von der Realisierung des Postulats immer weiter entfernte. Unter dem Schutz des Eisernen Vorhangs wie unter dem des auch im Westen stabilisierten Status quo etablierte sich in der D D R ein staatsmonopolistischer Sozialismus, der mit starker Verzögerung gegenüber der Entwicklung in der Bundesrepublik Bevölkerung und Wirtschaft aus der unmittelbaren Notsituation herausführte. Die Eindeutigkeit der Politik der Westintegration hat dabei zweifelsohne zur Konsolidierung der D D R beigetragen. Die - wenn auch wirtschaftlich höchst ungleiche - Stabilisierung beider deutscher Teilstaaten bedeutete überdies eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung des europäischen Gleichgewichts.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen

1.2. Demokratischer und sozialer Rechtsstaat: die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990 Vor dem Hintergrund der genannten Gründungsbedingungen lassen sich für die beiden deutschen Teilstaaten eine Reihe von Entwicklungsstadien identifizieren. Die erste Phase in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland umfasst im Wesentlichen die fünfziger Jahre. Es ist jener Zeitraum, der auf das engste mit der Gestalt des ersten Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, verknüpft ist.2 Die Entwicklung war bestimmt durch die im Grundgesetz ermöglichte Option für die freie oder soziale Marktwirtschaft. In ihrem Rahmen wurde eine Politik des staatsangeleiteten Wiederaufbaus betrieben. Man kann dabei in Teilbereichen durchaus von restaurativen Tendenzen sprechen, weil die Beseitigung der unmittelbar drängenden Not, die Vertriebenen- und Flüchtlingseingliederung sowie die Gewährleistung und Stimulierung der Wirtschaftstätigkeit weithin an Maßstäben der Vergangenheit orientiert waren. Der Begriff Wiederaufbau, etwa anstelle von Neubeginn, kennzeichnet das verbreitete Bewusstsein, dass es damals nicht darum ging, sich auf eine neue Lage einzustellen und die Umwälzung politisch zu nutzen, um Neues zu schaffen. Man wollte vielmehr Zerstörung beseitigen, den früheren Lebensstandard zurückgewinnen, das alte System der sozialen Sicherung wieder in Kraft setzen oder es verbessern, und man unterstellte dabei, dass dies im Rahmen einer freien Wirtschaft schneller vor sich ginge als im Rahmen eines planwirtschaftlich ausgerichteten Systems. Dessen Identifizierung mit Kommunismus und Sozialismus, das unmittelbare Erleben brutaler kommunistischer Herrschaft in Deutschland selbst und die zunächst wenig überschaubaren wirtschaftlichen Leistungen der D D R erleichterten eine nahezu weltanschauliche Fundierung der sozialen Marktwirtschaft als der vom Grundgesetz geforderten Wirtschaftsweise. Auf diesem Wege konnten auch die nationalsozialistischen Vorbehalte gegenüber dem Kapitalismus, die nach 1945 noch durchaus verbreitet waren, abgebaut werden. Der Glaube an die Richtigkeit des eigenen Wirtschaftsmodells bürgerte sich weit über die sie ursprünglich tragenden Schichten hinaus ein. Und dies nicht zu Unrecht: Die erste Phase der Nachkriegsentwicklung erweist sich im Nachhinein als eine Phase großer wirtschaftlicher Erfolge und damit der Gewöhnung an die politische Maxime, dass erst auf der Basis wirtschaftlicher Prozesse politische Gestaltung wirksam sein könne. Zu den wesentlichen politischen Strukturprinzipien, die sich nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik herausbildeten, zählen die vertikale Gewaltenteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden in den Bereichen von Gesetzgebung, Kontrolle und Verwaltung, der „kooperative Föderalismus", in dem die drei Ebenen in je spezifischer Weise ihr Aufgaben erfüllen und zusammenwirken, sowie politisch und funktional unabhängige Einrichtungen wie das Bundesverfassungsgericht und die Bundesbank. Zudem formierte sich - im Unterschied zur Weimarer Republik - ein moderat pluralistisches System intermediärer Einrichtungen heraus: ein organisatorisch konzentriertes, gemäßigt polarisiertes Parteiensystem aus christdemokratischen, sozialdemokratischen und liberalen Gruppierungen, eine in etwa symmetrische Verbändestruktur von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (DGB als Einheitsgewerkschaft einerseits und Industrie- und Unternehmensverbänden andererseits) sowie zahlreichen anderen Zusammenschlüssen im ökono-

2 Unter den zahlreichen Darstellungen der Ära Adenauer sei vor allem verwiesen auf A. Baring, 1969, H.-P. Schwarz, 1981, 1983 und 1991, H. Köhler, 1997, A. Doering-Manteuffel, 2001 sowie W. v. Steinberg, 2001.

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1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mischen, sozialen und kulturellen Bereich. Sie schufen ein Geflecht legitimer partikularer Interessenverfolgung und gesellschaftlichen Interessenausgleichs, ein System von checks and balances, in dem sich die westdeutsche Bevölkerung überraschend schnell einrichtete. Die wirtschaftlichen Erfolge, die sich Anfang der fünfziger Jahre einstellten und für mehr als ein Jahrzehnt anhielten, bestätigten und legitimierten die soziale Marktwirtschaft. Der schnell einsetzende Wirtschaftsaufschwung ermöglichte darüber hinaus die Lösung aktueller sozialer Probleme·. So wurde bereits 1950 das Gesetz über den sozialen Wohnungsbau verabschiedet, das in den Folgejahren mit dem Bau von rd. drei Mio. Wohnungen zur Linderung der größten Wohnungsnot beitrug. 1951 folgte das Gesetz über die paritätische Mitbestimmung im Montanbereich sowie fast zeitgleich das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Mit dem Lastenausgleich (August 1952) wurden Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten materiell entschädigt; hinzu trat die mit dem Bundesvertriebenengesetz von 1953 ermöglichte wirtschaftliche und soziale Eingliederung von Vertriebenen und Flüchtlingen. 1957 schließlich wurde mit der „großen Rentenreform" die Dynamisierung der Renten, d. h. ihre Anpassung an die Einkommensentwicklung verwirklicht. Weitere sozialpolitische Maßnahmen, die die Systembindung der Bevölkerung wesentlich stärkten (und für Wahlentscheidungen ausschlaggebend wurden), bildeten die Erhöhung des Kindergeldes, die Verbesserung der Sozialhilferegelungen, die Einführung eines Stipendienwesens sowie die Streuung staatlichen Produktivvermögens durch die Ausgabe von Volksaktien. Die Entwicklung, die zeitgleich in der DDR ablief, erschien wie ein Gegenbild. Die bis 1961 nicht abreißende Flucht von ca. drei Mio. DDR-Bürgern in die Bundesrepublik wirkte zudem wie eine Bestätigung, nicht nur auf der „besseren", sondern auch auf der „richtigen" Seite zu stehen. Der „Antikommunismus als Integrationsideologie" (Thränhardt, 19974) bildete für mehr als zwei Jahrzehnte ein überaus erfolgreiches Muster, die frühzeitige Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem selbst um den Preis der anhaltenden deutschen Teilung zu akzeptieren. Es erleichterte es ihr zudem, die Selbstbefragung nach der Beteiligung am Aufkommen des Nationalsozialismus und seinen Folgen nicht allzu tief gehen zu lassen. Die restaurativen Tendenzen, die für die Bundesrepublik der fünfziger Jahre diagnostiziert wurden, bezogen sich nicht allein auf den Rückgriff auf Instrumentarien und Organisationsformen der Vergangenheit, sie spiegelten sich ebenso wider in der Besetzung der Ministerien und Behörden, deren Beamte in großer Zahl der NSDAP angehörten und von denen viele vor allem als Juristen im Nationalsozialismus eine aktive Rolle gespielt hatten (vgl. N. Frei, 1996; U. Herbert, 2002). Die zweite Phase der Entwicklung der Bundesrepublik kann etwa auf den Zeitraum von 1960 bis 1968 datiert werden. Die bis dahin erreichte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit brachte den Wiederaufbau zu einem gewissen Abschluss. Breite Kreise der Bevölkerung sahen sich jetzt in der Lage, über die unmittelbare Lebenssicherung hinaus Konsumgewohnheiten zu entwickeln, die als Synonym für das „ Wirtschaftswunder" stehen: Dies gilt vor allem für den Eigenheimbau, die schnelle individuelle Motorisierung und Urlaubsreisen in das europäische Ausland. Insgesamt kann von einer Normalisierung insofern gesprochen werden, als an die Stelle einer Orientierung an den drängendsten Bedürfnissen, die sich aus der Not und der Zerstörung der unmittelbaren Nachkriegszeit ergab, jetzt der Vergleich mit anderen westlichen Industriestaaten trat. Dabei ließ nach 1960 der Stolz auf das Erreichte nach, verschoben sich die Bedürfnisse und erlangten punktuelle wie prinzipielle Kritik am Gemeinwesen stärkeres Gewicht. Sie richtete sich auf den demokratischen Gehalt der Gesellschaft, wandte sich gegen einen zu weit gehenden individualistischen Ökonomismus und forderte Mitbestimmungsrechte; schließlich artikulierte sich das Unbehagen in Jugend-

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen und Studentenunruhen. Da sich die eingesetzten Stabilisierungsmaßnahmen, wie der Erlass der Notstandsverfassung oder erkennbare opportunistische Anpassungsprozesse, als ungeeignete Gegenmittel erwiesen, verstärkte sich die Kritik. Als die Rezession von 1966 auch die erweiterte Stabilität zu gefährden drohte, war der Weg zu einem politischen Umbruch, der Bildung der Großen Koalition, frei. Allerdings wurden die Grenzen des Konsenses zwischen den beiden großen Parteien schnell deutlich. Man führte gemeinsam einige wichtige Entscheidungen herbei, ohne zu einer wirklichen politischen Annäherung zu gelangen. Der Wahlkampf 1969 wurde dann nach dem inzwischen üblichen Muster durchgeführt und mündete in die sozialliberale Koalition (vgl. T. Ellwein, 1989, die spezifischen Literaturangaben bei R. LöwenthallΉ.-Ρ. Schwarz, 1974, und H. K. Rupp, 19823, sowie die Darstellung von A. Baring, 19822). Obgleich sich in dieser Phase die innere Entwicklung der Bundesrepublik weniger geradlinig vollzog als in der Wiederaufbauphase, erwies sich bis zu diesem Zeitpunkt das politische System der Bundesrepublik als erstaunlich stabil. Das Grundgesetz ermöglichte eine ausreichende Flexibilität, um das Land von seinem provisorischen Zustand in die volle Staatlichkeit zu überführen. Die politischen Institutionen festigten sich. Der traditionelle Antiparteienaffekt schien sich abzubauen, extreme Parteien blieben ohne Chance. Der wirtschaftliche Aufschwung wurde durch das seit 1948 geschaffene wirtschaftspolitische Instrumentarium offenkundig gut unterstützt, und dieses Instrumentarium bewährte sich auch noch in der ersten Rezessionsphase. Sozialpolitisch hatte man schon in den fünfziger Jahren soweit an die deutsche Tradition angeknüpft, dass der soziale Friede meist gewahrt werden konnte, sich zwischen den Tarifpartnern ein modus vivendi herausbildete und Randgruppen ohne größere Bedeutung blieben. Wer die Zeit des Zusammenbruchs miterlebt hatte, musste den erreichten materiellen Fortschritt anerkennen. Staat und Politik erbrachten Leistungen, die zu ihrer grundsätzlichen Legitimation beitrugen. An kritischen Stimmen fehlte es nicht, prinzipielle Systemkritik hatte aber wenig Chancen. In der politischen Diskussion offenbarten sich zwar Widersprüche und Defizite, die jedoch mit den vorhandenen politisch-administrativen Mechanismen aufgefangen werden konnten. Während der Zeit der Studentenunruhen, vor allem also 1967 und 1968, traten diese Probleme dann allerdings besonders hervor; zunächst jedoch führte der Prozess nur zu einer normalen demokratischen Entwicklung, der Ablösung der über zwei Jahrzehnte hindurch von der CDU/CSU geführten Bundesregierung. Die enge Westbindung in der Außenpolitik konnte nicht verhindern, dass es mit Blick auf die Haltung gegenüber der Sowjetunion und der D D R zu unterschiedlichen Auffassungen kam. So begannen die USA, den bis dahin plakativen Antikommunismus zugunsten der Anerkennung gemeinsamer Interessen zu lockern. Ihre Reaktion auf den Bau der Berliner Mauer im August 1961 war Ausdruck dafür, eine Konfrontation vermeiden zu wollen und die Interessensphäre der durch die Entwicklung eigener Atomwaffen zur zweiten Weltmacht aufgestiegenen Sowjetunion anzuerkennen. Die bundesdeutsche „Politik der Stärke", auf eine Wiedervereinigung Deutschlands nach westdeutschen Vorstellungen zielend, hatte sich offenbar überlebt. Die dritte, bis etwa 1982 andauernde Phase war zunächst geprägt durch die Aufbruchstimmung zu Beginn der sozialliberalen Koalition, durch erste Ansätze einer Erweiterung des außenpolitischen Handlungsfeldes in Richtung einer eigenen Ostpolitik, durch die Ankündigung und den Versuch zur Umsetzung innerer Reformen sowie durch die erste Entfaltung des Friedensthemas im Jahre 1972 (vgl. zusammenfassend K. D. Bracher u.a., 1994ff., W. Jäger! W. Link, 1994, T. Ellwein, 19932, P. Merseburger, 2002). Im Rahmen umfangreicher Reformpolitiken kam es zu Liberalisierungen im Strafrecht, einer Neufassung des Betriebs-

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1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsgesetzes und zu zahlreichen bildungspolitischen Maßnahmen. 1973 verabschiedete die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung den Bildungsgesamtplan. An ihm wurde der Anspruch deutlich, Chancengleichheit herstellen, die allgemeine und berufliche Bildung als gleichwertig ansehen und das Bildungsangebot insgesamt ausweiten zu wollen. Die Ausdehnung der Schulpflicht auf zehn Jahre, die Einführung der Orientierungsstufe und nicht zuletzt die Reform der Oberstufe bildeten hier Schwerpunkte. Schließlich führte die „neue Ostpolitik" zu einem raschen Abschluss der Verträge von Moskau, Warschau und mit Ost-Berlin. Sie leitete Jahre einer „Realpolitik" ein und förderte eine Normalisierung der Beziehungen. Das für die Bevölkerung in West- und Ostdeutschland spürbarste Ergebnis stellte der 1972 zwischen der Bundesrepublik und der D D R geschlossene Grundlagenvertrag dar (vgl. Materialband, 1/7-8, 13, 15). Dem Stadium der inneren Reformen aus den Anfangsjahren der Koalition folgte dann allerdings eine Phase der Enttäuschung und Ernüchterung. Die vom sogenannten „Ölpreisschock" 1973 ausgelöste und sich weltweit auswirkende Wirtschaftskrise Heß nicht nur das Wachstum stagnieren und die Zahl der Arbeitslosen in die Höhe schnellen, sie entzog den Reformvorhaben auch die finanzielle Basis. Zwar vermochte der Wechsel in der Kanzlerschaft von Willy Brandt zu Helmut Schmidt durch eine Ausweitung des ökonomischen Sachverstandes und die Fähigkeit zum „Krisenmanagement" die wirtschaftliche Lage wieder zu stabilisieren, ohne jedoch die Wachstumsraten früherer Jahre zu erreichen. Während die klassische Konjunkturpolitik in den 1970er Jahren aufgrund der sich verschlechternden ökonomischen Rahmenbedingungen nicht mehr griff, gewannen neue Formen einer Strukturpolitik an Bedeutung. Hier sah sich der Staat vor allem in den Bereichen der Raumordnung, der Wirtschafts- und Forschungsförderung, aber auch der Energiepolitik gefordert. So wurde bereits 1971 der Erste Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" verabschiedet, der nahezu zwei Drittel der Fläche der Bundesrepublik als Fördergebiet einstufte, kam es im Zusammenhang mit der Ölpreiskrise zu einem Energiesicherungsgesetz und folgte kurz darauf das Rahmenprogramm Energieforschung, dem wiederum 1976 ein Energieeinsparungsgesetz hinzugefügt wurde. Ab 1975 schließlich wurde ein Raumordnungsprogramm wirksam. Trotz dieser Ausweitung des staatlichen Steuerungsinstrumentariums wurde ein allmählicher Autoritätsverlust des politischen Systems erkennbar. Der gesellschaftliche Konsens aus den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik löste sich auf, ein tiefgreifender Wertewandel wurde deutlich. „Neue soziale Bewegungen" zielten auf den Schutz der Umwelt, den Erhalt des Friedens und eine Gleichstellung der Geschlechter. Sie mobilisierten über die engere Anhängerschaft hinaus weitere Kreise der Bevölkerung zu Protestdemonstrationen und richteten sich vor allem gegen den Bau von Atomkraftwerken und militärpolitische Entscheidungen im Rahmen der Nachrüstung. Anknüpfend an den emanzipatorischen Anspruch der Studentenrevolte Ende der 1960er Jahre suchten die neuen Bewegungen ihre eigene Position zwischen den tradierten Parteien, Verbänden und sonstigen Organisationen (vgl. K.-W. Brand/D. Büsser/D. Rucht, 1986, J. Raschke, 1988, R. Roth, 1994, D. Ruchtl B. Blattert/D. Rink, 1997). Während dabei Ansätze zu einer „Basisdemokratie" auf alternative „herrschaftsfreie" Lebensformen zielten, leugneten fanatisierte Gruppierungen die Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Veränderung. Um den verhassten Staat zu destabilisieren, griffen sie schließlich zum Mittel des Terrors. Er eskalierte von der anfänglichen „Gewalt gegen Sachen" bis hin zu Mordanschlägen auf Vertreter des Staates, der Wirtschaft und der alliierten Schutzmächte. Die schwächer werdende Bindungskraft politischer Institutionen trat schließlich auch am Beispiel der Parteien zutage, die zu Beginn der 1970er Jahre, in einer Phase starker Politi17

I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen sierung, noch einmal einen beträchtlichen Zulauf verzeichneten, dann aber Mitgliederstagnation oder gar -Schwund hinnehmen mussten, zudem viele politisch Engagierte sich in Bewegungen außerhalb der Parteien zu organisieren begannen. Die „partizipatorische Revolution" vergrößerte allerdings kaum die Zahl derjenigen, die sich politisch aktiv betätigten; es profitierten weniger die Parteien als vielmehr neue Gruppierungen. Insgesamt geriet die Bundesrepublik zu Beginn der 1980er Jahre nach einem bekannten Wort Hans Heigerts in Gefahr, zu einem „Dinosaurier" zu werden, der zwar noch die Last seiner großen Aufgaben zu tragen vermochte, zu prinzipiellen Erneuerungen aber nicht mehr in der Lage sei.3 Die vierte Phase der Entwicklung der Bundesrepublik kann dann vom Beginn der Àra Kohl bis zur Wiedervereinigung datiert werden (1982 bis 1990). Als sich Anfang der 1980er Jahre die Substanz der sozialliberalen Koalition sichtbar erschöpfte und die wirtschaftliche und soziale Situation der Bundesrepublik beträchtlichen Friktionen ausgesetzt war, erfolgte ein erneuter Wandel, der einmal mehr die Funktionsfähigkeit des politischen Systems der Bundesrepublik dokumentierte. Dabei wurde die SPD-FDP-Koalition durch ein konstruktives Mißtrauensvotum im Deutschen Bundestag abgelöst. Nachträglich durch Neuwahlen überzeugend legitimiert, übernahm Helmut Kohl die Kanzlerschaft und damit die Führung der konservativ-liberalen Koalition. Als Kohl ankündigte, mit seiner neuen Regierung nicht nur die Arbeitslosigkeit beseitigen, das Wirtschaftswachstum stimulieren und vor allem die geistige Führerschaft im Lande übernehmen zu wollen, zielte das auf ein offenkundiges Bedürfnis: Bei allem Primat wirtschaftlicher Interessen sollte deutlich gemacht werden, dass der Staat bereit war, Integrations- und Steuerungsaufgaben sich nicht in punktuellen Politiken erschöpfen zu lassen. Die propagierte „Wende" bezog sich im Wesentlichen auf das gesellschaftliche Binnenklima und die Innenpolitik im engeren Sinn. In der Außen-, der Sicherheits- und der Deutschlandpolitik dominierte Kontinuität. Die Umsetzung vor allem der wirtschaftspolitischen Ziele gelang der neuen Regierung zunächst durchaus überzeugend. Sie profitierte dabei von einem nachhaltigen weltwirtschaftlichen Erholungsprozess. Begleitet von neokonservativer Rhetorik, die vor allem durch Margaret Thatcher und Ronald Reagan in politische Programmatik umgesetzt wurde, kam es zudem zu einer „Aufbruchstimmung", die durchaus derjenigen zu Beginn der sozialliberalen Koalition vergleichbar war. D a der nach 1983 erkennbare Aufschwung auch die Arbeitslosigkeit deutlich abbaute, gelang es der Regierung Kohl, breite Kreise der Bevölkerung für ihre Politik einzunehmen. Ein bald spürbares Anwachsen der Nachfrage führte schließlich zu einer derartigen Ausweitung des Konsums, dass eine langfristig stabile binnenländische Konjunktur gewährleistet war, die selbst weltwirtschaftliche Turbulenzen nicht längerfristig zu gefährden vermochten. Als auch der Zusammenbruch der Börsen am 19. November 1987 ohne nachhaltige Wirkungen für die ökonomische Entwicklung der Bundesrepublik blieb, konnte die Regierung nicht zu Unrecht ihren Wahlerfolg wiederholen, obwohl mit dem unausweichlichen Ansteigen der Neuverschuldung, ersten Eingriffen in das soziale Netz und einem Sockel an Arbeitslosigkeit ökonomische Probleme erkennbar blieben, die der langanhaltende Boom nicht vollständig zu verdecken oder gar zu beseitigen vermochte.

3 Für eine solche Zusammenfassung lassen sich kaum ergänzende Literaturangaben machen. „Stimmungsbilder" und Problemerörterungen finden sich bei H. v. Heutig, 1980, K. Sontheimer, 1979 und 1983, J. Raschke, 1982, W.-D. NarrIC. Offe, 1975, C. FennerlU. Heyder u.a., 1978, S. Ruß-Mohl, 1981 sowie M. u. S. Greiffenhagen, 20022. Im Übrigen sei erneut auf die Literaturhinweise in der Einführung verwiesen.

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1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Auch in institutioneller Hinsicht war die vierte Phase der Entwicklung der Bundesrepublik von einer Umbruchsituation gekennzeichnet. Sie wurde vor allem durch jene Politiken geprägt, die im Gefolge des neokonservativen Staatsverständnisses der 1980er Jahre auf eine gewisse Entstaatlichung, zumindest aber eine Rücknahme des öffentlichen Sektors abstellten. Hierzu gehörten Privatisierungsansätze, eine Deregulierung allzu komplexer öffentlicher Steuerungsformen, Rechts- und Verwaltungsvereinfachung sowie Entbürokratisierungsmaßnahmen. Dabei ist bemerkenswert, dass die Bundesrepublik - etwa im Gegensatz zu Großbritannien oder den USA - von allzu weitgehenden Reformansätzen verschont blieb, sich die entsprechenden Politiken immer auf ein machbares und das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft nicht überforderndes Gleichgewicht konzentrierten. Die bereits angesprochene Neubestimmung der Staatlichkeit gewann gleichwohl konkrete Gestalt, weil jetzt eher solche Politiken bedeutsam wurden, die auf die Wahrnehmung eines öffentlichen Kernbereichs bei gleichzeitiger „Auslagerung" (Privatisierung und Deregulierung) früher zumindest auch öffentlicher Steuerung unterliegender Aufgabenbereiche zielten. Zudem veränderte sich das Verhältnis der Gebietskörperschaften. So gewannen im Zuge vielfältiger Dezentralisierungspolitiken eigenständige Aktivitäten der Länder an Gewicht, suchte man zudem öffentliche Rationalitätsreserven auch auf regionaler und lokaler Ebene aufzuspüren. Der „kooperative Föderalismus" der ersten Jahrzehnte des Bestehens der Bundesrepublik wurde mit Wettbewerbselementen durchsetzt. Zahlreiche Regionalisierungsansätze wurden in diesem Zusammenhang erprobt - vor allem im Bereich der Wirtschaftspolitik, der Umweltpolitik, der Sozialpolitik und der Kulturpolitik. Getragen wurde all dies durch einen öffentlichen Dienst, der sich zunehmender Kritik gegenübersah. Sie speiste sich zum einen aus offensichtlicher werdenden Defiziten der öffentlichen Leistungserbringung, zum anderen aus problematischer werdenden Standesprivilegien, die den Ruf nach einer Entbürokratisierung und einer Reform des öffentlichen Dienstes laut werden ließen. Schließlich verstärkten sich Probleme innerhalb des Parteiensystems. Das Unbehagen entzündete sich hier vor allem an Missbräuchen, die zum einen in personellen Verfehlungen, wie der sogenannten „Barschel-Affäre", zum Ausdruck kamen, sich zum anderen aber auch in Skandalen, vor allem um die Parteienfinanzierung, niederschlugen. Hier rächte sich ein Prozess, der die Parteien in eine allzu große Staatsnähe geführt hatte und ihnen einen nahezu ungehinderten Zugriff auf öffentliche Ressourcen erlaubte. Diätenskandale in Hessen und Hamburg wurden so zum Synonym einer verfehlten Parteienentwicklung; sie förderte die zunehmende Abkehr vor allem junger Erwachsener vom politischen Prozess und eine steigende Wahlabstinenz. Allein die ökonomische Besserstellung im Vergleich zu den meisten der anderen Industriestaaten bewirkte, dass die sich darin dokumentierende Unzufriedenheit nicht in politisch instabile Verhältnisse umschlug. Auch bewährte sich einmal mehr der demokratische Mechanismus einer Abwahl verbrauchter Regierungen - insbesondere auf Länderebene, wo eine den Generationswechsel vernachlässigende CDU-Elite durch Wahlerfolge jüngerer SPD-Kandidaten abgelöst wurde. Außenpolitisch erwies sich die Bundesrepublik in diesem Zeitraum erneut als ein zuverlässiger Partner im Rahmen der westlichen Bündnissysteme, freilich immer unter der Einschränkung, dass eine eigenständige, selbstbewusste Politik selten gesucht wurde, sie sich vielmehr im Rahmen abgestimmter westlicher Initiativen bewegte. Erst der Reformprozess in der UdSSR und die sich damit verbindenden Transformationspolitiken in den Ländern des Warschauer Paktes bewirkten ein Umdenken. Die raschen Reaktionen des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers förderten dabei jenen alle politischen Beobachter überraschenden Prozess, an dessen Ende die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stand.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen 1.3. Das sozialistische Experiment: die Deutsche Demokratische Republik 1949-1990 Als am 7. Oktober 1949 der Volksrat unter Vorsitz von Wilhelm Pieck in Ost-Berlin zusammentrat und die Deutsche Demokratische Republik konstituierte, war der Zusammenbruch des sozialistischen Staates 40 Jahre später in keiner Weise vorgezeichnet. Der Gründung der DDR ging vielmehr eine antifaschistisch-demokratische Periode zwischen 1945 bis 1949 voraus (H. Weber, 1991, S. 18ff., dessen Periodisierung hier im Wesentlichen gefolgt wird), die vor allem dadurch geprägt war, dass in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands die Voraussetzungen für eine neue Gesellschaftsordnung und für ein neues Herrschaftssystem geschaffen wurden. Dabei ist historisch interessant, dass die Sowjetunion als erste Besatzungsmacht die Zulassung antifaschistisch-demokratischer Parteien erlaubte, und zwar bereits in ihrem „Befehl Nr. 2" vom 10. Juni 1945. Daraufhin konstituierte sich im gleichen Monat die Kommunistische Partei Deutschlands, zumal sie aufgrund ihrer weitgehend identischen weltanschaulichen Vorstellungen der Sowjetunion als Gruppierung echter Antifaschisten galt. Die Zusammenführung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei (SED)4 war wesentliche Voraussetzung der Schaffung einer Massenpartei. Kamen anfangs noch durchaus unterschiedliche politische Positionen zum Tragen, folgte nach Beginn des Kalten Krieges eine allmähliche „Stalinisierung" der SED, verbunden mit dem Kampf gegen jeglichen „Sozialdemokratismus". Darüber hinaus wurden als „bürgerliche" Parteien auch Gliederungen der CDU und der LDP zugelassen, die sich mit KPD und SPD bereits am 14. Juli 1945 zur „Einheitsfront antifaschistisch-demokratischer Parteien" zusammenschlossen. 1948 kamen schließlich die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) als von der SED gezielt etablierte Neugründungen hinzu. Die formale Gründung erfolgte durch den benannten Volksrat, der sich nach der umstrittenen Einheitswahl vom Mai 1949 zur „Provisorischen Volkskammer" der DDR erklärte und die Verfassung des neuen Staates am 7. Oktober in Kraft setzte. Sie unterschied sich nur wenig von den Verfassungen bürgerlich-demokratischen Typs, zumal das Vorbild der Weimarer Verfassung in vielen Passagen erkennbar blieb. Allerdings sah sie eine zentralistische Staatsform vor, mit der Volkskammer als höchstem Organ und einer Abkehr vom System der Gewaltenteilung. In den ersten Jahren des Bestehens der DDR gelang es der SED, die zentralen Positionen im Staats- und Wirtschaftsapparat mit ihren Gefolgsleuten zu besetzen. Die Zentralisierung setzte sich trotz des Neuaufbaus der Landesverwaltungen in Sachsen, Mecklenburg und Thüringen sowie der Provinzialverwaltungen für Brandenburg und Sachsen-Anhalt fort. Die vorgezogenen Wahlen zur Volkskammer und den Landtagen am 15. Oktober 1950 sahen nur noch Einheitslisten vor, die das Wahlergebnis determinierten. Nach einem Schlüssel wurden die Volkskammersitze ex ante auf die einzelnen Parteien und Massenorganisationen aufgeteilt. Im Zuge der Verwaltungsreform 1952 wurden dann auch die bisherigen Länder aufgelöst und statt dessen 14 Bezirke geschaffen. Nach Zerschlagung des Arbeiterauf standes vom 17. Juni 1953, der sich gegen überhöhte Normen für die Arbeiterschaft und die insgesamt schlechte Versorgungslage richtete, durchaus aber auch systemgefährdende Forderungen nach freien Wahlen und der deutschen Ein-

4 Auch mehr als 50 Jahre nach dieser Zusammenführung ist unverändert strittig, ob es sich 1946 um eine Zwangsvereinigung oder um einen freiwilligen Zusammenschluss gehandelt hat (vgl.

A. Malycha, 1995).

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1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland heit erhob (vgl. A. MitterlS. Wolle, 19952; P. Bruhn, 2003; H. Knabe, 2003), erfolgte ein Ausbau der bewaffneten Staatsorgane, der zu einer beträchtlichen Militarisierung führte. Damit einher ging eine weitere Zentralisierung der politischen Macht, die parteiintern mit einer Umformung der SED nach dem Modell der KPdSU verbunden war. Die Partei unterwarf sich „der Führung der Sowjetunion" und verstand sich als „monolithische Einheit", die eine Opposition oder Fraktionsbildungen nicht zuließ. Schauprozesse und unterschiedliche Formen der „Säuberung" der Partei sorgten für entsprechende Disziplinierungen. Dies setzte sich auch nach Stalins Tod 1953 fort, zumal die vermeintlich bürgerlichen Parteien C D U und L D P die Führungsrolle der SED inzwischen anerkannten. Bis 1955 bildete sich dann ähnlich wie in Bulgarien, Polen und der CSSR - ein sog. „Blockparteiensystem" heraus, innerhalb dessen formal mehrere Parteien existierten, das Machtmonopol der SED jedoch unangetastet blieb. Gleichzeitig wurde auch das Gesellschaftssystem nach dem Modell der Sowjetunion geordnet. Insbesondere die Sozial- und Eigentumsstrukturen wurden den neuen Verhältnissen angepasst. So stieg das Staatseigentum in Handel und Industrie deutlich an und gewann das Genossenschaftswesen in der Landwirtschaft breiten Raum. Allerdings wurde auch deutlich, dass der Übergang zu diesen neuen Formen der Vergesellschaftung mit zahlreichen ökonomischen Problemen verbunden war; so kam es zu entsprechenden Versorgungsmängeln, die aufgrund des Vergleichs mit dem Westen das Regime kontinuierlich gefährdeten. Erste außenpolitische Erfolge, etwa durch die Entwicklung der „Zwei-StaatenTheorie", vermochten dies nicht auszugleichen. Die folgenden Jahre waren durch den kontinuierlichen Ausbau des Gesellschaftssystems gekennzeichnet. Nach Zuerkennung der vollen Souveränität Ende 1955 wurde die D D R mit der neu geschaffenen Nationalen Volksarmee (NVA) in den „Warschauer Pakt" integriert, mithin auch militärisch dem Ostblock verbunden. Im wirtschaftlichen Bereich wurde die bereits weitgehend verstaatlichte Industrie durch umfassende Kollektivierungen der landwirtschaftlichen Betriebe ergänzt. Weitere Eingriffe in die Eigentumsstruktur von Handwerk, Handel und Industrie folgten. Gleichwohl blieben die wirtschaftlichen Erwartungen unerfüllt. Der ehrgeizige Fünfjahresplan musste 1959 abgebrochen werden. Dabei war charakteristisch, dass dem Scheitern von Planungen der Entwurf noch umfassenderer Zielvorstellungen folgte; so sollte dem jetzt aufgelegten Siebenjahresplan für die Jahre von 1959 bis 1965 zufolge nicht nur die Bundesrepublik bis 1961 wirtschaftlich überholt werden, die D D R wollte vielmehr auch ihre Arbeitsproduktivität bis 1965 um 85 Prozent steigern. Allerdings standen der beabsichtigten Entwicklung der Energiewirtschaft, der Elektrotechnik und der chemischen Industrie erhebliche technologische wie finanzielle Engpässe entgegen. So war es kaum verwunderlich, dass die sich akkumulierenden Wirtschaftskrisen und die damit verbundenen hohen Flüchtlingszahlen den Staat vor existentielle Herausforderungen stellten. Das System reagierte mit der Errichtung der Berliner Mauer, die in der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 den West- vom Ostteil der Stadt abriegelte. Das dem Mauerbau folgende Jahrzehnt gilt dann als Periode der ökonomischen Stabilisierung. Gleichzeitig gewann die D D R sowohl im Rahmen des Warschauer Paktes als auch im internationalen Bereich insgesamt an Gewicht. Als zweitstärkste Industriemacht im „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) wurde sie zum stärksten Partner der Sowjetunion. Hinzu trat eine vorsichtige Ausweitung der Kontakte mit dem Westen, so etwa durch einen Redneraustausch zwischen SED und SPD oder auch durch die Proklamierung einer „sozialistischen Menschengemeinschaft", die den westlichen Leitbildern eine eigenständige Entwicklungsdimension gegenüberzustellen suchte. Die D D R als „Modell eines modernen Sozialismus" sollte für breite Bevölkerungskreise attraktiv werden und auch auf die westdeutsche 21

I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Entwicklung einwirken. Elemente des Bildungs- und Sozialsystems sowie eine früh einsetzende Politik zur Gleichstellung von Frauen waren auch für die westliche Öffentlichkeit von Interesse. Eine neue sozialistische Verfassung aus dem Jahre 1968 schließlich sollte die zum Teil noch immer krassen Gegensätze zwischen proklamierten Normen und täglicher sozialistischer Realität abbauen. Dabei wurde der Führungsanspruch der SED verfassungsrechtlich festgeschrieben, während andere Artikel die - in der Praxis allerdings nicht eingelösten - Grundrechte auszubauen suchten. Seit Ende der 1960er Jahre wuchs das Selbstbewusstsein der DDR-Führung erheblich. Dies erklärte sich zum einen aus der zunehmenden außenpolitischen Anerkennung, die sich nicht zuletzt auch in verstärkten deutsch-deutschen Beziehungen widerspiegelte, zum anderen aus der „Klassengesellschaft neuen Typs", welche die neue DDR-Führung unter Honecker nach dem Sturz Ulbrichts proklamierte. Das Verhältnis zwischen der Partei und der Arbeiterschaft wurde dabei definiert als: „Die Arbeiterklasse führt die sozialistische Gesellschaft primär durch ihre marxistisch-leninistische Partei". Eine Verstärkung der ideologischen Schulung diente der Verdeutlichung dieses Selbstverständnisses. Aufbauend auf Erfolgen im wirtschaftlichen Bereich, die sich in sprunghaften Entwicklungen der industriellen Produktion, Verbesserungen im bislang stark vernachlässigten Wohnungsbau und einer vergleichsweise vorbildlichen Gesundheitspolitik äußerten, versuchte die DDRFührung zudem, die innere Stabilität vor allem durch einen höheren Lebensstandard, flankiert durch eine flexiblere Kulturpolitik, abzusichern. Die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" wurde zu einem neuen Paradigma. Gleichwohl gelang es auch in diesem Zeitraum nicht, die immer deutlicher zu Tage tretende Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung nachhaltig abzubauen. Der Vergleich mit der Bundesrepublik, der Einfluss des sog. „Eurokommunismus" und die allmähliche Überalterung der Führungskader erschwerten es, auf neue Problemstellungen zu reagieren oder aber sich der veränderten innen- wie außenpolitischen Situation anzupassen. Die „entwickelte sozialistische Gesellschaft" wurde nur von einem begrenzten Teil der Bevölkerung tatsächlich als Voraussetzung für den allmählichen Übergang zum Kommunismus begriffen. Zudem rebellierten Teile der Intelligenz immer wieder und zum Teil nachhaltig gegen Zentralisierungstendenzen und ein Überwachungssystem, das sich kaum mit den Idealen einer sozialistischen Gemeinschaft in Einklang bringen ließ. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die dem folgenden Proteste prominenter Schriftsteller und Künstler sowie das Verfahren gegen Rudolf Bahro bildeten spektakuläre Höhepunkte dieses Prozesses. Trotz zunehmender internationaler Anerkennung war die Weiterentwicklung der DDR daher durch Erstarrungs- und Stagnationstendenzen gekennzeichnet. Zwar war der Hegemonialanspruch der Einheitspartei ungefährdet, zumal jeder sechste DDR-Bürger SEDMitglied wurde, doch vermochten die institutionellen und personellen Voraussetzungen insbesondere in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre - der Entwicklungsdynamik im Ostblock nicht mehr zu folgen. Vor allem die sich mit den Begriffen der „Perestrojka" und des „Glasnost" verbindenden Reformpolitiken in der Sowjetunion überraschten und erschreckten die DDR-Führung erheblich; ein Zeichen hierfür war der wachsende Personenkult um Erich Honecker und die sich wieder verschärfende Kulturpolitik, die Abweichenden nur die Möglichkeit des Verlassens der Republik beließ. Als die Unzufriedenheit weiter Bevölkerungskreise aufgrund materieller Schwierigkeiten und noch immer gegebener Reisebeschränkungen zu systemgefährdenden Willensäußerungen führte, reagierte das System einerseits mit beschränkter Gesprächsbereitschaft und der vermehrten Möglichkeit zur Reise auch in das westliche Ausland, andererseits mit einem Ausbau der Staatssicherheitsdienste. Als Erich Honecker 1987 schließlich auch die Bundes22

1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland republik besuchte, war dies zwar Höhepunkt der Anerkennung der D D R auch von dieser Seite; gleichzeitig aber ließ sich das Missverhältnis zwischen ideologischem Anspruch und politischer Realität nicht länger verdecken. In der Rückschau beginnt das „Ende der DDR" also nicht erst 1989, sondern mit den wesentlich länger andauernden Entfremdungsprozessen zwischen Bürgerschaft und politischer Elite (s. H. Weber, 2000 2 ). Allerdings entwickelte sich erst im Vorfeld und Verlauf der „friedlichen Revolution" 5 eine politische Eigendynamik, die den Zusammenbruch des sozialistischen Regimes herbeiführte. Der Anfang dieses äußerst komplexen Prozesses wird gemeinhin in den Kommunalwahlen vom Mai 1989 gesehen, die offensichtlich von einer „realitätsfernen DDR-Führung" gefälscht wurden und die - trotz des „normalen" Wahlsiegs der Nationalen Front (98,85 Prozent der Stimmen) - oppositionellen Gruppen erstmals die Gelegenheit gaben, sich einer breiteren Öffentlichkeit gegenüber bemerkbar zu machen und das korrupte politische System anzuklagen. Hinzu kam, dass ein Treffen der christlichen Kirchen der D D R bereits im April 1989 eine Demokratisierung des Wahlrechts einforderte. Eine Individualisierung und Kriminalisierung des Widerstandes wurde somit erschwert. Nicht zu unterschätzen sind auch eine Reihe externer Rahmenbedingungen, die die friedliche Revolution begünstigten. Zu nennen sind insbesondere die Reformprozesse in der Sowjetunion, Polen und Ungarn, die das Klima der nun öffentlichen Auseinandersetzungen in der D D R beträchtlich beeinflussten. Dazu zählt insbesondere die faktische Aufhebung der Breschnew-Doktrin durch Generalsekretär Gorbatschow, wodurch die Ostberliner Führung ihre außenpolitisch-militärische Absicherung verlor. Darüber hinaus zog die Ausreisemöglichkeit, die die ungarische Regierung allen fluchtwilligen Ostdeutschen am 10./11. September 1989 gewährte, nicht nur einen regelrechten „Massenexodus" in die Bundesrepublik nach sich, sondern verstärkte auch die innenpolitische Diskussion in der D D R . Während reformorientierte Kräfte noch glaubten, durch „Aufarbeitung des Stalinismus" oder Veränderungen innerhalb der Parteiorganisation dem wachsenden Demokratisierungsgebot entsprechen zu können, verstärkte sich im Gefolge ungesteuerter Massenbewegungen - vor allem der Leipziger Montagsdemonstrationen - der gesellschaftliche Protest, er war politisch nicht mehr zu kanalisieren. Zugleich gewannen die Forderungen der wichtigsten Oppositionsgruppierungen an Schärfe. Nachdem noch Anfang September das Neue Forum in seinem Gründungsaufruf einen „demokratischen Dialog über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur" angemahnt hatte, wurden im Gründungsaufruf der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt!" massivere Forderungen nach demokratischer Erneuerung deutlich. In eine ähnliche Richtung zielten die programmatischen Erklärungen anderer Oppositionsbewegungen - wie die des „Demokratischen Aufbruchs" (Gründungsaufruf vom 2. Oktober). Gleichwohl zeigte sich die DDR-Führung von den Protesten wenig beeindruckt und feierte am 7. Oktober 1989 den 40. Jahrestag der Staatsgründung. Die einzig mahnende Stimme war ausgerechnet die des KPdSU-Generalsekretärs Gorbatschow, der die SED-Spitze warnte, die Protestbewegung nicht zu unterschätzen. Mit Beginn der Herbstferien nahmen dann sowohl die Massenflucht über die Grenzen der Tschechoslowakei und Ungarns als auch die Montagsdemonstrationen in Leipzig

5 Unter den Darstellungen zur Geschichte der D D R sei verwiesen auf H. Weber, 1991 und 2000. Im Übrigen ist auf D. Staritz, 1996 (erweiterte Neuausgabe der 1985 publizierten „Geschichte der D D R " ) hinzuweisen. Aus der Vielzahl weiterer Untersuchungen sind exemplarisch zu benennen H. KaelbleU. KockalH. Zwahr (Hrsg.), 1993; K. Schröder (Hrsg.), 1994, Deutscher Bundestag, 1995, sowie H.-G. Wehling (Hrsg.), 2002.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen unkontrollierbare Größenordnungen an. Dabei kam es am Abend des 9. Oktober zu einer dramatischen Zuspitzung. Während die Demonstranten „Deutschland, Deutschland" und zunehmend auch „Wir sind ein Volk" skandierten, wurde innerhalb der DDR-Führung ernsthaft erwogen, die in der Stadt zusammengezogenen Sicherheitskräfte gegen die Bürgerschaft vorgehen zu lassen. Wie man inzwischen den Memoiren ehemaliger SED-Funktionäre entnehmen kann (vgl. u.a. G. Schabowski, 1991), war die Ablösung Erich Honeckers danach nur noch eine Frage der Zeit. Am 18. Oktober entband ihn das Zentralkomitee „auf eigenen Wunsch" von allen Amtern, Egon Krenz wurde zu seinem Nachfolger gewählt. Auch nach der personellen Erneuerung der Staatsspitze war der Zerfallsprozess nicht mehr zu stoppen. Zwar suchte Krenz das Gespräch mit oppositionellen Gruppen und bemühte sich auch in Kontakten mit Bundeskanzler Kohl und Generalsekretär Gorbatschow, die Entwicklung einzudämmen, schon am 4. November jedoch kam es zu der wohl größten Massendemonstration in der Geschichte der DDR; etwa eine Million Menschen forderte Presse-, Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Durchführung freier Wahlen. Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 folgte dann der entscheidende Durchbruch. Die Zusammenführung der Bevölkerung Ost- und West-Berlins sowie zahlreicher Bürger aus der DDR und der Bundesrepublik machte den beschrittenen Weg unumkehrbar. Die politischen Institutionen der DDR waren von diesem Zeitpunkt an durch einen kontinuierlichen Auflösungsprozess gekennzeichnet. Am 1. Dezember 1989 wurde die „führende Rolle" der SED aus der DDR-Verfassung gestrichen; am 6. Dezember trat Egon Krenz gemeinsam mit dem Politbüro und dem Zentralkomitee zurück; auf dem SED-Parteitag am 8. Dezember schließlich wurde die Einheitspartei zwar nicht aufgelöst, doch konnte selbst der Namenszusatz „Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)" und der Führungswechsel zu Gregor Gysi den Zusammenbruch der sozialistischen Ideologie nicht mehr kaschieren. Die unter Ministerpräsident Hans Modrow gebildete Regierung bezeichnete daher auch die Bewältigung der Wirtschaftskrise, die Durchsetzung demokratischer Reformen und eine „Vertragsgemeinschaft" mit der Bundesrepublik als ihre vorrangige Aufgaben. Als die Rufe nach „Deutschland einig Vaterland" schließlich zur dominanten Äußerung der Protestbewegung wurden, war die Wiedervereinigung Deutschlands unabwendbar. Eine Umorientierung der Parteien und erste Anzeichen eines Zerfallens der Bürgerbewegung folgten. Während etwa die SED/PDS auf den diskreditierenden Hinweis auf die Altpartei verzichtete (4. Februar 1990), suchten die Blockparteien sich der neuen Entwicklung anzupassen. Dies galt vor allem für die LDP unter ihrem Vorsitzenden Manfred Gerlach sowie für die CDU, die mit der Wahl Lothar de Maizières zum Parteivorsitzenden einen auch personellen Neuanfang zu dokumentieren suchte. Ihr hoher Organisationsgrad und auch ihr nicht unbeträchtliches Vermögen machten sie dabei der Bürgerbewegung überlegen, die anfangs noch davon ausging, die DDR reformieren zu können. Sichtbarster Ausdruck dieser Bemühungen war die Einrichtung des Runden Tisches, der am 7. Dezember 1989 seine Arbeit aufnahm und Altparteien, „neue" Parteien und Bürgerbewegung zusammenführte. Der Runde Tisch erarbeitete einen Entwurf für eine Verfassung der DDR, der im April 1990 zwar noch vorgelegt wurde, dann aber aufgrund des Beitritts der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes ohne praktische Wirkung blieb (vgl. U. Thaysen, 1990, 2000, sowie Materialband,

II/8).

Schließlich passte sich das Parteiensystem dem der Bundesrepublik an. So bekannte sich die CDU auf ihrem Sonderparteitag am 15. und 16. Dezember 1989 zur Marktwirtschaft und zur Einheit der Nation, suchte die Delegiertenkonferenz der SDP vom 12. bis 14. Januar 1990 nicht zuletzt durch die Übernahme des Parteinamens als SPD den Anschluss an die historischen Traditionen der Sozialdemokratie in Deutschland, berief sich der Grün24

1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dungsparteitag der Freien Demokratischen Partei am 4. Februar 1990 auf die traditionellen Werte des Liberalismus (und das Freiburger Programm der westdeutschen FDP), und verstand sich die am 20. Januar 1990 in Leipzig gegründete Deutsche Soziale Union (DSU) als Schwesterpartei der bayerischen CSU. Das „letzte Kapitel" der DDR-Geschichte ist dann komprimiert zusammenzufassen: Am 29. November 1989 legte Bundeskanzler Kohl sein „Zehn-Punkte-Programm" zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas vor; am 19. Dezember erörterten er und DDR-Ministerpräsident Modrow in Dresden einen „Vertrag über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft"; schließlich einigte sich der Runde Tisch Ende Januar 1990 darauf, die für Mai vorgesehenen ersten freien Volkskammerwahlen auf den 18. März 1990 vorzuziehen. Nachdem auch KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow eine Wiedervereinigung Deutschlands nicht mehr ausschloss, kam der Volkskammerwahl entscheidende Bedeutung zu (vgl. Materialband, V/4). Sie endete mit einem überraschend hohen Wahlsieg der Allianz aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch. Das auch persönlich überzeugende Engagement von Bundeskanzler Kohl sorgte dabei für eine deutliche Orientierung am westdeutschen Parteienspektrum, insbesondere den Bonner Koalitionsparteien. Während die Allianz für Deutschland 48,1 Prozent der Stimmen erhielt, entfielen auf die SPD lediglich 21,9 Prozent, auf die PDS 16,4 Prozent. Ein ähnliches Bild erbrachten die Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990. Zwar verlor die CDU über 6 Prozent der Stimmen, blieb aber mit 34,4 Prozent weit vor der SPD, die lediglich 21,3 Prozent auf sich vereinigte. Der neugewählte Ministerpräsident Lothar de Maizière interpretierte die Wahlergebnisse wie folgt: „Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. Unsere Wähler haben diesem ihrem politischen Willen in den Wahlen vom 18. März 1990 deutlich Ausdruck verliehen. Dieser Wille verpflichtet uns. Ihn so gut wie nur möglich zu erfüllen, ist unsere gemeinsame Verantwortung (...) Alle politischen Kräfte Europas nehmen heute Teil an dem Prozess der Einigung Deutschlands. Wir vertreten in ihm die Interessen der Bürger der DDR. Das Ja zur Einheit ist gesprochen." Damit war deutlich, dass das Ziel der Regierung de Maizière in der Herstellung der deutschen Einheit bestehen würde und bestehen musste; es bedeutete zugleich das Ende der Deutschen Demokratischen Republik.

1.4. Der Weg zur Einheit: die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung (1990-2003) Der Weg zur deutschen Einheit6 hat also eine innen- und eine außenpolitische Dimension. Blickt man zunächst auf die innenpolitischen Aspekte des Vereinigungsprozesses, so sind es vor allem drei Vertragswerke, die im Zentrum der Diskussion standen: • der Vertrag über die Schaffung eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 (der „Staatsvertrag"), • der Wahlvertrag vom 3. August 1990 sowie • der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (vgl. Materialband, 1/9-10).

6 Der Weg zur Einheit ist umfassend dokumentiert in Deutscher Bundestag, 1990 und 1991; vgl. darüber hinaus U. LiebertlW. Merkel, 1991, fi Giesen/C. Leggewie, 1991, G.-J. Glaeßner, 1991, 1992; „Innenansichten" beteiligter Politiker finden sich bei W. Schäuble, 1991, und H. Teltschik, 1991; die Erinnerungen H.-D. Genschers, 1995, und H. Kohls, 1996, sind besonders interessant. Die internationalen Aspekte fassen K. Kaiser, 1991, und G. Ziebura/M. Bender/B. Röttger, 1992, zusammen; die wohl beste Darstellung des Prozesses lieferten Ph. ZelikowIC. Rice, 1997.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Die Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion schuf die Voraussetzungen für die Übernahme des Prinzips der sozialen Marktwirtschaft und für die Verpflichtung der DDR auf die Ziele der Geld-, Fiskal-, Beschäftigungs- und Außenhandelspolitik der Bundesrepublik. Dabei sei daran erinnert, dass vor allem die Währungsunion äußerst umstritten war und letztlich ausschließlich politisch entschieden wurde. Angesichts der Eile des Vereinigungsprozesses mag dabei verständlich sein, dass sich die Aussagen und Prognosen der großen wirtschaftswissenschaftlichen Institute wie der Tarifpartner auf gelegentlich groteske Art und Weise widersprachen. Die Probleme des Übergangs eines planwirtschaftlichen Systems zu einer Marktwirtschaft überforderten die Experten auf allerdings unerwartete Weise. Selbst mit Blick auf die anzustrebende Umtauschrelation von Renten, Löhnen und Sparguthaben differierten die Meinungen erheblich. Die schließlich gefundene Lösung (eine Relation von 1:1 für Löhne, Renten, Sparguthaben und Bargeld bis zu DM 4.000 sowie von 2:1 für restliche Bestandsgrößen) stellte letztlich einen nicht näher begründeten Kompromiss zwischen unterschiedlichen Positionen dar. Auch gab es durchaus Stimmen, die vor einem zu schnellen Übergang zu marktwirtschaftlichen Prozessen warnten, ohne dass jedoch ernsthaft jener Zusammenbruch prognostiziert worden wäre, der in den Folgemonaten weite Teile der DDR-Wirtschaft kennzeichnete. Der abrupte Wegfall insbesondere der Exportmärkte, der sich aufgrund der Devisenschwäche der osteuropäischen Wirtschaftspartner nahezu zwangsläufig einstellte, überraschte viele Beobachter. Insgesamt wird man aus heutiger Distanz sagen können, dass ein eher stufenweises Verfahren zur Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion der Situation vielleicht angemessener gewesen wäre; andererseits ist zu bedenken, dass Wettbewerbsprozesse wohl auch in diesem Fall zu einem Scheitern weiter Bereiche der DDR-Wirtschaft beigetragen hätten. Der heute bereits fast vergessene Wahlvertrag suchte hingegen die Formen politischer Legitimation in beiden deutschen Staaten aufeinander zu beziehen. Dabei bedurfte es allerdings eines Eingriffs des Bundesverfassungsgerichts, um Benachteiligungen, wie das Festschreiben einer einheitlichen Fünf-Prozent-Klausel, zu verhindern. Auf der Basis dieses Vertrages erklärte dann die Volkskammer der DDR am 23. August 1990 ihren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 GG und mit Wirkung zum 3. Oktober, nicht ohne den Vorbehalt zu formulieren, dass die Verhandlungen am Einigungsvertrag zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen sein müssten und auch der Zwei-plus-Vier-Prozess soweit gediehen sein sollte, die außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen Einheit zu gewährleisten. Der letzte amtierende Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, fasste die Geschichte der DDR dann am Abend des 2. Oktober 1990 im Schauspielhaus zu Berlin (Ost) wie folgt zusammen: „Der Anfang der D D R vor 40 Jahren hatte manche idealistischen Züge. Sie konnten sich nicht durchsetzen, obwohl viele Frauen und Männer in ihrem Glauben an die vorgegebenen Ideale ihr Bestes eingebracht haben. Ich denke dabei auch an die vielen Emigranten, die wiedergekommen sind und glaubten, in die bessere Heimat zurückzukehren. Das Ende offenbarte ein System, das die Grundsätze der Gleichheit bedenkenlos mißachtete, die ökologischen Lebensgrundlagen skrupellos ruinierte, den katastrophalen Niedergang der Wirtschaft vorsätzlich verschleierte und Gefangene verkaufte, Terroristen ausbildete und mit verlogenen Feindbildern vor allem die Jugend täuschte. Das Ausmaß des zynischen Machtmißbrauchs, das in seinem ganzen Umfang erst nach und nach bekannt wird, erschüttert immer wieder von Neuem. U m so mehr empfinden wir Dankbarkeit darüber, daß der Umbruch gelungen ist ... Das Ende der D D R ist gleichzeitig eine große Wende zum Positiven, wie sie die Geschichte nur selten bereit hält. Wir haben wirklich allen Anlaß zu Freude und Dankbarkeit. Es ist uns gegeben, die Einheit in Frieden und Freiheit zu er-

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1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland reichen, im Einvernehmen mit unseren Partnern und Nachbarn. Wir können einen neuen Anfang machen. Seine Vorzeichen sind die Freiheit, die wir selbst erstritten haben, die Einheit, die wir gewollt haben, das Recht, das wir zu lange entbehren mußten, und die Menschenwürde, die uns neu gegeben ist. Wir treten einer demokratischen Ordnung bei, die sich trotz mancher Unzulänglichkeiten, die wir nicht übersehen wollen, bewährt und weiterentwickelt hat. Den Rahmen hierfür gibt das Grundgesetz vor, das hohes Ansehen genießt. Künftig gilt es auch in den fünf neuen Bundesländern und im ungeteilten Berlin. Sein Grundprinzip ist das der verantworteten Freiheit. Die Freiheit ist der beste Förderer unserer individuellen Fähigkeiten. Sie gehört zugleich zu den größten Prüfungen des menschlichen Charakters. Sie für sich und zugleich auch im Sinne des Gemeinwohls zu verwirklichen, ist eine faszinierende Aufgabe für uns alle. Nicht was wir gestern waren, sondern was wir morgen gemeinsam sein wollen, vereint uns zum Staat. Von morgen an wird es ein geeintes Deutschland geben. Wir haben lange darauf gewartet. Wir werden es gemeinsam prägen" (1990, S. 465, 467). D e r Einigungsvertrag schließlich stellte zweifellos d a s H e r z s t ü c k d e r die Vereinigung kodifizierenden Regelungen dar. E r w u r d e t r o t z k ü r z e s t e r Verhandlungszeit a m 31. August 1990 a n g e n o m m e n u n d regelte d e n Prozess d e r Vereinheitlichung, vor allem die Rechtsvereinheitlichung, n a h e z u f l ä c h e n d e c k e n d . D a b e i w u r d e n f ü r einzelne Bereiche Ü b e r g a n g s regelungen getroffen, w ä h r e n d m a n a n d e r e bereits abschließend behandelte. Besonders strittig blieb die F r a g e d e r finanziellen Beziehungen zwischen d e n G e b i e t s k ö r p e r s c h a f ten, ein a u c h in den „ a l t e n " B u n d e s l ä n d e r n n u r allzu bekanntes, sich jetzt aber in bes o n d e r e r Dringlichkeit stellendes P r o b l e m . U m eine M a j o r i s i e r u n g der größeren Bundesl ä n d e r auszuschließen, k a m es z u d e m zu einer V e r ä n d e r u n g d e r S t i m m e n k o n t i n g e n t e im B u n d e s r a t (s. Kapitel IV., 4.2). E n t s c h e i d e n d e S t a n d o r t f r a g e n , wie die B e n e n n u n g des Sitzes von P a r l a m e n t u n d Regierung, blieben hingegen offen, wenngleich Artikel 2 des Einigungsvertrages Berlin z u r H a u p t s t a d t erklärte. Erst später entschied sich der D e u t s c h e B u n destag in dieser F r a g e m i t k n a p p e r M e h r h e i t (338 zu 320 S t i m m e n ) f ü r Berlin u n d gegen Bonn. Alle drei g e n a n n t e n Vertragswerke w u r d e n u n t e r erheblichem Zeitdruck v e r h a n d e l t u n d verabschiedet. E r k l ä r t sich dies z u m einen a u s d e r a u ß e n p o l i t i s c h e n Situation, die vor allem die B o n n e r R e g i e r u n g zu einem schnellen H a n d e l n veranlasste, sind z u m a n d e r e n innenpolitische Gründe a n z u f ü h r e n . Dies gilt vor allem f ü r d e n Versuch, d e n Zerfall d e r staatlichen A u t o r i t ä t in d e r D D R z w a r nicht a u f z u h a l t e n , ihn aber d o c h d u r c h einen schnellen Ü b e r g a n g in die K a t e g o r i e n des politischen Systems d e r B u n d e s r e p u b l i k zu kanalisieren, nicht zuletzt a u c h m i t Blick a u f die A k z e p t a n z in breiten Kreisen der Bevölkerung. H i e r w u r d e erkennbar, dass die u r s p r ü n g l i c h e E u p h o r i e allmählich einer Skepsis ü b e r die mit d e m Vereinigungsprozess v e r b u n d e n e n Belastungen wich, wechselseitige Vorurteile den Vereinigungsprozess zu belasten d r o h t e n . H i n z u k a m , dass u r s p r ü n g l i c h erwogene politische K o n zepte, insbesondere d e r v o n B u n d e s k a n z l e r Kohl im D e z e m b e r 1989 vorgelegte Z e h n P u n k t e - P l a n , von der f a k t i s c h e n politischen E n t w i c k l u n g überrollt w u r d e n . K o n f ö d e r a tionsvorstellungen f a n d e n nicht n u r keine M e h r h e i t , s o n d e r n w a r e n z u m Z e i t p u n k t ihrer E r ö r t e r u n g bereits ü b e r h o l t . Die sich zuspitzende W i r t s c h a f t s k r i s e in d e r D D R u n d vor allem die u n g e b r e m s t e O s t - W e s t - W a n d e r u n g m a c h t e n n a c h d e m Fall der M a u e r ents p r e c h e n d e E r ö r t e r u n g e n obsolet. E n t s c h e i d e n d f ü r die Geschwindigkeit des Vereinigungsprozesses w a r aber v o r allem die Dynamik der außenpolitischen Entwicklung. Die H a n d l u n g s s c h w ä c h e der S o w j e t u n i o n e r l a u b t e hier eine historisch wohl einmalige Vorgehensweise. Die „ F r e i g a b e " der D D R als Ergebnis der Kohl-Gorbatschow-Gespräche im Juli 1990 d ü r f t e so zu interpretieren sein, dass die S o w j e t u n i o n keine H a n d l u n g s m ö g l i c h k e i t e n z u r G e w ä h r l e i s t u n g einer K o n f ö d e r a -

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen tionslösung mehr sah. Da der Bundeskanzler zudem finanzielle Ausgleichsleistungen in Aussicht stellte und die Hilfe der Bundesrepublik bei der Stabilisierung der Sowjetunion zusagte, ist nicht auszuschließen, dass die Hoffnung auf künftige Sonderbeziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion schließlich den Ausschlag gaben. Obwohl aus Memoiren der Beteiligten Einzelaspekte der Verhandlungen bekannt wurden (dies gilt u. a. für E. Schewardnadse, 1991, H.-D. Genscher, 1995, J. A. Baker/D. M. DeFrank, 1995, und H. Kohl, 1996), bedarf es noch beträchtlicher Forschungsarbeit, um den eigentlichen Willensbildungs- und Verhandlungsprozess nachzeichnen zu können. Auf Seiten der westlichen Partner war das Unbehagen gegenüber dem deutschen Einigungsprozess unübersehbar. Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten bedrückte die Aussicht auf ein wiedererstarkendes und den europäischen Integrationsprozess möglicherweise dominierendes Deutschland die Regierungen in London, Paris und Rom (vgl. M. Thatcher, 1993, und F. Mitterand, 1996). Die Unterstützung der westdeutschen Position und die schnelle Eingliederung der DDR in den europäischen Kontext dürfte deshalb vor allem der pragmatischen Einschätzung zu verdanken sein, dass der Vereinigungsprozess nicht aufzuhalten war und man sich von daher um eine frühzeitige europapolitische „Einbindung" Gesamtdeutschlands bemühte. Das Alternativszenario einer prospektiven Neutralität Deutschlands erleichterte möglicherweise die Zustimmung. Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges diente schließlich der Eingliederung des vereinigten Deutschlands in das westliche Sicherheitssystem. Unterhalb der Schwelle eines Friedensvertrages kam es damit auch hier zu einer schnellen Reaktion, die von den Deutschen vertretbare Konzessionen forderte: die Beschränkung der deutschen Truppen auf 370.000 Soldaten, eine zeitliche Begrenzung des Aufenthaltes sowjetischer Einheiten auf dem Territorium der ehemaligen DDR (bis Ende 1994), die Verpflichtung, keine NATO-Truppen in Ost-Deutschland zu stationieren. Darüber hinaus wurde die Sicherung der bestehenden Grenzen vereinbart. Dass die Sowjetunion der NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands zustimmte, gilt noch heute vielen Beobachtern als „unglaublich"; die zugestandenen finanziellen Kompensationen bewegten sich in vergleichsweise bescheidenem Rahmen. Während die genannten Vertragswerke den „äußeren Rahmen" der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bildeten, gestaltete sich der Prozess der „inneren Vereinigung" wesentlich komplexer und kann bis heute nicht als abgeschossen gelten. Zur Unterschätzung funktionaler Voraussetzungen der inneren Vereinigung traten soziale, ja gleichsam kulturelle Spannungen. Die anfängliche Aufbruchstimmung in der ehemaligen DDR verflog angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und des Umbruchs in zentralen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge rasch, es wurde zunehmend schwieriger, die Bevölkerung von den Vorteilen der Systemtransformation zu überzeugen. Insgesamt eröffnete der mit der Vereinigung verbundene Prozess der Gesellschafts- und Institutionenentwicklung eine historisch einmalige Handlungsmöglichkeit: auf der Basis einer etablierten, akzeptierten und leistungsfähigen Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Transfer- wie Lernprozesse zu gestalten, die Vorbildcharakter auch für künftige Transformationspolitiken (etwa in den Staaten Mittel- und Osteuropas) hätten haben können. Das potentielle Verspielen dieser Chance, des Versuchs, möglichst akzeptiert und bruchlos unterschiedliche Gesellschaftssysteme zusammenzuführen oder besser: in einem System aufgehen zu lassen, könnte langfristig wirksame Verwerfungen mit sich bringen. Natürlich: Am Erfolg der Transformation, der zunehmenden Angleichung und „Modernisierung" auch des ostdeutschen Gesellschaftssystems ist letztlich nicht zu zweifeln. Entscheidend aber könnte sein, dass die Schaffung eines neuzeitlichen Ansprüchen folgenden Rechts-, Wirtschafts-

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1. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und Sozialsystems auf der Basis einer überprüften und als gut und akzeptiert befundenen Rechts- und Wirtschaftsordnung nur als „Kopie" gedacht wurde, als „Übernahme" fremder Regelungssysteme. Allerdings ist einzuräumen, dass die beschriebene Ausgangssituation und die „Überlappung" innen- wie außenpolitischer Konstellationen kaum einen anderen Weg der Vereinigung zugelassen hätten. Die mit der Wiedervereinigung verbundenen „Verwerfungen" kennzeichneten auch die zweite Hälfte der „Ära Kohl", die von 1990 bis zur Abwahl der konservativ-liberalen Koalition 1998 dauerte und - in Fortführung der hier vorgestellten Differenzierung - als fünfte Phase der politischen Entwicklung der Bundesrepublik gelten kann (s. zum Folgenden u. a. G. Wewer, 1998, R. Czada/H. Wollmann, 1999, Th. Ellwein/E. Holtmann, 1999, J. J. Hesse, 1999 sowie W. Süß, 2002). Mit Blick auf die sozioökonomischen Rahmenbedingungen ist zunächst darauf zu verweisen, dass sich die finanzpolitischen Handlungsspielräume der Bundesregierung infolge der Wiedervereinigung und der durch den Vertrag von Maastricht geschaffenen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) grundlegend veränderten. So machte die desolate wirtschaftliche und soziale Lage in den neuen Bundesländern enorme Transferleistungen erforderlich: In den 1990er Jahren flössen weit über 100 Mrd. D M an öffentlichen Mitteln pro Jahr von West- nach Ostdeutschland - ein Vielfaches jener Beträge, die etwa ein post-sozialistisches Land wie Polen seit Mitte der 1990er Jahre von der Europäischen Union als jährliche „Vorbeitrittshilfen" erhielt. Der Umstand, dass die Transferzahlungen größtenteils über Kredite finanziert wurden, bewirkte einen massiven Anstieg der Staatsverschuldung: So wuchs der Verschuldungsgrad der öffentlichen Haushalte zwischen 1993 und 1997 von 48,0 auf 61,3 Prozent des BIP, während die jährliche Neuverschuldung, die 1989 noch unter ein Prozent des BIP gelegen hatte, nach der Wiedervereinigung die Drei-ProzentMarke überschritt und Ende der 1990er Jahre nur knapp unter jenem „kritischen" Wert blieb, der 1997 im Stabilitäts- und Wachstumspakt als rechtlich verbindliche Obergrenze für die W W U vereinbart wurde. Angesichts dieser außerordentlichen Belastungen setzte die Bundesregierung die für Beginn der 1990er Jahre angekündigten Steuererleichterungen aus. Weitere strukturelle Entwicklungen - eine kontinuierliche Zunahme an Firmeninsolvenzen, ein beträchtlicher Anstieg der bundesweiten Arbeitslosenrate auf etwa zehn Prozent der Erwerbsbevölkerung und eine „Explosion" der Sozialausgaben, die sich zwischen 1982 (524 Mrd. DM) und 1995 (1.179 Mrd. DM) verdoppelten - ließen Grundsatzreformen im Bereich der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik immer dringlicher erscheinen. Eine „Wende" im Sinne substanziellerer Reformpolitiken blieb jedoch aus. Vor diesem Hintergrund machte sich bald nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom Dezember 1990, die die CDU/CSU unter dem „Kanzler der Einheit" noch deutlich gewonnen hatte, Ernüchterung - insbesondere im Osten Deutschlands - breit. Im Vorfeld der 1994er Wahlen wurden die „Verschleißerscheinungen" der Regierung deutlich erkennbar und übertrafen die Wahlpräferenzen für die Opposition jene der Unionsparteien bei Weitem. Trotz eines scheinbar sicheren Regierungswechsels kam es aufgrund einer konjunkturellen Erholung dann jedoch zu einem politischen Stimmungsumschwung, der es der konservativ-liberalen Koalition ermöglichte, ihre Bundestagsmehrheit knapp zu behaupten. Allerdings verbesserte sich auch in der zweiten Legislaturperiode nach der Vereinigung die ökonomische und soziale Lage nicht nachhaltig, im Gegenteil. So prognostizierte die Steuerschätzung im Mai 1997 den öffentlichen Haushalten Mindereinnahmen von 50 Mrd. D M (für die beiden Folgejahre) und erreichte die Arbeitslosigkeit Ende 1997 mit nahezu fünf Mio. Unbeschäftigten ein neues Rekordhoch. Kohls Versprechen von „blühenden Landschaften" im Osten Deutschlands erwies sich nun endgültig als nicht realisierbar, der Begriff „Reformstau" wurde zum „Wort des Jahres 1997".

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen In der Rückschau ist es somit nicht erstaunlich, dass 1998 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine amtierende Regierung durch Wahlen abgelöst wurde, zumal die CDU/ CSU nicht nur programmatisch, sondern auch personell „verbraucht" schien. Da Kanzler Kohl es versäumt hatte, rechtzeitig einen innerparteilichen Führungswechsel einzuleiten, blieben der programmatische Wahlslogan der SPD „Innovation und soziale Gerechtigkeit" sowie Äußerungen ihres Kanzlerkandidaten Schröder, im Vergleich zu Kohl „nicht viel anders, aber vieles besser" zu machen, nicht ohne Wirkung auf die Wählerschaft. Mit Amtsantritt der rot-grünen Koalitionsregierung begann daher Ende 1998 die sechste (und bislang letzte) Entwicklungsphase. Nach anfanglichen Schwierigkeiten, die sich vor allem aus der Konkurrenzsituation zwischen Bundeskanzler Schröder und dem Finanzminister und SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine sowie aus Abstimmungsproblemen zwischen den Koalitionsparteien ergaben, brachte die neue Regierung bis Mitte 2001 eine Reihe wichtiger Politiken auf den Weg. Dazu zählten u. a. die „Wiederbelebung" des Bündnisses für Arbeit, die seit Langem ausstehende Entschädigungsregelung für ehemalige NSZwangsarbeiter, der Konsens zwischen Bundesregierung und AKW-Betreibern über den „Atomausstieg", eine gewisse „Rationalisierung" der Zuwanderungsdebatte im Zuge der Einführung von Green Cards für ausländische IT-Fachkräfte, die im Jahr 2000 verabschiedete Steuerreform (die im Gegensatz zur zuvor beschlossenen „Ökosteuer" Entlastungen für die Steuerzahler vorsah), der im Sommer 2001 erzielte Bund-Länder-Kompromiss über den föderalen Finanzausgleich sowie der Aufbau einer privatfinanzierten „dritten Säule" in der Altersvorsorge, der sog. „Riester-Rente". Angesichts der materiellen Probleme im Bereich der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stellten die benannten Maßnahmen jedoch bestenfalls „Einstiege" in dringend benötigte Strukturreformen dar. Gleichwohl erfuhr die rot-grüne Regierung angesichts einer konjunkturellen Erholung der Wirtschaft sowie einer durch Spendenaffären und Führungskämpfe geschwächten CDU/CSU-Opposition zunächst breite gesellschaftliche Unterstützung, schien Kanzler Schröder, der 1999 nach dem überraschenden Rücktritt Lafontaines auch den SPD-Vorsitz übernommen hatte, zeitweise geradezu „unangreifbar". Mit einer Verschlechterung der Wirtschaftslage und erneutem Anstieg der Arbeitslosigkeit geriet die rot-grüne Regierung dann jedoch zunehmend unter Druck. Der Einberufung einer Kommission zur Reform des Arbeitsmarktes, unter VW-Vorstand Peter Hartz, kam im Frühjahr 2002 dann eine durchaus positive Symbolwirkung zu, konnte die Regierung jedoch nicht aus ihrem Popularitätstief führen. Im Vorfeld der Bundestagswahl vom 22.09.2002 präsentierte sich die Union unter ihrem Spitzenkandidaten Edmund Stoiber (CSU) deutlich geschlossener als zuvor und lag bis zum Sommer in Wahlumfragen mit klarem Abstand vor der SPD. Angesichts der Flutkatastrophe in Ostdeutschland (im August) sowie der im September aufflammenden Diskussion, ob sich die Bundesrepublik an einer etwaigen kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Irak beteiligen sollte, gelang es Schröder jedoch, sowohl innenpolitische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren als auch sich mit seiner dezidierten Ablehnung eines Irak-Krieges wählerwirksam darzustellen. Dies gab den Ausschlag dafür, dass die SPD entgegen dem mittelfristigen Trend knapp vor der CDU/CSU als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorging und - dank Zugewinnen der Grünen - die bisherige Regierungskoalition fortsetzen konnte. Das Wahlergebnis erbrachte indes nicht den notwendigen „Aufbruch" zu nachhaltigeren Reformen; vielmehr dokumentierten, wie erst nach der Wahl bekannt wurde, die Fehlbeträge im Bundeshaushalt wie in den Sozialversicherungssystemen beträchtlich höhere Defizite, als von der Bundesregierung zuvor offiziell veranschlagt. Die Regierungskoalition bot angesichts dieser Ausgangssituation zunächst ein Bild konzeptioneller Verunsicherung, in dem sich durch eine Vielzahl öffentlich eingebrachter und wieder verworfener Einzelmaßnahmen

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2. Grundzüge des Gemeinwesens in F i n a n z - , W i r t s c h a f t s - u n d Sozialpolitik die fehlende Profilschärfe des S P D - W a h l p r o g r a m m s fortzusetzen schien. D e m k o r r e s p o n d i e r t e eine n a c h M e i n u n g s u m f r a g e n z u n e h m e n d e Erwartungsunsicherheit der Bürgerschaft, vor allem m i t Blick a u f die W i r t s c h a f t s e n t wicklung, d e n A r b e i t s m a r k t sowie die Leistungsfähigkeit der G e s u n d h e i t s - u n d R e n t e n systeme. In der Folgezeit musste die S P D desolate U m f r a g e e r g e b n i s s e sowie schwere Niederlagen in d e n hessischen u n d niedersächsischen L a n d t a g s w a h l e n v e r b u c h e n . E r s t m i t Vorlage d e r „Agenda 2010" ( M i t t e M ä r z 2003), die beträchtliche V e r ä n d e r u n g e n insbesondere im Bereich d e r sozialen Sicherungssysteme v o r s a h , suchte d e r K a n z l e r die p r o g r a m m a t i s c h e F ü h r e r s c h a f t in der innenpolitischen R e f o r m d e b a t t e wiederzugewinnen; allerdings erwies sich eine „ E i n s - z u - E i n s - U m s e t z u n g " d e r a n g e k ü n d i g t e n M a ß n a h m e n , die materiell a n ents p r e c h e n d e V o r h a b e n d e r Regierung Kohl in den J a h r e n 1997/98 erinnerten, angesichts des e r w a r t b a r e n W i d e r s t a n d s d e r G e w e r k s c h a f t e n sowie v o n Teilen d e r S P D - B a s i s als schwierig. G l e i c h w o h l w u r d e die zweite J a h r e s h ä l f t e 2003 als „ H e r b s t d e r R e f o r m e n " bezeichnet, nicht zuletzt a u f g r u n d a u c h i n n e r h a l b d e r O p p o s i t i o n intensiv g e f ü h r t e r D i s k u s s i o n e n über A l t e r n a t i v k o n z e p t e f ü r d e n U m b a u des Sozialstaates sowie einer Reihe paralleler Gesetzgebungsverfahren zu Schlüsselbereichen ( A r b e i t s m a r k t r e f o r m , Vorziehen der 3. Steuerreformstufe, G e m e i n d e f i n a n z r e f o r m , Rentenpolitik). U m f a n g u n d Reichweite d e r V e r ä n d e r u n g e n ließen j e d o c h keine substanziellen Abweichungen von einer „Politik des mittleren Weges" erkennen.

2. Grundzüge des Gemeinwesens Die Vereinigung der beiden d e u t s c h e n S t a a t e n h a t die Grundzüge des Gemeinwesens erheblich verändert. Dies gilt - n e b e n der Ausweitung des T e r r i t o r i u m s u n d d e r V e r ä n d e r u n g von Bevölkerungszahl wie B e v ö l k e r u n g s s t r u k t u r - f ü r n a h e z u alle wirtschaftlichen u n d sozialen I n d i k a t o r e n . Statt einer u m f a s s e n d e n Ü b e r s i c h t , f ü r die a u f spezifische Materialien zu verweisen ist 7 , werden im F o l g e n d e n einige f ü r d a s deutsche Regierungssystem wichtige E n t w i c k l u n g e n a n g e s p r o c h e n . D a b e i steht die Situation in d e n neuen B u n d e s l ä n d e r n gelegentlich im V o r d e r g r u n d ; dies erklärt sich z u m einen a u s d e n hier n o c h i m m e r dringlichen Ü b e r g a n g s - u n d A n p a s s u n g s p r o b l e m e n , z u m a n d e r e n a u s d e m B e m ü h e n , exemplarische A n f o r d e r u n g e n a n d a s Regierungssystem zu b e n e n n e n , d e n e n in d e n Folgekapiteln gesonderte A u f m e r k s a m k e i t gewidmet wird.

2.1. Territorium und Bevölkerung D a s Territorium d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d u m f a s s t h e u t e eine F l ä c h e von 357.021 k m 2 , von d e n e n 249.340 a u f d a s f r ü h e r e Bundesgebiet u n d 107.681 a u f d a s Gebiet der ehemaligen D D R entfallen. Administrativ gliedert sich diese F l ä c h e in 16 Bundesländer, 29 Regierungsbezirke (in B a d e n - W ü r t t e m b e r g , Bayern, Hessen, N i e d e r s a c h s e n , N o r d r h e i n Westfalen sowie Sachsen u n d S a c h s e n - A n h a l t ) , 323 L a n d k r e i s e u n d 116 kreisfreie S t ä d t e sowie 13.416 G e m e i n d e n . U n t e r s c h e i d e t m a n dabei e r n e u t n a c h f r ü h e r e m Bundesgebiet u n d

7 Die Zahlenangaben in den folgenden Abschnitten entstammen der neuesten Ausgabe des Statistischen Jahrbuchs für die Bundesrepublik Deutschland (2002), dem Statistischen Jahrbuch Deutscher Gemeinden sowie ausgewählten Sonderstatistiken des Statistischen Bundesamtes und einzelner Bundesministerien.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen dem Gebiet der ehemaligen DDR, wird deutlich, dass eine Territorialreform, wie sie im Westen Deutschlands in den 1960er und 70er Jahren durchgeführt wurde, für die neuen Bundesländer unausweichlich war. Die Zahlen von ursprünglich 7.622 Gemeinden (gegenüber 8.505 im wesentlich größeren früheren Bundesgebiet) und 189 Landkreisen (gegenüber 237 im Westen) belegen dies nachdrücklich. Heute finden sich als Ergebnis erster Ansätze zur Gebietsreform „nur" noch 4.909 Gemeinden, die Zahl der Landkreise hat sich mit 86 mehr als halbiert. Auch Länderzahl und deren Zuschnitt und Größe unterliegen einer kritischen Diskussion, die allerdings durch den negativen Ausgang des Volksentscheids zur Fusion Berlins mit Brandenburg (Mai 1996) an Bedeutung verloren hat. Gleichwohl wird von den meisten sachkundigen Beobachtern eine Länderneugliederung für unausweichlich gehalten, um künftig von etwa gleichgewichtigen Akteuren ausgehen zu können, die sich im europäischen Wettbewerb behaupten und die überkomplexe föderalstaatliche Willensbildung und Entscheidung erleichtern. Die Grundzüge des heutigen „räumlichen Gefüges" entstammen den Lebens-, Siedlungsund Wirtschaftsformen des agrargesellschaftlichen Deutschlands bis zum 19. Jahrhundert, das gegenwärtige Raumbild und die sozioökonomische Struktur der Entwicklung zur Industriegesellschaft, die sich abzeichnenden Probleme schließlich dem Übergang in eine nachindustrielle Gesellschaftsform und deren Art, sich im Raum einzurichten. Gegenüber der Agrargesellschaft, gekennzeichnet durch eine „stationäre Gleichverteilung" der Bevölkerung, ein geringes Bevölkerungswachstum, eine weitgehende Selbstversorgung und eine überwiegende Besiedlung auf dem Land, erbrachte der Industrialisierungsprozess ein erhebliches Mehr an Arbeitsplätzen, durch das die rasche Bevölkerungsvermehrung des 19. Jahrhunderts aufgefangen wurde, das aber auch immer größere Teile der Bevölkerung zu berufsbedingter Mobilität zwang. Die an agrarischer Flächenproduktion orientierte Siedlungsstruktur wurde dabei durch standortgebundene Verdichtungen allmählich aufgelöst, was die agrarischen Gebiete zwar von Bevölkerungsdruck entlastete, in den Verdichtungsräumen aber zu neuen Problemen führte; die Erstellung notwendiger Verkehrsinfrastrukturen, die Versorgung mit Rohstoffen und Energie, die Gewährleistung von Wohnraum und sozialer Sicherung erbrachten eine ungleichmäßige Verstädterung - bei unaufhaltsamer Urbanisierung. Mit ihr wurde vor allem in den Ballungs- und Verdichtungsräumen die unmittelbare Bindung des Menschen an Landschaft und Boden abgelöst, bildete sich eine neue Form des Stadt-Land-Gegensatzes heraus und kam es zu einer räumlichen Ungleichverteilung, die sich heute in einem Nebeneinander von großen Ballungs- und mittleren Verdichtungsräumen (rund 26 Mio. Bundesbürger, mithin fast jeder Dritte, leben derzeit in einer der 83 Großstädte Deutschlands) sowie eher bevölkerungsarmen und meist strukturschwachen peripheren Regionen widerspiegelt. Um die sich herausbildenden regionalen Disparitäten zu überwinden oder sie doch zumindest einzuschränken, kommt Raumordnungspolitiken in Deutschland eine gewisse Tradition zu. Sie wurden unmittelbar nach 1949 in der Förderung der gefährdeten Zonenrandgebiete wieder aufgenommen und in den 60er Jahren durch ein Bundesraumordnungsgesetz aktualisiert. Danach sollten Bund und Länder mit Blick auf die Flächengestaltung kooperieren, wobei allerdings im Zeitablauf deutlich wurde, dass sich Raumbedürfnisse nur schwer gegenüber sektoralen Politiken mit ihren meist konsistenteren Zielsystemen und ihrer stärkeren Lobby durchzusetzen vermögen. Deshalb gewannen Ansätze einer erweiterten Regionalpolitik in den vergangenen Jahren an Gewicht, die darauf abstellen, die endogenen Kräfte eine Region zu mobilisieren, etwa durch Unterstützung der am Ort bereits ansässigen Firmen und den Entwurf regionaler Entwicklungskonzepte. Diese Politik, in den alten Bundesländern mit einigem Erfolg praktiziert, ist nach wie vor nur begrenzt auf die 32

2. Grundzüge des Gemeinwesens neuen Länder zu übertragen, da es hier auch weiterhin um eher grundlegende Fragen des (Neu-)Aufbaus von Produktionskapazitäten und der Schaffung von Dienstleistungseinrichtungen geht. Anfang 2001 lebten auf dem Territorium der Bundesrepublik insgesamt fast 82,3 Mio. Menschen (davon etwa 67,3 Mio. im früheren Bundesgebiet und etwa 15,0 Mio. auf dem Territorium der ehemaligen DDR). 8,8 Prozent der Gesamtbevölkerung sind Ausländer, unter ihnen vor allem Türken, Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Italiener, Griechen und Polen. Der über viele Jahre ansteigende Zuzug ausländischer Arbeitnehmer und die zwischen 1990 und 1992 extrem stark zunehmende Zahl von Asylbewerbern (1990: 193.063 im Vergleich zu 1992: 438.191) führte dabei in der Bundesrepublik zu einer intensiven Debatte über die Ausgestaltung des Asylrechts. In ihr ging es darum, den von den Kommunen kaum mehr beherrschbaren Zuzug von Bewerbern vor allem aus osteuropäischen Ländern zu regeln. Auch trat am 1.1.1993 das Schengener Abkommen in Kraft, nach dem Asylbewerber künftig nur noch in einem der Unterzeichnerstaaten einen Asylantrag stellen dürfen. Eine Ablehnung des Antrags gilt als Ablehnung in allen anderen Unterzeichnerstaaten. Die Anträge sollen nur in demjenigen Land bearbeitet werden, in das der Asylbewerber einreist. Der Realisierung dieser Bestimmungen stand jedoch Artikel 16 G G entgegen, der jedem Asylbewerber, der nach Deutschland kam, die Prüfung seines Asylantrages garantierte - auch wenn andere Staaten einen Ablehnungsbescheid erteilt hatten. Nach langwierigen Auseinandersetzungen erzielten die Regierungsparteien CDU/CSU und F D P im Dezember 1992 den sog. „Asylkompromiss" mit der SPD, der den Weg für die am 28.6.1993 beschlossene Grundgesetzänderung ebnete. Kritiker des neu ins Grundgesetz eingefügten Artikels 16a beklagten, die Neuregelung gebe politisch Verfolgten kaum noch eine Chance, ihre Asylansprüche in Deutschland geltend zu machen. Vor allem die Regelungen für Asylbewerber aus sog. „sicheren Drittstaaten" und „sicheren Herkunftsländern" sowie die Eilverfahren an den Flughäfen führten im weiteren Verlauf zu einer Anhäufung von Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. In seinem Urteil vom 14. Mai 1996 bestätigte das Gericht diese drei „Eckpfeiler" der Neuregelung jedoch im Wesentlichen als verfassungskonform und mahnte lediglich Korrekturen an Detailregelungen an. Inzwischen haben die Diskussion um das Asylrecht und die damit verbundenen Maßnahmen insofern Wirkung gezeigt, als die Zahl der Asylsuchenden in den 1990er Jahren kontinuierlich zurückging und im Jahr 2001 bei nur noch 88.287 Personen lag. Eine weitere Veränderung der demographischen Ausgangssituation in Deutschland ergab sich aus starken Zuzügen von Aus- und Umsiedlern seit 1989/90, insbesondere aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. So betrug die Anzahl der deutschstämmigen Aussiedler Anfang der 1990er Jahre bis zu 400.000 jährlich, ist aber inzwischen wieder deutlich gesunken (2001: 98.484). Darüber hinaus haben sich seit der Vereinigung völlig neue Muster der Binnenwanderung herausgebildet, die erhebliche regionale Umverteilungen mit sich brachten. Prägend war dabei zunächst die hohe Abwanderung jüngerer und besser qualifizierter Menschen aus den neuen in die alten Bundesländer. Insgesamt zogen seit 1990 rund 2,5 Mio. Menschen von Ost- nach Westdeutschland. Dabei steht dem zwischenzeitlichen Absinken von 388.000 (1989) auf 166.000 (1996) ein erneuter Anstieg der Abwandererzahl auf 236.000 (2001) gegenüber. Die Zahl derjenigen, die zwischen 1990 und 2001 von den alten in die neuen Länder umzogen, lag insgesamt bei etwa 1,5 Mio. Menschen, d.h. jährlich fast 150.000 Personen. Unter ihnen finden sich vor allem Rückwanderer und westdeutsche Verwaltungs- und Wirtschaftsfachleute. Inzwischen wird von einem „normalen" Wanderungsprozess gesprochen, wobei eher periphere, strukturschwache Regionen weiter zu den „Verlierern" zählen (Sozialreport, 2002, S. 38ff.).

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Trotz der benannten Entwicklungen ist langfristig mit einem beträchtlichen Rückgang der Gesamtbevölkerung zu rechnen. Aufgrund anhaltend niedriger Geburtenhäufigkeit sowie einer weiteren Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung gehen offizielle Prognosen davon aus, dass sich die Einwohnerzahl bis 2050 von derzeit 82 Mio. auf etwa 65 bis 70 Mio. verringern wird (vgl. Statistisches Bundesamt, 2000). Gleichzeitig wird sich das Zahlenverhältnis zwischen den Generationen weiter zugunsten der älteren Jahrgänge verschieben: Gab es im Jahr 1950 noch etwa doppelt so viele Personen unter 20 Jahren wie über 59-jährige, wird 2050 ein „Junger" zwei „Alten" gegenüberstehen. Mithin wird sich die „Alterspyramide" - bereits heute kaum mehr als solche erkennbar - tendenziell umkehren. Die gravierenden Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, die noch immer überwiegend aus Lohnarbeit finanziert werden, liegen auf der Hand. Eine Kompensation dieser absehbaren Entwicklung scheint nur durch verstärkte Zuwanderung aus dem Ausland möglich - eine Konsequenz, die politisch äußerst kontrovers diskutiert wird, wie nicht zuletzt der Konflikt um das gescheiterte Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung (2002) deutlich machte (s. Kapitel IV., 4.2). 2.2. Wirtschafts- und Sozialstruktur Die Wirtschafts- und Sozialstruktur des vereinigten Deutschland ist nach wie vor von Disparitäten geprägt, wenn auch Angleichungsprozesse nicht zu übersehen sind. So hat der Anstieg der Nettoeinkommen in den vergangenen Jahren weder im früheren Bundesgebiet noch in den neuen Bundesländern ausgereicht, um die erhöhten Lebenshaltungskosten aufzufangen. Auch wenn einzelne Beschäftigtengruppen, wie die Angestellten in den neuen Bundesländern, reale Einkommensverbesserungen erzielen konnten, führten bei den weitaus meisten lohnabhängigen Einkommensbeziehern in West- wie Ostdeutschland höhere Steuern, Sozialabgaben und Verbraucherpreise zu einer Verschlechterung der realen Einkommenssituation. Dies wird insbesondere an der Entwicklung der Verbraucherpreise in Ostdeutschland deutlich. Hier hat sich der Preisindex für die Lebenshaltung bis zum Ende des zweiten Quartals 2002 schon um beachtliche 36,2 Prozent gegenüber 1991 erhöht. Schlug in den Jahren bis 1995 vor allem der Anstieg der Mieten zu Buche, so trugen zuletzt die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 15 auf 16 Prozent sowie die „gestufte" Einführung der Ökosteuer (April 1999, Januar 2000 und Januar 2001) zur Verteuerung der Lebenshaltung bei. Darüber hinaus stiegen gegenüber 1994/95 vor allem die Lebenshaltungskosten in den Bereichen Bildung (+ 35,8 Prozent), Gesundheitspflege (+ 23,8 Prozent) sowie Wohnung und Betriebskosten (+21,3 Prozent; Sozialreport 2002, S. 123 ff.). Wie in den 1990er Jahren erwies sich der Außenhandel auch in den frühen 2000er Jahren als wichtige Stütze der volkswirtschaftlichen Entwicklung. Bei rezessivem Welthandelsvolumen 2001 beitrug der Zuwachs des deutschen Warenexports 5,1 Prozent, was zum höchsten Handelsbilanzüberschuss in der Geschichte der Bundesrepublik (108,7 Mrd. €, d.h. 5,5 Prozent des BIP) führte. Erstmals seit der Wiedervereinigung wies der Leistungsbilanzsaldo 2000 wieder einen positiven Wert auf, ein Trend, der sich 2001 fortsetzte. Besonders eindrucksvoll die Exportzunahme des Verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland, die mit 13,8 Prozent (2001) deutlich über dem westdeutschen Wert von 2 Prozent (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2002, S. 92 ff.) lag. Auch wenn man langfristig davon ausgehen kann, dass das „Aufbauwerk Ost" gelingt, ist - trotz der insgesamt positiven Entwicklung der vergangenen Jahre - die Diskrepanz zwischen der Wirtschaftskraft Ost- und Westdeutschlands noch immer beträchtlich·, in Teilbereichen finden sich zudem wieder zunehmende Verwerfungen. So ist ein selbsttragendes 34

2. Grundzüge des Gemeinwesens wirtschaftliches Wachstum in Ostdeutschland nach wie vor nicht erkennbar, bleibt der Produktivitätsabstand erhalten und ergibt sich für absehbare Zeiträume ein weiterhin beträchtlicher Bedarf an Transferleistungen. Zudem hat sich der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands gegenüber den alten Bundesländern in den letzten Jahren deutlich verlangsamt. Hatte sich bis 1995 das reale Bruttoinlandsprodukt in den neuen Bundesländern jährlich zwischen 7 und 12 Prozent erhöht und lag damit deutlich über dem Niveau der westlichen Länder, näherten sich die Zuwachsraten zwischen West und Ost Mitte der 1990er Jahre bei etwa 2 Prozent an; 1998 wuchs das westdeutsche BIP erstmals schneller als das ostdeutsche, im Jahr 2001 wies letzteres sogar ein leichtes Negativwachstum (-0,1 Prozent) auf (vgl. Sachverständigenrat, 2002, S. 177ff.). Die nachlassende Dynamik im wirtschaftlichen Außiolprozess der neuen Länder ist zwar auch vor dem Hintergrund der Konjunkturschwäche in den alten Ländern sowie in der Europäischen Union zu sehen und verweist auf den starken Verflechtungsgrad zwischen den Wirtschaftsräumen. Als eigentliche Ursache für die Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung gelten jedoch Wachstumsprobleme: Die Investitionstätigkeit hat trotz des hohen Förderungsvolumens spürbar nachgelassen - ein Tatbestand, der gerade angesichts der hohen Arbeitslosigkeit Besorgnis auslösen muss. Im Jahr 2001 hatte der Kapitalstock im Unternehmenssektor je Einwohner erst etwa 66 Prozent des westdeutschen Niveaus erreicht. Obwohl Verarbeitendes Gewerbe und Baugewerbe in den ersten Jahren nach der Vereinigung überdurchschnittlich zur Steigerung des Bruttoinlandproduktes beigetragen hatten, darf ihre Entwicklung, vor allem die des Verarbeitenden Gewerbes, nicht den Blick darauf verstellen, dass der Anteil der Industrie an der gesamten Wirtschaftsleistung nach wie vor relativ niedrig ist. Entfielen 2001 in den alten Bundesländern etwa 23 Prozent der Wertschöpfung auf das Verarbeitende Gewerbe, betrug der Anteil in den neuen Ländern nur 15 Prozent. Sektoral betrachtet ist die Strukturkrise des ostdeutschen Baugewerbes als wichtigste Ursache der Wachstumsprobleme zu nennen. Der (auch über Sonderabschreibungsmöglichkeiten mitverursachte) Bauboom in den neuen Ländern bewirkte zwar bis 1995 einen erheblichen Anstieg sowohl der Bruttowertschöpfung (Wachstumsraten von bis zu 18 Prozent) als auch der Erwerbstätigenzahl (von 0,7 auf 1,1 Mio.), führte jedoch gleichzeitig zu strukturellen Überkapazitäten. Im Jahr 2001 lag die Relation von Baubeschäftigten pro 100 Einwohner in Ostdeutschland mit 5,1 noch immer fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland (2,7). Ähnliches gilt für den Anteil der Bruttowertschöpfung des Baubereichs in Ostdeutschland, der zwar stark gesunken ist (1994: 17,2 Prozent; 2001: 9,4 Prozent), sich aber nach wie vor erheblich vom westdeutschen Wert (2001: 4,5 Prozent) unterscheidet. Mithin ist eine weitere „Konsolidierung" des ostdeutschen Baubereichs mit einem entsprechenden Abbau von Arbeitsplätzen zu erwarten (Sachverständigenrat, 2002, S. 180). Die generellen Aussagen zur wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands schließen freilich regionale Differenzierungen nicht aus. Diese kommen nicht zuletzt in unterschiedlichen Arbeitsmarktdaten zum Ausdruck. Aus ihnen lässt sich ein wirtschaftliches SüdNord-Gefälle ablesen: Die südlichen und süd-westlichen Gebiete der ehemaligen D D R (einschließlich der Ballungsräume Dresden, Leipzig und Halle) verfügen vor allem durch das Verarbeitende Gewerbe und dessen vergleichsweise günstige Entwicklung über mehr Wirtschaftskraft und daher niedrigere Arbeitslosenraten als die nördlichen bzw. nordöstlichen, weitgehend agrarisch geprägten Gebiete. In dieses Bild passt, dass die traditionellen Standorte des Verarbeitenden Gewerbes einen Großteil der Investitionen anziehen und die Gewerbeanmeldungen in der Industrie überdurchschnittlich hoch sind, während die Investitionstätigkeit im Nord- und Südosten sehr schwach ist. In den Jahren seit 1991 erfolgte ein massiver Arbeitsplatzabbau, wobei nicht mehr nur alte und unrentable Arbeitsplätze auf-

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen gegeben und zu wenig neue geschaffen wurden; auch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, unternehmerische Fehlentscheidungen und nicht eingehaltene Investitionszusagen wirkten sich negativ aus. 2001 lag die Zahl der Beschäftigten in den neuen Bundesländern mit 3,4 Mio. um etwa ein Drittel unter der von 1989, während sie in Westdeutschland im selben Zeitraum von 28,5 auf 32,5 Mio. stieg (Sozialreport, 2002, S. 73). Dieser Rückgang war mit einer auffallenden Veränderung der Erwerbstätigenstruktur verbunden. Am stärksten sah sich das Produzierende Gewerbe betroffen. Verfügten hier 1989 45 Prozent aller Beschäftigten über einen Arbeitsplatz, waren es 1994 nur noch 33 Prozent. In der Landwirtschaft, zu DDR-Zeiten mit Arbeitskräften überbesetzt, reduzierte sich die Beschäftigtenzahl sogar von 9,9 Prozent (1991) auf 2,4 Prozent (2001). Im Dienstleistungssektor, traditionell vernachlässigt, erhöhte sich der Beschäftigtenanteil von 45,1 Prozent im Jahr 1989 auf 64,6 Prozent im Jahr 2001. Die Zahl der Selbständigen stieg in Ostdeutschland seit Beginn der 1990er Jahre ebenfalls an. Waren 1992 6,3 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung selbständig, so lag der Anteil 2001 bei 9,5 Prozent und damit nur mehr einen Prozentpunkt unter dem Selbständigenanteil in Westdeutschland {ebd., S. 75). Den nach wie vor größten Problembereich stellt der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland dar. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen war zwar Mitte der 1990er Jahre rückläufig, seit 1997 stagniert sie jedoch auf einem Niveau von etwa 1,4 Mio. (vgl. Sachverständigenrat, 2002, S. 182 ff.). Demnach beträgt die offizielle Arbeitslosenquote in den neuen Bundesländern derzeit etwa 18 Prozent (2002) und liegt damit mehr als doppelt so hoch wie in den alten Ländern (7,9 Prozent). Die einzelnen Wirtschaftssektoren sind hiervon in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Während sich der Stellenabbau im bereits angesprochenen Baugewerbe fortsetzt, blieben die Stellen im Dienstleistungsbereich seit 1991 - bei rückläufigem Anteil des öffentlichen Bereiches - auf etwa demselben Niveau. Positiv hingegen stellt sich die Beschäftigungsentwicklung in den Bereichen Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleistung sowie im Handel, Gastgewerbe und Verkehrsbereich dar. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die mit der Vereinigung der beiden Staaten verbundene Umstellung nicht nur ökonomische Härten erbrachte, sondern auch das in der Arbeitsgesellschaft der DDR erworbene Selbstverständnis berührte, nach dem Erwerbsarbeit nicht nur den Lebensunterhalt sichert, sondern auch eine zentrale Stellung im Wertekanon des Individuums einnimmt. Dementsprechend wies die DDR mit 92 Prozent eine deutlich höhere Beschäftigungsrate auf, wobei die geschlechtsspezifischen Quoten ähnlich hoch waren (Männer 94 Prozent, Frauen 89 Prozent). Wurde zunächst vor allem Frauen abverlangt, sich von diesem Wertemuster zu trennen, betrifft die hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland inzwischen beide Geschlechter gleichermaßen. So betrug der Anteil der Frauen an der Zahl der Arbeitslosen im Juli 2002 52 Prozent gegenüber 65 Prozent noch im Jahr 1992 (Sozialreport, 2002, S. 96). Im Finanzierungsbereich schließlich stellt sich die Frage nach einer weiteren Sanierung Ostdeutschlands, und zwar sowohl einnahmen- wie ausgabenseitig (Sachverständigenrat, 2002, S. 187ff.). Blickt man auf die finanzielle Lage der ostdeutschen Länder und Gemeinden, fallt zunächst das beträchtliche Ausmaß an öffentlicher Verschuldung auf, das mit 5.404 € pro Einwohner (2001) deutlich höher liegt als in Westdeutschland (4.901 €). Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen sich allerdings große regionale Unterschiede, etwa zwischen Sachsen, das die zweitgeringste Verschuldungsrate bundesweit aufweist (3.704 €), und Sachsen-Anhalt, das mit einem Schuldenstand von 6.874 € pro Kopf das Schlusslicht unter den Flächenländern bildet. Gleichzeitig ist die Finanzkraft der Bundesländer höchst unterschiedlich. Dies zeigt exemplarisch die Steuerdeckungsquote für 2002 (Steuereinnahmen vor Zuweisungen und Zuschüssen seitens des Bundes, durch Länderfinanzausgleich

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2. Grundzüge des Gemeinwesens u.a.m.), die von Hamburg (78,3 Prozent) und den westdeutschen Flächenländern Nordrhein-Westfalen (75,8), Bayern (73,8) und Hessen (73,5) bis zu den ostdeutschen Ländern Brandenburg (41,9), Sachsen-Anhalt (41,6), Mecklenburg-Vorpommern (40,1) sowie Berlin (36,4) reicht. Die noch immer anhaltende Abwanderung aus den ökonomisch rückständigsten Regionen verschärft die Einkommenssituation der betreffenden Länder auch dadurch, dass zahlreiche Verteilungsregeln im Rahmen des Länderfinanzausgleichs einwohnerbasiert sind. War seit Mitte der 1990er Jahre ein deutlicher Konsolidierungskurs der ostdeutschen Länderfinanzen erkennbar, erhöhte sich das Haushaltsdefizit 2001 und erneut 2002 aufgrund der prekären Wirtschaftslage und damit einhergehender Steuerausfälle. Einnahmenseitig bewirken die Bestimmungen des Solidarpakts I (insbesondere die sog. SonderbedarfsBundesergänzungszuweisungen), Mischfinanzierungstatbestände sowie Strukturfondsmittel der Europäischen Union, dass die neuen Bundesländer pro Einwohner immer noch über etwa 10 Prozent mehr Einnahmen verfügen können als die westdeutschen Flächenländer. Als Hauptproblem erweist sich mithin die Struktur der öffentlichen Ausgaben. Dabei steht unverändert überdurchschnittlichen Personal- und konsumptiven Ausgaben in Ostdeutschland ein merklicher Rückgang an eigenfinanzierten Investitionen gegenüber. Diese betrugen 1995 noch 925 € pro Einwohner, 2001 hingegen nur mehr 565 €. Angesichts der Tatsache, dass die im Rahmen des Solidarpakts II vereinbarten Transferleistungen nach Ostdeutschland ab 2006 bzw. 2009 sukzessiv abgebaut werden, stehen insbesondere die ostdeutschen Kommunen vor dem Problem, bei geringer Steuerkraft und abgeschmolzenen „externen" Hilfen den hohen Investitionsbedarf insbesondere im Infrastrukturbereich decken zu müssen. Auch mit Blick auf die Sozialstruktur Deutschlands bleibt dreizehn Jahre nach der Wiedervereinigung eine gesonderte Betrachtung der west- und der ostdeutschen Entwicklung berechtigt. Obwohl sich inzwischen die DDR-Gesellschaft in vielen Bereichen an jene der alten Bundesrepublik angepasst hat, wirken die aus vier Jahrzehnten der Teilung resultierenden Unterschiede noch immer nach. Zugleich werden für Gesamtdeutschland gravierende Veränderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen durch Europäisierungs- wie Internationalisierungsprozesse erkennbar (vgl. hierzu u.a. R. Geißler, 20023; IV. Glatzerl I. Ostner, 1999; B. Schäfers/ W. Zapf, 2001). Die „nachholende Modernisierung im Zeitraffertempo" (vgl. R. Geißler in: B. SchäfersI W. Zapf, 2001, S. 673), die die neuen Bundesländer seit 1989/1990 durchlaufen, hat die für die ehemalige D D R konstatierten „Modernisierungsdefizite" weitgehend kompensiert, die wenigen „Modernisierungsvorsprünge" hingegen reduziert. In Bezug auf letztere wurde das zu DDR-Zeiten erreichte hohe Niveau der Gleichstellung der Frau nicht nur durch einen zunächst überproportionalen Abbau von Frauenarbeitsplätzen, sondern auch durch das westdeutsche, eher traditionell geprägte Gesellschaftsbild in Frage gestellt. Die ehemaligen Modernisierungsdefizite Ostdeutschlands haben demgegenüber an Bedeutung verloren. So hat sich der Unterschied im Lebensstandard nicht nur mit Blick auf die Einkommen deutlich vermindert, auch die Versorgung mit Gütern, Dienstleistungen, Wohnraum, Leistungen des Gesundheitswesens u.a.m. hat sich spürbar verbessert. Vor allem aber ist die die D D R Gesellschaft kennzeichnende Zentralisierung und Monopolisierung der politischen Macht durch die Partei- und Staatsführung beendet, sind die mit ihr verknüpften sozialistischen Dienstklassen aufgelöst, hat das Ausmaß politisierter, Loyalität einfordernder Statuszuweisung und die damit verbundene Konservierung der sozialen Struktur keine Bedeutung mehr. Die ehemals nivellierte Gesellschaft, die sich durch eine übermäßige Einebnung schichten- und klassenspezifischer Ungleichheiten charakterisierte und darin eine Überlegenheit 37

I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen gegenüber kapitalistisch verfassten Systemen sah (die in der eigenen Gesellschaft vorhandenen Ungleichheiten jedoch negierte oder ideologisch rechtfertigte), weist allerdings neue, für viele noch immer ungewohnte und nur schwer zu akzeptierende Differenzierungen auf (vgl. zu Folgendem v. a. R. Geißler, 2002). Während sich bei insgesamt steigendem Wohlstand die Verfügung über materielle Ressourcen vergrößert hat, wurden ehemals sozial privilegierte Gruppen, insbesondere Arbeiter und Bauern, zu materiellen wie ideellen „ Transformationsverlierern". Darüber hinaus waren in den neuen Bundesländern Angleichungsprozesse an die westdeutsche Gesellschaft auch mit Blick auf eine zunehmende Heterogenität der Lebensstile zu beobachten: eine „nachholende Pluralisierung und Individualisierung" sowie die Herausbildung einer „tertiären Mittelschichtengesellschaft" anstelle der „realsozialistischen Arbeiter- und Bauernmacht". Bevölkerungsgruppen, die in der DDR sozial „am Rande standen", wie etwa ein großer Teil der Rentner, profitieren überproportional von den neuen Verhältnissen; andererseits gehören - wie in den westlichen Bundesländern - insbesondere Alleinerziehende, Kinderreiche und Langzeitarbeitslose zu jenen, die in das soziale Abseits zu geraten drohen. Schließlich erfuhr die Sozialstruktur Ostdeutschlands eine „vertikale Dynamisierung" durch die soziale Öffnung und Vielfalt der Bildungswege, vor allem der weiterführenden Bildungsangebote. In dem Maße, in dem spätestens in den frühen 1970er Jahren die Selbstrekrutierung der sozialistischen Intelligenz zum dominierenden Muster einer sich reproduzierenden Sozialstruktur wurde, sanken die Chancen auf höhere Bildung für die einstmals geförderten Arbeiter- und Bauernkinder, verminderte sich die vertikale Mobilität und erstarrte die Sozialstruktur (vgl. H. Solga, 1995). Da jetzt weder Kennziffern zentraler staatlicher Planung noch Kriterien politischer Zuverlässigkeit die Bildungsnachfrage hemmen, profitieren von den neuen Bildungsmöglichkeiten auch die Kinder jener Schichten, die zu DDR-Zeiten entgegen dem ideologischen Anspruch auf ihren Platz im sozialen Gefüge verwiesen wurden. Mit dieser „Bildungsexpansion" geht jedoch eine „ Bildungsinflation" einher, deren problematische Konsequenzen in Westdeutschland spätestens ab Ende der 1980er Jahre zunehmend erkennbar wurden. Dass sich der Anteil der Akademiker an der Erwerbsbevölkerung im Vergleich zu den 1950er Jahren verdreifacht, das formale Bildungsniveau mithin beträchtlich vergrößert hat, erleichterte die Berufs- bzw. Zukunftsplanung des Einzelnen nicht, im Gegenteil: Nicht nur werden nun für vergleichbar ähnliche Tätigkeiten höhere formale Bildungsabschlüsse vorausgesetzt, sondern es sind auch gleiche Berufspositionen mit weniger (materiellen wie ideellen) Gratifikationen verbunden. „Höhere Bildungszertifikate sind also immer mehr Voraussetzung, aber immer weniger Garantie für einen höheren Sozialstatus" (vgl. R. Geißler, 2001, S. 674). Im Vergleich zu Ostdeutschland wurde die westdeutsche Sozialstruktur von der Vereinigung nur am Rande berührt. Am deutlichsten machten sich für einen Großteil der Bevölkerung materielle Einschränkungen bemerkbar, während einer kleinen Minderheit zusätzliche soziale Chancen erwuchsen - etwa durch die Übernahme von Leitungspositionen in der Verwaltung und der Privatwirtschaft der neuen Bundesländer sowie durch die Rückerlangung von Eigentum. Ansonsten blieben die wesentlichen Merkmale der bundesdeutschen Sozialstruktur erhalten: ein (allerdings nur schwach ausgeprägter) weiterer Abbau von sozialen Unterschieden zwischen Männern und Frauen; die bereits erwähnte „ Überalterung" der Gesellschaft; sowie die angesprochene „Pluralisierung der Lebensformen", die durch deutliche Ehemüdigkeit, hohe Scheidungsquoten, einen Anstieg der Ein-PersonenHaushalte sowie einen hohen Anteil nicht ehelich geborener Kinder charakterisiert ist. Für die Erwerbsarbeit gilt, dass die Erwerbsquote aufgrund der gegenwärtigen Altersstruktur sowie die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen leicht angestiegen ist. Hinzu kommt 38

2. Grundzüge des Gemeinwesens eine drastische Verringerung der Jahresarbeitszeit, die zusammen mit dem späten Eintritt in und dem frühen Ausscheiden aus dem Berufsleben dazu geführt hat, dass Erwerbstätige heute einen wesentlich geringeren Anteil ihrer Lebenszeit mit Erwerbsarbeit verbringen als noch in den 1960er Jahren. Darüber hinaus werden die Arbeitszeiten und die Anforderungen an den Arbeitsort flexibler, gewinnen Teilzeitbeschäftigungen an Gewicht, werden Beschäftigungsverhältnisse insgesamt vielgestaltiger. Schließlich ist aufgrund der schon lange anhaltenden Verschiebungen in den Wirtschaftssektoren und der Berufsstruktur die Dienstleistungsgesellschaft deutlicher hervorgetreten; seit 1987 übersteigt die Zahl der Angestellten die der Arbeiter. All das hat zur Herausbildung neuer Formen von sozialer Ungleichheit beigetragen, differenziert nach Beruf, Geschlecht, Nationalität, Alter und Wohnregion. Kennzeichnend ist dabei weder der „klassische" Gegensatz zwischen einem großen, verelendeten „Proletariat" und einer kleinen, aber mächtigen Bourgeoisie, und auch nicht mehr das industriegesellschaftliche Gefälle zwischen einer benachteiligten Arbeiterschicht und einer großen Mittelschicht von Angestellten, Beamten und kleinen Selbständigen. Strukturtypisch sind vielmehr einerseits die Vorteile des Mittelstandes, der die große Bevölkerungsmehrheit umfasst, insgesamt recht gut gestellt lebt, aber sehr unterschiedliche Kombinationen von Vor- und Nachteilen aufweist, und andererseits die Anhäufung von Nachteilen in unterschiedlichen Rand- und Problemgruppen (Arme, Asylbewerber, ausländische Arbeitnehmer, Langzeitarbeitslose und Obdachlose, alleinerziehende Frauen, zunehmend auch Kinder und Jugendliche). Schließlich wird die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Bundesrepublik immer stärker von europäischen und internationalen Entwicklungen beeinflusst. Zunehmende Standortflexibilität großer Unternehmen inner- und außerhalb des europäischen Binnenmarktes sowie die weltweite Mobilität von Investitionskapital betreffen West- wie Ostdeutschland gleichermaßen. So erklärt sich, dass die öffentliche Diskussion über die Folgen der Wiedervereinigung seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend durch eine Debatte um den „Standort Deutschland' verdrängt wurde. Die verschärften Verteilungskämpfe zwischen den Tarifparteien, zwischen Staat und Wirtschaft, aber auch zwischen Bund und Ländern wurden und werden auch unter dem Aspekt diskutiert, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland aufgrund zu hoher Löhne und Gehälter, zu hoher Lohnnebenkosten und kontinuierlich anwachsender Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme an Attraktivität verloren habe. Die seit 2001 zunehmend krisenhafte Wirtschaftsentwicklung, die zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig beträchtlichen Steuerausfällen und Defiziten der Sozialversicherungskassen führte, verstärkte den Druck, die wirtschafts- und sozialpolitischen Binnenstrukturen in Deutschland nachhaltig zu reformieren.

2.3. Handlungsfelder deutscher Innenpolitik Sind mit der Wirtschafts- und Sozialstruktur zentrale Kontextbedingungen der innenpolitischen Entwicklung angesprochen, sollen diese nun auf aktuelle Probleme in ausgewählten Politikfeldern (Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, Finanz- und Steuerpolitik, soziale Sicherung, Bildungs- und Forschungspolitik) bezogen werden. Dabei zeigt sich, dass die benannten Herausforderungen meist auch eine europäische bzw. internationale Dimension aufweisen, primär jedoch von strukturellen Charakteristika des Regierungssystems geprägt sind. Angesichts der gegenwärtigen sozioökonomischen Entwicklungen besteht unter den politisch Handelnden ein zunehmend breiter Konsens, nach dem grundlegende Reformen in 39

I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik unabweisbar sind. Die wichtigsten Kennziffern sprechen eine eindeutige Sprache: Während die Wachstumsprognosen seitens der Bundesregierung und führender Wirtschaftsforschungsinstitute kontinuierlich nach unten korrigiert werden - so diagnostizierte das Kieler Institut für Weltwirtschaft für das erste Halbjahr 2003 eine leichte Rezession und für das gesamte Jahr ein Nullwachstum - , hat sich die strukturelle Arbeitslosigkeit (gemessen am Anteil der Langzeitarbeitslosen) verfestigt und steigt die Zahl der Erwerbslosen konjunkturbedingt weiter an. Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf besteht vor allem in drei Bereichen (s. W. Franz, 2003): einer Überprüfung des arbeitsrechtlichen Regelungsbestandes, einer Senkung der Lohnnebenkosten, d. h. der paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierten sozialen Sicherungsbeiträge, sowie steuerlichen Entlastungen für Unternehmen. Unter der erstbenannten Kategorie geht es vor allem um die Rückführung von arbeitsrechtlich festgeschriebenen „Rigiditäten", wie der Bindungswirkung von Flächentarifverträgen, des Kündigungschutzes und gesetzlicher Auflagen für befristete Beschäftigungsverhältnisse. Die im OECD-Vergleich außerordentlich hohe Regulierungsdichte des bundesdeutschen Arbeitsmarkts garantiert zwar ein beträchtliches Ausmaß an Absicherung für Beschäftigte, wirkt jedoch zugleich hemmend auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze, vor allem in sich dynamisch entwickelnden Wirtschaftssektoren. Aus ökonomischer Sicht sinnvolle Deregulierungsmaßnahmen stoßen allerdings auf rechtliche wie politische Hindernisse, die den Reformbemühungen der Regierung Schröder entgegen stehen. So beließ es der Bundeskanzler, der nach Vorstellung seiner „Agenda 2010" seitens der SPD-Linken und der Gewerkschaften unter Druck geriet, lediglich bei dem Appell, eine Öffnung der Tarifverträge für innerbetriebliche Sondervereinbarungen zuzulassen. Stärkere Wirkung erhofft sich die rot-grüne Bundesregierung von der geplanten Lockerung des Kündigungsschutzes, die jedoch materiell eher bescheiden ausfallen dürfte, da sie auf Kleinbetriebe mit bis zu fünf Mitarbeitern beschränkt bleiben soll. Bei der anvisierten Reform der Handwerksordnung, nach der der „Meisterzwang" in der Mehrzahl der zugehörigen Berufe abgeschafft werden soll, trifft Wirtschaftsminister Wolfgang Clement zwar auf den Widerstand betroffener Interessenvertreter wie des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, erfährt aber auch externe Unterstützung, so seitens der EUKommission, die das „strukturkonservative Standesrecht" deutscher Handwerker und Freiberufler als mit dem Binnenmarkt unvereinbar begreift und entsprechende Veränderungen anmahnt. Mitte 2003 prüfte etwa die Generaldirektion Wettbewerb, ob die Gebührenordnungen deutscher Notare und Architekten mit den kartellrechtlichen Auflagen der EU vereinbar sind. Mit Blick auf die Senkung der Lohnnebenkosten besteht kein direkter, rechtlich vermittelter Anpassungsdruck von EU-Seite, da die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme den Mitgliedstaaten vorbehalten ist (zu gleichwohl indirektem, finanzpolitisch begründetem EU-Einfluss vgl. unten). Unabweisbare Reformbedarfe ergeben sich hier aus den Strukturproblemen des „konservativen" Wohlfahrtstaats, der die Versicherungsleistungen in hohem Maße an den „Faktor Arbeit" gekoppelt hat (s. M. G. Schmidt, 1998). Angesichts des zunehmenden Anteils an Rentnern und gleichzeitig wachsender Arbeitslosigkeit hat dies dazu geführt, dass die Lohnnebenkosten seit Anfang der 1990er Jahre von durchschnittlich 35 auf etwa 42 Prozent gestiegen sind. Diese Entwicklung hat dazu beigetragen, dass in personalintensiven Bereichen des tertiären Sektors kein nachhaltiges Beschäftigungswachstum mehr erkennbar ist. Politische Steuerungsversuche beschränkten sich allerdings bislang auf punktuelle Maßnahmen, wie die von der rot-grünen Koalition eingeführte „Öko-Steuer" oder die sog. „Riester-Rente", die die umlagefinanzierte Altersversorgung durch eine private Kapitaldeckungskomponente zu ergänzen sucht. Ein Systemwechsel erscheint dringend

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2. Grundzüge des Gemeinwesens erforderlich, jedoch unter den bestehenden Konsenshürden schwer durchsetzbar, da erworbene Ansprüche und Besitzstände reduziert bzw. aufgegeben werden müssten. Steuerliche Entlastungen schließlich wären zur Belebung der Konjunktur angezeigt, da die Bundesrepublik im internationalen Vergleich auch nach der Steuerreform von 1999 ein „Hochsteuerland" bleibt (s. W. Franz, 2003, S. 112). Dadurch entstehende Einnahmenausfälle eröffneten allerdings nicht nur einen Zielkonflikt mit den zuvor benannten Maßnahmen, sondern wären angesichts der desaströsen Finanzlage der öffentlichen Haushalte sowie der Auflagen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes nur durch substanzielle, politisch konfliktträchtige Ausgabenkürzungen zu kompensieren. Eine nachhaltige Reform der Arbeitsmarktpolitik erscheint angesichts unübersehbarer Effizienz- wie Effektivitätsprobleme unverzichtbar. So ist für die aktive Arbeitsmarktpolitik des letzten Jahrzehnts eine klar prozyklische Ausgabenentwicklung - zunehmende Ausgaben bei niedriger, geringere bei steigender Arbeitslosigkeit - festzustellen, was weniger auf politischen Gestaltungswillen als vielmehr auf vereinigungsbedingte Kosten bzw. die Fortschreibung des bestehenden Finanzierungssystems zurückzuführen ist (vgl. S. BlanckeU. Schmid, 2003). Mit Blick auf die Entwicklung der Ausgabenstruktur signalisieren erst die jüngsten Bemühungen der Bundesanstalt für Arbeit (BA) eine gewisse Abkehr von der klassischen Förderung des „zweiten Arbeitsmarkts": So verringerte sich die Zahl der an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) Teilnehmenden im Mai 2003 um knapp 23 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, entsprechende Weiterbildungsprogramme verzeichneten im selben Zeitraum einen Teilnehmerrückgang von 27 Prozent. Die letztgenannten Veränderungen sind unmittelbares Ergebnis jener Reformbemühungen, die nach Bekanntwerden gefälschter Vermittlungsquoten seitens der BA und der nachfolgenden Einsetzung der Hartz-Kommission 8 Anfang 2002 eingeleitet wurden. Die Vorschläge dieses Expertengremiums, die in ihren Grundzügen zwischen den großen Parteien weitgehend konsensfähig sind (s. hierzu G. Schmid, 2003; zu den programmatischen Aussagen der Parteien im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 s. Kapitel III., 2.4.4.), umfassten neben einer Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (sog. „Arbeitslosengeld II") sowie verschärften Zumutbarkeitsregeln für Hilfebezieher auch eine Neuausrichtung der BA. Letztere beinhaltet u.a. die Schaffung von etwa 800 Personal-Service-Agenturen (PSA), die bis Ende 2003 ca. 35.000 Arbeitslose beschäftigen und als Zeitarbeitskräfte an Unternehmen vermitteln sollen. Instrumenten wurden direkte Fördermaßnahmen wie Überbrückungsgelder und Eingliederungszuschüsse verstärkt; hinzu treten die ebenfalls dem Hartz-Konzept entnommenen Zuschussregelungen für bislang arbeitslose Existenzgründer (sog. „Ich-AGs"), die ab Mai 2003 vermehrt in Anspruch genommen wurden. Trotz erfreulicher Tendenzen bleiben Reichweite und Intensität der Arbeitsmarktreform allerdings unzureichend. Unausgeschöpft erscheinen insbesondere Wettbewerbspotentiale, die sich aus einer stärkeren Dezentralisierung arbeitsmarktpolitischer Regelungen ergeben könnten. Angesichts positiver Erfahrungen anderer Föderalstaaten wären hier Lernprozesse angezeigt (s. T. Klaasen/S. Schneider, 2002; C. Trampusch, 2002). Die gegenwärtige finanz- und steuerpolitische Diskussion ist stark von den externen Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (StWP) geprägt, der 1997 auf Betreiben der damaligen Bundesregierung zur Präzisierung des Haushaltsüberwachungsverfahrens im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 104 EGV) eingeführt

8 Vgl. hierzu den Abschlussbericht „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" der unter dem Vorsitz des VW-Vorstandes Peter Hartz zusammengetretenen „Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit" vom 16.08.2002.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen wurde, um die staatliche Neuverschuldung in den WWU-Mitgliedsländern mittelfristig abzubauen und damit finanzpolitische Stabilität zu gewährleisten (zur aktuellen Debatte vgl. R. Peffekoven, 2003 und K. F. Zimmermann, 2003). Besondere Bedeutung kommt dabei dem Defizitkriterium von drei Prozent (Nettokreditaufnahme im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) zu. Bei Überschreitung dieser Marke sehen die europarechtlichen Regelungen die Einleitung eines SanktionsVerfahrens vor, das als schärfste Handlungsoption die Verhängung einer Geldbuße von 0,5 Prozent des BIP beinhaltet. Die Auswirkungen dieses Mechanismus auf die bundesdeutsche Innenpolitik erwiesen sich bislang als ambivalent. Einerseits bewirkte die politische Konstruktion des StWP - danach unterliegen Sanktionsmaßnahmen keiner ökonomischen Automatik, sondern bedürfen einer qualifizierten Mehrheit im Ecofin-Rat - eine faktische „Aufweichung" der Stabilitätskriterien, da Anfang 2002 keine „Frühwarnung" ausgesprochen wurde, obwohl die Bundesrepublik angesichts stagnierender Wirtschaftskonjunktur seit 2001 die Defizitmarke wiederholt verfehlte und ein entsprechender Antrag der EU-Kommission vorlag. Andererseits steht die Bundesregierung durch die permanente Beobachtung seitens der Kommission öffentlichkeitswirksam unter „haushaltspolitischem Druck", der positive Folgen zeitigte. So bescheinigte Währungskommissar Solbes der Bundesregierung im Mai 2003, dass sie das strukturelle (konjunkturbereinigte) Haushaltsdefizit um 21 Mrd. € gesenkt und somit die Auflagen des EU-Finanzministerrats vom vorangegangenen Januar formal erfüllt habe. Blickt man jedoch auf die Struktur der öffentlichen Haushalte, ergibt sich ein eher bedenkliches Bild. So wurde dem Kommissionsbericht zufolge nicht nur die erwähnte Rückführung des Defizits überwiegend durch einnahmenseitige Maßnahmen (Erhöhung von Steuern und Sozialbeiträgen) erreicht, sondern wachsen in Deutschland auch die Ausgaben für Renten und das Gesundheitswesen stärker als im EU-Durchschnitt, während der Schuldenabbau langsamer vorankommt. Sollten die sozialen Sicherungssysteme nicht grundlegend reformiert werden, rechnet die Kommission mit einem Anstieg der Staatsverschuldung von derzeit etwa 60 Prozent des BIP auf bis zu 400 Prozent im Jahr 2050, was jedweden finanzpolitischen Handlungsspielräumen ein Ende setzen würde. Bereits derzeit hat die „Schieflage" der öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik ein beträchtliches Ausmaß erreicht. Aufschlussreich ist hier ein Vergleich der Ausgabenseite der Bundeshaushalte von 1972 und 2002 (s. Materialband, IX/5). Dabei fällt der absolute Anstieg der Staatsausgaben von umgerechnet 56,8 Mrd. € auf 249,3 Mrd. € weit weniger ins Gewicht als die Zunahme „struktureller Erblasten": So erhöhten sich die Bundeszuschüsse für die Rentenkassen von 12,4 auf 29,1 Prozent und für den Arbeitsmarkt von 0,2 auf 8,4 Prozent; hinzu tritt eine Erhöhung des Schuldendienstes von 2,5 auf 9,4 Prozent. Zusammengenommen verbleibt für die „eigentlichen" Bundesaufgaben - darunter auch die „Zukunftsbereiche" Infrastruktur, Bildung und Forschung - nur mehr die Hälfte des Haushalts. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise verschärft diese Budgetsituation erheblich. Dies gilt auch für die Bundesländer, die sich mit massiven Haushaltsbelastungen konfrontiert sehen: Allein für 2003 müssen sie mit Steuerausfällen von über 4 Mrd. € rechnen, ihre Nettokreditaufnahme wird auf etwa 23 Mrd. € ansteigen. Bei den Reaktionen der Länderregierungen dominieren meist punktuelle Maßnahmen wie Haushaltssperren (temporäre Beschränkung auf rechtliche verpflichtende Ausgaben) oder eine Erhöhung der Neuverschuldung. Allein der badenwürttembergische Ministerpräsident Teufel versucht sich derzeit an einer umfassenderen Verwaltungsreform, die erhebliche Einsparpotentiale mit sich bringen könnte (vgl. unter Kapitel V.). In die gleiche Richtung geht eine von mehreren Länderregierungen getragene Bundesratsinitiative zur „Öffnung" des Besoldungsrechts, um die Personalausgaben im öffentlichen Dienst zu senken.

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2. Grundzüge des Gemeinwesens Auf Bundesebene hingegen ist keine strukturell ansetzende Überprüfung der Staatsausgaben erkennbar. Aber auch einnahmenseitigen Handlungsoptionen sind klare Grenzen gesetzt. Deutlich wird dies anhand der Diskussion, größere Erbschaften und Vermögensbestände verstärkt zu besteuern. So kündigten die Landesregierungen Niedersachsens (unter Siegmar Gabriet) und Nordrhein-Westfalens (unter Peer Steinbrück) nach der Bundestagswahl 2002 eine Bundesratsinitiative zur Wiedereinführung der Vermögensteuer an. Ähnliches wiederholte die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Simonis im Mai 2003, auch sprach sich der Sonderparteitag der Grünen im Juni 2003 für eine Erhebung der Vermögenssteuer aus. Von der Bundesregierung - insbesondere durch Kanzler Schröder und Finanzminister Eichel - wurde dem bislang eine Absage erteilt. Abgesehen vom nicht genau taxierbaren Finanzvolumen stehen dem Vorhaben rechtliche wie politische Rahmenbedingungen entgegen, die von anderen obersten Bundesorganen „gesetzt" sind. Zum einen erscheint ein entsprechendes Steuergesetz angesichts der Unionsmehrheit im Bundesrat, der bei Entscheidungen über Vermögen- wie Erbschaftsteuern Zustimmungsrechte besitzt, nicht realisierbar. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit zur Wiedereinführung der Vermögensteuer insofern eingeschränkt, als einem früheren Urteil zufolge die steuerliche Gesamtbelastung des Bürgers nicht die Grenze einer „hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand" überschreiten sollte. Beim gegenwärtigen Spitzensteuersatz von über 50 Prozent (einschließlich Solidaritätszuschlag) besteht folglich kein Spielraum für Steuererhöhungen. Dies wird sich zwar ändern, wenn der Höchstsatz im Zuge der beschlossenen Steuerreform 2005 auf 42 Prozent sinkt; davon unbenommen bleibt jedoch das Problem, wie dann unterschiedliche Vermögensarten (Unternehmensbeteiligungen, Grundbesitz, u.a.m.) zu veranlagen sind. Schließlich ist auf europäischen Einfluss auch im Bereich der Steuerpolitik zu verweisen, obwohl die entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen (noch) zum nationalstaatlichen Kernbestand gehören. Exemplarisch deutlich wird dies anhand einer vom Bundeskabinett im Februar 2003 verabschiedeten Regelung, die eine straffreie Rückführung „steuerflüchtigen" Kapitals gegen Entrichtung einer pauschalen Abgabe ermöglichen soll. Ob sich aus entsprechenden Nacherklärungen Steuermehreinnahmen in der erwarteten Höhe von rund 5 Mrd. € ergeben werden, erscheint nicht nur aus Sicht der CDU/CSU-Opposition zweifelhaft. Immerhin wird die Erreichung dieses Ziels dadurch erleichtert, dass sich der Ecofin-Rat Anfang Juni 2003 auf eine EU-Zinsrichtlinie zur Verhinderung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung verständigte. Demnach wird ab 2005 in zwölf EU-Staaten ein automatischer Informationsaustausch über Kapitalerträge von Nicht-Gebietsansässigen eingeführt, während Belgien, Luxemburg und Österreich eine Quellensteuer erheben, die bis 2011 von 15 auf 35 Prozent ansteigen soll. Schlüsselfragen der gegenwärtigen Diskussion um die sozialen Sicherungssysteme wurden bereits bei der Charakterisierung des aktuellen wirtschafts- und finanzpolitischen Handlungsbedarfs angesprochen. Zusammenfassend ist zu betonen, dass alle drei Hauptsäulen Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung - grundlegender Veränderung bedürfen, wobei sich die politischen Realisierungschancen einer solchen Reform jeweils unterschiedlich darstellen. Am breitesten erscheint der innenpolitische Konsens bei der Neufassung der Bezugskriterien und -dauer von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe; hier differieren die inhaltlichen Positionen der Parteien allenfalls en detail. Anders dagegen bei der Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die nach der „Agenda 2010" vom März 2003 als „notwendigster Teil der innenpolitischen Erneuerung" gilt. Folgt man der Argumentation des Bundeskanzlers, soll das wichtigste Ziel - die rasche Senkung des GKVBeitragssatzes auf unter 13 Prozent - durch die „Auslagerung" versicherungsfremder Leis-

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen tungen (Abschaffung des Sterbegeldes, Finanzierung der Mutterschaftsleistungen aus dem Bundeshaushalt, einseitige Finanzierung des Krankengeldes durch die Arbeitnehmer) sowie durch verstärkten Wettbewerb zwischen Ärzten und Arzneimittelherstellern erreicht werden; eine Aufhebung des allgemeinen Leistungsprinzips der GKV, d. h. eine „Privatisierung" bestimmter Behandlungskosten, war demnach nicht geplant. Mit Blick auf die mittel- und langfristige Entwicklung des Gesundheitssystems stehen seit Mitte 2003 zwei Modelle in der öffentlichen Diskussion. In einer sog. „Bürgerversicherung", die vor allem SPD und Grüne favorisieren, wäre die Beitragsbasis der GKV deutlich zu erweitern, wobei auch Beamte, Unternehmer und Freiberufler in die Pflichtversicherung einbezogen und sonstige Kapitaleinkünfte bei der Beitragsbemessung berücksichtigt würden. Durch diese einnahmenseitigen Maßnahmen könnten die Beitragssätze ceteris paribus um bis zu zwei Prozentpunkte gesenkt werden; die Umlage- wie arbeitsbezogene Systemstruktur bliebe dabei erhalten. FDP und Teile der Union sprechen sich dagegen für einen Systemwechsel in Richtung einer „Kopfpauschale" nach Schweizer Vorbild aus. Danach würde jeder Bürger bei standardisierter Grundleistung einen einheitlichen Krankenkassenbeitrag bezahlen, wobei steuerfinanzierte Zuschüsse für Geringverdiener vorzusehen wären (Kinder blieben kostenfrei). Damit würde eine zumindest formale „Entkoppelung" der GKV von den Lohnnebenkosten erzielt. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung beider Modelle und ihrer jeweiligen politischen Umsetzung wird indes deutlich, dass das Gesundheitssystem nicht durch punktuelle „Kostenkorrekturen" weiterzuführen ist, d.h. eine tragfähige Reform stärker „Gewinner" und „Verlierer" produzieren wird. Das „beschäftigungsbasierte" Rentensystem schließlich weist angesichts der zunehmenden Überalterung der deutschen Gesellschaft den wohl umfassendsten Reformbedarf auf. Obwohl die Rentenbeiträge durch die seit 1999 stufenweise erhöhte Öko-Steuer stabilisiert bzw. gesenkt werden sollten, konnte die Bundesregierung im Mai 2003 deren weiteren Anstieg auf 19,8 Prozent nicht mehr ausschließen; die FDP rechnete für 2004 gar mit über 20 Prozent. Vor diesem Hintergrund ist es um so bedenklicher, dass rentenpolitische Handlungsoptionen in der „Agenda 2010" ebenso fehlten wie im SPD-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2002. Blickt man auf den Parteienwettbewerb insgesamt, war in diesem Politikfeld eine programmatische Differenz vor allem zwischen den großen und den kleinen Parteien erkennbar: Während Minderungen der Altersbezüge bei den beiden Volksparteien programmatisch weitgehend ignoriert und auf „Arbeitsebene" - wie bei der geplanten Erhöhung der Krankenkassenbeiträge für Rentner - tendenziell „versteckt" wurden, drängten FDP und Grüne im Sinne ihrer Stammwählerschaft auf mehr Generationengerechtigkeit, mithin auf eine zeitliche Streckung vorgesehener Rentenanpassungen bzw. eine deutlichere Abkehr von der traditionellen Umlagefinanzierung. Zeitweilige Überlegungen aus dem Bundesgesundheitsministerium, die nur zögerlich angenommene Förderung privater Altersvorsorge („Riester-Rente") verpflichtend vorzuschreiben, werden gegenwärtig nicht mehr diskutiert. Die zunehmende Krise der Staatsfinanzen führte Mitte 2003 vielmehr zu einer intensiven Debatte über die Erhöhung des Renteneintrittsalters, während zur Stabilisierung der Rentenbeiträge unverändert kurzfristige „Korrekturen" diskutiert werden (Verschiebung der Rentenerhöhung, Reduzierung der Kassenreserven, Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge für Rentner). Insgesamt erscheinen die politischen Widerstände gegen eine den Namen verdienende, zukunftsfähige Rentenreform noch stärker als in den anderen Bereichen der sozialen Sicherung. Dass dies ein keineswegs auf die Bundesrepublik Deutschland beschränktes Phänomen darstellt, wird bei einem Blick auf die massiven Auseinandersetzungen um umfassendere Rentenreformpläne in Österreich und Frankreich deutlich.

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2. Grundzüge des Gemeinwesens Die Bildungs- und Forschungspolitik nimmt mit Blick auf die infrastrukturellen Rahmenbedingungen im globalisierten Wettbewerb einen zentralen Stellenwert ein und durchläuft gegenwärtig die wohl umfassendsten Veränderungen seit mehreren Jahrzehnten. Im Unterschied zu den bildungspolitischen Reformen der 1960er/70er Jahre sind die erkennbaren Entwicklungen zunehmend von externen Faktoren - ausländischen Modellen, internationalen Leistungsvergleichen, europäischen Anpassungsprozessen - geprägt. Dies zeigt sich in exemplarischer Weise in den Bereichen Hochschulwesen, Forschungsförderung und Schulpolitik. Eine exponierte Stellung nimmt in diesem Kontext das Hochschulwesen ein. So hat sich der Ansturm auf die Universitäten auch in den vergangenen Jahren fortgesetzt: Im Wintersemester 2001/02 waren deutschlandweit 1,9 Mio. Studenten immatrikuliert, dies entspricht einem Anstieg um mehr als 3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Kapazitäten der Universitäten folgten dem nicht. Im Gegenteil: Im Zuge der auf allen gebietskörperschaftlichen Ebenen erkennbaren Haushaltskonsolidierung wurden die Finanzzuweisungen an die Hochschulen meist drastisch gekürzt. Inhaltlich konzentriert sich die Diskussion um die „Misere der Hochschulbildung" in den vergangenen Jahren auf die im internationalen Vergleich hohe Quote an Studienabbrechern, (zu) lange Studienzeiten und eine vielfach als unzureichend gekennzeichnete Wissensvermittlung. Auch mit Blick auf die Forschung nehmen deutsche Universitätsinstitute weltweit nur in Ausnahmefällen wirkliche Spitzenpositionen ein. Vor diesem Problemhorizont wurden seit Ende der 1990er Jahre etliche Reformen im Hochschulbereich angestoßen. Externe Einflüsse dokumentieren sich dabei besonders deutlich bei der europaweiten Angleichung der Curricula im Rahmen des sog. „ Bologna-Prozesses". Nach der Erklärung von Bologna, die von 30 Staaten im Juni 1999 unterzeichnet und auf einer Folgekonferenz in Prag bestätigt wurde, soll bis 2010 ein einheitlicher „Europäischer Hochschulraum" errichtet und auf eine Konvergenz nationaler Hochschulsysteme hingearbeitet werden. Zu den entsprechenden Maßnahmen zählen u. a. die Einführung eines Curriculums, das sich auf zwei Hauptzyklen stützt {undergraduate!graduate studies); die Entwicklung von Leistungspunktsystemen; eine „Modularisierung" (Vernetzung) der Lehrveranstaltungen; der Abbau von Mobilitätshemmnissen beim internationalen Studentenaustausch; eine Förderung der europäischen Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung; sowie der Ausbau „lebenslanger Weiterbildungsmöglichkeiten" auch im Rahmen des universitären Lehrangebots. Unerwartet schnell haben in Deutschland die meisten Universitäten bzw. Fachbereiche mit der Einführung der „neuen Studiengänge" (Bachelor, Master) begonnen; die derzeit erkennbare Zwischenbilanz fällt - unbenommen technisch-administrativer Übergangsprobleme - allerdings ambivalent aus. Formal wird zwar für den Einzelnen die Anerkennung von Studienleistungen im Ausland mittelfristig erleichtert und damit die grenzüberschreitende Mobilität auch jenseits nationaler und europäischer Austauschprogramme (DAAD, Erasmus, Sokrates, etc.) zunehmen, inhaltlich erweisen sich die jeweiligen universitäts- bzw. fachspezifischen Traditionsbestände jedoch als äußerst „robust" und kann bei vielen BA- und MA-Studiengängen vielfach nur von „altem Wein in neuen Schläuchen" gesprochen werden; eine darüber hinaus gehende materielle Angleichung der Studienanforderungen verbindet sich damit nicht. Die anfängliche Weigerung Großbritanniens, einen „kontinentalen BA" anzuerkennen, verdeutlicht die Schwierigkeiten wechselseitiger Akzeptanz der Studienabschlüsse. Im Fazit sei die mit dem Bologna-Prozess initiierte „Internationalisierung" der Studiengänge nicht negativ bewertet, doch bleibt auf die notwendige Beibehaltung, ja den unabdingbaren Ausbau inhaltlicher Profilbildung und Schwerpunktsetzung einzelner Universitäten und Institute zu verweisen. Curriculare Anpassungen und/oder

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen (punktuelle) Übernahmen internationaler Modelle bieten für sich genommen keine Garantie, die strukturellen Probleme der universitären Lehre aufzulösen. Ähnliches lässt sich auch von den jüngsten Veränderungen der Universitätsstrukturen sagen. Zwar findet sich hier kein internationales Abkommen, doch orientierte sich die Dienstrechtsreform, die im 5. Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes vom 16. Februar 2002 festgeschrieben wurde und von den Bundesländern binnen drei Jahren umzusetzen ist, an angloamerikanischen Vorbildern. Dies gilt etwa für die fächerübergreifende Abschaffung der Habilitation bis zum 01.01.2010 sowie die flächendeckende Einführung von Juniorprofessuren. Unbenommen der inhaltlichen Argumente, die Befürworter wie Gegner der Reform ins Feld führen und die gegenwärtig noch nicht empirisch überprüfbar sind, zeigten sich dabei klare Interessenunterschiede im Bund-Länder-Verhältnis bzw. zwischen den Ländern. Während etwa Niedersachsen sein Hochschulrecht zügig anpasste, zögerten die süddeutschen Länder nicht nur mit der Umsetzung, sondern ergriffen auch Maßnahmen gegen die „hierarchische Einmischung" des Bundes: So strengten Bayern, Thüringen und Sachsen ein Normenkontrollverfahren gegen das neue Hochschulrahmengesetz vor dem Bundesverfassungsgericht an, da sie die grundgesetzlich garantierte Wissenschaftsfreiheit insbesondere durch das faktische Habilitationsverbot gefährdet sahen. Allerdings sind auch Dezentralisierungstendenzen in der gegenwärtigen Hochschulpolitik erkennbar, die hauptsächlich von Länderseite ausgehen. So beschloss die Kultusministerkonferenz (KMK) der Länder, den Einfluss der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) deutlich einzuschränken und den einzelnen Hochschulen erweiterte Möglichkeiten einzuräumen, ihre Studierenden künftig selbst auszusuchen. Im Bereich der Forschungsförderung stehen die aktuellen Veränderungen im Kontext der Bemühungen um eine umfassendere Föderalismusreform, bei der vor allem Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungstatbestände auf den Prüfstand gestellt werden. In diesem Zusammenhang steht etwa der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 27. März 2003, die Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung" abzuschaffen. Dabei geht es nicht nur um den Hochschulbau, der von der bisherigen Mischfinanzierung in ausschließliche Länderzuständigkeit überführt werden soll, es steht vielmehr auch die „Entflechtung" der Trägerschaften der großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen zur Diskussion. So sucht der Bund derzeit die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Helmholtz-Gemeinschaft sowie die Fraunhofer-Gesellschaft in seinen ausschließlichen Verantwortungsbereich zu überführen, während die Leibniz-Gemeinschaft einschließlich der sog. „Blauen Liste" - künftig allein von den Ländern unterhalten werden soll. Während die unübersehbaren Vorteile dieser möglichen Neuordnung in verbesserter Transparenz und Effizienz liegen, lässt sich dies mit Blick auf die Effektivität der Forschungsförderung kaum behaupten. So befürchten die betroffenen Institutionen nicht nur eine stärkere inhaltliche Beeinflussung der Forschungsschwerpunkte durch den Bund als nunmehr alleinigen Träger, sondern auch finanzielle Einbußen. Die jüngste Erfahrung, nach der der Budgetzuwachs, den die Bundesregierung der D F G zusagte, im Herbst 2002 überraschend zurückgenommen wurde und schließlich nur auf Betreiben einiger Ministerpräsidenten in moderaterer Form „gerettet" werden konnte, dokumentiert, dass der bestehende Abstimmungszwang zwischen Bund und Ländern zwar keine umfassenden Reformen zulässt, aber zumindest den finanziellen Status quo sichert. Schließlich unterliegt auch die Schulpolitik, einer der wenigen Aufgabenbereiche, die noch in die ausschließliche Länderzuständigkeit fallen, verstärkt internationalem Einfluss. Im Mittelpunkt der jüngsten Diskussion steht die sog. PISA-Studie (Programme for International Student Assessment), ein systematischer, periodisch erhobener Leistungsvergleich

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2. Grundzüge des Gemeinwesens von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern hinsichtlich Lesekompetenz und mathematischer wie naturwissenschaftlicher Grundbildung, der erstmals im Jahr 2000 im Rahmen der O E C D auf breiter empirischer Basis (265.000 Jugendliche) durchgeführt wurde. Die Bundesrepublik schnitt dabei unerwartet schlecht ab, in sämtlichen Untersuchungsbereichen lag sie ζ. T. deutlich unterhalb des OECD-Durchschnitts. Dies galt gleichermaßen für die Lesefähigkeit (13 Prozent der Jugendlichen waren gerade noch in der Lage, einfachste Textinformationen bzw. das Hauptthema zu erfassen) wie für die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen (hier erreichte ein Viertel der 15-Jährigen lediglich Grundschulniveau). Politisch brisanter als die inhaltliche Leistungsbilanz war indes, dass Deutschland im OECD-Vergleich einen sehr großen Abstand zwischen leistungsstärksten und -schwächsten Schülern aufwies, wobei sich zugleich ein überdurchschnittlich deutlicher Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischem Leistungsniveau ergab. Die sich damit verbindenden sozialen Probleme wurden durch die nationale Folgeuntersuchung „PISA E(rgänzungsstudie)" 2001/02 verdeutlicht, die erhebliche Unterschiede im Leistungsniveau zwischen den Bundesländern zutage förderte. Demnach lag das erstplatzierte Bayern deutlich über dem OECD-Durchschnitt, während Bremen sich am unteren Ende der Rangfolge fand. In der nachfolgenden innenpolitischen Debatte über Ursachen der „Bildungsmisere" und geeignete Reaktionsmöglichkeiten traten neben situationsspezifischen auch strukturelle Merkmale des bundesdeutschen Regierungssystems hervor. Zum einen zeigten sich - im Gegensatz zu vielen anderen Politikbereichen - ideologisch begründete PositionsdifTerenzen und eine gewisse Polarisierung des Parteienwettbewerbs. Während Vertreter der Unionsparteien sich eher für die Beibehaltung bzw. den Ausbau eines differenzierten Schulsystems aussprachen und dabei vor allem auf die bayerischen „Erfolge" verwiesen, plädierten zahlreiche SPD-Politiker für Reformen in Richtung eines integrierten Schulmodells nach finnischem Vorbild. Zum anderen war mit Blick auf die materiellen Reaktionsmuster im Föderalstaat - ähnlich wie bei früheren Sachfragen mit sozialpolitischer Dimension (s. J. J. HesselA. Benz, 1990) - eine Zentralisierungstendenz auszumachen. So wurde im Mai 2003 eine Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern unterzeichnet, die die Bundesbildungsministerin Bulmahn „als ersten Schritt auf dem gemeinsamen Weg zur großen Bildungsreform in Deutschland" bezeichnete (Pressemitteilung des BMBF 68/03 vom 12. Mai 2003). Demnach fördert der Bund den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen (bislang unterrichten nur 2.000 der 46.000 Schulen bundesweit ganztägig) mit beträchtlichen Finanzmitteln (2003: 300 Mio. €; 2004-2006: 1 Mrd. €; 2007: 700 Mio. €) und gewinnt dadurch erheblich an Bedeutung. Allerdings konnten insbesondere die unionsgeführten Länder in der Kultusministerkonferenz (KMK) dezentrale Handlungsspielräume sichern, da nicht die von der Bundesbildungsministerin (auf der Basis des SPD-Wahlprogramms) anvisierte Zielgröße von 10.000 Ganztagsschulen bis 2007 festgeschrieben, sondern lediglich von „bedarfsorientiertem Ausbau" gesprochen wurde. Zudem betonte der KMKVorsitzende Wolff, dass Ganztagsschulen „kein Allheilmittel gegen die Bildungsmisere" darstellten. Und in der Tat: Bayern weist zwar die höchsten Ausgaben pro Kopf für allgemeinbildende Schulen unter den Flächenländern auf, verfügt jedoch gleichzeitig über eine der geringsten Quoten an Ganztagsschulen. In diesem Bereich scheint der bundesdeutsche Föderalismus gerade angesichts der Heterogenität der Länderschulsysteme und sozialstrukturellen Gegebenheiten durchaus ein wettbewerbsorientiertes Lernpotential zu bergen. Weitere unitarisierende Schritte, die in diesem Zusammenhang geplant sind (wie die Entwicklung von nationalen Bildungsstandards oder die Einrichtung eines Sachverständigenrats für die Bildungsberichterstattung), sollten sich nicht nur an internationalen Modellen ausrichten,

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen sondern auch die vielfaltigen Erfahrungen der einzelnen Bundesländer einbeziehen. Von einem „Versagen des Föderalismus", wie von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) behauptet, kann - gerade aufgrund der unterschiedlichen Leistungsbilanz der Bundesländer - kaum die Rede sein. Im Fazit wird deutlich, dass es nahezu keinen Aufgabenbereich der deutschen Innenpolitik mehr gibt, der nicht durch exogene Faktoren, und hier insbesondere die zunehmende „Europäisierung", beeinflusst wird. Gleichzeitig verweist die Darstellung auf eine beträchtliche Varianz bei der Einwirkung europäischer Politiken. Deshalb ist bei einer analytischen Erfassung dieser Zusammenhänge nicht nur für einzelne Politikfelder nach „harten" und „weichen" Steuerungsformen zu unterscheiden, es sollte vielmehr auch überprüft werden, ob und inwieweit nationalstaatliche Akteure auf bestehenden „Anpassungsdruck" reagieren. Zunächst aber gilt den veränderten, auch und gerade internationalen Rahmenbedingungen das Interesse.

3. Die Internationalisierung der deutschen Politik 3.1. Die Entgrenzung des Nationalstaats Galt noch bis Ende der 1980er Jahre, dass man als zentrale Felder der deutschen Außenpolitik die Einbindung des Landes in den Ost-West-Konflikt, die sicherheitspolitische Abhängigkeit, die Konsequenzen der deutsch-deutschen Politik, die Rolle der Bundesrepublik in der Nord-Süd-Entwicklung sowie die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft zu sehen habe (vgl. H. P. Schwarz, 1975; F. R. Pfetsch, 1981; C. Hacke, 19932; W. F. Hanrieder, 1995; T. G. Ash, 1996; M. Staack, 1999; H. Hafendorn, 2001), hat sich die Bedeutung dieser Bereiche mit dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung beträchtlich verändert. So ist zunächst offensichtlich, dass das Ende des Ost- West-Konfliktes von massiven Veränderungen der sicherheitspolitischen Situation begleitet war. Zur Auflösung der auf atomarer Abschreckung basierenden Blockbildung zwischen den ehemaligen Supermächten USA und Sowjetunion traten zahlreiche regionale bzw. lokale Konflikte, nicht zuletzt als Ausdruck militanter Abgrenzung islamisch geprägter Staaten von der „westlichen Welt". Mit Blick auf die regionalen Konflikte haben insbesondere der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien (1991-1995), der Kosovo-Konflikt und die damit verbundene Staatskrise in Mazedonien (1998/99) die neue „Unübersichtlichkeit" und Wandelbarkeit der internationalen Sicherheitslage vor Augen geführt. Auch außereuropäische Konfliktherde, wie der Nahe Osten, der Kaukasus, Zentralafrika oder die Kaschmir-Region, stellen Herausforderungen für die Staatengemeinschaft dar, die mit den während des Kalten Krieges geschaffenen sicherheitspolitischen Instrumenten offenbar nicht mehr zu bewältigen sind. Entscheidend scheint, dass die Ursachen der Konflikte nicht mehr durch ideologische Systemgegensätze, sondern stärker von den jeweiligen machtpolitischen, wirtschaftlichen, ethnischen oder auch religiösen Konstellationen geprägt sind, mithin entsprechend flexible Reaktionsmuster erfordern, auf die die internationale Staatengemeinschaft zunächst nicht vorbereitet war. Exemplarisch wurde dies im Rahmen des Jugoslawien-Konflikts deutlich, als zahlreiche internationale Organisationen, ad Aoc-Allianzen, Regierungen, Nicht-Regierungsorganisationen, aber auch prominente Einzelpersonen sich der Aufgabe der Friedenssicherung verschrieben. Bei häufig unklaren Zuständigkeiten kam es im Gefolge zu konkurrierenden diplomatischen Initiativen, wurden Teilerfolge nicht abgesichert und erschwerten übereilte Einzelaktionen

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3. Die Internationalisierung der deutschen Politik die Kooperation zwischen den an der Konfliktlösung beteiligten Akteuren. In ähnlicher Weise prägten mangelnde Entscheidungsfähigkeit sowie unzureichende Kompetenzordnung und Koordination Vermittlungsversuche oder Interventionen in der Golfregion, in Israel, Somalia, Ruanda, Zaire, Kongo, Nord- und Süd-Korea oder auch Afghanistan. Insbesondere wurde deutlich, dass die einzig verbliebene Hegemonialmacht, die USA, mit den Aufgaben eines „Weltpolizisten" überfordert war. Vor diesem Hintergrund ging und geht es noch immer um die Schaffung eines funktionsfähigen Krisenmanagements innerhalb der multilateralen Sicherheitssysteme. Auch angesichts des Zusammenbruchs des Warschauer Paktes und der damit verbundenen (Wieder-)Eingliederung der mittel- und osteuropäischen Staaten in eine neue Sicherheitsarchitektur erschien ein Umbau der bestehenden internationalen Regime und Organisationen erforderlich. Dies galt insbesondere für die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die Westeuropäische Union (WEU) sowie die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft (NATO), die seit Beginn der 1990er Jahre Veränderungsprozesse unterschiedlicher Reichweite und Intensität durchliefen. Während es 1995 gelang, die vormals auf Ost-West-Entspannung ausgerichtete KSZE in eine permanente Organisation (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE) zu überführen, die sich der Konfliktprävention und Stabilitätssicherung in Osteuropa und den asiatischen GUS-Staaten widmet (vgl. P. Schlotter, 1997), blieb die Zukunft der für Deutschland zweifellos wichtigeren NATO sowohl hinsichtlich der Aufgabenstellung als auch der geographischen Eingrenzung weiterhin offen (vgl. Materialband, X/6). Als wichtigste Verteidigungsallianz während des Kalten Krieges wurde die NATO bereits kurz nach Auflösung des Warschauer Pakts im Juli 1991 für die zu neuer Souveränität gekommenen Staaten Mittel- und Osteuropas interessant. Eine Erweiterung des Bündnisses war allerdings unter den damaligen Mitgliedern durchaus umstritten, zumal Zweifel darüber bestanden, ob die Beitrittskandidaten den Anforderungen der Wahrung der Menschenrechte, der Lösung von Minderheitenkonflikten und der Klärung der zivil-militärischen Beziehungen innerhalb ihres jeweiligen politischen Systems gerecht werden würden, und man sich zugleich einig war, dass die Verteidigungsfähigkeit Priorität vor Stabilisierungshilfen für potentielle Neumitglieder habe (vgl. etwa E.-O. Czempiel, 1996). Die vor allem seitens der USA geübte Zurückhaltung erklärte sich vornehmlich daraus, dass ein NATO-Beitritt ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten nur über eine engere Kooperation mit Russland möglich sein würde. So kam es während der 1990er Jahre zu einer schrittweisen Annäherung zwischen den ehemaligen „Verteidigungsblöcken". Zu nennen sind der 1991 gegründete „Nordatlantische Kooperationsrat" und das 1993 ins Leben gerufene NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden". Das „Startsignal" für die Aufnahme neuer Mitglieder bildete dann ein im Mai 1997 zwischen der NATO und Russland vereinbartes Konsultationsabkommen, das eine institutionalisierte Zusammenarbeit bei Krisenmanagement und Rüstungskontrolle sowie die Schaffung eines NATO-Russland-Rats vorsah. Daraufhin bot der NATO-Gipfel von Madrid im Juni 1997 Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn den Beitritt an; sie wurden im März 1999 als neue Mitglieder aufgenommen. Eine zweite Runde begann 2002 für sieben weitere mittel- und osteuropäische Staaten (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei), sie soll bis Ende 2004 abgeschlossen sein; über die Beitrittsanträge von Albanien, Kroatien und Mazedonien ist (noch) nicht positiv entschieden. Für die Weiterentwicklung der europäischen Sicherheitsstruktur waren allerdings nicht nur das Verhältnis der NATO zu den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts von Bedeutung, sondern auch die Beziehungen zwischen den transatlantischen Bündnispartnern selbst. Das Bestreben der USA, ihr Engagement in Europa nach der Ost-West-Konfrontation zu

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen begrenzen, traf sich zunächst mit dem Wunsch der westeuropäischen Staaten nach größerer Eigenständigkeit in sicherheitspolitischen Fragen. Allerdings erwies sich das Verhältnis zwischen den USA und der 1992 mit dem Vertrag von Maastricht begründeten Europäischen Union (EU) als konfliktreich. Zwar wurden auch hier formale Kooperationsmechanismen vereinbart, beschloss der NATO-Gipfel in Berlin 1996 die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) sowie in Helsinki 1999 den Aufbau gemeinsamer militärischer und ziviler Institutionen. Die außen- und sicherheitspolitischen Interessen der wichtigsten EU-Mitgliedstaaten blieben jedoch (zu) unterschiedlich. Während Großbritannien aufgrund seines Selbstverständnisses als traditioneller Verbündeter der USA eine eigenständige europäische Verteidigungsstruktur ablehnte und die Bundesrepublik zwischen der Beteuerung der transatlantischen und der deutsch-französischen Freundschaft hin- und hergerissen schien, drängte insbesondere Frankreich auf die Schaffung eigenständiger europäischer Verteidigungskapazitäten im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Dazu sollte die nach dem Scheitern des Plans einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 ins Leben gerufene Westeuropäische Union (WEU) als militärischer Arm der Union dienen. Nachdem lange Zeit keine Einigung über die Weiterentwicklung der GASP erzielt werden konnte, betrieb die EU deren Ausbau seit der französisch-britischen Erklärung von Saint Malo 1998 mit derartigem Nachdruck, dass von einigen Beobachtern bereits über einen Bruch der transatlantischen Zusammenarbeit spekuliert wurde (A. Pradetto, 2000; E.-O. Czempiel, 2000; I. H. Daalder, 2001). Die dem zugrunde liegenden positiven Einschätzungen der GASP erwiesen sich jedoch als verfrüht, wie nicht zuletzt die sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen des von den USA geführten Irak-Krieges im Frühjahr 2003 dokumentierten. Die Konsequenzen, die sich aus den am 11. September 2001 von islamistischen Terroristen verübten Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington für die nationalstaatliche wie die internationale Politik ergeben, sind auch im Abstand von zwei Jahren noch nicht umfassend zu beurteilen (vgl. für eine erste Bestandsaufnahme P. Bendel/M. Hildebrandt, 2002). Fest steht lediglich, dass die „Entterritorialisierung" politisch motivierter Gewalt mit den Anschlägen eine neue Qualität erhielt, sich die Bedrohungsszenarien auch außerhalb der USA deutlich veränderten und die Grenzen zwischen äußerer und innerer Sicherheit brüchiger wurden. Auch erscheinen religiös-kulturelle Gegensätze zwischen dem „christlichen Westen" und islamisch geprägten Gesellschaften zunehmend politisiert, selbst wenn von einem „Kampf der Kulturen" im Sinne Samuel Huntingtons (1998) sicher nicht gesprochen werden kann. Auch erlitt der von den europäischen Staaten favorisierte Aufbau eines weltumspannenden Sicherheitssystems, das auf Grundlage von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats funktionieren und dessen fester Bestandteil der 1998 in Rom gegründete Internationale Strafgerichtshof sein sollte, infolge des II. September einen beträchtlichen Rückschlag. So setzen die USA nach dem Aufbau der „Internationalen Allianz gegen den Terror" zur Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen wieder verstärkt auf bilaterale Kooperation und forcieren sie den Ausbau ihrer nationalen Verteidigungsfähigkeit. Zur Notwendigkeit der sicherheitspolitischen Neuordnung treten die sich mit der Weltwirtschaftsordnung verbindenden Herausforderungen an die nationalstaatliche Außenpolitik. Internationale Warenströme, die globale Ausrichtung der Dienstleistungssektoren, steigende Direktinvestitionen, vor allem aber das seit Mitte der 1980er Jahre rapide wachsende Volumen der kurzfristigen Kapitalströme führen zu weltweiten Interdependenzen, die die Handlungsspielräume nationalstaatlicher Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken zunehmend einschränken (S. Strange, 1995; II. Haftendorn, 2001, S. 429 ff.). Zwar sind die 50

3. Die Internationalisierung der deutschen Politik Versuche zu begrüßen, über internationale Vereinbarungen etwa innerhalb der 1995 aus dem GATT hervorgegangenen Welthandelsorganisation (WTO) zu einer verstärkten Koordination nationaler Wirtschafts- und Währungspolitiken beizutragen, doch erweisen sich die eingesetzten Instrumente bislang als unzureichend, die ökonomischen Entgrenzungsprozesse wirksam zu kanalisieren. Dies gilt auch für die regelmäßigen Treffen der Staats- und Regierungschefs der führenden Industriestaaten, die sog. „G 8-Gipfel". So reichte etwa die Agenda des Treffens von Kananaskis 2002 von der Bekämpfung des internationalen Terrorismus über die Eindämmung von AIDS, nachhaltige Entwicklung in der Umweltpolitik, verbesserte Schulbildung für Kinder in ärmeren Ländern und einer Lösung des Palästinakonflikts bis hin zur Verabschiedung eines „Aktionsplans für Afrika". Abgesehen davon, dass sich die G 8 infolge eines derart breiten Themenspektrums selbst zu entwerten droht, stößt auch die Praxis, für die gesamte Weltwirtschaft bedeutsame Fragen in „exklusiven Regierungszirkeln" regeln zu wollen, zunehmend auf gesellschaftlichen Protest. Dabei rückte die sich seit 1997 transnational formierende Anti-Globalisierungsbewegung 1999 anlässlich des „Milleniums-Gipfels" der WTO in Seattle erstmals in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Der in Teilen radikale Protest der Globalisierungsgegner, auf den die Ausrichter der Welthandelskonferenz zunächst hilflos reagierten, greift die weit verbreitete Angst vor einer unkontrollierbaren und sich scheinbar nach dem „Gesetz des Stärkeren" entwickelnden Weltwirtschaft auf. Zur Rückgewinnung politischer Steuerung fordert die Bewegung vor allem die Einführung einer Steuer auf international spekulative Kapitalflüsse („Tobin-Tax"). In Anbetracht liberalisierter Kapitalmärkte und der unter dem GATT vereinbarten „Meistbegünstigungsklausel" (most-favoured-nation-status) bietet sich erweiterter Handlungsspielraum aber nur in von der Welthandelsorganisation zugelassenen Ausnahmefallen. Danach können lediglich permanente Freihandelszonen die Meistbegünstigungsklausel für ihre Mitglieder unterschreiten. Ob damit allerdings eine Wiedergewinnung von „Steuerungsfähigkeit" verbunden ist, bleibt fraglich. So sieht sich etwa die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) erheblichen Vollzugsproblemen gegenüber, kommt der Zollabbau innerhalb des südamerikanischen MERCOSUR angesichts rezessiver Wirtschaftsentwicklung nur schleppend voran und stellen die südostasiatischen Regionalregime zumal nach den Krisen, die die „Tigerstaaten" in den 1990er Jahren durchliefen, bestenfalls Entwicklungspotentiale dar. Die ökonomisch am weitesten fortgeschrittene und politisch stärkste Regionalorganisation - die Europäische Union - kann hier als Vorbild, aber auch als Beispiel für die Grenzen politischer Handlungsfähigkeit dienen. So sind die Erfolge einer Politik der negativen Integration in Form von Deregulierung und dem Abbau von Handelshemmnissen unbestreitbar; hingegen gelten Maßnahmen der positiven Integration, die auf eine Rückgewinnung wirtschafte-, sozial- und arbeitsmarktpolitischer Steuerungsfähigkeit zielen, angesichts des funktionalen Handlungsbedarfs noch als unzureichend (F. W. Scharpf, 1999). In globaler Perspektive steht zu befürchten, dass die etablierten Systeme der internationalen Zusammenarbeit und die im Rahmen der W T O vereinbarten Kooperationsformen im Wesentlichen auf die „entwickelte" Welt zielen, während sich ökonomische und soziale Disparitäten im Weltmaßstab weiter verschärfen (F. Nuscheier, 19944; World Bank, 2002; L. Kühnhardt, 2000). Hier erzeugen nicht nur die mit dem Bevölkerungswachstum verbundenen Verteilungsfragen, sondern auch die seit den 1990er Jahren wieder anwachsende Armut beträchtliche Probleme für die soziale und politische Stabilität der Entwicklungsländer. Aus den angesprochenen Ungleichgewichten ergeben sich zudem negative Rückwirkungen auf die Industrieländer, sei es in Form einer zunehmenden militärischen Bedrohung durch die unkontrollierte Verbreitung von Rüstungsgütern und Nuklearmaterial in der

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Dritten Welt oder aber durch grenzüberschreitende Umweltprobleme infolge von Rohstoffabbau und damit verbundener Konsequenzen für das ökologische Gleichgewicht. Von nicht geringerer Bedeutung ist allerdings, dass die industrialisierten Staaten als Großverbraucher von Energie und anderen Rohstoffen auftreten. Der erste Versuch zur Formulierung einer „Weltumweltpolitik" anlässlich der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 verband sich daher auch mit großen Erwartungen (vgl. beispielhaft T.W. Beine, 1993, Ergebnisse der Konferenz in Deutscher Bundestag, 1993, S. 39 ff.); sie wurden allerdings nachhaltig enttäuscht. So machte die Folgekonferenz in Kyoto 1997 deutlich, dass mit routinisierten Absichtserklärungen keine Fortschritte bei der angestrebten „nachhaltigen Entwicklung" zu erreichen sind. Es waren nicht zuletzt die hoch- und höchstindustrialisierten Staaten, die ein Zurückfallen hinter die Zielvorgaben von Rio zu vertreten hatten. Der „Durchbruch" zur Absenkung des weltweiten Kohlendioxydausstoßes, der über die Einigung auf Verfahrensregeln zum internationalen Handel mit Emissionsrechten anlässlich der Weltklimakonferenz in Bonn 2001 erreicht werden sollte, blieb wiederum aus, da sich insbesondere die USA der Ratifizierung des Kyoto-Protokolls mit der Begründung verschlossen, dies widerspreche ihren energiepolitischen Interessen. Ein weiterer Anlauf zur weltweiten Durchsetzung ressourcenschonender Maßnahmen wurde bereits ein Jahr später mit der UN-Weltkonferenz zur nachhaltigen Entwicklung unternommen. Die Notwendigkeit, die genannten grenzüberschreitenden sicherheits-, wirtschafts- und umweltpolitischen Aufgaben im internationalen Rahmen zu lösen, ergibt sich nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sie ihrerseits zu einem weiteren Problem beitragen: den seit Ende der 1970er Jahre dramatisch anwachsenden Migrationsströmen (vgl. UNHCR, 2002). Während sich 1978 etwa vier Millionen Menschen auf der Flucht vor Konflikten, Armut und Umweltproblemen befanden, näherte sich diese Zahl zu Beginn des 21. Jahrhunderts der 20 Millionen-Marke. Der Gefahr sozialer und politischer Destabilisierung versuchten die EU-Staaten mit restriktiven Asyl- und Zuwanderungspolitiken zu begegnen, die insofern erfolgreich waren, als sich die Anzahl der in der EU gestellten Asylanträge von 672.380 (1992) auf 352.380 (1999) reduzierte ( E U R O S T A T , 2002); dieser Rückgang verband sich vor allem mit der seit 1993 restriktiveren deutschen Asylpolitik. Allerdings ist zu beachten, dass Europa nicht das Hauptziel der Migranten ist, die großen Flüchtlingsbewegungen vielmehr vor allem unmittelbare Anrainerstaaten von Konfliktherden betreffen. So lebten 1999 etwa in Pakistan über 1,2 Millionen Flüchtlinge, deren Zahl durch den Krieg in Afghanistan 2001 nochmals stark anstieg {UNHCR, 2002). 3.2. Die Entwicklung der Europäischen Union Zu den für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bedeutsamen „Entgrenzungen" tritt der Prozess der europäischen Integration. Damit werden nicht nur Möglichkeit und Grenzen supranationaler Willensbildung und Entscheidung angesprochen, es geht vielmehr auch - und in zunehmenden Maße - um den Rahmen, innerhalb dessen sich die deutsche „Innenpolitik" bewegt. Der Beginn des europäischen Einigungsprozesses ist vor dem Hintergrund der Situation nach 1945 zu sehen. Die Kriegszerstörungen und die Aufteilung Europas in mehr als zwei Dutzend Nationalstaaten ließen Ideen zur Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa" hervortreten. Winston Churchills Rede in Zürich (1946), die 1948 in Den Haag gegründete „Europäische Bewegung" und eine Reihe weiterer Initiativen deuteten an, dass von einer gewissen Bereitschaft auszugehen war, nationalstaatliche Hoheitsrechte internationalen Organisationen zu übertragen. Erste Schritte auf diesem Weg stellten die Gründung der

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3. Die Internationalisierung der deutschen Politik Organisation for European Economic Co-operation (OEEC, die Vorgängerorganisation der 1961 ins Leben gerufenen Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) 1948 sowie des Europarates 1949 dar. Während die OEEC/OECD vor allem dem amerikanischen Wunsch nach europäischer Zusammenarbeit entsprang und primär die Aufgabe hatte, im Rahmen des sog. European Recovery Program (ERP, A/eri/»a//-Plan-Hilfe) die Verteilung und den Einsatz nordamerikanischer Wiederaufbauhilfen in Europa zu organisieren, bildete der Europarat gleichsam die „Keimzelle" der europäischen Einigungspolitik. So waren und sind die späteren EG- bzw. EU-Staaten auch Mitglieder des Europarates, was wiederum eine enge Verklammerung der beiden Organisationen bei der Herausbildung einer europäischen Rechtsordnung zur Folge hatte. Der Europarat dient der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und verabschiedet neben (nicht-bindenden) Entschließungen auch Konventionen oder Abkommen, die Gesetzeskraft in jenen Ländern erlangen, die das Abkommen ratifizieren. Zu den wichtigsten bislang verabschiedeten Konventionen zählen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (1950), die Kulturkonvention (1957), die Europäische Sozialcharta (1961), das Europäische Datenschutzabkommen (1981), die Rahmenkonvention für den Schutz nationaler Minderheiten (1995) sowie die Europäische Konvention für Menschenrechte und Biomedizin (1997). Die von ursprünglich zehn Gründungsmitgliedern auf nunmehr 45 Staaten angewachsene Organisation - die Bundesrepublik wurde 1950 Mitglied - verfügt über zwei zentrale Repräsentativgremien, das Ministerkomitee (die Außenminister der Mitgliedstaaten) und die Parlamentarische Versammlung, die sich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammensetzt. Die Europäische Gemeinschaft wird ungeachtet der vielfältigen transnationalen Kooperationsformen innerhalb Europas zurecht als wichtigster Ausdruck der europäischen Integration gesehen (H. Wallace! W. Wallace, 2000 4 , S. 8). Den eigentlichen Gründungsakt markiert der Schuman-Plan vom Mai 1950 und die nachfolgend 1951 in Paris begründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch Montanunion genannt; vgl. Materialband, X/l). Spielten dabei wirtschaftliche Erwägungen für die Gründungsmitglieder (Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Benelux-Staaten) eine wichtige Rolle, war die Einbindung der kriegswichtigen Schlüsselindustrien und die damit verbundene Kontrolle Westdeutschlands im Rahmen eines multilateralen Kontextes das zentrale Motiv vor allem seitens Frankreichs. Primäres Interesse Konrad Adenauers war es hingegen, die Bundesrepublik angesichts des sich immer deutlicher abzeichnenden Ost-West-Konflikts möglichst rasch in die westeuropäischen bzw. transatlantischen Strukturen einzubinden; hinzu trat das Betreben, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges jenen verhängnisvollen Nationalismus zu überwinden, der das Verhältnis der europäischen Staaten so lange geprägt hatte. Die Einschätzung, nach der die Nationalstaaten im Bereich der Wirtschaftspolitik am ehesten bereit seien, Souveränitätsrechte abzugeben, erwies sich auch nach Gründung der EGKS als zutreffend. So scheiterte der vom französischen Außenminister Pleven vorgestellte Plan zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 am Widerstand der französischen Nationalversammlung; die innenpolitisch wie im europäischen Kontext heftig umstrittene Wiederbewaffnung Deutschlands wurde daher im Rahmen des Nordatlantikpaktes (NATO) und der Westeuropäischen Union (WEU) vollzogen, denen die Bundesrepublik mit den Pariser Verträgen von 1954 beitrat. Demgegenüber verständigten sich die sechs EGKS-Mitglieder 1957 in Rom auf die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) (vgl. Materialband, X/2-3), wodurch die gemeinschaftliche Politik über die Kohle- und Stahlsektoren hinaus auf alle Wirtschaftsbereiche ausgedehnt werden sollte. Vorausgegangen war diesem

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Schritt ein zähes Ringen um die Übertragung von Souveränitätsrechten auf die supranationale Ebene. Sowohl die französische als auch die deutsche Regierung standen der Initiative des Präsidenten der Hohen Behörde der EGKS, Jean Monnet, die Gemeinschaftskompetenzen auszuweiten, aus unterschiedlichen Gründen skeptisch gegenüber. Während sich das wirtschaftlich geschwächte Frankreich gegen die Schaffung einer Zollunion sowie die „Europäisierung" der Atompolitik wandte, sah die ökonomisch prosperierende Bundesrepublik, der die militärische Nutzung der Atomenergie durch die Pariser Verträge ohnehin untersagt war, in der Zollunion ein Hindernis auf dem Weg zu einem liberalisierten Welthandelssystem und einer technologischen Zusammenarbeit mit den USA und Großbritannien. Die „Römischen Verträge" stellten insofern einen Kompromiss dar, als binnen zwölf Jahren die Schaffung einer Zollunion in Übereinstimmung mit den Regeln des GATT (General Agreement on Tarifs and Trade) sowie ein gemeinsamer Markt für Brennstoffe zum Aufbau einer leistungsfähigen europäischen Kernindustrie vereinbart wurden. Auf der Grundlage des EGKS-, des EWG- und des EURATOM-Vertrags schritt der Integrationsprozess dann fort, wobei sich das deutsch-französische Verhältnis als wichtigster „Motor" und „Reibungspunkt" erwies (deutsch-französischer Freundschaftsvertrag 1963; Debatte zwischen „Atlantikern" und „Gaullisten"; Infragestellung des Mehrheitsprinzips zur Entscheidungsfindung im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik durch Frankreich; „Politik des leeren Stuhls", die 1966 durch den sog. Luxemburger Kompromiss beendet wurde; 1967 schließlich Fusion von EGKS, EWG und Euratom zu den Europäischen Gemeinschaften (EG); vgl. G. Ziebura, 1995). Nachdem 1968 die Zollunion schneller als geplant in Kraft trat, stellten weitere Staaten den Antrag, der Gemeinschaft beizutreten. Die erste Erweiterung um Dänemark, Großbritannien und Irland erfolgte 1972. Wurde die Binnenentwicklung der EG bis Mitte der 1980er Jahre stark durch die deutsch-französischen Beziehungen geprägt - so die enge Zusammenarbeit zwischen Präsident Valéry Giscard d'Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Wirtschafts- und Währungspolitik - , suchte sich die Gemeinschaft zunehmend auch als außenpolitische Einheit zu definieren. Nach dem missglückten Versuch, die Idee der EVG in Form der Fouchet-Pläne 1958 wiederzubeleben, einigten sich die Staatsund Regierungschefs der sechs EG-Gründerstaaten 1969 darauf, im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) außenpolitisch verstärkt zusammenzuarbeiten und bis 1980 eine Europäische Union zu verwirklichen. Auf der Basis des sog. TindemansBerichts (1975) war es vorgesehen, auch die Außenhandels-, Wirtschafts- und Währungspolitik zu „europäisieren" sowie das Europäische Parlament in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess verstärkt einzubeziehen. Obwohl diesen Vorschlägen zunächst nicht gefolgt wurde, bildeten sie die Grundlage des weiteren Europäisierungsprozesses, als dessen primärer Protagonist sich Deutschland begriff. Zu Beginn der 1980er Jahre geriet die europäische Integration in eine Phase der Stagnation. Abgesehen von den durch die beiden Ölkrisen 1973 und 1979 veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen schienen sich erstmals die Vergrößerung der Gemeinschaft - 1981 kam Griechenland als zehntes Mitglied hinzu - sowie die Tatsache eines eingeschränkten Integrationskonsenses negativ auf die Vertiefung der Gemeinschaft auszuwirken. Notwendige Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und der Finanzverfassung scheiterten ebenso wie der erneute Versuch zum Aufbau einer „europäischen Außenpolitik". Vor diesem Hintergrund lancierten der deutsche Außenminister HansDietrich Genscher und sein italienischer Amtskollege Emilio Colombo 1981 eine Initiative für eine „Europäische Akte", durch die weitere Aufgabenbereiche der Außen- und Sicherheitspolitik, der Entwicklungspolitik, der Technologie- und Energiepolitik sowie der Gesell54

3. Die Internationalisierung der deutschen Politik schafts- und Kulturpolitik vergemeinschaftet werden sollten. Mit dem vom Europäischen Parlament 1984 verabschiedeten Entwurf eines „Vertrages zur Gründung der Europäischen Union" lag erstmals ein verfassungsähnlicher Vorschlag zur Ausgestaltung der künftigen Gemeinschaft vor. Auf der Basis entsprechender Ausschussempfehlungen kam es 1986 schließlich zur Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte, die - als Erweiterung der EG-Gründungsverträge - die rechtlichen Grundlagen insbesondere für die Vollendung des Binnenmarktes schuf. Der 1991 in Maastricht unterzeichnete Vertrag über eine Europäische Union, der den Binnenmarkt durch eine Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine Politische Union ergänzen sollte, schuf eine neuartige institutionelle Basis. Mit der Europäischen Union (EU) entstand eine integrierte Struktur von supranationalen Einrichtungen, entsprechend vergemeinschafteten Politiken und intergouvernemental zu regelnden Aufgabenbereichen. Nach der seinerzeit gebräuchlichen Metapher beruhte die EU auf „drei Säulen": der EG, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZJIP). Aus deutscher Sicht wurde der EU-Vertrag als ein entscheidender Fortschritt im europäischen Einigungsprozess bewertet. Allerdings erwies sich auch, dass der historisch begründete Integrationswille der Bundesregierung, der von der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit mitgetragen wurde, innenpolitisch an Grenzen stieß. Mit dem Bekenntnis zur Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und damit zur Aufgabe der D-Mark demonstrierte Deutschland gleichwohl seine Bereitschaft, in den europäischen Einigungsprozess zu „investieren". Dieses Signal war in den Augen der anderen Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreichs, umso wichtiger, als der bereits zuvor größte und wirtschaftlich mächtigste Mitgliedstaat durch die Wiedervereinigung weiter an Bedeutung gewann. Die durch den Vertrag von Maastricht reformierte institutionelle Struktur sollte der inzwischen auf zwölf Mitglieder angewachsenen Union - 1986 waren Spanien und Portugal der EG beigetreten - Stabilität verleihen. Angesichts der erneuten Erweiterung um Finnland, Österreich und Schweden 1995 sowie des Drängens der ex-sozialistischen Staaten Mittelund Osteuropas auf raschen Beitritt ergab sich allerdings bald erneuter Reformbedarf. Die geplante Osterweiterung wurde von deutscher Seite explizit unterstützt, sah man darin doch die Chance einer dauerhaften Stabilisierung des Kontinents und das ökonomische Potential eines erheblich erweiterten Marktes. Im Rahmen der Regierungskonferenz von Amsterdam in den Jahren 1996/97 wurde der EU-Vertrag einer erneuten Überprüfung unterzogen. Im Mittelpunkt stand die institutionelle Vorbereitung der EU auf die Aufnahme von bis zu zwölf neuen Mitgliedern, wie sie 1997 in Luxemburg formal beschlossen worden war (J. J. Hessel M. Schaad, 1998). Da dieses Ziel mit dem Vertrag von Amsterdam (vgl. Materialband, X/4-7) nur zum Teil erreicht werden konnte, wurde letzterer bereits ein Jahr nach Inkrafttreten im März 1999 ein weiteres Mal reformiert. Auch der Vertrag von Nizza (2000) brachte allerdings keine grundlegende Neuausrichtung des im EU-Vertrag verankerten institutionellen Kontextes. Der Fortschritt der Beitrittsverhandlungen mit zehn Kandidatenländern zwang die Union daher zu einem entschiedeneren Schritt: Im Dezember 2001 setzten die Staats- und Regierungschefs in Laeken den sog. Konvent zur Zukunft der Europäischen Union ein, der den Auftrag zur Ausarbeitung eines „Verfassungsvertrages" erhielt und im Juli 2003 einen entsprechenden Entwurf vorlegte; er diente der nachfolgenden Regierungskonferenz als Entscheidungsgrundlage (vgl. J. J. Hesse, 2003). Die bisherige Darstellung dokumentiert nicht nur die gleichsam stufenförmige Entwicklung des Integrationsprozesses, sondern verweist auch auf die zunehmenden normativen und funktionalen Grenzen der „Europäisierung". Waren zu Beginn die Ziele europäischer Integra55

I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen tion relativ klar umrissen („containment" Deutschlands; wechselseitige Wohlfahrtsgewinne durch einen integrierten Wirtschaftsraum), differenzierten sich die Interessen der am „europäischen Projekt" beteiligten Staaten immer weiter aus, so dass die friedliche Einigung Europas als eigentliche „Finalität" des Prozesses aus dem Blickfeld zu geraten schien. Die dabei zutage tretenden konträren europapolitischen Ideen und Interessen waren und sind stark von Staats- und Verwaltungstraditionen sowie institutionellen Modellvorstellungen der einzelnen EU-Mitglieder geprägt. Sie resultieren zugleich aus strategischen Überlegungen in konkreten Verhandlungs- und Entscheidungssituationen. Zwischen der politischen und institutionellen Vertiefung und der territorialen Erweiterung gewann der Integrationsprozess dabei eine in Teilen durchaus „anarchische" Eigendynamik, der sich die Mitgliedstaaten heute kaum mehr entziehen können (vgl. I. Tömmel, 2003, S. 51 ff.). Die Rechtsordnung der Europäischen Union erweist sich insofern als einzigartig, als sie nicht so umfassend wie die nationalen Rechtsordnungen, gleichwohl aber wesentlich weitreichender als das Völkerrecht angelegt ist. Faktisch delegieren die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Souveränitätsrechte an eigenständige europäische Organe und Einrichtungen. Während das seit 1979 direkt gewählte Europäische Parlament als unmittelbare Vertretung der Bürger angesehen wird, sind die Nationalstaaten im Europäischen Rat bzw. im Rat der Europäischen Union („Ministerrat") repräsentiert. Der Kommission als drittem Hauptorgan kommt die Aufgabe zu, die Gemeinschaftsinteressen zu vertreten. Ergänzt wird dieses „institutionelle Dreieck" durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), den Rechnungshof sowie fünf sog. Nebenorgane und dreizehn Fachagenturen. Im Unterschied zu nationalstaatlichen Regierungsorganen sind Parlament und Rat nur bedingt als Legislative, die Kommission nur bedingt als Exekutive und der Gerichtshof nur bedingt als Judikative zu interpretieren. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Organe der EU, vom Gerichtshof abgesehen, sich nur „überwiegend" einem der genannten Bereiche zuordnen lassen. Trotz einiger Verbesserungen kann auch nach Vorlage der hierauf bezogenen Entwürfe des EU-Konvents von einem den Namen verdienenden System der Gewaltenteilung nicht die Rede sein. Das Europäische Parlament (EP), das diesen Namen offiziell erst seit dem Vertrag von Maastricht trägt, hat seine Ursprünge in den 1950er Jahren. Als „Gemeinsame Versammlung" zunächst der EGKS und dann der EG setzte es sich anfänglich aus Delegierten der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten zusammen. Seit 1979 werden die Abgeordneten des EP, das aus politischen Gründen in Straßburg (Plenarsitzungen), Luxemburg (Generalsekretariat) und Brüssel (Ausschüsse und Fraktionen) tagt, auf fünf Jahre direkt von den europäischen Bürgern gewählt. Die Zahl der Europaabgeordneten variiert je nach Bevölkerungszahl der einzelnen Mitgliedstaaten: So stellt Deutschland als bevölkerungsreichstes Mitglied 99 der derzeit 626 EP-Mitglieder (im Vorfeld der Osterweiterung legte der Europäische Rat von Nizza eine Obergrenze von insgesamt 732 Parlamentariern fest, eine Zahl, die im Verfassungsentwurf des EU-Konvents auf 736 korrigiert wurde), während Luxemburg durch zwei Abgeordnete vertreten ist. Die nationalen Mandatskontingente mussten mit jeder Erweiterungsrunde angepasst werden. Wurde das Parlament anfänglich noch proportional vergrößert, rückte die relative Sitzverteilung spätestens seit dem Vertrag von Maastricht in den Mittelpunkt der kontroversen Reformdiskussion, da das EP vor allem in den 1990er Jahren eine kontinuierliche Kompetenzerweiterung erfuhr. Gemessen an „klassischen" Parlamentsaufgaben, der Gesetzgebung und der Kontrolle sowie des Haushaltsrechts (s. auch Kapitel IV., 1.), hat das Europäische Parlament immer noch einen „schwachen" Stand. Allerdings wurden die Zuständigkeiten der Europaabgeordneten, die sich entsprechend ihrer Parteifamilien in länderübergreifenden Fraktionen zusammengeschlossen haben, seit Mitte der 1970er Jahre stetig ausgebaut. So erhielt das Parlament

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3. Die Internationalisierung der deutschen Politik 1970 und 1975 erste Befugnisse im Bereich des Haushalts und der Regelung der Gemeinschaftsfinanzen; 1978 folgte der Beschluss zur Direktwahl der Abgeordneten, wurde durch die Einheitliche Europäische Akte das EP im Rahmen des sog. Kooperationsverfahrens erstmals am Rechtsetzungsverfahren der Gemeinschaft beteiligt und übertrugen die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza (1992, 1997, 2000) dem EP im Rahmen des sog. Mitentscheidungsverfahrens substanzielle Einflussnahmen auf die EU-Gesetzgebung (sowie Rechte zur erweiterten Information mit Blick auf die GASP und ZJIP). Auf die weitere Stärkung des EP zielt auch der Verfassungsentwurf des EU-Konvents, der das parlamentarische Mitentscheidungsverfahren als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren" festschreibt (Art. 33 Abs. 1 Verf.-Entw.). Jedoch konnte sich der Konvent nicht darauf einigen, hiermit konsequent die Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat zu verknüpfen, die vorgesehene Beibehaltung der Einstimmigkeitsregel insbesondere in der ZIJP und der GASP steht der Etablierung des EP als gleichrangigem Gesetzgeber neben dem Rat entgegen. Die sukzessive Stärkung des EP lässt sich allerdings nicht nur anhand der Entwicklung der Legislativfunktion ablesen. Auch im Bereich des Haushaltsrechts ist das Parlament inzwischen ein zentraler Akteur. Es ist nicht nur (mittelbar) an der Aufstellung, Beratung und Verabschiedung des EU-Haushalts beteiligt, sondern entscheidet auch über Ausgaben, die nicht durch die EU-Verträge vorgeschrieben sind. Dies gilt etwa im Rahmen der europäischen Forschungs-, Sozial- und Regionalpolitik. Überdies kann das Parlament den Haushaltsplan insgesamt ablehnen, ein Recht, von dem es 1979 und 1984 bereits Gebrauch machte. Zudem ist es seit 1988 auch an der mehrjährigen Haushaltsplanung beteiligt und überwacht die Haushaltsdisziplin der anderen Organe. Nach dem Vorschlag des Verfassungskonvents soll das Parlament künftig in allen Phasen der EU-Haushalts- und Finanzplanung - also der Ausarbeitung der allgemeinen Finanz- und Haushaltsgrundsätze, der Mittelfestlegung, der mehrjährigen Finanzplanung sowie der jährlichen Aufstellung, Beratung und Verabschiedung des EU-Haushalts - maßgeblich beteiligt sein. Bei der Verabschiedung des jährlichen Haushaltsplans schreibt der Konventsentwurf dem Parlament sogar das Letztentscheidungsrecht zu (Art. III-310 Verf.-Entw.). Von seiner anfänglichen Machtlosigkeit gegenüber der Kommission als „europäischer Exekutive" hat sich das Parlament mithin nach und nach zu einem echten Kontrollorgan entwickelt. So kann es die Kommission aufgrund eines Misstrauensvotums stürzen und muss der Ernennung des Kommissionspräsidenten und der Kommissare zustimmen. Im vorgelegten Verfassungsentwurf ist sogar vorgesehen, dass das EP den Kommissionspräsidenten auf der Grundlage eines Vorschlags des Europäischen Rates wählt. Die Ausweitung der Parlamentsbeteiligung an der Willensbildung und Entscheidung dürfte nicht nur von einer verstärkten öffentlichen Aufmerksamkeit begleitet sein, sie beinhaltet darüber hinaus auch die Notwendigkeit einer effizienten Organisationsstruktur. Mit Blick hierauf gliedert sich das EP - ähnlich den nationalen Parlamenten - in 17 ständige und sechs nichtständige Ausschüsse. Das Spektrum der Ausschussarbeit, die im Wesentlichen der inhaltlichen Vorbereitung der Plenarsitzungen dient, reicht vom Bereich Auswärtige Angelegenheiten bis hin zu Fragen der Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherpolitik. Auch wenn das EP heute angesichts seiner Kompetenzausstattung als ein Kernorgan der EU gelten kann, ist nach wie vor streitig, inwieweit es als „europäische Volksvertretung" zu charakterisieren ist. Einer solchen Kennzeichnung widerspricht die ungleiche Repräsentation der EU-Bevölkerung - unter dem Stichwort „Demokratiedefizit" vielfach diskutiert (grundlegend P. Graf Kielmansegg, 1996) - ebenso wie die zentrale Stellung des Ministerrats bzw. des Europäischen Rats, vor allem im Rahmen der Gesetzgebung und bei Grundsatzentscheidungen.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Der Europäische Rat berät und beschließt über „Weichenstellungen" der europäischen Entwicklung. Er setzt sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der EU-Kommission zusammen. In den EG-Verträgen zunächst nicht erwähnt, tagt er ausgehend von einer Initiative des damaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing seit 1974 mindestens zweimal jährlich. Im Zuge der Einführung der GASP in Maastricht fand der Europäische Rat erstmals vertragliche Anerkennung und stellt eine eigenständige Institution dar. Seine Rolle und Funktion wandelte sich im Laufe seiner Tätigkeit. Ursprünglich als eher informelles Gremium angelegt, innerhalb dessen sich die politische Führung der EU-Staaten periodisch über wesentliche Fragen der europäischen Integration austauschte, wurde er rasch zur zentralen Instanz bei der Reform des europäischen Vertragswerks. Dies gilt vor allem für die bereits angesprochenen Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza sowie für die Einsetzung des EU-Konvents im Dezember 2001. Angesichts der immer enger werdenden zeitlichen Abfolge der benannten Vertragsrevisionen dokumentiert sich darin allerdings auch ein eher exekutives Politikmodell, das die Integration „von oben" vorantreibt. Zwar wären zentrale Integrationsschritte ohne die enge Kooperation der Staats- und Regierungschefs so sicher nicht erfolgt, doch stellt sich der Europäische Rat mit der Häufung „geschichtsträchtiger Entscheidungen" (J. Peterson, 1995) in seiner Funktion als Weichensteller des europäischen Einigungsprozesses bisweilen selbst in Frage. Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents sucht die bislang unspezifizierte Rolle und Funktion des Europäischen Rates zu präzisieren. Als Organ der Europäischen Union soll er vornehmlich politische Zielvorstellungen formulieren, ohne dabei gesetzgeberisch tätig zu werden. Zudem sieht der Entwurf die „Öffnung" der bisher einseitigen Methode der Vertragsrevisionen vor, indem der Regierungskonferenz zur Erarbeitung von Reformvorschlägen generell ein Konvent vorgeschaltet werden soll. Darüber hinaus kommt der halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten rotierenden Ratspräsidentschaft eine wichtige Funktion im Bereich der GASP zu. Sie koordiniert nicht nur die EU-Außenpolitik zwischen den Mitgliedstaaten und bereitet entsprechende Beschlüsse vor, sondern vertritt die Union auch nach außen (Art. 18 EUV). Vor dem Hintergrund wachsender außenpolitischer Anforderungen seit Mitte der 1990er Jahre sind diese Regelungen jedoch zunehmend in Kritik geraten. Zwar stellte das Rotationsprinzip im Bereich der GASP eine gleichberechtigte Verantwortungsteilung zwischen allen Mitgliedstaaten sicher, doch erwies sich der schnelle Wechsel der Ratspräsidentschaft insofern als unglücklich, als der EU in ihrer Außenwahrnehmung ein beständiger Ansprechpartner fehlte. Die Hoffnung, dieses organisatorische Defizit durch die Zusammenführung des Amtes des Generalsekretärs des Rates mit dem durch den Amsterdamer Vertrag geschaffenen Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik („Mr. GASP") zu lösen, erwies sich als trügerisch, zumal die „verwirrende" Situation in der Außenvertretung der EU noch dadurch verstärkt wurde, dass auch je ein EU-Kommissar für Außenbeziehungen und Außenhandelspolitik zuständig war. Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents könnte hier insofern Abhilfe schaffen, als eine Amtszeit des Ratspräsidenten von zweieinhalb Jahren vorgeschlagen wird; einer einheitlichen Außenwahrnehmung der Union stünde jedoch das ungeklärte Verhältnis des Ratspräsidenten zum neu zu schaffenden „EU-Außenminister" auch weiterhin entgegen. Der Ministerrat mit Sitz in Brüssel ist als Vertretungsorgan nationalstaatlicher Interessen zu sehen. Als nach wie vor wichtigstes Entscheidungsorgan der Union setzt er sich aus Repräsentanten der Mitgliedstaaten auf Ministerebene zusammen. Die Formation des regelmäßig tagenden Rates wechselt themenbezogen (Rat für Auswärtige Angelegenheiten, für Finanzen, für Agrarpolitik etc.). Zu seinen Hauptaufgaben zählen die Koordinierung der (allgemeinen) Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, die Haushaltsbefugnis, die er sich 58

3. Die Internationalisierung der deutschen Politik mit dem Europäischen Parlament teilt, der Abschluss internationaler Verträge, die Entscheidungsfindung zu einzelnen politischen Fragen im Bereich der GASP anhand der vom Europäischen Rat vorgegebenen allgemeinen Orientierungen, die Koordinierung des Vorgehens der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit sowie die Verabschiedung gemeinsamer Maßnahmen in diesem Bereich. Seine Funktion als Legislativorgan nimmt der Rat in einer Vielzahl von Gemeinschaftsbereichen, in Teilen gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, wahr. Er kann Rechtsakte erlassen oder sie verzögern, wird aber nur dann tätig, wenn ihm ein entsprechender Entwurf der Kommission vorliegt. Dieser gelangt zunächst in den Ausschuss der Ständigen Vertreter, wo versucht wird, nationalstaatliche Interessengegensätze auszuräumen. Die Beschlüsse des Ministerrats können mit einfacher Mehrheit, mit qualifizierter Mehrheit oder einstimmig erfolgen. Während bei einstimmigen Beschlüssen oder einfachen Mehrheitsbeschlüssen jedes Land eine Stimme hat, verfügen die Länder bei Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit über unterschiedliche Stimmengewichte. Diese schwanken zwischen zehn Stimmen im Falle der größten und drei Stimmen im Falle der kleinsten Mitgliedstaaten. Aufgrund der eminent politischen Bedeutung war die relative Stimmengewichtung zwischen den Mitgliedstaaten stets umstritten und wurde vor jeder Erweiterung - zuletzt anlässlich des Vertrags von Nizza - neu diskutiert. Um im Falle qualifizierter Mehrheitsentscheidungen einer Majorisierung einzelner Mitgliedstaaten vorzubeugen, sieht der Verfassungsentwurf ein „doppeltes Mehrheitskriterium" vor. Demnach soll für jene Rechtsakte, die bislang einer qualifizierten Mehrheit bedurften, sowohl eine Staatenmehrheit als auch die Zustimmung von mindestens drei Fünftel der gesamten EU-Bevölkerung notwendig sein. Die Europäische Kommission, die derzeit 20 Mitglieder umfasst, vertritt als „Exekutive" der Union nicht nur das Gemeinschaftsinteresse, sondern fungiert traditionell auch als „Motor" der europäischen Integration. Neben der Ausführung europäischer Rechtsakte, deren Einhaltung sie als „Hüterin der Verträge" zusammen mit dem Europäischen Gerichtshof überwacht, vertritt die Kommission die EU-Staaten in handelspolitischen Fragen auf internationaler Ebene und besitzt vor allem das ausschließliche Initiativrecht im Rahmen der Gemeinschaftsgesetzgebung. In materieller Hinsicht zählen zu den Exekutivrechten der Kommission insbesondere die Haushaltsaufstellung sowie die Verwaltung der Strukturfonds (u. a. Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft, Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für Regionalentwicklung). Daneben verfügt die Kommission über eine Reihe von Kontrollrechten, die Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof einschließen. Seit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages ist sie zudem „in vollem Umfang" an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beteiligt (Art. 18 EUV); mit der 1997 in Amsterdam beschlossenen Überführung von Teilen der Innen- und Justizpolitik in die sog. „erste Säule" des Vertragswerks wird ihr ab 2004 das ausschließliche Initiativrecht in allen „vergemeinschafteten" Bereichen der ZIJP zugestanden (Art. 67 EGV). Ähnlich wie die Mandatsverteilung im Europäischen Parlament und die Stimmengewichtung im Ministerrat spiegelt die formale Zusammensetzung der Kommission die Machtinteressen der Mitgliedstaaten wider. Infolge der bisherigen Regelung, der zufolge die großen Mitgliedstaaten je zwei und die kleineren je einen Kommissar stellen durften, vergrößerte sich die Kommission im Laufe der Erweiterungsrunden beträchtlich. Da die Fortschreibung dieser Regel angesichts der bevorstehenden Osterweiterung aus Funktionalitätsgründen nicht aufrecht zu erhalten war, versuchten sich zunächst die Staats- und Regierungschefs in Nizza (2000) an einer konsensfähigen Lösung. Demnach sollte jeder Mitgliedstaat nach der Erweiterung nur noch einen Kommissar stellen, zudem wurden eine Obergrenze von 27 Kommissaren und - für den Fall nachfolgender Erweiterungen - ein nicht näher bestimmtes 59

I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Rotationsverfahren festgeschrieben. Der EU-Konvent dagegen sieht in seinem Verfassungsentwurf eine stärker differenzierte Lösung vor. Demnach würde die Zahl der Kommissare mit Beginn der sechsten Amtsperiode des Europäischen Parlaments (November 2009) auf 15 begrenzt. Die dann erfolgende Neubestimmung der Kommissionsmitglieder sollte auf Basis einer „gleichberechtigten Rotation" (Artikel 1-25 Abs. 3 Entwurf des Verfassungsvertrages) erfolgen, wobei das „demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten" {ebd.) zu berücksichtigen wäre. Zu den 15 stimmberechtigten Kommissaren kämen weitere nicht stimmberechtigte Kommissare, deren Aufgaben und Kompetenzen allerdings nicht näher erläutert wurden. Mit Blick auf die Auswahl der Kommissare lässt sich eine gewisse „Parlamentarisierungstendenz" erkennen. Während die Kommissionsmitglieder ursprünglich von den Regierungen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen und eingesetzt wurden, änderte der Vertrag von Amsterdam diese Praxis insofern, als die Regierungen zwar weiterhin den Kommissionspräsidenten ernennen und im Einvernehmen mit diesem die übrigen Kommissare auswählen, das Europäische Parlament aber der Wahl des Präsidenten zustimmen und die Kommission als Kollegium förmlich im Amt bestätigen muss. Der Vertrag von Nizza baute die Einflussmöglichkeit des EP im Rahmen eines dreistufigen Ernennungsverfahrens dann weiter aus: Demnach bestimmt zunächst der Rat mit qualifizierter Mehrheit den Kommissionspräsidenten; nach Zustimmung des EP nimmt er dann eine in Einvernehmen mit dem designierten Präsidenten erarbeitete Liste der weiteren Kommissare an; schließlich wird die gesamte Kommission zunächst vom Parlament und dann vom Rat bestätigt. Dieses ab 2005 zu Anwendung kommende Verfahren könnte sich bereits 2009 erneut als obsolet erweisen, sollte der Vorschlag des EU-Konvents umgesetzt werden. Danach ist das Parlament nicht mehr nur an der Auswahl des Präsidenten, sondern aller Mitglieder der Kommission beteiligt. Der Europäische Gerichtshof schließlich (EuGH) „sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge" (Art. 220 EGV). Dabei stellt er aufgrund der Klage eines Mitgliedstaates, eines EU-Organs, eines Unternehmens oder eines EU-Bürgers fest, ob in einem Einzelfall gegen geltendes EU-Recht verstoßen wurde; er entscheidet auch über die Auslegung des Vertragstextes. Der EuGH gestaltet somit europäisches Recht und bewahrt es zugleich. Seine Urteile sind als letztinstanzliche Rechtsprechung unanfechtbar. Allerdings war er bis zum Maastrichter Vertrag auf die Bereitwilligkeit der Mitgliedstaaten angewiesen, seinen Urteilen Folge zu leisten. Erst der modifizierte Art. 228 des EG-Vertrages erlaubt es dem EuGH seit 1993, den Anspruch übergeordneten europäischen Rechts durch die Verhängung von Zwangsgeldern zu unterstreichen. Die Bedeutung des EuGH ist in den letzten Jahren zweifellos gewachsen. Dies gilt vor allem für sog. Vorab-Entscheidungen, die dann ergehen, wenn ein nationales Gericht nicht zu klären vermag, ob neben nationalem auch europäisches Recht verletzt wurde und den EuGH um entsprechende Entscheidung ersucht. Diese ist für das nationale Gericht dann bindend. Die derzeit fünfzehn Richter des EuGH werden auf sechs Jahre ernannt, ebenso die acht Generalanwälte. Während an der Zahl der Generalanwälte, die im Übrigen durch einstimmigen Beschluss des Rates erhöht werden kann, auch im Vertrag von Nizza festgehalten wurde, sieht letzterer vor, dass der Gerichtshof aus „einem Richter je Mitgliedstaat" (Art. 221 EGV) gebildet wird. Dies dürfte bei der 2004 anstehenden Erweiterung der Union entsprechende Anpassungen zur Folge haben, zumal der EU-Konvent in seinem Verfassungsentwurf keine Änderungsvorschläge gemacht hat. Der faktische Stellenwert des EuGH lässt sich nicht zuletzt aus der vermehrten Inanspruchnahme des Gerichts ablesen. So wurden zwischen 1953 und 2002 12.407 Rechtssachen anhängig und 5.782 durch Richterspruch entschieden. Um der drohenden Überlastung des Gerichtshofs zu entgegnen, einigte man sich im September 1989 darauf, ein

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3. Die Internationalisierung der deutschen Politik Gericht Erster Instanz (EuG) zu schaffen, das für Klagen von natürlichen und juristischen Personen gegen Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen zuständig ist. Auch anhand materieller Schlüsselentscheidungen während der 1990er Jahre werden die angesprochenen Grenzen des Integrationskonsenses aufgrund nationaler Interessengegensätze deutlich. Einen wesentlichen Schritt zur Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft strebten die Staats- und Regierungschefs mit dem benannten Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 an. Dabei ging es um die Schaffung der Wirtschaftsund Währungsunion und deren Ergänzung um eine Politische Union. Das ursprünglich angestrebte „föderale Ziel", dem sich Großbritannien erfolgreich widersetzte, wurde in diesem Zusammenhang nicht mehr genannt. Statt dessen ist von einer „immer engeren Union unter den Völkern Europas" die Rede - ein Postulat, das sich in ähnlichem Wortlaut schon in den Römischen Verträgen von 1957 findet. Die integrationspolitische Zurückhaltung der Mitgliedstaaten wurde auch mit Blick auf die „zweite" und „dritte" Säule des Vertragswerks deutlich. So hatten Deutschland und andere Mitgliedstaaten die europäische Innen- und Justizpolitik ebenso wie die Außen- und Sicherheitspolitik ursprünglich soweit als möglich in die Gemeinschaftssäule integrieren wollen, anstatt sie der Zusammenarbeit der nationalen Regierungen zu überlassen. Der Kompromisscharakter des Maastrichter Vertrages wurde zudem in einer Reihe von Ausnahmeregelungen deutlich. Hierzu zählten ein Protokoll über die Einführung einer gemeinsamen Sozialgesetzgebung, ein Protokoll, das Großbritannien das Fernbleiben von der letzten Stufe der Währungsunion (gemeinsame Währung) erlaubt, schließlich ein Protokoll, das höhere strukturpolitische Zuwendungen für Spanien, Portugal, Irland und Griechenland garantiert (Kohäsionsfonds). Angesichts der erkennbaren Differenzierungen und des lediglich perspektivischen Fortschritts auf dem Weg zu einer Politischen Union war den Verhandlungsdelegationen bewusst, dass es sich bei dem Vertragswerk um eine Ubergangslösung handelte, die sich in der Praxis bewähren musste. In der Folgezeit richteten sich immer neue Erwartungen an die hierfür einberufene Regierungskonferenz, die sich drei miteinander verwobenen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zuordnen ließen: Zum einen wurde deutlich, dass der Europäisierungsprozess nicht mehr auf uneingeschränkte Akzeptanz des europäischen Publikums traf, was sich unschwer aus den Ergebnissen der Referenden zum Maastrichter Vertrag in Frankreich und Dänemark ablesen ließ, die beide äußerst knappe Zustimmungsraten aufwiesen. Dass Akzeptanzfragen sich nicht nur mit dem Vertragswerk verbanden, sondern auch auf den Verlauf des Europäisierungsprozesses richteten, bestätigte sich mit dem Ausgang der schwedischen Wahlen zum Parlament, vom negativen Votum der norwegischen Bevölkerung zum Beitritt in die Europäische Union ganz abgesehen. Als weitere Herausforderung nach Maastricht begann sich die Erweiterung der Union herauszubilden. Hier ging es zunächst um die Aufnahme Finnlands, Österreichs und Schwedens, wobei neben den üblichen Kompensationsgeschäften (im Rahmen der europäischen Struktur- und Regionalpolitik) Forderungen nach einer weitergehenden Reform der EU laut wurden. Eine Verzögerung des Integrationsprozesses und insbesondere des Übergangs zu einer auch Politischen Union stellte mit Blick auf die bevorstehende Ost- und Süderweiterung jetzt ein beträchtliches Problem dar. Insbesondere der Reformprozess in Mittel- und Osteuropa entwickelte eine - zum Zeitpunkt der Verhandlungen in Maastricht unvorhergesehene - Eigendynamik, die in zwölf Beitrittsgesuche der bereits genannten Staaten mündete. Zu den Problemen bürgerschaftlicher Akzeptanz und institutioneller Reform trat eine intensive Diskussion über die Wirtschafts- und Währungsunion. Der vereinbarte Zeitplan wie die vertraglich fixierten Konvergenzkriterien wurden angesichts einer europaweiten Rezession in Frage gestellt. Die zur Erfüllung der Kriterien notwendigen Konsolidierungs61

I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen anstrengungen in den öffentlichen Haushalten führten in ihrer deflationären Wirkung zu einem erneuten Akzeptanzverlust in der europäischen Bevölkerung. Gleichzeitig wurde deutlich, dass nicht nur der Weg zur gemeinsamen Währung umstritten war, sondern auch die fiskal- wie geldpolitische Orientierung nach deren Einführung. Hier ging und geht es um die Stabilität des Euro, um die Vermeidung möglicher „beggar thy neighbour"-Politiken sowie schließlich um Fragen des politischen Einflusses auf die Europäische Zentralbank. Obwohl die Wirtschafts- und Währungsunion nicht auf der Tagesordnung der Amsterdamer Regierungskonferenz stand, beeinflusste sie diese doch erheblich. Die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Dublin (Oktober 1996) und Amsterdam (Juni 1997) wurden dann von Auseinandersetzungen über die Währungsunion flankierende Stabilitäts- und Beschäftigungspolitiken überschattet. Während man sich in Amsterdam auf letztere einigte und damit die W W U wieder „auf Kurs" brachte, wurden die Ergebnisse der Regierungskonferenz insgesamt als eher ernüchternd empfunden (vgl. Materialband, X/7). Mit Blick auf eine Politische Union ließen sich lediglich geringfügige Fortschritte ausmachen: Justiz- und innenpolitische Fragen fielen nach dem Entwurf des „Amsterdamer Vertrages" in Teilen in den Bereich der Gemeinschaftszuständigkeit, während die Gemeinsame Außenpolitik durch die Bestellung des Generalsekretärs des Rates zum Hohen Vertreter in Fragen der GASP an Profil und durch die Bildung einer Planungs- und Analyseeinheit an Effektivität gewinnen sollte. In beiden Bereichen verblieb allerdings auch weiterhin das Einstimmigkeitsprinzip, während der Ausbau der W E U zum sicherheitspolitischen Arm der Union am Widerstand Großbritanniens und anderer Mitgliedstaaten scheiterte. Zwar gelang es den Regierungschefs, sich auf die Gründung eines „Gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" zu einigen und das Schengen-Abkommen in die Gemeinschaftssäule zu überführen, allerdings nicht ohne Ausnahmeregelungen für Dänemark, Großbritannien und Irland in Kauf nehmen zu müssen. Die demokratische Legitimation und eine damit verbundene parlamentarische Kontrolle durch ein erweitertes Mitentscheidungsverfahren wurden durch den Vertrag von Amsterdam nur geringfügig gestärkt, während Initiativen zur Wiedergewinnung bürgerschaftlichen Vertrauens, wie der Grundrechtekatalog, entweder zunächst aufgeschoben wurden oder sich auf Ankündigungen beschränkten. Zwischen 1998 bis 2002 kam es dann zu einer Reihe von Initiativen und Maßnahmen, mit denen die Union sich den angesprochenen Herausforderungen zu stellen suchte, so der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion, der Vorbereitung der Osterweiterung, einer umfassenden institutionellen Reform und der Gewährleistung von Transparenz und bürgerschaftlicher Akzeptanz. Um vor allem erstere zu sichern, führten Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Spanien und Portugal nach der Errichtung der Europäischen Zentralbank im Juni 1998 den Euro formal zum 1. Januar 1999 ein. Die übrigen EU-Mitglieder blieben dieser „Euro-Zone" zunächst fern, entweder aus Skepsis gegenüber dem Gelingen der W W U (so in Großbritannien, Schweden und Dänemark) oder aber mit Blick auf die Maastrichter Konvergenzkriterien. Der zunächst stetige Kursverlust der neuen europäischen Währung gegenüber dem Dollar schien die Vorbehalte gegenüber dem Euro auch zu bestätigen. Nachdem dieser ab Januar 2002 die nationalen Währungen in den Euro-Ländern als offizielles Zahlungsmittel ablöste und sich sein Außenwert stabilisierte, begannen auch die nordeuropäischen Mitgliedstaaten den Beitritt zur Euro-Zone zu erwägen. Während die formale Vollendung der WWU von einigen Beobachtern als „europäische Erfolgsgeschichte" bewertet wird, gestaltete sich der Versuch, die Institutionen und Verfahren der Union mit Blick auf die bevorstehende Erweiterung anzupassen, als ungleich schwieriger. Dass weniger Anpassungsprobleme der Beitrittsländer als vielmehr die interne

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3. Die Internationalisierung der deutschen Politik Reformunfähigkeit der Union zum Hindernis für die Erweiterung werden könnte, schien sich zunächst auf einer Sondertagung des Europäischen Rats in Berlin (März 1999) zur Finanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2000-2006 zu bestätigen. Zwar wurde letztlich eine Einigung über die sog. „Agenda 2000" und über die mittelfristige Finanzierung der Osterweiterung erzielt, doch zeigte sich etwa an den ablehnenden Haltungen Frankreichs und Spaniens, Abstriche an den Subventionszahlungen für die Landwirtschaft oder den Beihilfen aus dem Struktur- und Regionalfonds zu akzeptieren, dass eine funktional unabdingbare Reform der EU einmal mehr an nationalen Egoismen zu scheitern drohte. Die Dominanz nationalstaatlicher Interessen wurde zudem mit Blick auf nach dem Gipfel von Amsterdam verbliebene Probleme, die sog. Amsterdam left-overs, deutlich. Substantiellere Reformen, wie die Neuausrichtung der Struktur- und Kohäsionsfonds, erfuhren anlässlich des Europäischen Rats von Nizza eine erneute Verschiebung. Auch im Hinblick auf die Stärkung der Akzeptanz der EU sind die bisherigen Anstrengungen ambivalent zu beurteilen. Ein wichtiger Anstoß zur Verbesserung der Transparenz und Effizienz der europäischen Organe und Einrichtungen ging von einem Skandal um die Kommission Sanier aus, die im Mai 1999 geschlossen zurücktreten musste, nachdem der französischen Kommissarin Edith Cresson „Vetternwirtschaft" nachgewiesen worden war. Nach Einsetzung einer neuen Kommission im September 1999 regte deren Präsident Romano Prodi nicht nur interne Reformen an, sondern initiierte auch eine Debatte zur Zukunft der Europäischen Union, in deren Rahmen die Kommission ein Weißbuch zum „Europäischen Regieren" vorlegte. Allerdings verdeutlicht bereits der Umstand, dass die Inhalte dieses Weißbuchs in der europapolitischen Diskussion allenfalls randständig aufgegriffen wurden, die allgemeine Enttäuschung über das Dokument. Als positives Signal wurde dagegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewertet, die von einem „Konvent" unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten, Roman Herzog, erarbeitet, von den Staats- und Regierungschefs in Nizza im Dezember 2000 feierlich proklamiert und in den Verfassungsentwurf des EU-Konvents integriert wurde (vgl. S. Alber, 2003). Dieser tagte mit der expliziten Zielsetzung, „Effizienz, Transparenz und Demokratie" innerhalb der Europäischen Union zu verbessern. Der vorgelegte Entwurf einer „Europäischen Verfassung" stellt zwar, anders als sein Name vermuten lässt, einen Vertrag dar, der die Letztverantwortung weiter bei den Mitgliedstaaten belässt. Durch die Beendigung des patchwork unterschiedlicher Europäischer Verträge, die Überführung der Regelungen von EGV und EUV in eine einheitliche Systematik und die Abschaffung der „Säulenstruktur" der Union wird dieser jedoch eine transparentere Grundordnung verliehen. Von einer grundlegenden Überarbeitung der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten sah der Konvent ab, wenn auch die vorgeschlagene Kategorisierung der Kompetenzen in ausschließliche Unionszuständigkeiten, Bereiche geteilter Zuständigkeit sowie Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen der Union eine beträchtliche „Ordnungsleistung" darstellt (J. J. Hesse, 2003). Schließlich könnten auch die angestrebte Vereinfachung und Vereinheitlichung des europäischen Norm- und Rechtsetzungsverfahrens die Legitimität europäischer Entscheidungsprozesse verbessern. Ob die „EU-Verfassung" zu einer Stärkung des bürgerschaftlichen Vertrauens in die Union führen und als normativ wie funktional akzeptable Grundlage des weiteren Integrationsprozesses dienen kann, bleibt allerdings abzuwarten, zumal der Entwurf nicht nur der einstimmigen Annahme durch die Regierungen der Mitgliedstaaten, sondern auch aufwändiger Ratifizierungsverfahren und Referenden bedarf.

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen 3.3. Handlungsfelder der deutschen Außenpolitik Die internationale Stellung der Bundesrepublik Deutschland ist seit 1989 vor dem Hintergrund erheblich veränderter Rahmenbedingungen zu sehen. Die geopolitische Lage in der Mitte Europas, die Wiedererlangung der vollen Souveränität sowie die fortlaufende Europäisierung und Internationalisierung stellen die deutsche Politik vor Aufgaben, die nicht mehr im Rahmen gegebener Routinen zu bewältigen sind. Mit Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik gab es in der „alten" Bundesrepublik sowohl angesichts der historischen Erfahrungen als auch der gegebenen sicherheitspolitischen „Einbettung" eine Tendenz, die Artikulation nationaler Interessen zurückzustellen. Die bipolare Struktur der internationalen Ordnung setzte während des Kalten Krieges den außenpolitischen Handlungsspielräumen beider deutscher Staaten enge Grenzen. Zwar ermöglichte die unter Adenauer begonnene Einbindung Westdeutschlands in die europäischen bzw. transatlantischen Bündnissysteme nach und nach die Wahrnehmung erweiterter Souveränitätsrechte, jedoch nur um den Preis einer kontinuierlichen „Selbstbeschränkung" (Ablehnung der sog. „Stalin-Note" im März 1952, durch die sich nach Ansicht zahlreicher Beobachter eine frühe Chance zur Wiedervereinigung bot). Auch in der Folgezeit blieb das Verhältnis zum „anderen deutschen Staat" ein wesentlicher Bezugspunkt der Außenpolitik der Bundesregierung. Dies galt sowohl für die sog. Hallstein-Doktrin, der zufolge die Bundesrepublik die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der D D R durch dritte Staaten als „unfreundlichen Akt" ansah, als auch für die unter Brandt eingeleitete Ostpolitik („ Wandel durch Annäherung"), die innenpolitisch heftige Kontroversen auslöste (vgl. oben 1.1.). So standen die außenpolitischen Debatten bis 1989 weniger unter nationalen, als vielmehr unter „systempolitischen" Vorzeichen. Mithin kann es kaum verwundern, dass der Wiedervereinigung eine lebhafte Diskussion über eine „machtbewusstere" Außenpolitik folgte, die nach dem Regierungswechsel 1998 nochmals Auftrieb erhielt. Dabei stand bei den Einen die Rückgewinnung eines vermeintlich unterdrückten nationalen Selbstbewusstseins im Vordergrund, bei Anderen eine Neugewichtung des west- und ostpolitischen Interesses, bei Dritten schließlich die künftige Rolle der Bundesrepublik in den Internationalen Organisationen (vgl. u.a. A. Baring, 1991, H.-P. Schwarz, 1994). In unterschiedlichen Szenarien sah man Deutschland als „Regionalmacht" (die Eigen- wie Fremdinteressen zu verbinden hätte), ging von aufbrechenden Interessengegensätzen innerhalb der Europäischen Union aus oder forderte eine deutlich eigenständigere Außenpolitik (vgl. beispielhaft Zitelmannl Weißmann/Grossheim, 1993). Zu einer Definition des „nationalen Interesses" stießen allerdings nur wenige vor (vgl. A. Baring, 1995), das Thema erschien unverändert tabuisiert. Nach dem Amtsantritt der rot-grünen Koalition und dem Regierungsumzug nach Berlin rückten dann allerdings Fragen der Kontinuität des außenpolitischen Handelns und der Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner in den Mittelpunkt. Dabei ging es primär um die Wahrnehmung von Verantwortung im Rahmen multilateraler Bündnisse sowie um die Stärkung und ggf. Reform Internationaler Organisationen, die an den Leitbildern multilateraler Friedenspolitik und Wohlstandsoptimierung auszurichten seien (vgl. zu den teils kontroversen Auseinandersetzungen u.a. C. Hacke, 19932; T. Garton Ash, 1994; Κ. KaiserlH. W. Maull, 1994 fT.; R. Scharping, 1995; W. Schäuble/ R. Seiters, 1996; E. Bahr, 1998; R. Herzog, 1999; K. Kaiser, 1998; M. Staack, 1999). Trotz der in Teilen emotionalisierten Diskussion, die auch von Befürchtungen US-amerikanischer und französischer Beobachter vor einer (wiederkehrenden) Dominanz Deutschlands in Europa geprägt war (J. Mearsheimer, 1990; G. Hellmann, 1997; W. Link, 1999), zeigte sich die deutsche Politik zunächst unbeeindruckt, betonten Koalition wie Opposition

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3. Die Internationalisierung der deutschen Politik die Kontinuität außenpolitischer Prioritäten. Zwar wurde bereits unter Helmut Kohl wiederholt die Forderung nach einem Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat erhoben, jedoch nicht mit hinreichendem Nachdruck verfolgt. Die für viele voreilige, in jedem Fall aber einseitige Anerkennung Kroatiens und Sloweniens im Jugoslawienkonflikt 1991/92, seinerzeit als Indiz deutschen „Großmachtstrebens" gewertet und national wie international scharf kritisiert, verdeutlichte erstmals die Schwierigkeiten außenpolitischer Identitätsfindung nach der Wiedervereinigung. Allerdings zeichnete sich auf operativer Ebene bereits seit Mitte der 1990er Jahre ein „schleichender Paradigmenwechsel" hin zu einer eigenständigeren Außenund Sicherheitspolitik ab (vgl. zusammenfassend W. v. Bredow, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.05.2003). Erkennbar wurde dies anhand des Parlamentsbeschlusses über den Bundeswehreinsatz in Bosnien-Herzegowina, der nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 über die Zulässigkeit eines out-of-area-Mznâ?As in parteienübergreifendem Konsens zustande kam. 1998/99 wurde die Bereitschaft der Bundesrepublik zu einer erweiterten Übernahme internationaler Verantwortung dann erneut auf die Probe gestellt. Angesichts von Berichten über Greueltaten der serbischen Armee im Kosovo beschloss die erst wenige Tage amtierende Regierung Schröder eine Beteiligung der Bundeswehr an dem entsprechenden NATO-Einsatz. Da dieser ohne UN-Mandat auf zweifelhafter völkerreichlicher Grundlage beruhte, zog die Entscheidung kontroverse Debatten auch innerhalb der Regierungsparteien nach sich. Eine ähnliche Situation ergab sich nach dem 11. September 2001, als Schröder den Vereinigten Staaten die „uneingeschränkte Solidarität" Deutschlands versicherte und den nachfolgenden Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr nur mittels einer Vertrauensfrage innerhalb der rot-grünen Koalition konsensfahig machen konnte (s. dazu auch Kapitel IV., 3.). Im Vorfeld des Irak-Krieges 2003 schien wiederum die „traditionelle" Ausrichtung bundesdeutscher Außenpolitik auf: Mit der Erklärung Schröders, sich auf keine militärischen „Experimente" außerhalb der Vereinten Nationen einlassen zu wollen, bekräftigte die Bundesregierung die auch in der Bevölkerung weit verbreitete Präferenz für zivile Konfliktprävention, ging damit aber erstmals seit 1945 auf Konfrontationskurs gegenüber den USA. Zusammenfassend finden sich im außenpolitischen Auftreten der Bundesregierung vermehrt Anzeichen einer „nationalen Interessenpolitik", die inhaltlich aber noch unausgeprägt erscheint, kaum Kontinuität erkennen lässt und zur wirksamen Durchsetzung auf internationaler Ebene weiterer auch diplomatischer „Professionalisierung" bedarf. Die nach dem Irak-Krieg erkennbaren Schwierigkeiten des „Umsteuerns" gegenüber den Vereinigten Staaten sind hierfür ein Beleg. Im Rahmen der künftigen Gewichtung und Weiterentwicklung der außenpolitischen Instrumente zählt die Reform der Bundeswehr, die vor 1989 materiell wie personell ausschließlich an der unmittelbaren Landesverteidigung ausgerichtet war, zu den vordringlichsten Aufgaben. Wurde bereits unter Kohl eine Anpassung der Streitkräfte an die Herausforderung internationaler Kriseneinsätze diskutiert, setzte die Regierung Schröder im März 1999 eine Kommission unter dem Vorsitz des Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker ein, die sich in ihrem Abschlussbericht für eine grundlegende Umstrukturierung und Modernisierung der Bundeswehr aussprach, ohne allerdings die Abschaffung der Wehrpflicht zu fordern. Diese Empfehlungen gingen auch in das Reformkonzept von Bundesverteidigungsminister Scharping vom Oktober 2000 ein, das auf die Eingliederung der Bundeswehr in eine europäische Sicherheitsstruktur zwischen NATO, WEU und EU abhob. Nach dem 11. September 2001 verstärkte sich der Handlungsdruck nochmals: Zu den Balkaneinsätzen, die seit 1994 den Schwerpunkt des deutschen militärischen Engagements in internationalen Friedenseinsätzen bildeten (2002 taten rund 7.000 Bundeswehrsoldaten in Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und im Kosovo Dienst), trat nun die Beteiligung an der

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan mit mehr als 1.200 Soldaten. Insgesamt waren im Jahr 2002 etwa 14.000 Bundeswehrsoldaten im Ausland stationiert (vgl. Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, 2003). Nach eher punktuellen Veränderungen der Bundeswehrorganisation erließ Verteidigungsminister Struck mit Wirkung vom 21. Mai 2003 neue Verteidigungspolitische Richtlinien, die als verbindliche konzeptionelle Grundlage der künftigen Sicherheitspolitik dienen. Demnach gelten internationale Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung als Kernaufgabe einer neuausgerichteten Bundeswehr. Angesichts der gewandelten strategischen Anforderungen sowie der prekären Haushaltslage des Bundes sollen sich die Umstrukturierungsmaßnahmen auf „den Erhalt und die Verbesserung der militärischen Kernfähigkeiten" der Bundeswehr als Ganzes konzentrieren. Dazu zählen „Führungsfähigkeit, Nachrichtengewinnung und Aufklärung, Mobilität, Wirksamkeit im Einsatz, Unterstützung und Durchhaltefähigkeit, Uberlebensfahigkeit und Schutz". Auf dieser Basis soll der Generalinspekteur der Bundeswehr ein entsprechendes Material- und Ausrüstungskonzept vorlegen. Die Wehrpflicht allerdings wird Struck zufolge beibehalten, da sie in angepasster Form „für die Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr unabdingbar" bleibe. In solchen Aussagen wird die prägende Wirkung normativer Traditionsbestände deutlich: Trotz fundamental veränderter Einsatzbedingungen, die - wie in anderen westlichen Staaten - den funktional begründeten Übergang zu einer Berufsarmee nahe legten, fallt insbesondere den großen Parteien ein Abschied vom Leitbild des „Bürgers in Uniform" schwer; es war in der alten Bundesrepublik mit der allgemeinen Wehrpflicht untrennbar verbunden. Blickt man auf die gegenwärtige Europapolitik der Bundesrepublik, zeigt sich gleichfalls ein Spannungsverhältnis zwischen traditioneller „Integrationsfreudigkeit" und der Verfolgung „nationaler Interessen". Jüngeren Meinungsumfragen zufolge sieht eine Mehrheit der Bundesbürger beträchtliche Defizite in der deutschen Interessenwahrnehmung auf EU-Ebene, wobei dies nicht als anti-europäische Grundhaltung zu interpretieren ist, da nationale und europäische Identitäten als miteinander vereinbar angesehen werden (vgl. G. Hellmann, 2002). Auch auf politischer Handlungsebene macht sich diese Ambivalenz zunehmend bemerkbar, doch fehlt bislang ein klares Konzept, wie man mit der Führungsrolle im „neuen Europa" umgehen sollte. Innerhalb der rot-grünen Bundesregierung ist allenfalls eine personelle Arbeitsteilung auszumachen, nach der Außenminister Fischer die „klassische" integrationsfreundliche Haltung des Landes vertritt, sich als „Ideengeber" in der Debatte zur Zukunft der EU versucht (vgl. etwa seine als „programmatisch" verstandenen Berliner Ausführungen im Mai 2000 und die hierauf bezogenen Reaktionen; J. J. HesselF. Grotz, 2003 sowie C. Joerges/Y. Mény/J. H. H. Weiler, 2000) und im Rahmen des EU-Verfassungskonvents überwiegend „moderierende" Positionen bezog (s. ausführlich hierzu J. J. Hesse, 2003). Bundeskanzler Schröder übernahm demgegenüber den Part des die nationalen Interessen repräsentierenden Akteurs, so in seiner wiederholten Kritik an dem von der EU-Kommission vertretenen industriepolitischen Konzept oder im Rahmen der brüsken Zurückweisung „Blauer Briefe" beim Überschreiten der Defizitgrenze des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Obwohl die „Europäisierung deutscher Innenpolitik" zunehmend auch in das Bewusstsein der Entscheidungsträger rückt, trägt man dem im politischen Alltag bislang kaum Rechnung. Zwar kam es zu punktuellen Debatten über eine „Renationalisierung" einzelner „vergemeinschafteter" Politikbereiche (Landwirtschaft, Struktur- und Regionalpolitik), die bislang jedoch ohne sichtbaren Erfolg blieben. Umgekehrt wirkte das Beharren der deutschen Vertreter auf der Einstimmigkeitsregel im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik auch bei den Diskussionen um eine Europäische Verfassung wenig zielführend. Poli-

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3. Die Internationalisierung der deutschen Politik tisch-administrativ schließlich spiegelt sich die unabdingbare europapolitische „Professionalisierung" in der Diskussion über ein gesondertes Europaministerium wider, die vor der Bundestagswahl 2002 intensiv geführt, infolge der Rücksichtnahmen auf den Koalitionspartner aber wieder ad acta gelegt wurde. Der inzwischen beträchtliche funktionale Reformbedarf bleibt jedoch bestehen (s. dazu auch Kapitel IV., 3.2.). Die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik steht nach Ende des Ost-West-Konfliktes gleichfalls vor großen Herausforderungen. Am deutlichsten zeigt sich der damit verbundene Wandel auf programmatischer Ebene. So wurden nach 1989/90 neue Leitlinien der Entwicklungszusammenarbeit verabschiedet, über die inzwischen innerhalb der westlichen Industrieländer wie der wichtigsten Internationalen Organisationen weitgehender Konsens herrscht. Nachdem die Vergabe bi- und multilateraler Entwicklungshilfe an good governawce-Kriterien (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte) ausgerichtet wurde, folgte Deutschland auch dem seit Mitte der 1990er Jahre erkennbaren internationalen Trend, Armutsbekämpfung als primäres entwicklungspolitisches Ziel zu definieren. Darüber hinaus kam es unter der rot-grünen Koalition zu einer gleichsam „ideologischen Überhöhung" des entwicklungspolitischen Profils. So spricht etwa der jüngste Bericht der Bundesregierung von einer „Neuorientierung der deutschen Entwicklungspolitik als Element globaler Strukturpolitik" (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, 2001). Folgt man dieser Argumentation, fungieren die bilaterale technische und finanzielle Entwicklungszusammenarbeit als nur mehr „ergänzende" Maßnahmen. Da Entwicklungspolitik zudem als „Querschnittsaufgabe" verstanden werden soll, wurde 2000 sogar eine entwicklungspolitische Regelprüfung von Gesetzesvorhaben in der neuen Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien verankert (s. Materialband, VII., 2.). Die Arbeitsebene steht indes in deutlichem Kontrast zu diesem normativen Anspruch (s. zum Folgenden u.a. P. Molt in: H. Maull/S. Harnisch/C. Grund, 2003, S. 164fT.). Im politisch-administrativen Bereich zeigt sich die nachrangige Bedeutung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) nicht nur anhand der „klassischen" Ressortkonkurrenz mit dem Auswärtigen Amt, die seit Schaffung des BMZ 1962 besteht und immer wieder zu außenpolitischen Koordinierungsdefiziten führt; auch gegenüber dem Finanzministerium (BMF) lassen sich entwicklungspolitische Zielsetzungen nur schwer durchsetzen: So lehnte Bundesfinanzminister Eichel die vom BMZ unterstütze Einführung einer internationalen Kapitalverkehrssteuer („Tobin-Steuer") ebenso ab wie die im Koalitionsvertrag vorgesehene Neuregelung der Hermes-Bürgschaften. Auch der Etat des BMZ (Einzelplan 23) stagniert seit Mitte der 1990er Jahre, obwohl die Bundesregierung der Europäischen Union anlässlich der Weltkonferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Monterrey 2002 zusicherte, die öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) bis 2006 auf 0,33 Prozent des BIP zu erhöhen. Dazu wäre eine Etatsteigerung um ein Drittel notwendig, die bisherige Finanzplanung sieht jedoch eine Erhöhung um lediglich fünf Prozent vor. Nicht zuletzt ergeben sich Funktionsdefizite bei der Umsetzung aus der traditionellen Separierung von finanzieller und technischer Entwicklungszusammenarbeit. Im internationalen Vergleich bleibt unverständlich, dass die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in zahlreichen Entwicklungsländern nach wie vor jeweils eigene Büros unterhalten (s. OECD, 2003). Auch die mangelnde Schwerpunktsetzung gilt als fortbestehendes Problem. Unverändert „zerfallt" die deutsche Entwicklungshilfe sowohl geographisch (auf über 80 Länder) als auch inhaltlich (auf unterschiedlichste Projekte). Spätestens die Ereignisse des 11. September 2001 sollten deutlich gemacht haben, dass Entwicklungs- wie Außen- und Sicherheitspolitik nach Ende der

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I. Das deutsche Regierungssystem: Ausgangsbedingungen und Entwicklungsphasen Blockkonfrontation eng aufeinander zu beziehen sind. Auch von daher ist die administrative Trennung zwischen Auswärtigem Amt und BMZ kaum mehr zu rechtfertigen. Schließlich hat sich auch die Auswärtige Kulturpolitik infolge der angesprochenen „Entgrenzungsprozesse" verändert. Die politischen Leitlinien für die künftige Auslandskulturarbeit legte das Auswärtige Amt zuletzt im Juli 2000 vor (s. Auswärtiges Amt, 2000). Daraus ergibt sich zum einen eine konzeptionelle Neuausrichtung insofern, als Auswärtige Kulturpolitik nicht mehr ausschließlich als (offizielle) Vermittlung deutscher Kultur im Ausland, sondern eher als „Rahmensetzung" im internationalen kultur- und bildungsbezogenen Informationsaustausch begriffen wird. Zum anderen ist explizit auf den enger werdenden Finanzrahmen zu verweisen: Obwohl die Auswärtige Kulturpolitik einen nur geringen Anteil des Bundeshaushalts in Anspruch nimmt (2002: 0,23 Prozent), müsse auch sie „einen angemessen Beitrag zur allgemeinen Haushaltskonsolidierung leisten" {ebd., S. 3); nach dem zwischen 1992 und 2000 der Kulturhaushalt des Auswärtigen Amtes bereits um 7,8 Prozent reduziert wurde, sind weitere Einschnitte zu erwarten. Im Fazit verbindet sich damit ein (partieller) „Rückzug" des Staates. Einerseits soll dieser durch verstärkte public-private partnerships kompensiert werden: „An die Stelle ausschließlich staatlich geförderter Strukturen im Ausland (Kulturinstitute, Schulen) müssen vermehrt auch Organisationsformen in gemeinsamer Trägerschaft mit örtlichen privaten und öffentlichen Partnern treten" (6. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kulturpolitik, 2001, S. 4). Andererseits geht es um eine deutlichere Bündelung der Angebote, sowohl mit Blick auf den Adressatenkreis weg von „flächendeckenden Maßnahmen für ein breites Publikum" hin zur Ausrichtung an „Multiplikatoren" - als auch um geographische „Schwerpunktregionen". Zu letzteren zählen „Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Schwellenländer und Wachstumsregionen außerhalb Europas sowie Staaten auf dem Weg zu Demokratisierung und Verwirklichung der Menschenrechte" {ebd.). Besonders deutlich wird die regionale Zentrierung am Beispiel der Goethe-Institute: Während weltweit zahlreiche Zweigstellen in den vergangenen Jahren schließen mussten, wurden von 1988 bis 2000 in Ländern des ehemaligen Ostblocks 17 neue eröffnet. Die damit verbundene Förderung der deutschen Sprache, für die noch immer über 40 Prozent des Etats der Auswärtigen Kulturpolitik verwendet werden, ist stark „prozyklisch" ausgerichtet. Dies dokumentiert die hohe Nachfrage an Deutschunterricht etwa in Mittel- und Osteuropa und das Interesse chinesischer Bewerber an Deutschland als Studienstandort; die Anzahl der Deutsch Lernenden in Westeuropa und den USA ist hingegen rückläufig. Mit Blick auf die internationale Wissenschafts- und Forschungskooperation schließlich lässt sich den programmatischen Äußerungen des Auswärtigen Amtes wenig Zielführendes entnehmen: So habe sich die Struktur der Mittlerorganisationen - der Alexander von Humboldt-Stiftung, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) sowie der bilateralen Fulbright-Kommission - im Wesentlichen „bewährt", neue Schwerpunktsetzungen wie verstärktes „Marketing" deutscher Hochschulen im Ausland, Gründung weiterer „Deutschland-Zentren" an ausländischen Schlüsseluniversitäten und Stärkung der „Nachkontaktarbeit" seien allenfalls „im Rahmen der verfügbaren Mittel" möglich {ebd., S. 13).

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Nach Kennzeichnung der Ausgangsbedingungen für die deutsche Innen- wie Außenpolitik gilt es, mit dem Staatsaufl>au und der staatlichen Entwicklung strukturelle und prozessuale Grundlagen des Regierungssystems vorzustellen. Dem dient ein komprimierter Blick auf die Geschichte der Staatlichkeit in Deutschland, ehe das Verhältnis von Staat und Gemeinden und die Grundzüge der bundesstaatlichen Ordnung dargestellt werden. Zu einer historischen Einführung tritt dabei jeweils der Verweis auf rechtliche Grundlagen, bevor funktionale Erörterungen die Interaktion und Leistungsfähigkeit der gebietskörperschaftlichen Ebenen kennzeichnen. Abschließend werden erkennbare Reformbedarfe handlungsorientiert und mit Blick auf dem politischen Prozess zur Verfügung stehende Optionen diskutiert.

1. Notwendige Erinnerungen: zur Geschichte der Staatlichkeit in Deutschland Als man nach 1945 zu erklären suchte, wie es zur nationalsozialistischen Machtergreifung und ihren Folgen kommen konnte, standen sich in der Hauptsache zwei Denkschulen gegenüber. Während die eine im Vergleich zur Entwicklung der anderen westlichen Industrienationen von einem deutschen „Sonderweg" ausging, der nahezu zwangsläufig zur nationalsozialistischen Herrschaft geführt habe, sah die andere die „Machtergreifung" als nur eine von mehreren Entwicklungsmöglichkeiten. Im Rahmen dieser Diskussion spielten neben dem „unpolitischen Deutschen", der „verspäteten Nation", dem „Machtverzicht" des deutschen Parlaments und der „Verrechtlichung" der Politik der deutsche Staat als Inbegriff eines Obrigkeitsstaates, aber auch als Beispiel eines besonders gut verwalteten Staates eine entscheidende Rolle. Das verweist auf Besonderheiten der deutschen Staatlichkeit, die sich nicht nur im internationalen Vergleich, sondern auch für die Binnenentwicklung als prägend erwiesen haben. Der neuzeitliche Staat unterscheidet sich von seinem Vorgänger - so zumindest der Ertrag der verfassungsgeschichtlichen Forschung - vor allem dadurch, dass an die Stelle des mittelalterlichen Personenverbandes der Flächenstaat tritt. Statt personaler Zuordnungen und entsprechender Eigentums- und Treueverhältnisse ist jetzt jeder, der sich auf einem Territorium (später: dem Staatsgebiet) befindet, der dortigen Herrschaft und ihren Ordnungen und Gesetzen unterworfen. Dabei kommt es zu Unterschieden zwischen Staatsbürgern im engeren Sinne und anderen. Die Staatsbürger sollen den Schutz ihrer Herrschaft auch genießen, wenn sie das eigene Land verlassen; die anderen bringen ihn im Normalfall mit. Damit sind die drei Merkmale genannt, die den neuzeitlichen Staat kennzeichnen und die sich mehr oder weniger eindeutig definieren lassen: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt (oder auch Herrschaft). In Deutschland stieß die Entwicklung des neuzeitlichen Staates auf drei grundlegende praktisch-politische Schwierigkeiten, die sich auch auf seine theoretische Konstruktion und seine ideologische Interpretation auswirkten. Die erste Schwierigkeit ergab sich daraus, dass in der Phase des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit die politische Herrschaft im deutschsprachigen Raum stark zersplittert war, die einzelnen Herrschaften über eine mehr oder minder große Selbständigkeit verfügten und die Zentralgewalt (sofern man das Kaiser-

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung tum des Heiligen Römischen Reiches überhaupt als solche bezeichnen will) relativ schwach erschien. Die zweite Schwierigkeit folgt aus der Tatsache, dass es aufgrund der zersplitterten Herrschaftsverhältnisse nur sehr bedingt gelang, die adligen Zwischenherrschaften in das Gebilde „Staat" zu integrieren. Aus der Grundherrschaft abgeleitete Rechte blieben häufig bestehen und führten dazu, dass in Teilen der Länder die örtlichen Grundherren aus eigenem Recht die Gerichtsbarkeit ausübten und auch Verwaltungsbefugnisse wahrnahmen, die im Unterschied zu den örtlich-genossenschaftlichen Aufgaben eigentlich der Herrschaft zukamen. Damit endete der jeweilige Staat, sofern der Landesherr aufgrund eines größeren Domänenbesitzes nicht selbst örtlich Grundherr war, in einer vagen Zwischenebene. Das schwächte den Staat nach unten, machte ihn abhängig von Verhandlungen der Landesfürsten mit den Ständen und führte zu großen Unterschieden zwischen den Ländern. Die dritte Schwierigkeit verband sich mit der in der Neuzeit einsetzenden Herausbildung nationaler Identitäten. Während der Nationalstaat in größeren Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Schweden zum „Normalfall" wurde, wobei der Begriff auf eine gewisse räumliche Übereinstimmung von Staat und Nation und auf sprachliche, kulturelle und religiöse Gemeinsamkeiten deutet, galt dies für Vielvölkerstaaten wie Österreich - Ungarn natürlich nicht oder nur eingeschränkt. Deutschland bildete hier immer einen Sonderfall, weil es über keine festen Grenzen verfügte, weil deutsche Stammesgebiete (wie Holstein) mit anderen Ländern verbunden waren, weil vorwiegend deutsche Länder (wie etwa Preußen) auch anderssprachige Untertanen hatten oder weil ganz bzw. teilweise deutschsprachige Länder (wie die Schweiz oder die Niederlande) sich politisch von Deutschland lösten. Zudem: Deutschland war das klassische Land der Glaubensspaltung. In ihm wurde auch der Staat konfessionell definiert. Nach 1800 kam es dann in großen Teilen Deutschlands zu einem Modernisierungsschub, der stärker als anderswo unter dem Vorzeichen des „Staates" stand. Er wurde ausgelöst durch den Wohlfahrtsstaat des Absolutismus, die Impulse der Aufklärung, die Staatswissenschaft des 18. Jahrhunderts, den Machtgewinn der politischen Zentrale (vor allem in Österreich und Preußen, aber auch in der Markgrafschaft Baden), und nicht zuletzt durch die französische Revolution und ihre Folgen. Im Zuge dieses Modernisierungsprozesses entwickelte sich der Staat zum modernen Staat fort. Die staatlichen Merkmale wurden im Gebiet des deutschen Bundes, das neben einem gemeinsamen Kern andere Länder umfasste als das Deutsche Reich von 1870/71, zwar nicht für den Bund, wohl aber für alle Bundesmitglieder übernommen: Das jeweilige Staatsgebiet war eindeutig definiert und von klaren Grenzen umzogen. Da zudem das Recht der Staatsangehörigkeit und damit der unmittelbare Bezug zwischen dem Staat und seinen Bürgern nicht nur erlassen, sondern auch durchgesetzt wurde, waren Staatsgebiet und Staatsvolk eindeutige Größen. Lediglich bei der Staatsgewalt gab es noch Interpretationsschwierigkeiten - vor allem im Verhältnis zwischen dem Monarchen und dem Landtag. Geklärt aber war, dass es nur eine Staatsgewalt geben sollte und Unter- oder Zwischenherrschaften (wie die grundherrliche oder die Patrimonialgerichtsbarkeit, auch eine gutsherrliche Polizei) damit im Prinzip unvereinbar waren. An dieser relativen Einheitlichkeit wird der grundlegende Unterschied zwischen dem neuzeitlichen und dem modernen Staat deutlich. Im neuzeitlichen Staat war nach einer Gegenüberstellung von Otto Hintze die Staatsgewalt an ihrem unmittelbaren Objekt, also an „Land und Leuten" orientiert, während man im modernen Staat nach ihren Funktionen unterschied, wobei diese Funktionen dann für das gesamte Land galten. Diese Unterscheidung wurde in der Trennung von Justiz und Verwaltung, der Voraussetzung für das Entstehen der modernen Administration, am deutlichsten. 70

1. Notwendige Erinnerungen: zur Geschichte der Staatlichkeit in Deutschland Das Modell Staat mit den Merkmalen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt musste nach den deutschen Verhältnissen sowohl auf das Königreich Preußen als etwa auch auf das Herzogtum Sachsen-Meiningen anwendbar sein. Dies gelang der deutschen Staatsrechtslehre insofern, als sie auf die Souveränität als Staatsmerkmal verzichtete und mit Blick auf die Staatsgewalt neben das überlieferte Modell der Gewaltenteilung auch noch das der Teilung der staatlichen Aufgaben setzte. Dazu bedurfte es lediglich einer Grundkonstruktion, nach der bei dem einen Partner, den Ländern, die Zuständigkeitsvermutung liegt, während die Aufgaben des anderen Partners aufgezählt werden. Auf diese Weise blieben auch Meiningen oder Lippe „Staat", selbst Bayern konnte sich mit diesem Zustand abfinden. In der Praxis ergab sich aber doch eine Zweiteilung: Nach außen agierte „das Reich" und erfüllte nationale Sehnsüchte, nach innen agierte der jeweilige Staat und bedurfte anderer Integrationsmechanismen, um als solcher akzeptiert und respektiert zu werden. Dem folgte trotz einer expansiven Außenpolitik für die eigentliche Staatlichkeit eine starke Innenwendung (T. EllweinU. J. Hesse, 1994, Neuausgabe 1997). Damit war der deutsche Staat stark und schwach zugleich. Er war als Zusammenschluss stark (wenn auch nur als „Kleindeutschland") und ermöglichte den vielen kleineren Staaten eine Konzentration auf die Staatstätigkeit nach innen. Er war als Zusammenschluss zugleich schwach, weil er als solcher nur einen kleinen Teil der Staatsfunktionen übernahm. Die Reichsverfassung von 1871 normierte für das Reich zwar erhebliche Zuständigkeiten, verwehrte es ihm aber, eine eigene Verwaltung einzurichten. Die Zuständigkeiten konnten nur im Rahmen der Gesetzgebung wahrgenommen werden, während der Vollzug bei den Länderverwaltungen lag. Diese unterstanden damit auf der einen Seite der landeseigenen Verwaltungsführung und bekamen vom Land ihre Ressourcen zugewiesen. Auf der anderen Seite waren die Gesetze des Reiches zu vollziehen. Der deutsche Typus des Föderalismus ist in dieser Hinsicht ein Verwaltungsföderalismus - mit der notwendigen Konsequenz, dass zwar die Staatsaufgaben zwischen Bund und Ländern geteilt sind, die Länder aber an der Willensbildung im Bund teilhaben. Im Übrigen kommt es zu einem Nebeneinander des starken und des schwachen Staates. Bis heute ist der topos verbreitet, der deutsche Staat des vorigen Jahrhunderts habe sich durch eine schlagkräftige und straffe Verwaltung ausgezeichnet und sei eben deshalb stark gewesen. Dabei denkt man meist eher an Preußen als etwa an Anhalt. Die Verwaltungsstruktur war aber reichseinheitlich. Wenn in ihrem Rahmen Verwaltung schlagkräftig gewesen sein sollte, kann das nur heißen, dass die Verwaltung den „politischen Willen" rasch und unverzüglich vollzogen hat und dazu auch straff organisiert gewesen sein muss. Dieses oft nachträglich gezeichnete oder von Verwaltungsangehörigen zur Stilisierung der eigenen Institution entworfene Bild verweist aber nur auf einen Teil der Wirklichkeit. In ihm kommen Landräte ebenso wenig vor wie jene Kommunalpolitiker, die einen sehr weitgehenden Gebrauch von ihrem „Aufgabenfindungsrecht" machten und zum Wohle der Stadt wie der Stadtkasse in gleichsam „munizipalsozialistischer" Manier Einrichtungen schufen, ohne auch nur die Frage zu stellen, ob Derartiges Aufgabe der öffentlichen Hand sei. Dass der deutsche Staat einfach stark war, wird jedoch nicht durch Einzelbeispiele relativiert. Es ist wenigstens kurz dem nachzugehen, was denn diese Stärke ausgemacht haben soll: Der Staat ist stark, so kann man dabei vereinfachen, wenn er weiß, was er will und wenn er kann, was er will. Er vermag mithin einen „Willen" zu bilden und ihn dann auch durchzusetzen. Befehl und Gehorsam werden zu konstitutiven Merkmalen. Der Gesetzgeber erlässt den Gesetzesbefehl, die Verwaltung gehorcht, in dem sie den Befehl vollzieht. Wenn aber der deutsche Staat mit Blick auf seinen Willen wirklich stark war, dann war er das einerseits aufgrund einer insgesamt noch funktionierenden Selbstbescheidung und andererseits durch

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Formen der Willensäußerung, die die Verwaltung zwar in eine Richtung steuerte, sie im Zweifel aber nicht konkret anwies: Regierungskunst als Selbstbescheidung und als Steuerungsbemühen. Stärke erwies sich nicht in hektischer Regierungsaktivität und auch nicht darin, dass man sich in den Ministerien auf all zu viele Einzelfallentscheidungen einließ. Vereinfacht: Staatlichkeit beruhte im 19. Jahrhundert noch nicht auf einem Übermaß an Aufgaben des Staates und auch noch nicht auf überbordenden Ansprüchen an ihn. Der Staat war nach Maßgabe seiner Selbstbescheidung stark, und er war es nach Maßgabe einer Regierungskunst, die dem nachgeordneten Bereich im Zweifel eher Vorgaben machte als ihm Befehle zu erteilen. Verwaltung beruhte undiskutiert und gleichsam selbstverständlich auf der Annahme, im Rahmen des auch durch die Ressourcen bestimmten Möglichen so viel als nur denkbar von dem zu erreichen, was die Zentrale an Zielen vorgab. Immerhin, so muss man hinzufügen, gab es in solcher Selbstbescheidung auch schon Risse und Hinweise darauf, dass sich der Staat von denen, die mit ihm umgingen, überfordern ließ. Bismarck etwa sah die Staatszuständigkeit eher eng; gerade er aber hat mit der Versicherungsgesetzgebung, die die Mitverantwortung des Staates für die Vorsorge des Individuums begründete, den entscheidenden Schritt zu einer damals unvorstellbaren Ausweitung der Staatstätigkeit getan. Schließlich bleibt anzumerken, dass der deutsche Staat natürlich nicht nur eine Ordnung verkörperte und zugleich gewährleistete, also nicht nur Rechtsstaat war. Er blieb immer auch Instrument in der Hand derer, die politische Herrschaft ausübten. Von deren Interesse geleitet, kommt es zur Sozialistenverfolgung, zu ersten Formen der Geheimpolizei, zur Gesinnungsprüfung bei denen, die in den Staatsdienst eintreten wollen, finden wir also eine Macht, die anzuwenden diejenigen nicht zögern, die dazu im Stande sind. Sie berufen sich dabei auf Gesetze, also im demokratischen Verständnis auf eine Mehrheit. Der starke Staat war somit auch nach innen im Zweifel Machtstaat. Er erschwerte es damit opponierenden Kräften, sich mit „diesem" Staat zu identifizieren. Dass deren Vorbehalte begründet waren, erwies sich später, als der Rechtsstaat umstandslos zum Unrechtsstaat wurde, weil Grundrechte und Grundprinzipien schwächer waren als Befehle. Auch dies sollte davor bewahren, den früheren Staat und die ausgeübte Staatlichkeit zu idealisieren. In Deutschland fiel es besonders schwer, ein pragmatisches Verhältnis zum Staat zu entwickeln. Der Staat war hier nicht durch die Idee der Nation angereichert und gleichsam „geheiligt". Er war auch nicht von einer gemeinsamen Geschichte getragen. Zudem sollte er nicht nur landsmannschaftliche Unterschiede überbrücken und soziale Spannungen ausgleichen, sondern auch Frieden zwischen den Konfessionen stiften und erhalten. Dazu musste er, fast ein Widerspruch in sich, Toleranz befehlen und damit zwangsläufig eine Form der Gemeinschaft oder doch zumindest so etwas wie eine „sittliche Idee" verkörpern. In dieser Besonderheit war der Staat in Deutschland mehr als anderswo auf seine Interpreten angewiesen. Man musste ihn zuerst begrifflich konstruieren, was den Juristen einen größeren Anteil an der Herrschaft vermittelte als in anderen Ländern, und ihn dann ideell ausstatten. So widmete man sich dem Staat und setzte an die Stelle der konkreten Herrschafts- die abstrakte Staatsordnung. Auf sie richtete sich manches von dem, was in anderen europäischen Ländern ungleich selbstverständlicher dem Vaterland, der Nation oder der Krone zukam und durch die gemeinsam erlebte Geschichte lebendig wurde. Staatsideen und Staatsziele haben eine unabdingbare Funktion und führen zu einer unvermeidlichen Spannung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit oder auch zwischen dem Bild und dem Selbstbild der öffentlichen Verwaltung und der Verwaltungsrealität. Zwar gelang es in der Bundesrepublik für lange Zeit wesentlich besser als in der Weimarer Epoche, mit solchen Spannungen fertig zu werden, also Ziele zu formulieren und anzu-

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2. Staat und Gemeinden streben, zugleich aber nüchtern das Mögliche abzuwägen. Gleichwohl wurde auch hier immer wieder die Verwechslung von Form und Inhalt des Staates deutlich, kam es zur Staatsablehnung, weil man inhaltlich die mit den Mitteln des Staates betriebene und durchgesetzte Politik nicht bejahen konnte, und es nicht wahrhaben wollte, dass eben diese Mittel dem zufallen, der im Rahmen der staatlichen Ordnung, konkret also durch Wahlen, zu ihrer Nutzung legitimiert wird. D a s verweist auf allgemeine Schwierigkeiten im Verhältnis von Idee und Wirklichkeit, aber auch auf das Problem, zur Realität des Staates und seines Handelns einen Zugang zu finden, der nicht von den eigenen Bildern oder Modellen geprägt ist und auch nicht von denen der bestallten oder selbsternannten Interpreten. Eigene und fremde Festlegung als solche zu erkennen, die Macht der Vorurteile zu begrenzen, fallt immer schwer. In der Politik gilt das ganz besonders, weil eigene Erfahrung selten, Wissen und Einblicke also fast immer vermittelt und die Vermittler meist in eigenem Interesse tätig sind. 1

2. Staat und Gemeinden Blickt man solcherart vorbereitet auf die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, findet sich für die gebietskörperschaftlichen Ebenen gleichzeitig eine Aufgabenteilung wie Aufgabenvermischung. Föderalstaatliche Entwicklung, kommunale Selbstverwaltung und Verflechtungsprozesse zwischen den Ebenen des politischen Systems stehen dabei im Vordergrund. Sie verweisen auf das Spannungsverhältnis zwischen zentraler und dezentraler Politik, auf Fragen der Handlungsfähigkeit fragmentierter politischer Systeme, auf die erkennbare „Entgrenzung" nationalstaatlichen politischen Handelns sowie schließlich auf die wechselseitige Beeinflussung von gesellschaftlicher Entwicklung und politischer Reaktion.

1 Historisch ausgerichtete Analysen dieser Art haben zwischenzeitlich eine Reihe empirisch orientierter Konkretisierungen erfahren, die sich den Veränderungen traditioneller Staatlichkeit zuwenden. Zu verweisen ist u.a. auf R. Voigt, 1995 und 1996, M. Zürn, 1998 und A. Benz, 2001. Fast alle dieser Publikationen nehmen, dies nicht immer kenntlich machend, grundlegende Veröffentlichungen zum Themenbereich (etwa E.-H. Ritter, 1979, T. Ellwein, 1976, 1993, 1997, J. J. Hesse, 1987, 1990, 1997 und 2000) auf. Der Zugang zum modernen Staat wird dabei vor allem durch jenen „Gestaltwandel" eröffnet, der es zunehmend problematischer erscheinen lässt, staatliches Handeln als das Handeln eines einheitlichen, souveränen Akteurs zu begreifen, der mit Hilfe seiner Administration die gesetzten Staatsziele wirkungsvoll durchsetzen kann. Nach außen gerät nationalstaatliche Souveränität aufgrund supra- und internationaler Integrationsprozesse zunehmend unter Anpassungsdruck. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Wirtschaft und Finanzen, lässt sich aber auch mit Blick auf andere politische und gesellschaftliche Teilbereiche, wie etwa die Kultur, konstatieren. So wirken sich die technischen Möglichkeiten der weltweiten Echtzeitkommunikation und der somit problemlosen Erreichbarkeit verschiedenster Orte rund um den Globus auf vielfaltige Weise aus. Im Innern sieht sich der Staat, insbesondere der Sozialstaat, mit wachsendem Erwartungsdruck konfrontiert. Verschiedenste gesellschaftliche Gruppen suchen an der politischen Entscheidungsfindung teil zu haben und diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. Der Staat verlässt damit seine ursprüngliche Rolle als hierarchisch steuernder Akteur und wird zusehends zum Moderator, der zwischen gesellschaftlichen Interessen vermittelt, sowie zum Kooperationspartner, der als ein Akteur unter vielen an der politischen Willensbildung beteiligt ist.

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung 2.1. Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung Nach Anfängen im 17. und insbesondere 18. Jahrhundert, die durch den Erlass von Landesund Polizeiordnungen, Markt- und Stadtinstruktionen sowie Commune-Ordnungen gekennzeichnet waren, erbrachte das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 erstmals die Eingliederung der Städte wie der Landgemeinden in ein einheitliches Rechtssystem des souveränen Staates - ein Rechtssystem, in dem gleichermaßen aufgeklärte Staatsplanung wie ständisches Herkommen vereint waren (C. EngelUW. Haus, 1975ff., S. 11). Die eigentliche Entwicklung des modernen Gemeindeverfassungsrechts und damit der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland war dann eng verbunden mit dem Zusammenbruch der ständischen Ordnung in und nach den Napoleonischen Kriegen. Die daraus resultierenden Reformpolitiken insbesondere des Preußischen Staates verfolgten primär zwei Ziele: die Wiederherstellung der im absolutistischen Feudalstaat verloren gegangenen Bindung des Bürgers an den Staat sowie die Verbesserung der durch die Kriegsentschädigungen an Frankreich sowie die Folgen der Kontinentalsperre katastrophalen ökonomischen Situation. Die SteinHardenbergschen Reformen (Städteordnung von 1808, Gewerbefreiheit, Bauernbefreiung, Trennung von Justiz und Verwaltung) sahen deshalb konsequenterweise in der kommunalen Selbstverwaltung eine Möglichkeit, den geänderten Legitimitätsgrundlagen Rechnung zu tragen und den politischen Entscheidungsprozess auf die bürgerschaftliche Willensbildung zurückzuführen. Die Städteordnung normierte demzufolge die sog. unechte Magistratsverfassung, nach der die politische Willensbildung Aufgabe der Gemeindevertretung, die Vorbereitung und der Vollzug hingegen Aufgabe eines kollegialen Gemeindevorstandes, des Magistrats, waren. Allerdings blieben diese gegen den Obrigkeitsstaat gerichteten, freilich gruppenspezifischen Freiheiten und Reformbemühungen letztlich stecken, wurden aufgrund zunehmender Bürokratisierungstendenzen und externer Eingriffe der nach der Städteordnung an sich nur die Wahl des Bürgermeisters bestätigenden Staatsbürokratie zunehmend restaurative Tendenzen erkennbar, denen man erst durch die Revolution von 1848 zu begegnen suchte. So erklärt sich auch das Urteil Heffters, der als charakteristischen Zug der Preußischen Städtereform „die konservative Tendenz, den politischen Reformwillen auf das engere Verwaltungsgebiet zu beschränken, die kommunale und provinzielle Selbstverwaltung als ausreichenden Ersatz für eine parlamentarische Staatsverfassung zu nehmen" (H. Heffter, 19692, S. 100), beklagte. Entscheidend und für die künftige Entwicklung prägend aber blieb die Forderung nach „Gemeindefreiheit" als naturrechtlichem Gedankengut verpflichtetes Element liberalistischen Denkens, das Postulat der Unabhängigkeit kommunaler Körperschaften gegenüber dem Staat (vgl. auch T. Nipperdey, 1980, S. 138). Das Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 hatte dann zunächst wenig Einfluss auf die formale Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung. Materiell wurden die Gemeinden sogar zum Träger des jetzt beschleunigten Industrialisierungsprozesses, da aufgrund fehlender nationaler Organisationsformen die Städte zu den Zentren der Produktion und ihrer Folgewirkungen wurden. Die fortschreitende Verstädterung als Folge des Bevölkerungswachstums und der Binnenwanderung vom agrarischen Osten in die sich herausbildenden Produktionszentren des Westens, die zunehmende Produktions- und Kapitalkonzentration, schließlich die sozialen Folgewirkungen eines noch weitgehend anarchischen Wachstumsprozesses ließen den Aufgabenbestand der Städte erheblich anwachsen. So traten zu den Maßnahmen der Kapitalentfaltung (Bank- und Kreditwesen, Zollverein) und ersten infrastrukturellen Vorleistungen für den Produktionsprozess (Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung, Verkehrsinfrastrukturen, u.a.m.) soziale Aufgaben wie die der Krankenversicherung, des Arbeitsschutzes und des Wohnungsbaus. Träger dieser Maßnahmen 74

2. Staat und Gemeinden war zunächst noch das durch das Drei-Klassen-Wahlrecht abgesicherte städtische Honoratiorentum, das durch das Auffangen von Proletarisierungstendenzen ein Aufbrechen der sozialen Gegensätze zu verhindern suchte (vgl. hierzu auch F. Lenger, 2003). Die weitere Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses sprengte dann jedoch den Aufgabenbestand und die Leistungsfähigkeit der lokalen Ebene. Die zunehmend nationale Dimension der Produktions- und Wachstumsprozesse war von einer entsprechenden Ausrichtung komplementärer Politiken und Institutionen begleitet. Die ehrenamtlich tätige Honoratiorenverwaltung wurde zurückgedrängt, zumal die Reform des Wahlrechts deren strukturelle Dominanz beeinträchtigte; die politischen Parteien gewannen an Einfluss (H. CroonIW. Hofmann/G. C. v. Unruh, 1971, S. 15fT.), die Verwaltung wurde professionalisiert, ihr Charakter als Leistungsverwaltung etabliert. Dezentrale Vorleistungs- und (soziale) Ausgleichsfunktionen wurden allmählich abgelöst von einer gesamtstaatlich orientierten Problemverarbeitung, die kommunale Selbstverwaltung stärker genossenschaftlich begriff. Standen sich bislang das herrschaftlich-obrigkeitliche Element der monarchistischen Regierung mit einer bürokratischen Verwaltung und das freiheitlich-genossenschaftliche Element der Volksvertretung auf der Basis der Gemeindefreiheit gegenüber, verband Hugo Preuß diese beiden Elemente jetzt im genossenschaftlichen Prinzip, das sich als Selbstregierung der gesamten Nation und als Selbstverwaltung der örtlichen Gemeinden darstellte. Der Staat sollte sich auf die Zentralverwaltung und die Rechtsaufsicht über die Kommunalverwaltung beschränken, die im Übrigen ihre Angelegenheiten selbst regeln könnte (H. Preuß, 1906). Der bis dahin existente Gegensatz zwischen Obrigkeitsstaat und kommunaler Selbstverwaltung wurde zunächst gedanklich aufgelöst. Faktisch fungieren die Kommunen seither als Träger öffentlicher Leistungen der von Ernst Forsthoff 1938 erstmals so bezeichneten „Daseinsvorsorge", die im Zuge der voranschreitenden Urbanisierung von einer individuell zu einer hoheitlich zu erbringenden Aufgabe wurde. Durch den Einbezug der Gemeinden in den Gesamtstaat wurden ihnen - wie bereits 1848 kurz durch die Frankfurter Nationalversammlung - in der Weimarer Republik dann Grundrechte zugesprochen. Art. 127 der Weimarer Verfassung garantierte als gleichsam liberales Element des Sozialstaates den Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze. Diese Formalgarantie blieb allerdings weitgehend Verfassungstheorie, da eine entsprechende ausfüllende Gesetzgebung nicht erfolgte und die Gemeindeordnungen des 19. Jahrhunderts unverändert blieben. Die Verfassung beließ es demnach auf der einen Seite bei dem historischen Zustand, dass Gemeindeangelegenheiten in Gesetzgebung und Verwaltung nach wie vor dem Hoheitsbereich der Länder zugeteilt waren, auf der anderen Seite verstärkte sie aber vor allem im Bereich der Gesetzgebung und Finanzwirtschaft die zentralistischen Machtbefugnisse des Reiches so sehr, dass unvermeidlich auch die Selbstverwaltung in den Sog der verstärkten Position des Reiches geriet (//. Herzfeld, 1957, S. 19 f.). Da der materielle Schutz der kommunalen Selbstverwaltung durch eine kommunalverfassungsrechtliche Gesetzgebung sowie durch eine finanzielle Absicherung der Kommunen nicht gegeben war und darüber hinaus die gemeindewirtschaftlichen Aktivitäten einer konfliktreichen öffentlichen Auseinandersetzung unterlagen, geriet die Selbstverwaltung schließlich in eine Abhängigkeit gegenüber dem Zentralstaat, die Forsthoff 1931 zu der häufig zitierten Feststellung veranlasste, bei der kommunalen Verwaltung handele es sich um eine unpolitische Verwaltung in Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die zweifelsfrei und allgemein als Verwaltungseinrichtung des Staates mit einem beschränkten eigenen Existenzrecht als „vom Staat abgeleitete Gewalt" aufgefasst werde. Der materielle Niederschlag eines solchen Selbstverwaltungsverständnisses, das der faktischen demokratischen Entwicklung nicht mehr entsprach, welche die Parteien zu Nachfolgern der ehedem

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung rein bürgerlichen kommunalen Honoratiorenpolitik hatte werden lassen, kulminierte dann Ende der 1920er Jahre in der Zahlungsunfähigkeit einer großen Zahl von Kommunen, die nicht mehr in der Lage waren, die vom Zentralstaat überwiesenen Aufgaben insbesondere im Sozialbereich wahrzunehmen (K.-H. Hansmeyer, 1973). Daraus folgte nicht nur eine zum Teil erhebliche soziale Unterversorgung in den Städten und Gemeinden, sondern auch eine zunehmende Illoyalität der Kommunen gegenüber dem Staat, die das Ende der Weimarer Republik beschleunigte. Der nationalsozialistischen Regierung war es daher ein Leichtes, auf das ihrer Meinung nach totale Versagen der demokratischen Selbstverwaltung in der Weimarer Republik zu verweisen. Der Einsatz sog. Staatskommissare zur Durchführung von Besteuerungsmaßnahmen etwa wurde in diesem Zusammenhang als sichtbarster Ausdruck des Verfalls gekennzeichnet. Die Zerstörung der kommunalen Selbstverwaltung als politische Institution, die ideologisch durch die völkisch-kulturkritische Großstadtfeindlichkeit und das Konzept der Reagrarisierung gefördert wurde, vollzog sich dann in mehreren Stufen. Die Deutsche Gemeindeordnung (DGO) von 1935 ersetzte schließlich sämtliche bestehenden Städte- und Gemeindeordnungen und fasste die Gemeinden jeder Größenordnung auf einer einheitlichen verwaltungsrechtlichen Basis zusammen. Die Zentralisierung der gesamtstaatlichen politischen Willensbildung war damit abgeschlossen. Die dann folgenden Jahre wurden geprägt von einer Zersplitterung und schließlich Auflösung der Aufgabenbereiche der kommunalen Selbstverwaltung. Die spätere intensive Beteiligung der Städte und Gemeinden an den kriegswirtschaftlichen Maßnahmen ließ zwar die Notwendigkeit und Bedeutung dezentraler Initiativen und Aktivitäten erkennen, eine Selbstverwaltungsfunktion kann in ihnen jedoch kaum erkannt werden (H. Matzerath, 1970). Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates waren die kommunalen Behörden dann die einzigen noch intakten Verwaltungseinheiten, die ihre Arbeit sofort nach der Kapitulation Wiederaufnahmen. Dies stand im Einklang mit den Zielen und Richtlinien der Jaita-Erklärung und den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz, die für den politischadministrativen Wiederaufbau vorsahen, dass „die Verwaltung Deutschlands in Richtung auf eine Dezentralisierung der politischen Strukturen und der Entwicklung einer örtlichen Selbstverwaltung durchgeführt werden muss". Insbesondere 1945 und 1946 waren die Gemeinden die nahezu einzigen Träger der notwendigsten Wiederaufbauarbeiten, so dass sie nicht nur zu Zentren des administrativen, sondern auch des wirtschaftlichen Neubeginns wurden; Letzteres zumindest so lange, bis nach der Währungsreform, dem Marshall-Plan (.European Recovery Programme, ERP) und der Bizonengründung die Eigendynamik des Wachstumsprozesses zu einer Konsolidierung der wirtschaftlichen Entwicklung führte und Vorleistungen der Kommunen an Bedeutung verloren. Die Entwicklung des Gemeindeverfassungsrechts verlief in den einzelnen Zonen uneinheitlich (C. Engeli, 1981; T. Eschenburg, 1983, S. 262ff.). In den Ländern der amerikanischen Zone knüpften die Neuordnungen sowohl an älteres Landesrecht als auch an die gesäuberte DGO an. Auch die französische Besatzungsmacht begnügte sich in ihrer Zone mit der Wiederherstellung des älteren Gemeindeverfassungsrechts durch die Länder und überwachte die Abänderung der NS-Vorschriften. Nur in der britischen Zone trat eine einheitliche neue Gemeindeordnung in Kraft, und zwar die abgeänderte DGO vom April 1946. Die innere Gemeindeverfassung wurde nach englischem Vorbild gestaltet, wobei man von einer deutlichen Trennung zwischen politischer Verwaltungsführung und Verwaltungsvollzug ausging. Die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone war insofern untypisch, als die im Herbst 1946 für alle Länder und Provinzen erlassene Demokratische Gemeindeordnung zwar auf eine Demokratisierung der kommunalen Selbstverwaltung

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2. Staat und Gemeinden zielte, das „Prinzip des demokratischen Sozialismus" mit der Folge einer vertikalen Dekonzentration des Verwaltungsaufbaus die Gemeindeorgane jedoch zu örtlichen Organen des Staates werden ließ. An den rechtlichen Grundlagen der Gemeindefinanzverfassung änderte sich nach 1945 kaum etwas. Den Aufsichtsbehörden der Länder oblag nicht nur die gesetzesformale Aufsicht, sondern auch die Genehmigung der Haushaltssatzung hinsichtlich der Höhe der Steuersätze und des Höchstbetrages der Kreditaufnahme. Insgesamt war die Finanzlage der Gemeinden äußerst prekär. Wegen des Fehlens eines funktionsfähigen Kapitalmarktes konnten die Gemeinden nur geringfügig auf Kredite zurückgreifen. Aber auch die Finanzierung durch den laufenden Haushalt war unzureichend, da in Folge der Kriegszerstörungen (Grundsteuer) und der anfänglichen Wirtschaftsschrumpfung bzw. der relativ langsamen Erholung der deutschen Wirtschaft (Gewerbesteuer) das gemeindliche Steueraufkommen gering ausfiel. Die durch die Kriegseinflüsse zu einem System fester Zuweisungen mit einer Bedeutungssteigerung des kommunalen Finanzausgleichs umgestellte Finanzverfassung wurde nach dem Zusammenbruch nahezu unverändert beibehalten (H. Sattler, 1959, S. 9 f.). Nur übernahmen im Finanzausgleich jetzt die Länder die Rolle des Reiches gegenüber den Gemeinden. Der weitgehenden Kontinuität der kommunalen Verwaltungsstrukturen standen Versuche eines umfassenderen Neuaufbaus im politischen Bereich gegenüber. Allerdings scheiterten alternative Formen der gesellschaftlichen Organisation (wie die antifaschistischen Aktionskomitees) schnell, zumal bereits im Juni 1945 die sowjetische Militäradministration die Wiederzulassung der politischen Parteien beschloss, ein Schritt, dem die anderen Alliierten rasch nachfolgten. Dezentralisierung der politischen Strukturen, Personalrekrutierung und Herstellung demokratischer Legitimation waren dabei entscheidende Antriebe. Auf eine erste, auf die Landgemeinden beschränkte Wahl in der amerikanischen Besatzungszone (Januar 1946) folgten in den anderen Zonen die Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften im Herbst 1946. Nach der wirtschaftlichen Konsolidierung formierten sich mit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 dann die politisch-administrativen Ebenen in der Bundesrepublik Deutschland: Bund, Ländern und Gemeinden wurden jeweils begrenzte Zuständigkeiten zugesprochen. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Gemeinden dabei das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Der Aufgabenkreis ist demnach gegenständlich unbeschränkt („alle Angelegenheiten"), wohl aber durch die räumliche Komponente („Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft") begrenzt. Nach h . M . bedeutet „im Rahmen der Gesetze" nicht lediglich die Festschreibung des kommunalen Handelns auf die Gesetzmäßigkeit der lokalen Verwaltung, die Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Gemeinden kann in Einzelfallen vielmehr durch den Gesetzgeber widerlegt und eingeschränkt werden, so dass Wanderungsverluste im Kompetenzgefüge juristisch nicht verhindert werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich den „Kern der Selbstverwaltung" für unantastbar erklärt und diesen bislang nur negativ in der Rechtsprechungspraxis abgegrenzt („Rastede-Urteil"). Weitere Grenzen der Allzuständigkeit der Gemeinden sind in der wirtschaftlichen Betätigung zu sehen, die nur dann möglich ist, wenn sie in angemessenem Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Gemeinden steht und der Zweck nicht besser und wirtschaftlicher durch einen anderen Träger erfüllt werden kann (Subsidiaritätsprinzip). Nach Stern impliziert der Grundsatz der Allzuständigkeit auch das Prinzip der Einheit der örtlichen Verwaltung (dezentrale Konzentration; K. Stern, 19842), das durch die Bildung zahlreicher staatlicher Sonderbehörden allerdings stark beeinträchtigt wurde.

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Art. 28 Abs. 2 Satz 1 G G zufolge haben die Gemeinden das Recht, die betreffenden Aufgaben ohne Weisung und Vormundschaft des Staates zu erfüllen, wie dies nach Maßgabe der Rechtsordnung zweckmäßig erscheint. In ihren eigenen Angelegenheiten unterliegen die Gemeinden deshalb nur der Rechtsaufsicht. Der Begriff der Eigenverantwortlichkeit wird im allgemeinen aufgefächert in Personal-, Gebiets-, Finanz-, Planungs-, Organisations- und Rechtsetzungshoheitsrechte. Eingriffe des Gesetzgebers, die sich auf die Allzuständigkeit wie auf die Eigenverantwortlichkeit beziehen können, müssen durch ein Gesetz für unmittelbare Eingriffe oder aufgrund eines Gesetzes für mittelbare Eingriffe über Rechtsverordnungen erfolgen. Hinsichtlich der Finanzverfassung formulierte der Parlamentarische Rat nach einer Intervention der Besatzungsmächte und wegen der Unsicherheit über die künftige finanzwirtschaftliche Entwicklung zunächst eine vorläufige Regelung, die nur auf das Bund-Länder-Verhältnis bezogen war und die Finanzausstattung der Gemeinden voll den Ländern überließ (Art. 106 Abs. 2 G G a.F.) (H. ElsnerlM. Schüler, 1970, S. 38). Mit der Einführung der sogenannten „Realsteuergarantie" ins Grundgesetz (Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG), wonach den Gemeinden das Aufkommen der Grund- und Gewerbesteuer zusteht, wurde 1956 dann nicht nur die unmittelbare Finanzverantwortung des Bundes gegenüber den Gemeinden festgeschrieben, sondern auch die in Art. 28 Abs. 2 G G grundgelegte eigene Ertragshoheit der Kommunen erstmals verfassungsrechtlich definiert. Allerdings erwies sich dieser Schritt schon bald als unzureichend, da die extreme Konjunktur- und Strukturabhängigkeit der Gewerbesteuer eine Ungleichmäßigkeit der Verteilung der örtlichen Einnahmen zutage treten ließ. Erst mit der erneuten Verfassungsreform und dem Gemeindefinanzreformgesetz von 1969 erreichte man eine gewisse Verstetigung der kommunalen Einnahmen. So wurden den Gemeinden ein von der Landesgesetzgebung zu bestimmender Prozentsatz an der Einkommen- und Körperschaftssteuer zugestanden (Art. 106 Abs. 6 Satz 3 G G a.F.) und im Gegenzug Bund und Länder per Umlage am Aufkommen der Gewerbesteuer beteiligt. Nach Art. 106 Abs. 7 G G a.F. verpflichtete sich der Bund zudem, für Sonderbelastungen, die durch ihn veranlasst werden, einen Sonderausgleich an Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) zu gewähren. Damit wurde die finanzverfassungsrechtliche Stellung der Gemeinden endgültig im Grundgesetz gesichert und erfuhr seither lediglich marginale Änderungen, etwa durch die Einführung des Gemeindeanteils an der Umsatzsteuer (Art. 106 Abs. 5 a GG), mit dem die Kommunen nach dem Wegfall der Gewerbekapitalsteuer 1998 für Einnahmeausfälle entschädigt werden sollten. Ähnlich wie das Grundgesetz benannte die Verfassung der DDR (1949) das Recht auf kommunale Selbstverwaltung in Art. 139 (vgl. Materialband, II/6). Die Art. 140-142 normierten dabei das Wahlrecht und das staatliche Aufsichtsrecht. Allerdings wurden die benannten Bestimmungen der DDR-Verfassung, die in der Demokratischen Gemeindeordnung von 1946 konkretisiert waren, nicht umgesetzt. Die politische und wirtschaftliche Selbstständigkeit der Gemeinden wurde vielmehr im Zuge des Aufbaus zunächst der zonalen und später der Staatsverwaltung im Sinne der Grundsätze des demokratischen Zentralismus systematisch abgebaut ( W. Ribhegge, 1973). Dabei wandelten sich die Gemeinden im Laufe der weiteren Entwicklung auch formal, entsprechend des gleichnamigen Gesetzes von 1957, zu „örtlichen Organe(n) der Staatsmacht" (J. Türke, 1960). Der „demokratische Zentralismus" der D D R mit dem ihm folgenden Verwaltungsaufbau schloss die eigenverantwortliche Gestaltung der örtlichen Angelegenheiten durch die Bürgerschaft der Gemeinden systematisch aus. Er unterwarf die kommunale Selbstverwaltung, wie sie in Art. 41 der Verfassung der D D R vom 6. April 1986 zugesichert wurde, den Imperativen des zentralistischen Einheitsstaates und dem auch durch die Blockparteien ver-

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2. Staat und Gemeinden mittelten Machtanspruch der SED. Dieser wurde zum einen im Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe (GöV) von 1985 bekräftigt 2 und dokumentierte sich zum anderen im Prinzip der „doppelten Unterstellung", wonach die örtlichen Leiter der einzelnen Verwaltungsfachressorts nicht nur ihrem örtlich „gewählten" Gemeinde-, Stadt- oder Kreisrat als den lokalen Organen der Staatsverwaltung unterstellt waren, sondern auch den Leitern der entsprechenden Fachressorts der nächsthöheren Ebenen im Staats- und Verwaltungsaufbau sowie der Parteiführung (R. Kleinfeld, 1996, S. 255). Hinzu kam, dass die Kommunen auch im Aufgabenbereich über keine erweiterte Selbständigkeit verfügten und das Personal im Sinne sozialistischer Kaderpolitik bestellt wurde (Gesamtdarstellungen zum örtlichen Staatsaufbau der D D R finden sich bei H. Roggemann, 1987, Ch. Hauschildt, 1991 und R. Kleinfeld, 1996). Mit Blick auf die territoriale Staatsorganisation ist festzuhalten, dass sich das Staatsgebiet der D D R in 15 Bezirke gliederte, die in 38 Stadtkreise (darunter 11 Stadtbezirke von Ost-Berlin) und 189 Landkreise unterteilt waren. Die untere staatlich-administrative Ebene bildeten die über 7.500 kreisangehörigen Städte und Gemeinden. Während im Zuge der deutschen Vereinigung die Bezirke aufgelöst und fünf „neue" Länder gebildet wurden (Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik [Ländereinführungsgesetz] vom 22. Juli 1990), blieben die Kommunen zunächst als administrative Einheiten bestehen, ein Tatbestand, der mit dazu beigetragen haben dürfte, dass die Probleme, die der Vereinigungsprozess auf kommunaler Ebene verursachte, in Politik und Öffentlichkeit zunächst bei weitem unterschätzt wurden (O. Scheytt, 1991, S. 23fT.; J.J. Hesse, 2000, S. 61 ff.). Mit der 1990 erfolgten Wiedereinführung einer demokratisch legitimierten kommunalen Selbstverwaltung ergaben sich im Rahmen des nunmehr bundesstaatlichen Handlungssystems vier große Herausforderungen für die ostdeutschen Gemeinden. Mit Blick auf die Verwaltungsorganisation galt es zunächst, die administrativen Binnenstrukturen zu reformieren. Hier erwies sich der Mangel an qualifiziertem, mit den Verfahren rechtsstaatlicher Verwaltung vertrautem Personal ebenso als Problem wie die Implantation des an sich als überkommen betrachteten westdeutschen KGSt-Plans zur kommunalen Verwaltungsgliederung (vgl. F. NascholdU. Bogumil, 2000 2 , S. 142). So konnten der personelle Wechsel und hier insbesondere der Elitenwechsel innerhalb der ostdeutschen Kommunalverwaltungen nur bedingt auf dem Wege westdeutscher Verwaltungshilfe erfolgen, zumal sich auch die westdeutschen Berater den gegebenen Transformationsprozessen nicht immer gewachsen sahen und ihre Tätigkeit vielfach als „Bevormundung" empfunden wurde (R. Kleinfeld, 1996, S. 291). Zum Druck, die administrativen Binnenstrukturen in den Gemeinden grundlegend umzugestalten, trat die Notwendigkeit eines territorialen Neuzuschnitts. So erwies sich ein Großteil der 1990 bestehenden ostdeutschen Gemeinden aufgrund ihrer Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur kaum als überlebensfahig. Gleichwohl konnte die extreme Kleinteiligkeit der Kommunalstrukturen nur schrittweise abgebaut werden. Eine Wiederholung der Fehler, die im Zuge

2 In § 1 des GöV vom 01.09.1985 hieß es: „Die örtlichen Volksvertretungen verwirklichen unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, im vertrauensvollen Zusammenwirken mit allen in der Nationalen Front vereinten Parteien und gesellschaftlichen Organisationen die Politik der Arbeiter- und Bauernmacht zur weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ... Grundlage der Leitung und Planung ist der demokratische Zentralismus. In Übereinstimmung mit den Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften fassen die örtlichen Volksvertretungen Beschlüsse, die für die nachgeordneten Volksvertretungen, die in ihrem Territorium gelegenen Betriebe, Genossenschaften und Einrichtungen sowie für die Bürger verbindlich sind."

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung westdeutscher Gebietsreformen Ende der 1960er und Anfang der 1970er gemacht wurden (der Umbau der Territorialstrukturen erfolgte hier unter rein funktionalen Gesichtspunkten und nicht selten ohne Rücksicht auf historisch gewachsene Kontexte), verbot sich schon deshalb, weil man die politische Selbstständigkeit, die die ostdeutschen Bürger auch mit der Einführung der kommunalen Selbstverwaltung gewannen, nicht sofort wieder über eine Gebietsreform beeinträchtigen wollte. Deshalb bot sich als Prinzip für die Neuordnung der Kommunalstrukturen die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses von Gemeinden an, so zu Ämtern oder Verwaltungsgemeinschaften. Wurden die Gebietsreformen in Thüringen und Sachsen relativ zügig abgeschlossen (entsprechende Gesetze traten hier im Januar 1998 beziehungsweise im Januar 1999 in Kraft), steht eine Entscheidung für Sachsen-Anhalt noch immer aus. In Brandenburg endete im März 2002 die Freiwilligkeitsphase, nach deren Abschluss eine Gebietsreform auf gesetzlichem Weg durchgeführt wird. Mecklenburg-Vorpommern befindet sich seit Dezember 1996 in einer Phase der freiwilligen Gebietszusammenschlüsse (J. J. Hesse, 2000; G. Schmidt-Eichstaedt, 2000; S. Werner, 2002). Neben der Neuorganisation der Verwaltung erwies sich die Gewöhnung an die neue Form der politischen Willensbildung als zweite Herausforderung der ostdeutschen Gemeinden. Nachdem bereits im Mai 1990 auf der Grundlage des in diesem Monat noch von der DDR-Volkskammer verabschiedeten „Gesetzes über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der D D R " die ersten freien Wahlen auf kommunaler Ebene stattgefunden hatten, wurden die institutionellen Grundlagen für eine demokratische Willensbildung rasch gelegt. Alle fünf ostdeutschen Bundesländer verabschiedeten bis 1994 neue Gemeindeordnungen, die alle am Modell der süddeutschen Ratsverfassung orientiert waren. Sie schien mit Blick auf die monokratische Verwaltungsspitze eine straffe, weniger parteipolitischer Einflussnahme unterliegende Verwaltungsführung zu ermöglichen und aufgrund der direkten Abwahl des Bürgermeisters sowie plebiszitärer Elemente die Partizipationschancen der Bürger zu erhöhen. Erwies sich die institutionelle Ausgestaltung kommunaler Willensbildung und Entscheidung als wenig problematisch, wurde allerdings bald sichtbar, dass der Alltag kommunaler Politik kaum die erhofften politischen Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete. Nicht wenige Bürger, die in der Aufbruchstimmung der Wendezeit ein politisches Amt innerhalb ihrer Gemeinde übernommen hatten, legten ihr Mandat nach kurzer Zeit nieder. Daraus folgten, vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, sogar Schwierigkeiten, politische Ämter zu besetzen. Vertreter von Bürgerbewegungen und (lokalen) Parteien wurden rasch von einem „Professionalisierungsdilemma" (R. Kleinfeld, 1996, S. 321) erfasst, das sich aus der mangelnden Vertrautheit mit (kommunal)politischen Entscheidungs- und Handlungsprozessen ergab; im Gefolge übernahmen die bundesdeutschen Parteien und die SED-Nachfolgepartei PDS aufgrund ihres Organisations- und Professionalitätsvorsprungs schnell das politische Terrain. Darüber hinaus dokumentierte sich in dem nachlassenden politischen Engagement eine Enttäuschung über die geringen Handlungsspielräume, denen sich die Kommunalpolitik, nicht nur in Ostdeutschland, aufgrund rechtlicher und finanzieller Restriktionen in zunehmendem Maße gegenüber sah (Süddeutsche Zeitung vom 16.05. 2003, S. 3). Die Situation der Kommunalfinanzen ist als die dritte bislang unbewältigte Herausforderung zu nennen. Zwar stellt die desolate kommunale Finanzlage ein gesamtdeutsches Problem dar, doch sehen sich die ostdeutschen Gemeinden seit 1990 mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert; sie ergaben sich aus der Übernahme der für die westdeutschen Gemeinden gültigen Regelungen der Kommunalflnanzen und führten aufgrund der Ertragsschwäche der ostdeutschen Wirtschaft von Anfang an zu nur sehr geringen Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Neben Einnahmen aus Gebühren und Beiträgen sind ostdeutsche

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2. Staat und Gemeinden Gemeinden daher in erster Linie von Zuweisungen des Bundes und der Länder abhängig (Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 38). Eine letzte Herausforderung, die nach wie vor virulent ist, ergibt sich schließlich aus der räumlichen Entwicklung und hier vor allem dem Problem umfassender Stadt-Umland-Wanderungen. Nachdem es kurz nach der Vereinigung in vielen ostdeutschen Regionen zunächst zu einem Abwanderungsschub kam, in dessen Verlauf viele Bürger in westdeutsche Bundesländer umsiedelten, ist seit 1991 ein Prozess zunehmender Suburbanisierung zu beobachten. Dieser wurde zunächst durch die Tendenz des Einzelhandels angeregt, die Innenstädte zu räumen und sich günstiger „auf der grünen Wiese" niederzulassen; später trugen entsprechende Fördermaßnahmen und Abschreibungsmöglichkeiten im Bereich des Wohnungsbaus sowie die Erwartung zahlreicher Bürger, im städtischen Umland eine höhere Lebensqualität vorzufinden, zu verstärkter Stadtflucht bei. Nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zog es in den 1990er Jahren in Ostdeutschland doppelt so viele Bürger, vor allem aus den größeren Städten, in das unmittelbare Umland als in Westdeutschland (so verlor etwa Halle zwischen 1991 und 2001 ca. 60.000 Einwohner durch Abwanderung und kehrten Magdeburg im gleichen Zeitraum etwa 48.000 Bürger den Rücken). Negative Auswirkungen für die städtischen Einnahmen und damit für dringend benötigte Investitionen in die städtische Infrastruktur waren und sind die Folge (Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 35 ff.). Im Jahr 2001 reagierte die Bundesregierung auf diese Situation mit dem Investitions-Sonderprogramm „Stadtumbau Ost", in dessen Rahmen zwischen 2002 und 2005 jährlich 150 Millionen Euro und von 2006 bis 2009 nochmals jährlich 100 Millionen Euro zur Stadtsanierung und Städtebauförderung nach Ostdeutschland fließen (Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 55 f.)

2.2. Das Verhältnis von Stadt und Staat Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit zentrale Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung wurde im Zuge der sich beschleunigenden ökonomischen Entwicklung und der Herausbildung und Festigung der staatlichen Institutionen reduziert. Grund hierfür war zum einen der sich weitgehend verselbständigende ökonomische Wachstumsprozess, zum anderen die allmähliche Integration der Gemeinden in den Staat (Bund und Länder) - über die Reglementierung von Selbstverwaltungsaufgaben und die Einführung und Expansion der Auftragsverwaltung. Diese Entwicklungsprozesse wurden dadurch erleichtert, dass man den Ländern die originäre Kompetenz zur Regelung des Kommunalrechts zusprach, sie somit die verfassungsmäßige Ordnung, den Wirkungskreis und die Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden sowie die Zuständigkeitsordnung der Gemeindeorgane verändern konnten (J. Bertram, 1967, S. 31). Eine weitere Ebene der Beeinflussung ergab sich durch die finanzwirtschaftliche Situation der Kommunen. So sank der Steueranteil an den gemeindlichen Gesamteinnahmen allein zwischen 1958 und 1966 von 35 Prozent auf 28 Prozent. Die Zweckzuweisungen der Länder sowie das Aufkommen aus der Fondswirtschaft des Bundes wuchsen hingegen an. Die Steuereinnahmen der Gemeinden übertrafen 1958 die Zuweisungen von Bund und Ländern noch um 78,1 Prozent; diese Spanne sank bis 1967 auf 2,6 Prozent. Hieran wird deutlich, wie gering (trotz der 1956 eingeräumten Realsteuergarantie) der originäre Finanzanteil der Gemeinden an der Aufgabenerfüllung war und wie stark das Dotationssystem übergeordneter Gebietskörperschaften in die Gemeindefinanzen einbrechen konnte. In dieser Phase der Nachkriegsentwicklung fand gleichwohl noch keine Konzentration der Haushaltspolitik statt, zumal sie gesamtwirtschaftlich nicht erforderlich war. Die Wachs81

II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung tumsorientierung der Gemeinden war weitgehend durch die Gewerbesteuerabhängigkeit gesichert. Überregionale Infrastrukturengpässe traten noch nicht auf und die Sozialstaatspolitik konnte durch das Instrumentarium der Auftragsverwaltung verwirklicht werden (Sozialgesetzgebung, Lastenausgleich, Sozialhilfen). Für die staatlich propagierte Mittelstandspolitik (Eigenheimbau, u.a.m.) waren die relativ großen Spielräume in der Flächennutzungsplanung zumindest nicht hinderlich und übergeordnete Niveauprobleme konnten durch das Wohnungsförderungsgesetz geregelt werden. Die Einbindung der Kommunen in die gesamtstaatliche Problemverarbeitung verstärkte sich dann jedoch im Gefolge der durch eine Überlagerung struktureller und konjunktureller Gründe zu interpretierenden Krise von 1966/67. Die Verfassungsreformgesetzgebung der Jahre 1967-1969 (Einführung der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern nach Art. 91a und b GG, Finanzhilfen des Bundes für besonders bedeutsame Investitionsvorhaben der Länder und Gemeinden nach Art. 104 a Abs. 4 GG, Stabilitäts- und Wachstumsförderungsgesetz, Haushaltsgrundsätzegesetz, Gemeindefinanzreformgesetz), welche die Rationalität der staatlichen Problemverarbeitung zu erhöhen suchte, setzte dabei u.a. an dem prozyklischen Verhalten der Gebietskörperschaften an, die in Phasen reduzierten Wachstums den - unter gegebenen Systemprämissen - für unabdingbar erachteten Infrastrukturausbau verlangsamten, während in konjunkturellen Boom-Perioden der ohnehin überhitzte Wachstumsprozess durch zusätzliche Investitionen noch verstärkt wurde. Dies traf insbesondere für die Gemeinden zu, die etwa zwei Drittel der öffentlichen Sachinvestitionen tätigten und die sich zu diesem Zweck, zumindest bis zur Einführung des gemeindlichen Einkommen- und Körperschaftssteueranteils im Gemeindefinanzreformgesetz von 1969, auf die Einnahmen aus der außerordentlich konjunkturreagiblen Gewerbesteuer stützen mussten. Hinzu kam, dass Infrastrukturengpässe in Bereichen auftraten, die den kommunalen Finanzrahmen quantitativ überforderten und aufgrund von Dezentralisierungsproblemen eine übergeordnete Abstimmung notwendig machten. Zu den meist konjunktur- und wachstumspolitisch begründeten Eingriffen in die kommunale Ressourcenstruktur und Mittelverwendung traten ab den 1970er Jahren auch im Bereich der Aufgaben- und Entscheidungsstrukturen Versuche, die Gemeinden in ein System staatlicher, hierarchisch organisierter Arbeitsteilung einzupassen; dies zum einen über Tendenzen der Kompetenzzentralisierung bei gleichzeitiger Dezentralisierung des Vollzugs, zum anderen über die Intensivierung von Planungsansätzen auf allen Ebenen, wobei eine Hierarchie von Planungsstufen angestrebt wurde. Daher konstatierte auch trotz einer Vielzahl von Reformversuchen (so sind den kommunalen Spitzenverbänden die Entwürfe zu Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Bundes, soweit sie die Kommunen berühren, möglichst frühzeitig mitzuteilen; darüber hinaus werden wesentlich abweichende Stellungnahmen der Verbände in die Begründung eines Gesetzentwurfs aufgenommen) der 1977 vorgelegte Schlussbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages: „Der in der Verfassungswirklichkeit sichtbare Bedeutungswandel in den Beziehungen zwischen Staatsverwaltung und Kommunalverwaltung, der auf eine stärkere Verzahnung der örtlichen Verwaltung mit überregionalen Entscheidungsträgern dringt, sowie die stärkere Steuerung der kommunalen Selbstverwaltung durch Bundes- und Landesgesetze und durch zentrale Entwicklungs- und Fachplanungen, die Zunahme finanzieller Abhängigkeiten vom Staat bei steigendem kommunalen Investitionsbedürfnis für Infrastrukturaufgaben sind offenkundig. Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet und der gesteigerte Anspruch des Bürgers auf öffentliche Daseinsvorsorge sind die bestimmenden Einflussgrößen dieser Entwicklung" (Schlussbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, 1977, S. 219).

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2. Staat und Gemeinden Die bereits damals erkennbare Tendenz, die kommunalen Gestaltungsspielräume durch die Verstärkung der finanziellen Abhängigkeit der Städte und Gemeinden sowie die zunehmende Fremdbestimmung der kommunalen Aufgaben weiter einzuengen, setzte sich in den achtziger und neunziger Jahren fort. Inzwischen ist die Trennlinie zwischen freiwilligen und Pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben unter der alleinigen Verantwortung der Kommunen auf der einen und den Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung bzw. Auftragsangelegenheiten auf der anderen Seite in vielen Bereichen nur noch schwer zu ziehen. Nicht selten werden die Kommunen von Bund und Ländern zur Erfüllung von Aufgaben in die Pflicht genommen, die zwar nominell unter den Begriff der „Selbstverwaltung" fallen, faktisch aber bis in die Details normiert sind und häufig sogar die Ausgabenhöhe, die die Gemeinde zur Erfüllung der Aufgabe aufwenden muss, vorab festlegen. Ein neueres Beispiel für diese Entwicklung stellt der im Rahmen der Beratungen zur Neuregelung des § 218 StGB vom Bund festgelegte Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz dar, den die Kommunen zu gewährleisten haben, ohne am Entscheidungsverfahren beteiligt gewesen zu sein. Neben der finanziellen Sorge, die sich aus dem Auftrag zur Sicherung des individuellen Anspruchs auf einen Kindergartenplatz ergibt, rechnen die Gemeinden in jüngster Zeit mit weiteren finanziellen Belastungen, die sich aus einer möglichen Ausweitung der Kinderbetreuungsangebote für die unter Dreijährigen ergeben könnten (Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 68; Deutscher Städtetag, 2003). Zugespitzt wird die Situation noch durch eine Vielzahl von gesetzausformenden Normen, Personal- und Ausstattungsstandards sowie Verwendungs- und Verfahrensauflagen, die die Kommunen belasten (vgl. A. Koetz u.a., 1995). Trotz der Einsetzung von Experten-Kommissionen zur fachlichen Überprüfung von Standards und dem allgegenwärtigen Bekenntnis aller Beteiligten zur Vorschriftenreduktion konnte dieser Trend bislang nicht aufgehalten werden. Der Druck auf die kommunalen Gestaltungsspielräume scheint im Gegenteil noch dadurch zu wachsen, dass die Kommunen als Teil des politisch-administrativen Gesamtsystems direkte und indirekte Auswirkungen des Europäisierungsprozesses verarbeiten, also neben den gesetzlichen Vorgaben von Bund und Ländern nun in zahlreichen Sektoren, wie etwa der Umweltpolitik oder der Wirtschaftsförderung, auch noch europäische Normen zu beachten haben (D. Thränhardt, 1999; einen Gesamtüberblick liefert T. Schäfer, 1998). Sucht man die kommunale Aufgabenstruktur näher zu kennzeichnen, ist zunächst von dem angesprochenen Tatbestand auszugehen, dass die Verfassungswirklichkeit mit dem normativen Postulat des Art. 28 Abs. 2 GG kaum mehr in Einklang zu bringen ist. Wie bereits der historische Überblick zeigte, sind die Gemeinden in einem derartigen Umfang in gesamtstaatliche Entscheidungsprozesse und Problemlösungen einbezogen, dass selbst die vielfältigen Bemühungen, einen „Kernbereich" der Selbstverwaltung zu bestimmen, von der Entwicklung gesellschaftlicher Bedarfe und gesamtstaatlicher Problemlösungen gleichsam überholt wurden. Der Einbezug des örtlichen Wirkungsraums in die staatliche Strukturund Konjunkturpolitik, die Verflechtung kommunalen und staatlichen Finanzgebarens sowie zwischengemeindliche Koordinationszwänge lassen eine kategorische Trennung der anstehenden Sachaufgaben in solche des örtlichen und solche des überörtlichen Wirkungskreises kaum noch zu. So ist es trotz der jüngsten Hoffnungen in die Kommune als Raum eines erneuerten bürgerschaftlichen Engagements (D Schefold/M. Neumann, 1996; KGSt, 1999) durchaus offen, ob die Entwicklung und das Verständnis der kommunalen Selbstverwaltung eher in Richtung einer .gesellschaftlichen Selbstverwaltung oder aber einer mittelbaren Staatsverwaltung gehen. Die eher traditionelle verfassungsrechtliche Diskussion kreist freilich noch immer um das Verständnis und die Ausgestaltung des schon vom Preußischen Oberverwaltungsgericht vor

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung über 100 Jahren bestätigten, bereits angesprochenen Universalitätsprinzips, nach dem die Gemeinden nicht auf Einzelaufgaben fixierte, sondern auf universelle Wirksamkeit angelegte Körperschaften seien. Aus diesem Universalitätsprinzip folgt zum einen ein Enumerationsverbot (keine abschließende Benennung öffentlicher Aufgaben; es muss vielmehr die Möglichkeit verbleiben, in eigener Verantwortung neue Aufgaben als öffentliche Aufgaben aufzugreifen), damit verbunden ein Spontaneitätsrecht zur Aufnahme von Aufgaben, und schließlich die Garantie eines breitgefacherten Wirkungskreises, nach der die Gemeinden und Kreise nicht durch Aufgabenentzug oder Mittelverknappung gleichsam zu „Spezialverwaltungen" gemacht werden dürfen (Κ. Stern, 1984ff.; G. Püttner, 19936, S. 6). Der damit formulierte Verweis auf den Zusammenhang von Ressourcenrahmen und Aufgabenwahrnehmung verdeutlicht allerdings den für die Praxis eher theoretischen Charakter des Prinzips. Konkreter erscheint der Versuch, nach der unterschiedlichen Rechtsqualität der Kommunalaufgaben in den Gemeindeordnungen der deutschen Bundesländer zu fragen, Gemeindeund Kreisaufgaben zu unterscheiden sowie schließlich die Realität der Aufgabenwahrnehmung in den Vordergrund des Interesses zu rücken. Verweist das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 2 mit seiner Trennung zwischen „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" und sonstigen, überörtlichen Angelegenheiten auf ein gleichsam dualistisches Modell der Aufgabenzuordnung und -Wahrnehmung, nach dem das Recht auf Selbstverwaltung nur für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gewährleistet ist, die Verwaltungsgrundsätze für die übrigen Aufgaben hingegen der Kompetenz der Landesgesetzgeber überlassen sind, bleiben die Gemeindeordnungen der Bundesländer von einem unterschiedlichen Aufgabenbegriff gekennzeichnet. So folgte ein Teil der Länder (Schleswig-Holstein, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg) 1948 dem eher monistischen Aufgabenverständnis des sogenannten Weinheimer Entwurfs (Aufgabe der Trennung zwischen Selbstverwaltungsangelegenheiten und Auftragsangelegenheiten, Totalitätsprinzip), während Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und das Saarland bei der historisch begründeten Unterscheidung zwischen einem eigenen und einem übertragenen Wirkungskreis verblieben (dualistischer Aufgabenbegriff). Die ostdeutschen Bundesländer entschieden sich in ihren nach 1991 verabschiedeten Kommunalverfassungen überwiegend für das dualistische Modell; lediglich Sachsen folgte dem monistischen Prinzip. Die Vertreter dieses Modells sahen ihre Aufgabenbeschreibung als Ausfluss eines neuen demokratischen Staatsverständnisses, nach dem die Gemeinden in ihrem Gebiet als ausschließliche und eigenverantwortliche Träger der gesamten öffentlichen Verwaltung gesehen wurden. Sie sollten - soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen - in ihrem Gebiet alle öffentlichen Aufgaben wahrnehmen, wobei nach freiwilligen und Pflichtaufgaben zu unterscheiden wäre. Sollten die Gemeinden Grundlage und Zentrum des demokratischen Lebens sein, so sei eine Funktion als nur ausführendes Organ von Staatsaufträgen, verbunden mit der Unterstellung unter eine uneingeschränkte Staatsaufsicht, damit nicht zu vereinbaren (vgl. G. Schmidt-Eichstaedt, 1983, S. 15ff; K. Waechter, 19973, S. lOOf.). Wie meist, haben freilich auch solche Klassifikationen kaum Bestand vor der Verfassungswirklichkeit. Eine Reihe typischer Sonderbehörden (von der Steuer- über die Wehr- zur Arbeitsverwaltung), die Nutzung des Instituts der Organleihe sowie schließlich die Verflechtungsformen, die in den Gemeinschaftsaufgaben und den Investitionshilfen ihren sichtbarsten Niederschlag gefunden haben (und von einer Vielzahl weiterer Verbundpolitiken begleitet sind), verdeutlichen Notwendigkeit und Ausmaß der Abweichungen vom „Modell" (vgl. beispielhaft zum „Fall" Rheinland-Pfalz J. J. Hesse, 2000 a, S. 304ff.). Diese eher allgemeine Diskussion um die Systematik kommunaler Aufgaben ist darüber hinaus durch die Unterscheidung nach Gemeinde- und Kreisaufgaben zu konkretisieren, also

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2. Staat und Gemeinden durch die Frage, ob eine im kommunalen Verantwortungsbereich liegende Aufgabe von der Gemeinde (in Ländern mit zwischengemeindlichen Verbandsformen auch Samtgemeinde, Amt, Verbandsgemeinde, Verwaltungsgemeinschaft) oder vom Kreis (Landkreis) wahrzunehmen ist (Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG: „Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereichs nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung"). Ohne hier auf die in Einzelfragen noch immer andauernde Auseinandersetzung zur Verfassungsgarantie und das von ihr bestimmte Aufgabenverhältnis zwischen dem Kreis als Gemeindevorstand und den ihm angehörenden Gemeinden intensiver eingehen zu können (vgl. u.a. U. Lusche, 1997 und 1998; J. J. Hesse, 2000a, S. 267ff. u. 304ff.), kann der Stand der Diskussion dahingehend zusammengefasst werden, dass den Gemeinden die Allzuständigkeit und das Aufgabenfindungsrecht für alle örtlichen Angelegenheiten verbleiben muss, während der Gesetzgeber den Gemeindeverbänden „einen dem Herkommen entsprechenden Wirkungskreis" zu übertragen hat. Aus der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie ergibt sich für beide kommunale Körperschaftsgruppen damit ein verfassungsrechtlich garantierter Bestand an Selbstverwaltungsaufgaben; er orientiert sich in der konkreten gesetzlichen Ausprägung an den Begriffen „örtlich" und „überörtlich" (F.-W. Held, 1998, S. 28Pf.). Betreffen die Aufgaben die örtliche Gemeinschaft, steht ihre Erledigung den Gemeinden zu, handelt es sich um überörtliche Aufgaben, dann werden sie in der Regel von den Landkreisen und den höheren Kommunalverbänden wahrgenommen. Eine „Hochzonung" örtlicher Aufgaben darf allerdings nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht schon aus reinen Wirtschaftlichkeitserwägungen heraus erfolgen (BVerfGE 79, 127 ff. vom 23.11.1988). Vielmehr muss bei der Entscheidung darüber, ob eine Aufgabe der Gemeinde entzogen und auf einen höheren Kommunalverband übertragen wird, der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 G G inhärente Grundsatz der subsidiären Aufgabenverteilung beachtet werden; demnach ist ein Aufgabenentzug etwa aus tragfähigen Gründen des Gemeinwohls erlaubt (J. J. Hesse, 2000 a, S. 304 f.). Entsprechend dieser Regelung sind im Vorfeld einer Übertragung von Kommunalaufgaben auf Landkreise und andere höhere Gebietsverbände die historische Entwicklung sowie die gegenwärtige Größe (Einwohnerzahl, flächenmäßige Ausdehnung) der vom Aufgabenentzug potenziell betroffenen Gemeinde(n) entscheidende Kriterien. Dabei sehen sich kleine Gemeinden häufig mit der Übernahme einer Aufgabe überlastet, die eine Mittelstadt selbstverständlich als örtliche Aufgabe interpretiert (gespaltener Örtlichkeitsbegrifl). Allgemein kann mit Blick auf kleinere Gemeinden festgehalten werden, dass der Kreis stets dann herangezogen wird, wenn sich eine Aufgabe nur innerhalb eines größeren Einzugsgebiets im Sinne des Gemeinwohls verwirklichen lässt (G. Schwarting, 20022, S. 40 f.). Dies kann etwa bei der Unterhaltung des öffentlichen Personennahverkehrs in ländlichen Gebieten oder bei der Elektrizitätsversorgung der Fall sein, wobei wiederum die Möglichkeit zu beachten ist, dass Gemeinden oder Gemeindeverbände sich zur Erledigung bestimmter Aufgaben (ζ. B. einer Müllverbrennungsanlage oder eines Wasserwerks) zu einem kommunalen Sonderverband (Zweckverband) zusammenschließen (vgl. W. Thieme, 1996 und 1997; R. Stober, 19963, S. 825f.; H.-J. v. d. Heide, 1999, S. 127ff.). Gemeinden können aufgrund ihrer Allzuständigkeit Aufgaben aus allen Lebensbereichen der örtlichen Gemeinschaft wahrnehmen: Kultur, Soziales, Sport, Bauwesen, Ver- und Entsorgung, Schulen und Bildung, Wirtschaft, Verkehr und Umweltpflege. Dabei spielt der Bereich Schulen und Bildung mit der Zuständigkeit für Kindergärten, Grund-, Haupt- und Realschulen sowie für Gymnasien eine wichtige Rolle (vgl. Materialband, VII/17-19). In ländlichen Räumen werden Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen aber auch von den Kreisen übernommen. Schullandheime und Berufsschulen zählen in der Regel zu den Kreisaufgaben. Gerade in diesem Bereich vermischen sich die Zuständigkeiten zwischen Stadt und 85

II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Land besonders deutlich. Während die Länder vor allem planerische Vorgaben machen und für die sogenannten inneren Schulangelegenheiten verantwortlich sind, also Lehrpläne erstellen und das Lehrpersonal bereitstellen, sind die Gemeinden für die äußeren Schulangelegenheiten, vor allem für die Errichtung und Unterhaltung der Schulgebäude, zuständig. Inwiefern diese Aufteilung der Zuständigkeiten heute noch sinnvoll und praktikabel ist, bleibt künftig verstärkt zu diskutieren (vgl. T. EllweinU. J. Hesse, 1997). Im Bereich der Kultur finden sich hingegen viele freiwillige Aufgaben, welche die Gemeinden mit großer Selbständigkeit erledigen; hierzu zählen die Gemeindebücherei, Konzertveranstaltungen und Theater, die Volks- und Heimatpflege, die Denkmalpflege und Städtepartnerschaften. Im weitesten Sinne könnte man auch die Aufgaben im Bereich „Sport und Unterhaltung" sowie die Errichtung und Pflege von Sportplätzen und -hallen, Schwimmbädern, Kinderspielplätzen, Bürgerhäusern, Jugendherbergen und die Förderung von örtlichen Vereinen hinzufügen. Bei Aufgaben des Sozial- und Gesundheitswesens, wie der Unterhaltung von Altenheimen, Jugendheimen, Krankenhäusern und Sozialstationen sowie der Jugend- und Sozialhilfe, sind hingegen kleine Gemeinden häufig überfordert. Vor allem die Errichtung und Unterhaltung eines modernen und leistungsfähigen Krankenhauses erfordert einen erheblichen Finanzaufwand und ein entsprechend großes Einzugsgebiet, um effizient wirtschaften zu können. Viele Zuständigkeiten aus diesem Bereich werden deshalb von den Kreisen übernommen oder aber im Rahmen von Zweckverbandslösungen ausgeübt. Einen wichtigen Bereich gemeindlicher Zuständigkeit stellt die unter den schon angesprochenen Begriff der „Daseinsvorsorge" fallende Erledigung der Ver- und Entsorgung dar. Dazu zählen u.a. die Energie- und Wasserversorgung sowie die Abfall- und Abwasserbeseitigung, die insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten der Selbstverwaltung in der Bundesrepublik vorwiegend von kommunalen Unternehmen übernommen wurden. Der auch hier erkennbare Trend zur Privatisierung, der in der jüngsten Debatte als Weg zur Modernisierung und Effizienzsteigerung im Bereich der öffentlichen Leistungserbringung für die kommunale Ebene empfohlen wird (V. Hösch, 2000, S. 10 u. 56ff.), ist allerdings nicht neu. Entsprechende Empfehlungen gehörten bereits seit den 1970er Jahren zu den herkömmlichen Reaktionen auf die immer wiederkehrenden „Krisen" der Kommunalfinanzen. Wird der Druck der notwendigen Haushaltskonsolidierung, unter dem sich Gemeinden heute vielfach zu Privatisierungsmaßnahmen veranlasst sehen (H. Mäding 1998; K.-D. Schmidt, 1998; F. Nullmeier, 2001), zunächst ausgeblendet, stellt die Entscheidung für oder gegen eine solche Maßnahme grundsätzlich eine Abwägung zwischen dem Sozialstaatsgebot und dem Gleichheitsprinzip sowie dem Subsidiaritätsprinzip dar (Κ. Vogelsang u.a., 19972, S. 290f.; U. Hösch, 2000, S. 32ff.; J. Lattmann, 2002). Die Aufgabenübertragung auf ein privates Unternehmen bedeutet nicht unbedingt einen Verlust an Steuerungs- und damit Ausgleichsmöglichkeiten des Staates bzw. der Kommune. Entscheidend ist in diesem Kontext die Form der Privatisierung. So wird zwischen der materiellen Privatisierung, also der vollständigen Übertragung einer Aufgabe auf Private, und der formalen Privatisierung, der Auslagerung einer Aufgabe auf eine Gesellschaft des Privatrechts, die häufig in kommunaler Hand oder unter kommunaler Kontrolle verbleibt, unterschieden. Neben der tatsächlichen Privatisierung haben sich zahlreiche Formen öffentlich-privater Zusammenarbeit herausgebildet, aufgrund derer ein möglicher Steuerungsverlust bei Aufgabenauslagerung begrenzt werden kann. Insbesondere die städtischen Unternehmen der Wasser-, Gas- und Stromversorgung stehen heute, auch aufgrund der im europäischen Wettbewerbsrecht normierten Vorschriften, unter Reform- und Privatisierungsdruck. So wird in Art. 16 des EG-Vertrages zwar die 86

2. Staat und Gemeinden Bedeutung der „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse [...] bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts" unterstrichen und auf die Verpflichtung der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten hingewiesen, dafür Sorge zu tragen, „dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können", doch legt Art. 86 EGV ausdrücklich fest, dass die Wettbewerbsregeln zum Schutz der vier Freiheiten im europäischen Binnenmarkt auch für öffentliche Unternehmen gelten. Im Übrigen wird mit Blick auf die kommunale Wirtschaftstätigkeit eine immer stärkere Europäisierung der kommunalen Aufgabenwahrnehmung deutlich. Zu einem exemplarischen Konflikt haben sich in diesem Zusammenhang die staatlichen Garantien für Landesbanken und Sparkassen entwickelt. Er wurde durch eine Zusatzerklärung zum Vertrag von Amsterdam („Erklärung zu den öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten in Deutschland") eingeleitet. Die Einrichtung und der Betrieb von Sparkassen gehören in Deutschland traditionell zum genuinen Wirkungskreis der Kommunen. Die Sparkassen agieren zwar im Wesentlichen wie private Kreditinstitute, dienen als öffentlich-rechtliche Anstalten mit kommunaler Gewährträgerschaft allerdings in zweifacher Hinsicht auch einem öffentlichen Interesse. Zum einen soll durch sie für Wirtschaft und Bevölkerung eine flächendeckende Bereitstellung von Infrastruktur im Finanzdienstleistungsbereich sichergestellt werden, zum anderen erfüllen die Sparkassen eine fiskalische Funktion insofern, als sie von den Kommunen bevorzugt zur Anlage und Verwaltung öffentlicher Gelder genutzt werden. Dieses traditionelle Verständnis der Aufgaben der kommunalen Sparkassen geriet durch das europäische Wettbewerbsrecht von zwei Seiten her unter Druck. So kritisierte die Kommission nach einer entsprechenden Beschwerde des europäischen Dachverbandes der Privatbanken und vor dem Hintergrund der europäischen Richtlinien im Bankenbereich sowie der Harmonisierung und Liberalisierung der Finanzdienstleistungs- und Kapitalmärkte, dass die kommunalen Sparkassen (wie im Übrigen auch der Landesbanken und der Sparkassenverbände) in Deutschland durch eine staatliche Bestandsgarantie (Gewährträgerhaftung) Zinsvorteile bei der Kapitalbeschaffung genießen. Dies, so der Einwand der Kommission, bedeute einen unzulässigen Wettbewerbsvorsprung der deutschen öffentlichen Sparkassen und Landesbanken gegenüber anderen, privatwirtschaftlichen Kreditinstituten innerhalb der EU. Als Ausfluss dieser Argumentation forderte die Kommission daher die Abschaffung der sog. Anstaltslast. Diese Regelung im Recht der öffentlichen Sparkassen besagt, dass die öffentliche Hand - in diesem Fall also Kommunen und Länder - als Träger ihrer Anstalten diese mit den notwendigen finanziellen Mitteln zur Funktionsfahigkeit und Aufgabenerfüllung ausstatten müssen. Zu Beginn des Jahres 2002 wurde der Streit dann mit einem Kompromiss zwischen der Kommission und der Bundesregierung bzw. den Länderregierungen beigelegt. Danach akzeptiert Deutschland, dass die Anstaltslast durch eine Eigentümerregelung zu üblichen Marktbedingungen umgewandelt und das Rechtsinstitut der Gewährträgerhaftung nach Ablauf einer Übergangsfrist bis zum Juli 2005 abgeschafft wird. Allerdings sind die Gemeinden nicht nur im Finanzbereich, sondern auch in anderen Politikfeldern durch europäische Regelungen betroffen. Dies gilt etwa für das Bauwesen. So tragen die Gemeinden bekanntlich die Bauleitplanung und regeln die Bodennutzung über Flächennutzungs- und Bebauungspläne. Über das Bundesraumordnungsgesetz und die Landes- und Regionalplanung, die den Rahmen für kommunale Planungsansätze bestimmen, sind sie dabei mit den staatlichen Ebenen in einem Gesamtplanungssystem verbunden. Auch wenn die EU nicht unmittelbar in dieses System „eingreift", trägt sie seit geraumer Zeit etwa durch das europäische Raumentwicklungskonzept EREK 1997 oder die Finan-

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung zierung raumplanerischer Maßnahmen auf Grundlage der Gemeinschaftsinitiative INTERREG II indirekt zur Rahmensetzung für kommunales Handeln im Bereich der Bauleitplanung bei (zum Gesamtbereich vgl. E.-H. Ritter, 2003). Neben dem Bauwesen sind schließlich noch die gemeindlichen Zuständigkeiten für die Liegenschaftsverwaltung, für die Tief- (Straßen und Plätze) und Hochbauämter (gemeindeeigene Bauten) sowie für Aufgaben im Bereich „Wirtschaft, Verkehr und Umwelt" zu nennen. In diesen Bereichen übernehmen je nach Leistungsfähigkeit entweder die Kreise oder die Gemeinden die Aufgaben der Wirtschafts- und Fremdenverkehrsförderung, wobei auch hier europäische Regelungen zunehmend von Bedeutung sind; hinzu treten Landschaftsplanung und Landschaftspflege. Während der öffentliche Personennahverkehr, wie ausgeführt, meist von den Kreisen wahrgenommen wird, tragen die Gemeinden die Verantwortung für Grün- und Parkanlagen, Wander- und Reitwege sowie Friedhöfe. Erheblich differenzierter stellt sich die Situation bei den weisungsgebundenen Aufgaben dar. Hier sind die Landesverfassungen durch unterschiedliche Formen der Aufgabenübertragung (staatliche Aufgaben, Weisungsaufgaben, Auftragsangelegenheiten) gekennzeichnet; Kreisverwaltungen fungieren in der Mehrheit der Länder auch als untere, die Aufsicht über die Erledigung der jeweiligen Aufgabe führende Landesbehörden (S. 154ff.; H.-J. v. d. Heide, 1999, S. 128; zu einer Übersicht vgl. u.a. S. Machura, 1996, S. 55ff.). Zu den staatlichen Aufgaben, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Aufgabenzuordnung beim Staat (Bund, Land) liegt, die Wahrnehmung jedoch bei den Gemeinden, zählen etwa die Sicherheits- und Ordnungsverwaltung, die Unterbringung von Asylbewerbern oder auch Aufgaben der örtlichen Straßenverkehrsbehörde. Bei der Durchführung dieser Aufgaben unterliegen die Gemeinden der staatlichen Weisung, wobei das Weisungsrecht, je nach Landeskommunalrecht, umfassend oder gegenständlich begrenzt ausgestaltet werden oder eventuell sogar ganz wegfallen kann. Ein solches Recht besteht in jedem Fall mit Blick auf die sog. Weisungsaufgaben. Hierbei handelt es sich um Pflichtaufgaben der Gemeinden, an die ein gesetzlich näher zu bestimmendes Weisungsrecht des Staates gekoppelt ist. Die Wahrnehmung der jeweils konkreten Aufgabe erfolgt unter der Fachaufsicht der untersten staatlichen Verwaltungsbehörde, wobei auch die Gemeinde selbst unter Umständen in dieser Eigenschaft tätig werden kann (etwa als untere Baurechtsbehörde oder im Bereich der Aufgaben nach dem Gaststättengesetz, dem Polizeigesetz und dem Passgesetz). Was schließlich die Auftragsangelegenheiten betrifft, handelt es sich hier um Aufgaben, die den Gemeinden zur Erledigung im Auftrag des Staates, der das volle Weisungsrecht behält, übertragen werden. Auftragsangelegenheiten und staatliche Aufgaben sind identisch, sofern es sich um Landesaufträge an die Gemeinden handelt. Allerdings sind zusätzlich noch die sog. Bundesauftragsangelegenheiten (Art. 85 GG) zu nennen (etwa Vorbereitung der Bundestagswahlen, Aufgaben nach dem Zivilschutz- und nach dem Katastrophenschutzgesetz oder auch Aufgaben nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz). Generell werden die Kosten der Erledigung von weisungsgebundenen Aufgaben durch staatliche Zuweisungen gedeckt.

2.3. Zur Situation der kommunalen Selbstverwaltung heute Nach dieser Kennzeichnung des Verhältnisses von Stadt und Staat und der Aufgabenstruktur der Gemeinden und Gemeindeverbände soll abschließend versucht werden, die gegenwärtige Situation der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland zu umreißen. Dabei ist der Blick zunächst auf die veränderten Rahmenbedingungen und die Gestaltungsräume kommunaler Politik zu richten.

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2. Staat und Gemeinden Gerade in den Städten und Gemeinden wird das Dilemma zwischen bürgerschaftlichen und staatlichen Anforderungen sowie einem demgegenüber immer enger werdenden Ressourcenrahmen deutlich. So treten zu den aus dem Vereinigungsprozess erkennbaren Belastungen heute materielle wie prozessuale Anforderungen, die sich mit der Wirtschaftsentwicklung, demografischen und sozialräumlichen Veränderungen, einer nachhaltigen ökologischen Umorientierung sowie der zunehmenden Internationalisierung und Europäisierung verbinden (zusammenfassende Darstellungen bei J. J. Hesse, 1986, 1989; W. BliimellH. Hill, 1990; K. GanserU. J. HesselCh. Zöpel, 1991; B. Blanke, 1991; R. Kleinfeld, 1996; J. Wieland, 1998; T. Schäfer, 1998; H. Wollmann/R. Roth, 1999; H. NaßmacherlK.-H. Naßmacher, 1999; J. Bellers, 2000; D. Fürst, 2001). In wirtschaftspolitischer Hinsicht erfordert dies seitens der kommunalen Entscheidungsträger behutsame Abwägungsprozesse nicht nur zwischen den Interessen der lokalen und regionalen Wirtschaft, sondern auch zwischen den Ansprüchen der unterschiedlichen sozialen Gruppen, der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber, älterer wie jüngerer Menschen. Vor allem bei Entscheidungen über die Durchführung oder den Aufschub dringend benötigter Investitionen in die kommunale Infrastruktur, bei Fragen der Innenstadtentwicklung (die angesichts massiver Suburbanisierungsprozesse insbesondere für ostdeutsche Städte zu einem entscheidenden Faktor der weiteren Entwicklung werden), bei Diskussionen über lokale Arbeitsmarktpolitik sowie bei Entscheidungen über Förderungs- und Ansiedlungsmaßnahmen finden sich kommunale Entscheidungsträger zunehmend in einem Spannungsfeld konfligierender Interessen wieder. Die Forderungen, umweltgerechte, das Nachhaltigkeitsprinzip berücksichtigende Entwicklungsstrategien zu entwerfen, für einen Ausgleich bedeutsamer werdender sozialer Differenzen zu sorgen und der örtlichen Bürgerschaft einen möglichst breiten Beteiligungs- und Mitentscheidungsspielraum zu belassen, sind im Vorfeld wirtschaftspolitischer Entscheidungen ebenso einzubeziehen wie das nahezu alle Gemeinden belastende Erfordernis der Haushaltskonsolidierung. Darüber hinaus werden die bereits angesprochenen europapolitischen Restriktionen, etwa im Gefolge wettbewerbsrechtlicher und beihilfeorientierter Regelungen (J. Kleine, 2002), virulent (zusammenfassend H. Fichter/T. Moss, 2001; W. Hanesch, 2001; Gemeindefinanzbericht 2002; S. 53 ff. u. 35 ff.; der städtetag 1/2002, S. 6 ff.; der städtetag 5/2002, S. 6 ff.; H. Karrenberg, 2002). Die sich damit verbindende, inzwischen deutlich erkennbare „Verunsicherung" setzt sich im Sozialbereich fort. Internationale wie innerstaatliche Migration, Langzeitarbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit lassen vor allem in den Innenstädten „soziale Brennpunkte" entstehen, deren Bewohner Gefahr laufen, dem Kreislauf von schlechten Wohnverhältnissen, einer schwierigen Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation sowie brüchigen sozialen Beziehungen kaum mehr entkommen zu können (vgl. Deutscher Bundestag, 2001; W. Hanesch, 2001). Zu den Herausforderungen, die sich insbesondere in größeren Städten abzeichnenden Segregationstendenzen etwa durch Maßnahmen des Quartiermanagements und der Stadtentwicklung sowie durch gezielte Förderung sozial schwacher Gruppen oder aktive Jugendarbeit einzudämmen, treten Aufgaben zur Verbesserung der lokalen Arbeitsmärkte. Im Mittelpunkt steht dabei eine vertiefte und damit effektivere Zusammenarbeit lokaler Arbeitsämter mit den Gemeinden als Trägern der Sozialhilfe. So sollen nach den Vorschlägen der 2002 von der Bundesregierung eingesetzten Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" („Hartz-Kommission") die bisher existenten 181 Arbeitsämter mit ihren 880 kommunalen Geschäftsstellen zu sog. JobCentern umgewandelt werden; sie dienen vor allem der Vermittlung von Arbeitslosen auf lokaler Ebene. Im Sinne des geplanten integrierten arbeitsmarktpolitischen Konzepts ist vorgesehen, in diesen Centern alle arbeitsmarktrelevanten sozialen Beratungs- und Betreuungsleistungen zusammenzufassen, die bis-

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung her getrennt von den jeweiligen kommunalen Sozial-, Jugend- und Wohnungsämtern sowie den Schuldner- und Suchtberatungen wahrgenommen wurden (ohne allerdings den Kommunen die formale Zuständigkeit für die genannten Leistungen zu entziehen; Bericht der Kommission, 2002, S. 67ff.; W. Jann, 2003, S. 4). Bleibt die Wirksamkeit dieser Maßnahmen abzuwarten, liegt darin doch der Versuch, bürokratische Hürden bei der Erfüllung kommunaler Sozialaufgaben abzubauen. Insgesamt ist der sozialpolitische Handlungsbedarf, der sich auch mit Blick auf das Gesundheitswesen und Gleichstellungsfragen ergibt, beträchtlich. Zudem wird die Gefahr einer finanziellen Überforderung angesichts des problematischen Auseinanderfallens zentraler sozialpolitischer Regelungen einerseits und den Kommunen übertragener Ausführungsaufgaben andererseits deutlich (Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 5Iff. u. 66fT.). Im Bereich der Kulturpolitik geht es demgegenüber um eine veränderte Prioritätensetzung, um die ohnehin abgesenkte Handlungsfähigkeit der Gemeinden zu sichern. Nur so dürfte es möglich sein, die vor allem quantitative Diskussion einzugrenzen, die sich mit der Bewältigung der dem Einigungsprozess folgenden Nachholbedarfe insbesondere in den ostdeutschen Kommunen verband. Auch wenn dieses traditionell zum eigenen Wirkungskreis der Gemeinden zählende Aufgabenfeld noch am wenigsten durch Verpflichtungen gegenüber Land und Kreditgebern oder durch Bindungen an das Personalrecht geprägt ist, besteht die zukünftige Herausforderung darin, die größer werdende Kluft zwischen einem knappen Finanzrahmen für die Kulturförderung und der Bewahrung einer möglichst breiten kulturellen Vielfalt auf Gemeindeebene zu überwinden. Die großen Städte erscheinen dabei bevorteilt, da hier über die Verbindung von Wirtschafts- und Kulturpolitik - etwa im Rahmen eines erweiterten Sponsoring - nicht selten eine Entlastung öffentlicher Ausgaben gelingt und zugleich Standortpolitik betrieben wird. „Klassische" Einrichtungen öffentlicher Kulturpolitik, wie etwa Bibliotheken, Museen oder Musikschulen, stehen dagegen gerade in kleineren Gemeinden in der Gefahr, als erste Sparzwängen geopfert zu werden (H. Glaser, 1999, S. 683f.; Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 48). Neue Anforderungen stellen sich auch im Bereich der kommunalen Umweltpolitik. Die Stadt wird dabei zunehmend als Raum gesehen, in dem der Mensch in und mit der Natur lebt. Sie ist damit ein Stück Umwelt, das durch Bepflanzung und Bebauung gestaltet wird und das der Mensch in Partnerschaft mit der Natur durch seine Nutzung und Arbeit ständig reproduziert. Daraus sind dann aber auch Folgerungen zu ziehen, etwa ein Zurückdrängen des motorisierten Individualverkehrs aus den Innenstädten, der Ausbau der städtischen Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer, die Nutzung brachliegender ehemaliger Gewerbeflächen, ein ökologisches Bauen sowie erweiterte Wohnumfeldverbesserungen. Kommunaler Umweltschutz als Querschnittsaufgabe erfordert vor diesem Hintergrund prozessual ein hohes Maß an Integration und Koordination nicht nur innerhalb der Kommunalverwaltung, sondern auch zwischen dieser und anderen Akteuren der Umweltpolitik, wie Mandatsträgern, Bürgern und Bürgerinitiativen, Grundeigentümern und Unternehmen (J. Hucke, 1999, S. 646 u. 649 ff.). Materiell unterliegen umweltpolitische Maßnahmen der Städte und Gemeinden seit längerem einem Anpassungsdruck, der nicht nur durch die internationale Aufmerksamkeit erzeugt wird, die kommunale Umweltfragen mit der lokalen Agenda 21 der Vereinten Nationen erfahren haben (ebd., S. 645), sondern sich vor allem auch mit umweltpolitischen Maßnahmen der EU, so der Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung (1985) oder den Trink- und Abwasserrichtlinien (1980 und 1993), verbindet. Die wachsenden Anforderungen an das kommunale Handeln erweisen sich vor allem angesichts abnehmender Gestaltungsspielräume als problematisch. Die Kommunen klagen dabei nicht nur über eine zunehmende normative Fremdbestimmung von Aufgabenbestand

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2. Staat und Gemeinden und Aufgabenerfüllung (Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 66ff.; Deutscher Städtetag, 2002; H.-G. Henneke, 2002; J. Lattmann, 2002), sie verweisen vielmehr auch auf einen noch immer ungenügenden finanziellen Ausgleich bei der Aufgabenübernahme sowie auf stark rückläufige Eigeneinnahmen (Gemeindefinanzbericht, 2002; P. Roth, 2003). Nach einem Finanzierungsüberschuss zwischen 1998 und 2000, der den Gemeinden eine zeitweilige Konsolidierung ihrer Haushalte ermöglichte, erlebt die kommunale Ebene seitdem wieder einen Anstieg ihres Haushaltsdefizits um 3,95 bzw. 4,90 Prozent in den Jahren 2001 und 2002 (ebd., S. 81). Eine Umkehr dieses Negativtrends scheint derzeit nicht in Sicht. So prognostizierte der Arbeitskreis Steuerschätzung im Mai 2003 einen kontinuierlichen Rückgang der Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden vorerst bis zum Jahr 2006 (BMF, 2003, S. 57 f.). Die Gründe für diese erneut negative Entwicklung des kommunalen Finanzierungssaldos sind vielfältig. Mit Blick auf die Einnahmenseite mussten die Gemeinden in Ost- wie Westdeutschland vor allem aufgrund steuerlicher Einbrüche seit dem Jahr 2000 Ausfälle hinnehmen (in Ostdeutschland von 4,9 Mrd. € auf geschätzte 4,69 Mrd. € und in Westdeutschland von 52,23 Mrd. € auf geschätzte 46,82 Mrd. €, jeweils in 2003). Diese Einnahmenverluste lassen sich zum einen auf gesetzgeberische Maßnahmen zurückführen; so hat das im Jahr 2000 initiierte Steuersenkungsgesetz ebenso zum Rückgang von Gemeindeeinnahmen beigetragen wie das Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz und die damit verbundene Erhöhung der von den Gemeinden an Bund und Länder abzuführenden Gewerbesteuerumlage um 10 Prozent. Zum anderen ergaben sich konjunkturbedingte Einbrüche bei den Gewerbesteuern. Auch mit Blick auf andere kommunale Steuereinnahmen, etwa den Anteilen an der Einkommen- und Umsatzsteuer, waren Einbußen zu verzeichnen. Schließlich führte die Versteigerung von UMTS-Lizenzen in Höhe von 50 Mrd. D M (im Jahr 2001) insofern zu gemeindlichen Steuereinbußen, als die entsprechenden Lizenzkosten in Städten mit dem Hauptsitz einer erwerbenden Telekommunikationsfirma als Sonderausgaben steuerlich abgeschrieben werden konnten (alle statistischen Angaben nach Gemeindefinanzbericht, 2002, sowie Angaben des Deutschen Städtetags, 2003). Aber auch der insgesamt leichte Anstieg der kommunalen Ausgaben um zuletzt 0,3 Prozent (2002) hat die prekäre finanzielle Situation der Gemeinden verstärkt. In diesem Zusammenhang ist neben der 2001 beschlossenen Fortführung des Solidarpakts (bis zum Jahr 2019) insbesondere der Anstieg im Bereich der Sozialausgaben zu nennen. So sind die Kommunen seit der Umstellung des Familienlastenausgleichs 1996 nicht nur an der Finanzierung des Kindergeldes beteiligt, ihr Finanzierungsanteil hat sich zudem kontinuierlich erhöht und belief sich im Jahr 2002 auf zehn Prozent der Gesamtkosten in Höhe von 34 Mrd. Euro. Ein weiterer Anstieg der Gemeindeausgaben ergibt sich aufgrund der mit der Rentenreform von 2002 verbundenen Mitfinanzierungspflicht. Zudem stiegen die kommunalen Sozialausgaben, vor allem im Bereich der Jugend- und der Sozialhilfe, aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit weiter an - zuletzt (2002) um 6,9 Prozent in den östlichen und um 2,1 Prozent in den westlichen Bundesländern. Schließlich werden die Gemeindekassen in Ost- und Westdeutschland trotz eines kontinuierlichen Personalabbaus seit Beginn der 1990er Jahre von weiter wachsenden Personal- und Sachmittelkosten belastet. Zeichnete sich die Gefahr einer finanziellen Überlastung der Gemeinden, nicht nur vor dem Hintergrund kontinuierlicher Reformappelle seitens der kommunalen Spitzenverbände, bereits seit geraumer Zeit ab (Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 82 u. 54), reagierte die Bundesregierung gleichwohl verspätet und über sehr unterschiedliche Politiken. Zum einen wurde die seit längerem geforderte Reform der Sozialhilfe im Zuge der Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik Teil der politischen Agenda. So schlug die „//ar/r-Kommission" in 91

II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung ihrem Abschlussbericht eine Zusammenführung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem sog. „Arbeitslosengeld II" vor (Bericht der Kommission, 2002, S. 126f.). Dieses richtet sich als steuerfinanzierte soziale Transferleistung an erwerbsfähige Leistungsempfánger, die, in der Regel aufgrund der Dauer ihrer Erwerbslosigkeit, das als Versicherungsleistung bestehende Arbeitslosengeld (künftig „Arbeitslosengeld I") nicht mehr in Anspruch nehmen können. Die Gemeinden unterstützen diesen Vorschlag ausdrücklich, allerdings versehen mit der Forderung, die steuerfinanzierte Leistung des Arbeitslosengeldes II voll vom Bund tragen zu lassen {Deutscher Städte- und Gemeindebund, 2003). Die Gemeindevertreter verbinden mit ihrer Zustimmung die Erwartung eines hohen Einsparpotenzials im Bereich der kommunal zu tragenden Sozialhilfe (Deutscher Städtetag, 2002). Beschloss die Bundesregierung Ende August 2002, also noch vor der Bundestagswahl, die vollständige Umsetzung der Vorschläge der „i/arfz-Kommission", findet sich der Vorschlag zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auch in der im März 2003 von Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgelegten „Agenda 2010", auf deren Grundlage eine umfassende Reform der Systeme der sozialen Sicherung in Angriff genommen werden soll (vgl. Regierungserklärung vom 14. März 2003). Ein zweiter Schritt zur Sanierung der kommunalen Finanzlage bestand in der Einsetzung einer „Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen" im Mai 2002. Sie sollte unter Federführung des Bundesfinanzministeriums den Vorschlag zu einer grundlegenden Reform des Gemeindefinanzsystems erarbeiten. Angesichts der massiven Einbrüche des Gewerbesteueraufkommens spitzten sich die Kommissionsberatungen rasch auf die zentrale Frage nach einer Reform der Gewerbesteuer zu. Zwei Modelle standen zur Auswahl. Danach schlug der BDI, unterstützt von Teilen der CDU und hier insbesondere von Ländervertretern, die vollständige Abschaffung der Gewerbesteuer sowie, im Gegenzug, die Einführung eines kommunalen Hebesatzes auf die Umsatzsteuer vor. Demgegenüber traten die kommunalen Spitzenverbände, sie wiederum unterstützt von Regierungsvertretern und weiten Teilen der SPD, für eine Ausweitung der Erhebungsgrundlage der Gewerbesteuer auf die freien Berufe ein. Das letztbenannte Modell wurde auch im Zusammenhang mit der benannten „Agenda 2010" von der Bundesregierung favorisiert. Im Zusammenhang mit der Diskussion um eine nachhaltige Sanierung der Gemeindefinanzen wird - schon seit den Diskussionen im Rahmen des 61. Deutschen Juristentages die Frage der Konnexität, also einer konsequenten Koppelung von Aufgabenübertragung und Finanzierungsverantwortung, diskutiert. Zwar weisen die meisten Landesverfassungen eine derartige Bestimmung auf, doch stellt sie nicht in jedem Bundesland eine verbindliche Soll-Regelung dar. Eine Aufnahme einer entsprechender Regelungen in alle Landesverfassungen hätte den Vorteil beträchtlich erhöhter Transparenz, vor allem mit Blick auf die Konsolidierungsbemühungen der einzelnen Gebietskörperschaften (J. J. Hesse, 2000). Zu großen Hoffnungen auf damit verbundene Ausgleichswirkungen ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Kosten öffentlicher Aufgaben nicht eben einfach zu berechnen sind und Zuweisungsentscheidungen letztlich immer politische Entscheidungen bleiben werden. Vor diesem Hintergrund sind die zahlreichen kommunalen Bemühungen zu sehen, durch auch strukturelle Reformen verlorengegangene Handlungsspielräume zurückzugewinnen. Dabei geht es zum einen um eine Reform der Kommunalverfassungen, zum anderen um Ansätze einer weiteren Ausgliederung wie Privatisierung von Verwaltungsaufgaben; schließlich ist die nachhaltige Umstellung des Verwaltungshandelns auf ein vor allem an betriebswirtschaftlichen Kriterien ausgerichtetes Steuerungsmodell zu nennen. Die unter dem Einfluss der Alliierten geschaffenen Kommunalverfassungen in der „alten" Bundesrepublik wurden bis zu ihrer umfassenden Reform im Laufe der 1990er Jahre in vier 92

2. Staat und Gemeinden Grundtypen unterteilt: die Norddeutsche Ratsverfassung mit der Doppelspitze aus Oberbürgermeister und (Ober-)Stadtdirektor in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die der amerikanischen Präsidialverfassung ähnelnde Süddeutsche Rats Verfassung in Bayern und Baden-Württemberg, die (unechte) Magistratsverfassung in Hessen, Bremerhaven und in den größeren Städten von Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein sowie die Bürgermeisterverfassung in Rheinland-Pfalz, im Saarland und in den kleineren Gemeinden SchleswigHolsteins. Die fünf „neuen" Länder ersetzten bereits kurz nach der Wiedervereinigung das „Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der D D R " durch neue Kommunalordnungen, die sich weitgehend (vor allem in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, weniger in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern) an das süddeutsche Modell anlehnten (vgl. R Kleinfeld, 1996; H. WollmannIR. Roth, 1999). Schon vor der Wiedervereinigung wurden allerdings auch in den „alten" Bundesländern Reformen diskutiert, wobei auch hier die Süddeutsche, insbesondere die baden-württembergische Gemeindeverfassung Modellcharakter annahm. Materiell standen Effizienzgesichtspunkte und eine Stärkung der bürgerschaftlichen Mitwirkung im Zentrum der Diskussion (F.-L. Knemeyer, 1999, S. 108 ff.). Über den Ausbau von Partizipationsmöglichkeiten durch Einführung direktdemokratischer Beteiligungsformen (wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheid) in den Kommunalverfassungen aller Bundesländer sowie durch die Möglichkeiten des Panaschierens und Kumulierens versprach man sich erhöhte Transparenz und Akzeptanz. Die Direktwahl des Bürgermeisters - bislang Charakteristikum der Süddeutschen Ratsverfassung - wurde nun auch in Hessen und Rheinland-Pfalz in die Kommunalverfassung aufgenommen. Insgesamt führten die Reformen, die ab 1994 in den Ländern durchgeführt wurden, zu einer Reduzierung der benannten vier auf jetzt nur noch drei grundlegende Typen von Kommunalverfassungen. Sie sind dualistisch angelegt, also durch Kompetenz- und Verantwortungsteilung zwischen Gemeinderat und Verwaltung gekennzeichnet, unterscheiden sich jedoch darin, wie die Leitung von Rat und Verwaltung jeweils organisiert ist. So ist der direkt gewählte Bürgermeister in Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thüringen und im Saarland nicht nur der Leiter der Verwaltung, sondern auch Vorsitzender der Gemeindevertretung (duale Rat-Bürgermeister- Verfassung unter einer Spitze). In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein ist der Bürgermeister hingegen zwar Verwaltungschef, leitet jedoch nicht den Gemeinderat, der einen Vorsitzenden aus seiner Mitte bestimmt (duale Rat-Bürgermeister· Verfassung mit zwei Spitzen). Lediglich in Hessen blieb die sogenannte unechte Magistratsverfassung bestehen, bei der die Verwaltung von einem Kollektivorgan, dem Magistrat, unter Vorsitz des seit 1993 nunmehr direkt gewählten Bürgermeisters geführt wird und der Gemeinderat den Vorsitzenden aus seiner Mitte wählt (ebd., S. U l f . , und Materialband, VII/ 18a-e). Eine weitere Reaktion auf die angespannte Haushaltslage stellen die seit Beginn der 1990er Jahre in zahlreichen Gemeinden erkennbaren Ausgliederungen und Privatisierungen kommunaler Einrichtungen dar (vgl. J. Ipsen, 1994; K. Vogelsang, 1997, S. 290f.; Gemeindefinanzbericht, 2002). Dabei ist, wie angesprochen, zwischen Vermögensprivatisierungen, wie dem Verkauf von Grundstücken und Gebäudekomplexen, und Organisationsprivatisierungen zu unterscheiden, die häufig dadurch motiviert sind, dass sie auf eine Lösung aus den starren Bedingungen des öffentlichen Dienst- und Haushaltsrechts zielen. Bei den vollzogenen Organisationsprivatisierungen geht es häufig um Aufgabenbereiche der sog. Daseinsvorsorge, vor allem um die Abfallwirtschaft, die Krankenhausversorgung, die Abwasserentsorgung und den öffentlichen Personennahverkehr (vgl. H.-G. Henneke, 1996). Die Aufgabenübertragung auf private Unternehmen ist nicht automatisch mit einem Verlust an 93

II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Steuerungs- und damit Ausgleichs- oder Verteilungsmöglichkeiten des Staates oder der Kommune verbunden. Allerdings stellen die von vielen Kommunen unter dem Druck knapper Kassen vor allem in den Jahren 1998 und 1999 vorgenommenen Vermögensprivatisierungen einen solchen Verlust dar {Gemeindefinanzbericht, 2002, S. 60). So dient die kurzfristige Haushaltsentlastung, die sich aufgrund des Privatisierungserlöses aus dem Verkauf meist kostendeckend und gewinnbringend arbeitender Unternehmen ergibt, lediglich einem einmaligen Haushaltsausgleich. Neben dem Verlust an Steuerungsmöglichkeiten führen Vermögensveräußerungen bei Kommunen mit ohnehin schwachen Vermögenshaushalten zu einem weiteren Schrumpfen der Vermögenssubstanz (ebd.). Mit Blick auf Organisationsprivatisierungen experimentieren inzwischen zahlreiche Gemeinden mit Modellen des public-private-partnership und wahren somit die Möglichkeit einer steuernden Einflussnahme. Eine dritte Reaktion der Städte und Gemeinden verbindet sich mit den seit Anfang der neunziger Jahre zu beobachtenden Versuchen, über eine Ergänzung der traditionellen Verwaltungsführung durch Elemente einer betriebswirtschaftlichen Steuerung bislang ungenutzte Effizienzspielräume zu erschließen (vgl. aus der umfangreichen Literatur F. NascholdlM. Pröhl, 1994; Ch. Reichard, 1995; Deutscher Städtetag, 19954; F. NascholdU. Bogumil, 1999). Angeregt durch die internationale Reformdiskussion und Erfahrungen in Städten wie dem neuseeländischen Christchurch, Phoenix in den USA oder dem niederländischen Tilburg, veröffentlichte die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) im Dezember 1991 erste Überlegungen zur Übertragbarkeit solcher Reformen in den deutschen Kontext. In seinem Kern zielt das dabei entwickelte „Neue Steuerungsmodell" auf eine Dezentralisierung von Verantwortung und Kompetenz über die Zusammenlegung von Fach- und Ressourcenverantwortung in den einzelnen Verwaltungseinheiten; ein Verzicht der politischen Gremien auf administrative Einzelentscheidungen tritt hinzu. Der Gemeinderat beschließt nach solchen Vorstellungen lediglich, welche Ziele die Verwaltung verfolgen sollte; die Zielerreichung wird über Kennzahlensysteme und eine erweiterte Kostenrechnung angestrebt. Auf welchem Wege die Verwaltung die Ziele erreicht, bleibt ihr im Wesentlichen selbst überlassen. Auch wenn in einzelnen Städten bislang positive Erfahrungen mit diesem Modell gemacht wurden, bleibt abzuwarten, ob sich die damit verbundenen hohen Erwartungen erfüllen. Vor allem wird bei der Erarbeitung von Produktkatalogen, der Entwicklung eines aussagefähigen Berichtssystems und dem Aufbau eines Verwaltungscontrolling der hohe Aufwand an finanziellen und personellen Ressourcen deutlich. Weil zusätzliches Personal nicht bereitgestellt werden kann, muss intensiv in die Personalentwicklung investiert werden, um die „Anwender" in der Verwaltung nicht hoffnungslos zu überfordern. Zu diesen funktionalen Bedenken treten demokratietheoretische Überlegungen. Sie verweisen auf die mit einer erweiterten betriebswirtschaftlichen Steuerung verbundene Veränderung der politischen „Kultur" in den Gemeinden (vgl. S. Machura, 1996; P. v. Kodolitsch, 2000, S. 199 ff.). Gerade auf kommunaler Ebene basiere die Legitimation von Ratsmitgliedern häufig auf Eingriffen im Einzelfall; die Erarbeitung von Richtlinien und Rahmenvorgaben erlaubten meist keine Profilierung von Oppositionspolitikern. Der „neo-technokratischen" Sichtweise des Neuen Steuerungsmodells wäre also der politische Charakter von Willensbildung und Entscheidung auch und gerade auf kommunaler Ebene gegenüberzustellen. „Ginge es um bloße verwaltungstechnische Effizienz, könnte man sich die Gemeinden sparen und die Aufgaben durch nachgeordnete Behörden der Länder wahrnehmen lassen" (E. Laux, 1996, S.414). Nicht ohne Grund hat sich die kommunalpolitische Diskussion deshalb seit Ende der 1990er Jahre von der Fixierung auf verwaltungstechnische Effizienzerwägungen gelöst.

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2. Staat und Gemeinden Es stehen jetzt Ansätze zur Stärkung bürgerschaftlicher Partizipation im Vordergrund, so die E i n f ü h r u n g plebiszitärer Beteiligungsformen sowie Konzepte einer „Bürgerkommune", in der die Stellung der Gemeindebürger und deren Beteiligungsmöglichkeiten durch die Ergänzung repräsentativer Entscheidungsformen um direktdemokratische und kooperative F o r m e n der Demokratie gestärkt wird. Ziel dieses bislang eher plakativen Konzepts (,J. BogumillL. Holtkamp, 2002; H.-H. Götzen, 2002, S. 220) ist eine Neugestaltung des Verhältnisses von Bürgern, Kommunalvertretung und Verwaltung dergestalt, dass administrative Effizienz wie demokratietheoretische Anforderungen in der kommunalpolitischen Praxis verbunden werden. Neben diesen Reaktionen auf den deutlich veränderten Handlungsspielraum ist schließlich ein Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen kommunaler Politik vor dem Hintergrund der europäischen Entwicklung zu richten. Hier ist davon auszugehen, dass sich die ablaufende Europäisierung weit über die unmittelbaren und mittelbaren Folgen einer europäischen Rechtssetzung hinaus direkt auf die Handlungsmöglichkeiten der deutschen Gemeinden auswirken wird, weil die ökonomische, soziale und kulturelle Maßstabsvergrößerung die Akteure zu einer Erweiterung ihres Denkens und Handelns zwingt, sie vor allem aber großräumigeren und gleichzeitig direkteren Wettbewerbsprozessen aussetzt, die wiederum ihre Flexibilität, Innovationsbereitschaft und Kreativität fordern (vgl. hierzu bereits J. J. Hesse, 1991). Den sich daraus ergebenden Anforderungen stehen die deutschen Städte und Gemeinden im europäischen Vergleich zunächst nur formal gut vorbereitet gegenüber. Dies gilt insbesondere f ü r die - in dieser F o r m im europäischen Vergleich einzigartige - verfassungsmäßige Absicherung der kommunalen Selbstverwaltung, den stabilen institutionell-organisatorischen R a h m e n , cum grano salis auch f ü r die Finanzausstattung und schließlich f ü r die politische Organisation und Bedeutung dezentraler Gebietskörperschaften innerhalb eines föderalstaatlichen Systems. Gleichwohl blieb die formale Position der K o m m u n e n vom Integrationsprozess nicht unberührt. Dies bezieht sich sowohl auf die bereits angesprochene A b s c h a f f u n g traditionsreicher Institute, wie der Anstaltslast und der G e w ä h r t r ä g e r h a f t u n g gegenüber den Sparkassen, als auch etwa auf das kommunale Wahlrecht. Seit dem Vertrag von Maastricht verfügen alle EU-Bürger unabhängig von ihrer nationalen H e r k u n f t über ein aktives und passives kommunales Wahlrecht. Die Bindung dieses Rechts an den Wohnsitz, die in Art. 19 (ex 8 b) des EG-Vertrags festgeschrieben wurde, ist wesentlicher Bestandteil der 1992 eingeführten Unions-Bürgerschaft. In kognitiver Hinsicht werden sich die Städte und Gemeinden erst allmählich den Herausforderungen bewusst, die f ü r sie mit einer aktiven Mitgestaltung des Europäisierungsprozesses verbunden sind. Besonders im Umfeld der kommunalen Spitzenverbände wurden lange Zeit eher drohende Restriktionen beklagt. Zwar initiierte der Deutsche Städtetag im September 2000 das Projekt „ Z u k u n f t der Stadt - Stadt der Z u k u n f t " , das auf der Hauptversammlung im Mai 2001 zu einer ersten Resolution der beteiligten Städte f ü h r t e und Wege der A n p a s s u n g und Möglichkeiten der Mitgestaltung des Europäisierungsprozesses durch die deutschen K o m m u n e n aufzuzeigen suchte (Leipziger Resolution für die Stadt der Zukunft, 2001). Gleichwohl wird einer Ausweitung des - in der Tat derzeit geringen - politischen Einflusses der K o m m u n e n auf europäischer Ebene nach wie vor zurückhaltend begegnet. Einwirkungen etwa auf die Programmentwicklung der Europäischen Union sind noch immer erst in Umrissen erkennbar, die verfolgten Politiken im R a h m e n des Ausschusses der Regionen bleiben ungleichgewichtig und ohne näheres Profil. Z u m Teil m a g dies auf Trivialitäten wie sprachbedingte „Berührungsängste" zurückzuführen sein; zum Teil verweist es aber auch auf eher strukturell begründete Befürchtungen, die Tendenzen zu einer

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Einebnung, einer Nivellierung des deutschen Systems der kommunalen Selbstverwaltung sehen. Allerdings wird es gerade dann nicht ausreichen, auch weiterhin auf eher symbolische Handlungen und Aktivitäten (Städtepartnerschaften, Europakongresse, Resolutionen zu einem „Europa der Bürger") zu vertrauen. Mit Blick auf konkrete, materielle Politiken sind Initiativen oder Projekte mit Europabezug eher selten, auch die notwendige „Außenorientierung" verbleibt häufig auf deklamatorischer Ebene. Eine diesen Namen verdienende Außenvertretung, die mit einer entsprechenden Selbstdarstellung verbunden sein müsste, die Nutzung von vorhandenen Programmangeboten und Mitgestaltungsmöglichkeiten auf EU-Ebene aktiv vorantreibt und den Transfer eigener Erfahrungen, Programme und Instrumente einbezieht, ist lediglich in Ausnahmefällen erkennbar. Die Gründe für diese latente Inaktivität der Städte und Gemeinden sind vielschichtig. Neben den angesprochenen Berührungsängsten mag auch eine gewisse Sattheit und Bequemlichkeit eine Rolle spielen. Dabei steht dann allerdings zu befürchten, dass das aktivere Engagement der Gemeinden anderer EU-Mitgliedstaaten (insbesondere Großbritanniens, aber auch der Niederlande oder Dänemarks) den Interessen der deutschen Städte und Gemeinden abträglich sein könnte. Angesichts dieser Ausgangssituation erscheint es angezeigt, über „Informationsstrategien" hinauszugehen und die eigenen Standortbedingungen, infrastrukturellen Voraussetzungen, Organisationsformen und Handlungsmuster auf ihre Tauglichkeit im europäischen Kontext hin zu überprüfen. Warum kann das Erfordernis einer „Durchforstung" kommunaler Ansiedlungspolitiken auf potentielle Kollisionen mit der Beihilfekontrolle nicht dazu führen, dass an die Stelle eines ruinösen „Verdrängungswettbewerbs" ein der Beihilfekontrolle der Gemeinschaft nicht unterliegender - Ausbau der öffentlichen Infrastruktur etwa im Bereich der Verkehrs- und Kommunikationswege, der beruflichen Bildung und Qualifikation und der Forschungs- wie Entwicklungseinrichtungen tritt, um zusätzliche Spielräume für eine Förderung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit zu eröffnen? Bietet der „Zwang" zur Einstellung von Bewerbern aus anderen europäischen Ländern in bestimmten Bereichen der kommunalen Verwaltung nicht die Möglichkeit, bei künftig härter werdendem Wettbewerb um „knappe" Fach- und Führungskräfte eine weiterhin hohen qualitativen Anforderungen genügende Personalrekrutierung zu gewährleisten? Birgt ein „Wettbewerb der Normen" angesichts einer gegenseitigen Anerkennung im europäischen Rahmen neben der Gefahr einer Nivellierung bundesdeutscher Standards nicht auch Chancen für eine in vielen Bereichen angezeigte Rechts- und Verwaltungsvereinfachung? Darüber hinaus ist an eine aktive Mitwirkung der Städte und Gemeinden am Transfer ihrer eigenen Erfahrungen und Grundlagen zu denken. Hier geht es durchaus auch um einen möglichen „Export" organisatorisch-institutioneller, instrumenteller, politischer und rechtlicher Regelungen auf lokaler Ebene. Vor allem für Städte und Regionen, die im europäischen Vergleich ähnliche Problemlagen und „Umbauanforderungen" zu gewärtigen haben wie etwa alte Industrieregionen und Grenzgebiete - , stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die unzweifelhaft wachsende Standortkonkurrenz nicht durch Standortinteraktion, ja sogar -kooperation zumindest in Teilen aufgefangen werden kann. Ein gewisses „Marketing" der unbezweifelbaren Vorteile des deutschen Systems der kommunalen Selbstverwaltung käme hinzu - nicht im Sinne einer paternalistischen Haltung Anderen gegenüber, sondern mit Blick auf künftig bedeutsamer werdende Austauschprozesse, Teilmärkte und Netzwerke. Fasst man diese Überlegungen zusammen, besteht Anlass zu der Hoffnung, dass der aufgezeigte Europäisierungsprozess nicht - wie von manchen noch immer befürchtet - zu 96

3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip einem Bedeutungsverlust der kommunalen Ebene in der Bundesrepublik führen wird, sondern sich im Gegenteil als notwendiger Katalysator einer Modernisierung ihrer politischen und administrativen Strukturen erweist. Dabei geht es auch um die Schärfung und bessere Nutzung der eigenen „Begabungen", der gegebenen Ressourcen und der komparativen Vorteile im europäischen Vergleich. Sie wiederum wären einzubringen in regionale Entwicklungskonzepte, die in zunehmendem Maße von grenzüberschreitender Bedeutung sein werden. Zwar ist nicht auszuschließen, dass zunächst noch von einer Verstärkung regionaler Disparitäten auszugehen ist, doch bleibt langfristig zu hoffen, dass Überlastungen und Sättigungsprozesse in den heutigen Verdichtungsräumen - verbunden mit einer wachsenden Mobilität und Standortunabhängigkeit - eine allmähliche Dekonzentration und Dezentralisierung der Siedlungsentwicklung auch im europäischen Maßstab einleiten werden. Dabei gilt es für die Städte und Gemeinden, Entwicklungs- und Ausgleichspolitiken aktiv einzufordern und sie mitzugestalten, statt sie passiv zu erdulden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Europäischen „Charta der Lokalen Selbstverwaltung", der durch Art. 1-5 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs des EU-Konvents bald auch „Verfassungsrang" zukommen könnte.

3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip 3.1. Föderalstaatliche Aufgabenteilung und Finanzverfassung Die Struktur- und Organisationsprinzipien föderalstaatlicher Systeme verlangen in der Regel eine Aufgabenteilung zwischen den einzelnen gebietskörperschaftlichen Ebenen. Wie es aber trotz des hilfreichen Begriffs „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" keine klare Bestimmung der Gemeindeaufgaben mehr gibt, lassen sich auch die Aufgaben der Länder kaum eindeutig von denen des Bundes abgrenzen. Bemüht man sich gleichwohl darum, steht die Kulturhoheit der Länder, in zwei bedeutsamen Streitfragen vom Bundesverfassungsgericht nachdrücklich bestätigt (vgl. M. Abelein, 1970; F. GieselA. F. v. d. Heydt e, 1957 ff., BVerfGE 12/259 ff.), zunächst im Vordergrund des Interesses. In diesen Bereich fällt u. a. das Recht, das Schulwesen gesetzlich zu ordnen, die Aufsicht über die Schulen auszuüben und Richtlinien für Erziehung, Unterricht, Abschlüsse und Prüfungen zu erlassen; die Zuständigkeit für das Personal und für dessen Ausbildung tritt hinzu. Zur Kulturhoheit zählen weiter der Bau und die Unterhaltung von Hochschulen, die Förderung von Wissenschaft und Kunst, die Gesetzgebung gegenüber Presse, Funk und Fernsehen. Ein Großteil dieser Zuständigkeiten wird nicht mehr von den Ländern allein wahrgenommen. Aus der dem Bund zustehenden Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Art. 74 Nr. 13 GG) erwuchs - durch Grundgesetzänderung 1969 - dem Bund vielmehr eine Rahmenkompetenz für das Hochschulwesen (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 a GG), ein später weitgehend aufgegebenes Mitwirkungsrecht bei der Bildungsplanung (Art. 91b GG) und - im Rahmen der sog. Gemeinschaftsaufgaben - eine Mitzuständigkeit für den Hochschulbau und seine Finanzierung (Art. 91a Abs. 1 Nr. 1 GG). Zwar wurde 2003 im Zuge einer erneuten Debatte zur Reform des Föderalismus seitens des Bundes der Vorschlag gemacht, etwa im Bereich des Hochschulbaus die Aufgaben von Bund und Ländern zu trennen und den Ländern wieder die alleinige Kompetenz zurückzugeben, doch erfuhr die „Kulturhoheit" der Länder inzwischen auch in anderen Bereichen Eingriffe seitens des Bundes. So schuf die Regierung Schröder vor dem Hintergrund der europäischen Integration 1998 das Amt eines Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien („Kulturstaatsminister"), um nicht zuletzt

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung eine gebündelte und dadurch wirksamere Vertretung kulturpolitischer Interessen der Bundesrepublik nach außen zu gewährleisten. Zudem bot sich der rot-grünen Bundesregierung nach Bekanntwerden der Ergebnisse der „PISA-Studie" im Dezember 2001 (bzw. Juni 2002) die Gelegenheit zum Eingriff in die bis dahin allein von den Ländern geregelte Schulpolitik. Die Ergebnisse der Studie - ein schlechtes Abschneiden deutscher Schüler im internationalen Leistungsvergleich, verbunden mit der Feststellung erheblicher Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern - veranlassten Bundeskanzler Schröder, in einer Regierungserklärung im Juni 2002 unter dem Stichwort „nationale Bildungsoffensive" eine Verantwortung des Bundes im Bereich der schulischen Bildungsplanung einzufordern (C. HenkeslS. Kneip, 2003, S. 283 ff). Auch wenn der „PISA-Schock" letztlich nicht zur Einführung nationaler Bildungsstandards und einer Übertragung bildungspolitischer Verantwortung im Schulwesen auf den Bund geführt hat, ergaben sich Eingriffe in diesen Schlüsselbereich der Länderkompetenz, so durch die Verabschiedung eines Vier-Milliarden-Investitionsprogramms zum Aufbau von Ganztagsschulen, dem die Länder im Mai 2003 zustimmten. Solche Beispiele machen eine Entwicklung deutlich, die von der anfanglichen Betonung der Kulturhoheit über eine verstärkte Zusammenarbeit in gemeinsamen Gremien, wie der Kultusministerkonferenz (KMK), dem Wissenschaftsrat und dem Bildungsrat, bis hin zu einem zunehmenden kultur- und bildungspolitischen Engagement des Bundes reicht, das seinen Ausdruck etwa in der Errichtung einer gemeinsamen Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) 1970 oder der Gründung des BLK-Forums „Bildung" 1999 fand. Im Gegensatz zum Kulturbereich unterliegt die umfassende Verwaltungszuständigkeit der Länder weniger starken Veränderungen, obwohl sich auch hier keine ungebrochene Kontinuität findet. Zu verweisen ist etwa auf die Eingriffe des Bundes in das in Teilen seitens der Länder zu regelnde Beamtenrecht (Bundesministerium des Innern, 2002) oder auf die freiwillig erfolgte Angleichung der Kreis- und Gemeindeordnungen im Verlauf der zweiten Hälfte der 1990er Jahre (H.-H. v. Arnim, 2002, S. 585 ff). Zum Beamten- und Kommunalrecht treten mit Blick auf die Verwaltungskompetenz der Länder große Teile der Gesetzgebung zum Wasserrecht, dem Forst- und Wegerecht, zu Teilen des Baurechts sowie das gesamte Polizeirecht. Daraus ergibt sich eine doppelte Zuständigkeit: die für die eigenen Angelegenheiten und die für die Ausführung von Bundesgesetzen. Auch im letzteren Fall sind die Behördenorganisation und vielfach die Gestaltung des Verfahrens Sache der Länder. Zum bildungspolitischen Schwerpunkt treten somit klassische Bereiche der Innenverwaltung, ergänzt durch Kompetenzen im Bereich der Landesplanung und des Umweltschutzes sowie durch zahlreiche Zuständigkeiten, die - etwa bei der Wirtschaftsförderung - Bundesaufgaben überlagern (U. Wachendorfer-Schmidt, 2003, S. 277ff). Die Aufgaben des Bundes lassen sich hingegen genauer benennen, weil wie fast alle der föderalstaatlichen Verfassungen auch das Grundgesetz von der Zuständigkeitsvermutung zugunsten der (den Bund bildenden) Länder ausgeht („Residualkompetenz") und deshalb die Kompetenzen des Bundes präzise umschreibt. Die Besonderheit des Grundgesetzes besteht dabei darin, dass es zwischen der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes und dessen Recht zur Rahmengesetzgebung in bestimmten Fällen unterscheidet (Art. 71-75 GG). Diesen Gesetzgebungsbereichen stehen die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und b G G zur Seite. Hier kann der Bund „bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder" mitwirken. Das führt zu einer doppelten Vermischung von Bundes- und Landeszuständigkeiten, weil zum einen fast bei allen Bundesaufgaben die Länder am Vollzug beteiligt sind ( Verwaltungsföderalismus) und zum anderen der Bund an Landesaufgaben in einer Weise mitwirkt, die zu einer gesonderten Form der Willensbildung (Politikverflechtung) führt. In den drei vorgenannten Bereichen kann der Bund dagegen seine Zustän98

3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip digkeit nur aktualisieren, indem er den Weg der Gesetzgebung einschlägt. Der deutsche Föderalismus gründet daher nicht auf einer realen Aufgabenteilung, sondern auf der Aufteilung von Gesetzgebungskompetenzen·, er ist gesetzgebungsträchtig. Dies wird heute beklagt, ist aber auch aus der deutschen Geschichte heraus zu verstehen (hierzu zuletzt: G. Lehmbruch, 2002). Art. 73 G G nennt elf Bereiche der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes: die Außenpolitik, die Verteidigung und den Zivilschutz, das Staatsangehörigkeits-, Pass- und Einwanderungswesen, das Währungs- und Münzwesen, die Einheit des Zoll- und Handelsgebiets mit allen die Bundesgrenzen berührenden Fragen, den Verkehr von Eisenbahnen und das Schienennetz, den Luftverkehr, das Postwesen und die Telekommunikation, die Rechtsverhältnisse des im Bundesdienst stehenden Personals, den gewerblichen Rechtsschutz, das Urheber- und das Verlagsrecht, zentrale Polizeiaufgaben und die Statistik für Bundeszwecke. In diesen Bereichen verfügen die Länder gemäß Art. 71 G G über eine Gesetzgebungsbefugnis nur aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung in einem Bundesgesetz. Im Fall der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes behalten dagegen die Länder die Gesetzgebungsbefugnis, bis der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch macht. Das kann er gemäß Art. 72 Abs. 2 G G unter drei verschiedenen Voraussetzungen: Entweder lässt sich etwas durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam regeln, oder aber eine landesrechtliche Regelung beeinträchtigt die Interessen anderer Länder bzw. der Gesamtheit. Die dritte Voraussetzung, nach der bis zur Änderung des Grundgesetzes 1994 ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bestand, wenn die „Wahrung der Rechtsoder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert", bildete dagegen nach verbreiteter Meinung das trojanische Pferd des Zentralismus im föderalistischen System der Bundesrepublik. Tatsächlich sind fast alle Möglichkeiten der konkurrierenden Gesetzgebung, wie sie Art. 74 G G in - nach mehreren Verfassungsänderungen - heute 26 Ziffern aufzählt, inzwischen vom Bund aktualisiert, wobei sich in der Regel die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" als jener Weg „bewährte", auf dem man unter Umgehung einer klaren Bedarfsprüfung die Kompetenzverschiebung hin zum Bund vornehmen konnte. Dass die im Zuge der Grundgesetzänderungen von 1994 gewählte Formulierung einer „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" diesen Trend stoppt oder gar umkehren kann, ist bislang nicht erkennbar (U. Münch!K. Meerwaldt, 2002). Im Übrigen gehören zu den seit längerem im Blickfeld der Reformdiskussion stehenden Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung das bürgerliche und das Strafrecht, der Strafvollzug und die Gerichtsverfassung, das Personenstandswesen, das Vereins- und Versammlungsrecht, das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer, die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, die Wiedergutmachung und die Fürsorge, das Wirtschaftsrecht, das Recht der Kernenergie, das Arbeitsrecht und die Sozialversicherung, das Kartellrecht, die Forschungsförderung, die Landwirtschaftsförderung, das Boden-, das Gesundheits- und das Lebensmittelrecht, das Straßenverkehrsrecht und die Abfallbeseitigung, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung. Dieser Katalog, seit 1949 mehrfach erweitert, weist den Hauptteil der „großen" Politikbereiche - neben der internationalen vor allem die Rechts-, Wirtschafts-, Agrar-, Verkehrs- und Sozialpolitik - dem Bund zu. Das bedeutet umgekehrt, dass den Ländern, abgesehen von ihren umfangreichen Mitwirkungsrechten (in der Bundespolitik) und ihrer mit der Bundeskompetenz gleichmäßig angewachsenen Verwaltungsmacht, nur wenige große Gestaltungsbereiche geblieben sind (vor allem eben Teile des Bildungswesens und des Verwaltungsorganisationsrechts). Diese Feststellung gilt um so mehr, als man mit dem 1969

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung eingeführten Art. 74a GG, der die „Besoldung und Versorgung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes" in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung verweist, auch im engeren Organisationsbereich auf die Möglichkeit landesindividueller Gestaltung verzichtet hat. Das offenbart ein deutliches Bemühen, die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" stärker zu betonen als die Möglichkeit, von Land zu Land Unterschiede zu bewahren. Neben der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung ist zuletzt die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 G G zu nennen, die dem Bund unter den Voraussetzungen des Art. 72 G G hinsichtlich der allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, der allgemeinen Rechtsverhältnisse von Presse und Film, des Jagdwesens, des Naturschutzes, der Landschaftspflege, der Bodenverteilung, der Raumordnung, des Wasserhaushaltes und des Meldewie Ausweiswesens zusteht. Während die Regelungen der Art. 70ff. im Grundgesetz dem Prinzip der Aufgabenteilung folgten, also auf der Annahme beruhen, dass im Bundesstaat die staatlichen Aufgaben entweder vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, hat man in der Bundesrepublik etwa mit Blick auf Fragen der Raumordnung (vgl. W. Väth, 1980) schon sehr früh (Förderung des Zonenrandgebietes) auch eine Aufgabenvermischung für notwendig und nützlich gehalten und sie mit der durch die Große Koalition 1969 herbeigeführten Verfassungsänderung weitgehend institutionalisiert. Die auf die Theorie des kooperativen Föderalismus (vgl. Kommission für die Finanzreform, 1966; G. Kisker, 1971; R. Dolzer; 1999, S. 7ff.; M. G. Schmidt, 2001; G. Lehmbruch, 2002; W. Renzsch, 20022, S. 356) zurückgehenden Gemeinschaftsaufgaben sind nach Art. 91a G G zwar auf den Aus- und Neubau von Hochschulen, die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und die Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes beschränkt, ergänzt durch die Bestimmung des Art. 91 b GG, nach der Bund und Länder bei der Bildungsplanung und der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung zusammenwirken können. Diese Beschränkung ist scheinbar noch verstärkt, weil es einleitend heißt, der Bund wirke „bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder" mit, „wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist", was durchaus restriktiv ausgelegt werden kann. Tatsächlich aber hat sich die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" in Verbindung mit dem Bundesraumordnungsgesetz als der Motor einer Entwicklung erwiesen, in der es zu einer noch engeren Verflechtung von Bund und Ländern gekommen ist, als dies bereits die Mitfinanzierung vieler Landes- und Gemeindevorhaben durch den Bund erbrachte (vgl. F. W. Scharpf u.a., 1976; J. J. Hesse, 1978; U. WachendorferSchmidt, 2003). Die Gemeinschaftsaufgaben lassen sich - hier setzt die verfassungspolitische Kritik an, die seit etwa 1978 ständig lauter geworden ist und zu dem politischen Postulat einer Rückkehr zum Prinzip der Aufgabentrennung führte - verfassungspolitisch sowohl als Versuch interpretieren, ein hohes Maß an „Einheitlichkeit (.Gleichwertigkeit') der Lebensverhältnisse" mit der Möglichkeit raumbezogen anpassungsfähiger Politik zu verbinden, als auch die Aufhebung des in Bund und Ländern parlamentarisch bestimmten Föderalismus zu betreiben. Eine solche Kritik muss einbeziehen, dass sich im Verhältnis von Staat und Gemeinden eine ähnliche Entwicklung vollzieht, weil immer mehr Gemeindeaufgaben über die Mitfinanzierung des Staates in staatliche Planungen einbezogen und damit stärker als früher zentralen Richtlinien unterworfen werden. Im Verhältnis zwischen Bund und Ländern wie in dem zwischen Staat und Gemeinden wird so ein Nebeneinander von eher zentralisierter Steuerung und Dezentralisierung des Vollzugs sichtbar, das die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern als in weiten Teilen fiktiv erscheinen lässt. Die insbesondere von den Gemeinden immer wieder erhobene Forderung nach Verwirklichung des Prinzips der Konnexität, also der Koppelung von Aufgabenübertragung und -finanzierung,

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3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip ist ein weiterer Beleg für jene Verflechtungsprozesse, die nicht nur das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern auch zwischen Ländern und Gemeinden prägen. Allerdings ist einzuräumen, dass seit Anfang der 1980er Jahre - wenn auch mit mäßigem Erfolg - Anstrengungen zu einer Entflechtung, ja „Entzerrung" der gebietskörperschaftlichen Ebenen unternommen wurden. Scheiterten die Bemühungen der sozialliberalen Koalition noch an den finanziellen Ausgleichsleistungen für die Länder, wurden nach dem Regierungswechsel 1982 eine Reihe von Veränderungen vorgenommen, die in erster Linie auf die Aufgaben- und Kompetenzentflechtung bei den Mischfinanzierungen zielten. Davon betroffen waren die Bereiche der Graduiertenförderung, des Krankenhausbaus, der Bildungsplanung, der Städtebauförderung und des sozialen Wohnungsbaus. Die Tatsache, dass die von der Regierung Kohl initiierten Subsidiaritätspolitiken zugunsten der Länder durch gleichzeitige Privatisierungsbemühungen und einen damit einhergehenden „Aufgabenverlust" der Länder konterkariert wurden (H. Klatt, 1986), wirkten sich jedoch eher im Sinne einer weiteren Unitarisierung des deutschen Föderalismus aus. Sie wurde zusätzlich begünstigt durch die sich mit dem deutschen Einigungsprozess verbindenden strukturpolitischen Erfordernisse und die organisatorische wie materielle „Verarbeitung" des Europäisierungsdrucks (J. J. Hesse, 2000, S. 23ÍT.; U. Wachendorfer-Schmidt, 2003, S. 187ff.). Diese kritischen Anmerkungen gewinnen insbesondere mit Blick auf die föderalstaatliche Finanzverfassung an Substanz (vgl. W. Renzsch, 2002 2 ). In den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates war die Erinnerung an die finanzielle Unselbständigkeit der Länder in der Weimarer Republik noch sehr lebendig. Man bemühte sich deshalb um eine Finanzverfassung, die eine solche Entwicklung verhindern sollte. Dies führte zu der Aufnahme eines eigenen Abschnitts in das Grundgesetz, innerhalb dessen die Art. 105-109 die Verteilung der Finanzhoheit auf Bund und Länder regeln, während die Art. 110-115 Grundsätze für das Haushaltsrecht des Bundes formulieren. Die gesamte Steuergesetzgebung fällt in die Bundeszuständigkeit. Für Zölle und Finanzmonopole verfügt der Bund über die ausschließliche Zuständigkeit, für alle anderen Steuern über die konkurrierende - dies unter Voraussetzungen, die von Anfang an gegeben waren. Sofern Gesetze Steuern betreffen, die ganz oder teilweise den Ländern oder Gemeinden zufließen, bedürfen sie der Zustimmung des Bundesrates. Das Aufkommen eines Teiles der Steuern (Zölle, Verbrauchssteuern, soweit sie nicht Bund und Ländern gemeinsam zustehen, Straßengüterverkehrssteuer, Kapitalverkehrs-, Versicherurigs- und Wechselsteuern, einmalige Vermögensabgaben, die Ergänzungsabgabe zur Einkommens- und zur Körperschaftssteuer sowie Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften, Art. 106 Abs. 1 GG) steht dem Bund zu, das Aufkommen eines anderen Teiles (Vermögensteuer, Erbschaftssteuer, Kraftfahrzeugsteuer, Verkehrssteuern, soweit sie nicht dem Bund oder Bund und Ländern gemeinsam zustehen, die Biersteuer und die Abgaben von Spielbanken, Art. 106 Abs. 2 GG) den Ländern. Damit gilt für das Gros der Steuern ein Trennsystem, für die wichtigsten Steuerarten, die Umsatz-, Einkommen- und Körperschaftssteuern, hingegen ein Verbundsystem („Gemeinschaftssteuern"). Hierfür sieht Art. 106 Abs. 3 G G ein vorläufiges Beteiligungsverhältnis vor, das jedoch durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates geändert werden kann (Art. 106 Abs. 4 GG). In der Verfassung selbst finden sich zur Beurteilung der jeweiligen Notwendigkeit zwei Grundsätze: Bund und Länder sollen gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben; beide haben „gleichmäßigen Anspruch" auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben. Beider Bedürfnisse sind so aufeinander abzustimmen, dass ein Ausgleich erzielt wird, die Steuerpflichtigen nicht überlastet werden und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gewahrt bleibt (Art. 106 Abs. 3 GG). Außerdem spricht Art. 106 G G in Abs. 5 den Gemeinden die Realsteuern sowie, seit 1998, einen Anteil

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung an der Umsatzsteuer (Abs. 5 a) zu. Art. 107 G G regelt dann den Finanzausgleich zwischen den Ländern; Art. 108 G G formuliert Grundsätze der Finanzverwaltung, nach denen neben einer Bundesfinanzverwaltung mit begrenztem Aufgabenbereich in der Hauptsache die Landesfinanzbehörden zuständig sind, ihnen gegenüber aber bestimmte Mitwirkungsrechte des Bundes bestehen. Art. 109 G G schließlich legt die voneinander unabhängige Haushaltswirtschaft des Bundes und der Länder fest. 1967 wurde dieser Artikel in Zusammenhang mit der Schaffung eines differenzierteren konjunkturpolitischen Instrumentariums erweitert. Der Bund erhielt nunmehr das Recht, durch Gesetz - mit Zustimmung des Bundesrates Grundsätze für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufzustellen und Bestimmungen für die Kreditaufnahme sowie für die Bildung von Konjunkturausgleichsrücklagen zu erlassen. Obgleich man das Grundgesetz in diesem Bereich zwischen 1953 und 1963 fünfmal änderte, verband sich damit noch keine Finanzreform. Über sie wurde indessen von 1949 an diskutiert, wobei man weitgehend die allgemeine Entwicklung reflektierte. In der Wiederaufbauphase kamen die Zuwachsraten auch dem öffentlichen Haushalt zugute, die Problematik gewann keine wirkliche Aktualität. Seit 1960 änderte sich das. Die Benachteiligung der Gemeinden, die zu deren hoher Verschuldung führte und vor allem darauf beruhte, dass sie einen großen Teil der öffentlichen Infrastruktur bereitstellten, ließ sich nicht mehr übersehen (Neuverschuldung bis 1959 Bund: 662 Mio.; Länder: 4.381 Mio.; Gemeinden: 7.798 Mio. DM). Außerdem zeichnete sich immer deutlicher eine Überforderung der Länder ab. Hinzu trat die unterschiedliche Konjunkturabhängigkeit: Vom wachsenden Einkommen profitierten die Länder stärker als der Bund, weil sich bei ihnen die progressive Steigerung der Einkommensteuer voll auswirkte, während Umsatzsteuer und Zölle nur einen linear steigenden Ertrag erbrachten. Deshalb kamen Bundeskanzler und Ministerpräsidenten 1964 überein, eine „Kommission für die Finanzreform" (nach ihrem Vorsitzenden Troeger-Kommission) einzuberufen. Diese Kommission legte 1965 ihr Gutachten vor, das die Große Koalition gemäß Regierungserklärung vom 13.12.1966 zur Grundlage für die Finanzreform machen wollte und das in Zusammenhang mit der Stabilitätsgesetzgebung und der Erweiterung der Bundeszuständigkeit zu sehen war. Die Finanzreform von 1969 erbrachte neben der neuen Aufgabenregelung nach Art. 91a und b G G für den Bund das Recht, unter bestimmten Voraussetzungen Investitionen der Länder und Gemeinden mitzufinanzieren (eben in Art. 104 a Abs. 4 GG). Darüber hinaus wurde die Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern zwar dem Prinzip nach wieder unter den Grundsatz einer klaren Trennung gestellt (Art. 104 a Abs. 1 GG), allerdings ergänzt um eine neue Mischfinanzierungsform. Schließlich erweiterte man den Steuerverbund, verkleinerte also den Teil der Steuern, die unter das Trennsystem fallen; die Lohn-, Einkommen-, Körperschafts- und Umsatzsteuern standen von nun an Bund und Ländern gemeinsam zu. Dabei gelang es allerdings nicht, überall einen festen Beteiligungssatz vorzusehen. Es wurde beschlossen, Lohn-, Einkommen- und Körperschaftssteuern nach Abzug eines zur Verbesserung der kommunalen Finanzsituation vereinbarten Gemeindeanteils zwischen Bund und Ländern zu teilen. Die Aufteilung der Umsatzsteuer erfolgt dagegen seit 1969 durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Damit verstetigte man die Auseinandersetzung, obwohl eine gleichmäßigere Entwicklung für Bund und Länder erzielt und zudem eine gemeinsame mehrjährige Finanzplanung vereinbart wurde (Art. 106 Abs. 4 GG). Darüber hinaus beschloss man im Sinne eines Finanzausgleichs zwischen den Ländern, bis zu einem Viertel des Länderanteils an der Umsatzsteuer vorweg den finanzschwächeren Ländern zuzuweisen und im Übrigen diesen Länderanteil nicht nach örtlichem Aufkommen, sondern nach der jeweiligen Einwohnerzahl auf die Länder zu verteilen. Der Anteil an der

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3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip Einkommen- und Körperschaftssteuer verblieb dagegen dort, wo er aufkommt (Art. 107 GG). Weitere Regelungen wurden zum Finanzausgleich zwischen den Ländern, zum Ausbau der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes und zum Ausbau der Finanzverwaltungszuständigkeit der Länder getroffen (/. v. Münch!P. Kunig, 20014, Art. 106, Rdn. 11). Die Reform bedeutete zum damaligen Zeitpunkt sicher einen Fortschritt, weil sie offensichtliche Mängel der bis dahin geltenden Finanzverfassung beseitigte. Die schon zu diesem Zeitpunkt erkennbaren Probleme des deutschen Föderalismus löste sie allerdings nicht. Sie bestehen bis heute fort und haben sich vor dem Hintergrund der deutschen Vereinigung wie der europäischen Integration eher noch verstärkt (W. Renzsch, 2000). Nach wie vor wählt der Bürger nur einen Steuergesetzgeber. Man mutet ihm also zu, bei der Bundestagswahl daran zu denken, dass er gleichzeitig den Landes- und Gemeindesteuergesetzgeber bestimmt. Damit fehlt es weiterhin an dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der politischen Verantwortung für die öffentlichen Aufgaben und für deren Finanzierung, es bleibt bei einem wenig transparenten und kontrollbehindernden Mischsystem. Mit ihm sind zudem hohe bürokratische Kosten verbunden. Niemand kann auch ausschließen, dass Mischfinanzierungen einem „großzügigen Ausgabeverhalten Vorschub (leisten). Dadurch, dass andere Ebenen sich an den Kosten beteiligen, werden nur allzu leicht Ausgaben vorgenommen, die bei alleiniger Finanzierung nicht oder zumindest in sparsamerem Rahmen durchgeführt worden wären" (R. Boreil, 1981, S. 5). Für die Plausibilität dieser schon 1981 geäußerten Vermutung spricht ein vergleichender Blick über die Grenzen. So wurde die von der Anlage her der deutschen nicht unähnliche österreichische Finanzverfassung 1998 dahingehend geändert, dass vor der Verabschiedung ausgabenwirksamer Gesetze durch Bund und Länder ein „Konsultationsmechanismus" ausgelöst wird, aufgrund dessen diejenige Gebietskörperschaft die Aufnahme von Verhandlungen in den Konsultationsgremien des Bundes beantragen kann, der durch die geplante gesetzgeberische Maßnahme zusätzliche Ausgaben entstehen könnten. Kommt es innerhalb einer bestimmten Frist zu keiner Einigung, hat die belastete Gebietskörperschaft einen einklagbaren Anspruch auf Ersatz der zusätzlichen Kosten. Da der Bund oder das Land die durch die betroffenen Gesetze und Verordnungen verursachten zusätzlichen Ausgaben der Gemeinden seither ersetzten, führt die Neuregelung nach ihrem Inkrafttreten 1999 in dem gleichfalls föderal organisierten Nachbarland zu einer bewussteren Politik bei der Verabschiedung ausgabenwirksamer Gesetze (Österreichisches BGBl. U6II1998 und 1135/1999). Der deutsche Föderalismus begünstigt dagegen nach wie vor die Verwaltung; er stellt sich unter finanziellem Aspekt gleichsam als „ Verschiebebahnhof von Verantwortung dar. 1990, im Jahr der Deutschen Einheit, beliefen sich die Bundesausgaben zur Mitfinanzierung der Länderaufgaben i.w.S. auf knapp 39 Mrd. DM. Darin enthalten waren Ausgaben für Geldleistungsgesetze nach Art. 104 a Abs. 3 G G (Ausbildungsförderung, Wohngeld, Kindergeld für öffentliche Bedienstete, Sparprämie), für Investitionshilfegesetze nach Art. 104a Abs. 4 G G (kommunaler Straßenbau/öffentlicher Personennahverkehr, sozialer Wohnungsbau, Krankenhausfinanzierung) sowie für die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und 91b GG. Ebenfalls 1990 flössen den Ländern etwa drei Mrd. D M an Bundesergänzungszuweisungen (Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG) zu. Während die Summe der Mitfinanzierungsausgaben aufgrund der sog. Mischfinanzierungstatbestände bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts leicht rückläufig war (2002 zahlte der Bund etwa 36 Mrd. D M zur Mitfinanzierung an die Länder; BMF, 2002, S. 6), wuchs der Betrag der Bundesergänzungszuweisungen mit dem Einbezug der ostdeutschen Länder in den Länderfinanzausgleich 1995 sprunghaft auf 25,6 Mrd. D M an und entwickelt sich seither konstant (2001 etwa 25 Mrd. DM) (Statistisches Bundesamt, 2002, S. 492 f.)

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Insbesondere die Ausgaben des Bundes für strukturpolitische Maßnahmen der Länder stiegen nach der Vereinigung nochmals deutlich (ebd., S. 491); der Schwerpunkt liegt vor allem bei der Finanzierung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung der neuen Länder. In diesem Zusammenhang sind Leistungen im Rahmen des Investitionsförderungsgesetzes zu nennen, auf dessen Grundlage zwischen 1995 und 2001 jährlich Mittel in Höhe von ca. sieben Mrd. D M in die ostdeutschen Länder flössen {BMF, 2003, S. 44). Die Leistungen an die alten Länder wurden demgegenüber gekürzt {BMF, 2002, S. 45). Eine grundsätzliche wie aktuelle Übersicht über die Mischfinanzierung (vgl. ebd., S. 6) kann bestenfalls Finanzierungstatbestände aufzeigen; der Begriff der Mischfinanzierung gibt hingegen keinen unmittelbaren Aufschluss über Finanzierungsanteile und -arten. Auf kommunaler Ebene wird das „Dickicht" der unterschiedlichen Finanzierungsformen besonders deutlich, weil hier ein hoher Anteil des Gemeindehaushalts durch Bundes- und Landesvorschriften festgelegt ist und darüber hinaus ein unüberschaubares Hin und Her von Zuwendungen und Umlagen erfolgt. Der Staat gewährt Steueranteile, Schlüsselzuweisungen, allgemeine Zuschüsse und Zuschüsse für besondere Aufgaben und Projekte. Darüber hinaus können ERP-Mittel des Bundes sowie, unter bestimmten Voraussetzungen, EU-Fördermittel aus den Strukturfonds hinzutreten. Die Gemeinden wiederum führen einerseits einen mit der Steuerreform 2000 auf 30 Prozent erhöhten Teil ihrer Gewerbesteuereinnahmen an den Staat ab und finanzieren andererseits den Landkreis mit Hilfe einer - in der Höhe von diesem festgesetzten - Kreisumlage, um umgekehrt Zuschüsse aus dem Kreishaushalt zu erhalten (G. Schwarting, 2002 2 ). Auch ein Gemeindekämmerer muss sich unter diesen Umständen zu einem Zuschussspezialisten entwickeln. Ein Landesfmanzminister nimmt nach wie vor eine Mittlerrolle nach beiden Seiten hin ein, gegenüber dem Bund wie den Gemeinden. Die Mischfinanzierung erstreckt sich aber auch auf das Verhältnis der Länder untereinander. So zahlten 2001 die fünf „reichen" Länder der alten Bundesrepublik (Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bayern) etwa 15 Mrd. D M im Länderfinanzausgleich an die „armen" Länder, wobei knapp 14 Mrd. D M allein von Hessen, Baden-Württemberg und Bayern aufgebracht wurden. Neben den allgemein höheren Transferleistungen an die ostdeutschen Bundesländer erhielt unter den „westlichen" Empfangerländern Niedersachsen als Flächenland mit knapp zwei Mrd. D M den größten Anteil (Statistisches Bundesamt, 2002, S. 492f.). Hinzu kommen, neben den Bundesergänzungszuweisungen, Umverteilungen zwischen reichen und armen Ländern im Rahmen der Umsatzsteuerverteilung und der Zerlegung der Lohn- und Körperschaftssteuer. Dieses System des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, das seit 1969 zu einer weitgehenden Harmonisierung der Finanzkraftunterschiede zwischen den Bundesländern geführt hat, hielt den offensichtlichen Veränderungen der finanzwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht stand. So verschlechterte sich die Finanzkraft von Nordrhein-Westfalen, Bremen und des Saarlandes bis Mitte der 1980er Jahre infolge von Kohle-, Stahl- und Werftenkrisen, erhöhte sich Niedersachsens Finanzkraft aufgrund der Abschöpfung der Windfallprofite bei der Erdöl- und Erdgasförderung (ohne dass diese Einnahmen zunächst hinreichend berücksichtigt wurden), verloren die Stadtstaaten Hamburg und Bremen aufgrund der Abwanderung in das Umland die Lohnsteuer von etwa 20 bis 25 Prozent der Arbeitsplätze in ihrer Region und verschoben sich generell die Lasten des Länderfinanzausgleichs derart, dass nicht mehr wie noch 1970 Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen und NordrheinWestfalen zu etwa je einem Viertel den Finanzausgleich gewährleisteten, sondern BadenWürttemberg etwa zwei Drittel und Hessen ein Drittel trugen. Diese ungleichgewichtige Entwicklung führte nach ersten Anträgen im Sommer 1983 (Nordrhein-Westfalen) zu einem

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3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip von sechs Bundesländern eingeleiteten Normenkontrollverfahren. Im Einzelnen ging es um den Einbezug der Ölförderabgaben in die Finanzkraftberechnung für den Länderfinanzausgleich, um die Berücksichtigung weiterer Ländersteuern (Grunderwerbsteuer, Feuerschutzsteuer etc.), um eine Korrektur der Verteilung der Bundesergänzungszuweisungen, um die Anerkennung von neuen bzw. die Erhöhung von anerkannten Sonderlasten (Kohle und Stahl, Hafenlasten), um eine Verbesserung bzw. die Gewährung einer Einwohnerveredelung, um eine Korrektur des Steuerzerlegungsgesetzes (Pendlerproblematik) sowie (seitens des größten Geberlandes Baden-Württemberg) um eine generelle Streichung von Sonderlasten und weiteren Sicherungen der Stadtstaaten. Dabei wurde offensichtlich, dass die Interessen der Bundesländer zum Teil sehr unterschiedlich waren und sich in Ansätzen konterkarierten. Am 24. Juni 1986 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der horizontale Finanzausgleich in seiner damaligen Form nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und deswegen zu korrigieren sei. Dem Bundesgesetzgeber wurden für die notwendige Neuregelung dabei zum Teil sehr enge Auflagen erteilt und das Inkrafttreten eines neuen Finanzausgleichsgesetzes spätestens zum 1. Januar 1988 verlangt, wobei Nachteile einzelner Länder aus einem Vollzug des nicht verfassungskonformen Gesetzes im Jahre 1987 auszugleichen waren. Für die weitere Entwicklung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dabei insofern von Bedeutung, als es in seiner Argumentation das „bündische Prinzip des Einstehens füreinander" und die daraus folgende Pflicht zur Hilfeleistung in der Solidargemeinschaft, aber auch die finanzpolitische Eigenverantwortung der Länder herausstellte. Weil die Finanzverfassung ein zentraler Pfeiler der föderalen Ordnung ist, verlangen die Regelungen für den Finanzausgleich mehr als ein „tragbares Ergebnis", sie fordern ein in sich verfassungskonformes Regelwerk. Das Finanzausgleichssystem dient einer sachgerechten Beteiligung des Gesamtstaates und der Gliedstaaten am Ertrag der Volkswirtschaft, wobei eine hinreichende Finanzausstattung Voraussetzung für die Entfaltung der Staatlichkeit von Bund und Ländern ist. Das Finanzverfassungsrecht ist daher kein „minderes Recht", das bis zur Grenze der offensichtlichen Willkür dem politischen Verhandeln offen ist. Der Finanzausgleich muss vielmehr nach objektiven Kriterien erfolgen und in seiner Begründung nachprüfbar sein. Grundsätzlich sind dabei alle Länder gleich zu behandeln. Angesichts des Umstandes, dass für die Verabschiedung des Finanzausgleichsgesetzes im Bundestag und Bundesrat im Unterschied zu anderen Bereichen der Bund-Länder-Koordinierung nur einfache Mehrheiten - keine qualifizierten oder gar einstimmigen - erforderlich sind, betonte das Bundesverfassungsgericht die materiell-rechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes für einen politischen Finanzausgleichskompromiss. Das Gericht sah die Gefahr, dass die „Bundesratsmehrheit (die nicht notwendigerweise die Mehrheit der Länder umfassen muss) sich auf Kosten der Minderheit rechtlich durchsetzen kann" und band über das Herausstellen der Verfassungsnormen die parlamentarischen Mehrheiten. Damit wurde nach Meinung von Beobachtern die politische Strategie der Kompromissfindung in der jeweiligen „Mehrheitsfraktion" des Bundesrates und der Durchsetzung ohne Rücksicht auf Interessen und Belange der Minderheit erheblich erschwert. Begünstigungen des einen oder anderen Landes um der Mehrheitsbildung willen sind mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Länder nicht zu vereinbaren (BVerfGE 72, 330). Das 1988 verabschiedete Finanzausgleichsgesetz brachte dennoch keine Lösung der Probleme, zumal es stark durch parteipolitische Kompromissbildung geprägt war: Der letztlich in Bundestag und Bundesrat angenommene Entwurf des Gesetzes wurde in Verhandlungen zwischen dem Bundesfinanzminister und den CDU-regierten Ländern kompromissfähig gemacht; „Gewinner" der Neuregelung waren dementsprechend die CDU-regierten Länder.

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Sowohl die Stadtstaaten als auch das Saarland und Schleswig-Holstein reichten deshalb erneut Normenkontrollanträge beim Bundesverfassungsgericht ein, die sich gegen zentrale Bestimmungen des neuen Finanzausgleichsgesetzes richteten (W. Renzsch, 1991). 1991 erhob auch Baden-Württemberg als einziges CDU-regiertes und finanzstarkes Land Klage vor dem Verfassungsgericht. Nach Vollzug der deutschen Einheit haben sich die Konflikte um die Finanzverfassung noch erheblich verschärft. Nicht nur liegen die neuen Länder hinsichtlich ihrer Finanzkraft nach wie vor weit unter dem Bundesdurchschnitt, es ist vielmehr - ausgelöst durch das ständige Anwachsen der im Länderfinanzausgleich erbrachten Transferleistungen zwischen armen und reichen Ländern sowie durch die Verschärfung der interregionalen Standortkonkurrenz innerhalb der Europäischen Union - auch zu einer Neuorientierung der finanzpolitischen Präferenzordnung gekommen: weg von der eher distributiv und hin zu einer stärker allokativ geprägten „Philosophie" der Ressourcenverwendung ( W. Renzsch, 2000, S. 39 f.). Hätte man die geltenden Finanzausgleichsregelungen sofort auf das vereinigte Bundesgebiet übertragen, wären bis auf Bremen alle westlichen Länder zu Ausgleichszahlungen verpflichtet gewesen, was - nach vorsichtigen Schätzungen - zu Einnahmeverlusten in Höhe von durchschnittlich knapp sieben Prozent des Haushaltsvolumens geführt hätte (R. Peffekoven, 1990, S. 496 ff.). U m diesen Effekt zu vermeiden, einigten sich Bund und Länder auf die Einrichtung eines „Fonds Deutsche Einheit", aus dem in den Jahren 1990 bis 1994 insgesamt 115 Mrd. D M zur Unterstützung der neuen Länder bereitgestellt wurden. 20 Mrd. dieser Mittel wurden aus dem Bundeshaushalt aufgebracht, die restlichen 95 Mrd. je zur Hälfte durch den Bund und die alten Länder aus Kreditmarktmitteln finanziert. 1995 wurden, wie aufgezeigt, die neuen Länder dann in den gesamtdeutschen Länderfinanzausgleich miteinbezogen. Die damit verbundene Gelegenheit zu einer grundlegenden Neuordnung der Finanzverfassung blieb allerdings ungenutzt. Die seither kontinuierlich gestiegene Belastung der „Zahlerländer" nahmen Baden-Württemberg, Bayern und Hessen schließlich 1998 zum Anlass, beim Bundesverfassungsgericht ein weiteres Normenkontrollverfahren gegen den Länderfinanzausgleich anzustrengen. In seinem Urteil vom 11. November 1999 entschied das Gericht, den Finanzausgleich zwischen den Ländern von Grund auf neu zu regeln (Materialband, III/5 b). Nach dem Urteil der Verfassungsrichter bestimmte das Finanzausgleichsgesetz die Maßstäbe, die das Grundgesetz für die Ausgestaltung der Finanzverfassung vorgibt, nicht eindeutig genug und sollte deshalb nur noch als Übergangsrecht bis zum 1. Januar 2005 anwendbar sein. Wurde der bundesstaatliche Finanzausgleich bisher in einem einzigen Gesetz geregelt, besteht die eigentliche Bedeutung des Urteils darin, dass es eine von dieser Praxis abweichende Vorgabe machte, verbunden mit dem Versuch, die dauerhafte Regelung grundsätzlicher Ausgleichsprinzipien von der kurzfristigen Festlegung konkreter Zuteilungsmaßnahmen zu trennen. Der Zweite Senat sprach sich dementsprechend für ein zweistufiges Verfahren aus, wobei der Gesetzgeber zunächst den Auftrag erhielt, die allgemeinen Prinzipien, welche die Verfassung enthält, in einem auf Dauer angelegten Gesetz zu präzisieren und dabei Zuteilungs- und Ausgleichsmaßstäbe zu bestimmen. Diese sollten allgemein, klar und verständlich sein und den Gesetzgeber für die Zukunft binden. Erst in einem zweiten Schritt könnten dann auf Grundlage der nunmehr präzise gefassten Maßstäbe die detaillierten Verteilungs- und Ausgleichsfolgen in einem neuen Finanzausgleichsgesetz konkretisiert werden. Der „langfristigen gesetzlichen Maßstabsbildung", so die Überlegung der Verfassungsrichter, folgte dann die „gegenwartsnahe Anwendung". Dem läge eine Zeitfolge zugrunde, „die eine rein interessenbestimmte Verständigung über Geldsummen ausschließt oder zumindest erschwert" {Materialband, III/5b).

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3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip Gemäß dem Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts verabschiedete der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates im Sommer 2001 das sog. Maßstäbegesetz, das bis Ende 2019 gültig ist und vier allgemeine Prinzipien des Finanzausgleichs nennt: die künftige Prüfung des finanziellen Mehrbedarfs einzelner Länder, mit dem die bisher extensiv vergebenen Bundesergänzungszuweisungen „zurückgestutzt" werden sollen; die Verpflichtung des Bundes und der Länder zu transparenter und vorhersehbarer Haushaltsführung; die Gewährleistung von Solidarität insbesondere mit den neuen Ländern; und schließlich die Sicherung eines höheren Eigenbehalts der Geberländer. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurde im Dezember 2001 ein neues Finanzausgleichsgesetz, das sog. Solidarpaktfortführungsgesetz, erlassen, das ab dem 1. Januar 2005 gilt. Gemäß den im Maßstäbegesetz formulierten Prinzipien sieht es unter anderem die Fortführung des Fonds Deutsche Einheit bis Ende 2019 vor. Zudem wird, auf der Grundlage eines „Prämienmodells", Ländern mit überproportionalen Steuerzuwächsen je Einwohner zugesichert, dass 12,5 Prozent ihres Überschusses vom Finanzausgleich ausgenommen bleiben (Eigenbehalt). Obwohl die Anreizwirkung dieses Modells letztlich nicht allzu hoch sein dürfte, wurde damit zum ersten Mal eine allokative, auf Anreiz bedachte „Zuteilungsphilosophie" in den Länderfinanzausgleich eingeführt ( J. J. Hessel U. HädelW. Renzsch, 2001). Ob die beschlossenen Neuregelungen insgesamt zu stabileren Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern führen werden, bleibt abzuwarten. Ungeachtet dessen wird die Finanzverfassung auch weiterhin im Zentrum föderalstaatlicher Auseinandersetzungen stehen und eine Belastungsprobe für das deutsche Regierungssystem darstellen.

3.2. Verwaltungsföderalismus und Politikverflechtung In seiner Grundstruktur beruht der deutsche Föderalismus auf einer Fehlinterpretation der amerikanischen Verfassung. Von 1815 an existierte Deutschland als Staatenbund (Deutscher Bund); erst im Zuge des Einheitsstrebens entstand 1866 und 1871 eine bundesstaatliche Ordnung. Sie folgte in wesentlichen Zügen der Reichsverfassung von 1849, die Entwurf geblieben war. Das Paulskirchen-Parlament orientierte sich, soweit es den künftigen Bundesstaat anging, am Modell der Verfassung der Vereinigten Staaten. Da man aber in Deutschland am Souveränitätsbegriff als Merkmal des Staates festhielt, sah man die nordamerikanischen Gliedstaaten nicht als Staaten, hielt sie vielmehr für bevorrechtigte Provinzen und verkannte das tatsächliche Nebeneinander von Union und Einzelstaaten, das sich u. a. in einer Trennung der Verwaltung, der Finanzen und des gesamten Organbestandes ausdrückte. Infolgedessen übernahm die Verfassung von 1848 wohl wesentliche Teile der nordamerikanischen bundesstaatlichen Ordnung, stellte aber abweichend vom Modell die Einzelstaaten unter das Reich, sprach diesem eine Oberaufsicht zu und ließ es sich der einzelstaatlichen Verwaltung bedienen. Das war politisch folgerichtig. Die deutschen Länder waren vorwiegend Verwaltungsstaaten; es wäre deshalb unklug gewesen, neben ihre umfangreiche Verwaltung noch eine eigene Reichsverwaltung zu setzen. Die amerikanische Lösung beruhte umgekehrt weitgehend darauf, dass es zum Zeitpunkt der Verfassungsberatung eine Verwaltung im kontinentaleuropäischen Sinne noch nicht gab; später ist es in den Vereinigten Staaten oft auch zu verwirrenden Verwaltungszuständen gekommen, die freilich nur zum Teil auf die besonderen Formen der dortigen föderativen Ordnung zurückzuführen sind (vgl. E. Fraenkel, 19763; A. Murswieck, 1999; F. Greß, 2001). Auch spielten 1848 die Unterschiede zwischen den deutschen Ländern eine bedeutende Rolle (vgl. T. Nipperdey, 1980, S. 125 ff.). Bismarck hat das mit der Reichsverfassung überspielt, indem er die Reichsgewalt mit der Regierung des größten Einzelstaates so weitgehend verband, dass dieser kein eigent-

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung licher Konkurrent des Reiches werden konnte. 1919 war diese Lösung dann nicht mehr möglich. Preußen stand mit 37 Millionen Einwohnern gleichzeitig im Reich (60 Millionen Einwohner) wie diesem gegenüber, was nur erträglich schien, solange die Parteienkoalitionen hier wie dort eine ähnliche Grundlage aufwiesen (zuletzt hierzu G. Lehmbruch, 2002). Den heutigen Föderalismus wird man - durchaus auch mit Blick auf die neu hinzugetretenen Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen - zunächst als historische Gegebenheit begreifen müssen. Die systematischen Rechtfertigungen, die auf eine weitere Gewaltenteilung, den Wettbewerb im staatlichen Bereich und auf das eher weltanschaulich begründete Subsidiaritätsprinzip abzielen, spielen zwar eine große Rolle, wirken aber nur sehr bedingt auf die institutionell abgesicherte politische Praxis ein (vgl. u . a . I. v. Münch!P. Kunig, 2001 4 ; H. KilperlR. Lhotta, 1996; H. Lauferl U. Münch, 1998; G. Lehmbruch, 2000 3 u. 2002; U. Wachendorfer-Schmidt, 2000, 2003; M. G. Schmidt, 2001). Die wichtigste Institution bildet dabei zweifelsfrei der Bundesrat (R. Dolzer, 1999; vgl. auch Kapitel IV., 4.). Entscheidende Wechselwirkungen bestehen zudem zwischen dem Parteiensystem und dem deutschen Föderalismus, solange das Erstere eher die Konkurrenzdemokratie begünstigt, während der Letztere mehr den Prinzipien der Konkordanzdemokratie entspricht. Im Folgenden steht deshalb zunächst auch die Frage im Vordergrund, wie und warum die ursprünglich beabsichtigte Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern begrenzt, überspielt oder durch eine zunehmende Aufgabenvermischung ersetzt wurde. Im Anschluss daran wird auf jene Fragen eingegangen, die sich mit den Konsequenzen des deutschen Einigungsprozesses und der europäischen Integration verbinden. Mit Blick auf die zunehmende Aufgabenvermischung sind drei miteinander verbundene Tendenzen zu unterscheiden. So ist der deutsche Föderalismus zunächst durch die Herausbildung der benannten dritten Ebene zwischen Bund und Ländern verändert worden (vgl. Materialband, III/1-3). Auf dieser Ebene werden Entscheidungen, f ü r die an sich ausschließlich die Länder zuständig wären, in Zusammenarbeit der Länderexekutiven und hier wiederum der Ministerialbürokratien so weitgehend vorbereitet, dass die Landesparlamente meist nur noch zustimmen können, es sei denn, sie setzten einen Verständigungsprozess außer Kraft, der zeit- und kostenaufwendig ist und oft nur unter dem Druck der öffentlichen Meinung zustande kommt. Auf dieser dritten Ebene wurden die fast gleichlautenden Pressegesetze der Länder vorbereitet, vereinbarten die Innenminister bzw. die Ministerpräsidenten auf regelmäßigen Konferenzen gemeinsame Aktionen oder Stillhalteabkommen in bestimmten Bereichen oder bemühten sich die Kultusminister um eine „Einheit" im Bildungswesen, der eigentlich eine Bundeszuständigkeit entsprochen hätte. Die zahlreichen Klagen darüber, dass die Exekutiven als Nutznießer dieser Entwicklung Entscheidungen auf dem Konferenzweg herbeiführen, ohne dabei nennenswerter parlamentarischer Kontrolle zu unterliegen, verhallten bislang ungehört (Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik ά Regierungsfähigkeit", 2000, S. 25). Gleichwohl wagten die Länderparlamente als Leidtragende und in Antizipation eines im Zuge des europäischen Integrationsprozesses drohenden weiteren Bedeutungsverlustes im F r ü h j a h r 2003 einen Vorstoß zur Reform (Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages, 2003). D a n a c h fordert ein Föderalismuskonvent der deutschen Länderparlamente eine „Stärkung der Stellung der Länderparlamente, eine Korrektur der Tendenz zum exekutivlastigen Zentralismus und die Gewährleistung des G r u n d satzes der Subsidiarität bei der Kompetenzverteilung zwischen Europa, dem Bund und den Ländern" (ebd., S. 5). O b und inwieweit derartige Initiativen sich zu einer wirklichen Reformdiskussion verdichten, wird - neben der Haltung des Bundes - nicht zuletzt von den Länderexekutiven abhängig sein.

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3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip Als historisch herausragendes Beispiel für die Wirksamkeit dieser dritten Ebene wird meist der Bereich der Bildungspolitik und hier die Tätigkeit der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) angeführt. Dabei wird darauf verwiesen, dass eine föderalstaatliche Bildungspolitik einerseits bedeuten könnte, traditionelle Unterschiede zwischen den Ländern auch im Bildungswesen zum Ausdruck kommen zu lassen; andererseits kann ihr Auftrag dahingehend ausgelegt werden, dass die staatliche Regelung des Bildungssystems wenigstens soweit zu gehen hat, dass die Ubergänge von einem Bundesland zum anderen nicht über Gebühr beeinträchtigt werden. Das Verdienst der K M K wird deshalb darin gesehen, Letzteres erreicht und vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik eine gewisse Einheitlichkeit des Schulwesens gewährleistet zu haben. Umgekehrt setzte die Kritik an der Arbeit der K M K , soweit sie nicht auf den weitgehenden Ausschluss der Landtage zielt, dort an, wo Verstaatlichung, Bürokratisierung und Politisierung des Bildungswesens ein Ausmaß erreichten, das einen Ausgleich nicht mehr möglich machte. Es kam deshalb auch zu Alleingängen einzelner Bundesländer, die unter dem Gesichtspunkt der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" zu Bedenken Anlass gaben und von den obersten Gerichten aufgegriffen wurden. Das Beispiel belegt, dass die „dritte Ebene" dysfunktional wirken kann, sobald es zum politischen Streit kommt und hinsichtlich der diskutierten Materie dringender Handlungsbedarf besteht; in derartigen Fällen reklamiert nicht selten der Bund eine erweiterte Zuständigkeit. Als Beispiel sei die bereits erwähnte, im Anschluss an die PISA-Studie diskutierte Notwendigkeit bundesweit einheitlicher Standards für die schulische Bildung benannt. Ungeachtet dieser auf Reformbedarf verweisenden Diskussion hat die erkennbare Auseinandersetzung die „Hartnäckigkeit" der dritten Ebene unterstrichen. So war die K M K in erster Linie damit beschäftigt, ihre Rolle als bildungspolitische „Agenda-Setzerin" zu verteidigen. Zwar konnten sich die Kultusminister der Länder erfolgreich gegen Versuche des Bundes wehren, eine gesamtstaatliche Bildungsstrategie durchzusetzen, eine Einigung auf einheitliche Bildungsstandards und damit eine größere Vergleichbarkeit der Qualität der schulischen Bildung in den einzelnen Bundesländern sowie eine bessere Verwirklichung des Grundsatzes der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" wurden allerdings (noch) nicht erreicht (C. Henkes/S. Kneip, 2003, S. 300f.). Die zweite der anzusprechenden Tendenzen verbindet sich mit dem Begriff des Verwaltungsföderalismus. Damit wird der Tatbestand bezeichnet, dass der Bund in nur wenigen Ausnahmebereichen über eine eigene Verwaltung verfügt, die Ausführung der Bundesgesetze vielmehr Sache der Länder ist, die (verfassungspolitisch: dafür) an der Willensbildung des Bundes beteiligt sind. Diese Beteiligung erfolgt im Bundesrat, der am Gesetzgebungsprozess teilnimmt und ohne dessen Zustimmung etwa zwei Drittel aller Gesetze nicht zustande kommen würden. Der Bundesrat, beteiligt auch an der Verordnungsgewalt des Bundes, arbeitet rein äußerlich „wie" ein Parlament. Er setzt sich aber aus Mitgliedern der einzelnen Landesregierungen zusammen, die gegenüber den Landesparlamenten keiner Weisung unterliegen. Die „Konstruktion" des Verwaltungsföderalismus, die ihre verfassungsrechtliche Basis in den Art. 84 und 85 G G findet, impliziert mithin zweierlei. Zum einen trägt sie zu einer Verstärkung der „Macht" der dritten Ebene bei, zum anderen befördert sie den Prozess der Politikverflechtung. Was die „Macht" der Exekutiven anlangt, kommt deren herausgehobene Stellung im Verwaltungsföderalismus nicht nur durch den weiten Verhandlungs- und Entscheidungsspielraum der Länderregierungen im Bundesrat zum Tragen; ergänzt wird diese Stellung vielmehr durch die sich mit der Ausführung der Bundesgesetze verbindende Verwaltungsmacht der Länder. Vereinfacht: Was die den Ländern vorbehaltenen Politikbereiche anlangt, gibt man föderalstaatlicher Vielfalt eher weniger Raum, so dass für den Bürger diese Vielfalt auch

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung nicht recht erkennbar wird. Greifbar erscheint demgegenüber die den Ländern zufließende Verwaltungsmacht, die das Gewicht des Bundes deutlich vermindert. Innerhalb der Länder kommt das aber nur den Regierungen und Verwaltungen zugute; es vermehrt sicher nicht die Beteiligungsmöglichkeiten des Bürgers. Die Landesbürokratie wird daher zum wichtigsten Gesprächspartner der Bundesministerien. Ihre faktische Macht auch in Berlin ist der der Bundesbürokratie in vieler Hinsicht gleichwertig, zumal der Gesetzesinitiative der Bundesministerien die Gesetzgebungsbefugnis des Bundesrates zur Seite steht. In ihm geben wiederum die obersten Länderbeamten oft den Ausschlag und können damit korrigierend auf die Gesetzentwürfe ihrer Kollegen im Bund einwirken. Die in Art. 84 GG genannte Bundesaufsicht über die Länder ist demgegenüber lediglich eine Rechtsaufsicht, die nur die Gesetzmäßigkeit der einzelnen Verwaltungsmaßnahmen umfasst und aus der nur mit Zustimmung des Bundesrates, also der Landesregierungen, Folgerungen gezogen werden können; diese wiederum sind vom Bundesverfassungsgericht auf Antrag des betroffenen Landes zu überprüfen. Nur in wenigen Bereichen (Art. 87-87 f. GG), in denen die Länder gemäß Art. 85 GG im Auftrag des Bundes handeln (Bundesauftragsverwaltung), steht dem Bund neben der Rechts- auch die Fachaufsicht und damit ein Weisungsrecht gegenüber den Ländern zu (darunter u. a. im Bereich der Arbeitsverwaltung). Außerdem hat das in Art. 37 GG dem Bund gegenüber den Ländern eingeräumte Zwangsrecht eine geringere praktische Bedeutung und kann lediglich mit Zustimmung des Bundesrates ausgeübt werden. Der Bund verfügt mithin über keine unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten auf die innere Ordnung der Länder. Die sich aus dem Verwaltungsföderalismus ergebenden Probleme werden nicht sichtbar, solange die Wirtschafts- und Sozialpolitik überwiegend auf zentralstaatlichen Maßnahmen beruht und materielle Schwierigkeiten dadurch überwunden werden können, dass Bundesregierung und Landesregierungen auf vergleichbarer Basis stehen, parteipolitisch verwandt sind oder doch voneinander um den Respekt vor der Verfassungsordnung wissen, die Bundestreue der Länder mithin ausreicht, um in der Verwaltung den Willen des Bundesgesetzgebers zu vollziehen und ihn an die örtlichen Verhältnisse anzupassen, nicht aber ihn umzudeuten. Wie zu zeigen sein wird, sind die Voraussetzungen hierfür jedoch nur noch begrenzt gegeben. Der geschilderte Verwaltungsföderalismus begründet auch jene Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern - die letzte der drei hier zu behandelnden Tendenzen. Der Begriff bezeichnet die Tatsache, dass in Anbetracht der grundsätzlichen Zuordnung der Entscheidungsfunktion an den Bund (mit partieller Zustimmungserfordernis der Gliedstaaten) und der Vollzugsfunktion an die Länder ein Abstimmungsprozess zwischen beiden Ebenen notwendig wird, der im ungünstigsten Fall zu einer Blockade der Entscheidungsfindung führt (erstmals hierzu: F. W. Scharpf u. a., 1976), in jedem Fall jedoch die Zustimmung der Gliedstaaten verlangt, mithin hohe Koordinationskosten verursacht (G. Färber, 2001, S. 491). In Deutschland ging ein solcher Abstimmungsprozess der Gesetzgebung im engeren Sinne immer häufiger voraus und wird gerade in jüngster Zeit Politikverflechtung wieder als eines der bestimmenden Merkmale des deutschen Föderalismus beschrieben (F. W. Scharpf, 1999; J. J. Hesse, 2000; U. Wachendorfer-Schmidt, 2003). In den Anfangsjahren lotete man seitens des Bundes zunächst aus, wie die Zustimmung der Länder zu erreichen war und bemühte sich um bürokratischen Konsens, wobei oft Landeskompetenzen übernommen werden konnten, wenn man nur die Zustimmungsrechte des Bundesrates und die Verwaltungsautonomie der Länder respektierte. Politikverflechtung im Sinne eines AufeinanderZugehens erhielt dann mit den Grundgesetzänderungen von 1969 eine neue Dimension, vor 110

3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip allem durch die „Gemeinschaftsaufgaben", die nur im Konsens zwischen Bund und Ländern zu bewältigen waren. Seit Mitte der 1970er Jahre wird mit dem Begriff im Wesentlichen umschrieben, welche Konsequenzen das Bemühen um diesen Konsens hat: die Problemlösung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, die Schwierigkeit, Verteilungsprobleme zu lösen, den Eingriffsverzicht, die Orientierung am Status quo sowie den weiteren Bedeutungsverlust der parlamentarischen Ebene. Mit der Finanzreform von 1969 verband sich die Hoffnung, die Leistungsfähigkeit des kooperativen Föderalismus zu verbessern. Die Analysen zur Politikverflechtung verwiesen jedoch auf gegenteilige Erfahrungen, denen zufolge die Zunahme unausweichlicher Kooperation zwischen formal Gleichgestellten noch weniger als unkoordinierte Dezentralisation bewirkt, darüber hinaus denkbaren Wettbewerb vermindert, konsequente Planung verhindert und das politische System eher lähmt - Erscheinungen, die insgesamt für stärker verflochtene Politiken, aber auch für komplexe Industriegesellschaften mit blockierenden Mechanismen der politischen Willensbildung festgestellt wurden (vgl. Hochschule Speyer, 1975; F. IV. Scharpf u.a., 1976; J. J. Hesse, 1978; eine Ergänzung durch den Einbezug weiterer dezentraler Gebietskörperschaften findet sich bei D. Fürst!J. J. Hessel H. Richter, 1984). Da unter den besonderen föderalstaatlichen Bedingungen der Bundesrepublik kaum anzunehmen ist, dass sich die Nachteile der Politikverflechtung - Rationalitätsverluste, mangelnde Innovationsfahigkeit, bürokratieverstärkende Mitwirkung der Landesexekutiven bei der Willensbildung des Bundes - grundsätzlich abbauen lassen, setzte sich in Wissenschaft wie Praxis schließlich die Forderung nach einer Rückkehr zu einer möglichst konsequenten Aufgabenteilung durch (H. Klatt, 20022, S. 9ff.). Nicht von ungefähr wird diese Forderung in jüngster Zeit erneut vorgetragen, diesmal mit Blick auf die Folgen der deutschen Vereinigung und den Prozess der europäischen Integration.

3.3. Der deutsche Föderalismus zwischen Vereinigung und £uropäisierung Die deutsche Vereinigung hat die föderalstaatliche Ausgangssituation beträchtlich verändert. Auch nach über einem Jahrzehnt bildet die Bewältigung ihrer Folgen eine der größten Herausforderungen für den deutschen Bundesstaat. Das nur schwer auflösbare wirtschaftliche Strukturgefälle zwischen den alten und den neuen Ländern erfordert eine Überprüfung von Routinen insbesondere in jenen Bereichen, wo Sozial- und Bundesstaat aufeinandertreffen. In einer diagnostizierten „Schieflage zwischen Sozialstaatsfinanzierung und Föderalismus" (M. G. Schmidt, 2001, S. 485) erweist sich die Flexibilität und Reformfähigkeit eines Gemeinwesens als begrenzt, dessen föderative Elemente in den vergangenen Jahren eher gepriesen und auf europäischer Ebene nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Stabilität sogar als „Modell" gehandelt wurden (vgl. H. Abromeit, 1992; J. J. Hesse, 1992; II KilperlR. Lhotta, 1996; W. Renzsch, 1997; J. J. Hesse, 2000). Zunächst die Erinnerung an vermeintliche Trivialitäten: Durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde die Zahl der deutschen Bundesländer von elf auf 16 erhöht, wobei die fünf neuen Länder in den Grenzen der zwischen 1945 und 1952 bestehenden alten DDR-Länder gegründet wurden. Dabei ist natürlich weniger deren Zahl von Bedeutung, als vielmehr ihr Gewicht; es bemisst sich nach Indikatoren wie der Bevölkerungsstruktur, dem wirtschaftlichen Potential, der sozialen Situation und der politischen Vertretungskraft. Hier zeigt ein Blick auf die entsprechenden Daten, dass lediglich Sachsen zu den mittelgroßen Ländern zu zählen ist, alle anderen liegen an oder beträchtlich unterhalb der Grenze von 3 Mio. Einwohnern. Problematischer freilich ist die trotz umfangreicher Förderung noch immer mangelnde Wirtschaftskraft, die nicht zuletzt durch den abrupten

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung Wegfall der Exportmärkte, veraltete Produktionskapazitäten, mangelnde Investitionsbereitschaft und vielleicht auch verzögerte Treuhandarbeit lange Zeit weit unter den Erwartungen blieb. Fügt man dem die zwischenzeitlich zusammenbrechenden Arbeitsmärkte und die damit verbundenen sozialen Folgen hinzu, werden nicht nur aktuelle Probleme, sondern auch das (noch) eingeschränkte bundespolitische Gewicht der neuen Länder deutlich. Entscheidend ist aber nicht allein der Hinweis auf strukturelle oder situative Schwächen der neuen Länder (auch die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika kommen bekanntlich mit sehr heterogenen gliedstaatlichen „Begabungen" aus), sondern die Erinnerung an einige Grundvoraussetzungen des deutschen Bundesstaats, der - wie ausgeführt als „kooperativer Föderalismus" (zum Begriff A. Benz, 1985) gekennzeichnet wird. Kooperativer Föderalismus heißt aber nach dem herrschenden Verständnis, und vor allem nach den gegebenen Aufgaben-, Ressourcen- und Entscheidungsstrukturen, dass es leistungsfähiger dezentraler Gebietskörperschaften bedarf, um Kooperation überhaupt erst zu ermöglichen {W. Renzsch, 2002, S. 356). Dabei sind es eine Reihe von Strukturmerkmalen, die den deutschen Föderalismus zu einer gewissen Sonderkategorie haben werden lassen: die im internationalen Vergleich untypische Aufgaben- oder besser Funktionsteilung zwischen Bund und Ländern, die Mechanismen zur Überwindung sektoraler wie territorialer Disparitäten und die weitgefächerte Institutionalisierung des Kooperationsprinzips. Das dabei zutage tretende System wechselseitiger Verflechtungen und Abhängigkeiten erlaubte es sogar, mit den besonderen Problemen etwa der Stadtstaaten oder der kleineren Bundesländer fertig zu werden, zumindest solange sich das Ungleichgewicht zwischen den Ländern nicht als zu weitgehend erwies. In der Diskussion wurde allerdings häufig übersehen, dass sich das im „sozialen Bundesstaat" des Art. 20 G G angelegte Spannungsverhältnis zwischen sozialstaatlicher Einheitlichkeit und bundesstaatlicher Vielfalt auch und gerade in der Formel der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" (Art. 72 Abs. 2 GG) im Sinne eines Ausgleichs großflächiger Disparitäten und eines „ Wettbewerbs der Regionen" mit dem Ziel eines effizienten Einsatzes öffentlicher Mittel und bürgernaher staatlicher Aufgabenwahrnehmung widerspiegelt. Diese Spannung zwischen Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit bleibt im Bundesstaat prinzipiell unaufhebbar; das Hintanstellen eines Elements würde die Legitimation des Bundesstaates auf Dauer in Frage stellen. Es ist daher Aufgabe der Politik, diese Grundsätze in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu setzen (W. Renzsch, 2000, S. 39f.; G. Färber, 2001). Angesichts dieser Ausgangssituation und der vielfältigen Belastungen, die sich mit der deutschen Vereinigung, der europäischen Integration und ökonomischen Globalisierungsprozessen verbinden, erscheint es angezeigt, zu einer realitätsnäheren Einschätzung des deutschen Föderalismus beizutragen. Eine solche Einschätzung hätte davon auszugehen, dass im Interesse einer besseren Nutzung der gegebenen Ressourcen interregionale Ausgleichspolitiken zu überprüfen sind, auch unter Kriterien wie denen der Vielfalt, des Wettbewerbs und der Leistungsgerechtigkeit (J. J. Hesse/U. Häde/W. Renzsch, 2001). Ein damit verbundener „Realitätsschub" erscheint insbesondere deshalb notwendig, weil - wie die jüngste Auseinandersetzung um den Länderfinanzausgleich verdeutlicht hat - die zunehmenden Verteilungskämpfe offenbar nicht mehr innerhalb gegebener föderalstaatlicher Routinen aufzulösen sind. Die empirisch-analytischen Nachweise hierzu sind Legion. Die solchen Verwerfungen gegenüber immer wieder geforderte Länderneugliederung, die strukturell bedeutsamste Reformperspektive, erscheint derzeit nicht realisierbar. Zwar bleibt die Diskussion um eine Fusion von Berlin und Brandenburg auch nach deren Scheitern im März 1996 „offen", doch machte eben dieses Scheitern deutlich, wie stark die Widerstände

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3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip gegen eine territoriale Lösung struktureller Probleme sind (C. Vondenhoff, 2000; U. Münch/ K. Meerwaldt, 2002). Befürchteter Identitätsverlust, Nähe zur eigenen Region und instinktive Abwehr größerräumiger Lösungen stehen durchaus funktionalen Reformperspektiven im Weg (vgl. Materialband, III/7). Um so wichtiger wird es sein, auf ein „Einüben" in einen „neuen" Föderalismus zu setzen, der darauf zielt, unterhalb der Ebene einer Länderneugliederung ablaufende Kooperationsprozesse zu einer Reformdiskussion zu nutzen, die angesichts der europäischen Handlungsimperative und der deutlichen Funktionsschwächen des deutschen Föderalismus unaufschiebbar erscheint. Dabei ginge es darum, jene Prozesse zu systematisieren und in ihren positiven Wirkungen zu thematisieren, die auch und gerade außerhalb der Politik auf erweiterte Kooperationsformen setzen. Hier finden sich zahlreiche Signale. So haben die Landeszentralbanken eine „neue Föderalisierung" gleichsam vorweggenommen, finden sich im Bereich etwa der Rundfunkanstalten oder der Sozialversicherungsträger Diskussionen um eine erweiterte Regionalisierung, organisieren sich Parteien und Interessenverbände neu und kommt es auch im Unternehmensbereich zu Orientierungsmustern, die kaum mehr etwas mit der traditionellen föderalstaatlichen (territorialen) Limitierung zu tun haben; schließlich suchen nicht zuletzt an Ländergrenzen liegende Kommunen immer öfter die Zusammenarbeit, um als vor allem wirtschaftlicher Standort im Verbund konkurrenzfähiger zu werden. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass grenzüberschreitende regionale Kooperationsformen in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland immer bedeutsamer werden (J. J. Hesse, 2002, S. 108 ff.). Entsprechende Politiken finden sich nicht nur im Großraum Berlin, sondern vor allem auch zwischen Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, zwischen dem Saarland und Rheinland-Pfalz oder auch zwischen Bremen und Niedersachsen. Zwar sind diese Ansätze meist nicht strukturell „konsolidiert", gleichwohl aber signalisieren sie, dass der gegebene Problemdruck zum Handeln zwingt und neue Promotoren der Entwicklung erzeugt. Damit verbunden ist dann auch eine durchaus bemerkenswerte Umorientierung regionaler Identitäten sowie ein noch wenig ausgeschöpftes Leistungspotential. Letzteres stellt auf jene Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit ab, die zunehmend nicht nur im Bereich der Raum- und Regionalplanung, sondern auch in einer Reihe hoheitlicher Leistungsbereiche erkennbar werden (J. J. Hesse, 2003). Grenzüberschreitende Kooperation, eine sinnvolle Regionalisierung sowie Orientierungen an funktionsräumlicher Arbeitsteilung (sowohl binnenstaatlich als auch innerhalb der Europäischen Union) erscheinen erfolgversprechende Reformperspektiven. Neben Vorschlägen, die auf die Veränderung der Territorialstruktur im deutschen Bundesstaat zielen, konzentrieren sich die gegenwärtigen Reformbemühungen erneut auf die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Dabei fällt eine Bilanz des bundesstaatlichen Finanzausgleichs äußerst ambivalent aus. Einerseits hat sich das 1969 reformierte bundesstaatliche Finanzausgleichssystem bei der Bewältigung der finanzpolitischen Herausforderungen der deutschen Vereinigung als flexibel und anpassungsfähig erwiesen. Ohne Änderung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen wurde es möglich, die neuen Länder trotz der erheblichen wirtschaftlichen Disparitäten in das Finanzausgleichssystem einzubeziehen. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass der Finanzausgleich eines seiner zentralen Ziele, die Angleichung der Leistungsfähigkeit der Länder, verfehlt hat. Trotz des vielfach als zu hoch kritisierten Nivellierungsgrades sind die Spielräume für gestaltende Politik in den Ländern sehr unterschiedlich geblieben. Einige Länder können Notwendiges nur noch um den Preis einer höheren Verschuldung finanzieren, während andere noch Möglichkeiten sehen, Wünschbares zu verwirklichen. Weniger Einheitlichkeit und mehr Vielfalt wäre demnach eine Formel, auf die die Entwicklung des deutschen Föderalismus zu bringen wäre,

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung wobei das Prinzip der Sicherung des Eigenbehalts, das im Maßstäbegesetz zum Finanzausgleich festgelegt wurde, nur einen ersten Schritt darstellen sollte. Ohne den integrativen Auftrag und die föderalstaatliche Solidarfunktion aufzugeben, wäre es so möglich, ein Wettbewerbselement in das Verhältnis der Länder zueinander einzubringen. Eine effizientere Aufgabenwahrnehmung könnte so auch den sich noch immer verstärkenden Verflechtungstendenzen entgegenwirken und die der Parteienkonkurrenz inhärente Tendenz zur Unitarisierung einschränken. Insgesamt ginge es letztlich um eine Bundesstaatsreform, die die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern neu bestimmt (vgl. vor allem W. Renzsch, 1997, 2002; J. J. Hesse, 1997, 2000, 2003). Eine konsequentere Entflechtung der gebietskörperschaftlichen Ebenen wäre dabei das Ziel. Danach sind bundesgesetzlich veranlasste Aufgaben, die von den Ländern wahrgenommen und einheitlich vollzogen werden, von den Ländern aus bundesgesetzlich geregelten Steuern zu finanzieren. Dem Bund obläge die Verantwortung für eine ausreichende und ausgabengerechte Finanzausstattung. Länder, deren Aufkommen aus bundesgesetzlich geregelten Steuern unzureichend bliebe, erhielten aufgabenorientierte Zuweisungen des Bundes. Die übrigen Aufgaben, die keiner bundeseinheitlichen Ausführung bedürfen, unterliegen nach diesen Vorstellungen der Finanzierungskompetenz der Länder. Sie finanzierten dies aus Steuern, für die sie die Steuergesetzgebungskompetenz oder - im Fall von Verbundsteuern - autonome Gestaltungsspielräume (Zu- und Abschläge, Hebesatzrechte, etc.) erhielten. Der einnahmenorientierte Länderfinanzausgleich schließlich würde begrenzt auf die Sicherung bestimmter Standards und einen Ausgleich zur Finanzierung bundeseinheitlich wahrzunehmender Landesaufgaben. Eine solche Bundesstaatsreform setzte an der Inkongruenz von föderaler Aufgaben- und Finanzstruktur an: Die Aufgaben der Länder wären zwar zum überwiegenden Teil, aber eben nur zu einem Teil durch Bundesgesetzgebung festgelegt. Der andere Teil unterläge der Landesgesetzgebung. Inwieweit solche Vorstellungen Realität werden könnten, ist schwer abzusehen, zumal die Neuregelung des Finanzausgleichs nichts an der Grundkonstruktion des bisherigen Systems geändert hat und auch jüngere Vorschläge der Bundesjustizministerin zur Reform des deutschen Föderalismus mit Blick auf eine grundlegende Umgestaltung des Finanzsystems skeptisch stimmen müssen. Vielleicht kommt eher zu einem substantielleren do ut des: Aufgabenentflechtung zugunsten der Länder bei entsprechendem Verzicht auf die Zustimmungspflichtigkeit. Mit Blick auf die Fortentwicklung der Europäischen Union dürfte von entscheidender Bedeutung sein, inwieweit die mit dem Integrationsprozess verbundene Maßstabsvergrößerung auch auf die gebietskörperschaftliche Struktur „durchschlägt" und welche Konsequenzen die föderative Organisation für die notwendige Reaktions- und Anpassungsfähigkeit innerhalb der E U hat (unter den inzwischen zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema sei verwiesen auf F. W. Scharpf 19993; T. Fischer, 1999; F. H. U. Borkenhagen u.a., 1999; W. Renzsch, 2000; J. J. Hesse, 2000; R. Hrbek, 2000; T. Bruha/J. J. HesselC. Nowak, 2001; U. Wachendorfer-Schmidt, 2003). Daneben bleibt die Frage, ob aufgrund der fortlaufenden Souveränitätsverluste der Nationalstaaten regionale Einrichtungen an Bedeutung gewinnen könnten. Blickt man hierzu auf die gegenwärtige Entwicklung, ist Skepsis angezeigt. Zunächst hat es sich als verfrüht erwiesen, das „Ende des Nationalstaates" auszurufen, zumal dieser bis heute der einzige gebietskörperschaftliche Akteur geblieben ist, der Außen- und Binnengrenzen garantiert, das staatliche Gewaltmonopol umsetzt und dem Staatsvolk „Identität" ermöglicht. Darüber hinaus wurden die vielfältigen Erwartungen in eine „Regionalisierung Europas" seit Mitte der 1990er Jahre enttäuscht. So haben insbesondere die deutschen Länder die Vorstellung eines „Europas der Regionen" schnell aufgegeben, nachdem der auf ihre Initiative mit dem Vertrag von Maastricht 1992 begründete

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3. Bund und Länder: Föderalismus als politisches Strukturprinzip und 1994 eingesetzte EU-Ausschuss der Regionen (AdR) sich eher als Informationsquelle denn als Akteur zur Durchsetzung dezentraler Interessen erwies. Der widersprüchlich zusammengesetzte Ausschuss und die ihm übertragenen ausschließlich beratenden Aufgaben haben es bislang verhindert, dass der AdR nachhaltig auf europäische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einzuwirken vermochte. Weder muss die Kommission auf das Beratungsangebot des Ausschusses reagieren (noch nicht einmal dessen Nicht-Berücksichtigung begründen), noch sind EU-Beschlüsse unwirksam, wenn die nach dem EU-Vertrag erforderliche Beteiligung des Ausschusses unterbleibt. Immerhin muss er zu Themen gehört werden, die unmittelbar die Belange der Regionen (und Gemeinden) in den Mitgliedstaaten betreffen. Die Liste dieser Themen, die im Vertrag definiert sind, wurde durch die Regierungskonferenz von Amsterdam 1997 erweitert und umfasst seither: die allgemeine und berufliche Bildung und Jugendfragen (Art. 137 EGV), die Kultur (Art. 151 EGV), das Gesundheitswesen (Art. 152 EGV), die Transeuropäischen Netze (Art. 154-156 EGV), die wirtschaftliche und soziale Zusammenarbeit (vor allem im Rahmen der Strukturfonds, Art. 158-162 EGV), die Forschungs- und Technologiepolitik (Art. 163-173 EGV), die Umweltschutzpolitik (Art. 174-176 EGV), die Verkehrspolitik (Art. 7 0 - 8 0 EGV) sowie die Sozial- und die Beschäftigungspolitik (Art. 125-130 EGV). Bei den meisten dieser Themen steht der Ausschuss mit dem Beratungsangebot und den entsprechenden Leistungen des Wirtschafts- und Sozialausschusses in Konkurrenz. Hinzu kommt, dass der AdR so zusammengesetzt ist, dass er bislang nur zu wenigen dieser Themen oder bei geschickter Problemdefinition auf einem breiten Konsens beruhende Stellungnahmen abgeben konnte. Diese Heterogenität folgt aus der unterschiedlichen Stellung der Regionen im jeweiligen nationalen Staatsaufbau, der Mischung von Regionalund Kommunalvertretern, der wirtschaftsstrukturellen Basis der Regionen (neben modernen Industrieregionen finden sich altindustrielle Räume, neben ländlichen Regionen mit Industrialisierungsansätzen eher periphere ländliche Gebiete) sowie den Unterschieden in den handlungsleitenden Zielen. Während die deutschen Länder in erster Linie daran interessiert sind, die europäische Politik nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Dezentralisierung in ihrer Steuerungsintensität zu reduzieren, geht es anderen Regionen vor allem darum, über die EU-Kommission ihr Eigengewicht zu verstärken - etwa durch Ressourcenzugänge oder erweiterte Vollzugskompetenzen - und den Einfluss der nationalstaatlichen Verwaltungen entsprechend zurückzudrängen. Sucht man das Gewicht subnationaler Interessen im Europäisierungsprozess zusammenzufassen, sind auch Unterschiede in der Einflussnahme auf die europäische Politik zu berücksichtigen. So verfügen die deutschen Länder immerhin über drei Arenen, ihre Interessen geltend zu machen: Zum einen über den AdR selbst, der auch aus der Sicht der Länder ein bislang allerdings nur wenig wirksames Instrument der regionalen Interessenvertretung darstellt (J.J.Hesse, 1994; R. HrbeklS. Weyand, 1994); zum zweiten über länderspezifische Lobbyarbeit in Brüssel (Länderbüros, Europaminister der Länder), die vor allem der Informationsbeschaffung und dem Aufbau von Wirtschaftskontakten dient; zum dritten schließlich unmittelbar über den Bund (Art. 23 GG; Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union). Die letztgenannten Regelungen haben zumindest nationalstaatlich die Mitwirkungsrechte der Länder gestärkt, und zwar wiederum auf dem Weg über den „Beteiligungsföderalismus" (U. Münch, 20022) und die Einbindung des Bundesrates in die Gestaltung der deutschen Europapolitik. Auch eine mögliche Blockade(drohung) im Bundesrat kann allerdings nicht verdecken, dass das europäische „Gewicht" der Länder gering ist, zumal die meisten der anderen, nationalstaatlich weniger bedeutsamen europäischen Regionen eher auf den AdR setzen.

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II. Staatsaufbau und staatliche Entwicklung: politische Entscheidungsebenen und ihre Verflechtung In diesem Kontext ist auch bedeutsam, dass die insbesondere während der Verhandlungen zum Vertrag von Nizza sowie im Rahmen des Europäischen Konvents vertretene Strategie, durch einen nach Politikbereichen geordneten „Kompetenzkatalog" die Handlungsfähigkeit der Länder innerhalb der EU zu bewahren bzw. auszubauen, nicht erfolgreich war. Zwar erwies sich die Debatte um eine europäische Kompetenzordnung als „überfällig", da die in Art. 308 EG-Vertrag festgeschriebene Binnenmarktkompetenz zu einer Ausweitung der Aufgabenwahrnehmung durch die EU-Kommission führte, wovon sich in Deutschland vor allem die Länder betroffen sahen. Doch darf bei der Neuordnung der Zuständigkeitsverteilung innerhalb der EU nicht übersehen werden, dass die inzwischen hochkomplexe Realität der europäischen Politik mit scheinbar einfachen Modellen der Aufgabenzuordnung nicht mehr zu erfassen ist. Auch die deutschen Länder, im Konvent vertreten durch den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel, haben sich dieser Einsicht schrittweise angenähert. Wurde in einem entsprechenden Positionspapier im Dezember 2001 noch die Forderung erhoben, die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten im Rahmen eines Katalogs zu regeln (Landesregierung von Baden- Württemberg, 2001, S. 2), erwies sich dies im Rahmen der Konventsverhandlungen als politisch nicht durchsetzbar (E. Teufel, 2003). Daraufhin wurde bekräftigt, die künftige Verteilung von Zuständigkeiten zwischen EU und Mitgliedstaaten strikt an der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips sowie an den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung und der Verhältnismäßigkeit zu orientieren (Landtag von Baden-Württemberg, 2003, S. 2). Zudem wurde eine dreistufige Kompetenzstruktur nach dem Vorbild des Grundgesetzes angestrebt, die zwischen ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten sowie „unterstützenden Maßnahmen" unterscheidet. Damit näherten sich die deutschen Länder einer Position an, die die geforderte Entflechtung der gegenwärtigen Zuständigkeitsstruktur im Sinne eines aufgabenorientierten Zusammenwirkens der Akteure zu regeln sucht, der Devise „Vereinfachung wo möglich, Verflechtung wo nötig" (J. J. Hesse, 2002 b) folgend. Das Ergebnis der Konventsverhandlungen, soweit es die Stellung der subnationalen Gebietskörperschaften im Rahmen der EU betrifft, kann als positive Bestätigung dieses Strategiewechsels gewertet werden. Der im Juni 2003 vom EU-Konvent vorgelegte Entwurf einer Europäischen Verfassung nimmt einige zentrale Forderungen der Länder auf. So werden nicht nur Kompetenzen der EU eindeutig benannt, mit Blick auf die Bestimmung der Zuständigkeiten der Union wird vielmehr auch das Subsidiaritätsprinzip als Grundlage der künftigen Kompetenzverteilung anerkannt, und dies ausdrücklich unter Hinweis auch auf die regionale und lokale Ebene: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu erreichen sind" (Art. 1-9 Entwurf einer Verfassung für Europa). Im Gegensatz zu den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza, in denen das Subsidiaritätsprinzip bereits als ein Basisgrundsatz der Zuständigkeitsverteilung (allerdings lediglich zwischen Union und Mitgliedstaaten) benannt wird, gibt der Verfassungsentwurf den Mitgliedstaaten erstmals ein Instrument zur Überwachung der Einhaltung dieses Grundsatzes an die Hand. In einem dem Verfassungsentwurf beigefügten „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" wird die Kommission in ihrer Funktion als Initiator der europäischen Gesetzgebung dazu verpflichtet, vor der Vorlage eines Gesetzentwurfs „umfangreiche Anhörungen" durchzuführen, in denen auch regionale und lokale Positionen berücksichtigt werden. Außerdem muss die Kommission mit jedem Gesetzesvorschlag eine detaillierte

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3. Bund und Länder: Föderalismus als Strukturprinzip schriftliche Begründung darüber abgeben, warum die in Frage stehende gesetzliche Maßnahme mit Blick auf ihre materielle Qualität sowie die damit verbundenen Kosten auf Unionsebene „besser" geregelt werden kann als auf der Ebene der Mitgliedstaaten bzw. der subnationalen Gebietskörperschaften. Schließlich räumt das „Subsidiaritätsprotokoll" den nationalen Parlamenten die Möglichkeit ein, innerhalb von sechs Wochen nach Vorlage eines Gesetzentwurfs hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip Stellung zu beziehen. Sieht mehr als ein Drittel der nationalen Parlamente eine solche Vereinbarkeit als nicht gegeben an, ist die Kommission gehalten, ihren Vorschlag zu überprüfen. Die Wirksamkeit der Subsidiaritätskontrolle muss sich freilich in der Realität europäischer Politik erweisen. Im Ergebnis ist also auch mit Blick auf die föderalstaatliche Entwicklung der Bundesrepublik seit spätestens 1990 von veränderten Ausgangsbedingungen auszugehen, die gemeinhin als Übergang von einem kooperativen zu einem eher kompetitiven Föderalismus bezeichnet werden und über Europäisierungsprozesse Verstärkung erfahren. Dahinter wiederum verbirgt sich das angesprochene Spannungsverhältnis zwischen sozialstaatlicher Einheitlichkeit und bundesstaatlicher Vielfalt. Angesichts der dreifachen Herausforderung, der sich die deutschen Länder durch den Vereinigungsprozess, die europäische Integration und eine fortschreitende Globalisierung ausgesetzt sehen, scheint das in seiner Geschichte erfolgreiche föderalstaatliche System nur noch bedingt in der Lage, sachadäquat zu reagieren. Das Verhältnis zwischen Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit ist dabei zentral. Zwar ist der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nach Möglichkeit beizubehalten, künftig aber doch wohl - wie die jüngste Auseinandersetzung um den Finanzausgleich und im Rahmen der Einsetzung einer „Föderalismuskommission" deutlich gemacht hat - realistischer zu sehen. Weniger Einheitlichkeit, dafür mehr Vielfalt, dürfte in der Tat jene Formel sein, auf die die Föderalismusdiskussion zu bringen ist.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Das von Beginn an nur als Zwischenlösung bis zur Vereinigung aller deutschen Länder gedachte Grundgesetz von 1949 stellt ein fundamentales und zugleich dem gewöhnlichen Recht übergeordnetes, höherrangiges Recht dar, das mit besonderen Garantien ausgestattet ist und in seinen wesentlichen Teilen nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen geändert werden kann. Zu seinen wesentlichen Bestimmungen gehören diejenigen zur bundesstaatlichen Ordnung, gehört ferner das Bekenntnis zur Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte und gehören vor allem die in Art. 20 G G niedergelegten Grundsätze der demokratischen Verfassung. Danach geht die oberste Staatsgewalt vom Volke aus, dessen Wille allerdings, von Ausnahmen abgesehen, nur über die vom Volk gewählten Repräsentanten verwirklicht werden kann. Das sich damit verbindende spezifische Repräsentationsverständnis der Väter des Grundgesetzes steht daher auch im Vordergrund der folgenden Ausführungen. Sie skizzieren zunächst das Grundgesetz als Rahmen und Programm, um sich dann dem Prozess der politischen Willensbildung im engeren Sinne zuzuwenden: der Meinungsbildung über die Medien, der Interessenvertretung durch Verbände, Vereine oder Bürgerinitiativen, der Willensbildung in den Parteien sowie schließlich der Willensäußerung durch den Wahlakt selbst.

1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen 1.1. Das Grundgesetz als Rahmen und Programm Das Grundgesetz, seit 1990 durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik für alle Deutschen verbindlich, ist durch die Besonderheiten der politischen Tradition und durch die spezifischen Rahmenbedingungen der deutschen Politik in der Nachkriegszeit geprägt. Es regelt, der Tradition folgend, eine erstaunliche Zahl von Einzelheiten und erlaubt in großem Umfang eine rechtliche Nachprüfung politischer Entscheidungen; die Möglichkeit zu Verfassungsänderungen tritt hinzu. Die geschilderten Rahmenbedingungen kamen demgegenüber der Ausgestaltung des Föderalismus und der Beteiligung der Landesregierungen an der Bundespolitik zugute, sie bewirkten zudem, dass das Parlament ein Legitimationsmonopol erhielt; nur hier kommt der Wählerwille legitim zum Ausdruck. Die repräsentative Komponente wird dabei deutlich betont, eine gewisse Zurückhaltung gegenüber plebiszitären Formen der Willensbildung ist unverkennbar. Gleichwohl entspricht das Grundgesetz der westlichen Verfassungsentwicklung. Es intendiert eine parlamentarische, nicht präsidentielle Demokratie und folgt der allgemeinen Gewichtsverlagerung vom Parlament zur Regierung. Auch finden sich zentrale Bestimmungen, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden und die auf die Erfahrungen des 18. Jahrhunderts verweisen. So bekennt sich Art. 20 G G zur Gewaltenteilung (und zu besonderen Organen für die damit verteilten Funktionen) und privilegiert Art. 38 G G den unabhängigen und nur seinem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes - eine klare Absage an jedes imperative Mandat, selbst wenn empirisch die Partei- und Fraktionsbindungen dem nicht entsprechen. Der Grundrechtsteil beruht auf der Entwicklung der Menschenrechte und konkretisiert diese besonders dann, wenn es um die Abwehr von Staatseingriffen in die Privatsphäre geht. Der Erkenntnis, dass Menschenrechte auch anderweitig eingeschränkt werden, folgt dieser Teil nur zögernd; die

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1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen rechtstheoretische Diskussion um die Drittwirkung der Grundrechte kann deshalb nicht mehr aus dem Verfassungstext „herausholen", als dieser tatsächlich enthält. Als Typus gliedert sich das Grundgesetz in die allgemeine Verfassungsentwicklung (D. Grimm, 1989) ein, deren allerdings spätes Produkt es ist (vgl. K. v. Beyme, 19733). Dabei lässt sich fragen, ob das Grundgesetz im Rahmen der allgemeinen Entwicklung dem Wandel von der bürgerlichen Gesellschaft zur Industriegesellschaft oder vom liberalen Ordnungs- zum sozialen Maßnahmestaat gerecht wird. Diese Frage verbindet sich meist mit der nach dem Charakter oder dem Wesen einer Verfassung. Hier gilt als häufig angeführtes Beispiel die Verfassung der Vereinigten Staaten, die ohne wesentliche Veränderungen einen Entwicklungsprozess über zwei Jahrhunderte durchstehen konnte - Ergebnis eines Verfassungsdenkens, das sich von dem der Deutschen erheblich unterscheidet (vgl. E. Fraenkel, 1976 und 1991). So erfuhr das Grundgesetz seit seinem Bestehen im Durchschnitt etwa eine Änderung pro Jahr, ein Tatbestand, der zwischenzeitlich nicht nur zu Fragen nach der Identität des Grundgesetzes, sondern auch zum Einsetzen von i/içuéfe-Kommissionen zur Verfassungsreform des Deutschen Bundestages führte (vgl. Enquête-Kommission, 1976 und 1977 sowie Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag, 1993; vgl. Materialband, II/2-3). Gleichwohl ist unstrittig, dass sich das Grundgesetz in seiner mehr als 50jährigen Geschichte bewährt hat, es eine freiheitlich-demokratische Ordnung garantiert, die als rechts- und sozialstaatlich gekennzeichnet wird und, aufbauend auf einer föderalstaatlichen Grundstruktur und einer rechtlich garantierten Selbstverwaltung, einen stabilen institutionellen Rahmen bildet. Der Begriff der politischen Willensbildung findet sich in Art. 21 des Grundgesetzes (vgl. Materialband, IV/1-4). In ihm ist die Rede von den Parteien, die bei der politischen Willensbildung „mitwirken". Die Mitwirkung ist dabei in Zusammenhang mit Art. 20 G G zu sehen. Er gibt neben Art. 1 dem Grundgesetz die Basis und enthält eine Art von „Verfassung" in Kurzform. Für die Willensbildung selbst ist Absatz 2 entscheidend. Ihm liegt vereinfacht das Prinzip der Volkssouveränität zugrunde, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Das bedeutet negativ, dass die Staatsgewalt weder einem erbberechtigten Monarchen zusteht noch sich auf ein „höheres Wesen" bezieht. Die Organe des Gemeinwesens werden vielmehr durch Wahlen bestellt, um im Sinne des Volkes tätig zu sein. Das Grundgesetz führt deshalb auch weiter aus, die Staatsgewalt werde „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt". Infolge dessen artikuliert sich in der Wahl die Summe der in der Bevölkerung erkennbaren Meinungen, Auffassungen und Werthaltungen (die man häufig auch als den „empirischen Volkswillen" bezeichnet) und trägt der Wähler gleichzeitig den Repräsentanten auf, in den genannten Organen für das Volk die Staatsgewalt auszuüben. Verfassung und Gesetz erweitern dieses einfache Modell des Art. 20 G G in vielerlei Hinsicht und komplizieren es zugleich. Eine wichtige Erweiterung ergibt sich durch das föderalistische Prinzip. Die Abfolge: Meinungsbildung im Volk - Wahlakt und Beauftragung der Repräsentanten - legitime Formulierung des hypothetischen Volkswillens vollzieht sich nebeneinander in Ländern und Bund, wobei im Bund der Bundesrat das Nebeneinander gewährleistet. Zudem bezieht das Grundgesetz die kommunale Selbstverwaltung mit ein und legitimiert dadurch eine weitere unmittelbare Betätigung des Volkes, ohne sie allerdings institutionell direkt mit der Willensbildung in den Ländern und im Bund zu verbinden. Da schließlich die Verfassungen nur über die obersten Organe des Gemeinwesens in Ländern und Bund Auskunft geben, verbleibt eine Fülle öffentlicher Einrichtungen, die an der Herrschaftsausübung beteiligt sind, ihre Grundlage aber nur in einfachen Gesetzen finden. Man 119

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung spricht deshalb von unmittelbarer und mittelbarer Repräsentation oder verwendet den Begriff nur im Zusammenhang mit den gewählten Organen (Parlament und Regierung) und unterscheidet von ihnen alle ernannten Personen, die dann als Angehörige des öffentlichen Dienstes im Auftrag der Repräsentanten handeln. Die komplizierte Organisation der politischen Herrschaft, wie sie durch die Verfassung institutionalisiert und zugleich begrenzt ist, schließt Gebote ein, die in der modernen rechtsstaatlichen Demokratie den Herrschenden auf Zeit - in dieser Einschränkung liegt der Sinn der ständigen Wiederkehr von Wahlen - auferlegt sind. Das Grundgesetz gibt dem in Absatz 3 des Art. 20 Ausdruck, indem es zunächst die Bindung der einzelnen Organe an die verfassungsmäßige Ordnung und an Gesetz und Recht feststellt. Dieser Bindung entspricht die Kontrollierbarkeit der Tätigkeit der obersten und aller nachgeordneten Organe, wobei es sich um eine gegenseitige Kontrolle handelt, die wiederum durch die Kontrolle der Bürger und Wähler ergänzt wird. Kontrollierbarkeit zielt dabei auf Öffentlichkeit. Stark verkürzt kann deshalb als Wesensmerkmal des Modells der rechtsstaatlichen Demokratie bezeichnet werden, dass die mit Herrschaftsaufgaben Betrauten nur auf Zeit beauftragt sind und dass ihr eigenes Tun wie das der von ihnen zu beauftragenden Einrichtungen kontrollierbar sein müssen. Beides soll bewirken, dass die Herrschaftsverhältnisse nicht zementiert werden, vielmehr ein Wettbewerb um die Ausübung von Herrschaft gewährleistet ist. Das Modell der Willensbildung nach den Intentionen des Grundgesetzes lässt eine Systematik für die Darstellung des Regierungssystems zu, die zwischen unmittelbaren und mittelbaren Formen der Willensbildung unterscheidet. Geht es bei den erstgenannten um die Teilnahme an der Meinungsbildung, um die Willensbildung in Verbänden und Parteien sowie um die Beteiligung an Wahlen, handelt es sich bei letzteren um den engeren Bereich der Repräsentation, in deren Zentrum das Parlament, die Regierung und die von ihnen beauftragten, beaufsichtigten und kontrollierten Vollzugsorgane stehen. Dabei sei von vornherein auf einschränkende Bedingungen des vorgetragenen Modells der politischen Willensbildung verwiesen. Es enthält empirische und normative Elemente. Damit taugt es sowohl zur Erfassung einer konkreten Wirklichkeit als auch zur kritischen Auseinandersetzung mit ihr. Eine historisch orientierte Kritik in diesem Sinne stellt in den Mittelpunkt ihrer Analyse, dass das Modell des Bonner Grundgesetzes dem des frühen 19. Jahrhunderts entspricht. Die ursprünglich bürgerliche Demokratie habe damals das Modell übernehmen können, weil seine Verfechter von einer Interessenhomogenität der bürgerlichen Schicht, von relativ geringen Ansprüchen dieser Schicht an den Staat und deshalb auch von einem begrenzten Anspruch auf Beteiligung an der Willensbildung ausgegangen seien. Praktisch gäbe es seither nur eine eher formale Demokratie. In ihr trete das Volk in der Wahl die ihm theoretisch zustehende Gewalt an Repräsentanten ab; diese wiederum seien, schon aufgrund ihrer weitaus geringeren Zahl, dem Einfluss mächtiger Interessen zugänglich. Öffentlichkeit sei daher immer nur eingeschränkt gegeben. Eine eher systematisch angelegte Kritik konfrontiert das Modell der Willensbildung im Grundgesetz mit den realen Machtstrukturen innerhalb der deutschen Gesellschaft und mit dem Problem der zunehmenden Komplexität. Dem Modell zufolge müsste die politische Macht eng dem Volk verbunden sein. Da es aber auch andere Machtpositionen gibt und sie die politische Machtstruktur überlagern, werden sie zu einem Problem der Demokratie, gleichgültig, ob von ihnen ein übermäßiger Einfluss auf das Denken und das Konsumverhalten der Bürgerschaft oder aber auf die demokratischen Institutionen und die von ihnen vertretenen Wirtschafts- und Sozialpolitiken ausgeht. Das Komplexitätsproblem verweist demgegenüber darauf, dass Macht dem Einzelnen immer seltener mit dem Anspruch der Führung und der Führungsbefugnis gegenübertritt. Macht erscheint heute viel eher als Ver120

1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen fügungsgewalt über Sachen und Verfahren, beruht auf einer spezifischen Kenntnis, auch der Fähigkeit, Interessen zu artikulieren und umzusetzen. Mit Blick auf die programmatischen Aussagen des Grundgesetzes ist zunächst darauf zu verweisen, dass der moderne Verfassungsstaat in Deutschland in der Tradition der sog. Staatszwecklehre stand. Man bemühte sich um materiell umfassende und normativ begründete Vorstellungen, die am „Gemeinwohl" oder auch an der „Freiheit der Person" orientiert und im Blick auf die unterschiedliche historische Entwicklung des Staates leicht als ideologisch zu entlarven waren - als Ideen, die gegebenenfalls eher denen nutzten, die sie verbreiteten, als der angesprochenen Gesamtheit. Deshalb kam es im 19. Jahrhundert einerseits zur Herausbildung einer Theorie der „relativen Staatszwecke" im deutschen Rechtspositivismus (vgl. G. Jellinek, 19052) und andererseits zum Verzicht auf die Frage nach den Staatszwecken (mitsamt der ethischen Tradition, in der sie sich stellt) zugunsten einer stärker instrumenteilen Bestimmung des Staates. Der Staat wurde hier als technischer Apparat begriffen, als Instrument der Gesellschaft, als Inhaber des Monopols physischer Gewaltsamkeit. Wenngleich sich diese Entwicklung nicht ausschließlich vollzog - C. J. Friedrich (1953) kann als Beispiel einer Staatsbestimmung aus westlicher Tradition und H. Krüger (19662) als Beispiel für eine Staatslehre, die an Hegel anknüpft und den Staat als Verwirklichung eines sittlichen Prinzips begreift, angeführt werden - , wird man nach 1949 in der Bundesrepublik eher von dem Bemühen sprechen können, weniger Staatslehre als vielmehr Verfassungslehre zu betreiben, mithin von allgemeinen Staatszwecklehren im älteren Verständnis Abstand zu nehmen (vgl. U. Scheuner, 1978). Diese Auffassung gilt heute nur noch eingeschränkt. Dabei wird zum einen deutlich, dass neuere materielle Entwicklungen Staatszielbestimmungen erneut in den Vordergrund der Diskussion haben rücken lassen, zum anderen, dass der Prozess der deutschen Vereinigung das Grundgesetz wieder einer umfassenderen Auseinandersetzung unterworfen hat. Hier wird im Rückgriff auf bereits früher geführte Diskussionen deutlich, dass bei den Verfassungsprinzipien (wie dem Rechtsstaatsprinzip) der Bezug auf die Zukunft nicht entscheidend ist, man sie sich eher als Beurteilungsmaßstäbe von besonderem Rang denken muss, während es sich bei Staatszielbestimmungen um solche handelt, „die einen dynamischen Zug tragen, die auf künftig noch zu gestaltende Fragen hinweisen und der staatlichen Aktivität weniger Grenzen ziehen als vielmehr die Richtung weisen. Das gilt vom Sozialstaatsprinzip, das in seiner Bestimmung auf staatliche Aktivität zur Förderung sozial schwächerer Kreise, auf Ausgestaltung egalitärer und vorsorgender Bestrebungen der Gemeinschaft hinweist [...] Auch die in Art. 109 Abs. 4 G G eingeführte Aufgabe der Erhaltung eines .gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts' enthält eine Zielbestimmung. [...] Sie gewährt dem Staat die bislang zwar angenommene, aber nicht festgelegte Ermächtigung zu globaler wirtschaftlicher Lenkung [...] Damit wird aber zugleich die Aufgabe der Konjunktursteuerung, die zu einem zentralen Gebiet staatlicher Politik wurde, ausdrücklich aufgetragen" (U. Scheuner, 1978, S. 337). Hinzu treten Staatsziele wie die des Umweltschutzes, wobei freilich auch deutlich wird, dass man sich leicht über ein abstraktes Ziel, aber nur schwer über eine konkrete Politik verständigen kann. Auch ist zu berücksichtigen, dass eine Verfassung, die nicht nur den demokratischen Prozess regelt und Legitimation durch Verfahren gewährleistet, sondern auch inhaltliche Festlegungen oder Andeutungen enthält, in der Gefahr steht, solche inhaltlichen Aussagen zum Gegenstand des Streites werden zu lassen und damit den Verfassungskonsens zu gefährden. Somit enthält das Grundgesetz auf der einen Seite - vereinfacht - Verfahrensregeln, und der Verfassungskonsens besteht im engeren Sinne darin, dass diese Regeln akzeptiert werden und die Beteiligten darauf verzichten, Gewalt anzuwenden, sollten sie ihre Ziele nicht 121

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung erfüllt sehen. Auf der anderen Seite kann man auch von einem eher programmatisch-inhaltlichen Teil des Grundgesetzes sprechen, der sich auf die Grundrechte und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen der Menschenwürde, der Grundwerte, der Verfassungsprinzipien, Verfassungsaufträge und Staatszielbestimmungen richtet. Mit ihnen verbinden sich andere Anforderungen an den Verfassungskonsens, weil es jetzt nicht mehr nur um ein „Wie" (der Willensbildung), sondern auch um ein „Was" (als inhaltliche Ausrichtung) geht. Solche inhaltlichen Festlegungen können einerseits entlasten, weil dann eben schon entschieden ist, sie können vielfach aber auch belasten, wenn sich der politische Streit über das, was geschehen soll, in einen Streit über die Verfassung verwandelt. Deshalb ist ein eher „mittlerer" Weg zu suchen, auf dem man einerseits in den Genuss der „Entlastung" kommt, der andererseits aber auch eine zureichende Offenheit für künftige Entwicklungen und für sich ändernde Auffassungen der Mehrheit bewahrt. Schließlich ist auf einen grundlegenden Widerspruch zwischen dem Verfahrensteil und dem Programmteil der Verfassung zu verweisen. Zum Verfahren gehört die Möglichkeit des Wechsels, die Chance der Minderheit, selbst zur Mehrheit zu werden und dann die Dinge im eigenen Sinne zu gestalten - unter Einschluss der Möglichkeit, konstitutive Akte wieder rückgängig zu machen oder neue konstitutive Akte zu beschließen. Im Programmteil geht es dagegen mehr um zu erreichende Ziele, auf die hin einzelne Schritte, nicht aber gezielte Rückschritte möglich sind. Im Ergebnis steht man deshalb vor dem Dilemma, entweder mit dem Verfahren zugleich möglichst viele Grundentscheidungen offen zu halten oder aber Grundentscheidungen der Disposition zu entziehen und damit die Offenheit des Verfahrens zu beeinträchtigen. So ist in der Bundesrepublik immer wieder behauptet worden, die „soziale Marktwirtschaft" gehöre wesensmäßig zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und sei verfassungsmäßig gewährleistet. Das Grundgesetz hält sich aber in dieser Frage offen, lässt die Vergesellschaftung von Eigentum prinzipiell zu. Vor diesem Hintergrund beruht das hier vorzutragende pragmatische Verfassungsverständnis in der Hauptsache auf zwei Erwägungen. Die eine bezieht sich auf diejenigen Teile der Verfassung, die ein Organisations- und Verfahrensmuster entwerfen, nach dem sich der Prozess der politischen Willensbildung vollziehen soll. Unbeschadet aller weiterreichenden theoretischen Überlegungen erscheint es dabei plausibel, dass jenes Muster nicht nach Art der Ziviloder Strafprozessordnung verbindliche Verfahrensvorschriften setzt und damit den Verhaltensspielraum aller Beteiligten grob umschreibt, sondern einen Rahmen bildet, innerhalb dessen unterschiedliche Verfahrensausprägungen, Formen der Kommunikation und Interaktion sowie Macht- und Initiativkonstellationen möglich sind. In diesem Sinne setzt die Verfassung Organe in Tätigkeit und gewährt Beteiligungsgarantien; sie löst die Organe aber nicht von ihren eigenen sozialen Voraussetzungen ab, hält sich also durchaus offen für veränderte soziale Konstellationen. Deshalb muss man das Grundgesetz daraufhin befragen, ob seine Organisationsbestimmungen entweder von der Praxis unterlaufen werden oder einer sinnvollen Weiterentwicklung im Wege stehen. Die Frage bezieht sich damit auf die dem Grundgesetz innewohnende Elastizität oder besser: seine Anpassungsfähigkeit. Sie kann sich darin erweisen, dass der verfassungsmäßig entwickelte Organisationsrahmen nicht Schaden erleidet, wenn Kräfte, die die Verfassung nicht anspricht, sich am Willensbildungsprozess beteiligen. Elastizität kann aber auch den Interpretationsspielraum meinen, den eine Verfassungsbestimmung bewirkt und der dazu führt, dass sich die übliche Interpretation mit den sozialen Voraussetzungen ändert. So verstanden enthält die Verfassung zwingende, aber nicht unbedingt konkrete Vorschriften, und es erscheint plausibel, nicht von einer notwendigen Konfrontation oder Spannung zwischen Norm und Wirklichkeit auszugehen, sondern von einem Wechselverhältnis, wobei sich auch die Verfassung offen hält für ein sich änderndes Denken.

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1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen Eine zweite Erwägung geht von der Einsicht aus, dass eine demokratische Verfassung die Voraussetzung schafft für alternative politische Programme, für die mit ihnen verbundenen politischen Auseinandersetzungen, für die sie immer wieder beendenden Wahlentscheidungen sowie für den sich anschließenden Vollzug. Das Grundgesetz, die Verfassung, kann deshalb nicht selbst Programm sein; was sich an programmatischen Aussagen findet, erweist sich gleichzeitig als Interpretationsanlass wie als Interpretationsgrundlage. Der vom Grundgesetz proklamierte Rechtsstaat bedarf trotz seiner traditionellen Ausprägung einer immer neuen Konkretisierung auf die sich verändernden sozialen Voraussetzungen hin. Auch in dem vom Grundgesetz angesprochenen Sozialstaat liegt noch keine konkrete Realität, wohl aber eine Legitimationsgrundlage für diejenigen, die sich um ein Programm bemühen, das ihren Vorstellungen vom Sozialstaat entspricht. Gerade hier aber erweist sich die Interpretationsfahigkeit der Verfassung als Voraussetzung der Wandlungsfähigkeit des politisch-gesellschaftlichen Systems. Weil das Grundgesetz fraglos auch Aufforderungen enthält, geht es über eine bloße Summation von Organisations- und Rahmenvorschriften, innerhalb derer beliebiger politischer Wille entstehen kann, hinaus. Es deutet zumindest seinen Weg an und benennt für ihn eine Reihe von Wertvorstellungen. Auf sie müsste sich der Minimalkonsens beziehen. Im Ergebnis wirkt so die Sozialstaatsklausel nicht als verbindlicher Maßstab, wohl aber als Aufforderung, sich um entsprechende Maßstäbe und ihre Einlösung zu bemühen. Von einem solchen eher pragmatischen Verfassungsverständnis aus lässt sich dann auch die Notwendigkeit und die Reichweite eines Verfassungskonsenses bestimmen. Er lässt sich zunächst begreifen als Minimalkonsens, der sich - wie ausgeführt - insgesamt auf die Regeln des demokratischen Prozesses, d. h. insbesondere auf die Anerkennung der Mehrheitsregel und auf die des staatlichen Gewaltmonopols bezieht. Dem Minimalkonsens wird man die uninterpretierte Achtung der Menschenwürde hinzurechnen, von der her Art. 1 G G den Staat begreift. Während sich der Minimalkonsens im Prinzip auf die Akzeptanz des Verfahrens bezieht, zu dem Beschränkungen der Mehrheitsherrschaft durch das Grundgesetz gehören, umfasst jeder darüber hinausgehende Anspruch auf Konsens auch Inhaltlich-Programmatisches. In diesem Sinne ist das Grundgesetz nach Ulrich Scheuner ein „verbindlicher Entwurf gemeinsamer Entwicklung" und der Konsens darüber trägt „den Staat und seine Organe" (zustimmend E. Benda, u.a. 19942, S. 1338). Das Konsensproblem bezieht sich damit einerseits auf „Werte" und ihre Rolle in der Politik und andererseits auf inhaltliche Festlegungen oder doch Zielvorgaben. Die Notwendigkeit eines Konsenses sei schließlich noch einmal verdeutlicht am Beispiel zweier zentraler Verfassungsprinzipien. So ist die Bundesrepublik gemäß Art. 20 Abs. 1 G G ein demokratischer und sozialer Bundesstaat, und das Grundgesetz selbst ist gemäß Art. 28 Abs. 1 G G nach den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates entstanden und anzuwenden. Dabei ist auf die Eindeutigkeiten, aber auch auf die Uneindeutigkeiten des Begriffes „sozialer Rechtsstaat" wenigstens soweit zu verweisen, dass daraus einerseits Probleme der Verfassungsinterpretation und des Konsenses, andererseits aber auch Probleme der deutschen politischen und damit auch der Verfassungstradition verständlich werden oder doch zumindest in den hier gegebenen gedanklichen Zusammenhang einzuordnen sind. Mit dem Rechtsstaat und der Auseinandersetzung über ihn erfolgte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die gedankliche und tatsächliche Abkehr vom Verwaltungsstaat des Absolutismus (Polizeistaat im damaligen Sinne) und die Zuwendung zum liberalen Verfassungsstaat. Beide wurzelten in der Aufklärung und wurden entsprechend mit rationalistischen Argumenten begründet. Der grundlegende Unterschied bestand darin, dass der alte Polizei-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Staat von der Autonomie des Ganzen ausging, aus ihm einen gleichsam kollektivistischen Auftrag der Sorge für die „Wohlfahrt" ableitete und um seinetwillen einen zentral zu lenkenden Machtapparat aufbaute, während der Rechtsstaat begrifflich an die Staatszwecklehren anknüpfte, von der Autonomie des Individuums ausging und demzufolge die Autonomie des Ganzen auf ein Minimum zu beschränken suchte. Die unmittelbar formenden Wirkungen des Rechtsstaatsprinzips wirken sich nun überall dort aus, wo klare Entscheidungen zu treffen sind. Die weitgehende Überprüfbarkeit von Verwaltungsakten sei dafür als ein Beispiel genannt. Das Beispiel steht auch dafür, dass der Rechtsstaat des Grundgesetzes weniger demokratische Beteiligung und mehr den Schutz des Individuums gewährleistet und dass der Rechtsstaat zu einer besonderen Form der Demokratie führt. Die rechtsstaatliche Demokratie erkennt die Mehrheitsregeln nur unter der Voraussetzung an, dass der Mehrheit vorher vereinbarte Grenzen gezogen sind. Im Grundgesetz ergeben sich diese Grenzen aus den Grundrechten, aus der notwendigen Einhaltung der Rechtsform und aus der Überprüfbarkeit von Mehrheitsentscheidungen, die durchaus dazu führen kann, dass sich durch einen Senat des Bundesverfassungsgerichts im konkreten Zusammenhang eine andere Auffassung von Gerechtigkeit durchsetzt. Dabei stehen „Formen" im Vordergrund; „Inhalte" kommen aber über die Grundrechte hinzu und geben deren Interpretation besondere Bedeutung. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes tritt uns somit relativ eindeutig in Fragen der Form des politischen Prozesses und der Beteiligung Einzelner gegenüber. Er tritt uns weiter berechenbar dort gegenüber, wo er der Mehrheitsherrschaft Grenzen setzt. Viel undeutlicher wird er in seiner materialen Erscheinung: Die Verfassung vermag Gerechtigkeit anzusprechen, sie muss aber auch respektieren, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit gibt und dass zwischen ihnen immer wieder ein Ausgleich zu suchen ist. Der Sozialstaat bereitet noch größere Probleme. Auch er ist zunächst historisch zu verstehen. Das Leitbild eines „bürgerlichen" Rechtsstaates im Sinne des 19. Jahrhunderts sollte 1949 abgelöst werden durch eine Verpflichtung des Staates, auf die Entwicklung der Gesellschaft im Sinne eines sozialen Ausgleichs, einer sozialen Sicherung und der „Freiheit von Not" (als Voraussetzung von Freiheit) steuernd einzuwirken. Die berufenen Verfassungsinterpreten konnten damit zunächst bemerkenswert wenig anfangen; in den Parteien diskutierte man über den Sozialstaat als das Gegenüber des Wohlfahrtsstaates (vgl. dazu H. H. Hartwich, 19772). Erst im Laufe der Zeit wurde die „Sozialstaatsklausel" zunehmend aufgewertet, allerdings eher im Sinne eines Formelkompromisses, unter dem sich bis heute höchst unterschiedliche, ja gegensätzliche Vorstellungen verbergen. Der Sozialstaat des Grundgesetzes ist also nicht definiert; die Sozialstaatsklausel deutet nur vergleichsweise vage eine Richtung an; allenfalls die Verbindung von Rechts- und Sozialstaat präzisiert stärker, weil sich aus ihr ergibt, dass soziale Ansprüche an den Staat „rechtens" sind, niemand also um ihre Erfüllung bitten muss. Deshalb auch betont Ernst Benda die Offenheit des Verfassungsbegriffes und meint: „Die Sozialstaatsklausel bescheinigt der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung nicht ihre immanente Gerechtigkeit. Sie ist aber auch nicht als eine polemische Kampfansage gegen diese Ordnung zu verstehen" (19942, S. 766). Mit dem Gegenüber von Rechts- und Sozialstaat geht es also nicht um eine unaufhebbare Antinomie (E. Forsthoff 1968), getragen von der Sorge, die Formel vom sozialen Rechtsstaat verkleinere den Rechtsstaat adjektivisch. Im Grundgesetz findet sich vielmehr ein Prinzip, das höchst unterschiedliche Deutungen zulässt und die politische Auseinandersetzung über Art und Umfang etwa der Sozialpolitik keinesfalls erübrigt.

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1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen 1.2. Repräsentationssystem und Demokratieverständnis Die Bundesrepublik Deutschland ist nach der soeben beschriebenen Verfassungsordnung und nach der bisherigen Praxis repräsentative Demokratie. Die Möglichkeiten der politischen Beteiligung sind überwiegend formal geregelt: im Wahlrecht, in den Gemeindeordnungen (die Bürgerbegehren, Bürgerentscheid und Bürgerversammlungen vorsehen), in den Landesverfassungen (die den Volksentscheid kennen), in Partei- und Verbandssatzungen sowie in zahlreichen Schutzrechten. Zu positiver Gestaltung sind in erster Linie diejenigen befähigt, die andere als Mandatsträger repräsentieren oder zur jeweiligen Exekutive gehören. Auf sie können die Bürger Einfluss nehmen. Die Einflussnahme erfolgt dann meist über Parteien oder Verbände und damit in geregelten Formen. Spontane Aktivitäten oder weniger formalisierte Einflussnahmen, etwa in Form von Bürgerinitiativen, haben in den vergangenen Jahren zwar an Gewicht gewonnen, dabei aber auch sichtbar gemacht, wie stark in der deutschen Demokratie die repräsentativen Komponenten sind, wie wenig man dem Bürger unmittelbar anvertraut und - man denke an die gleichsam ängstlichen Reaktionen im Parlamentarischen Rat - auch „vertraut". Eine konsequent repräsentative Demokratie schließt unmittelbare Partizipation nicht aus, bedarf ihrer aber nicht unbedingt. Deshalb erscheint es zunächst folgerichtig, wenn Partizipation im formalen (Zugehörigkeit zu Vereinigungen) wie im materiellen Sinne (Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen) dort besonders intensiv erfolgt, wo soziale und ökonomische Interessen vertreten werden. Wo man sich an das politische System wendet, fehlt es nicht an Engagement; wo man in ihm mitwirken kann, finden sich schon deutlich weniger Engagierte, und diese müssen sich, soweit sie nicht selbst Repräsentanten sind, auch eingestehen, dass die Dinge im Zweifel ohne aktive Beteiligung funktionsfähig bleiben. Unter Beteiligungsaspekten bietet das demokratische System der Bundesrepublik vergleichsweise wenig an. Dem Prozess der politischen Willensbildung ist der Rückgriff auf bürgerliche Spontaneität fremd. Er stützt und verlässt sich auf die verbindlich organisierte Informationsverarbeitung und Entscheidung, eine mit Blick auf die gebrochene deutsche Geschichte allerdings nicht gering zu schätzende Aussage. Die Schwierigkeiten, in die deutsche Demokratie neben den rechtsstaatlichen auch ausreichend partizipatorische Elemente zu integrieren, sind zum Teil auch damit zu erklären, dass die deutsche Verfassungsentwicklung lange Zeit von einem Dualismus von Staat und Gesellschaft geprägt war, der eher zu klaren Rechtsbeziehungen als zur (im Sinne der Volkssouveränität selbstverständlichen) Beherrschung des Staates durch die Gesellschaft oder ihre jeweiligen Mehrheiten führte. Der eigenständige Staat deutscher Tradition bedarf offenbar einer besonderen Konstruktion. In ihr erhält das Recht eine spezifische Funktion; Form und Inhalt der Mehrheitsherrschaft komplizieren sich (vgl. zum Folgenden bereits Th. Ellwein, 1954 und 1976). Den Hintergrund jenes Staatsdenkens bildet historisch die absolute Monarchie und die mit ihr verbundene weitgehende Auflösung genossenschaftlicher Elemente im Gemeinwesen. Beide setzten soziale und ökonomische Veränderungen ebenso voraus wie die Verdrängung des alten Volksrechts durch römisches und durch „gesetztes" Recht. Auf der Basis des neuen Rechts, das überwiegend durch Willensakt der politischen Herrschaft zustande kam, ohne in seiner Gültigkeit von der Zustimmung der Rechtsgenossen abhängig zu sein, entstand der „Flächenstaat" mit einheitlicher Untertanenschaft und einem Monarchen, der selbst außerhalb des Rechtes stand, zugleich aber alleiniger Gesetzgeber war (vgl. O. Brunner, 19595, und die Zusammenstellungen von H. H. Hofmann, 1967, und H. U. Wehler, 1966). Zwischen dem Monarchen und dem sich allmählich herausbildenden Staat (der Neuzeit) bestand dann längerhin Identität, vorbereitet schon im dualistischen Ständestaat,

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung in dem Fürst und Land sich gegenüberstanden, zum Fürsten aber auch derjenige Teil des Landes rechnete, in dem es keine selbständigen „Stände" gab. Die Stände repräsentierten immer nur den von ihnen beherrschten oder verwalteten Teil des Landes; der Absolutismus setzte sich in dem Maße durch, in dem es gelang, die ständischen Rechte zu vermindern und den unmittelbaren Zugriff des Fürsten - später des Staates - auf Gerichtsbarkeit, Verwaltung, Steuereinzug usw. zu ermöglichen. Dazu bedurfte es einer tragenden Idee, als die sich nicht zuletzt unter dem Einfluss der lutherischen Theologie die des Staates anbot - Friedrich Wilhelm I. von Preußen stellte auch den Fürsten unter den Staat und machte ihn zu seinem „ersten Diener". Obgleich man im 19. Jahrhundert nach Einführung der Verfassungen das monarchische Prinzip bewahrte, kam es unter diesen Verfassungen dann aber zu einer so weitgehenden Verselbständigung des Staates, der nun sogar zur eigenen Rechtspersönlichkeit, zur juristischen Person wurde, dass nach 1918 die Monarchie fast ersatzlos beseitigt werden, im Übrigen aber alles beim alten bleiben konnte. Der Staat erhielt sich als Gebilde eigener Art, sein Verhältnis zur Gesellschaft blieb jeweils näher zu bestimmen. Das ausschließlich auf den Staat bezogene Recht musste diesen Weg mitgehen (vgl. T. EllweinU. J. Hesse, 1994). Jenes Gebilde eigener Art stellte sich der Realität als juristische Person dar, die je nachdem mit hoheitlichem Anspruch oder als Fiskus dem Bürger gegenübertrat. Ihm war - so die Glaubenslehre vom liberalen und aufgabenbegrenzten Rechtsstaat - eine bestimmte Zuständigkeit immanent. Jede Kompetenzerweiterung bedurfte eines Aktes, der sich zwar als Gesetzgebung innerhalb des Staates vollzog, bei dem sich aber über das Parlament eine Begegnung zwischen eben diesem Staat und der Gesellschaft ereignete. Letztere hat damit den Staat nie okkupiert. Auch als es zur parlamentarischen Demokratie kam, ging es nicht darum, dass nun die Mehrheit über die gemeinsamen Einrichtungen bestimmen und Politik festlegen sollte. Man meinte vielmehr weithin, an der alten Auffassung festhalten zu können, dass Mehrheitsherrschaft begrenzt sei, dass es einen eigenen Bereich des Staates gebe und der Staat gefahrlich, ihm gegenüber mithin Abwehr geboten sei. Ein wesentlicher Teil der Rechte des Bürgers, viele Grundrechte eingeschlossen, stellt sich deshalb als Abwehrrecht, nicht als Beteiligungs-, geschweige denn Herrschaftsrecht dar. Bis zu einem gewissen Grade kann man auch diesen Staat instrumentalisieren. Man kann ihn nüchtern als eine „Funktion" der Gesellschaft darstellen, man kann ihm abverlangen so Rudolf Smend - , dass er eine Form sein soll, in der sich die Gesellschaft integriert. Eine solche Erörterung sieht sich aber durch die im 19. Jahrhundert vorherrschende Auffassung behindert, nach der der Staat als eigenständige Größe neben der Gesellschaft mit einer eigenen Wertewelt verbunden sei. Er stelle - so Hegel - die Wirklichkeit der sittlichen Idee dar, er sei - so durchgängig die nationalliberale Vorstellung - ein „Mysterium", ein kostbares, gegen die Gesellschaft zu schützendes Gut. Die Gesellschaft verfügt nach dieser Sichtweise nicht über eigene Wertbezüge, sie erscheint als Summe individueller Egoismen und Parteilichkeiten. Der Staat verkörpert dagegen in jedem Beamten das Allgemeine. An Amtstüren hing denn auch der Hinweis auf den „Parteiverkehr", und Politik stellte sich noch nach dem Zweiten Weltkrieg manchem als ein Nebeneinander von „Staatskunst" und „Parteipolitik" dar, wobei, wer Staatskunst betreibt, „den Standpunkt eines über den Parteien stehenden Richters" einnimmt (H. Helfritz, 1949, S. 29). Im historischen Kontext, so lässt sich zusammenfassen, ging mit dem Entstehen des Dualismus von Staat und Gesellschaft - also seit dem 18. Jahrhundert - die Einheit der früheren societas civilis verloren. Für diese galt ein eindeutiges Primat des Politischen (vgl. W. Conze, 19663). Im Dualismus verlagerte sich die Politik auf den Staat, die bürgerliche Gesellschaft wurde vornehmlich von der Wirtschaft her verstanden. Zwischen dem einen und dem ande126

1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen ren Part musste es immer wieder zum Ausgleich kommen - ein Postulat, an dem sich etwa der Innenpolitiker Bismarck recht eindeutig orientierte und um dessentwillen er die Politik des do ut des zum System erhob. Die Werthaftigkeit des Staates bedeutete einen Teil des Ausgleichs, denn - so Niklas Luhmann - dem dualistischen Denken lag „der Eindruck der Unvollständigkeit des neuen bürgerlich-ökonomischen Gesellschaftskonzepts" zugrunde. „Der Staat hatte seine Einheit als Gegensatz und als Kompensation der Gesellschaft. Seine Identität bedurfte keiner weiteren Reflexion. Bei Bedarf griff man, auch im 19. Jahrhundert, auf die ethisch-politische Tradition zurück." Im Übrigen fehle aber der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft für „die Einheit des so Differenzierten ein Begriff. Diese Überlegung erzwingt die Rückkehr zu einer Theorie des umfassenden Gesellschaftssystems, das den Staat nicht außer sich, sondern in sich hat" {N. Luhmann, 1973, S. Iff. und S. 165ff., hier S. 5). Der von der Gesellschaft abgehobene Staat, in dem wir dem Begriff nach leben, wird nun unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten zum Problem. Zwei seien hier wenigstens angedeutet. Zum ersten kann man diesen Staat historisch-politisch höchst gegensätzlich bewerten: Für die einen handelt es sich um einen „Trick", mit dem der monarchische Obrigkeitsstaat sich zwar der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert zugewandt, ja sogar sich selbst in einen „Verfassungsstaat" umgewandelt hat, dabei aber die volle Macht des Fürsten und mit ihm der Repräsentanten des Staates - Aristokratie, Militär und Beamtentum - bewahrte. Der überparteiliche, angeblich keiner besonderen Gruppe besonders verbundene Staat deshalb gab es in Deutschland lange Zeit einen Antiparteienaffekt und eine Verbändephobie - konnte tatsächlich sein „Innenleben" relativ rechtsfrei gestalten und damit dem gesellschaftlichen Zugriff entziehen (vgl. H. H. Rupp, 1965), er konnte zudem Verwaltungsmacht kontinuierlich entwickeln und sich zugleich unentbehrlich machen. Nur in seinen Außenbeziehungen, zum Bürger hin, gab es eingeschränkte Mitwirkungsrechte. Selbst der Gegensatz zwischen Staats- und Selbstverwaltung erweist sich in dieser Sichtweise als ein nur kleines Stück Beteiligung, die man der Gesellschaft zwar gewährt, aber doch eng mit der Sphäre des Staates verbindet. Der Dualismus ist somit obrigkeitsstaatlich geprägt und demokratiefremd, er zementiert zudem „Klassengegensätze". Die Kritiker jedenfalls wandten sich nach 1945 vom Staat zunächst einmal ab (vgl. dazu die Kontroverse zwischen W. Hennis und J. Habermas, 1979). Für eine andere Denkrichtung stellt sich die Kontinuität der Entwicklung, in der die absolute durch die konstitutionelle Monarchie und diese durch die parlamentarische Demokratie abgelöst wird, insofern positiv dar, als es dabei zunehmend zu einer Verrechtlichung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat kam und sich damit das bürgerliche Prinzip der Berechenbarkeit des öffentlichen Bereichs durchsetzte (vgl. E. Forsthoff, 1968). Tatsächlich ermöglichten der Dualismus und die ihm zugrunde liegende Abwehrhaltung den Ausbau der Grundrechte, des Rechtsschutzes, der Legalisierung der Staatstätigkeit und damit deren (richterliche) Nachprüfbarkeit. Das alles bedeutete nicht Selbstherrschaft des Volkes - auf sie hat der deutsche Liberalismus nach 1848 verzichtet - , wohl aber Schutz. Der Rechtsstaat wird allerdings in spezifischer Weise zu einer Veranstaltung von Juristen. Seine potentielle Entartung zu einem Justizstaat ist dort angelegt, wo nicht nur überprüft wird, ob die Verwaltung sich an das Gesetz oder der Gesetzgeber sich an die Verfassung gehalten haben, es vielmehr auch um die Deutung pauschaler, per se mehrdeutiger Begriffe geht. Doch auch ohne Entartung: Rechtsstaatliche Demokratie meint Begrenzung der Mehrheitsherrschaft und führt somit notwendigerweise zu einem Übergewicht repräsentativer Elemente im politischen Prozess. Wendet man das Ergebnis der bisherigen Ausführungen erneut ins Pragmatische, so hat sich in der Bundesrepublik eine der möglichen Formen von Demokratie entwickelt. Sie steht im 127

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Widerspruch zu mancher normativen Demokratietheorie; die empirisch vorfindbare Demokratie kann keiner (normativen) Demokratietheorie entsprechen, sondern bestenfalls Elemente verschiedener Theorien in sich aufnehmen. Damit bleibt die Weiterentwicklung der Demokratie streitig. Politische Auseinandersetzung ist oft auch von unterschiedlichen Theorien geprägt, denen man sich nicht gleichzeitig annähern kann. Dabei wird man wohl in der Hauptsache unterscheiden können zwischen denen, die die Macht der Mehrheit und damit die Zuständigkeit des Staates eher begrenzen wollen (und die damit in der Dualismustradition stehen), und denen, die den Zugriff der Politik zu vergrößern suchen und die kollektiven, nicht individuellen Formen politischer Willensbildung auch auf bisher nicht unmittelbar von der Politik erfasste Lebensbereiche anzuwenden suchen. Vereinfacht wurde diese Auseinandersetzung in den 1970er Jahren auf den Begriff der Demokratisierung gebracht. Hiervon oft nicht klar unterschieden, richtet sich eine andere Auseinandersetzung auf die demokratisch adäquate Beteiligung, also darauf, inwieweit in der Demokratie neben ihrer unvermeidlichen und nicht umstrittenen repräsentativen Komponente die Möglichkeit der unmittelbaren Beteiligung, die gesonderte Beteiligung unmittelbar Betroffener also, reichen sollte. Wieder kann man dabei tendenziell zwei Richtungen unterscheiden, von denen die eine oft in Erinnerung an die Erfahrungen der Weimarer Republik eher die repräsentative Demokratie festigen, die andere hingegen zusätzliche Elemente plebiszitärer und unmittelbarer Demokratie durchsetzen will. Dabei wird erneut deutlich, dass es nicht „eine" Demokratie, vielmehr bestenfalls eine Verständigung darüber gibt, den eigenen Weg im vereinbarten Rahmen zu beschreiten. Inwieweit dabei der Konsens der Demokraten in der nun vereinigten Bundesrepublik reicht, vermag niemand zu beantworten; daher erscheint auch die immer wieder vertretene These nicht abwegig, die Demokratie in der Bundesrepublik lebe mehr von ihren Institutionen und Verfahren als von dem sie tragenden Konsens. Sie existiere, weil (und solange) sie funktioniert und leistet, was man von ihr erwartet - und dies ist in der Tat, auch im internationalen Vergleich, sehr viel. Träfe diese These zu, signalisierte dies allerdings eine latente Gefährdung, wenn der Erwartungsdruck zu groß wird oder die Leistungen nachlassen, was viele als notwendige Konsequenz einer inkrementalistischen Politik sehen, die in ihren kleinen Schritten die großen Veränderungen übersieht und sich nicht auf sie einstellt. Demokratische Politik - erst recht im wiedervereinigten Deutschland - bewegte sich dann in der Spannung zwischen einem Inkrementalismus, für den allein der manifeste Konsens einer großen Mehrheit zu beschaffen ist, und der Notwendigkeit einer möglichst großen Beteiligung möglichst vieler, aus der die Politik sowohl die Sensibilität für größere Veränderungen als auch die Zustimmung für Entscheidungen und Maßnahmen gewinnen muss, mit denen man auf Veränderungen angemessen zu reagieren vermag. Wie viel Beteiligung die Demokratie dabei benötigt, um die angesprochene Sensibilität und den Konsens zu gewährleisten, bleibt weitgehend ungeklärt. Zwar kann die repräsentative Demokratie im täglichen Geschäft ohne größere Beteiligung auskommen, längerfristig führt dies allerdings zu Gefährdungen. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass die überwiegend repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Beteiligungsmöglichkeiten zumeist nur im Rahmen verfasster Beziehungen bietet. Man muss eine prinzipielle Vorentscheidung treffen, muss Mitglied etwa einer Partei werden, Satzungen respektieren, formale und informelle Kontakte pflegen, muss sich „binden" oder doch erklären. Vereinfacht: Die repräsentative Demokratie erschwert dem Gelegenheitspolitiker das Leben und begünstigt denjenigen, der eine politische Rolle übernimmt. Sie legt insgesamt auf dem Weg zur Beteiligung zwar kaum Hindernisse, sie verlangt aber, dass man ihn entschieden beschreitet. Die repräsentative Demokratie bedeutet somit weithin Verzicht auf die Mithilfe derer, die allenfalls gelegentlich aktiv sein 128

1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen wollen - und damit auch auf spontane Kreativität. Ihr Merkmal ist die Organisation. Die Bundesrepublik lässt sich daher als eine (meist vorzüglich) organisierte Demokratie kennzeichnen. Auch wenn niemand weiß, wie viel Engagierte eine Demokratie benötigt, besteht doch offensichtlich ein enger Zusammenhang zwischen der Zahl der Engagierten und der Wirkungsweise des politischen Systems, jedenfalls für den, der normativ einer partizipatorischen Demokratievorstellung zuneigt und sich für Fragen interessiert, die über die allgemeine Akzeptanz des politischen Systems zumindest in folgender Weise hinausreichen: Je geringer die Zahl der Beteiligten, desto geringer die Außenbeziehungen des politischen Systems, desto größer die Gefahr, dass seine Angehörigen zur in-group werden und ihre sozialen Beziehungen und Erfahrungen, aus denen sie stammen, verlieren. Daraus können sich durchaus Legitimationsprobleme ergeben, die im Kern ja nur sagen, dass solche Gruppen sich der übrigen Gesellschaft nicht mehr verständlich machen können und von ihr nicht mehr „getragen" werden. Als Beispiel dafür sind etwa die Skandale um die Parteienfinanzierung anzuführen. Pragmatisch betrachtet sind solche Legitimationsprobleme als Mangel an „Blutaustausch" im politischen System zu kennzeichnen. Ein geringes Maß an Beteiligung vermindert die personelle Fluktuation in der Politik, was zu deren Erstarrung und Desensibilisierung führen kann. Dabei sei allerdings noch einmal wiederholt, dass niemand präzise zu sagen vermag, inwieweit das politische System der Bundesrepublik akzeptiert wird, wie viele Demokraten im engeren Sinne es gibt, wie weit der Konsens der Demokraten reicht und wie viel Beteiligung eine Demokratie tatsächlich benötigt. Man kann Hoffnungen und Befürchtungen äußern, kann international vergleichen und die Ergebnisse einem Plausibilitätstest unterziehen. Die Ergebnisse selbst werden nur näherungsweise zutreffen, ihre Interpretation bleibt offen.

1.3. Zur Zukunft von Staat und Verfassung Eine solche Erörterung verfassungspolitischer Grundentscheidungen findet auch Eingang in Diskussionen um die Zukunft der Verfassung des wiedervereinigten Deutschland. Dabei geht es zum einen um die Überprüfung des Grundgesetzes als Rahmen und Programm, zum anderen um Möglichkeiten, den angesprochenen eher formalen, repräsentativen Charakter des Grundgesetzes zu ergänzen (oder zu erweitern), zum dritten schließlich um Fragen des Engagements und der Apathie, einer möglichen Staatsverdrossenheit und Abkehr vom politischen System, der Bewältigung des Wertewandels und der Reaktion auf neue, zum Teil untypische Formen der politischen Willensbildung und Entscheidung. Der Einfluss des zunehmend deutlicher werdenden Europäisierungsprozesses ist jeweils mitzubedenken. Fragen zur Zukunft der Verfassung sind eingebettet in Erörterungen zur künftigen staatlichen Tätigkeit, da der Staat einmal mehr in einer Phase des Umbruchs zu stehen scheint. Blickt man auf eine Reihe aktueller Ereignisse und die sie kommentierende Literatur, wird in der Tat Skepsis deutlich: Vielfältige Funktionsmängel erscheinen als „Staatsversagen", Europäisierungsprozesse und Akzeptanzprobleme verweisen auf eine in Frage gestellte Souveränität, neue Wege der Aufgabenerfüllung führen „am Staat vorbei". Ist dies nicht Beleg dafür, dass „der Staat" zu einer überkommenen Kategorie zu werden droht, veränderte, vielleicht sogar neuen Formen der gesellschaftlichen Steuerung an Gewicht gewinnen, über-, vor-, neben- oder gar antistaatliche Orientierungen jene Ordnungs- und Integrationsleistungen ergänzen, die die nationalstaatliche Entwicklung der westlichen Industriestaaten geprägt haben?

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Mit Blick auf die Verfassung mehren sich in diesem Zusammenhang Anzeichen, die auf eine zunehmende innere Schwäche hindeuten und Zweifel an der unverminderten Fähigkeit der Verfassung zur Politikregulierung wecken. Solche Anzeichen werden allerdings meist übersehen, wenn man nur die traditionellen ordnungswahrenden Tätigkeiten des Staates in den Blick nimmt, auf die die verfassungsrechtlichen Regelungen ursprünglich bezogen waren. Sie treten aber sofort hervor, wenn auch seine modernen wohlfahrtsfördernden Aktivitäten berücksichtigt werden, die beim Entstehen der Verfassung meist noch nicht voraussehbar waren. „Zwar hat es an Versuchen, die Verfassung auf die veränderte Staatstätigkeit einzustellen, keineswegs gefehlt. Ihr begrenzter Erfolg gibt aber Grund zu der Frage, ob die Schwäche der Verfassung in diesem Bereich auf ein Anpassungsdefizit zurückgeht oder ihre Ursache womöglich darin hat, daß das Verfassungsrecht kein geeignetes Steuerungsinstrument für den Wohlfahrtsstaat darstellt und deswegen auch durch Verfassungsänderungen oder Totalrevisionen seine normative Kraft nicht in vollem Umfang wiedergewinnen kann" (D. Grimm, 1990, S. 6; ders., 2001). Unter den Veränderungen, die die Regelungskraft der Verfassung in Frage stellen, finden sich ein dem „Staatsversagen" komplementäres „Marktversagen" (nach dem der Markt nicht mehr in ausreichendem Umfang im Stande ist, den gerechten Interessenausgleich unter allen Umständen oder für jedes Gut hervorzubringen), veränderte Aufgaben der Sozialgestaltung, neue Staatsaufgaben wie die Gewährleistung umfassender Sicherheitsbedürfnisse und dazu neue Instrumente (die den präventiven Staatsaufgaben entsprechen und den klassischen regulativen Handlungsinstrumenten eher kooperative und moderative gegenüberstellen) wie durchaus auch neue Akteure, die auf die komplizierter werdende Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft verweisen. Diese eher allgemeinen Veränderungen, die sich auf das Regelungsbedürfnis, den Regelungsgegenstand und den Regelungszweck auswirken, werden zudem ergänzt durch die sich jeweils aktuell stellenden Herausforderungen, im deutschen Beispiel also jene, die sich mit dem Prozess der nationalen Vereinigung und der europäischen Integration verbinden. Die deutsche Vereinigung hat dem provisorischen Charakter des Grundgesetzes ein Ende bereitet. Der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik oder besser: der ostdeutschen Länder war dabei nicht vom Mehrheitswillen der Wähler abhängig. Er erfolgte vielmehr über Art. 23 GG a.F., der bestimmte, dass das Grundgesetz „in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt in Kraft zu setzen ist". Die Vereinigung auf diesem ursprünglich umstrittenen Weg erwies sich als politisch richtig und durchaus auch funktional, weil der Vereinigungsprozess außerordentlich beschleunigt wurde und so in der Tat nicht davon auszugehen war, dass die westdeutsche Bevölkerung die Wiedervereinigung nicht wollen sollte. Zwischenzeitlich erkennbare Politiken, eher auf einen Verfassungspatriotismus auszuweichen als den Nationalstaat in größerem Zusammenhang wiederherzustellen, erwiesen sich als überholt und nicht haltbar. Dies galt auch für den prinzipiell über Art. 146 G G eröffneten Weg (vgl. unter vielen R. Wahl, 1990), durch die verfassunggebende Gewalt des Volkes eine neue Verfassung zu schaffen. Der politische Druck, das historisch wohl einmalige Wiedervereinigungsgebot zu nutzen, erwies sich als zu groß, zudem ließen der schnelle ökonomische und soziale Verfall der Deutschen Demokratischen Republik und die damit verbundenen Wanderungsprozesse den politisch Handelnden kaum eine andere Wahl. Der sich anschließende schnelle Zerfall der Sowjetunion bestätigte diejenigen, die den Prozess mit Blick auf die Unwägbarkeiten der osteuropäischen Entwicklung beschleunigen wollten. Dabei trat erneut ein Strukturelement der bundesdeutschen Verfassung hervor, das bereits in den vorangegangenen Abschnitten skizziert wurde: das Misstrauen gegenüber plebiszitären Mehrheitsentscheidungen. So schien den meisten der ausgehandelte Verfas-

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1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen sungskonsens risikoloser als der plebiszitäre Akt durch die verfassunggebende Gewalt des Volkes. Zudem stützte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973 diesen Weg (vgl. Materialband, 1/8). Andererseits legte die Versöhnung des nationalen und des rechtsstaatlichen Prinzips mit den Forderungen des Demokratieprinzips eine Abfolge des Einsatzes von Art. 23 G G für den Beitritt und von Art. 146 G G zur Schaffung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung nahe. Eine Minderheit liberaler Staatsrechtslehrer hielt den Einsatz beider Artikel für vereinbar. Eher konservativ ausgerichtete Kräfte bevorzugten Art. 23 aber auch deshalb, um sicherzustellen, dass das Grundgesetz nicht durch völkerrechtliche Verhandlungsmacht der D D R in Frage gestellt werde. Einige fanden generell kein Interesse an der Schaffung eines gesamtdeutschen Verfassungskonsenses. Josef Isensee erklärte es sogar für einen Missbrauch, ein Verfassungsreferendum zu verlangen, wenn man keine Alternative für eine deutsche Verfassung anzubieten habe (K. v. Beyme, 1991, S. 51 f.). Der beschrittene Weg machte zudem jene Bemühungen zunichte, die eine Arbeitsgruppe „Neue Verfassung" im Auftrage des Runden Tisches unternahm (vgl. Materialband, II/8). Hier zielte man ursprünglich darauf, die Arbeiten an einem Verfassungsentwurf mit dem ursprünglich geplanten Termin für die Volkskammerwahlen in der D D R am 6. Mai 1990 zu verbinden. Der schließlich vorgelegte, aber nicht mehr mehrheitsfähige Entwurf ging vor allem im Teil der Grundrechte und bei den Staatszielbestimmungen beträchtlich über das Grundgesetz hinaus ( U. Thaysen, 1990, 2000). Während im Grundrechtsteil versucht wurde, die Vergangenheit der D D R aufzuarbeiten, sollten darüber hinaus das Recht auf Wohnung, auf Arbeit und Arbeitsförderung sowie auf „gleichen unentgeltlichen Zugang" zu den öffentlichen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen festgeschrieben werden. Die Aufforderung der Art. 4 und 5 des Einigungsvertrages, beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes zu legitimieren und weitere Verfassungsänderungen zu erörtern, führte schließlich zum Einsatz einer Verfassungskommission (vgl. Materialband, II/3-4). Diese Kommission, zusammengesetzt aus 64 Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates, nahm im Januar 1992 ihre Arbeit auf. Drei Themenbereiche standen im Mittelpunkt der Diskussion: die Anpassung des Grundgesetzes an den europäischen Rahmen, die Ausweitung plebiszitärer Elemente sowie die Aufnahme des Staatsziels „Umweltschutz". Mit Blick auf Europa ging es vor allem um das in Maastricht beschlossene kommunale Wahlrecht für EG-Bürger, das auf Gegenseitigkeit vereinbart wurde. Darüber hinaus war zu erörtern, ob die Einrichtung einer Europäischen Zentralbank eine verfassungsändernde Übertragung von nationalen Hoheitsrechten erforderte und ob nicht auch eine europäische Verteidigungsidentität entsprechende Schritte notwendig machte. Die deutsche Debatte über einen Einsatz der Bundeswehr unter UN-Kommando gehörte in diesen Zusammenhang. Die Überlegungen zur Ausweitung plebiszitärer Elemente richteten sich hingegen auf die angesprochenen Entwicklungen im deutschen Parteiensystem und die hier erkennbar werdenden Versuche, das de /acio-Monopol der Parteien im Prozess der politischen Willensbildung zu brechen. Allerdings zeigte sich schon in ersten Diskussionen, dass Forderungen nach einer Volksgesetzgebung immer ambivalent bleiben werden, zumal ein erweiterter Rückgriff auf das „Volk" nicht unbedingt bessere politische Entscheidungen mit sich bringt; gleichwohl wurde erwogen, über eine begrenzte und kontrollierte Ausweitung von Plebisziten die Parteien an ihre Rolle im Willensbildungsprozess zu erinnern. Unstrittig hingegen schien von Anfang an die Aufnahme eines Staatsziels „ Umweltschutz" in das Grundgesetz. Im Gegensatz zu den potentiellen Staatszielen „Arbeiten" und „Wohnen" stellt die Umwelt ein offensichtlich nicht regenerierbares Gut dar, bot sich also mit Blick auf kommende Generationen eine Selbstbindung der politisch Handelnden an.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag (GVK) schloss am 28.10.1993 ihre Tätigkeit ab. Im Gegensatz zu früheren Eingriffen in den Verfassungstext (hierzu zählen die Wehrverfassung 1956, die Notstandsverfassung 1968, die Reform der Finanzverfassung 1969 oder auch die Änderung des Asylrechts 1993), zielten die Vorschläge der GVK wie die der „Enquête-Kommission Verfassungsreform" im Jahr 1973 auf umfängliche Änderungen des Grundgesetzes. Die Themenpalette war ungewöhnlich groß. So wurde in den insgesamt 95 Kommissionsdrucksachen, die auf Anträge zur Änderung des Grundgesetzes zielten, deutlich, dass Art. 5 des Einigungsvertrages von vornherein nicht als eine Begrenzung des Tätigkeitsbereichs aufgefasst wurde, die Kommission vielmehr von einem Selbstbefassungsrecht ausging. Dennoch wurde das Grundgesetz keiner systematischen Revision unterzogen; eine kritische Durchsicht aller Vorschriften oder aller Abschnitte unterblieb. So groß die Zahl der Änderungsanträge auch war, so begrenzt war schließlich die Zahl der letztlich von der GVK vorgestellten Empfehlungen. Mit Blick auf die Europäische Union ergaben sich die wohl weitreichendsten Veränderungen. Den Schwerpunkt bildete hier der neue Art. 23 GG, der in Absatz 1, Satz 1 die Staatszielbestimmung eines vereinten Europas formuliert, zu dessen Verwirklichung die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirkt. Damit verbunden ist eine Struktursicherungsklausel. Sie zählt die Grundsätze auf, denen eine europäische Integrationsgemeinschaft verpflichtet sein muss. Zudem werden die Rahmenbedingungen geregelt, unter denen der Bund Hoheitsrechte auf die europäische Ebene übertragen kann. Die Mitwirkungsbefugnisse des Bundestages und der Länder werden in Absatz 2 behandelt. Absatz 3 betrifft dann ausschließlich den Bundestag, während Absatz 4 den Leitsatz hinsichtlich der Mitwirkungsrechte des Bundesrates an der Willensbildung des Bundes enthält und die Absätze 5 und 6 schließlich die Befugnisse des Bundesrates zu denjenigen der Bundesregierung in Relation setzen. Unter den weiteren europabezogenen Änderungen fanden sich das benannte Kommunalwahlrecht für EG-Ausländern (Art. 28 I 3 GG), die Einrichtung eines Unionsausschusses (Art. 45 GG), der neue Art. 50 GG, der deutlich machen sollte, dass der Bundesrat nicht nur das Organ der Länder im Bereich der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, sondern auch in Angelegenheiten der Europäischen Union ist, sowie Art. 88 Satz 2 GG, der die Errichtung eines europäischen Systems der Zentralbanken sowie einer Europäischen Zentralbank vorsieht. Weitere Schwerpunkte der Beratungen der GVK waren der Bereich der Gesetzgebungskompetenzen (mit Neufassungen für die Art. 72, 74, 75 und 93 GG), das Gesetzgebungsverfahren (Art. 76, 77 und 80 GG), der Verwaltungsaufbau (Art. 87 GG) sowie die territoriale Neugliederung (Art. 29 GG). Schließlich sprach sich die Kommission - unter Vermeidung dieses Begriffes - für eine Gleichstellung von Männern und Frauen aus und empfahl den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Auch ein einem erweiterten Minderheitenschutz geltender neuer Art. 21b wurde vorgeschlagen, während die Staatsziele Arbeit, Wohnen, soziale Sicherung und Bildung und Kultur verworfen wurden. Hier bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass soziale Staatsziele den Staat überforderten und eher den Charakter „leerer Versprechungen" anzunehmen drohen. Schließlich wurde die Erweiterung des Grundgesetzes um plebiszitäre Elemente kontrovers diskutiert. Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen wie der SPD, die sich auf die Einführung von Volksinitiative, -begehren und -entscheid richteten, wurden dabei ebenso abgelehnt wie ein Antrag auf Einführung eines fakultativen Verfassungsreferendums und auf Einführung der Anhörung von Vertretern bei Massenpetitionen durch den Petitionsausschuss. Die Abwägung des Für und Wider erbrachte auch in den Beratungen der GVK 132

1. Partizipation und Repräsentation: verfassungspolitische Grundentscheidungen keine neuen Gesichtspunkte. Nach dieser Entscheidung wird damit im Bund - im Gegensatz zu fast allen Ländern - die unmittelbare Mitwirkung des Volkes weiterhin auf den Bereich der Länderneuordnung begrenzt bleiben. Die Diskussionen im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission und die darüber hinaus erkennbaren Erörterungen zur Zukunft der Verfassung spiegeln gleichzeitig die Wahrnehmung der künftigen Rolle und Funktion des deutschen Staates wider. Sieht man von den jeweils aktuellen Ausprägungen der Diskussion ab, erweist sich, auch unter Berücksichtigung der Brüche des vergangenen Jahrhunderts, dass der deutsche Staat letztlich in einer guten Tradition steht. Sie ermöglichte 1919 den Übergang von der Monarchie in die Republik und war - obwohl sie 1933 den Weg vom Rechtsstaat in den Unrechtsstaat nicht zu verhindern vermochte - 1945 doch noch so greifbar, dass man an sie anknüpfen konnte, als in Gemeinden und Kreisen und etwas später in den Ländern das öffentliche Leben wieder seinen Anfang nahm. Ohne zu idealisieren: Im Großen und Ganzen waren der deutsche Staat und seine Gliederungen gerecht, leistungsfähig, vergleichsweise wenig korrupt und vor allem überschaubar. Die Verwaltung konzentrierte sich trotz einiger Auswüchse vorwiegend auf die allgemeine Verwaltung, die ihrerseits meist orts- und damit bürgernah arbeitete; das politische Leben entwickelte sich von unten nach oben. Sieht man von dem, was dann in der D D R geschah, einmal ab, hat die Entwicklung in der „alten" Bundesrepublik auf der einen Seite zu einer Bestätigung und Ausweitung der positiven Staatstraditionen beigetragen, auf der anderen Seite aber auch einen deutlichen Qualitätsverlust von Staat und Verwaltung bewirkt. Dieser lässt sich in einer Reihe von Stichworten zusammenfassen: Es kam zu einer Dominanz der politischen Willensbildung in Bonn, die weit über das vom Grundgesetz geforderte Maß hinausging; zu einem Auswuchern der Verwaltung, die heute kaum mehr bezahlbar erscheint; zu einer Bürokratieverflechtung, die allen Forderungen nach rationaler Verwaltung und aktiver Beteiligung Hohn spricht; zu einer bürokratischen Spezialisierung, die übergreifende Problemlösungen erschwert; zu einer Politisierung auch der unteren Ränge der Verwaltung, die qualitative und rechtsstaatliche Einbußen mit sich brachte; und schließlich zu einem deutlich sichtbaren politischen Unvermögen, die Frage danach, wie viel Staat wir brauchen, auch wirklich zu stellen und sie handlungsleitend zu beantworten. Für all das gibt es zahlreiche Erklärungen. An dieser Stelle sei lediglich eine besonders hervorzuheben (T. EllweinU. J. Hesse, 1994/1997). Die deutsche Staatstradition schließt eine bestimmte Struktur des Staatsauflaus ein gekennzeichnet etwa durch die Dreistufigkeit der Staatsverwaltung, ein eigentümliches Verhältnis zwischen Staat und Gemeinden, eine starke Verrechtlichung des öffentlichen Handelns oder auch das Nebeneinander von Beamten und Angestellten - , die sich als durchaus flexibel erwies. In ihrem Rahmen vermochte man es, zahlreiche neue Aufgaben, das ständige Wachstum der Verwaltung und die immer komplizierteren Bezüge zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu verarbeiten. Das alles führte zu umfassenden, nicht aber grundlegenden Veränderungen. Das Berufsbeamtentum hat trotz völlig veränderter Rahmenbedingungen bis heute überlebt, noch immer üben Regierungspräsidien eine Fachaufsicht aus, obwohl viele Beaufsichtigte besser qualifiziert sind als die Aufsichtsführenden, und es finden sich unverändert staatliche Genehmigungsvorbehalte bei kommunalen Entscheidungen, obwohl sich die kommunale Selbstverwaltung von Grund auf verändert hat und sehr viel eigenverantwortlicher geworden ist. Diese Liste lässt sich fast beliebig fortsetzen und belegt mit jedem Detail, dass uns die deutsche Staatstradition vor ein schwieriges Einerseits-Andererseits stellt. Einerseits war und ist die Tradition gut, weil sie umfangreiche Anpassungsprozesse von Staat und Verwaltung und damit auch immer wieder Neuerungen ermöglichte. Andererseits war sie schlecht, weil sie zur Erstarrung führte, weil die Politik fast nie die

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Kraft fand, auf umwälzende Veränderungen der ökonomischen, politischen oder sozialen Rahmenbedingungen mit Strukturreformen zu reagieren. Zu ihnen hätte eine klare Verantwortlichkeitsteilung der drei politischen Entscheidungsebenen gehört, ein drastischer Abbau heute nicht mehr zu rechtfertigender Einheitlichkeitsvorstellungen, die Flexibilisierung des öffentlichen Dienstrechts, die Beschränkung auf jene Aufgaben der öffentlichen Hand, die wirklich öffentlich sein müssen, und schließlich ein anderes Haushaltsrecht, das wirtschaftlich einheitliche Vorgänge als solche erkennt, ein konsequentes Kostendenken erlaubt - und somit Aufgaben- und Kostenverantwortung zusammenführt. Staatliche Modernisierung also als umfassende Aufgabe, die im Prinzip auch von jedermann gewollt wird. Es wird nur viel zu häufig auf die erwartbaren Schwierigkeiten, auf den Widerstand innerhalb der Verwaltung, auf die entgegenstehenden örtlichen Interessen, auf die Macht des öffentlichen Dienstes, auf die Bedeutsamkeit dessen, was hier und heute getan werden muss und ggf. durch Organisationsänderungen behindert werden könnte, verwiesen. Solche Verweise belegen, dass nicht mehr eine lebendige Tradition wirkt, sondern Erstarrung das staatliche Handeln behindert: Die Tradition wird zur Last. Alle Kritik dieser Art, so berechtigt sie auch immer sein mag, stößt aber auf eine Grenze: Sie kann nur auf weniger Staat oder einen anderen Staat zielen, nicht aber etwas anderes als den Staat wollen. Der Staat als Funktion der Gesellschaft und als politische Willensgemeinschaft, aus der Rechtsgemeinschaft erwächst, wie umgekehrt als Rechtsgemeinschaft, die zur Willensbildung befähigt, bleibt unentbehrlich. Die Institution Staat ist nicht ersetzbar, auch nicht im Rahmen einer an Bedeutung gewinnenden Europäischen Union. Warum das so ist, lässt sich auch ohne Rückgriff auf Staatstheorien vergleichsweise „einfach" erklären. Der Staat ist unentbehrlich, weil er einerseits eine bestimmte, also im Einzelnen festgelegte Ordnung gewährleistet, und andererseits für eine gewisse Stabilität sorgt. Diese Ordnung bringt die Gesellschaft im freien Wettbewerb nicht hervor; sie kann allenfalls in einer überlieferten Ordnung leben, wenn die Ordnung und die dazugehörigen Durchsetzungsmechanismen stark genug sind. Auch das gilt aber immer nur über einen begrenzten Zeitraum. Ordnung muss nicht nur vorhanden sein oder durchgesetzt werden, man muss sie auch an Entwicklungen anpassen. Staat bedeutet in diesem Sinne, dass im Rahmen einer Ordnung Ordnungsleistungen erbracht und Ordnungen der unterschiedlichsten Art legitimiert und durchgesetzt werden. Mit der Rahmenordnung sind die Verfahren festgelegt und gegebenenfalls auch die Grenzen dessen, was staatlicherseits zu ordnen ist. Aus ihr ergeben sich die Durchsetzungsbefugnisse. Das alles ist unersetzbar, weil die Gesellschaft meist nicht über ausreichende Selbstregulierungskräfte verfügt und weil geschichtliche Erfahrung zu Misstrauen gegenüber (staatlich nicht legitimierten) gesellschaftlichen Durchsetzungsmechanismen veranlasst. Sie nutzen häufig nur dem Stärkeren und erfüllen damit nicht die überhöhende Aufgabe von Ordnungen, mit Sicherheit und Gewissheit immer auch ein Stück Frieden und Freiheit zu gewährleisten. Zum anderen gehört zu den Merkmalen der modernen Gesellschaft der ständige Wandel. Dieser Wandel wird nur ertragen, wenn ein Mindestmaß an Stabilität besteht, das menschliche Zusammenleben im bestimmten Bereichen dauerhaft geordnet ist, wenn es Institutionen gibt, die diese Dauerhaftigkeit zum Ausdruck bringen. Ohne Eigentumsordnung und Vertrauen auf staatliche Gewährleistung der Altersversicherung kann es keine Lebensplanung und keine Vorsorge für die Familie geben. Ohne die Gewissheit des staatlichen Rechtsschutzes wird die Wirtschaft nicht funktionsfähig sein, wie es umgekehrt eines Mindestmaßes an Schutz gegenüber industriellen Gefährdungen bedarf. Die Entscheidung für den Staat ist nach all dem selbstverständlich. Sie erklärt allerdings noch nicht, welcher Staat gemeint ist und was man ihm abfordern sollte. Tatsächlich beginnt

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte die Diskussion erst hier. Die großen Worte, mit denen man nach 1945 den Staat neu begründete, bedürfen der theoretischen Interpretation und der praktischen Verwirklichung. Was man vom Staat, seiner Verfassung und den in ihrem Rahmen geschaffenen Ordnungen erwarten kann, ist nur, dass sie so stabil und dauerhaft wie möglich und so flexibel wie nötig sind. Der von manchen beklagte Verfassungswandel gehört so in Wahrheit zur Normalität moderner Staatlichkeit, auch und gerade im Rahmen der Europäischen Union.

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Die folgende Darstellung bürgerschaftlicher Beteiligung orientiert sich am Modell der politischen Willensbildung im Grundgesetz. Dabei wird unterschieden zwischen einer Sphäre der unmittelbaren und mittelbaren Beteiligung am Kommunikationsprozess, einer Mitwirkung in Verbänden und Parteien, schließlich der Beteiligung an politischen Wahlen. Diese Unterscheidung besagt nicht, dass Massenmedien, Verbände oder Parteien dem direkten Zugriff des Bürgers offen stehen, die Einschränkungen des Modells sind diesem von vornherein mitgegeben. Allerdings gewinnt man auf diesem Weg Fragestellungen, die die komplexe Materie und das nahezu uferlose Material strukturieren. Dabei wird von der „Organisation" der politischen Beteiligung gesprochen, um nach den eher grundlegenden Erörterungen in den vorangegangenen Kapiteln jetzt auch jene institutionellen und organisatorischen Vorkehrungen mit einzubeziehen, ohne die politische Willensbildung in demokratischen Gesellschaften nicht möglich wäre.

2.1. Meinungsbildung und Massenmedien: Erscheinungsformen deutscher Politik Menschliches Zusammenleben beruht auf Kommunikation. In entwickelten Gesellschaften tritt neben den unmittelbaren Austauschprozess zwischen Individuen die Massenkommunikation.1 Dabei setzt „sich ein großes, heterogenes Publikum relativ gleichzeitig Aussagen aus, die eine Institution durch Medien übermittelt, wobei das Publikum dem Sender unbekannt ist" (Ο. N. Larsen, 1966, S. 11; K. Merten, 1977). Die Medien sind in diesem Kontext vor allem Tageszeitungen und Zeitschriften (Printmedien) sowie Radio, Fernsehen und das Internet (elektronische Medien). Bezieht man Massenkommunikation auf politische Beteiligung, interessieren in erster Linie die aktive, auf eigener Auswahl beruhende, und die passive, stärker Einflüssen ausgesetzte Meinungsbildung des Individuums. Die erstere verbindet sich mit individuellen Merkmalen und objektiven Möglichkeiten (wie der Medienvielfalt und unterschiedlicher Berichterstattung), die letztere weithin mit der Struktur der Massenkommunikation und den Chancen, die diese Struktur Akteuren in Staat und Gesellschaft bietet. Dass es solche Akteure gibt und im Bereich der Massenkommunikation wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen die Produzentenfreiheit größer ist als die Konsumentenfreiheit, sei nur als selbstverständlich vermerkt. Für den Konsumenten ergibt sich daraus die Frage, ob ihm die Medien wenigstens die Möglichkeit zu einer relativ selbständigen Information bieten. Mit Blick auf die Produzenten ist zu fragen, ob Teileinheiten - etwa Journa-

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Vgl. hierzu die A n g a b e n etwa in der Hamburger Bibliographie, der Bibliographie von A. Silbermann, 1986, sowie aus der Fülle der z u s a m m e n f a s s e n d e n Darstellungen M. Schatz-Bergfeld, 1974; K. KoszyklK. H. Pruys, 1981; M. KaaselH.-D. Klingemann, 1989; K. Merten! S. J. Schmidt IS. Weischenberg, 1994; R. Burkhart, 1995 2 ; J. Tonnemacher, 1996; K. Berg/M.-L. Kiefer, 1996; O. JarrenlU. SarcinelW U. Saxer, 1998; M. Kaase, 1999; H. Meyn, 2001 2 ; O. Jarren/P. Dönges, 2002.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung listen - über eine ausreichend große Selbständigkeit verfügen oder ob Verleger und andere Verfügungsberechtigte ihre ökonomische Macht zu Lasten der Informationsfreiheit einzusetzen vermögen. Die grundlegende Frage zum Verhältnis von sich ständig vervielfachender Information und den Möglichkeiten wie Grenzen massenkommunikatorischer Prozesse ist dabei jeweils mitzudenken. Darüber hinaus haben die Verbreitung der Telekommunikation und der computerbasierten Kommunikationsnetzwerke die ehemals klare Trennung zwischen Massenkommunikation (verstanden als Einbahnstraße von einem Sender an viele Empfanger) und Individualkommunikation (verstanden als Zwei-Wege-Kommunikation) sukzessive verwischt (J. Wehner, 1997, S. 97). Hier werden sich die klassischen Massenmedien in Zukunft einer veränderten Kommunikationsform und -funktion stellen müssen ( M Kaase, 2002, S. 506). Da die Bundesrepublik den Weg in die „Mediengesellschaft" (O: Jarren/P. Dönges, 2002) zweifellos beschritten hat und es wohl auch richtig ist, dass der Informationsfortschritt „den letztinstanzlichen Grund für unsere sich beschleunigende zivilisatorische Evolution" darstellt (Hermann Lübbe), bedarf es weitergehender Überlegungen und konkreter Anstrengungen, will man verhindern, dass Massenkommunikation und Medienpolitik nur aus der Marktperspektive betrachtet werden, ihre kulturellen und ethischen Implikationen hingegen unberücksichtigt bleiben. 2.1.1. Rechtliche Grundlegung Das Grundgesetz garantiert Meinungsfreiheit, weil es von der Volkssouveränität und damit von der Beteiligungschance eines Jeden ausgeht. Art. 5 G G konkretisiert die Meinungsfreiheit mit Blick auf ungehinderte (passive) Unterrichtung und ungehinderte (aktive) Meinungsäußerung.1 Die Pressefreiheit und die ungehinderte Berichterstattung in Rundfunk, Film, Fernsehen und Internet sollen als Voraussetzung für beides gewährleistet sein. Von der Meinungsbildung braucht die Verfassung dagegen nicht zu sprechen; sie stellt einen politischen, sich rechtlichem Zugriff versagenden Vorgang dar. So erscheint wohl der einzelne Bürger als Adressat des Grundrechts, praktisch aber erfolgt eine Wendung gegen den Staat. Seine Organe dürfen weder zensieren noch die freie Berichterstattung behindern; Abwehr tritt in den Vordergrund. Daneben stellt sich dem Staat die Aufgabe, den Bereich der Massenkommunikation rechtlich zu ordnen. Die ökonomischen Voraussetzungen der Meinungsbildung haben den Staat dagegen nur bedingt zu interessieren, eine angesichts wachsender Unternehmensverflechtungen allerdings zu diskutierende Aussage. Gemäß Art. 5 Abs. 2 G G steht das Grundrecht der freien Meinungsäußerung in den Schranken der Gesetze, der Schutzbestimmungen für die Jugend und des Rechtes der „persönlichen Ehre". Absatz 3 berücksichtigt die Erfahrungen der Weimarer Zeit, indem er gesondert die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre gewährleistet, aber auch erklärt, die Freiheit der Lehre entbinde nicht von der Treue zur Verfassung. Insgesamt beschreibt der Artikel den Bereich der „Geistesfreiheit", die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „für das System der freiheitlichen Demokratie entscheidend wichtig ist, ja geradezu eine Voraussetzung für das Funktionieren dieser Ordnung" darstellt. Seinem Wesen nach ist das Recht auf freie Meinungsäußerung und ungehinderte Unterrichtung also als reines Abwehrrecht zu begreifen. Der Staat und seine Organe sollen nicht jeder-

2 Grundlegend W. Bauer, 1914 (Neudruck 1981), W. Martens, 1969, H. D. Jarass, 1978; eine Zusammenfassung der eher rechtswissenschaftlichen Diskussion findet sich bei W. Hoffmann-Riem, 19942 und 2003 sowie D. Grimm, 1995c. Einführungen in das Medienrecht bieten vor allem M. Paschke, 1993, H. Hege, 1995, W. Hoffmann-Riem, 1995, U. Branahl, 19962 und F. Fechner, 2003".

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte mann die Möglichkeit geben, sich öffentlich zu äußern oder sich aller Informationsmöglichkeiten zu bedienen; sie sollen nur niemanden daran hindern. Das betrifft vor allem die Meinungsäußerung: Ansprüche gegenüber Redaktionen auf Veröffentlichung von Meinungen gibt es rechtlich begründet nicht. Nur das Recht auf Gegendarstellung ist in den Landespressegesetzen geregelt; es erlaubt aber lediglich Tatsachenbehauptungen. Auch schließt etwa das Verbot der Zensur nicht aus, dass eine Selbstkontrolle stattfindet, wie sie etwa der Deutsche Presserat anstrebt. Insgesamt relativiert sich das Grundrecht aufgrund der vorhandenen Möglichkeiten, die ungleich verteilt sind. Es bietet auch keinen Schutz gegen Tendenzpublikationen, falsche Informationen oder einseitige Rundfunk- und Fernsehsendungen. Mit den angesprochenen Freiheitsrechten sind die unterschiedlichen Abhängigkeiten, die sich unbeschadet der politischen Ordnung oder auch durch sie bedingt ergeben, nur zu einem Teil eingeschränkt. Mit Blick auf die Presse enthält Art. 5 dagegen eine auch institutionelle Garantie. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer „institutionellen Sicherung der Presse als einem der Träger und Verbreiter öffentlicher Meinung" (BVerfGE 10, 121). Daraus haben die Pressegesetze der Länder gefolgert, dass der Presse - und damit auch dem Funk - ein ausgesprochenes Informationsrecht zusteht, dem umgekehrt das Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten entspricht. Bei der rechtlichen Einschränkung des Grundrechts nach Art. 5 G G stehen strafrechtliche Tatbestände oder auch Sonderbestimmungen, etwa für Beamte oder Soldaten, im Vordergrund. Zu den ersteren zählen Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung; durch das „Recht der persönlichen Ehre" können weitere hinzukommen. Ein „Indiskretionsdelikt", dem zufolge es strafrechtliche Folgen haben kann, wenn man ohne „überzeugendes öffentliches Interesse" Privatangelegenheiten coram publico erörtert, war lange im Gespräch. Komplizierter als die üblichen Delikte sind ansonsten die auf die Presse zugeschnittenen politischen Straftatbestände. Unter ihnen wurden vor allem Landesverratsfragen anlässlich der SpiegelAffäre diskutiert, die einen großen publizistischen Niederschlag fand (vgl. die Dokumentationen v o n / Seifert, 1966 und D. Schoenbaum, 1968). Neben der genannten Grundrechtsbestimmung ist das Grundgesetz außerordentlich zurückhaltend in Bezug auf den konkreten Ordnungsrahmen der Medien. Allein Art. 75 G G erlaubt es dem Bund, Rahmengesetze zum Presserecht zu erlassen. Abgesehen von einem Versuch der sozialliberalen Koalition in den 1970er Jahren, ein Rahmengesetz zur „inneren Pressefreiheit" in den Redaktionen zu verabschieden, ist dieser Verfassungsauftrag bislang unerfüllt geblieben (//. J. Kleinsteuber, 2001, S. 120). Bis heute erscheint das Verhältnis zwischen Presse und Informationsfreiheit auf der einen und Staatsschutz auf der anderen Seite diskussionswürdig. Vor allem erweist sich hier mehr noch als bei vielen anderen einschränkenden Gesetzen als problematisch, auf willkürlich interpretierbare Sammelbegriffe ausweichen zu müssen. Was eine staatsgefährdende Publikation sein soll, lässt sich kaum genau definieren. So bleibt strittig, ob das Grundrecht der Meinungsfreiheit durch die Gesetzgebung über das erforderliche Ausmaß hinaus beschränkt ist. Vielen Beispielen, die das zu belegen scheinen, stehen andere gegenüber, in denen die Justiz sich sehr offen zeigt für die Erfordernisse des Meinungsaustausche und des Meinungskampfs. Das schließt selektive Tendenzen allerdings nicht aus, nach denen sich immer höhere Schmerzensgelder einbürgern, die publizistische Auseinandersetzungen auf diejenigen beschränken, die über entsprechende Mittel verfügen. Insgesamt hat sich die Debatte über straf- und zivilrechtliche Beeinträchtigungen der Pressefreiheit in den vergangenen Jahren (zumindest mit Bezug auf die „traditionellen" Medien) etwas beruhigt, ohne dass damit jedoch die Rechtslage deutlicher geworden wäre. Der Journalist bewegt sich auf einem schmalen Grat. Dies wird er um so leichter können, je

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung mehr er sich an selbstverständliche Regeln journalistischer Arbeit hält, wie sie der Deutsche Presserat in seinen „publizistischen Grundsätzen" (Pressekodex) zusammengefasst hat. Dass sich auch solche Grundsätze auf einer mittleren Linie bewegen, Illiberalität also nicht ausschließen, versteht sich von selbst. Eine neue Kontroverse über das Verhältnis von Medien und Demokratie hat sich aus der Frage ergeben, ob die technologischen Umbrüche im Telekommunikationsbereich (Mobilfunk, Internet) und die damit verbundenen sozioökonomischen wie soziokulturellen Veränderungen die Verfahren demokratischer Willensbildung und Entscheidung beeinträchtigen oder umgekehrt dem Regierungssystem - im Zuge erweiterter Partizipationsmöglichkeiten - verstärkte zivilgesellschaftliche Legitimation verleihen. Eine positive Antwort im Sinne der letztgenannten Alternative erscheint durchaus vorstellbar, wenn das rechtliche Umfeld der „neuen Medien" so gestaltet wird, dass eine freiheitliche Kommunikationsordnung über Zugangsoffenheit, Manipulationsabwehr und Angebotsvielfalt auch weiterhin gesichert ist (IV Hoffmann-Riem, 2003, S. 223). Intensiviert hat sich die Diskussion um neue Kommunikationstechniken insofern, als die ungeregelte Verbreitung von staats- und jugendgefährdenden Publikationen den Gesetzgeber mit Blick auf die Gewährleistung der Schutzgüter des Art. 5 G G vor neue Herausforderungen stellte. Mit dem zum 1. August 1997 in Kraft getretenen „Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste" (Informationsund Kommunikationsdienstegesetz, IuKGD) wird das Ziel verfolgt, einerseits Hemmnisse „für die freie Entfaltung der Marktkräfte im Bereich der neuen Informations- und Kommunikationsdienste" zu beseitigen sowie „einheitliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen für das Angebot und die Nutzung dieser Dienste" zu gewährleisten. Mit diesem „MultimediaGesetz" erhalten andererseits die geltenden Gesetze zum Jugendschutz, zum Urheberrecht, zum Datenschutz oder zum Strafrecht auch in den Netzen Geltung. So kann ein in Deutschland ansässiges Unternehmen oder eine Privatperson nicht mehr ungestraft Daten und Informationen ins Internet einspeisen, die besonderen rechtlichen Regelungen unterliegen. Obwohl es auch weiterhin „Nischen" für Verstöße geben wird, ist damit geklärt, dass das Internet keinen rechtsfreien Raum darstellt. Der „SchriftenbegrifF" wird im Rahmen des Gesetzes auf Telekommunikationsdienste ausgeweitet, so dass der Verbreitung von jugendgefährdenden (etwa pornographischen) und staatsgefährdenden Schriften (links- wie rechtsradikalen Publikationen) stärker Einhalt geboten werden kann. Einen weiteren Schutz für Kinder und Jugendliche schafft die 1997 vom Europäischen Parlament gebilligte „Television without Frontiers"-Richtlinie, die bei unverschlüsselten Fernsehkanälen eine Kennzeichnungspflicht jugendgefährdender Sendungen während der Ausstrahlung vorsieht. Bei aller rechtlichen Problematik hat die Entwicklung der vergangenen Jahre aber auch deutlich gemacht, dass sich eine Bedrohung der Pressefreiheit - hier als Oberbegriff verwandt - eher mit ökonomischen Fragen verbindet', der Kostenentwicklung, den bereits angesprochenen Konzentrationsprozessen, den veränderten Wettbewerbsbedingungen und ihren Rückwirkungen auf die Eigentumsverhältnisse; Fragen zur Stellung des Journalisten und Redakteurs, seiner Mitbestimmung und Abhängigkeit, treten hinzu. Erwartet man vom Staat Medienpolitik (einführend Ο. B. Roegele, 19742; F. Ronneberger, 1986; H. Schatz u.a., 1990; P. Dönges u.a., 1999; H. Meyn, 20012; G. Vowe, 2001; P. Dönges, 2002), müsste sie in diese Richtungen wirken. Sie müsste die bereits angesprochene innere Pressefreiheit gewährleisten, also das Verhältnis zwischen Verlegern und Journalisten vernünftig regeln, und den Bereich der Medien insgesamt so „ordnen", dass ein vielfältiges und nicht allzu verzerrtes Angebot an Informationen und Meinungen an den Konsumenten herangetragen wird. Der inneren Pressefreiheit dienen einige Redaktionsstatute; das immer

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte wieder neu erörterte Presserechtsrahmengesetz scheiterte 1978 endgültig. Die Bundesregierung begnügte sich mit einer im Pressebereich verstärkten Fusionskontrolle, um den Konzentrationsprozess wenigstens annähernd steuern zu können. Im Übrigen geht Medienpolitik in der Bundesrepublik von der nach 1945 geschaffenen Arbeitsteilung aus, die zwischen dem privatwirtschaftlich geordneten und betriebenen Bereich der Zeitungen, Zeitschriften und sonstigen Publikationsmedien und den öffentlich-rechtlichen Funk- und Fernsehanstalten (duale Struktur) unterscheidet. Schließlich ist zu beachten, dass die Kompetenzen im Medienbereich verteilt sind - mit der Folge entsprechender Einigungszwänge zwischen den Gebietskörperschaften. Für die Ordnung des Rundfunks (Hörfunk und Fernsehen) sind nach Art. 30 und 70 G G die Länder zuständig, während der Bund, mit Ausnahme des Auslandsrundfunks, über keine Befugnis zur Regelung von Rundfunksendungen verfügt. Verfestigt wurde diese Struktur durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das im Rahmen des konkreten Streits um Adenauers Absicht (1961), einen Fernsehanbieter nach Bundesrecht zu gründen, bestätigte, dass der Rundfunk in der abschließenden Verantwortung der Länder liege (H. J. Kleinsteuber, 2001, S. 121). Auch für die neuen Medien (Kabel- und Satellitentechnik, elektronische Textkommunikation) verfügen die Länder über die grundsätzliche Regelungskompetenz. Der Bund kann hier nur tätig werden, soweit ihm nach Artikel 73 Nr. 7 G G die Befugnis zur Regelung des Fernmeldewesens zusteht. Durch die Entwicklung der neuen Medien wird diese traditionelle Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern allerdings immer stärker in Frage gestellt. Die sich abzeichnende Konvergenz, d.h. die technische Fusion der ursprünglich heterogenen Bereiche von Rundfunk und Telekommunikation, findet in dem erwähnten Informations- und Kommunikationsdienstegesetz von 1997 kaum Berücksichtigung. Vielmehr wird dort von Mediendiensten gesprochen, die sich an die Allgemeinheit richten und infolge dessen unter die Zuständigkeit der Länder fallen, sowie von Telediensten (Individualkommunikation), für die der Bund zuständig ist. Erst anlässlich der Erarbeitung des „Multimedia-Gesetzes" begann eine Diskussion über eine Neuordnung der vertikalen Kompetenzverteilung, da die bisherige Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche infolge des technischen Fortschritts nicht aufrecht erhalten werden kann: „In wenigen Jahren wird Fernsehen (Länderkompetenz) über den Telefondraht (Bundeskompetenz) zum Alltag zählen, ebenso wird Telefonieren (Bundeskompetenz) über Kabelnetze (Länderkompetenz) zur Normalität" (H. J. Kleinsteuber, 2001, S. 128). 2.1.2. Die Entwicklung der Printmedien Zeitungen und Zeitschriften bilden das älteste Massenmedium (O. Groth, 1928fF.; zur Situation nach 1945 vgl. N. Frei, 1989 a; J. Eberspächer, 2002). Ihnen hat sich schon früh die Rechtsordnung zugewandt. Der Kampf gegen die Zensur und für die uneingeschränkte Pressefreiheit zählte zu den wichtigsten „sozialen Bewegungen" bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Die damit verbundenen Auseinandersetzungen dauern fort, sie sind in der Logik von Massenmedien angelegt und dienen der ungehinderten wie der zielgerichteten Information, der Informationsweitergabe wie der Informationsunterdrückung. Erweist sich dabei eine „Auswahl" als notwendig, weil sich ein vollständiges Informationsangebot nicht denken lässt, werden deren Kriterien bedeutsam. Die Zeitungen in der Bundesrepublik üben sich in der Auswahl von Information auf höchst unterschiedliche Weise. Die meisten von ihnen sind zunächst Lokalzeitungen, als solche am heimischen Markt orientiert und darauf bedacht, in der lokalen Berichterstattung

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung ein möglichst großes Angebot zu unterbreiten. Eine kleinere Gruppe bilden die Regionalzeitungen, die innerhalb eines größeren Mantels mehrere Lokalteile anbieten. Nur vier Zeitungen können im strengeren Sinne des Wortes als überregionale Zeitungen gelten: die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Süddeutsche Zeitung sowie mit einigem Abstand, nicht nur, aber vor allem mit Blick auf die Auflagenhöhe, Die Welt und - noch eingeschränkter - die Frankfurter Rundschau. Diese vier Zeitungen haben unterschiedliche redaktionelle und in den letzten Jahren vor allem ökonomische Probleme. Von ihnen seien hier nur einige wenige angesprochen, besonders jene, die für die Gesamtheit der Tageszeitungen und bedingt auch die Wochenzeitungen repräsentativ sind. Nach Einschätzung der meisten Verlage macht die gesamte Zeitungsbranche derzeit „die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg" (H. Röper, 2002b, 478) durch. Seit 2001 verzeichnete sie massive Umsatzverluste, die vor allem durch rückläufige Werbeeinnahmen verursacht sind, meist mit etwa zwei Dritteln die wichtigste Einnahmequelle. Im Bereich der Tageszeitungen waren die Einbrüche besonders gravierend, dort gingen die Werbeeinnahmen 2001 um insgesamt 14,0 Prozent zurück, wobei die großen Verlagsgruppen unterschiedlich betroffen waren (zu den Daten im Einzelnen s. Media Perspektiven, 10/2002). So reduzierte sich der Anzeigenumsatz des Springer-Verlags und der Süddeutschen Verlagsgruppe 2001 um 11,9 bzw. 13,9 Prozent, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung brach er mit einem Minus von 27,9 Prozent regelrecht ein. Parallel hierzu verlief die Umsatzentwicklung der Verlagshäuser: Während sich bei Springer und dem Süddeutschen Verlag die Umsatzverluste 2001 mit 5,0 bzw. 7,5 Prozent noch in Grenzen hielten, waren es bei der FAZ 22,4 Prozent. Daraufhin reduzierten fast alle Verlage ihr Personal bzw. verhängten einen Einstellungsstopp, kürzten ihr publizistisches Angebot (Einstellung diverser Sonderbeilagen) und verkleinerten ihre Redaktionen. Daneben kam es seit 2000 auch vermehrt zur Schließung kleinerer Lokalzeitungen. Die benannten Krisenerscheinungen haben zudem die bereits seit langem zu beobachtende Konzentration auf dem Zeitungsmarkt verstärkt. Eine mit Blick auf die Medien- und Meinungsvielfalt folgenreiche Konzentration hätte sich für den Berliner Zeitungsmarkt ergeben, wenn die Berliner Zeitung und der Berliner Kurier wie geplant von Gruner + Jahr an die Holtzbrinck-Gruppe verkauft worden wären, die ihrerseits mit dem Tagesspiegel bereits eine der führenden Berliner Zeitungen besitzt. Die nach einer kartellrechtlichen Auseinandersetzung letztlich gefundene Lösung (Verkauf des Tagesspiegels an einen früheren Manager der Holtzbrinck-Gruppe) hat kritische Reaktionen ausgelöst. Insgesamt steigt der Anteil der fünf größten Verlagsgruppen (Springer, WAZ, Stuttgarter Zeitung/Rheinpfalz/Südwest Presse, DuMont-Schauberg sowie die Ippen-Gruppe) am Tageszeitungsmarkt kontinuierlich an; im Jahr 2002 betrug er 42,3 Prozent. Neben dem konjunkturbedingten Rückgang im Anzeigengeschäft geht die Krise der Zeitungsverlage allerdings auch auf strukturelle Fehlinvestitionen und fehlgeschlagene Diversifikationsbemühungen zurück (H. Röper, 2002 b, S. 480): Erzielten die meisten Verlage noch Ende der 1990er Jahre aufgrund der quasi-monopolartigen Stellung einiger Zeitungen in bestimmten Regionen weit überdurchschnittliche Umsatzrenditen, verausgabten sich viele Verlage durch ökonomisch fragwürdige Investitionen in Hörfunk- und Fernsehsender, Internetangebote oder eine (Überkapazitäten schaffende) Modernisierung der Drucktechnik. Die tägliche Gesamtauflage von Tageszeitungen in der Bundesrepublik betrug 1954 etwa 13,4 Millionen und erreichte 1991 einen gewissen Sättigungsgrad mit etwa 27,3 Millionen. 2001 wurden pro Tag etwa 27,6 Millionen Zeitungen, einschließlich der Sonntagszeitungen, gedruckt (vgl. die Berichterstattung in Media Perspektiven, v.a. 12/2001). Trotz der benannten krisenhaften Erscheinungen, potentieller Konkurrenz durch on/me-Informationsangebote oder gelegentliche Versuche, „Gratiszeitungen" am Markt zu etablieren, scheint die

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Tageszeitung das primäre Medium der Universalinformation zu bleiben. Auch als mit Abstand größter Werbeträger (knapp 2,0 Mrd. Euro Werbeaufwendungen im zweiten Quartal 2002) konnte sie ihre Position gegenüber dem Fernsehen (1,8 Mrd. Euro im gleichen Zeitraum) behaupten (vgl. Media Perspektiven 7/2002). Erscheint die Gesamtauflage im internationalen Vergleich als gut und die Zeitungsdichte in der Bundesrepublik als groß, fußt diese Stabilität doch großenteils auf der bereits benannten Konzentration. Nach 1945 erschienen in der Bundesrepublik zunächst von den Besatzungsmächten lizensierte Zeitungen, die meist ein Gebietsmonopol erhielten. Zudem entstanden nach Aufhebung des Lizenzzwanges viele der traditionellen Heimat- und Regionalzeitungen neu. In Zahlen: 1949 gab es 137 „publizistische Einheiten", 1954 bereits 225. In den folgenden zwei Jahrzehnten halbierte sich der Bestand, weil vor allem die kleineren Zeitungsverlage der Kostenentwicklung nicht mehr zu folgen vermochten. Derzeit werden in Deutschland 136 (2001) publizistische Einheiten gezählt, eine seit 1993 weitgehend unverändert gebliebene Zahl. Mit dem erstmaligen Erscheinen der Financial Times Deutschland am 21.02.2000 ging das Verlagshaus Gruner + Jahr das - in Deutschland eher seltene Wagnis einer Zeitungsneugründung ein. Häufiger zu beobachten waren dagegen Fusionen kleinerer Lokalzeitungen mit größeren Regionaleinheiten, die verschiedene Lokalteile, meist mit uneingeschränktem Monopol, anboten. Mit Blick auf den Konzentrationsprozess wurde deshalb auch lange zwischen der allgemeinen Pressekonzentration, wie sie etwa der Axel Springer-Verlag betrieb (Marktanteil an den Tageszeitungen 2002: 23,4 Prozent), und einer regionalen Konzentration unterschieden, mit der Verlagsgruppe WAZ (Marktanteil 2002: 6,1 Prozent) und der Verlagsgruppe Stuttgarter Zeitung/Rheinpfalz/Südwest Presse (Marktanteil 2002: 4,9 Prozent) als Beispielen. In den letztgenannten Fällen stießen und stoßen Regionalzeitungen in Auflagenbereiche vor, die die überregionalen Zeitungen nie erreichen werden (für die WAZ-Gruppe 2002: Westdeutsche Allgemeine/Westfälische Rundschau/ Neue Ruhr/Neue Rhein Zeitung: 1.049.700, Thüringer Allgemeine: 238.000; für die Verlagsgruppe Stuttgarter Zeitung 2002: Freie Presse/Chemnitz: 377.200; Rheinpfalz/Ludwigshafen: 247.000). Beim Springer-Verlag geht es dagegen um einen gewaltigen Marktanteil, der in der Hauptsache durch BILD im Bereich der Tageszeitungen (2002: 4.083.300), Hörzu im Bereich der Publikumszeitschriften (2002: 1.967.086) sowie Bild am Sonntag im Bereich der Sonntagszeitungen (2002: 2.221.566) zustande kommt. Die Bild-Zeitung - nach A. Grosser „Prototyp eines verdummenden und abstumpfenden Sensationsblattes" - bildet nach Auflagenhöhe, Vertriebsart (Kaufzeitung), redaktioneller Gestaltung und der Häufigkeit der mit seiner Berichterstattung verbundenen Presseskandale in der Bundesrepublik einen Sonderfall. Insgesamt allerdings ist in den vergangenen Jahren ein Auflagenrückgang bei der „Boulevardpresse" zu verzeichnen (H. Röper, 2002b, S. 483). Auch die sog. „Morgenzeitung" hat seit 1990 an Reichweite bzw. Lesern eingebüßt, erfreut sich bei ihren Stammkunden aber einer wachsenden Beliebtheit (B. v. Eimeren/C.-M. Ridder, 2001, S. 552). Nach der Wiedervereinigung richtete sich das Interesse der westdeutschen Verlage besonders auf die ehemaligen SED-Zeitungen. Die Erschließung dieses Marktes erfolgte entweder über das Angebot westdeutscher Ausgaben, den Aufbau neuer Zeitungen oder über Kooperationsmodelle, die letztlich in Beteiligungen oder Übernahmen mündeten. Insgesamt geriet der gesamtdeutsche Zeitungsmarkt dadurch beträchtlich in Bewegung, zumal die Zeitungsbranche in Westdeutschland in den 1990er Jahren hohe Renditen aufwies und die Zeitungsverlage in Ostdeutschland auch deshalb zu einem begehrten und umstrittenen Gut wurden. Zu den Interessenten zählten nicht nur „Zeitungshäuser", sondern auch Zeitschriftenverlage, die bislang in diesem Geschäft kaum aktiv waren, so die Gruner + Jahr-Gruppe.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Die wirtschaftliche Entwicklung der Tageszeitungen hat auch redaktionelle Probleme zur Folge, zumal der Konzentrationsprozess die Zahl der potentiellen Arbeitgeber vermindert hat. Dies schränkt den Spielraum der Journalisten ein und vermehrt ihre Abhängigkeit, ein Problem, das vor allem für den Lokalredakteur gilt, der sich an einem Ort fest niedergelassen hat. Das zweite, auffalligere Problem besteht darin, dass ein großer Teil des Bundesgebietes nur von einer Zeitung „versorgt" wird (örtliches Pressemonopol, „Ein-ZeitungsKreis"). Das hat Rückwirkungen auf die Lokalberichterstattung und, wie jedes Monopol, unerwünschte Nebenwirkungen. Dazu gehört, dass lokal Interessierte mit dem Lokalteil ihrer Zeitung einen Hauptteil abonnieren müssen, mit dem sie politisch nicht einverstanden sind und der sie nach ihrem Verständnis einseitig informiert. Dieses Problem ergibt sich vor allem auch bei Regionalzeitungen, die eine eindeutige politische Richtung vertreten und deren Tendenz die gesamte Redaktionstätigkeit prägt. Seltener schlägt die politische Linie der Hauptredaktion örtlich so durch, dass entgegengesetzte politische Richtungen deutlich schlechter behandelt werden. Auch eine klare Konfrontation zwischen einer Zeitung mit Lokalmonopol und der lokalen politischen Führung ergibt sich selten. Insgesamt wird man eher befürchten müssen, dass die politische Enthaltsamkeit der Lokalpresse die örtlichen Konflikte tendenziell herunterspielt, so dass sich auch aus diesem Grund lokale Politik gerade nicht als „Übungsfeld" für politische Auseinandersetzungen und zum Erwerb politischer Konfliktfähigkeit eignet. Insgesamt ist in der Bundesrepublik von einem breiten mittleren Weg der redaktionellen Zeitungsarbeit auszugehen. Auf ihm tritt innerhalb der politischen Berichterstattung und Kommentierung die Landespolitik gegenüber der Bundes- und der Kommunalpolitik sowie der internationalen Politik meist eindeutig zurück, ist von Themenpräferenzen und -zyklen auszugehen, haben die örtlichen Vereine, die Bürgerinitiativen und überörtliche kritische Verbände keine größeren Probleme, „in die Zeitung" zu kommen. Andererseits sind die Schwierigkeiten offensichtlich, über neue soziale oder technologische Entwicklungen zuverlässig und verständlich zu informieren, auch der Mangel an Wissenschaftsberichterstattung wird noch immer beklagt. Tendenziell steht die Mehrzahl der Zeitungen den „bürgerlichen" Parteien näher, was aber zu keiner Zeit die SPD ernstlich behindert hat, so wie es auch heute andere politische Gruppierungen nicht substanziell benachteiligt. Interessanterweise entzündete sich im Vorfeld der Novellierung des Parteiengesetzes 2002 eine Diskussion um die Parteinähe von Zeitungen an den Medienbeteiligungen der SPD. Die Sozialdemokraten besitzen, historisch bedingt, über ihre Holding „Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft" Anteile an etwa 20 regionalen Tageszeitungen in Deutschland (Anteile zwischen 10 und 60 Prozent), die insgesamt zwei Mio. Leser erreichen, etwa 10 Prozent der Gesamtauflage aller Tageszeitungen ausmachen und in einigen Gegenden eine monopolartige Stellung innehaben. In der Diskussion wurde kritisch angemerkt, dass es sich bei den Tageszeitungen, anders als bei Parteizeitungen, um Medien handelt, die nach ihrem Selbstverständnis vorgeben, unabhängig und kritisch zu berichten. Da die SPD ihre Beteiligungen aber stets in ihren Rechenschaftsberichten veröffentlicht und dem Leser die Beteiligungen erkennbar macht, liefen bislang alle Bemühungen, der SPD Pressebeteiligungen zu verbieten, ins Leere (M. Möstl, 2003, S. 113). Jenseits dieses mittleren Weges begegnet man politisch missionarischen Verlegern, Redaktionsmitgliedern, die sich dem politischen Kampf verschrieben haben und den journalistischen Anstand vergessen, Enthüllungsjournalisten, denen jedes Mittel der Informationsbeschaffung recht ist und die nicht selten jenseits akzeptierter Grenzen operieren. Zur freien Presse gehören freilich auch ihre Entartungserscheinungen, man muss mit ihnen leben. Probleme, die sich auf dem mittleren Weg abzeichnen, sind gewichtiger. Mit den Auswahlmechanismen der Zeitungen, mit deren Hilfe sie der wachsenden Informationsflut, dem 142

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Nachrichtenüberangebot der Presseagenturen, den bereitwillig angebotenen Pressediensten aller möglichen öffentlichen und privaten Institutionen oder den angedienten Nachrichten aus der regionalen und lokalen Sphäre begegnen, muss man sich immer wieder auseinandersetzen. Jede Zeitung ist durch ihre redaktionelle Routine gefährdet, zumal die relative Gewissheit über die Struktur einer Zeitung ein wichtiges Angebot an den Leser ist und häufig dazu führt, dass die Zeitungsnachricht mit größerer Bereitschaft aufgenommen wird als die des Fernsehens. In „seiner" Zeitung findet man sich leichter zurecht. Schließlich erfolgen Tendenzaussagen über die politischen Neigungen vieler Redaktionen nicht grundlos. Dennoch ist eine noch immer relativ große Zahl von Zeitungen und Redaktionen politisch nicht ohne Weiteres beeinflussbar. Pressionsversuche hat es zwar häufig gegeben, wirkliche Pressionsstrategien werden dagegen nur selten öffentlich diskutiert. Fraglos wiegen solche Bemühungen auch gering im Vergleich zu dem, was sich innerhalb der Zeitungen und im unmittelbaren Austausch zwischen regionalen Eliten, Verlegern und Redaktionen abspielt. Im Übrigen bietet sich von der Organisation her die öffentlich-rechtliche Anstalt viel eher für Pressionen an. Neben den Zeitungen sind die Zeitschriften wenigstens kurz zu erwähnen. Sie gewährleisten in ihrer Vielfalt ein weiteres Stück Pressefreiheit; ihre Abhängigkeit von technischen und ökonomischen Entwicklungen ist - von den Illustrierten und den großen Wochenzeitschriften einmal abgesehen - geringer, ihre Chance, bestimmte Positionen zu vertreten, deshalb größer. Das Meinungsspektrum in diesem Bereich greift weit über das der Zeitungen und Funk- wie Fernsehanstalten hinaus. Die angesprochene G r u p p e umfasst die großen politischen Wochenzeitungen wie Der Spiegel, Die Zeit und den Focus, die Periodika der Parteien, die vielen politischen Monatsschriften sowie den gesamten fachlich orientierten oder einer spezifischen Unterhaltung dienenden Zeitschriftenmarkt. Auch im Bereich der Wochenzeitungen hat sich in den vergangenen Jahren der Konkurrenzdruck verschärft. Spiegel und Focus liefern sich im Segment der politischen Wochenmagazine seit Anfang der 1990er Jahre einen heftigen Konkurrenzkampf auf dem Leser- und Anzeigenmarkt. Nachdem Der Spiegel in der ersten Hälfte der 1990er Jahre Probleme hatte, mit dem Format und dem Auftreten der Konkurrenz zurechtzukommen und die Verkaufszahlen des Focus an die des Spiegel heranrückten, haben sich inzwischen beide Blätter ihren M a r k t geschaffen und bei relativ konstanten Auflagenzahlen eingependelt (2002: Der Spiegel·. 1.065.625; Focus: 768.281) (Α. Vogel, 2002, S. 445f.).

2.1.3. Rundfunk und Fernsehen Ebenso eindeutig wie man die Presse aufgrund ihrer öffentlichen Aufgabe bislang ökonomisch in den privatwirtschaftlichen Bereich verweist, zählte man in der Bundesrepublik Funk und Fernsehen lange zum öffentlichen Sektor. In ihm kam es zu einer öffentlich-rechtlichen Konstruktion, zu geregelten Gebühreneinnahmen, zu regionalen Sendemonopolen und zu einem Verbund zwischen den Programmanstalten und der Bundespost, die die technischen Sendevoraussetzungen bereitstellte und dies durch einen Anteil an den von ihr erhobenen Funk- und Fernsehgebühren finanzierte. Diese Ausgangssituation hat sich erheblich verändert. Neue technische Entwicklungen Ende der 1970er Jahre (Kabel- und Satellitentechnologie) sowie die gelegentliche politische Unzufriedenheit mit den Programminhalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mündeten Anfang der 1980er Jahre in einigen Bundesländern in die Ausarbeitung von neuen Landesrundfunkgesetzen, die die Möglichkeit von Kabelpilotprojekten (Rheinland-Pfalz) und privatem Rundfunk eröffneten (K. Dussel, 1999, S. 238 ff.).

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Doch zuerst ein Blick auf Rechts- und Organisationsfragen. Die westdeutschen Rundfunkanstalten wurden im Rahmen der zunächst vorhandenen Möglichkeiten von den Besatzungsmächten sogleich nach 1945 errichtet (vgl. W. Schütte, 1975; H. Bausch, 1980; N. Frei, 1989; K. Hickethier, 1998; M. Schuler-Harms, 2000; O. Jarren u.a., 2001; H. J. Kleinsteuber, 2001) und dabei an eine teilföderalistische Konstruktion gebunden (USA: Bayerischer Rundfunk, Süddeutscher Rundfunk, Hessischer Rundfunk, Radio Bremen; Frankreich: Südwestfunk für die gesamte Besatzungszone und Saarländischer Rundfunk; Großbritannien: Westdeutscher und Norddeutscher Rundfunk, ursprünglich stärker vereinigt, für die gesamte Besatzungszone; dann gemeinsam: Sender Freies Berlin). Da diese Grundstruktur später beibehalten wurde, gibt es zwar keine volle Entsprechung zwischen Ländern und Rundfunkanstalten, aber auch keinen Zweifel daran, dass der Funk als „kulturelle Aufgabe" zunächst Ländersache sein sollte - unbeschadet einiger zentraler Besonderheiten und der durch die Länder gemeinsam betriebenen Gründung der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD) und des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Der Gründung des ZDF war ein heftiger Fernsehstreit zwischen Bund und Ländern vorausgegangen, nachdem Bundeskanzler Adenauer versucht hatte, eine bundeseigene Deutschland-Fernseh-GmbH zu gründen, um dem Fernsehprogramm der ARD Konkurrenz zu machen. Der Versuch scheiterte an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das für die weitere Entwicklung der öffentlich-rechtlichen Anstalten konstitutive Bedeutung erlangte. Das Gericht stellte fest, Art. 5 GG schließe aus, „dass der Staat unmittelbar eine Anstalt oder Gesellschaft beherrscht, die Rundfunksendungen veranstaltet". Die von Adenauer gegründete Gesellschaft sei aber völlig in der Hand des Staates: „Sie ist ein Instrument des Bundes, sie wird kraft der verfassungsmäßigen Kompetenzen der Bundesregierung und des Bundeskanzlers von diesem beherrscht [...]. Selbst wenn man unterstellt, dass die Gesellschaftsorgane, insbesondere der Aufsichtsrat und der Intendant, in relativer Unabhängigkeit arbeiten und dass die satzungsmäßigen Grundsätze für die Programmgestaltung dem Gebot des Art. 5, der institutionellen Freiheit des Rundfunks, zur Zeit Rechnung tragen, bleibt entscheidend, dass das Gesellschaftsrecht [...] keine Gewähr gegen eine Veränderung der gegenwärtigen Gestalt der Gesellschaft bietet." Die obersten Bundesgerichte, und dabei federführend das Bundesverfassungsgericht, erklärten also die seit 1945 bestehende Ordnung, vorbereitet durch die Rundfunkentwicklung in der Weimarer Zeit, als ordnungspolitisch vom Grundgesetz geboten. Die reine Privatisierung stieß ebenso auf Bedenken wie die allzu enge Bindung an den Staat. Dabei befand das Bundesverfassungsgericht 1981, im Anschluss an die Zulassung privaten Rundfunks in einigen Landesrundfunkgesetzen, dass auch eine private Anstalt den gleichen Bedingungen wie eine öffentlich-rechtliche unterliege: Es müsse eine „freie, umfassende und wahrheitsgemäße Meinungsbildung" sein, die Anstalt dürfe nicht „einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert" werden, und der Gesetzgeber könne sich der Aufgabe nicht entziehen, dies klar zu regeln. Dabei kann er auf ein „binnenpluralistisches" und ein „außenpluralistisches" Modell zurückgreifen. Das erstere kommt den bestehenden öffentlichen Anstalten sehr nahe. Nach dem letzteren müsse der Gesetzgeber dafür Sorge tragen, dass die Summe der Privatanstalten die relevanten gesellschaftlichen Gruppen widerspiegelt. Am binnenpluralistischen Modell können private Interessenten wenig Freude haben; mit dem außenpluralistischen verbinden sich finanzielle Probleme, weil im Wettbewerb eine Anstalt alle übrigen weit überrunden könnte, oder auch konstitutionelle, weil es gesellschaftliche Gruppen geben mag, die gar nicht an einer eigenen Anstalt interessiert sind und damit das Modell gefährden. Zudem

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte wäre ein ständiger Überprüfungsprozess notwendig, da sich die Dinge laufend ändern können. Die vorläufig letzte und wohl auch langfristig entscheidende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts datiert vom 04.11.1986 („Viertes RundfunkurΐβιΓ). Hier hatte das Gericht zu prüfen, ob das Niedersächsische Landesrundfunkgesetz, das als eines der ersten private Rundfunkangebote regelte, in seinen Grundlinien mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das Bundesverfassungsgericht entschied sich, anders als vielfach erwartet, im Verhältnis von öffentlich-rechtlichem zu privatem Rundfunk nicht für ein Entweder-Oder und auch nicht für ein gleichrangiges Nebeneinander. Es schuf vielmehr eine deutliche Stufung in der Rundfunkordnung, bei der nur ein funktionierender öffentlich-rechtlicher Rundfunk als umfassender Garant der Rundfunkfreiheit den Betrieb eines kommerziellen Hörfunks und Fernsehens zulässt. Diese grundlegende Unterscheidung, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zur unverzichtbaren Basis des Rundfunksystems bestimmt und ihn deshalb mit der Aufgabe der Grundversorgung und der Erfüllung „der essentiellen Funktion des Rundfunks für die demokratische Ordnung" betraut, gewannt das Gericht aus einer Analyse des Erscheinungsbildes und der Funktionsfähigkeit des privaten Rundfunks. Die Programme privater Anbieter vermögen nach Ansicht des Gerichts der Aufgabe umfassender Informationen nicht gerecht zu werden. In Reaktion auf das Vierte Karlsruher Rundfunkurteil kam es dann zu verstärkten Bemühungen um einen bundeseinheitlichen Medienstaatsvertrag, der - nach den Teilstaatsverträgen des sog. Nord- und Südverbundes - einer auseinanderlaufenden Entwicklung des Rundfunkwesens entgegenwirken sollte. Dieser am 12.03.1987 zustande gekommene „Staatsvertrag zur Neuordnung des Rundfunkwesens" (Rundfunkstaatsvertrag) ermöglichte es, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die privaten Programmanbieter künftig ihre Aufgaben auf der Grundlage einer einheitlichen, für alle Bundesländer verbindlichen Regelung wahrnehmen konnten. Die Vereinbarung schuf die Voraussetzung für die technische Nutzung des Satellitenrundfunks (sowohl im Fernsehbereich als auch als Hörfunk). Sie regelte die Finanzierung der von privaten Programmanbietern veranstalteten Fernseh- und Hörfunksendungen sowie die Verteilung der Rundfunkgebühren. Sie ordnete zudem die Werbemöglichkeiten und enthielt Regelungen über die Kontrollorgane des privaten Rundfunks. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die sich damit verbindende Notwendigkeit, ein einheitlich geltendes Rundfunkrecht in den alten und neuen Ländern der Bundesrepublik zu schaffen, machte neben der zwischenzeitlich eingetretenen medienpolitischen Entwicklung und dem Zwang, das deutsche Rundfunkrecht den europäischen Regelungen anzugleichen, eine Erneuerung des Rundfunkstaatsvertrags notwendig. Der neue Vertrag trat zum 01.01.1992 in Kraft, als Teil eines großen Vertragspakets über den Rundfunk im vereinten Deutschland, das eben mit dem Ziel verabschiedet wurde, ein umfassend geltendes staatsvertragliches Rundfunkrecht zu schaffen, das die Grundstrukturen für den dualen Rundfunk im vereinten Deutschland festlegt - unter Berücksichtigung der europäischen Regelungen zur Harmonisierung des Rundfunkrechts sowie der neuen Rundfunkrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Bestandsgarantie für den öffentlichrechtliche Rundfunk wurde dabei erneut bestätigt und erteilte dem von den privaten Rundfunkveranstaltern vorgetragenen Wunsch, die Entwicklungsgarantie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks abzubauen, eine deutliche Absage. Auch dieses Vertragswerk erwies sich allerdings bald als überprüfungsbedürftig. So trat zum 01.01.1997 der 3. Änderungsstaatsvertrag nach Ratifizierung in allen 16 Länderparlamenten in Kraft. In diesem Zusammenhang wurde erneut die Frage nach der Zukunft des 145

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung dualen Systems, seinen Vor- und Nachteilen sowie den dahinter stehenden Problemen und Interessen diskutiert. Vor allem wurde erörtert, ob die Grundversorgung auch durch private Anbieter geleistet werden könne und dürfe, ob die Gebührenerhebung zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch in Zukunft erfolgen solle, und ob die „Sonderstellung" der öffentlich-rechtlichen Anstalten insbesondere durch ihr zunehmendes Engagement auch im Sparten- und Kabelfernsehen sowie im Bereich des digitalen Fernsehens nicht wettbewerbsverzerrend wirke. In den vergangenen Jahren haben die Umsetzung von EG-Richtlinien sowie Gebührenerhöhungen dann zu drei weiteren Veränderungen der Rundfunkstaatsverträge geführt. Im 4. Ànderungsstaatsvertrag, der am 01.04.2000 in Kraft trat, ging es vor allem darum, eine Richtlinie umzusetzen, die die Handlungsspielräume für private Medien bei der Werbung, dem Sponsoring und insbesondere beim Teleshopping erweiterte. Darüber hinaus wurde die Kennzeichnungspflicht für jugendgefährdende Sendungen verschärft. Der 5. Ànderungsstaatsvertrag, der am 01.01.2001 in Kraft trat, beinhaltete als wichtigstes Element die Anpassung der Höhe der Rundfunkgebühren sowie die Umsetzung einer Bundesverfassungsgerichtsentscheidung über das Recht der Kurzberichterstattung (BVerfGE 97, 228). Der bislang letzte, 6. Ànderungsstaatsvertrag, der am 01.07.2002 in Kraft trat, sah erneut die Umsetzung einer EG-Richtlinie über bestimmte Aspekte des elektronischen Geschäftsverkehrs im Binnenmarkt vor („e-commerce-Richtlinie"). In allen bisherigen Staatsverträgen wurde immer wieder die Bedeutung des dualen Rundfunksystems betont und eine ausdrückliche Bestandsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk formuliert. So heißt es in der Präambel zum 6. Änderungsstaatsvertrag: „Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind Bestand und Entwicklung zu gewährleisten. Dazu gehört eine Teilhabe an allen neuen technischen Möglichkeiten in der Herstellung und zur Verbreitung sowie die Möglichkeit zur Veranstaltung neuer Formen von Rundfunk. Seine finanziellen Grundlagen einschließlich des dazugehörigen Finanzausgleichs sind zu erhalten und zu sichern." Anlass zur Diskussion gibt immer wieder die Frage nach der Höhe der Rundfunkgebühren. ARD und ZDF leiteten hier im April 2003 eine neue Runde ein, als sie eine Erhöhung der Gebühren von 16,15 € auf 18 € ab 2005 beantragten. Die endgültige Entscheidung darüber trifft die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) der Rundfunkanstalten, die einerseits die Interessen der Gebührenzahler berücksichtigen, andererseits die Rundfunkanstalten mit ausreichend finanziellen Mitteln ausstatten muss, damit die Sender ihren Programmauftrag unabhängig von privaten Anbietern und frei von politischem Einfluss erfüllen können. Kritik an Gebührenerhöhungen wird regelmäßig seitens der privaten Rundfunkanbieter laut, die fordern, die Gebühren auf ein zur Grundversorgung notwendiges Maß zu reduzieren. In diesem Zusammenhang ist auf die gegenwärtig stark defizitäre Haushaltslage der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu verweisen, die vor allem auf ausgeweitete Programmkosten (Rechte und Lizenzen für Firmen sowie Sportübertragungen) zurückzuführen ist. Zunehmend kritisiert wird auch das Engagement der öffentlich-rechtlichen Sender im Online-Bereich, das zu einer Art „dritten Säule" neben Hörfunk und Fernsehen ausgebaut werden soll. Gerade nach dem Zusammenbruch vieler Internetunternehmen zeige sich, so die Kritik der kommerziellen Anbieter, der wettbewerbsverzerrende Vorteil, den die Öffentlichrechtlichen in diesem Bereich genießen. Die Gebührenfinanzierung mache sie unabhängig von unternehmerischen Risiken, zudem überschreite das Online-Engagement den Auftrag der Rundfunk-Grundversorgung. Auch Politiker einiger Bundesländer, wie der bayerische Ministerpräsident Stoiber oder der baden-württembergische Staatsminister Palmer, forderten einen Rückzug der gebührenfmanzierten Sender aus dem Internet und eine Be-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte schränkung der Online-Aktivitäten auf programmbezogene Inhalte. Ähnlich äußerte sich auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Steinbrück (Das Parlament vom 04.11.2002). Im 6. Änderungsstaatsvertrag wird zudem ausgeführt, dass das duale Rundfunksystem mit Blick auf den Abbau von Doppel- und Mehrfachversorgungen ü b e r p r ü f t werden soll, um zusätzliche Möglichkeiten f ü r private Anbieter zu schaffen. Die Landesmedienanstalten wurden entsprechend aufgefordert, verstärkt zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus sind schließlich die Funktionsweisen des binnenpluralistischen Modells anzusprechen. Relative Distanz zum Staat, d. h. zur (jeweiligen) Regierung, sowie ein gewisser Pluralismus werden in den Anstalten zunächst durch das Nebeneinander von Intendant und zwei Gremien gewährleistet, von denen das eine in der Regel mehr mit dem Programm und seiner Finanzierung beschäftigt ist, während sich das andere stärker der Verwaltung und der Überwachung des Intendanten zuwendet (Fernseh- oder Rundfunkrat, Verwaltungsrat). Entscheidend ist die Zusammensetzung dieser Räte, in denen sich als gesellschaftliche Kräfte neben den Parteien vor allem die Kirchen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie eine G r u p p e von Verbänden präsentieren und die mit einem gemeinsamen Kern von Anstalt zu Anstalt etwas variiert (hierzu im internationalen Vergleich: O. Jarren u.a., 2001). Im Allgemeinen wird man in den Anstalten diejenigen Kräfte stärker repräsentiert finden, welche auch im jeweiligen Land das Übergewicht haben. Kommt es lange Zeit nicht zu einem Wechsel in der politischen Mehrheit des Landes, wirkt sich das auch auf die Anstalt aus. Dies wiederum bildet den Hintergrund dafür, dass in den meisten Anstalten eine schleichende Politisierung zunächst im Bereich der Personalpolitik stattfindet, die im besseren Falle zum Proporz in den Spitzenpositionen führt, im schlechteren die einseitige Leitung des Senders durch eine politische Richtung zur Folge hat. Proporz oder Machtergreifung im Sender bringen vielfach Politiker in einschlägige Ämter. A m deutlichsten wird dies beim ZDF, einem Sender, bei dem der Politikereinfluss noch deutlicher ist als bei der Konkurrenz (31 der 77 Mitglieder im Fernsehrat werden direkt von Parteien oder Regierungen entsandt). So verzögerte sich die Wahl des neuen Intendanten, M. Schächter, Anfang 2002 monatelang aufgrund parteipolitischer Auseinandersetzungen. Es zeigte sich erneut, dass gerade bei der Wahl von Intendanten die Rundfunkräte „aufblühen". Nicht selten allerdings üben die einmal Gewählten ihr Amt vergleichsweise unabhängig von politischem Einfluss aus. Beispiele dafür waren H. Bausch vom einstigen Süddeutschen R u n d f u n k oder F. Nowottny vom Westdeutschen Rundfunk. Mit Blick auf die Politisierung der Fernseh- und Rundfunkräte fordert NordrheinWestfalens Ministerpräsident Steinbrück denn auch eine Strukturreform. Der Rückzug der SPD-Politiker Simonis und Clement aus dem ZDF-Verwaltungsrat sei nur ein Anfang, um eine Entpolitisierung einzuleiten (Der Spiegel vom 07.06.2003). Der qualifizierte Journalist ist in der Intendantenrolle seltener geworden. Allerdings bleibt offen, ob man unbedingt Journalisten in der Anstaltsleitung braucht und o b es nicht vielmehr Aufgabe der Leitung ist, die Unabhängigkeit des Programms und seiner Mitarbeiter zu sichern. Diese Aufgabe stellt sich auch den Räten und wird von ihnen punktuell wahrgenommen. Wie alle ehrenamtlichen Gremien dieser Art leiden sie aber an zeitlicher Überforderung. Nahezu kein Rundfunkratsmitglied kann regelmäßig das Programm seines Sender verfolgen, es mit anderen Programmen vergleichen und damit zu begründeten Wertungen gelangen. In der Regel geraten nur einzelne Sendungen ins Kreuzfeuer der Kritik, wobei die Räte meist nur nachvollziehen, was sich anderenorts an Unmutsäußerung ergeben hat. Die Kritik zielt überwiegend auf Sendungen mit politischen Inhalten. Materiell unterliegen die öffentlich-rechtlichen Anstalten Programmverpflichtungen, die sich aus dem Gesetz oder Verträgen zwischen den Ländern ergeben. So lautet der Programmauftrag in § 5 Abs. 1 S. 1 des NDR-Staatsvertrages: „Der N D R hat den Rundfunkteilneh-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung mern und Rundfunkteilnehmerinnen einen objektiven und umfassenden Überblick über das internationale, nationale und länderbezogene Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben", sich dabei an die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu halten, die Würde des Menschen zu achten und für die internationale Verständigung einzutreten. „Der N D R ist in seinen Sendungen verpflichtet" und muss dafür sorgen, dass die bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte angemessen zu Wort kommen, niemand einseitig bevorzugt und darauf geachtet wird, dass die Nachrichtengebung „allgemein, unabhängig und objektiv" ist. Verständlicherweise handelt es sich hier um Postulate, die unerfüllbar sind, sobald es am wirksamen Konsens der Aufsichtführenden fehlt. Besteht Konsens, wird man die Freiheit und Unabhängigkeit der Redaktionen so lange wie möglich gewährleisten, auf alles, was an Zensur erinnert, verzichten, und „Aufsicht" in der Form einer rationalen Programmkritik üben, mit der sich die Verantwortlichen auseinandersetzen können und müssen. Fehlt es am Konsens, wird man sich an die Programmgrundsätze klammern und immer wieder ihre Verletzung feststellen: Viele Formulierungen sind zu verkürzt, um „objektiv" zu sein; die „Wahrheit" hat mehrere Gesichter; was eine gründliche und gewissenhafte Recherche im Einzelfall bedeutet, lässt sich nie dem Streit entziehen; wie man Auffassungen „angemessen" berücksichtigt, bleibt stets umstritten. In politicis schwindet der Konsens gegenüber den öffentlich-rechtlichen Anstalten und zum Teil auch in ihnen immer mehr. Das hat in der Hauptsache zwei Gründe: die Annahme oder Furcht, der Funk und vor allem das Fernsehen trügen entscheidend zur politischen Meinungsbildung bei und hätten damit unmittelbaren Einfluss auf Wahlergebnisse, sowie den Drang nach privaten Sendern, der in der Hauptsache wohl ökonomische Ursachen hat, aber auch politisch begründet ist. Beide führten zu einer Reihe von Maßnahmen „gegen" die bestehenden Anstalten, die mit der Programm- und Journalistenschelte zum Zwecke der Verunsicherung begannen, sich in gezielter Personalpolitik fortsetzten, um sich anschließend wie folgt zu steigern: Drohung mit dem Austritt aus der ARD; Drohung mit der Auflösung von Staatsverträgen; Realisierung solcher Drohungen; Drohung mit einer Ausweitung des privaten Fernsehens. Auf diese Stufen des Konflikts hier näher einzugehen, ist weder möglich noch notwendig. Die Tatbestände sind eindeutig, strittig nur die Bewertungen. Programm- und Journalistenschelte finden sich fast wöchentlich in den Medien. Zählt man das nicht über längere Zeit aus, kann man nicht nachweisen, wer sich hier kräftiger übt. Den Hintergrund bildet die Annahme eines großen Einflusses von Funk- und Fernsehprogrammen auf Meinungsbildung und Wahlentscheidung. Diese Annahme geht vor allem auf E. Noelle-Neumann zurück (1980 und 1982), die sich entschieden von der Hypothese losgesagt hat, dass die Massenmedien lediglich eine Verstärkerfunktion ausüben, um unmittelbaren Einfluss nachzuweisen. Das geschah in Zusammenhang mit der Bundestagswahl 1976 (vgl. dazu die Kontroverse zwischen E. Noelle-Neumann und P. Atteslander sowie die Beiträge von E. Lippert, u.a., in T. Ellwein, 1980b), gipfelte in der Behauptung, das Fernsehen habe die Wahl zuungunsten der CDU/CSU entschieden (neben den Journalisten vor allem die Kameraleute) und veranlasste eine zusätzliche Funk- und Fernsehschelte. Will man sich nicht auf die zugrundeliegende methodische Diskussion zum Thema Medieneinfluss in der Politik einlassen, könnte man es sich einfach machen und nur darauf hinweisen, dass das angebliche Übergewicht der Anhänger der sozialliberalen Koalition in den Funk- und Fernsehanstalten die starken Verluste der SPD in den Wahlen nach 1980 ebenso wenig verhindert hat wie das deutliche Erstarken der CDU. Schließlich kam die CDU/CSU 1982 wieder an die Macht - vor der Öffnung der Märkte für kommerzielle Sender. Ähnlich könnte man darauf verweisen, dass die CSU in Bayern mit großer Mehrheit regiert, den Bayerischen Rundfunk

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte fest in der Hand hat, dennoch aber ständig an einigen wenigen Sendungen Kritik übt, in denen politische Ansichten zu Ausdruck kommen, welche nicht mit denen der CSU übereinstimmen. In Wahrheit ist aber wohl beides offen: Der Medieneinfluss ist weiterhin ungeklärt, und niemand wird bestreiten können, dass nicht doch die eine oder andere Entscheidung von Redakteuren unsichere Wähler beeinflusst. Allerdings wird es auch unmöglich sein, hier Grenzen zwischen den Wirkungen der öffentlichen Anstalten und der privaten Anbieter zu ziehen. H. J. Kleinsteuber kommt schließlich zu der Feststellung: „Zu den Vorwürfen der Indoktrinierung vieler Rundfunkanstalten bleibt zu sagen, dass sie wissenschaftlich nie belegt wurden" (2001, S. 123). Sicher ist nur, dass die ständige Schelte zu Verunsicherung und Ängstlichkeit führt: A R D und Z D F dürften in ihrer politischen Berichterstattung wohl weniger durch extreme Beiträge als durch die ständige Vorsicht gefährdet sein, aller nur denkbaren Kritik auszuweichen. Abschließend bleibt jene partielle Neuordnung der Rundfunklandschaft zu erwähnen, die mit der Fusion von „Süddeutschem Rundfunk" (SDR) und „Südwestfunk" (SWF) zum neuen Sender „Südwestrundfunk" (SWR) 1998 ihren Anfang nahm. Jenseits funktionaler Erwägungen dokumentiert sich hierin auch, dass der Föderalismus durchaus in der Lage ist, schwierige Probleme der länderübergreifenden Zusammenarbeit und der rundfunkpolitischen Entwicklung zu lösen. Das für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erzielte Ergebnis ist für beide Bundesländer und die bisherigen Sender tragbar. Gleichzeitig wurde korrigiert, was aufgrund des Besatzungsrechts nach Ende des Zweiten Weltkrieges entstand und heute nicht mehr zeitgemäß ist. Mit der Gründung der neuen Rundfunkanstalt mit je einem Landessender für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist die zweitgrößte ARD-Anstalt nach dem W D R entstanden, mit 3.700 Beschäftigten und einem Nettogebührenaufkommen von rund 890 Mio. Euro. Die Fusion des „Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg" (ORB) mit dem „Sender Freies Berlin" (SFB) zum „Rundfunk Berlin-Brandenburg" (RBB) schuf 2003 einen weiteren länderübergreifenden Sender. Mittels funktionaler Kooperation wird so den Haushaltszwängen und der technischen Entwicklung durch die Schaffung großräumigerer Einheiten Rechnung getragen.

2.1.4. Medienangebot und Medienpolitik Medienangebot und Medienpolitik sind schließlich von der Unsicherheit darüber bestimmt, in welcher Weise medientechnische Entwicklungen und neue „strategische Allianzen''' im Unternehmensbereich das bisherige Medienangebot erweitern und verändern werden und welches Nutzungsverhalten damit verbunden ist. Dabei vermischen sich in der Diskussion die am Erhalt gegenwärtiger Macht- oder Marktpositionen orientierten Interessen mit visionären Vorstellungen, die noch immer von beträchtlichen Wachstumspotentialen ausgehen. Diese Überlegungen richten sich vor allem auf horizontale und vertikale Unternehmensverflechtungen im europäischen Medienmarkt und entsprechende Formationsprozesse bei den deutschen Großunternehmen (vgl. hierzu H. Röper, 2002a). Der erste Aspekt verweist auf einen strukturellen Umbruch der internationalen Medienlandschaft, der durch global und multimedial agierende Megakonzerne geprägt ist. Während sechs der zehn größten Medienunternehmen der Welt aus den USA kommen, ist in Europa die Bertelsmann AG das mit Abstand größte Unternehmen. Strukturelle Vergleichbarkeiten ergeben sich daraus, dass diese Unternehmen meist auf ertragreichen Printmedien aufbauten, deren Erträge dann in den Fernseh- und Videomarkt investiert wurden. Die starke Internationalisierung hat dabei eine hohe Umsatzkonzentration auf wenige Unternehmen mit sich gebracht, die sich wiederum in mehreren Sektoren engagieren. Dies führt zu neuen Finanzierungs-, Produk-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung tions- und Distributionsstrukturen auf dem Rundfunk- und Zeitungsmarkt, die den allgemeinen Konzentrationsprozess beschleunigen. Hohe Konzentration und Medienverflechtung sind dann Anlass für öffentliche Besorgnis, wenn diese einem Unternehmen eine Marktstellung auf einem und mehreren Medienmärkten verschaffen, die es ihm ermöglicht, den Informationsfluss auf einem Teilmarkt zu kontrollieren oder den Zutritt Dritter zu diesem Markt zu behindern. In solchen Fällen hat - wie eingangs ausgeführt - die öffentliche Hand dafür Sorge zu tragen, dass der freie Fluss und Austausch von Informationen gewährleistet ist und Medien mit einer öffentlichen Informationsfunktion vor unproportionalen Einkommensverlusten geschützt werden. Dies gilt natürlich auch für die deutsche Medienlandschaft, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Mediengroßunternehmen einmal mehr der Politik vorauseilen. So kommt es nicht nur zu Unternehmenskonzentrationen innerhalb Deutschlands, die deutschen Medienunternehmen zählen auch international zu den Schrittmachern der Verflechtung, die nun die Länder Osteuropas einbezieht. Hier erscheint öffentlicher Handlungsbedarf vor allem deshalb geboten, weil die Erfahrung lehrt, dass ein einmal erreichtes Konzentrationsniveau durch Ordnungspolitik kaum mehr zu senken ist. Wie bereits angesprochen, ist gerade auf dem Zeitungsmarkt eine Tendenz zur regionalen Monopolbildung zu erkennen, „immer wieder drängt sich dabei der Eindruck auf, dass bis dahin konkurrierende Verlage Verbreitungsgebiete untereinander aufteilen" (H. Röper, 2002b, S. 479). Selbst europäische Behörden werden beim Thema Medienkonzentration heute als aktiver eingeschätzt als die Bundesregierung. So scheint das Bundeskartellamt derzeit nicht in der Lage, der Konzentration entgegenzuwirken und erkennbare Gebietskartelle aufzulösen (ebd.). Eine bemerkenswerte Ausnahme und mögliche Chance für eine teilweise Neuordnung der deutschen Medienlandschaft stellte die Insolvenz des Kirch-Konzerns dar. Die Sendergruppe ProSiebenSat.l stand dabei im Mittelpunkt der Diskussion, galt sie doch unter den privaten Medien als bislang einzig relevantes Gegengewicht zu den RTL-Sendern der BertelsmannGruppe. Die Aussichten, diese Chance zu ergreifen, erscheinen allerdings begrenzt; so bemühen sich die Insolvenzverwalter bislang vergeblich um einen Großinvestor für die gesamte Sendergruppe (vgl. M.-L. Kiefer, 2002; Der Spiegel vom 07.06.2003) Im Gegensatz zu den beschriebenen Konzentrationstendenzen sind in den vergangenen Jahren auch rückläufige Tendenzen in der Medienbranche zu erkennen. So mussten bei den Entwicklungsmöglichkeiten des Internets die Medienkonzerne feststellen, dass die Einnahmen aus diesem Medium deutlich hinter den Erwartungen zurückblieben. Die Investitionsvorhaben wurden beträchtlich gekürzt, laufende Aktivitäten eingeschränkt oder sogar vollständig aufgegeben (H. Röper, 2002 a, S. 406). Insgesamt ist davon auszugehen, dass Veränderungen in Medienteilbereichen zwar sichtbar sind, es aber kaum gesichert erscheint, was sich mit welchen Konsequenzen durchsetzen wird. So hat sich im (technisch verstandenen) Bereich des Buchs und buchähnlicher Zeitschriften das Angebot außerordentlich erweitert, was ebenso auf eine gestiegene Nachfrage (die kulturkritischen Behauptungen, es würde weniger gelesen, werden durch das intensivere Nutzungsverhalten bei Zeitungen und das Wachsen der Buchhandelsumsätze, der Bücherkäufe oder der Entleihzahlen in Bibliotheken widerlegt) wie auf technische Neuerungen bei der Produktion zurückzuführen ist. Allerdings setzt auch dieses Wachstum offenkundig Konzentrationsprozesse voraus, weshalb es ein „Verlagssterben" und eine Entwicklung hin zu marktbeherrschenden Verlagskonzernen gibt. Gleichzeitig kann angesichts moderner elektronischer Speicher- und Übermittlungsverfahren das Buch zum „altmodischen" Informationsmittel werden. Im wissenschaftlichen Bereich zeigt sich das schon heute deutlich. Manche meinen, das Buch werde sich nur noch für schöngeistige, unterhaltende oder bilddoku-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte mentarische Werke als Form rentieren. Allerdings wird man hier von „vielleicht" sprechen müssen. Vieles spricht dafür, dass sich das Buch als unentbehrliches Informationsmittel auf dem Markt hält und nur die Zahl der hochspezialisierten Buchveröffentlichungen zurückgehen wird. Während sich bei den privatwirtschaftlich orientierten Medien alle grundlegenden Entwicklungen am Markt ablesen lassen, gilt dies für Funk und Fernsehen nicht in gleicher Weise. Zwar lassen sich Einschaltzahlen und Teilnehmergewohnheiten einigermaßen genau ermitteln; die quantitative Mediennutzung erscheint alters- und schichtenspezifisch bekannt (vgl. Β. v. EimerenIC.-M. Ridder, 2001; W. DarschinIH. Gerhard, 2003). Relativ ungewiss ist jedoch, ob und wie sich das duale System langfristig auf die Nutzung auswirken wird. Die hier nur angedeutete Ungewissheit kann dabei nicht nur innerhalb reiner Marktprozesse ausgeräumt werden. Bei den „neuen Medien" ist der Staat im Spiel, weil die Telekom die technischen Voraussetzungen schafft oder auch selbst Angebote erbringt, und weil einschlägige Versuche (wie die Kabelpilotprojekte und das Digitalfernsehen) direkt oder indirekt aus öffentlichen Mitteln bezahlt wurden und zudem die gesetzlichen Voraussetzungen innerhalb des von den obersten Gerichten gezogenen Rahmens immer wieder geschaffen werden müssen. Auch wollen die privaten Programmanbieter zwar die Programmkosten übernehmen, nicht aber die infrastrukturellen Vorleistungen. Damit ist der Staat zur Medienpolitik gezwungen und kommt unter den Druck von Industrieinteressen, die auf den Verkauf einschlägiger Apparaturen zielen, sowie von Programminteressen, die die denkbaren Werbeeinnahmen ausschöpfen, das eigene Medium ggf. in neue Formen transformieren oder Informationsmacht in anderer Weise ausüben wollen. Da medienpolitische Entscheidungen ins Ungewisse hinein erfolgen, weil die technologischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen nie voll überschaubar sind, eröffnet sich wissenschaftlicher Beratung (etwa im Rahmen der Medienwirkungs- oder Meinungsforschung; vgl. D. Prokop, 1985/86, 1995 und 2002; M. Schenk, 1987; K. Merten u.a., 1992; W.Schulz, 1992; W. Neuber, 1993) sowie ideologischen Auseinandersetzungen ein weites Feld. Man kann, wie die Erfahrung lehrt, unter dem Vorzeichen der Freiheit und insbesondere der Informationsfreiheit des Einzelnen ebenso für die Beibehaltung des bisherigen Zustandes wie für eine zuletzt unbegrenzte Angebotserweiterung eintreten. Auch die Kritik an den öffentlichen Anstalten und ihren Programmen gehört in diesen Rahmen; sie dient nicht in erster Linie der Überlegung, wie man die Programme verbessern könnte, sondern erweist sich mehr und mehr als Strukturkritik. Medien- oder Kommunikationspolitik (vgl. die Darstellungen von H. Schatz u.a., 1990; M. JäckellP. Winterhoff-Spurk, 1994; H. J. KleinsteuberlT. Rossmann, 1994; D. Dierkers, 1995; B. Gruber, 1995; G. W. WittkämperlM. Wulff-Niehüder, 1996; K. Imhof u.a., 1999; W. J. Schütz, 1999; D. Schwarzkopf, 1999) steht dabei jenseits der parteipolitischen Auseinandersetzungen vor der grundlegenden Frage, ob der „Strukturwandel der Öffentlichkeit" (J. Habermas, 19652; vgl. H. Krüger, 19662; W Hennis, 1968 a; H. Klein, 1972) anhalten und ob sich seine Richtung verändern wird. Möglicherweise hat sich das allgemeine Interesse zu sehr auf die „großen" Medien als Teil der politischen Machtstruktur konzentriert, in dem Öffentlichkeit „hergestellt" werden kann, was zum Unterschied zwischen der „veröffentlichten" und der „verbreiteten" Meinung führt, ein Unterschied, der dann wieder die Meinungsforscher mit ihren eigenen Ansprüchen ins Spiel bringt. Andere Wandlungstendenzen darf man aber nicht übersehen. Jedenfalls spricht Manches dafür, dass im Zuge des „Wertewandels" auch die örtliche und kleinräumige Kommunikation an Gewicht gewinnt und örtliche Erfahrung, neben der individuellen Sozialisation, wieder zu einem (mit-)bestimmenden Faktor im Prozess der Meinungsbildung wird (wenn sie es nicht schon immer war, sich also nur der Untersuchung entzogen hat).

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung 2.2. Die Organisation von Interessen: der „Verbändestaat" vor der Auflösung? Die Meinungsbildung des Bürgers wird also von persönlichen Einflüssen wie von Informationen und Meinungsäußerungen der Medien bestimmt. Zudem steht sie in engem Verhältnis zu politischen, sozialen und weltanschaulichen Einstellungen und ist von wirtschaftlichen Interessen wie von der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen beeinflusst. Die Organisationen solcher Gruppen, die oft eine eigene Teilöffentlichkeit bilden, wirken somit auf die individuelle Meinungsbildung ein. Zudem beeinflussen sie den Prozess der politischen Willensbildung, etwa im Zuge von Wahlen oder durch Einwirkung auf staatliche Organe. Dass sie zugleich auch gegebene Machtstrukturen widerspiegeln, wurde bereits einleitend ausgeführt. 3 2.2.1. Grundlegung und historischer Uberblick Interessenvereinigungen gehen zurück auf jene Entwicklungsphasen in Deutschland, in denen die ständischen Lebensordnungen an Kraft verloren; sie entfalteten sich um so mehr, je weniger das Leben des Einzelnen durch Herkunft oder Beruf vorherbestimmt und in eine umfassend gültige Ordnung, wie etwa die Zunftordnung, eingefügt war. Als sich dann im 19. Jahrhundert Parteien in Deutschland entwickelten und allmählich zu eigenen Organisationsformen fanden, 4 kam es noch nicht gleich zu ausdrücklichen Begegnungen zwischen organisierten Interessen und Parteien, da diese zunächst nicht so sehr an ökonomischen und sozialen Fragen orientiert waren, sondern eher prinzipiellen Charakter annahmen. Im „vereinsseligen Säkulum" {D. Langewiesche, 1988, S. 111) des 19. Jahrhunderts verzeichnete man gerade im Umfeld der Revolution von 1848/49 ein Aufblühen des Vereinswesens, aus dem in den darauf folgenden Jahrzehnten ein differenziertes Verbändesystem entstand. Erst in der Ära Bismarck und mit Gründung des Kaiserreichs kam es zu weiteren sprunghaften Entwicklungen vor allem aufgrund der zunehmenden Industrialisierung und damit der Umschichtung und Differenzierung der Gesellschaft; die dem folgende Veränderung rechtlicher Rahmenbedingungen, auch die Einführung der Koalitions- und Vereinigungsfreiheit und die zunehmende politisch-administrative Zentralisierung wirkten ebenso wie der von Bismarck geprägte politische Stil ein (W. Reut ter, 2001a, S. 76). Für Bismarck repräsentierte das Parlament die Gesellschaft und die Regierung den Staat; im Verhältnis zueinander sollte es - nicht nur, aber auch - darum gehen, dass die Gesellschaft dem Staat politische Forderungen bewilligte und dafür Zugeständnisse auf anderen Gebieten (etwa in der Frage des Schutzzolls) erhielt. So entstanden nach der Reichsgründung die ersten landesweit organisierten Spitzenverbände der Unternehmer, des Mittelstands und der Arbeitnehmer, aber auch der Städte und der Jugend-, Friedens-, Frauen- wie Naturschutzbewegung (s. ebd.). Verbände entwickelten sich hin zu einem „innenpolitischen Machtfaktor" (H.-R Ullmann, 1988, S. 114). Sie wurden zu Gesprächspartnern der Parteien, waren diese doch im Parlament aufgrund zunehmend komplexer werdender gesetzgeberischer Vorhaben auf Information und

3 Einführungen und weitere Literaturhinweise finden sich u.a. bei U. v. Alemann, 1989 2 , R Mayntz, 1992, H. Abromeit, 1993, W. Streeck, 1994, G. TrieschlW. Ockenfels, 1995, M. Sebaldt, 1997, R. Czada, 2000, W. Reutter 2001a und 2001b, A. ZimmerlB. Weßels, 2001 und M. Höpner, 2003; einen internationalen Vergleich unternehmen J. Hartmann, 1985, R. Kleinfeld/W. Luthardt, 1993 sowie W. Reutter IP. Rütters, 2001. 4 Zur Geschichte der Interessenverbände in Deutschland: D. Stegmann, 1970, H. J. Varain, 1973, H. A. Winkler, 1974, J. Weber, 1980 2 , F. Blaich, 1979, H.-R Ullmann, 1988 (ausführliche Bibliographie), J. Raschke, 1988 2 , sowie T. Eschenburg, 1989.

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Sachverstand aus den Verbänden angewiesen. Darüber hinaus etablierten sich personelle, organisatorische und finanzielle Verflechtungen zwischen Verbänden und Parteien vor allem im sozialdemokratischen und katholischen Milieu, aber auch im Bereich der Konservativen und Liberalen (vgl. D. Langewiesche, 1988, S. 146 ff.). Andere Gesprächspartner waren Vereine mit politischen, geistigen, kulturellen und sozialen Zielen, die aufgrund des Vereinigungsrechts und einer oft weiterreichenden genossenschaftlichen Tradition eine erhebliche Rolle spielten. Organisierte Gruppen, eingebürgerte Organisationsformen und Elemente eines Verhaltensstils waren demnach bereits vorhanden, als sich nach 1918 der moderne Sozialstaat aus dem früheren liberalen Rechtsstaat entwickelte. In dem Maße, in dem die Politik neben dem prinzipiellen Ordnungsgefüge des Gemeinwesens auch das soziale und wirtschaftliche Gefüge mitzugestalten begann und darüber hinaus die Daseinsvorsorge zu ihren Aufgaben gerechnet wurde, brachten Verbände die von ihnen vertretenen Interessen ins Spiel. Sie passten sich dabei der gesellschaftlichen Entwicklung an: Massenverbände entsprachen der stärkeren Egalisierung, kleinere Verbände brachten eher die Differenzierung der arbeitsteiligen Gesellschaft, sozial gesehen der offenen Gesellschaft zum Ausdruck. „Die mannigfaltigen größeren und kleineren Verbände, die soziale, wirtschaftliche, kulturelle oder politische Interessen vertreten, verkörpern ein antagonistisches soziales System differenzierter Gruppeninteressen, die in der Regel auf gesellschaftlichen Gegensätzen und Spannungen beruhen, und unter denen sich einige große beherrschende Organisationen wie Gipfel über einem Meer anderer Erscheinungen emporheben" (Parteienrechtskommission, 19582, S. 79). So ergibt sich auch ein Unterschied zu den Parteien. Während sich diese um eine Gesamtkonzeption bemühen und schon um der Mehrheit willen darauf verzichten müssen, sich allzu eng an einzelne Gruppen und ihre Interessen zu binden, können die Verbände unbefangen „partikulare, soziale oder wirtschaftliche - gelegentlich auch immaterielle - Interessen wahrnehmen, ohne nach der Übernahme der Gesamtverantwortung im Staate zu streben. Sie begnügen sich vielmehr damit, ihre Forderungen durch Einflussnahme auf Parlament, Regierung und Verwaltung, in erster Linie auch auf die Parteien, zur Geltung zu bringen, ohne selbst die staatliche Durchführung der von ihnen erstrebten Maßnahmen in die Hand nehmen zu wollen" {ebd., S. 82). Zum qualitativen Bedeutungszuwachs der Verbände gehörte auch, dass der Staat sie erstmals mit der Ausführung öffentlicher Aufgaben betraute. So wurden etwa die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sowohl im Ersten Weltkrieg in die Kriegsverwaltung als auch in den Jahren danach in die Bewältigung der Kriegsfolgen eingebunden (F. Tennstedt, 1992, S. 346). Der zunehmende Einfluss der Verbände auf die Politik und die deutliche Bindung politischer Parteien an einzelne Verbände und Interessengruppen stieß nach 1918 dabei hart auf das überlieferte Ideal, das von der Überparteilichkeit des Staates und seiner ordnenden Funktion, von seiner schiedsrichterlichen Stellung über den sozialen Gegensätzen ausging. Die Realität der vielschichtig gegliederten und aus offenen, variablen Gruppen bestehenden Gesellschaft wurde negativ beurteilt. Gegen die Zersplitterung oder den Zerfall in Interessenblöcke konnte man erfolgreich eine Gemeinschaftsideologie mobilisieren, die gefühlsmäßig vorbereitet war und aus dem Risiko des Wirtschaftskampfes ebenso herauszuführen versprach wie aus der Unbequemlichkeit, sich in der verwirrenden Vielfalt von Interessen, Programmen und Ansprüchen zurechtfinden zu müssen. Je weniger der Bürger gewohnt war, einen Ausgleich von Fall zu Fall herbeizuführen und am sozialen Kompromiss zu arbeiten, desto mehr musste der Staat, dem damit diese Aufgabe zufiel, verdächtig erscheinen, wenn er selbst nun den Parteien und Interessen ausgeliefert schien. Auf diesem Boden hatten dann autoritäre Vorstellungen ihre Chance: Konzepte wie Volksgemeinschaft, Ständestaat und plebiszitäre Diktatur oder auch der

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Traum von der Gleichheit aller kennzeichneten die Diskussion. Der Siegeszug der Unpolitischen begann mit dem Verzicht auf die Voraussetzung freiheitlicher Demokratie, in der der Bürger gefordert ist, „seine Interessen und Ideen mit denen der anderen abzugleichen", sich mit diesen anderen also auch auseinander zu setzen. In der Zeit zwischen 1933 und 1945 schafften die Nationalsozialisten das Verbändesystem der Weimarer Zeit ab. Es existierte fortan keine autonome Interessenvermittlung mehr, die Verbände und Vereinigungen wurden organisatorisch umstrukturiert und auf der Grundlage von Ausschließlichkeit, Zwangsmitgliedschaft und Führerprinzip gleichgeschaltet (vgl. H. P. Ulimann, 1988, S. 182 ff.). Dabei begrüßten einige Verbände diese Überführung explizit, andere wiederum dokumentierten ihre Bereitschaft, sich in ein totalitäres System integrieren zu lassen. Die überwiegende Zahl der Interessenvereinigungen wurde jedoch verboten oder löste sich selbst auf, um einem entsprechenden Verbot zuvor zu kommen. An ihre Stelle traten nationalsozialistische Körperschaften, die auf berufsständischer Basis die Gesellschaft in die NSDAP und den nationalsozialistischen Staat einbinden sollten. Die „Deutsche Arbeitsfront" ersetzte die Gewerkschaften, der „Reichsnährstand" die Landwirtschaftsverbände, die „Reichsgruppe Industrie" die Industriellenverbände. Nach 1945 lösten die Alliierten dann wiederum die nationalsozialistischen Zwangsverbände auf und förderten ein neuerliches Entstehen unabhängiger Verbände „von unten" ( W. Reutter, 2001 a, S. 78). Dabei blieben die vor 1933 erkennbaren Widersprüche - vor allem der Widerspruch zwischen einer konservativ-etatistischen Einstellung und einer reichhaltigen und wirksamen Verbändepraxis - in der Zeit nach 1945 erhalten (vgl. u.a. H. Krüger, 19642, S. 379ff.). Es blieb bei dem Organisationsbedürfnis und der Verbandsfreudigkeit, bei der Macht der Verbände und bei einer dem Antiparteienaffekt vergleichbaren Einstellung gegenüber ihrer politischen Wirksamkeit. „Der Parteienprüderie unter der Weimarer Verfassung entspricht eine Interessenverbandsprüderie unter dem Bonner Grundgesetz" (E. Fraenkel, 1964, S. 108). Das gilt auch und gerade für Verbandsmitglieder, die den neutralen Begriff „Verband" der Bezeichnung „Interessenverband" vorziehen, es meist leugnen, lobbyistisch tätig zu sein, und in Verbandsveranstaltungen gern die Gemeinwohlverpflichtung betonen. Es gilt indessen auch in einem weiteren Sinne: Ludwig Erhards Versuch der konservativen Erneuerung einer „formierten Gesellschaft" (1965) kam einer Anti-Verbände-Einstellung entgegen, deren heutige Verbreitung niemand genau zu bestimmen vermag. Auch die Wissenschaft reagierte zwiespältig auf die genannte Entwicklung. Sie brachte zunächst den konservativen Fundus in die Nachkriegsdiskussion ein, wandte sich dann aber bereitwillig der angelsächsischen Verbandsforschung zu und wollte auf der Basis einer Pluralismustheorie (hierzu v. a. E. Fraenkel, 1964 und 1968) den Verbänden ihren Platz im politisch-sozialen System zuweisen, um schließlich eine Reihe von Tatbeständen sichtbar zu machen, die konservative wie gesellschaftskritische Analysen auslösten. Nach 1945 machte in diesem Sinne zuerst Werner Weber Schule, der von der „Mediatisierung des Volkes durch die Parteien und von der ,wirklichen' Verfassung Westdeutschlands als einem Pluralismus (d.h. einer ungeordneten Vielzahl) oligarchischer Herrschaftsgruppen" sprach (1958, S. 50). Theodor Eschenburg folgte und stellte Staatsautorität und Gruppenegoismus gegenüber; der Titel des Vortrages „Herrschaft der Verbände?" wurde zum Schlagwort (19562). Ein Jahrzehnt später löste man sich wieder von konservativen Entwürfen, differenzierte zwischen angelsächsischer liberaler Interessengruppen- und Pluralismustheorie (vgl. WD. Narr/ F. Naschold, 1971; F. Naschold, 1969), übernahm daraus eine Reihe von Begriffen wie „lobby" oder „pressure group" und stellte sich die Aufgabe, die Erscheinungsformen der Verbände zu beschreiben, Ausmaß und Form ihres politischen Einflusses zu untersuchen, ihren Platz im engeren politischen Gefüge genauer zu bestimmen und sich vor allem kritisch mit

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte der politischen Rolle der Verbände auseinander zu setzen (vgl. unter vielen G. Schmölders, 1965; H. Schneider, 1965; O. Stammer, 1965; H. J. Varain, 1964; und G. W. Wittkämper, 1963). Im Mittelpunkt standen dabei die autonome Organisierbarkeit gesellschaftlicher Interessen und die quasi-automatische Herausbildung des Gemeinwohls aus dem konfliktreichen Zusammentreffen organisierter Gruppen im Rahmen rechtlich normierter und sozial akzeptierter Auseinandersetzungen (R. Eisfeld, 2002, S. 652). Auch diese nüchterne Einordnung der Verbände ins politische System erkannte man aber bald als unzureichend, weil die Einsicht wuchs, dass die mit dem landläufigen Pluralismusbild verbundenen Ausgleichshoffnungen sich nicht erfüllten. Orientiert an Staatsvorstellungen des 19. Jahrhunderts und an einer vielleicht unreflektierten, im Zusammenhang aber plausiblen Gemeinwohltheorie stellte etwa Ernst Forsthoff fest, dass die Chance für ein Interesse, befriedigt zu werden, in einem Gemeinwesen wie der Bundesrepublik „mit der sozialen Mächtigkeit des gesellschaftlichen Patrons (Verbandes), der dieses Interesse vertritt, (wächst). Dem ist jedoch eine Grenze gesetzt. Es gibt Interessen, die so allgemein sind, dass sie nicht nur keinen gesellschaftlichen Patron finden können, sondern sogar die gesellschaftlichen Patrone entgegenstehenden partikularen Interessen gegen sich haben [...] Die demokratischen Grundsätze, nach denen die Realisationschance eines Interesses um so größer sein sollte, je allgemeiner es ist, verkehren sich also in einer verbandsförmig organisierten Gesellschaft ohne politisch mächtige öffentliche Meinung in ihr Gegenteil" (E. Forsthoff, 1964, S. 203). Dem gemeinwohlorientierten Ansatz gesellte sich der antagonistische hinzu. Ihm zufolge verdecken die gängigen Pluralismustheorien und -behauptungen nur unzulänglich den Klassencharakter der Gesellschaft (vgl. z. B. U. Jaeggi, 1969). Dieser äußere sich auch in der Verbändestruktur, die insgesamt ein konservierendes Gebilde darstelle, innerhalb dessen sich die großen sozialen Gruppen nicht gegen kleinere, dafür aber mächtigere durchzusetzen vermögen. Dabei kamen selbst Vertreter des pluralistischen Ansatzes zu der einschränkenden Beobachtung, dass die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen der Demokratie und die asymmetrisch proportionierten gesellschaftlichen Machtsysteme stärker ins Blickfeld rücken sollten ( IV. Steff ani, 1971; Κ. Sontheimerl W. Bleek, 1972). Ein solcher grundlegender Vorwurf verbindet sich mit dem mangelnder innerverbandlicher Demokratie sowie der Kritik, die Verbände lenkten dank ihres tatsächlichen Einflusses von den wirklichen, objektiv öffentlichen Interessen ab. Uberträgt man auf solche Weise die Verbändeproblematik auf die gesamtgesellschaftliche Situation, erscheint es nahezu widersinnig, sich in der Hauptsache mit der Analyse und Kritik von Verbandsstrategien und ihrer politischen Einflussnahme zu begnügen. Denn die beruhigende Feststellung, von „einer Herrschaft der Verbände", einer unausweichlichen Beeinträchtigung der Prärogative des Parlaments, einer Verminderung der Aktionsfähigkeit der Parteien und einer Ausschaltung der politisch interessierten Öffentlichkeit könne nicht die Rede sein, trifft allenfalls zu, solange man das auf den „politischen Prozess der Gesetzgebung" beschränkt, ohne die diesem auferlegten restriktiven Bedingungen zu berücksichtigen (O. Stammer, 1965, S. 226). Infolge der „Vernachlässigung gesellschaftlicher Macht- und Einflussstrukturen, [dem] Ausschluss nicht organisations- und konfliktfähiger Interessen, [der] , Selektivität' öffentlicher Institutionen, [der] Konzentration auf die input-Seite des politischen Willensbildungsprozesses oder das im wesentlichen auf Interessenartikulation eingeschränkte Verständnis verbandlicher Funktionen" (W. Reut ter, 2001b, S. 11) entwickelten Kritiker der Pluralismustheorie in der 1970er Jahren dann die Theorie der korporatistischen Interessenvermittlung (vgl. dazu P. C. Schmitter, 1974; P. C. Schmitter/G. Lehmbruch, 1979; G. Lehmbruchl P. C. Schmitter, 1982; sowie zusammenfassend R. Czada, 1994 b). Die Neokorporatismus-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Hypothese, anknüpfend an eine Reihe von historischen Vorläufern und wissenschaftlich schon seit den 1960er Jahren allmählich an Boden gewinnend (A. Shonfield, 1965), thematisierte die in den 1970er Jahren in westlichen Demokratien beobachtbaren Ausprägungen einer engen Zusammenarbeit zwischen politischen Körperschaften und den Verbänden von Kapital und Arbeit, d. h. die Entstehung eines „Verbundsystems" bei der Formulierung und Entscheidung politischer Ziele sowie bei der Erfüllung staatlicher Leistungen und Aufgaben. Weder konkurrenzdemokratische Modelle noch die unterschiedlichen PluralismusKonzepte waren in der Lage, Erklärungen hierfür zu liefern. Neben der beschriebenen strukturellen Konstellation war der zentrale Bestandteil der Theorie verfahrensbezogen: „Gegenseitige Information, das Aushandeln multilateraler Vereinbarungen und kontrollierbarer Verpflichtungen" (K. Schubert, 2002, S. 449) verlangten von den beteiligten Akteuren ein hohes Maß an Rationalität und Überzeugungskraft, ebenso wie gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft, auf einen Konsens hinzuwirken. Dieses System führe vor allem im Bereich der Wirtschaftspolitik zu einem „tripartism" von Staat, Kapital und Arbeit, binde Kapital und Arbeit mit staatsentlastender Wirkung in den politischen Prozess ein, wofür den Verbänden Bestandsgarantien und gewichtige Beteiligungsrechte zugesprochen würden. Im Ergebnis komme es zu einem „Mechanismus der formlosen Konzertierung zwischen gesellschaftlichen Machtgruppen [...], welcher die offiziellen Formen der politischen Konfliktaustragung und -regelung (z.B. Parteienkonkurrenz, Tarifsystem, pluralistische Interessengruppenpolitik) nicht so sehr verdrängt wie leerlaufen lässt" (C. Offe, 1981, S. 8). Zu den strukturellen Voraussetzungen eines solchen Interessenvermittlungssystems gehört nach P. C. Schmitter, dass die Anzahl der Verbände, die an politischen Entscheidungen beteiligt sind, begrenzt ist, diese funktional voneinander getrennt und in ihrem Bereich das Repräsentationsmonopol besitzen, die Verbände intern hierarchisch strukturiert sein müssen und die Mitgliedschaft entweder zwangsweise organisiert oder der Organisationsgrad sehr hoch ist (R. Czada, 1994, S. 45). Zu den prozessualen Voraussetzungen zählt, dass die Regierung als Verhandlungspartner ausreichende politische Mehrheiten besitzt und über (finanzielle und fiskalpolitische) Handlungsspielräume verfügt, um in den Verhandlungen etwas anbieten zu können. Die Verbände wiederum müssen in der Lage sein, die Verhandlungsergebnisse organisationsintern durchzusetzen und ihre Mitglieder zu ihrer Einhaltung zu verpflichten. Die Verbände- und Korporatismusforschung der 1970er und 80er Jahre stand in engem Zusammenhang mit den aufgezeigten Versuchen, staatliche Globalsteuerung zu betreiben. Dabei rückten konsensorientierte Verhandlungsprozesse zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im Bereich der Arbeitsmarkt-, Einkommens- und Wirtschaftspolitik in das Zentrum des Untersuchungsinteresses. Später wurde die ursprünglich enge Definition des Korporatismus erweitert und so auf beinahe jede Form institutionalisierter Staat-Verbände-Beziehungen („Mesokorporatismus") übertragen, etwa auf das Gesundheitswesen (H. Wiesenthal, 1981), die berufliche Ausbildung oder die technische Normierung (K. Schubert, 2002, S. 450). Zudem verschob sich das Forschungsinteresse von der strukturellen Akteursanalyse korporatistischer Arrangements zur Untersuchung ablaufender Kooperationsprozesse - und hier vor allem der Konsensfindung und des Interessenausgleichs zwischen den beteiligten Akteuren. Der Neokorporatismus wurde zunehmend als „wohlgeordnete und dauerhafte Verknüpfung von Staat und Verbänden" (R. Czada, 1994, S. 37), als „institutionalisierte und gleichberechtigte Beteiligung gesellschaftlicher Verbände an der Formulierung und Ausführung staatlicher Politik" verstanden. Inzwischen begreift man die Beteiligung von Verbänden an staatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen als funktional notwendig und nicht mehr a priori als illegitime „Herrschaft der Ver-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte bände" (Κ. Schubert, 2002, S. 451). Darüber hinaus erscheint die einstmals polarisierende Gegenüberstellung von Pluralismus und Neokorporatismus als überholt; der Neokorporatismus wird eher als Ergänzung und Erweitung der liberalen Pluralismustheorie begriffen, sie hat zum besseren Verständnis der Funktion von Verbänden und Interessengruppen in repräsentativen Demokratien beigetragen, ohne dass freilich der empirische Gehalt wesentlich erhöht worden wäre. Heute finden sich Korporatismusansätze in der Defensive, nicht zuletzt aufgrund einer zunehmenden Verlagerung politischer Entscheidungen in komplexe und flexible „Netzwerke". Zur Vervielfältigung der Entscheidungsstrukturen und der wachsenden Asymmetrie politischer Entscheidungsarenen tragen Europäisierung wie Globalisierung, aber auch Dezentralisierungs- und Privatisierungsprozesse bei (E. Grande, 2000). Mit der „Aushöhlung" des (einstmals autonomen) Nationalstaats verlieren auch korporatistische Beziehungsgefüge an Bedeutung; multinationale Unternehmen bewegen sich längst im globalen „Standortwettbewerb" jenseits nationaler Strukturen. Entscheidungskompetenzen supranationaler Organisationen wie der Europäischen Union verdeutlichen zudem, dass die nationalstaatlichen Regierungen eine nur noch begrenzte Einwirkung auf die Rechtsetzung haben, ihre Steuerungsfahigkeit mithin reduziert ist.

2.2.2. Formen und Funktionen von Vereinigungen Die Zahl der Vereinigungen in der Bundesrepublik ist unbekannt und muss es wohl auch sein, weil es weder eine zentrale Registrierstelle für eingetragene Vereine noch einen präzisen Begriff dafür gibt, was man als Verband, Verein, Vereinigung, Gruppierung, Ausschuss oder Bürgerkomitee betrachten und entsprechend bezeichnen kann (vgl. Materialband, IV/21). So finden sich in der einschlägigen Literatur auch divergierende Angaben zur Anzahl der Vereine und Verbände in Deutschland. Das Bundesministerium für Familie und Senioren ging 1993 von etwa 200.000 eingetragenen Vereinen in Deutschland aus (G. TrieschlW. Ockenfels, 1995, S. 13); neueren Schätzungen zufolge existieren 300.000 bis 500.000 Vereine, wenn nicht-rechtsfähige Vereinigungen einbezogen werden (Η. Κ. Anheier, 1997, S. 33). Mit Blick auf die Verbände im engeren Sinn finden sich ebenfalls unterschiedliche Daten, meist wird von „einem Bestand von mindestens 4.000 Verbänden" ( W. Reutter, 2001a, S. 83) ausgegangen. Andere Schätzungen verweisen für die Bundesrepublik auf 2.000 Bundes- und 6.800 Berufsverbände (G. TrieschlW. Ockenfels, 1995, S. 13). Da sich mit solchen vergleichsweise grob gegriffenen Daten kaum arbeiten lässt und örtliche wie regionale Totalerhebungen nicht vorliegen, wird verständlich, dass sich die Wissenschaft zurückhält oder mit Hilfe eines sehr engen Verbands- und eines ebenso verengten Interessenbegriffs ihre Themen einschränkt (vgl. U. v. Alemann/E. Forndran, 19952). Tatsächlich erscheinen mit Blick auf die politisch-soziale Struktur eines Landes und sein Regierungssystem die vielen tausend kleinen Sport- und Gesangvereine weniger bedeutsam, auch wenn man nicht bestreitet, dass selbst der kleinste Sportverein sich politisch-lobbyistisch betätigen kann (etwa wenn es um Zuschüsse zum örtlichen Sportplatz geht) und die Summe dieser Vereine im Deutschen Sportbund erheblichen Einfluss (etwa auf die Sportförderung oder das Fernsehprogramm) ausübt. Umgekehrt führen die verbreiteten Typologien zu einer Vorauswahl, die auf bestimmten Vorstellungen von Interesse, Macht und Einfluss beruht. Dabei erscheint die Gesellschaft gelegentlich nur noch als Aggregat von Interessen und ist zuletzt allein von Wirtschafts- und Arbeitsverbänden die Rede, oder aber man klassifiziert lediglich die Formen der Einflussnahme, was über das Regierungssystem viel, über die in den Vereinigungen sich widerspiegelnde Struktur aber nur wenig aussagt.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Für einen ersten Überblick seien vier große Gruppen und eine Sondergruppe von Vereinigungen genannt: •



• •



Vereinigungen des Freizeitbereichs, die der gemeinsamen Pflege von Sport, Geselligkeit und Musik sowie ggf. auch der Wahrnehmung sich damit verbindender Interessen dienen; Vereinigungen des sozialen Bereichs, gleichgültig, ob es sich dabei um Verbände handelt, die gemeinsam soziale Interessen wahrnehmen oder aber um Vereinigungen, die unbestimmten oder bestimmten Personengruppen helfen oder deren Selbsthilfe organisieren wollen; Vereinigungen im Bereich von Kultur, Religion, Umwelt und Politik, deren gemeinsames Merkmal sich aus der Wertorientierung ergibt; Vereinigungen innerhalb des Wirtschafts- und Arbeitssystems, darunter vor allem die Produzentenvereinigungen (Wirtschaftsverbände, Innungen oder Kammern), die Arbeitnehmervereinigungen (Gewerkschaften), die - noch immer weithin fehlenden oder meist machtlosen - Konsumentenvereinigungen, die Vereinigungen der Arbeitspartner im weiteren Sinne sowie die Berufsvereinigungen einschließlich der Berufsgenossenschaften; Vereinigungen von politischen Körperschaften des öffentlichen Rechts, also in der Hauptsache von Gebietskörperschaften und ihren Einrichtungen. Diese letzte Gruppe bildet einen Sonderfall, weil sie der Demokratietheorie zufolge keine „eigenen" oder „Gruppeninteressen" repräsentierten soll und sich mit Blick auf das Mandat ihrer Organe Schwierigkeiten ergeben können.

Relativ einfach lassen sich die Freizeitvereinigungen charakterisieren. Sie bilden - meist in der Rechtsform eingetragener Vereine - die der Anzahl nach größte Gruppe. Mit den Zusammenschlüssen von Sport- oder Gesangvereinen zu Bünden oder Dachverbänden verfügen sie auch über Mitgliederzahlen, die mit denen des Deutschen Gewerkschaftsbundes nach den Kirchen noch immer der mitgliederstärkste Verband - konkurrieren können. Als ihr gemeinsames Merkmal kann gelten, dass sie in erster Linie Dienstleistungen erbringen, gleichgültig ob es sich um den ADAC oder um einen Wanderverein handelt. Das Dienstleistungsangebot motiviert dabei auch zur Mitgliedschaft. Dass sich bei Dachverbänden dieses Bild wandelt und es sich bei ihnen auch um eine greifbare Repräsentation organisierter Interessen, um eine Interessenwahrnehmung gegenüber der Öffentlichkeit und der politischen Führung handelt, man als Lobby für den Bau von Sportanlagen oder Autobahnen in Bürokratie wie Politik eintritt und es personale Beziehungen zwischen den Mitarbeitern der Dachverbände gibt, widerspricht der ersten Feststellung nicht, verdeutlicht nur die Mehrdimensionalität von Freizeit und Freizeitinteressen. Vergleichsweise wenig problematisch erscheinen auch die Sozialvereinigungen. Ihr gemeinsames Merkmal ist der Hilfscharakter, gleichwohl handelt es sich um einem Bereich „von hoher Konfliktintensität" (M. Sebaldt, 1997, S. 146), da Strukturen und weltanschauliche Basis der Wohlfahrtsverbände sich beträchtlich voneinander unterscheiden (vgl. K.-H. Boeßenecker, 19982). Darüber hinaus wird dieser Bereich von einigen wenigen Verbänden dominiert. Von ihrem Selbstverständnis her religiös ausgerichtet sind der Deutsche Caritasverband (katholisch) und das Diakonische Werk (evangelisch). Beide befinden sich auch in enger organisatorischer Verbindung zu den entsprechenden Kirchen. In sozialdemokratischer Tradition steht die Arbeiterwohlfahrt, die Wohlfahrtspflege und Fürsorge als staatliche Aufgabe versteht und sich daher besonders in der Prävention und der „Hilfe zur Selbsthilfe" engagiert. Schließlich ist auf die ostdeutsch-sozialistisch geprägte Volkssolidarität sowie weitere Verbände wie das Deutsche Rote Kreuz und den Deutschen Paritäti-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte sehen Wohlfahrtsverband zu verweisen (IV. Reutter, 2001a, S. 88 f.). Die genannten Einrichtungen, die sich in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege als Dachorganisation zusammengeschlossen haben, sind allerdings nicht nur Interessenvertreter, sondern als Vertreter des sog. „Dritten Sektors" auch an der staatlichen Leistungserbringung beteiligt und bilden mit ihren Einrichtungen und Mitarbeitern eine erheblichen Wirtschaftsfaktor (J. Schmid, 1996, S. 195 ff.). Darüber hinaus existiert eine große Anzahl weiterer sozialpolitischer Verbände und Organisationen, so etwa im Arbeitslosen-, Jugend-, Seniorenoder Behindertenbereich. Hier wird in Teilen „gesellschaftliche Selbstregulierung" betrieben, gleichgültig ob dabei soziale Mängel verhüllt oder zureichend transparent werden; allerdings macht die Arbeitsweise der benannten Vereinigungen auch deutlich, dass Selbsthilfe nur begrenzt wirkt, mithin der Staat nicht aus der Pflicht genommen werden kann. Nur schwer lassen sich dagegen die wertorientierten Vereinigungen zusammenfassen. Gemeinsam ist ihnen zunächst das negative Kennzeichen, dass sie für sich und ihre Mitglieder keine ökonomischen Vorteile bzw. soziale Sicherung anstreben, und dass im Gegensatz zu Freizeitvereinigungen auch die Geselligkeit keine sonderliche Rolle spielt. Positiv sind sie von der Überzeugung geleitet, die eigene Wertorientierung müsse auch die vieler anderer sein. Wenngleich solche public interest-groups in verschiedenen Bereichen eine zum Teil lange Tradition aufweisen (Menschenrechte, Naturschutz), kam es doch gerade vor dem Hintergrund des „postmaterialistischen" Wertewandels in den 1970er und 80er Jahren zu einem Anwachsen des Engagements in diesem Sektor. Die „neuen sozialen Bewegungen", die anfangs die tradierten Organisationsstrukturen kritisierten, haben sich zwischenzeitlich weitgehend integriert. Heute zählen vor allem Frauen-, Friedens- und Umweltverbände zu den wichtigen Vereinigungen in diesem Bereich (G. TrieschtW. Ockenfels, 1995, S. 25, W. Reutter, 2001a, S. 89f.). Im Übrigen nehmen die beiden großen christlichen Kirchen eine besondere Position ein, weil sie ihrem Selbstverständnis nach Vereinigungen sui generis sind und ihre besondere Privilegierung ihnen tatsächlich einen Sonderstatus verleiht. Zweifellos repräsentieren aber auch die Kirchen Interessen, vertreten sie gegenüber der Öffentlichkeit und der politischen Führung und bedienen sich der verbreiteten Formen politischer Einflussnahme. Umgekehrt ergeben sich für den einzelnen Kirchenangehörigen Mitgliedschaft, Beitragspflicht und Mitwirkungsmöglichkeiten, verbunden mit der Frage, ob Kirchenvertreter durch solche Mitwirkung legitimiert sind, in seinem Namen zu sprechen, und ob er sich mit der von den Kirchen beanspruchten Legitimation abfindet, Stellungnahmen auch ohne Zustimmung der Kirchenangehörigen abgeben zu können - eben weil die Kirchen kein sich demokratisch legitimierender Verband, sondern eine eigenen Gesetzen unterworfene societas seien. Zu den wertorientierten Vereinigungen sind ferner ein großer Teil der Bürgerinitiativen zu zählen, die sich dezentral und wenig formal organisieren und gelegentlich unorthodoxe Formen der Partizipation einsetzen (vgl. A. KleinIH.-J. Legrand/T. Leif, 1999). Hierbei ergeben sich Zuordnungsschwierigkeiten, da solche Bürgerinitiativen oft ad hoc entstehen, um eine bestimmte Maßnahme der öffentlichen Hand zu verhindern, herbeizuführen oder auf eine konkrete Planung Einfluss zu nehmen, um sich anschließend wieder aufzulösen. Man sollte solche eher spontanen Aktionen wohl als eine besondere Form der politischen Beteiligung betrachten, sie aber weder den Verbänden noch den Parteien zurechnen - schon deshalb, weil Verbände wie Parteien der spezifischen Organisation bedürfen. An der Spitze der Vereinigungen von politischen Körperschaften des öffentlichen Rechts stehen bundesweite und landesspezifische Gruppierungen der Städte, Gemeinden und Gemeindeverbände. Derartige Vereinigungen (Deutscher Städtetag, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Deutscher Landkreistag) bilden eine Interessenvertretung gegenüber Öffent-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung lichkeit und politischer Führung. Ergänzt durch kommunale Arbeitgeberverbände lassen sie sich unterschiedlichen Bereichen zuordnen, bilden aber immer einen Sonderfall. Die Mitglieder sind mit Hoheitsrechten ausgestattete Gebietskörperschaften und vertreten somit kein gesellschaftliches Interesse im engeren Sinne; der Zusammenschluss ist ein Rechtsgebilde eigener Art, das Dienstleistungsaufgaben (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung), Lobbyfunktionen oder sozialpartnerschaftliche Aufgaben in gleicher Weise wahrnimmt und sich in dem staatstheoretischen Zwiespalt befindet, dass kommunale Beauftragte des Volkssouveräns mit staatlichen Beauftragten des gleichen Souveräns einen Interessenkonflikt (um Steueranteile) austragen. In der Staatspraxis ist dieser Zwiespalt neutralisiert. Ob dies im Sinne des Souveräns geschieht, sei dahingestellt. Bei der relativen Sonderstellung der Gruppe aber bleibt es. Erst zum Schluss sei die am meisten diskutierte Gruppe der Vereinigungen innerhalb des Wirtschafts- und Arbeitssystems angesprochen (vgl. Materialband, IV/13-18). Von ihren Mitgliedern her gesehen kann man es als gemeinsames Merkmal dieser Vereinigungen bezeichnen, dass sie sich fast immer auf primäre berufliche oder ökonomische Interessen beziehen. Dabei sind auch Dienstleistungsbedürfnisse zu befriedigen, in der Hauptsache aber geht es um die Vertretung ökonomischer Interessen nach außen, gleichgültig ob dabei der Interessenkontrahent oder der Staat als Gesprächspartner auftritt. Im Übrigen ist zu unterscheiden: Zum engeren Wirtschaftsbereich gehören die Vereinigungen der Produzenten die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern, die Wirtschaftsvereinigungen (Bundesverband der Deutschen Industrie), die Innungen - , sie alle sind in ihrer Organisation an den verschiedenen Branchen der Güterproduktion und der Distribution orientiert. Da hier die Mitgliedschaft fast ausnahmslos den Betrieben zukommt und diese meist allein durch ihre Inhaber oder durch deren Beauftragte vertreten werden, stellen die Produzentenvereinigungen meist zugleich Arbeitgebervereinigungen dar; beschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer in Kammern und Innungen ändern daran nichts. Partner im Verbandsbereich müssten für die Produzentenvereinigungen dann Konsumentenvereinigungen sein (vgl. K. Wieken, 1976; G. Fleischmann, 1981; N. Franke, 2002). Zum engeren Arbeitsbereich gehören die Organisationen der Arbeitspartner. Angesichts der bestehenden Wirtschaftsvereinigungen begnügen sich die Arbeitgeber mit reinen Arbeitgeberverbänden; die Gewerkschaften hingegen übernehmen neben sozialpartnerschaftlichen Aufgaben auch viele andere Dienstleistungen. Als Hauptorganisation stehen die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände und die Vertreter öffentlicher Dienstherren den Gewerkschaften gegenüber, vor allem den Mitgliedsverbänden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Deutschen Beamtenbundes (DBB). Einen Sonderfall bilden Berufsvereinigungen, die nicht zugleich Produzentenvereinigungen sind. Hierzu zählen in erster Linie die Vereinigungen der Freien Berufe und deren Kammern (etwa für Ärzte und Rechtsanwälte) sowie die Vereinigungen der Landwirtschaft, zu denen wiederum das entsprechende Kammersystem gehört, schließlich der Hochschulverband, eine Berufsvereinigung von Professoren. Es erleichtert die weiteren Überlegungen, wenn der Sonderfall der öffentlich-rechtlichen Körperschaften außer Acht gelassen und gefragt wird, welche Interessen das Vereinigungssystem als Ganzes repräsentiert. Formal findet sich eine Antwort bereits mit Blick auf die genannten vier Gruppen. Sie sprechen offensichtlich ökonomische und berufliche Interessen, Interessen am sozialen Ausgleich, Freizeitinteressen oder wertorientierte Interessen im weiteren Sinne an, soweit diese über die Fortbildung im (wissenschaftlichen oder wissenschaftlich angeleiteten) Beruf hinausgehen. Die solchen Interessen dienenden Vereinigungen sind aber nahezu alle, wie angesprochen, multifunktional. Die meisten erbringen nach innen, für ihr Mitglieder also, Dienstleistungen unterschiedlichster Art, während sie nach außen, 160

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte als Verband, Interessen öffentlich vertreten. Dabei fallt diese Interessenvertretung allerdings sehr unterschiedlich aus. Mit Blick auf die Mitgliederzahlen weisen die Produzenten- und die Berufsvereinigungen einen hohen Organisationsgrad auf. Alle Handwerksbetriebe, alle Werften, alle Arzte, Rechtsanwälte und fast alle Landwirte sind in ihnen organisiert, gelegentlich in einem Nebeneinander von Zwangsmitgliedschaft (in der Kassenärztlichen Vereinigung oder in der Landwirtschaftskammer) und freiwilliger Mitgliedschaft (im Hartmannbund oder im Deutschen Bauernverband). Weniger hoch ist der Organisationsgrad im Arbeitsbereich; die Arbeitgeber sind zunehmend schwächer organisiert, von den Arbeitnehmern gehört nur noch ein gutes Drittel einer Arbeitnehmerorganisation an. Ohne nennenswerten Organisationsgrad präsentiert sich schließlich der Verbraucherbereich·, den Produzenten fehlt noch immer das Gegenüber. Der höchste Organisationsgrad findet sich demnach im Erwerbsbereich, wobei das Organisationssystem der Arbeitgeber und Produzenten im engeren Sinne dichter und differenzierter ist als das der Arbeitnehmer. Auch im Freizeitbereich ist zunächst von einem besonders hohen Organisationsgrad auszugehen. Die ihm zuzurechnenden Vereinigungen kommen ihrem selbstgestellten Auftrag mit Hilfe der materiellen und finanziellen Beiträge der Mitglieder nach. Die wertorientierten Vereinigungen weisen als Gesamtgruppe zwar die höchsten Mitgliederzahlen auf, weil die Bevölkerung in der Mehrheit den beiden großen Kirchen angehört; sieht man davon aber ab, bleibt nur ein geringer Organisationsgrad. Die Angebote der Erwachsenenbildung, der Kulturpfiege im weiteren Sinn und ähnlicher Bereiche werden zwar vielfältig konsumiert, aber nur von wenigen Vereinigungen und deren Mitgliedern getragen. Tier- oder Naturschutzverbände - die Vereinigungen der Jäger, der Förster, der Landwirtschaftsexperten sind Berufsvereinigungen - vereinigen meist etwas mehr Mitglieder, aber immer nur einen Bruchteil der Interessierten. Die Umweltverbände (vgl. M. Leonhard, 1986; D. Cornelsen, 1991; sowie C. HeylU. Brendle, 1994) weisen ebenfalls keine hohen Mitgliederzahlen auf, gleichen das aber durch große Aktivität aus. Weltanschauliche oder politische Gruppierungen, wie die Humanistische Union oder die Deutsche Atlantische Gesellschaft, leiden allesamt unter Mitgliedermangel; viele von ihnen existieren nur aufgrund öffentlicher Zuschüsse, die allerdings auch mitgliederstärkeren Einrichtungen dieser Gesamtgruppe, wie etwa Jugendgruppen, das Leben erleichtern. Stark differenziert zeigt sich schließlich der Komplex sozialer Vereinigungen. Meist ist hier von kleineren Gruppen auszugehen, die nur selten über eine umfassende Gesamtorganisation verfügen. Der Bundesverband der Vertriebenen mit einer noch immer hohen Mitgliederzahl und die Kriegsopferverbände können dabei ebenso als Ausnahme gelten wie die großen Wohlfahrtsverbände, das Deutsche Rote Kreuz und ähnliche Einrichtungen.

2.2.3. Vereinigungen als Beteiligungsfeld Unter dem Aspekt demokratischer Legitimität, so wurde bereits ausgeführt, bleibt es gleichgültig, ob die Vereinigungen auch innerverbandliche Demokratie pflegen und sich an den Willen ihrer Mitglieder halten. Legitimitätsfragen ergeben sich erst dann, wenn Verbandsvorsitzende öffentlich namens ihrer Mitglieder sprechen und ihre Legitimation zweifelhaft ist - zweifelhaft in der Sache selbst bzw. mit Blick auf das Zustandekommen des Mandats. Die Frage nach der realen Beteiligungschance wird demnach nur unter bestimmten Bedingungen interessant. Zum einen muss eine demokratische Struktur der Willensbildung und Mandatszuteilung in allen Vereinigungen mit Zwangsmitgliedschaft gewährleistet sein, gleichgültig ob diese Zwangsmitgliedschaft auf Gesetzesbefehl oder faktischen Monopolen beruht. Zweitens muss es eine solche Struktur dort geben, wo im Namen des Mitglieds 161

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung gehandelt und entschieden wird - auch außerhalb der Vereinigung. Unter diesem Aspekt muss man etwa die Legitimation der Verbandsvertreter in Rundfunkräten kritisch befragen, oder umgekehrt die Verfahren, durch die die Rundfunkratsmitglieder innerverbandlich benannt werden. Drittens bedarf es einer solchen Struktur dort, wo es sich um grundlegende Interessen handelt und Austritt oder Neugründung nicht zumutbar sind. Hält man derartige Maßstäbe für annehmbar, sind zwei Einschränkungen zu beachten. So fehlt es noch immer an einer ausreichenden Zahl empirischer Untersuchungen', jedes Urteil gründet zuletzt nur auf plausiblen Annahmen und teilnehmender Beobachtung. Darüber hinaus gilt für Großorganisationen eine gewisse Gesetzlichkeit·. Sie bedürfen eines Mindestmaßes an bürokratischer Organisation, eines Apparates, meist zahlreicher Funktionäre zwischen Mitglied und Erfüllung des Organisationszwecks steht nicht nur die spontane Teilnahme der Mitglieder, sondern auch und überwiegend das, was der Apparat selbst leistet. Dazu gehören Information, das Festlegen einer Tagesordnung, Entscheidungsverfahren und vieles andere mehr. Je größer die Organisation, desto ordnungsbedürftiger und damit formalisierter die Teilnahme. Wer mit „ungebrochenen" Teilnahmevorstellungen an solche Organisationen herantritt, tut ihnen unrecht. Die IG Metall wird durch andere Teilnahmemöglichkeiten bestimmt als der Fremdenverkehrsverein in einem kleinen Dorf. Man kann mithin den Großorganisationen nicht zum Vorwurf machen, was unter den gegenwärtigen Bedingungen unvermeidlich ist. Man muss sogar akzeptieren, dass für Interessenverbände die Binnenbeteiligung durch den Gruppenzweck eingeschränkt sein kann - etwa wenn die öffentliche Diskussion die „Gruppenstrategie" beeinträchtigt. Die gemeinsame Diskussion in großen Verbänden findet aber immer mehr oder weniger öffentlich statt. Deshalb lassen sie sich kaum mit kleineren Bürgerinitiativen oder solchen Vereinigungen vergleichen, deren interne Meinungsbildung die Öffentlichkeit nicht interessiert. Vor dem Hintergrund solcher Einschränkungen relativiert sich das durch viele Umfragen erhärtete Ergebnis, dass über die Hälfte aller Erwachsenen in der Bundesrepublik in einem Verein oder Verband Mitglied ist und ein großer Teil der Befragten zwei und mehr Mitgliedschaften nennt. Formal ist der Beteiligungsgrad also hoch. Wie häufig die „wirkliche" Beteiligung ist, vermag niemand zu sagen; sie reicht allerdings weit über die „sozial Engagierten" hinaus, weil nun auch die zahlreichen aktiven Mitglieder, etwa von Sportvereinen, hinzukommen. Gesichert erscheint demgegenüber, dass Mitgliedschaft und sogar Aktivität in Vereinen und Verbänden noch nichts über soziales oder politisches Engagement aussagen. Der hohe Organisationsgrad vor allem der Vereinigungen des Wirtschafts- und Arbeitssystems rückt diese, nicht aber ihre Mitglieder, in die Nähe der Politik. Dennoch bieten die Vereinigungen eine Plattform auch für politische Beteiligung. Unter diesem Aspekt lässt sich zusammenfassen, dass die meisten Vereinigungen mit Zwangsmitgliedschaft wenigstens formal eine demokratische Struktur aufweisen. Sie findet sich weithin auch in den Vereinigungen des Freizeitbereichs (was durch diskussionswürdige Ereignisse in Vereinen des Spitzensports nicht widerlegt wird), in den wertorientierten und den meisten wissenschaftlichen Vereinigungen sowie in denen des Sozialbereichs. Auch die Verbände der Arbeitspartner sind hier zu nennen. Bei manchen Produzentenvereinigungen wird man dagegen nur noch einen Rest von Ehrenamt mit gelegentlicher Betätigung feststellen. Insgesamt ist von einem eher hohen Grad formaler Verbandsdemokratie auszugehen. Das Vereinsrecht schützt die Mitglieder. Die Probleme liegen deshalb auch weniger im Bereich der Satzungen oder Statuten, als vielmehr in der Satzungspraxis. Sie zeigt, dass in allen Großorganisationen die Organisation dem Mitglied überlegen ist und es wohl auch sein muss. Was in kleinen örtlich fixierten Vereinen in täglicher Praxis gelingen kann, verändert sich, wenn turnusmäßig Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen einberufen werden

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte und über etwas beschließen, was zumeist der Vorstand oder der Verbandsapparat vorbereitet hat und worüber er informiert. Massenverbände sind unbestreitbar notwendig·, eine unmittelbare Beteiligung erlauben sie nicht, wenngleich eine Beteiligungschance für diejenigen besteht, die sich genügend Zeit nehmen - oder sie haben. Votiert man angesichts dieses kaum zu bestreitenden Tatbestandes für Änderungen, muss man entweder von den Massenverbänden eine größere Zurückhaltung bei öffentlichen Erklärungen verlangen oder sich dafür aussprechen, diesen eine innerverbandliche Diskussion vorangehen zu lassen. Das Erstere widerspräche der Funktion solcher öffentlicher Erklärungen, die sich ja nicht nur an die Öffentlichkeit, sondern durchaus auch an die Mitglieder richten, das Letztere entwertete die spätere Erklärung. Was man aus langer innerverbandlichen Diskussion bis zum Überdruss kennt, interessiert nicht mehr, wenn es von Vorstand oder Delegiertenkonferenz förmlich verabschiedet und mitgeteilt wird. Pressure groups bedürfen der aktiven Führung; in ihnen sind richtliniengebende Versammlungen nur schwer vorstellbar. Was eigentlich übrigbleibt, ist die Kontrolle, die Möglichkeit der Abwahl. Die Verhältnisse in großen Verbänden können dabei nicht anders sein als in großen Parteien. Deshalb auch lässt sich das System der Vereinigungen, bezogen auf die politische Willensbildung, als eine weitere Ebene der Repräsentation bezeichnen, was vor allem besagen will, dass auch diesem System, sofern es in die Sphäre politischer und ökonomischer Macht vorstößt, spontane und unmittelbare Teilnahme fremd und die Verfahren der Repräsentation nicht einmal denen der politischen Repräsentation gleichwertig sind. Ob man den Vereinigungen daraus einen Vorwurf machen will, ist fraglich. Im gegebenen System wird derjenige mehr Erfolg haben, der sich dem repräsentativen System anpasst, also etwa seinem Vorsitzenden einerseits Verhandlungsspielraum, andererseits die Möglichkeit belässt, sich in brisanten Verhandlungen gänzlich anders auszudrücken als in der Öffentlichkeit des eigenen Verbandes. Deshalb geht es zuletzt um das System selbst, das politisch ein durch und durch repräsentatives System ist und sich als solches auch dem sogenannten vorpolitischen oder vorparlamentarischen Raum anpasst. Die Anpassung führt dazu, dass viele Vereinigungen politisch einflussreich sind - allerdings eher über ihre Vorstände als über ihre Mitglieder.

2.2.4. Verbandseinfluss auf die Politik Für den Verbandseinfluss auf die Politik steht, wenn man dies zunächst abstrakt betrachtet, ein Bündel von Möglichkeiten bereit (vgl. K. v. Beyme, 19805, mit weiteren Nachweisen). Von diesen Möglichkeiten kommt ein Teil eher mit Blick auf eine bevorstehende Wahl, ein anderer Teil eher nach einer Wahl zum Zuge. Vor der Wahl bestimmt sich der Einfluss eines Verbandes danach, ob er über eine größere Mitglieder- und damit Stimmenzahl verfügt, Zutritt zur Sphäre der Massenkommunikation findet, Finanzen zur Wahlwerbung mobilisieren kann und einer oder mehreren Parteien verbunden ist. Damit scheidet der zahlenmäßig größte Teil aller Vereinigungen, aber auch der Verbände, bereits aus; der ersten Voraussetzung entsprechen von vornherein nur Massenverbände oder etwas kleinere, dafür aber homogenere Organisationen. Beides gilt auch für die zweite Voraussetzung. Wer über ausreichende Ressourcen verfügt, kann die ersten beiden Voraussetzungen allerdings ausgleichen. Über die vierte Voraussetzung schließlich wird noch zu reden sein. Eine weitere Einschränkung des Einflusses vor der Wahl ergibt sich daraus, dass lediglich ein kleiner Teil der großen Verbände wirklich mit Mitgliederstimmen operieren kann - nur vorrangige Interessen bestimmen die Wahlentscheidung. Großverbände, die keine vorrangigen Interessen vertreten, wissen das und hüten sich, unter diesen Umständen politische Erklärungen abzugeben. Traditionell stellt beispielsweise der D G B vor jeder Bundestagswahl sog. „Wahl-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Prüfsteine" auf, anhand derer die Wahlprogramme der unterschiedlichen Parteien durchgesehen und deren Positionen denen des D G B gegenübergestellt werden. Es wird den Mitgliedern zwar nicht die Wahl einer Partei „empfohlen", die Gegenüberstellung macht aber doch sehr deutlich, welches Programm den Standpunkten der Gewerkschaft am nächsten steht. Ein bemerkenswertes Beispiel eines weitergehenden Einflusses stellte die DGB-Kampagne im Vorfeld zur Bundestagswahl 1998 dar. Auf Plakaten und in großformatigen Zeitungsanzeigen warb der Gewerkschaftsdachverband für die SPD-Opposition und deren Kanzlerkandidat Gerhard Schröder. Bei der Bundestagswahl 2002 ließ dieses Engagement wieder deutlich nach. Nach der Wahl können Verbände prinzipiell über zwei Kanäle Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen: entweder über das Parlament, wenn enge Beziehungen zu einer Partei oder wenigstens zu einzelnen Abgeordneten bestehen, oder über die Regierung und Verwaltung, wenn sie über gute Kontakte zur Ministerialbürokratie verfügen. Darüber hinaus können sie Einfluss über die Sphäre der Massenkommunikation ausüben, entsprechenden Sachverstand und Informationszugang vorausgesetzt. Damit erweitert sich das Spektrum einflussreicher Verbände, wobei zu Recht darauf hingewiesen wird, dass oftmals diejenigen Organisationen, die über formalisierte Zugänge zu Politik und Verwaltung verfügen, vergleichsweise wenig auf Medien und Öffentlichkeit zurückgreifen (müssen) (R. Hackenbroch, 1998, S. 151). Regierung und öffentliche Verwaltung bleiben nach wie vor die wichtigsten Adressaten verbandlicher Einflussnahme (M. Sebaldt, 1997, 254ff). Viele kleine Wirtschafts- sowie Berufsverbände, die vor der Wahl schweigen, kommen nach der Wahl, im politischen Alltag, durchaus zu Wort. Der Bundesverband der Deutschen Industrie und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände verfügen über zumindest fünf der genannten Voraussetzungen ganz uneingeschränkt. 5 Mit Hilfe finanzieller Unterstützung können sie das fehlende „Stimmenpaket" bedingt ausgleichen (zum Einfluss der Unternehmerverbände vgl. W. BührerlE. Grande, 2000). Der Bauernverband (vgl. R. G. Heinze, 1992; S. Maisack, 1995) hantiert dagegen nicht mit Geld, sondern mit Stimmen, wobei allerdings sein Einfluss schwinden kann, wenn sich die Stimmen nicht mehr alternativ verwenden lassen; um ohnehin sichere Stimmen bemüht sich eine Partei nicht mehr wirklich. Vom faktischen Stimmenangebot zu unterscheiden ist das Angebot von Massenverbänden, die Verbandsöffentlichkeit für Parteien zur Verfügung zu stellen. Hier können viele Verbandsvorsitzende souverän verfahren, obgleich Verbände sich nur selten auf eine Partei festlegen. Die Präferenzen der Wirtschaftsverbände, des Deutschen Beamtenbundes, der Vertriebenenverbände, der Mittelstandsorganisationen, der Sportvereine, der katholischen Organisationen und des bereits erwähnten Bauernverbandes für die CDU/CSU und die der DGB-Gewerkschaften und der sozialpolitischen Interessenvertreter für die SPD sind eindeutig ( W. Ismayr, 20012, S. 73 f.). Dennoch tragen D G B und DBB stets dafür Sorge, wenigstens ein CDU- bzw. SPD-Mitglied im Vorstand zu haben - schon um des Kontaktes willen. Schwieriger ist für die Verbände der Zutritt zur allgemeinen Sphäre der Massenkommunikation, wobei die bereits formulierten Vorbehalte

5 Einzelstudien wie die von V. v. Bethusy-Huc, 1962, F. Naschold, 1967, P. Ackermann, 1970, M. M. Wambach, 1971, Ch. Rauskolb, 1976, H. Adam, 1979, V. Berghahn, 1985, S. Mann, 1994, G. Trieschl W. Ockenfels, 1995, H. Wiesenthal, 1995, W. BührerlE. Grande, 2000, T. Schiller, 2001, W. Reutter, 2001a, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die empirische Basis für eine zusammenfassende Analyse des politischen Einflusses von Verbänden noch immer unzureichend ist und sich bei Aggregataussagen eine deutliche Zurückhaltung empfiehlt.

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte mitzubedenken sind. Er gelingt im Allgemeinen nur den Vorsitzenden von Großorganisationen oder solchen Verbänden, die wie die Ärztevereinigungen vom Sozialprestige ihrer Mitglieder zehren. Kleinere Organisationen vermögen dann vergleichsweise viel, wenn sie homogen sind und sich „ihren" Abgeordneten sichern. Meist kommt ihr Einfluss aber erst nach der Wahl, auf der Basis von Sachverstand und Spezialinformationen, zum Zuge. Die meisten der angesprochenen Verbandsfunktionen erscheinen im Prozess der politischen Willensbildung unverzichtbar. Verbandsintern richten sie ihren Schwerpunkt auf die Selbstregulierung und Selbsthilfe der Mitglieder sowie auf die Erbringung von Dienstleistungen zu Gunsten einer bestimmten Klientel, die sich auch von der eigenen Mitgliedschaft unterscheiden kann (Sozialverbände). Nach außen gerichtet tragen sie die Konflikte mit anderen (Gegen-)Verbänden aus und versuchen sie schließlich Einfluss auf die politischen Institutionen und Akteure zu nehmen. Somit stehen die Funktionen der Verbände im Spannungsfeld zwischen einer Mitgliederlogik, einer Produktionslogik, einer Konfliktlogik und einer Einflusslogik (T Schiller, 2001, S. 448). Zu vertretende Positionen müssen abgeklärt und Gruppeninteressen zusammengefasst werden. In der Öffentlichkeit sind die Meinungen und Forderungen der Gruppen vorzutragen, damit sich der Bürger orientieren kann und das politische Geschäft des Ausgleichs überschaubar wird oder bleibt. Die Parteien benötigen zudem Diskussionsimpulse, Informationen und Wahlhilfe. Auch Parlament und Regierung können auf den Sachverstand der Verbände nicht verzichten und noch weniger auf ihre Informationen. Der Bürger selbst mag gegenüber mächtigen Verbänden und ihrem Einfluss skeptischer sein. Er wird aber auch auf diesem Wege Forderungen und Wünsche anmelden wollen und den Rechts- oder sogar Freiheitsschutz, den manche Verbände gewähren oder vermehren, in Anspruch nehmen (vgl. K. Shell, 1981, S. 89f.). Deshalb stehen nicht die Verbände an sich zur Debatte, sondern die Unterschiede ihrer Vertretungskraft, die Herrschaft hinter verschlossenen Türen und der Mangel an wirklicher Verantwortung, der ggf. lautstarke Forderungen und übermäßige Pressionen begünstigt. Schließlich wird man immer wieder neu fragen müssen, welche „Interessen" die bestehenden Verbände, den status quo damit stabilisierend, vertreten und welche anderen unvertreten bleiben. Die Kritik an der Herrschaft der Verbände wird also aus ganz unterschiedlichen Quellen gespeist. Eine ist verfassungspolitischer Natur: Verbände üben Einfluss aus, entziehen sich aber oft der Öffentlichkeit und damit auch kontrollierender Kritik. Zur Binnendifferenzierung des Verbändesystems gehört vor diesem Hintergrund auch die gesonderte Stellung der Verbände der Arbeitspartner. Diese sind aus zwei Gründen hervorzuheben. Zum einen kommt ihnen aufgrund der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 G G eine Sonderstellung zu. Der Staat hat in diesem Bereich „seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung weit zurückgenommen und die Bestimmungen über die regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrages grundsätzlich den Koalitionen überlassen" (Erster Senat des Bundesarbeitsgerichts, auch zum Folgenden). Das reicht weit über das (selbstverständliche) Recht von Gruppen hinaus, Beziehungen im Rahmen des geltenden Rechts selbständig zu regeln, weil von der Tarifautonomie weithin auch diejenigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer betroffen sind, die nicht den Verbänden angehören. Die Gewerkschaften vereinigen gut 30 Prozent aller Arbeitnehmer, schließen aber Vereinbarungen ab, die sich auf nahezu alle Arbeitnehmer direkt oder - eher seltener - indirekt auswirken. Es gibt zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen, deren Eigentümer nicht dem zuständigen Arbeitgeberverband und deren Mitarbeiter nicht der zuständigen Gewerkschaft angehören, die aber hausintern vereinbaren, Tarifverträge gegen sich gelten zu lassen. Sie entziehen sich damit den Streitigkeiten (und damit verbundenen Verhandlungskosten), kommen aber in den Genuss entsprechender Regelungen. Andere Besonderheiten folgen diesem Grundtatbestand: die Aus-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Wirkungen von Streik und Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes auf die kämpfenden Partner und andere Betroffene; die Bereitwilligkeit des Staates, mit der Arbeitgerichtsbarkeit eine Judikatur bereitzustellen, die Tarifvereinbarungen und anderes interpretiert; die innerbetriebliche (und bei Großbetrieben zum Teil auch überbetriebliche) Mitbestimmung. Obwohl die heutigen Gewerkschaften überwiegend aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen sind und in einer sozialistischen und sozialdemokratischen Tradition stehen (vgl. u.a. J.Bergmann, 1979; W. Streeck, 1981; U. Billerbeck u.a., 1982; H.-O. Hemmer/K. Th. Schmitz, 1990; H.-U. Niedenhoff/M. Wilke, 1993; A. Hassel, 1999; B. Ebbinghaus!J. Visser, 2000), versuchten sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg, neben den unmittelbaren Verhandlungen mit den Arbeitgebern auch institutionalisierte Beziehungen zum Staat aufzubauen. Das führte zu einem Nebeneinander von staatlich entwickelter Arbeitsverfassung und Tarifautonomie, zu dem „eigenen Weg" der deutschen Gewerkschaftsentwicklung, der wenig konsequent und eher pragmatisch verlief und von konsequenteren Positionen aus auch immer wieder heftig kritisiert wurde (vgl. J. Esser, 1982; W. Bernschneider, 1986). Diese spezifische Konstellation hat in der Bundesrepublik schon früher manchen Verbänden „öffentliche" Funktionen eingetragen (vgl. G. W. Wittkämper, 1963) und später zur „Konzertierten Aktion" (vgl. E. Hoppmann, 1971; H.-D. Hardes, 1974) in Bonn geführt, zu einer engen Zusammenarbeit von staatlicher Administration und den Verbänden der Tarifpartner in Situationen der Krisenbewältigung (Kohle- und Stahlkrisen, Werftenproblematik, Textilkrise). Dies begünstigte den genannten Neokorporatismus, den formellen und informellen Einbezug vor allem der Gewerkschaften in staatliche Steuerungsprozesse, die zu einer Verschränkung von Staat und Verbänden führten (vgl. H. Willke, 1983). Das macht die zweite Dimension der Betrachtung aus. Die beteiligten Verbände gewinnen auf diesem Wege Einfluss und direkte Mitwirkungsmöglichkeiten; sie übernehmen damit aber auch Mitverantwortung und gefährden ihre Unabhängigkeit. Unstrittig bleibt, dass korporatistische Staatsnähe sich auf Gewerkschaften anders auswirkt als auf die ohnehin staatsnäheren Arbeitgeberverbände, und dass die mit der Zugehörigkeit zum Verbändesystem erfolgende Integration der Gewerkschaften durch eine weitergehende Integration in das engere politische System ergänzt wird, die die Gewerkschaften mitsamt ihrem straffen „demokratischen Zentralismus" und ihrer starken Funktionärsgruppe ihrer Basis entfremden kann. Heute lässt sich konstatieren, dass weder Gewerkschaften noch Arbeitgeberverbände sich an einer staatlichen Steuerung durch „Konzertierte Aktionen" orientieren. Das „Bündnis für Arbeit" der rot-grünen Bundesregierung war nur noch eine bescheidene Variante früherer Versuche, Politik und Verbände zu verbindlichen Absprachen und Zugeständnissen zu bewegen. Folgerichtig versank das Bündnis bald in relativer Bedeutungslosigkeit, bevor die Gewerkschaften es schließlich durch ihren Austritt auch formal beendeten. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften mit einem massiven Mitgliederschwund zu kämpfen haben. Lag der Organisationsgrad Anfang der 1990er Jahre noch bei 40 Prozent, sank er binnen zehn Jahren auf die benannten 30 Prozent. Das Verhältnis der Gewerkschaften zur Politik kann unter einer Reihe von Gesichtspunkten typisiert werden (vgl. hierzu auch A. Markovits, 1986). Eine Unterscheidung zielt auf den klassenkämpferischen, den pluralistisch-antagonistischen und schließlich den sozialpartnerschaftlichen Ansatz; als Beispiele dafür werden die Gewerkschaften in Frankreich, den USA und der Bundesrepublik genannt. Ph. C. Schmitter, der den KorporatismusAnsatz neu popularisierte, schlug demgegenüber vor, zwischen einem pluralistischen, einem korporatistischen und einem syndikalistischen Typus der Interessenvertretung zu unterscheiden. Zum pluralistischen Typus gehören danach viele konkurrierende Verbände ohne Repräsentationsmonopol, zum korporatistischen Typus eher wenige Verbände mit Zwangsmit-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte gliedschaft und mit ausdrücklich zugestandenem Repräsentationsmonopol, während im syndikalistischen Typus wieder von mehr Verbänden, aber geringem Wettbewerb und keinerlei Bezug zur Politik auszugehen sei (vgl. Ph. C. SchmitterlG. Lehmbruch, 1979, S. 94f.). Bedient man sich solcher Unterscheidungen, gelangt man zu dem Ergebnis, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund trotz seiner nie verleugneten Herkunft aus der Arbeiterbewegung eine eher sozialpartnerschaftliche Linie vertritt, ein deutliches Repräsentationsmonopol beansprucht, als Einheitsgewerkschaft sektoral, regional und national arbeiten will und sich zugleich als politische Kraft versteht. In den DGB-Grundsatzprogrammen geht es daher thematisch auch um viel mehr als nur um Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbedingungen. Die Wirtschafts- und Sozialordnung wird umfassend thematisiert. Im Übrigen sollte die immer etwas zirkulär verlaufende Diskussion über die Rolle von Verbänden und Interessengruppen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich deren Einfluss in den vergangenen beiden Jahrzehnten vor allem qualitativ beträchtlich verändert hat. Während die Politikwissenschaft noch immer versucht, korporatistische Verflechtungen zwischen dem Staat und den Vertretern von Arbeit und Kapital auszumachen (oder sie doch zur Gewährleistung von Stabilität in den Arbeitsbeziehungen für unverzichtbar zu erklären), sind heute wesentlich fließendere Strukturen erkennbar. So hat sich der Bauernverband unter dem Einfluss der Ökologiediskussion von einem „monolithischen" Akteur zu einem äußerst differenziert handelnden Interessenverband gewandelt, sind die Kirchen angesichts massiver Austritte von Gläubigen mehr mit sich selbst als mit der Vertretung von Glaubensfragen beschäftigt und gilt das Interesse der Gewerkschaften der Verjüngung und Modernisierung. Zu Mitgliederschwund und dem entsprechenden mangelnden Rückhalt der Gewerkschaftsführer kommen finanzielle Probleme und konzeptionelle Umorientierungen. Sie verbinden sich mit so unterschiedlichen Problemen wie der Tatsache, dass immer mehr Unternehmen aus den Tarifgemeinschaften ausscheren und direkt mit den Belegschaften Betriebsvereinbarungen abschließen, sich der Kampf um Arbeitsplätze zum Teil gegen die offizielle Gewerkschaftspolitik richtet, und schließlich auch die Zielgruppenorientierung hin auf den männlichen Facharbeiter in den traditionellen Industriebereichen kaum mehr mit den heutigen ökonomischen Anforderungen zu vereinbaren ist. Die offensichtlichen Schwierigkeiten, sich den in den vergangenen Jahren erheblich veränderten Bedingungen in Deutschland anzupassen, haben die Gewerkschaften im Bild ihrer Kritiker zu „zahnlosen Tigern" werden lassen. Reformen erscheinen auch hier unausweichlich. Sie haben der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es in Deutschland inzwischen weitaus mehr Angestellte als Arbeiter gibt, dass die Bereitschaft, sich einer Gewerkschaft anzuschließen, sinkt, und es schließlich notwendig wird, auf Frauen und junge Arbeitnehmer gesondert zuzugehen. Hinzu kommt ein sich aufgrund der Wirtschaftsentwicklung verschärfender Verteilungskampf zwischen den Interessengruppen, der weniger die „Spezialisten" als die „Generalisten" trifft. Eine Reaktion auf den Mitgliederschwund und die sich daraus ergebenden Haushaltsprobleme sowie auf die sinkende Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgeberverbänden stellte die Fusion kleinerer Gewerkschaften zu größeren Einheiten dar. So gingen Mitte der 1990er Jahre die Gewerkschaften Textil-Bekleidung und Holz-Kunststoff in der IG-Metall auf, ebenso taten sich IG Bergbau und IG Chemie zusammen. Weitreichender war jedoch die jüngste Gewerkschaftsfusion: Unter Federführung der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) wurde 2001 im Verbund mit mehreren kleineren Dienstleistungsgewerkschaften (Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen; IG Medien; Postgewerkschaft und Deutsche Angestellten Gewerkschaft) die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver. di gegründet. Gemessen an den Mitgliederzahlen ist ver. di inzwischen größer als die IG Metall.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Von organisatorischen Reformen sind allerdings auch die Arbeitgebervereinigungen nicht mehr ausgenommen. So gilt etwa für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dass die einzelnen Mitgliedsorganisationen die an den Spitzenverband abzuführenden Mittel zunehmend in Frage stellen. Die Diskussionen um eine Beitragsreform signalisieren dabei Zweifel an den Leistungen des Dachverbandes, wobei nicht selten eine Totalreform der wirtschaftsnahen Interessenvertretung gefordert wird. Begründet wird dies zum einen mit rückläufigen Beitragseinnahmen infolge sinkender Beschäftigtenzahlen und Umsatzeinbußen, zum zweiten mit einer notwendigen Anpassung an den ablaufenden ökonomischen Strukturwandel. Hier wird vor allem erwogen, den traditionellen Industriebegriff auch auf industrieorientierte Dienstleistungen zu erweitern, nicht nur im Telekommunikations- und Software-Bereich. Schließlich zwingt auch der Europäisierungsprozess zu einer Überprüfung von Routinen: Ausschließlich deutschlandspezifische Lobbyarbeiten werden seltener, die Orientierung an EU-Einrichtungen und globalisierten Märkten gewinnt an Raum. Den gegenwärtigen Übergangsproblemen wird auf Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite allerdings nicht nur reaktiv, sondern durchaus auch innovativ begegnet. So sind sich beide Seiten weitgehend einig, dass unter der gegebenen gesamtwirtschaftlichen Lage einem schematischen Arbeitsplatzabbau entgegenzuwirken ist. Die in einer Reihe bedeutender Unternehmen erzielten Verhandlungsergebnisse dokumentieren, dass Einkommensverzicht dann ein Handlungsmuster darstellen kann, wenn Beschäftigungsgarantien geboten werden, eine Senkung materieller Ansprüche in ökonomischen Krisensituationen also möglich ist. Die Verletzbarkeit der Arbeitnehmer dabei nicht auszunutzen, sollte ein Gebot der Vernunft und der Solidarität sein. Einseitige Aufkündigungen von Tarifverträgen entsprechen diesem Gebot sicher nicht. 2.3. Die Parteien: Garanten demokratischer Willensbildung oder „Staat im Staat"? Die Anfänge politischer Parteien in Deutschland gehen auf die Revolution von 1848 und die Frankfurter Paulskirchenversammlung zurück. Während „Partei" zunächst als eine Gruppe politisch Gleichgesinnter im Parlament verstanden wurde, eine konkrete Organisation mithin noch nicht existierte, kam es zur Konstituierung einer organisierten Parteienlandschaft in Deutschland erst in den 1860er Jahren sowie während der Reichsgründung. In diesem Kontext bildeten sich auch die politischen Hauptströmungen heraus, die bis zum Ende der Weimarer Republik das deutsche Parteiensystem bestimmen sollten: Konservative, Liberale, Katholiken und Sozialisten. Diese ersten Parteigründungen waren Reflex auf die wesentlichen Konflikte der Zeit: Das erstarkte Bürgertum verlangte nach größeren Mitspracherechten, dem konservative Kräfte zu begegnen suchten; Katholiken sammelten sich vor allem im Rheinland und im Süden/Südwesten und opponierten gegen die protestantische Übermacht Preußens und die zunehmende Trennung von Staat und Kirche; erste sozialistische Arbeitervereine organisierten das anwachsende Proletariat. Die Reichsverfassung von 1871 gab der Tätigkeit der Parteien dann einen ersten institutionellen Rahmen. Durch die Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts zum Reichstag fanden die Parteien auch eine „politische Bühne", doch kam ihre parlamentarische Bedeutung angesichts der eingeschränkten Gesetzgebungs-, Kontroll- und Haushaltskompetenz des Reichstages sowie der weitestgehenden Unabhängigkeit der Regierung von der Legislative kaum über das Deklamatorische hinaus. Die erste formale Parteigründung findet sich 1861 mit der Deutschen Fortschrittspartei im liberalen Spektrum. Sie setzte sich zunächst aus Mitgliedern des Preußischen Abgeordneten168

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte hauses sowie einigen Honoratioren aus dem Bürgertum zusammen. Zentrale Programmpunkte waren die Forderung nach demokratischen Rechten für das Parlament, eine Trennung von Kirche und Staat, die Gleichberechtigung der Konfessionen sowie die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung. Darüber hinaus trat der Liberalismus für die nationale Einheit Deutschlands unter Führung der preußischen Krone ein. Im breiten Spektrum zwischen demokratisch-rechtsstaatlichen und national-monarchischen Interessen manifestierten sich bereits früh zwei Hauptströmungen des Liberalismus (Links- und Nationalliberalismus). In der Folge kam es 1866 zu einer Abspaltung und der Gründung der Nationalliberalen Partei. Diese gleichsam historische Trennung sollte über das Kaiserreich hinaus auch noch in der Weimarer Republik Bestand haben. Die Konservativen organisierten sich 1866 in der Freikonservativen Partei (später Deutsche Reichspartei) und vertraten mit Adel, Militär und Großgrundbesitz die Interessen der führenden Schicht Preußens. Nach der Reichsgründung kam es 1876 zur Bildung einer weiteren Gruppierung, der Deutschkonservativen Partei, die sich stärker als die Freikonservativen auf den ostelbischen Großgrundbesitz stützte und in der Folgezeit zunehmend reaktionäre und antisemitische Positionen einnahm. Die dritte wichtige politische Strömung im Rahmen der Parteiengründungen stellte der politische Katholizismus dar. Inhaltlich stand er in Opposition zu den protestantischpreußisch dominierten Konservativen und den Liberalen. 1870 wurde die katholische Zentrumspartei gegründet, nachdem sich bereits Mitte der 1860er Jahre katholische Mitglieder im Preußischen Abgeordnetenhaus zusammenfanden. Die vierte Kraft im Parteiensystem bildete schließlich die Sozialdemokratie, die sich, im Gegensatz zu Liberalen und Konservativen (und in Teilen auch dem Zentrum), bei ihrer Gründung als Anti-Systempartei verstand und ein anderes Politik- und Gesellschaftsmodell zu verwirklichen suchte. 1863 wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet, dem 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei folgte. 1875 vereinigten sich beide Parteien in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei (ab 1891 Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Bis zum Ende der Weimarer Republik änderte sich an dieser Grundkonstellation mit den vier politischen Hauptströmungen im Parteiensystem wenig. Bereits vor 1914 finden sich mithin die Wurzeln des später diagnostizierten fragmentierten Vielparteiensystems; es ließ sich vor dem Ersten Weltkrieg aus der besonderen Stellung des Reichstags und der Landtage erklären. Die Parlamente verfügten über nur begrenzten Einfluss auf die Gesetzgebung. Das Machtstreben der Parteien verkümmerte deshalb. Sie brauchten sich nicht um Mehrheiten zu bemühen, konnten sich notfalls auf kleine Interessenbereiche konzentrieren und damit der Notwendigkeit ausweichen, Kompromisse herbeizuführen. Häufige Spaltungen kamen hinzu. Die Parteien vermochten auch ihren weltanschaulichen Charakter stärker auszubilden und ihr Schwergewicht auf die Schaffung selbständiger Organisationen zu verlagern. Dabei entwickelte sich insgesamt eine Abwehrhaltung gegenüber dem Staat - im Unterschied etwa zu England, wo Parteien schon im 19. Jahrhundert vorwiegend auf das Erkämpfen und Verteidigen staatlicher Machtpositionen hin angelegt waren. Nach 1918 begünstigte das reine Verhältniswahlrecht die Existenz einer vielfältigen Parteienlandschaft. Der Parlamentarismus forderte zwar handlungsfähige Mehrheiten, doch ließen sich diese auch über Koalitionen erreichen, in den ersten Jahren der Republik für die (größeren) Parteien der leichtere Weg. Unter diesen Rahmenbedingungen änderte sich an der herkömmlichen Formierung der einzelnen Partei als Klassen- oder Weltanschauungsgemeinschaft, als Honoratiorenverein, als Interessenverband oder als revolutionäre Kader-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung

partei kaum etwas. Man musste sich auch nicht ernstlich mit dem verbreiteten Antiparteienaffekt der Bevölkerung auseinandersetzen, solange jedenfalls die parteiinternen Integrationsmechanismen funktionierten, und konnte doch das politische System mit dem bedienen, was es von den Parteien erwartete: einer Mehrheit im Parlament, einer von dieser Mehrheit gestellten Regierung und einem Stamm politischer Beamter als Nahtstelle zwischen dem parteipolitisch geprägten Führungsbereich und der von der Idee (nicht der Praxis) des unparteiischen Berufsbeamtentums beherrschten öffentlichen Verwaltung. In der Krise der Weimarer Republik reichte das alles nicht mehr aus. Man verlor die Koalitionsmöglichkeit und -fahigkeit; eine antidemokratische „Bewegung" stellte Gemeinschaftsvorstellungen und Antiparteienhaltungen erfolgreich in ihren Dienst; das Vielparteiensystem wurde durch die Alleinherrschaft der NSDAP abgelöst. Nach 1945 bestimmten solche historischen Erfahrungen und entsprechende Entscheidungen der Alliierten die Entwicklung des Parteiensystems. Zunächst wurden nur wenige Parteien zugelassen. Mit dem verbesserten oder personalisierten Verhältniswahlrecht erschwerte man die Bildung neuer Parteien. Die „Männer der ersten Stunde" gehörten ganz selbstverständlich den Parteien an oder wurden diesen zugeordnet; das verminderte den Antiparteienaffekt. Die Bundesrepublik wurde zur Parteiendemokratie. An ihr partizipierten von vornherein erfolgreich - mit großem Verdrängungseffekt gegenüber kleineren Konkurrenten - die SPD, die CDU, die bayerische CSU sowie die FDP. Diese Konstellation räumte der F D P Chancen ein, die mit ihrem zahlenmäßigen Gewicht wenig zu tun hatten, sich vielmehr daraus ergaben, dass die beiden großen Parteien in Bund und Ländern zwar oft in die Nähe einer parlamentarischen Mehrheit gelangten, noch häufiger aber auf einen Koalitionspartner angewiesen waren. Erst Ende der 1970er Jahre trat dann eine substantiellere Veränderung der Parteienlandschaft ein, als sich politische Gruppierungen im „alternativen" Lager formierten, an Parlamentswahlen beteiligten und dabei sichtbare Erfolge erzielten. In demokratischen Gesellschaften nehmen Parteien eine Doppelrolle ein. Sie gehören als Vereinigungen bzw. soziale Gebilde der „Gesellschaft" an. Zugleich übernehmen die von ihnen vorgeschlagenen oder bestimmten Mandatsträger im „Staat" oder im politischen System Verantwortung (zu diesem Begriff vgl. T. Ellwein, 1978). In diesem Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft lassen sich vier grundlegende Funktionen von Parteien identifizieren (s. Κ. v. Beyme, 2001, S. 317; U. v. Alemann, 2003, S. 209ff.): Zielfindung (Ideologie und Programmatik), Artikulation und Aggregation (von gesellschaftlichen Interessen), Mobilisierung und Sozialisierung (der Bürger im System) sowie Elitenrekrutierung und Regierungsbildung. Angesichts dieser unterschiedlichen, im politischen Wettbewerb zu erfüllenden und einen schwer zu bestimmenden Grundkonsens voraussetzenden Aufgaben sind zahlreiche Zugänge zur „ Wirklichkeit der Parteien" möglich. Aus Gründen der Materialaufbereitung soll dabei zunächst von den politischen und rechtlichen Bedingungen die Rede sein, unter denen Parteien in der Bundesrepublik agieren, dann von den Parteien als „sozialen Gebilden" und schließlich von spezifischen Problemen der innerparteilichen Demokratie. In einem gesonderten Abschnitt wird gefragt, welche Ideen die Parteien repräsentieren und wie sich das Verhältnis zwischen den Parteien und den anderen Einrichtungen des politischen Systems in struktureller und aktueller Sicht darstellt. 5

5 Die Literatur zu den politischen Parteien in der Bundesrepublik ist derart umfangreich, dass hier nur auf eine kleine Zahl grundlegender Publikationen im Zeitablauf verwiesen werden kann, etwa:

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte 2.3.1. Parteien in Staat und Recht In der Parteiendemokratie 6 dominieren Parteien die Wahlen und besetzen die demokratischen Gremien in Bund, Ländern, Gemeinden und der Europäischen Union. Sie stellen auf diesem Wege das Personal der engeren politischen Führung. Dabei ist von einem Parteienmonopol in der Legislative und an der Spitze der Exekutive und von einem unübersehbaren Einfluss auf die gesamte Personalpolitik in der öffentlichen Verwaltung auszugehen. Ihn üben in erster Linie die jeweiligen Regierungsparteien aus. Aber auch die Oppositionsparteien bemühen sich um Zugang zum Verwaltungsbereich, weil sie oft nur auf diesem Weg Informationen erlangen. Eine Partei, die, wie die CSU in Bayern oder die SPD in Nordrhein-Westfalen, lange in einem Land herrscht und es zuwege bringt, dass der jeweils anderen großen Partei als Opposition Teile des öffentlichen Dienstes verschlossen bleiben, trocknet so den politischen Gegner nicht nur personell aus, sie verwehrt ihm auch Zugang zu Informationen. Das macht deutlich, wie sich das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive verändert hat. Das Parteienmonopol wirkt sich aber auch auf andere Bereiche aus und wird dort stärker kritisiert. Einen Bereich bildet die Justiz und hier insbesondere die Ebene der obersten Gerichte. Darüber hinaus ist auf die öffentlichen Anstalten, von allem die Funk- und Fernsehanstalten zu verweisen. Auch finden sich zahlreiche personelle und ideelle Verflechtungen zwischen den Parteien und wichtigen Verbänden. Von ihnen wird die enge Beziehung zwischen SPD und Gewerkschaften, die beide aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen sind, häufig kritisiert, wird die Nähe des Bauernverbandes zur C D U immer wieder mit Nachdruck behauptet und ist die Zuwendung des Vorsitzenden des Deutschen Beamtenbundes zur C D U offensichtlich. Der Einfluss der Parteien lässt sich also nicht auf den engeren politischen Bereich begrenzen. Er ist auch groß genug, um ständig neu die Frage nach der Legitimation der Parteien aufzuwerfen. Diese resultiert weniger aus der Zahl der Mitglieder oder der Art ihres politischen Einflusses, als vielmehr daraus, dass die Parteien jedermann offen stehen, sich also Mitwirkungsmöglichkeiten ergeben, und dass zwischen mehreren Parteien ausgewählt werden kann. Die Rechts- und Verfassungsordnung7 hat zu der in den 1950er bis 70er Jahren erfolgenden Stabilisierung der Parteien zum einen durch das Wahlrecht (im historischen Längsschnitt: H. Fenske, 1974; international vergleichend: D. Nehlen, 20003) und zum anderen durch Artikel 21 GG beigetragen. Letzterer ermöglicht das Verbot von Parteien, „die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen". Das Verbotsinstru-

H. Kaack, 1971, H. Fenske, 1974, M. Th. Greven, 1977, P. Haungs, 1981, H. KaackIR Roth, 1980, F. Wende, 1981, J. Raschke, 1982, C. v. Krockow, 1983, R Stöss, u.a. 1983, K. v. Bey me, 1984 2 , C. ν. KrockowlP Lösche, 1986, H. Schmitt, 1987, D. Staritz, 1989, H. G. Wehling, 1990, A. MintzeilH. Oberreuter, 1992, E. HübnerlH. Oberreuter, 1992, K. Rohe, 1992, R. Hoffmann, 1993, H. Fenske, 1994, P. Lösche, 19942, K. Niclauß, 1995, H. Oberreuter, 2000 26 und U. v. Alemann, 2003 3 . Auf ältere Zusammenstellungen zur Parteientheorie und Parteiengeschichte von L. Bergsträsser, 197012, W. Termin, 19683, K. LenkIF. Neumann, 1968, G. Ziebura, 1969 und Ο. K. Flechtheim, 1973 sei unverändert verwiesen. 6 Vgl. hierzu die Parteienstaatslehre von G. Leibhoh, 19673 sowie die intensive Auseinandersetzung damit bei P. Haungs, 1981, W. Steffani, 1988, J. Hecker, 1995 sowie (polemisch) W. Hennis, 1992. Einen Überblick zum gegenwärtigen Diskussionsstand findet sich bei R. Stöss, 2001. 7 Zu einer Einführung vgl. D. T. Tsatos/M. Morlok, 1982, D. Grimm, 1995 3 b, sowie D. T. Tsatos, 1991 und 2001.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung ment wurde bisher zweimal eingesetzt (Sozialistische Reichspartei 1953 und K P D 1956) und dämmte in der Frühzeit der Republik das Entstehen einer denkbaren radikalen Entwicklung ein. Die sich darin ausdrückende „streitbare Demokratie" blieb allerdings nicht unkritisiert. So wiesen Beobachter darauf hin, dass es wenig sinnvoll sei, kleine Parteien zu verbieten oder neue Parteien dazu zu zwingen, sich ein „demokratisches Mäntelchen" umzuhängen. Beides lasse im Wahlergebnis nicht das volle Spektrum der Meinungen erkennen. Im Übrigen könne man nur kleine Parteien verbieten, große Bewegungen ließen sich so nicht bekämpfen. Art. 21 Abs. 2 GG, der die Grundlage für ein Parteienverbot darstellt, beinhalte hierzu ein Paradoxon: Entweder sei ein Parteiverbot unnötig, weil eine (zu) kleine Partei keine reale Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung darstelle, oder ineffektiv, weil eine (zu) große Partei bereits über zu viel Zustimmung in der Gesellschaft verfüge, um die Gefahr durch ein Verbot aus der Welt schaffen zu können (R. Schuster, 1968, S. 417). Zugleich entstehe ein Problem der „politischen Justiz" (vgl. O. Kirchheimer, 1965; A. v. Brünneck, 1978). Diese Kritik blieb nicht ohne Wirkung. Sie hat wohl auch dazu geführt, dass man mit Blick auf N P D und D K P lange Zeit auf Verbotsanträge verzichtete und sich der Hoffnung hingab, das Problem solch radikaler Parteien würde sich angesichts ihrer geringen Erfolgschancen von selbst erledigen. Wahlerfolge der Republikaner, der N P D wie der DVU in den 1990er und frühen 2000er Jahren verweisen aber darauf, dass ein entsprechend radikales Potential in Umbruchzeiten durchaus zu mobilisieren, das Problem des Parteienverbots also nicht nur historischer Natur ist. Die jüngste Diskussion in diesem Zusammenhang wurde seit Sommer 2000 mit Blick auf die N P D geführt. Nach Verfassungsschutzberichten hatte sich die Partei in den 1990er Jahren bemüht, die unterschiedlichen Flügel der rechtsextremen Subkultur zusammenzuführen und systematisch in ihre politische Arbeit einzubinden. Darüber hinaus sei sie zur Plattform von Aktivisten in Organisationen geworden, die die Innenminister von Bund und Ländern bereits Mitte der 1990er Jahre verboten hatten (u. a. Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei, Nationale Liste, WikingJugend). Dies führte Anfang 2001 zu Verbotsanträgen von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beim Bundesverfassungsgericht. Dabei sollte der Nachweis erbracht werden, dass die N P D durch ihre aktiv kämpferische, aggressive Grundhaltung die freiheitlichdemokratische Grundordnung beeinträchtigt (vgl. S. Levens, 2001, S. 565). Allerdings kam es zu keiner inhaltlichen Entscheidung des Gerichts; dieses stellte das Verfahren vielmehr im März 2003 ein, nachdem bekannt geworden war, dass sich in der Führungsspitze der N P D eine große Zahl verdeckter Ermittler des Verfassungsschutzes fand. 8 In der Hauptsache ist in Artikel 21 G G aber der Absatz 1 von Interesse (vgl. Materialband, IV/1-7). Ihm zufolge wirken die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mit. Die Formulierung ist offen. „Mitwirkung" lässt viele Deutungen zu (Mitwirkung mit anderen Verfassungsorganen wie Parlament und Regierung oder mit gesellschaftlichen Kräften wie Verbänden und Medien), und „politische Willensbildung" umschreibt keinen präzise definierten Bereich (Beschränkung auf die Wahlvorbereitung und die Kandidatennominierung oder Beteiligung an der gesamten staatlich-politischen Entscheidungsfindung). Immerhin erhalten durch diese Formulierung die Parteien nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts den „Rang einer verfassungsrechtlichen Institution" (BVerfGE 1, S. 208; vgl.

8 Grundlegend zum Links- wie dem Rechtsextremismus in der Bundesrepublik U. Backes/E. Jesse, 1989-2002 (Bde. 1-14); darüber hinaus R Stöss, 1989, J. Falter/M. Klein, 1994, V. Backes/P. Morreau, 19942, H.-G. Jaschke, 1994, K. Low, 1994, U. BackeslE. Jesse, 19964, F. Decker, 2000, C. Everts, 2000 sowie E. Jesse, 2003.

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte auch K. Hesse, in: VVDStRL 17/1959). In diesem Sinne formuliert das Grundgesetz konsequent weitere Anforderungen. Die Gründung von Parteien soll frei sein (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG); ihre innere Ordnung soll demokratischen Grundsätzen entsprechen (Satz 3); über die Herkunft ihrer Mittel sollen sie Rechenschaft ablegen (Satz 4). Der Bundestag beeilte sich allerdings nicht sonderlich, die Einzelheiten in einem Gesetz festzulegen. Erst mit der Diskussion um die Parteifinanzen und das Verfassungsgebot, über die Herkunft von Mitteln öffentlich Rechenschaft abzulegen, kam der Gesetzgebungsprozess in Gang. Insgesamt hat das Bundesverfassungsgericht im Vorfeld des Parteiengesetzes in einem gewissen Zick-Zack-Kurs (vgl. dazu H. H. v. Arnim, 1983, S. 33ff.) erst die staatliche Parteienfinanzierung aus Gründen der Chancengleichheit mit der Begründung erlaubt (Urteil vom 24.06.1958), dass den Parteien „bei der Durchführung dieser öffentlichen Aufgaben von Verfassungs wegen eine entscheidende Rolle" zukomme (BVerfGE 8, S. 63), anschließend aber eine generelle staatliche Finanzierung unterbunden und nur die Erstattung von Wahlkampfkosten erlaubt (Urteil vom 19.07.1966) - mit der Begründung, Zuschüsse aus Haushaltsmitteln verstießen gegen den „freien und offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes" (BVerfGE 20, S. 97). Um diese Erlaubnis verwirklichen zu können, was in Bund und Ländern eilfertig und großzügig geschah, musste man das Parteiengesetz verabschieden und damit eine Reihe grundsätzlicher Fragen auch außerhalb des Finanzierungskomplexes klären. Das Bundesverfassungsgericht hielt in seiner Entscheidung vom 14.07.1986 die Regelung des Chancenausgleichs für verfassungsgemäß und erlaubte damit die Einführung der staatlichen Parteienfinanzierung „durch die Hintertür". Nachdem 1958 die Steuerbegünstigung von Parteispenden noch für verfassungswidrig erklärt wurde, da dies mit dem Recht auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung nicht vereinbar sei, erschien es dem Gericht jetzt verfassungsgemäß, die steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden in einer Höhe von bis zu D M 100.000 vorzusehen. Sieht man zunächst von den Finanzierungsproblemen ab, verdeutlicht das Parteiengesetz, wie die Bundestagsparteien in den 1960er Jahren ihre Situation und ihren Auftrag sahen: Stabilität, Berechenbarkeit und feste Organisation standen im Vordergrund. Auf sie bezog man Aufgaben, die vorübergehende Gruppierungen oder lose Zusammenschlüsse nicht übernehmen können. Das erschwert bis heute die Etablierung neuer Parteien. Gründungsversuche, wie etwa die einer „Bürgerpartei" oder einzelner Abspaltungen links und rechts der SPD, waren meist zur Erfolglosigkeit verdammt. Umgekehrt erhalten einmal bestehende Parteien sichtbare Privilegien, die von dem Zugriff auf öffentliche Ämter und Kassen unabhängig sind und die man etwa „Rathausparteien" oder Freien Wählervereinigungen verwehrt. Mit den Privilegien ergeben sich allerdings auch Verpflichtungen: Eine Partei kann sich in der Bundesrepublik kaum als „geschlossene Gesellschaft" verstehen; sie muss sich grundsätzlich für jeden öffnen, der mitwirken will. Das Gesetz verdeutlicht allerdings noch eine andere Entwicklung. Die Parteien wurden in Deutschland vor 1914 eindeutig dem Bereich der „Gesellschaft" zugeordnet. Der „Staat" blieb ihnen verschlossen, nachdem das Parlament keinen Einfluss auf die Regierungsbildung und auf die Zusammensetzung der Beamtenschaft hatte. Die parlamentarische Mitwirkung am Staatshandeln beschränkte sich auf die Gesetzgebung. In ihr kam es nach dualistischer Vorstellung zu Vereinbarungen zwischen Staat und Gesellschaft. Derartige Erwägungen spielten auch nach 1945 noch eine Rolle. Das Bundesverfassungsgericht begründete etwa 1965 sein Verbot der staatlichen Parteienfinanzierung damit, dass der Prozess der politischen Willensbildung im Volke, der in die Wahlen einmünde, die Staatsorgane erst hervorbringe. Deshalb sei es den Staatsorganen grundsätzlich verwehrt, sich an der Meinungs- und Willensbildung des Volkes zu beteiligen. Dieser Prozess müsse vielmehr „staatsfrei" bleiben. „Ohne nähere inhaltliche Erläuterung

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung sah das Bundesverfassungsgericht die Abhängigkeit der Parteien von staatlichen Organen bei der bisherigen Finanzierungsform als gegeben an. Es verzichtete auf eine ,empirische' Beweisführung, weil es den Grundsatz der freien Meinungs- und Willensbildung als verletzt erkannte: ,Die im Bundeshaushaltsgesetz 1965 vorgesehene Regelung der staatlichen Parteienfinanzierung ist mit dem Verfassungsgebot der grundsätzlich staatsfreien politischen Meinungs- und Willensbildung [...] sowie mit Art. 21 Abs. 1 GG, der die Struktur der Parteien als aus eigener Kraft wirkender und vom Staat unabhängiger Gruppen verfassungsmäßig festlegt, unvereinbar und deshalb nichtig'" (H. Kaack, 1971, S. 378f.). Den „Staat" bildeten demnach Regierung und Verwaltung, die Parteien gehörten zur Gesellschaft, um von dort aus allenfalls in den staatlichen Bereich „hineinzuragen". Schon in der Weimarer Zeit war indessen aus faktischen Gründen das Festhalten am Dualismus von Staat und Gesellschaft kaum mehr möglich (Th. Ellwein, 1954). Man unterschied deshalb häufiger zwischen einer Sphäre der Volkssouveränität und einer Sphäre der Repräsentation; beiden können die Parteien zugehören. Mit Blick auf die Volkssouveränität geht es dabei um die unmittelbare Selbstregierung des Volkes, um die Bindung an den Volkswillen, um das Plebiszit, um das imperative Mandat, also den unmittelbaren Auftrag der Wähler an den Gewählten (vgl. G. Radbruch, 1930; E. Fraenkel, 1964; W. Steffani, 1979). Mit Blick auf die Sphäre der Repräsentation steht dagegen die Regierungsfähigkeit im Vordergrund, will man den (unmittelbaren) Volkswillen „verbessern" (etwa dadurch, dass die Repräsentanten nicht die von einer deutlichen Mehrheit gewünschte Todesstrafe einführen) und die Vertretung personell gewährleisten. Im ersten Fall sind die sozialen Gegebenheiten der Parteien wichtig (die Zahl und Mitarbeit ihrer Mitglieder und das von äußeren Einflüssen unabhängig machende Beitragsaufkommen). Im zweiten Falle betont man eher den Zweck der Parteien, treten Bedürfnisse der Repräsentationsebene in den Vordergrund, erscheint auch eine staatliche Finanzierung unbedenklich. Im ersten Fall wird das flexible Reagieren auf Bedürfnisse der Bevölkerung hervorgehoben, im zweiten die Stabilität des Systems. Die üblichen typologischen Versuche der Parteiensoziologie lassen sich hier unschwer einordnen: Interessen- oder Mehrheitsparteien, Weltanschauungs- oder Volksparteien, Massenintegrations- oder Berufspolitikerparteien bringen je nachdem eher unmittelbar Volkssouveränität zum Ausdruck oder entsprechen den Bedürfnissen eines „repräsentativen Systems". Fraglos stellt das Parteiengesetz im Sinne des alten Dualismus einen großen Schritt in Richtung Staat dar. Es gefährdet so die „Doppelrolle" der Parteien, die, im sozio-kulturellen System der Gesellschaft verankert, dessen Bedürfnisse und Erwartungen politisch artikulieren und in das politische System transportieren sollen. Aus der Vermittlerrolle kann dann eine Verankerung im politischen System abgeleitet werden. Von ihm und seinen Handlungsbedingungen werden mithin die „Rollen" der Mandatsträger geprägt, was zur Entfremdung zwischen ihnen und den „einfachen" Parteimitgliedern führen kann, die aus allgemeinem, nicht (bloß) persönlichem Interesse in der Partei mitwirken wollen. Insgesamt hat die Berücksichtigung der Parteien in der Verfassungs- und Rechtsordnung deren organisatorische Verfestigung sicher verstärkt. Das hat zunächst stabilisiert, dann aber auch wieder eine gewisse Destabilisierung ausgelöst. So kam es in den 1970er Jahren zu deutlichen Zweifeln an der Legitimation und Kompetenz der voll ins politische System integrierten Parteien und zu einer Art von Parteienverdrossenheit, die in der Mitglieder- und Beitragsentwicklung zutage trat. Vor allem von der grünen und alternativen Bewegung wurden dabei politische Themen in den Mittelpunkt gestellt, die man seitens der „etablierten" Parteien vernachlässigt glaubte; in der Hauptsache brachten sie aber Kritik an der mangelhaften Partizipationsmöglichkeit innerhalb der Parteien zum Ausdruck. Damit

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte wurde eine Kritik aufgenommen, die sich auch in den „etablierten" Parteien fand. Nicht wenige Grüne kamen aus der SPD und wollten nun einen entschieden neuen Weg gehen. Sie distanzierten sich dabei häufig von der Form, in der Politik nach den Bedingungen der staatlichen Ordnung auch in den Parteien gemacht werden soll, und erhoben sogar die „Entförmlichung" zum Programm. Damit stellte sich die Frage nach der Möglichkeit und den Konsequenzen der „Doppelrolle" der Parteien zwischen Staat und Gesellschaft mit neuer Dringlichkeit. 2.3.2. Die Binnenstruktur der Parteien Im Gegensatz zu anderen Parteigründungen nach 1945, die sich dezidiert nur einer sozialen Gruppe zuwandten, wollten die späteren Bundestagsparteien (SPD, CDU, CSU, FDP) von vornherein für „jedermann" offen stehen. Sie nannten sich deshalb bald Volksparteien und betonten in unterschiedlicher Weise die Chance für Mitglieder, am innerparteilichen Willensbildungsprozess unabhängig von der sozialen Position teilzunehmen. Mit dieser „ Offenheit" hatten sie insofern Erfolg, als sie die übrigen Parteien weitgehend verdrängten, neue Parteigründungen erschwerten und einen erdrückenden Anteil an Wählerstimmen auf sich vereinten. Dieser Erfolg und jene Offenheit standen sich aber zum Teil im Wege. Die Herausbildung und Stabilisierung „alternativer" Parteien signalisierte jedenfalls Zweifel an einer Offenheit, die die programmatischen und partizipatorischen Erwartungen der Mitglieder ebenso befriedigen muss wie sie auf Wähler anziehend wirken soll. Die genannten Parteien wollten und mussten bis zu einem gewissen Grad Volks- und Mitgliederparteien zugleich sein (vgl. R. Wildenmann, 1989; U. v. Alemann, 1990; U. Feist, 1994; F. Decker, 1999; K. v. Beyme, 2000). Als Volksparteien bemühen sie sich - die SPD konnte das erst nach langen Auseinandersetzungen, die zum Godesberger Programm und damit zur Absage an für alle Mitglieder gültige Weltanschauungselemente führten - um ein Programm, das mehr oder weniger für „alle" Gruppen in der Gesellschaft annehmbar ist und möglichst viele Wähler anspricht. Als Mitgliederpartei versuchen sie, Programmanstöße von der „Basis" zu gewinnen, die Programmentwürfe zu diskutieren und aus Mitgliedermehrheiten Aufträge für politisches Handeln abzuleiten. Dabei müssen von der Parteiführung ausgehende, „nach unten" wirkende Impulse und Anregungen „von unten" nebeneinander stehen. Weil letztere oft in isolierten Diskussionen zustande kommen und auf dem Weg „nach oben" in der Parteiorganisation „abgefiltert" werden, entsteht ein zwiespältiger Eindruck von der innerparteilichen Demokratie. Als Volks- und Wählerparteien 9 müssen die „etablierten" Parteien mit ihrem Programm und der Form seines Zustandekommens zudem Rücksicht auf die Wähler nehmen, was das Gewicht der Meinungsforschung erklärt, aber auch die Furcht der Parteien, als zerstritten zu gelten. So sieht sich die Diskussion oft behindert. Unter Adenauer wirkte die C D U überwiegend wie eine Wählerpartei, die ihre Werbung an tatsächlichen oder vermeintlichen

9 O. Kirchheimer hat als erster die Entstehung der Volksparteien (oder auch catch-all Parteien) in der Nachkriegszeit untersucht. Dabei handelte es sich in erster Linie um einen Strategiewechsel der Parteien, der vor dem Hintergrund einer zunehmend heterogenen Wählerschaft und sich abschwächender Milieubindungen stattfand. Die Volksparteien begannen damit, die vormals engen und exklusiven Verbindungen der Massenintegrationsparteien zu ihrer Kernklientel zu lockern und statt dessen eine Vielzahl an Bindungen zu unterschiedlichen sozialen Gruppen aufzubauen (O. Kirchheimer, 1966).

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Wählerwünschen orientierte und auf Programmdiskussionen ganz verzichtete. Der CSU ist die öffentliche Diskussion bis heute eher fremd; ihre Parteitage wirken als Heerschau, nicht als Ort von Diskussionen und Abstimmungen. In der SPD spielt dagegen die Diskussion eine größere Rolle, sie führt aber auch immer wieder zu Flügelbildungen, Flügelkämpfen und in ihrem Gefolge zu Mitglieder- und Wählerfluktuationen (vgl. H. Scheer, 1982). Auch die FDP, anfänglich eher Honoratiorenpartei, kennt die heftige und unversöhnliche innerparteiliche Diskussion sowie die Gefahr der Spaltung - zuletzt kam dies bei der Regierungsumbildung 1982 und im Gefolge der Möllemann-Affäre zum Ausdruck. Insgesamt kann man von der Erfahrung ausgehen, dass innerparteiliche Diskussion beim Wähler eher schadet als nützt, zumal in der Auseinandersetzung zwischen den Parteien der Hinweis auf solche Diskussionen und damit auf mangelnde Geschlossenheit nie fehlt. Die Rücksicht auf die Mitglieder und die auf den Wähler stehen sich im Wege. Der Typus der Volks- und Mitgliederpartei legitimiert sich zunächst durch die Zahl der Mitglieder (vgl. hierzu u.a. M. T. Greven, 1987; H. Oberreuter/A. Mintzel, 1992), damit sich die Organisation stabilisiert, Wahlkämpfe erfolgreich durchgeführt werden können, eigene Einnahmen entstehen und es eben auch zu Impulsen der Basis kommt. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Mitgliederzahl und Wahlergebnis besteht allerdings weder örtlich noch überörtlich. Im Wahlergebnis kann sich zwar die örtliche Stärke der Partei widerspiegeln, doch sind meist eher traditionelle Zuordnungen (konfessioneller, standortbedingter, beruflicher Art) von Bedeutung, die ihrerseits auch die Mitgliederschaft der Parteien prägen. In dem Maße, in dem sich bei den Wählern eine gewisse Abkehr von solchen Zuordnungen abzeichnet, weil sich soziale Umschichtungen oder neue Wertorientierungen bemerkbar machen, vermehrt sich auch die Zahl der Wechselwähler. Örtliche Gegebenheiten verlieren an Gewicht. Insofern ist die Zahl der Mitglieder nicht von überragender Bedeutung, zumal sie ohnehin in keinem nennenswerten Verhältnis zur Zahl der Wähler steht. Außerdem dürften allenfalls die Größenordnungen festliegen; keine Partei kann ihre Mitglieder wirklich exakt ermitteln, ihre „Karteileichen" ausscheiden und die Meldungen von unten nach oben gewährleisten. Dies hat zur Folge, dass der Begriff und die Funktion des Mitglieds bei Parteien weniger klar abgegrenzt werden kann als bei anderen gesellschaftlichen Gruppierungen. Mitunter werden Mitglieder auch nur noch als „lästiger Traditionsbestand" moderner Volksparteien eingestuft, auf den die professionalisierten Parteiführungen nicht mehr zwingend angewiesen sind (E. Wiesendahl, 1990, S. 14). Trotz der zuweilen kritischen Einschätzung der Funktion von Mitgliedern bleiben sie als Verbindung zu gesellschaftlichen Gruppen natürlich unabdingbar. Sie dienen den Parteien als eine Art „Schwimmgürtel", der sie bei Einbrüchen in der Wählergunst davor bewahrt, unterzugehen. Im Unterschied zu den Massenintegrationsparteien der 1920er Jahre sind Mitglieder für die Wählermobilisierung heute nur von nachrangiger Bedeutung (Κ. v. Beyme, 2003, S. 53 f.). Unbenommen davon haben sich die Mitgliederzahlen der wichtigsten Parteien unterschiedlich entwickelt. So meldete die SPD um 1948 eine Mitgliederzahl von etwa 800.000, die 1955 auf unter 500.000 fiel, um dann bis 1976 ständig zu wachsen (1965 ca. 700.000; 1970 ca. 820.000; 1972, zur Zeit des Misstrauensvotums gegen W. Brandt und der Diskussion um die Ostverträge, ca. 954.000; 1976 ca. 1.022.000). Dieses Niveau ließ sich nicht halten. Bis 1980 verlor die Partei knapp 40.000 Mitglieder, 1981 gingen ihr drei Prozent des Bestandes verloren, so dass sie 1982 mit ca. 950.000 Mitgliedern wieder dort anlangte, wo sie schon zehn Jahre zuvor stand. Ende 1990 (altes Bundesgebiet) waren 919.000 Personen Mitglied der SPD, davon 27,3 Prozent Frauen; Ende 2001 sind es im gesamten Bundesgebiet nur noch 717.513. Die CDU startete auf einem wesentlich geringeren Niveau, zählte Ende der 1960er Jahre 300.000 Mitglieder und baute in ihrer Oppositionszeit die Mitgliedschaft 176

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte kräftig aus; während sie 1990 (gesamtes Bundesgebiet) etwa 785.000 Mitglieder zählte, sind für 2001 nur noch 604.135 zu benennen. Im Vergleich dazu steht die CSU als reine Landespartei mit hervorragender Organisation etwas besser da. Sie überschritt um 1972 die 100.000-Grenze und meldete 1990 etwa 186.000 Mitglieder; 2001 waren es immerhin noch 177.034. Die FDP wies demgegenüber meist größere Schwankungen bei relativ geringer Mitgliederzahl auf. 1969, bei Eintritt in die sozialliberale Koalition, hatte sie etwa 58.000 Mitglieder und wuchs ab 1973 kontinuierlich. Vor dem Regierungswechsel 1982 erreichte sie ihren höchsten Mitgliederstand mit ca. 87.000; er schrumpfte bis Ende 1988 um 22.000. Die Zusammenführung mit den ostdeutschen liberalen Parteien brachte dann für die F D P einen Zuwachs von über 100.000 Mitgliedern, von denen die Partei zwischenzeitlich (1990) fast 180.000 zählte. Unter den etablierten Parteien profitierte die F D P von der deutschen Einheit also am stärksten; allerdings ist seitdem ein beträchtlicher Einbruch zu verzeichnen bis hin auf nur noch 64.063 Mitglieder im Jahr 2001. Die Mitgliederzahl der Grünen stieg von 41.000 (1990) auf 46.968 (2001), jene der PDS sank von nahezu 281.000 (1990) auf 83.475 (2001; Zahlen aus O. Niedermayer, 2002). Auch die Zusammensetzung der Parteimitglieder hat sich unabhängig von regionalen oder Stadt-Land-Unterschieden erheblich verändert (vgl. H. Oberreuter !A. Mintzel, 1992; O. W. Gabriello. Niedermayer, 2001). So wies die SPD Anfang der 1970 Jahre darauf hin, dass es bei ihr zu einer massiven Verjüngung der Mitglieder gekommen sei. Von den etwa eine Million Mitgliedern 1973 waren über zwei Drittel erst in den vorangegangenen zehn Jahren als Neumitglieder hinzugekommen, wodurch sich jedoch auch die Bindungen an Tradition und Milieu abschwächten (vgl. P. Glotz, 1975 und zuletzt 1996). Analoge Entwicklungen zeichneten sich bei der C D U ab; die Verjüngung erfolgte hier über den Gewinn der „neuen Mittelschichten". Während der Prozess der Enttraditionalisierung der großen Parteien sich bis heute fortsetzt, kann von einer steten Verjüngung der Mitgliedschaft nicht mehr die Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall. Es mangelt den Parteien, trotz kleiner Aufschwünge, wie etwa bei der SPD nach der Regierungsübernahme 1998, an Neueintritten, die Überalterungstendenzen werden deutlich. So sank in der SPD die Mitgliederschaft bei der Altersgruppe der unter 25jährigen zwischen 1974 und 1999 von 10,8 auf 2,8 Prozent, bei der C D U liegt der entsprechende Anteil der „Jungen" bei 2,5 Prozent (1999) aller Mitglieder (E. Wiesendahl, 2001, S. 8; A. Dörner, 2002). Volksparteien betonen gern, die soziale Struktur der jeweiligen Mitgliedschaft entspreche in etwa der der Gesamtbevölkerung. Diese Behauptung ist zum einen falsch und zum anderen unerheblich, weil es keine deutlichen Bezüge zwischen der sozialen Zusammensetzung der Mitgliedschaften und dem jeweiligen Wahlergebnis gibt. Es muss deshalb der Hinweis genügen, dass im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung die ungelernten Arbeiter, die Hausfrauen und die Rentner deutlich unterrepräsentiert, die Angestellten, vor allem die des öffentlichen Dienstes, etwas und die Beamten weit überrepräsentiert sind. Zwischen den Parteien ergeben sich Unterschiede dahingehend, dass die Selbständigen in der C D U und der F D P überrepräsentiert und die Arbeiter mit ca. 21 Prozent nur in der SPD angemessen vertreten waren (U. v. Alemann, 2003, S. 143). Die SPD zieht daraus seit geraumer Zeit die Konsequenz, von sich selbst nicht mehr als Arbeiter-, sondern als Arbeitnehmerpartei zu sprechen. 1956 verzeichnete man noch 40 Prozent Arbeiter und 14 Prozent Angestellte und Beamte unter den Mitgliedern. Dies veränderte sich in den 1950er und 60er Jahren fundamental, so dass bereits 1973 die Gruppe der Angestellten und Beamten die der Arbeiter unter den Mitgliedern übertraf (26 Prozent Arbeiter, 36 Prozent Angestellte und Beamte) eine Relation, die sich bis heute nur geringfügig zuungunsten der Arbeiter veränderte (1999: 21,2 Prozent Arbeiter und 38,8 Prozent Angestellte und Beamte; s. O. W. Gabriello. Nieder-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung mayer, 20022, S. 289). Darüber hinaus kann für alle Parteien festgestellt werden, dass ihre Mitglieder überwiegend männlich sind, den mittleren und älteren Jahrgängen angehören und über einen überdurchschnittlich hohen Bildungsgrad verfügen (U. v. Alemann, 2003, S. 143). Wichtiger jedoch als die reine Zusammensetzung der Mitgliedschaft erscheint, aus welchen gesellschaftlichen Gruppen sich die Funktionäre und Mandatsträger rekrutieren. Funktionärsanalysen führen zu ganz anderen Ergebnissen als Mitgliederanalysen (vgl. O. Niedermayer, 1989), weshalb man forschungstechnisch eher zwischen Amateuren (einfache Mitglieder und ehrenamtlich Aktive) und Professionellen (hauptamtliche Aktive und Mandatsträger) unterscheiden sollte - letztere nicht als festgefügte Gruppe verstanden, sondern als ein Bündel „multipler und rivalisierender Eliten". Die Bereitschaft der Wähler, Mitglied in einer Partei zu werden, lässt sich nur aus einer Kombination unterschiedlicher Bindungsmotive heraus erklären. Normative oder wertgebundene Motive sind vornehmlich durch das soziale Umfeld vermittelte weltanschauliche, ideologische oder milieuspezifische Überzeugungen. Politisch-instrumentelle Motive liegen dagegen vor, wenn durch die Parteibindung die Unterstützung und Durchsetzung bestimmter politischer Anliegen, Interessen oder Zielsetzungen zum Ausdruck gebracht oder gefördert werden soll. Von nachrangiger und zunehmend nachlassender Bedeutung sind hingegen die affektiven Motive des Parteibeitritts. Darunter fallen sowohl gesellige, freundschaftliche und andere sozialintegrative Motive als auch die Befriedigung von Status-, Prestige- und Machtbedürfnissen oder das Erleben positiver Gefühle wie Spaß, Freude und Vergnügen. Materielle Motive bilden schließlich die dritte und am wenigsten bedeutsame Kategorie, wobei ein leichter Unterschied zwischen den beiden großen Parteien besteht: Ökonomische bzw. berufliche Vorteile besitzen bei CDU-Mitgliedern eine weitaus größere Bedeutung als bei SPD-Mitgliedern. Diese dreigliedrige Abstufung der Motivlage lässt sich im Übrigen bei allen relevanten Parteien der Bundesrepublik wiederfinden (O: Niedermayer, 2001, S. 306 ff.). Etwa 75 bis 85 Prozent aller Parteimitglieder sind „einfache Beitragszahler", die parteipolitisch eher passiv sind und über den Status einer „Karteileiche" kaum hinaus kommen. Der kleine Kern der aktiven Mitglieder ist hingegen eher bei außenorientierten Veranstaltungen zu finden, während die organisatorische Basis, die Mitgliederversammlung, kontinuierlich an Bedeutung verliert; am Streit oder an der ritualisierten Selbstdarstellung der Funktionäre oder derer, die ein Mandat anstreben, sind nur noch Wenige interessiert. Insofern lassen sich örtliche Gremien leicht erobern und „umfunktionieren", was besonders engagierten Gruppen innerhalb der formalen Rahmenbedingungen auch immer wieder Chancen eröffnet. Örtlich können daher, vor allem unter kleinräumigen Bedingungen, Parteigliederungen ein sehr individuelles Gepräge haben. Ihm sind aber durch das „Bild" der Partei, das über die Massenmedien vermittelt wird, durch die Vorstellungen des politischen Gegners, vor allem aber durch die Organisation der Parteien und die entsprechende Einbindung der örtlichen Gliederungen Grenzen gesetzt. Diese Organisation der einzelnen Parteien war Anfang der 1960er Jahre im Wesentlichen ausgebildet; die Erfahrungen der großen Parteien fanden Eingang in das Parteiengesetz. Ihm zufolge muss die gebietliche Organisation so weit ausgebaut sein, „dass den einzelnen Mitgliedern eine angemessene Mitwirkung an der Willensbildung der Partei möglich ist". Dem dienen Gebietsverbände, in denen es Mitgliederversammlungen und Vorstände und auf höherer Ebene auch eine Vertreterversammlung gibt. Auf der untersten Ebene verfügen SPD, CDU, CSU und PDS (im Osten) über eine ausgedehnte örtliche Organisation (etwa 12.500 Ortsvereine der SPD, 11.800 Ortsverbände der CDU und 2.900 der CSU sowie 6.630 lokale und betriebliche „Basisorganisationen" der PDS), die auf der Ebene des Kreises oder des Bundestagswahlkreises zu Kreisverbänden (372 der CDU, 510 der Bündnis 90/Grünen, 450 der F D P und

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte 122 der PDS) oder, wie bei der SPD, zu den größer geschnittenen Unterbezirken (350) zusammengefasst werden. Für die F D P und Bündnis 90/Die Grünen ist der Kreisverband oft die unterste organisatorische Ebene. Als nächstes folgen die Landesverbände, wobei die C D U in Niedersachsen entsprechend der Ländergliederung von 1946 noch über drei Verbände verfügt (Hannover, Oldenburg und Braunschweig). Bei der SPD ergibt sich insofern eine Besonderheit, als die 25 „Bezirke", die nur in kleineren Bundesländern gleichbedeutend mit dem Landesverband sind, traditionellerweise eine wichtige Stellung im Organisationsgefüge der Partei besitzen. Die oberste Organisationsebene aller Parteien ist - mit Ausnahme der CSU - der Bundesverband. Darüber hinaus existieren auf europäischer oder weltweiter Ebene nur noch Parteienbünde verschiedener nationaler Parteien (Sozialistische Internationale) oder Fraktionen im Europäischen Parlament (W. Rudzio, 2000a, S. 169f.; T. Poguntke, 2001, S. 262; U. v. Alemann, 2003, S. 144). Insgesamt bemühen sich die Parteien darum, den politischen „Ebenen" in ihrer Organisation zu entsprechen, auch wenn sich, wie am Beispiel der SPD-Bezirke, historisch gewachsene Regionalstrukturen erkennen lassen. Parteien benötigen eine nur eingeschränkt hierarchische Organisation, mit allerdings sehr deutlichen Delegationsstufen. Unter ihnen nimmt der Kreisverband eine Sonderstellung ein, weil auf dieser Ebene Ortsvereine von sehr unterschiedlicher Zahl und Größe zusammengefasst werden. Auf der Kreis- oder Unterbezirksebene beginnt in der Regel auch die büromäßige Organisation, in diesem Fall „von oben" finanziert, so dass das hauptamtliche Personal in zweifachen Loyalitätsbezügen steht. Bei dem Personal handelt es sich gebietlich um eine eher kleine und auch nicht sonderlich gut besoldete Gruppe von bürokratischen „Einzelkämpfern". Erst auf der Bezirksebene findet man richtige Büros mit entsprechender Ausstattung. Die Bezirke bilden auch, etwa gemäß § 8 (2) des Organisationsstatuts der SPD, die „Grundlage der Organisation" (Organisationsstatut der SPD vom 09.12.1999). In der CSU, die als am besten und straffsten organisiert gilt, ist der organisatorische Zentralismus noch ausgeprägter (vgl. grundlegend A. Mintzel, 19782, S. 732fT., sowie 1990). Er bewirkt (vereinfacht), dass auf der örtlichen Ebene die Mitglieder und die von ihnen gewählten Funktionäre noch „unter sich" sind, während auf allen anderen Ebenen Funktionäre und hauptamtliche Mitarbeiter das Feld beherrschen. Das Laienelement und das professionelle Element sind räumlich und organisatorisch deutlich voneinander unterschieden. An der Spitze der büromäßigen Organisation stehen zuletzt die Generalsekretäre der Parteien (Bündnis 90/Die Grünen: Bundesgeschäftsführer), die über den Berliner und im Falle der CSU über den Münchner Apparat der Parteizentralen verfügen, denen die Parteisprecher unterstehen und die organisatorische, publizistische und programmatische Aufgaben zugleich wahrnehmen. Ihr Gewicht ist mit dem Anwachsen der Parteien gestiegen. Es vermehrt sich auch deshalb, weil in der Regel der Parteivorsitzende Regierungsoder Oppositionschef ist und seine Stellvertreter meist auch zeit- und kraftraubende öffentliche Ämter innehaben. Damit fällt vieles auf den Generalsekretär zurück, ohne dass dies das Gewicht des Parteivorsitzenden und der Vorstandsgremien schmälert. Nur am Rande sei vermerkt, dass man es wohl als Ausnahme betrachten muss, wenn, wie im Fall des Bundeskanzlers Helmut Schmidt und des Parteivorsitzenden Willy Brandt, die beiden zentralen Funktionen im parlamentarischen System getrennt wahrgenommen werden. Die SPD hat das auch teuer bezahlt. Es verschaffte der Partei Diskussionsspielraum, schwächte aber die Regierung. Diskussionen finden in allen Gremien statt, relativ öffentlich aber nur in den Mitgliederund Delegiertenversammlungen. Domäne der Mitgliederversammlungen ist die Kommunalpolitik. Auch im Kreisverband bzw. Unterbezirk dominieren oft noch die lokalen Ange-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung legenheiten.10 Auf den „höheren" Stufen setzt sich dem Verhältnis von Bundes- und Landespolitik entsprechend meist die Bundespolitik durch. Deshalb erscheinen hinsichtlich der Gesamtstruktur der Partei die (Bundes-)Parteitage (Bundesdelegiertenkonferenz bei Bündnis 90/Die Grünen) als die zentrale Ebene, weil sie über das Programm abstimmen und den Vorstand wählen, der seinerseits in allen Parteien aufgrund seiner ständigen Präsenz und der Zuordnung der Parteiapparatur entscheidend für das öffentliche Auftreten und damit für das Image der Parteien (und dessen Rückwirkung auf die Mitglieder) ist. Organisation und Tätigkeit der (nur) durch Delegierte gewählten Parteitage haben unter dem Aspekt innerparteilicher Demokratie vor allem drei Mängel. Zum Ersten eröffnet das Parteiengesetz die Möglichkeit, neben den gewählten Delegierten auch anderen Parteitagsmitgliedern ein ex o/7icw-Stimmrecht zuzusprechen. Das geht auf die frühere Verfahrenspraxis der CDU zurück und wird heute weniger auf den Bundesparteitagen - in der SPD Stimmrecht des Vorstandes - , wohl aber in den Landesverbänden noch immer ausgenutzt. Nur ein Teil der Stimmberechtigten ist mithin gewählt. Zum Zweiten legalisiert das Parteiengesetz ein anderes in der CDU ausgebildetes Verfahren, dem zufolge die Parteitagsdelegierten nicht ausschließlich nach dem Stärkeanteil der verschiedenen Untergliederungen, sondern auch nach dem Wahlergebnis ermittelt werden (§ 13, Parteiengesetz vom 31.01.1994). Ein Landesverband mit geringer Mitgliederzahl, aber hohem CDU-Stimmenanteil, kann infolge dessen auf dem CDU-Bundesparteitag relativ mehr Delegierte stellen als ihm, gemessen an seiner Mitgliederzahl, zustünden. Das Parteiengesetz erlaubt es, bis zur Hälfte der Parteitagsmandate nach diesem Modus zu verteilen; CDU und FDP machen davon im Gegensatz zu SPD und CSU Gebrauch. Pragmatisch gibt es für diese Regelung Gründe; demokratietheoretisch ist sie unhaltbar, weil die Delegierten nur Mitglieder, nicht aber Wähler vertreten können. Zum Dritten schließlich gilt für die Parteitage, was generell für parlamentsähnliche Versammlungen von Verbänden gilt, denen alle Voraussetzungen eines Parlaments fehlen: die Möglichkeit der internen Arbeitsteilung und die der klaren Fraktionsbildung mit entsprechendem Interessenausgleich. Faktisch dominieren in Vorbereitung, Aktion und zum Teil auch Anspruch auf Rederecht die Vorstände, während etwaige Minoritäten vergleichsweise lange mit Geschäftsordnungsmaßnahmen überspielt werden können. So erhalten Parteitage vielfach die Funktion eines bloßen „Akklamationsorgans". Trotz der angesprochenen demokratietheoretischen Mängel ist in den letzten Jahren ein stetig wachsender Druck auf die Parteiführungen erkennbar, offenere Diskussionen zuzulassen. Ein Indiz mag in diesem Zusammenhang die wachsende Antragsflut sein, mit der Parteitage zunehmend konfrontiert werden. Zudem besitzen die Delegierten in allen Parteien im Rahmen bestimmter Verfahrensregeln auch die Möglichkeit, über Dringlichkeits- und Geschäftsordnungsanträge Einfluss auf die Parteitagsregie auszuüben (vgl. K. v. Beyme, 2000, S. 147 f.; T. Poguntke, 2001, S. 265). Gibt die in der Praxis wohl unvermeidbare Delegationstechnik der Parteien schon zu einigen Bedenken Anlass (sofern man Parteien vorwiegend unter partizipatorischem Aspekt betrachtet), stimmen die vielfältigen Nebenorganisationen noch bedenklicher, die meist dauerhafter und damit auch einflussreicher sind als die Delegiertenversammlungen der Gebietsorganisationen über dem Ortsverein. In der CDU wurde das Vereinigungswesen sogar zu einem zweiten Prinzip erhoben. Nach § 39 des Parteistatuts handelt es sich um „organisatorische Zusammenschlüsse mit dem Ziel, das Gedankengut der CDU in ihren

10 H. Kaack (1971) hat bereits vor über 30 Jahren in einer inzwischen „klassischen" Arbeit Struktur und Funktion der Ortsvereine in den großen Parteien untersucht und zusammengefasst.

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Wirkungskreisen (junge Generation, Frauen, Arbeitnehmer, Kommunalpolitik, Mittelstand, Wirtschaft, Vertriebene und Flüchtlinge, ältere Generation) zu vertreten und zu verbreiten sowie die besonderen Anliegen der von ihnen repräsentierten Gruppen in der Politik der C D U zu wahren. Ihr organisatorischer Aufbau soll dem der Partei entsprechen. Sie haben eine eigene Satzung, die der Genehmigung durch den Generalsekretär b e d a r f (§ 39 des Statuts der CDU, Stand: 01.03.2003). Der C D U nahe stehende Vereinigungen sind vor allem die Junge Union, die Frauen-Union, die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft, die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU und der Ring Christlich-Demokratischer Studenten. Gerade das eigenständige Satzungsrecht, das Recht auf eigene Verlautbarungen und Mitgliedschaften, die nicht immer an einen Eintritt in der Mutterpartei gekoppelt sind, ermöglichen den Vereinigungen der C D U eine weitgehende organisatorische und inhaltliche Eigenständigkeit. Freilich ist die Bedeutung der einzelnen Vereinigungen höchst unterschiedlich. Zusätzlich zu den formellen Vereinigungen tritt in der Union noch ein kompliziertes Netz von etwa 60 Fachausschüssen, Arbeitskreisen und funktional vergleichbaren Gremien hinzu, in denen Abgeordnete, Fachleute und Mitglieder an der konkreten politischen Arbeit der Partei mitwirken. Da sich mit solchen Nebenvereinigungen automatisch Mitsprache- und Machtansprüche verbinden, vermeidet die SPD diesen Weg und nimmt die auch bei ihr vorhandenen zahlreichen Arbeitsgemeinschaften und Ausschüsse an die kürzere Leine. So ist die SPD bislang nicht vom Prinzip der einheitlichen Mitgliedschaft in Arbeitsgemeinschaften und Partei abgewichen. Die einzige Ausnahme stellen in diesem Zusammenhang die Jungsozialisten dar, die seit 1994 (in einem ursprünglich nur bis 1998 vorgesehenen Modellversuch) auch Nichtparteimitgliedern die Möglichkeit der Mitarbeit bieten. Doch auch bei der SPD lässt sich der Einfluss der Nebenorganisationen nur schwer benennen, da sie nicht nur beraten, sondern auch besondere Interessen repräsentieren. Damit verbindet sich kaum wägbarer Einfluss, zumindest kann man im Parteivorstand ein- und ausgehen und seine Wünsche unmittelbar vorbringen (U. v. Alemann, 19952, S. 45; T. Poguntke, 2001, 259). Insgesamt dient der Parteiapparat (neben der Programmentwicklung) vor allem der erfolgreichen Wahlkampfführung. Die Partei wirbt. Sie wirbt Mitglieder und künftige Wähler; sie versucht, die vorhandenen Mitglieder „bei der Stange" zu halten und sie zu aktivieren; sie bemüht sich durch Pressearbeit und andere Veröffentlichungen, den Mitgliedern ihre Sicht der Dinge darzustellen. Der Parteiapparat, der dies alles erledigen muss, bedarf dazu finanzieller Voraussetzungen und einer bürokratischen Struktur, arbeitet mit dem Blick nach außen, auf die künftige Wahl und auf den unbekannten, durch Meinungsbefragung immer nur bedingt erschlossenen Wähler. Der Parteiapparat, so wie er sich heute darstellt und systemgerecht erscheint, orientiert sich damit weniger nach innen, also nicht an Vorstellungen von innerparteilicher Demokratie. In ihm geht es vor allem um die Verwaltung der Partei, um deren Organisation, um Personalplanung, Öffentlichkeitsarbeit, Information und natürlich um die Politik, die bei all dem zur Geltung kommen soll. In ihm sind zudem Menschen tätig, die zumeist voll engagiert sind und sich eines hervorragenden Überblicks erfreuen - damit zwangsläufig aber auch in Distanz zum einfachen Mitglied geraten. Ein Organisationsproblem besonderer Art stellt das Nebeneinander von CDU und CSU dar. Es ergab sich 1945 und danach aus der relativen Sonderstellung Bayerns, hat historische Vorläufer (Zentrum - Bayerische Volkspartei), erlaubt gewisse programmatische Unterschiede und funktioniert nicht zuletzt aufgrund eines Stillhalteabkommens: Die CSU beschränkt sich auf Bayern, wird also nicht bundesweit aktiv, während die C D U darauf verzichtet, in Bayern einen eigenen Landesverband einzurichten. Beide Maßnahmen würden jeweils die Position des anderen Partners erheblich schwächen, die Ereignisse im Zuge

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung des Vereinigungsprozesses haben dies nachhaltig unterstrichen. Solange das Stillhalteabkommen funktionsfähig ist, kann man eine gemeinsame Bundestagsfraktion bilden, gemeinsame Wahlkampftreffen veranstalten und sich auf Verfahren einigen, wie man zu einem Kanzlerkandidaten für die nächste Bundestagswahl kommt. Wenn es nicht mehr funktioniert, ergeben sich Reibungsmöglichkeiten. Die CSU hat das 1976 mit ihrem Beschluss von Kreuth demonstriert, der als Kündigung der bisherigen Fraktionsgemeinschaft zu einer neuen Vereinbarung führte und von der ab es immer wieder Streitigkeiten gab - die heftigsten vor der Nominierung von F. J. Strauß zum gemeinsamen Kanzlerkandidaten (die CDU hatte vorher E. Albrecht benannt) und nicht minder massive während der Auflösungsphase der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982. Viele dieser Turbulenzen gingen auf Strauß als CSU-Parteivorsitzenden zurück. Insgesamt wird man sie nicht überbewerten dürfen. Das Risiko einer ernstlichen Konfrontation ist für beide Teile zu groß. Auch in Bayern würde wohl ein größerer Teil der CSU den Aufbau eines Landesverbandes der CDU unterstützen, während umgekehrt die Aussichten der CSU als einer bundesweiten Partei zwar nicht schlecht, aber doch nicht von der Art sind, dass man eine dominierende bundespolitische Position erwarten könnte. Die CDU hingegen würde ernstlich geschädigt. Die „Einbindung" der Parteien in das politische System wird im Zusammenhang mit der Parteiorganisation vor allem bei der Verflechtung von öffentlichen Ämtern und Parteifunktionen sichtbar. Noch deutlicher wird sie mit Blick auf die Finanzen der Parteien. Um ihretwillen ist 1967 letztlich das Parteiengesetz entstanden (vulgo: Parteienfinanzierungsgesetz) und kam es zu den meisten der einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Ohne auf die Entwicklung vor diesem Gesetz einzugehen (vgl. U. Dübber, 1962 und 1970; K.-H. Naßmacher, 1989), kann man seitdem zwischen folgenden Einnahmearten unterscheiden: Mitgliedsbeiträgen, Mandatsträgerbeiträgen, Spenden, Einnahmen aus Unternehmenstätigkeit und Parteivermögen, Einnahmen aus Veranstaltungen sowie staatliche Teilfinanzierung. Abgaben von Mandatsträgern und Kredite werden seit der Änderung des Parteiengesetzes 1983 nicht mehr gesondert aufgeführt. Vermögenserträge und sonstige Einnahmen spielen nur eine geringe Rolle. Das Interesse konzentriert sich auf die Mitgliedsbeiträge, die Spenden und die staatliche Parteienfinanzierung. Letztere unterteilt sich in eine mittelbare und eine unmittelbare Finanzierung, wobei eine mittelbare Finanzierung darin besteht, dass Parteien von der Erbschafts- und Schenkungssteuer befreit sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 18 ErbStG) und natürliche Personen Zuwendungen (Beiträge, Spenden) bis zu einem Höchstbetrag von 1.534 € (bei Ehepaaren 3.068 €) steuerlich absetzen können (§ 10b Abs. 2, § 34g Satz 2 EStG). Eine unmittelbare Finanzierung besteht darin, dass Parteien für ihre Erfolge bei Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen sowie für den Umfang der Zuwendungen natürlicher Personen (Beiträge, Spenden) staatlich bezuschusst werden. Weitere, indirekte staatliche Einnahmen erhalten die Parteien aus Zahlungen an die Fraktionen des Bundestages und der Länderparlamente, vereinzelt auch in Gemeinden, und den Zuwendungen an parteinahe Stiftungen (2001: 88,3 Mio. € Globalzuschüsse aus dem Haushalt des Bundesinnenministeriums). Von maßgeblicher Bedeutung für die unmittelbare staatliche Teilfinanzierung von Parteien waren die bislang sieben Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. S. Lovens, 2000, S. 285 ff.). Das letzte, für die derzeitige Struktur der staatlichen Bezuschussung relevante Urteil erging am 9. April 1992. Die von den Grünen angestrengte Klage richtete sich zum einen gegen Teile der unmittelbaren Staatsfinanzierung (Sockelbetragsregelung, Chancenausgleich) und zum anderen gegen die mittelbare Staatsfinanzierung durch die steuerliche Begünstigung von Beiträgen und Spenden (Publizitätsgrenze von 40.000 DM, steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden bis zu 60.000 DM/120.000 DM 182

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte jährlich). Zur unmittelbaren staatlichen Parteienfinanzierung erklärte Karlsruhe, dass sie prinzipiell erlaubt sei. Somit entwickelte es den seit 1966 gültigen Grundsatz der „Staatsfreiheit" zu dem der „Staatsferne" von Parteien weiter. Die bis 1992 herrschende Verfassungsinterpretation der „Staatsfreiheit" von Parteien hatte eine generelle staatliche Subventionierung ausgeschlossen und den Parteien lediglich eine angemessene Erstattung der Wahlkampfkosten zugebilligt. Der neu entwickelte Grundsatz der „Staatsferne" erlaube jetzt eine generelle staatliche Finanzierung von Parteien, jedoch unter der Maßgabe, dass bestimmte Grenzwerte nicht überschritten werden. Die staatlichen Zuwendungen sollten demnach nicht höher sein als die selbsterwirtschafteten Einnahmen („relative Obergrenze"). Keinesfalls dürften mehr staatliche Gelder als im Durchschnitt der Jahre 1989 bis 1992 (230 Mio. DM jährlich) an die Parteien fließen („absolute Obergrenze"). Als Verteilungskriterium für die staatlichen Zuwendungen solle der Wahlerfolg, die Summe der Mitgliedsbeiträge sowie das Spendenaufkommen in zu differenzierender Gewichtung herangezogen werden {R. Lhotta, 2000, S. 381). In der Begründung hieß es, dass die Parteien nicht der Notwendigkeit enthoben werden dürften, sich um die finanzielle Unterstützung durch ihre Mitglieder und ihnen nahe stehende Bürger zu bemühen. Die Parteien müssten sich prinzipiell zum Bürger und Wähler hinwenden. Die Staatsfinanzierung habe sich auf das zu beschränken, was zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Parteien notwendig sei (BVerfGE 85, S. 287ff.). Zur mittelbaren staatlichen Finanzierung vertrat das Gericht die Auffassung, dass die Grenzen zur steuerlichen Absetzbarkeit von Spenden sich am Einkommen der Mehrzahl der Bürger zu orientieren hätten. Die verfassungsrechtliche Grenze sei erreicht, wenn die vorgegebene Wettbewerbslage zwischen den Parteien in einer ins Gewicht fallenden Weise verändert werde. Offenkundig könne der durchschnittliche Einkommensbezieher den vom Gesetzgeber 1989 festgelegten steuerlich absetzbaren Spendenrahmen von 60.000 DM, bei Zusammenveranlagung Verheirateter von 120.000 DM, „auch nicht annähernd ausschöpfen". Demgegenüber sei die frühere Steuerermäßigung für Spenden und Beiträge bis 1.200/ 2.400 D M verfassungsrechtlich unbedenklich und für einen Durchschnittsverdiener auch tatsächlich zu erreichen. Uberraschend erklärte das Gericht die steuerliche Begünstigung der Zuwendungen von Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen an Parteien generell für verfassungswidrig. Dies bedeutet, dass nur noch Privatpersonen Spenden steuerlich absetzen dürfen. Der Senat wies zwar ausdrücklich darauf hin, dass Parteispenden juristischer Personen „nach der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in beliebiger Höhe zulässig" seien. Die steuerliche Begünstigung solcher Zuwendungen verstoße jedoch gegen das Recht des Bürgers auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung und gegen das Recht der Parteien auf Chancengleichheit. Dadurch hätten diejenigen Personen, die dahinter stünden, eine zusätzliche Möglichkeit staatlich geförderter Einflussnahme auf die politische Willensbildung, die anderen Bürgern vorenthalten bleibe. Diese Ungleichbehandlung sei verfassungswidrig (BVerfGE 85, S. 313 ff). Gelder und geldwerte Zuwendungen an Parteien müssen künftig dann in den Rechenschaftsberichten verzeichnet werden, wenn sie 20.000 DM überschreiten. Richtmaß sei die Möglichkeit einer Einflussnahme. Mit einem solchen Betrag könne zumindest auf kommunaler Ebene und auf Kreisebene ein nicht unerheblicher Einfluss ausgeübt werden. Die bisherige „Publizitätsgrenze" von 40.000 D M verletze die Verfassung (BVerfGE 85, S. 319ff). Für verfassungswidrig erklärt wurde darüber hinaus der 1983 eingeführte und 1988 geänderte Chancenausgleich. Er sollte Wettbewerbsverzerrungen kompensieren, die durch den staatlichen Steuerverzicht bei Spenden und Beiträgen hervorgerufen werden. Dieser Chancenausgleich sei widersprüchlich und zudem ungeeignet, einen finanziellen Ausgleich zwischen den Parteien herzustellen. Die Ausgleichsbeträge stünden in

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Beitrags- und Spendeneinnahmen der Parteien. Ebenfalls verfassungswidrig sei der 1988 eingeführte Sockelbetrag für die Wahlkampfkostenerstattung, der allen Parteien, die zwei Prozent der Zweitstimmen erhielten, einen festen Betrag zuwies. Dieser Sockelbetrag widerspreche dem Grundsatz der „Staatsferne", weil er sich weder am Wahlerfolg noch am Beitrags- und Spendenaufkommen ausrichte (BVerfGE 85, S. 283). Auch nach seiner letzten Novellierung 2002 hat das Parteiengesetz die prinzipielle Struktur der staatlichen Teilfinanzierung beibehalten, wenn auch kleinere quantitative Verschiebungen vorgenommen wurden. Die unmittelbare staatliche Finanzierung sieht demnach wie folgt aus: Die absolute Obergrenze der staatlichen Zuschüsse wurde seit 1994 in zwei Schritten - 1998 von 230 auf 245 Mio. D M und 2002 auf 133 Mio. € - angehoben (§ 18 Art. 2 PartG). Zum einen erhalten die Parteien für jede gültige Wählerstimme bei einer Europa-, Bundestags- oder Landtagswahl jährlich 0,85 € für die ersten vier Millionen Stimmen sowie 0,70 € für jede weitere gültige Stimme. Anspruch auf diese staatlichen Mittel haben alle Parteien, die mindesten 0,5 Prozent der Stimmen bei den jeweils letzten Europa- oder Bundestagswahlen bzw. 1,0 Prozent der Stimmen bei den jeweils letzten Landtagswahlen erzielt haben (§18 Abs. 3 und 4 PartG). Zum anderen erhalten die Parteien staatliche Zuschüsse in Höhe von 0,38 € für jeden Euro, den sie an Zuwendungen (Beitrag, Mandatsträgerbeitrag oder Spende) von privaten Personen erhalten haben; allerdings werden dabei nur Zuwendungen bis zu 3.300 € je Person berücksichtigt (§ 18 Abs. 3 PartG). Begrenzt wird die staatliche Teilfinanzierung durch die absolute Obergrenze aller Zuschüsse sowie die relative Obergrenze für jede Partei, nach der die staatliche Finanzierung die Summe der selbst erwirtschafteten Einnahmen nicht überschreiten darf (§ 18 Abs. 5 PartG). Es besteht für die Parteien eine Veröffentlichungspflicht von Spenden, die größer als 10.000 € sind; Spenden über 50.000 € sind unverzüglich dem Bundestagspräsidenten anzuzeigen und zu veröffentlichen (§ 25 Art. 3 PartG). Zudem dürfen Spenden nicht gestückelt werden, Barspenden sind nur bis zu einem Betrag von 1.000 € zugelassen (§ 25 Abs. 1 PartG). In ihren Rechenschaftsberichten unterscheiden sich die Parteien deutlich. Die SPD kann stolz auf ihre Mitgliedsbeiträge verweisen, die meist mehr als die Hälfte der Einnahmen ausmachten. C D U und Bündnis 90/Die Grünen haben hier zwar nachgezogen, erzielen aber nur in Ausnahmefallen mehr als 40 Prozent ihrer Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen. Die Feststellung über die absolute Höhe der Mitgliedsbeiträge hat allerdings eine nur begrenzte Aussagekraft. Parteiintern geht es um die Beitragshäufigkeit und um die Beitragsehrlichkeit. Hier lassen sich allenfalls Schätzungen vornehmen. Rechnet man auf Basis der Rechenschaftsberichte die geschätzten Mandatsträgerabgaben aus den Beiträgen heraus, ergeben sich für die einzelnen Parteien folgende durchschnittlichen Monatsbeiträge (2001): SPD: 6,40 €; C D U : 5,70 €; CSU: 4,40 €; B90/Grüne: 5,11 €; F D P : 8,46 € (PDS: keine Angaben). CDU, CSU und vor allem F D P verfügen im Gegensatz zu den anderen Parteien über ein erhebliches Spendenaufkommen, das meistens über ein Viertel aller Einnahmen ausmacht. Das verweist noch immer auf eher traditionelle Quellen. Die staatlichen Mittel verteilen sich hingegen gleichmäßig auf die Parteien und seit der Novellierung des Parteiengesetzes 1994 auch über die Jahre. Der bis Mitte der 1990er Jahre zu verzeichnende Anstieg der staatlichen Teilfinanzierung ist durch die seit 1994 geltende absolute Obergrenze der staatlichen Zuschüsse gestoppt. Betrachtet man die Größenordnung der jeweiligen Einnahmearten, so ergibt sich folgendes Bild (vgl. BT-Drs. 15/255 und 15/700; Materialband, IV/5): Die Einnahmen der Parteien sind von (umgerechnet) etwa 55 Mio. € 1968 kontinuierlich auf etwa 396 Mio. € im Jahre 2001 gestiegen. Alle Parteien belasten ihre Mandatsträger mit Abgaben aus den Mandatseinkünften, um so aus staatlichen Gehältern noch einmal eine Einnahme-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte quelle zu erschließen. Jene Beiträge beliefen sich 1982 auf etwa 40 Mio. D M , von denen die Mandatsträger der SPD etwa 16 und die der C D U etwa 17 Mio. D M aufbringen mussten. Seit 1984 werden diese Einnahmen nicht mehr in den Rechenschaftsberichten als eigene Quelle aufgeführt, sondern mit den Mitgliedsbeiträgen zusammengefasst. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass 20 bis 35 Prozent aller Beitragseinnahmen Mandatsträgerabgaben sind. Eine Ausnahme bilden Bündnis 90/Die Grünen; hier entstammen etwa 70 Prozent der Beitragseinnahmen Abgaben ihrer Mandatsträger. Der größte Teil dieser formal „freiwilligen" Abgaben kommt von Mandatsträgern auf kommunaler und Kreisebene. Für alle Parteien zusammen beläuft sich dieser Betrag auf etwa 50 Mio. € im Jahr (Κ. -Η. Naßmacher, 2001, S. 170). Die Spendenaffäre der CDU im Winter 1999/2000 warf neues Licht auf die Finanzierung und Rechenschaftslegung der Parteien. Die aufgedeckten Praktiken der Union sowohl auf Bundesebene als auch in Hessen machten deutlich, dass die bisherigen gesetzlichen Regelungen offenbar nicht ausreichten. In der Folge setzte Bundespräsident Johannes Rau eine Kommission unabhängiger Sachverständiger mit dem Auftrag ein, auf der Grundlage des Parteiengesetzes von 1994 Reform vorschläge für die Rechnungslegung von Parteien zu erarbeiten. Die im Abschlussbericht enthaltenen Empfehlungen (Materialband, IV/3) flössen anschließend maßgeblich in die achte Novelle des Gesetzes 2002 ein. Wesentliche Neuerung stellt eine Vorschrift dar, auf deren Grundlage einzelne Parteimitglieder, die Vorschriften zur Rechnungslegung einer Partei umgehen und damit einen falschen Rechenschaftsbericht beim Bundestagspräsidenten einreichen, strafrechtlich verfolgt werden können (§ 31d Abs. 1 und 2 PartG). Darüber hinaus dürfen Spenden nicht mehr gestückelt werden, um damit die Publizitätsgrenze von 10.000 € zu umgehen. Auch sind anonyme Spenden in Höhe von über 500 € in Zukunft abzulehnen (§ 25 Abs. 2 Satz 5 PartG), Gleiches gilt für Barspenden von mehr als 1.000 € (§ 25 Abs. 1 PartG).

2.3.3. Politisches Profil und Programmatili der Parteien Parteien benötigen, um Anhänger und Wähler zu gewinnen, ein politisches Profil. Mit ihm müssen sich, wollen sie Erfolg haben, bestimmte Erwartungen verbinden. Das Profil der Parteien (vgl. für die 1980er Jahre u.a. H. Schmitt, 1990, P. Haungs, 1990, A. Mintzel, 1990, H. Vorländer, 1990, F. Müller-Rommel!T. Poguntke, 1990; für die 1990er und frühen 2000er Jahre u.a. W. Rudzio, 1995, H. Vorländer, 1995, J. Hoffmann, 1995, J. W. Falter/M. Klein, 1995, J. Raschke, 2001a, T. Dürr, 2002, F. Bosch, 2002 b, F. Decker, 2002, Ch. Egle, 2003) ergibt sich zu einem gewichtigen Teil aus ihrem eigenen Befund, also aus ihrer sichtbaren Existenz, aus dem Auftritt ihrer Repräsentanten und aus den Erfahrungen, die man mit ihnen gemacht hat. Es folgt sicher nur zu einem (kleineren) Teil aus ihren Bemühungen um den jeweiligen politischen Standort, Bemühungen, die sich in Deutschland meist in politischen Programmen niederschlagen (vgl. Materialband, IV/6). Die Programme dienen der internen Verständigung und machen nach außen die Identität der Partei sichtbar (K. v. Beyme, 2000, S. 96). Sie müssen dazu einigermaßen dauerhaft und deshalb auch relativ abstrakt sein. Zugleich spiegeln sie aber auch eine bestimmte Situation wider. In der Bundesrepublik waren lange Zeit deren Gründungsbedingungen auch für die Parteiprogramme bestimmend: Die SPD knüpfte 1945 weithin an 1932 an, bekannte sich zum demokratischen Sozialismus, um diesen später im Godesberger Programm von 1959 neu zu interpretieren, und distanzierte sich noch deutlicher als früher vom Kommunismus. Dieser war allerdings angesichts dessen, was in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der D D R deutlich wurde, ohnehin diskreditiert und hatte keinerlei politische Chance. Er

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung konnte nur dazu dienen, eine angebliche Einheit von Sozialismus und Kommunismus zu behaupten, um so den ersteren in der politischen Auseinandersetzung zu denunzieren. Schwieriger war die Situation im bürgerlichen Lager. Die Liberalen waren bis 1933 völlig zerrieben, so dass man nach 1945 kaum an eine Tradition anknüpfen konnte und sich die neue liberale Partei eher in einzelnen Gruppen mit gelegentlich recht zufälligen Ausprägungen des Liberalismus formierte. Die C D U war dagegen eine Neugründung, die zwar an das Zentrum anknüpfte, dessen (konfessionelle) Begrenzungen aber von vornherein überwinden wollte (die CSU ging ähnlich vor, blieb aber der Bayerischen Volkspartei stärker verbunden) und sich deshalb unbefangen einer programmatischen Neuorientierung zuwandte, in der christliche, bürgerliche und soziale Elemente zusammenflössen. Die genannten Parteien, neben der K P D von den Besatzungsmächten lizenziert, entwickelten eine im Vergleich zur Weimarer Zeit erstaunliche Integrationskraft. Sie integrierten sehr bald den 1950 in Schleswig-Holstein entstandenen BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten), später GD-BHE (Gesamtdeutscher Block). Dieser erwies sich trotz zum Teil drastischer nationalistischer Untertöne als Prototyp einer Interessenpartei, welche die von ihr vertretenen Belange nur durch Regierungsbeteiligung befriedigen kann, was in Schleswig-Holstein, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Baden-Württemberg auch gelang. Die Integration der Heimatvertriebenen vollzog sich dann aber so rasch, dass die Interessenbasis des BHE schwand und die Partei von den anderen aufgesogen wurde. Ähnlich ging es unter anderen Vorzeichen den beiden Landesparteien, der Bayernpartei und der Deutschen Partei in Niedersachsen. Beide boten nur vorübergehend und stark personenabhängig eine gewisse Alternative zu den bürgerlichen Parteien ihres Landes und ließen sich bald rückstandslos integrieren. Von anderen Nachkriegserscheinungen - etwa der Wirtschaftliche Wiederaufbauvereinigung (WAV) - zu reden, lohnt nicht. Die Integrationskraft der Bundestagsparteien der 1960er und 70er Jahre erstreckte sich nicht nur auf kleinere Konkurrenten, sie wirkte sich auf das gesamte denkbare politische Spektrum aus. Jedenfalls entstand rechts und links von diesen Parteien nur begrenzt das Bedürfnis nach Bildung eigener, radikaler Parteien, nachdem die SRP (Sozialistische Reichspartei) und die K P D vom Bundesverfassungsgericht verboten worden waren. Die radikalen Nachfolgeparteien der 1960er und 70er Jahre, die N P D und die D K P (die K P D als weitere Splittergruppe), standen insofern im Schatten dieser Urteile, als sie immer wieder ihre Verfassungstreue betonten und damit Erwartungen potenzieller Anhänger enttäuschen mussten. Sie bedrohten mit ihren Wahlergebnissen die etablierten Parteien kaum, was allerdings weder etwas über den potenziellen Rechts- wie Linksradikalismus in der Bundesrepublik aussagte. Erst Ende der 1970er Jahre schwächte sich die Integrationskraft der Parteien ab, nachdem sie sich gegenüber der APO (Außerparlamentarische Opposition) der späten 1960er Jahre noch einmal glänzend bewährt hatte. Jedenfalls reagierten die Parteien jetzt nicht offen genug auf den sich abzeichnenden Wertewandel auch in der Politik, schenkten zentralen Themen wie der Umwelt- und der Friedensdiskussion zu geringe Aufmerksamkeit und vermochten sich in Organisation und Parteileben nicht den neuen partizipatorischen Erwartungen anzupassen. Die Alternativen traten auf den Plan - in deutlicher Abkehr vom etablierten Parteiensystem. Entsprechend bemühten sich auch die Republikaner, das nach dem Tode von Franz Josef Strauß entstandene Vakuum am rechten Rand des Wählerspektrums zu nutzen. Die programmatische Entwicklung der Bundestagsparteien weist zwei Eigentümlichkeiten auf. Zum einen konnte man am traditionellen Rechts-Links-Schema (ursprünglich auf die Sitzordnung im Parlament bezogen, ein ebenso undifferenziertes wie wirkungsvolles Modell der Realitätserfassung; vgl. K. v. Beyme, 2000, S. 64ff.) festhalten. Damit verkannte man

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte allerdings, dass sich in allen Parteien bewahrende und verändernde Kräfte finden, dass sozialer Wandel durch Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mitbeeinflusst werden kann, Parteien deshalb widersprüchliche Ziele verfolgen und sich die Bedeutung von „Fortschritt" ebenfalls verändert. Das genannte Schema, ursprünglich vorwiegend an der Eigentumsverteilung orientiert, verengt deshalb die politische Perspektive und wird den Parteien mitsamt ihrer internen Vielfalt kaum gerecht. Das mag auch mit der zweiten Eigentümlichkeit zusammenhängen, nach der die sozialen und ökonomischen Umwälzungen der Zeit nach 1945 im Wesentlichen auf der Basis eines hochgradig institutionalisierten Parteiensystems bewältigt wurden, dessen Konfliktstrukturen - wie in anderen westeuropäischen Parteiensystemen - seit den 1920 Jahren als „eingefroren" galten (vgl. M. R. Lepsius, 1966 sowie insbesondere S. M. LipsetlS. Rokkan, 1967; zu neueren Bewertungen der sog. /ree-mg-These s. R. Inglehart, 1979, P. Mair, 1997; für die Bundesrepublik B. Weßels, 2000). Dies kann positiv - auf eine große Anpassungsleistung verweisen, die der innerparteilichen Opposition immer wieder Zugang verschafft und das politische Spektrum entsprechend erweitert hat. Negativ kann es aber auch einen „natürlichen" Konservatismus von Großorganisationen belegen, die einen Teil der Veränderungen nicht wahrnehmen und deshalb oft erst von externen Kräften zu angemessenen Reaktionen gezwungen werden. Solche externen Kräfte können Verbände oder alternative politische Gruppierungen sein, die die Anpassungsfähigkeit des Parteiensystems erheblich zu stimulieren vermögen. Die politischen Parteien traten nach 1945 zunächst mit „Grundsätzen", „Erklärungen" oder „Manifesten" an die Öffentlichkeit, die sich einzelnen Problembereichen zuwandten (ausführlich dokumentiert von Ο. K. Flechtheim, 1962 ff.). Die eigentliche Programmarbeit begann erst nach Gründung der Bundesrepublik, mit der - wie eingangs aufgezeigt - einige grundlegende Entscheidungen (etwa für die soziale Marktwirtschaft) verbunden waren. 1953 legte die C D U ihr Hamburger Programm vor, 1957 folgten das Grundsatzprogramm der CSU und das Berliner Programm der CDU, 1959 das Godesberger Programm der SPD. In dieser Zeit bürgerte sich die Unterscheidung zwischen Grundsatz-, Aktions-, Wahl- und Regierungsprogrammen ein (vgl. H. Flohr, 1968; H. Kaack, 1971, S. 401 ff.) und unterschied man zwischen Funktionen nach außen (Werbung, Profilierung, Agitation) und nach innen (Integration, Identifikation, Stimulation, Legitimation). Später folgten Bekundungen für Teilbereiche oder programmatische Erklärungen im Zusammenhang mit Wahlen, in begrenztem Umfange auch deutliche programmatische Neuorientierungen, wie die „Freiburger Thesen" von 1971, mit denen die F D P die sozialliberale Koalition absicherte, oder der Orientierungsrahmen '85 der SPD, mit dem diese den Weg in die 1980er Jahre vorbereiten wollte, ohne sich im Beratungszeitraum schon mit den tatsächlichen Veränderungen auseinandersetzen zu können. Auch das „neue" Grundsatzprogramm der CSU (1976) gehört hierher; die C D U beschloss überhaupt erst 1978 ein diese Bezeichnung tragendes Manifest. Thesen, Orientierungsrahmen und Programme führten immer wieder zu heftigen innerparteilichen Diskussionen. Sie konnten und können aber eine gewisse Programmmüdigkeit oder sogar -Verdrossenheit nicht überdecken. Diese verbinden sich auch damit, dass Parteien vor allem durch ihre Wirkung nach außen, also vor allem mit Blick auf den Wähler, wahrgenommen werden und weniger aufgrund der Qualität und der Eignung ihrer Programme (/. Reichart-Dreyer, 2001, S. 590). Zudem haben sich programmatisch unscharfe Wahlkämpfe für Parteien in den letzten Jahren ausgezahlt. Ein gutes Beispiel dafür liefert die SPD-Kampagne zur Bundestagswahl 1998, die mit dem Slogan „Innovation und Gerechtigkeit" sowie der Aussage des Kanzlerkandidaten Schröder, nicht viel „anders", es dafür aber „besser" machen zu wollen, zum Wahlerfolg führte. In der anschließenden Regierungsverantwortung offenbarten sich die Risiken einer solchen Strategie, als innerhalb der Regierung

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung

ein heftiger Richtungsstreit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ausbrach. Zur Überwindung der inhaltlichen Orientierungslosigkeit setzte die Parteiführung 1999 eine Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms ein. Die folgende Programmdiskussion kam jedoch über das Stadium einer Bestandsaufnahme nicht hinaus, Anfang 2002 wurde die Arbeit ausgesetzt. Dies dokumentiert den Bedeutungsverlust des Themas in der einstigen „Programmpartei" SPD; ähnliche Tendenzen finden sich auch in den anderen Parteien (vgl. T. Dürr, 2002; F. Bosch, 2002a; C. Egle, 2003). Die CDU als Volkspartei" hatte in ihrer bisherigen Geschichte sehr viel weniger innerparteiliche Auseinandersetzungen oder gar Flügelkämpfe zu bewältigen als die SPD. Zum einen erklärt sich das daraus, dass die Partei stärker gruppenorientiert ist, zum anderen aus der Tatsache, dass die CDU (gemeinsam mit der FDP) als Partei des ökonomischen Erfolgs gilt und entsprechend wahrgenommen wird. Als 1966 die wirtschaftliche Entwicklung erstmals durch deutliche Einbrüche der Konjunktur gekennzeichnet war, kam es in Bonn zur Regierungsumbildung. Danach bestimmte die SPD die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesrepublik so entscheidend mit, dass sich die CDU mit Kritik begnügen und auf ihre Erfolge vor 1966 verweisen konnte. Nach der Regierungsübernahme im Herbst 1982 stellte sich für die CDU allerdings die Frage, mit welchen Konzepten der veränderten wirtschaftlichen Ausgangssituation begegnet werden sollte. Da das Grundsatzprogramm von 1978 konkreteren Zukunftsperspektiven und Konsequenzen aus den veränderten Wachstumserwartungen auswich, wurden anlässlich des Stuttgarter Parteitages 1984 die „Stuttgarter Leitsätze für die 1980er Jahre" verabschiedet. Sie stellten einen ersten Versuch dar, sich auf die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen einzustellen, wobei nicht nur auf die Anpassungs- und Leistungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft hingewiesen, sondern auch verbesserte Rahmenbedingungen für Wirtschaft, Forschung und Technik gefordert und schließlich der Umweltschutz als Aufgabe der Marktwirtschaft genannt wurden. Dieser Versuch, wirtschaftspolitische Kompetenz zurückzugewinnen, war dann von der konjunkturellen Erholung ab 1982/83 begleitet. Allerdings gelang es trotz verbesserter ökonomischer Rahmenbedingungen zunächst nicht, die Arbeitslosenzahlen nachdrücklich zu verringern. Inwieweit die ordnungspolitischen Maßnahmen im weiteren Sinne (Entbürokratisierung, Privatisierung, Stärkung des Subsidiaritätsprinzips) die beabsichtigte strukturelle Veränderung innerhalb der deutschen Gesellschaft und ihres Wirtschaftssystems sowie eine erweiterte Hinwendung zur Leistungsorientierung gefördert oder gar erreicht haben, ist noch immer umstritten. Lange Zeit war das programmatische Erscheinungsbild der CDU von der „Ära Kohl" zwischen 1982 und 1998 geprägt. Erst mit dem Gang in die Opposition nach 16 Regierungsjahren ergab sich die Notwendigkeit einer programmatischen Neuorientierung. Ende 1998 kam eine Programmdiskussion in Gang, die aber nach den schnellen Wahlerfolgen auf Länderebene 1999, dem Spendenskandal der Partei und der ab 2001 dominierenden Kanzlerkandidatenfrage bald in den Hintergrund rückte. Zwar ließen die unter der neuen Vorsitzenden Angela Merkel veröffentlichten Positionsbestimmungen eine leichte Verschiebung hin zu einem wirtschafts- und gesellschaftspolitisch liberaleren Profil erkennen („Neue Soziale Marktwirtschaft"), doch reichte es zu einer programmatischen Erneuerung nicht, startete

11 Vgl. zur frühen Programmentwicklung der C D U W. SchönbohmIG. E. Braun, 1981; unter der umfangreichen Literatur zur C D U und CSU während der ersten drei Jahrzehnte der Bundesrepublik ist auf die Bibliographie von G. Hahn, 1982 sowie auf P. Haungs, 1990 und F. Bosch, 2002 b zu verweisen.

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte die C D U vergleichsweise schlecht gerüstet in den Wahlkampf 2002 (F. Bosch, 2002 a). Die Schwerpunkte des gemeinsamen Wahlprogramms von C D U und CSU lagen in den Bereichen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Familien- und Bildungspolitik sowie der inneren Sicherheit, wobei die Forderungen in den einzelnen Politikfeldern wenig Neues erwarten ließen (F. Grotz, 2003). Die Familienpolitik gab der finanziellen Familienförderung den Vorzug gegenüber staatlicher Kinderbetreuung, die Bildungspolitik verlangte eine Stärkung des dreigliedrigen Schulsystems, eine Aufwertung der Hauptschulen sowie die Beibehaltung von Kopfnoten und Religionsunterricht. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik setzte auf arbeitsmarktpolitische Deregulierung, Steuersenkung und Rücknahme rot-grüner Projekte. Programmatisch befindet sich die CDU mithin noch immer in einer Umbruchsphase; inhaltliche Diskussionen wie erkennbare Koordinierungsprobleme innerhalb der Partei offenbaren einmal mehr, dass die Union keine Programmpartei im engeren Verständnis ist. Die CSU steht programmatisch der CDU nahe, wenngleich sich bei ihr deutlicher konservativere Züge ausmachen lassen. Ihre Besonderheiten ergeben sich aus einer, vor allem in den überwiegend katholischen Landesteilen, tiefgreifenden Milieubindung sowie daraus, dass sie seit 1948, von einer kurzen Zwischenperiode abgesehen, den Freistaat Bayern allein regiert. Für diese Dominanz werden unterschiedlichste Begründungen ins Feld geführt. Mitentscheidend ist sicher die erfolgreiche Wirtschaftspolitik der CSU. Bayern durchlief nach 1945 einen Modernisierungs- und Industrialisierungsprozess wie nie zuvor. Begünstigend wirkten dabei der Flüchtlingsstrom und später Nord-Süd-Wanderungsprozesse in der Bundesrepublik. Was landespolitisch zu tun war, wurde getan; was vom Bund eingeworben werden musste, wurde durchgesetzt. Die CSU stellte in Bonn den ersten Post- und den ersten Verteidigungsminister - mit sehr positiven, noch heute erkennbaren Auswirkungen für die entsprechenden bayerischen Industrien. Insoweit ist die CSU also eine außerordentlich moderne Partei. Dies dokumentiert sich auch in ihrer Parteiorganisation, etwa einer straffen, weit ausdifferenzierten Leitung und eines großen hauptamtlichen Personals, das die Mitgliedschaft mobilisiert und für die Präsenz der Partei im Vereinsleben, bei Volksfesten, bei staatlichen Veranstaltungen sorgt. Die Präsenz wird durch die Milieubindung erleichtert; die Partei gehört zum Milieu und dominiert es, sobald es um politische Belange im weiteren Sinne geht. Das Milieu ist dabei scheinbar „offen", entwickelt aber eindeutige und unmittelbar wirksame Ausschlussmechanismen gegenüber dem, der anders denkt oder sich anders verhält. Dass die bayerische SPD sich aus diesem Milieu so völlig verdrängen ließ, hat unübersehbare Wirkungen; ihr Diaspora-Charakter ist in vielen Regionen deutlich. Die Nutzung des Milieus wird durch die Alleinherrschaft in Bayern unterstützt, die es zum einen erlaubt, eine umstandslose Personalpolitik gegen andere politische Gruppierungen zu führen (dies wird in einer entsprechenden Zusammensetzung des öffentlichen Dienstes und in Informationsmonopolen deutlich), zugleich aber auch in eine gewisse soziale Austrocknung mündet, die in diskussionswürdigen Kulturpolitiken, Berufungsverfahren und einer Reihe von Polizei- und Justizskandalen erkennbar wurde. Dabei zutage tretende Züge einer gewissen Illiberalität stehen im Hintergrund eines Parteibildes, das ansonsten durch offensichtliche Erfolge, situative Modernität und die Persönlichkeit von Franz Josef Strauß geprägt wurde. 12 Die FDP, nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition im Oktober 1982 als „Wendepartei" kritisiert und vor erhebliche innerparteiliche Auseinandersetzungen gestellt, muss

12 Ähnliche Entwicklungen machten Parteienforscher zwischenzeitlich auch für Nordrhein-Westfalen aus, ein Land, das gelegentlich als „Bastion" der Sozialdemokratie beschrieben wird.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung sich nach zwischenzeitlicher Stabilisierung wieder grundsätzlicheren Fragen stellen. Zwar geriet die Partei schon im Verlauf der Jahre 1983/84 in eine Art Identitätskrise und drohte aufgrund von Niederlagen in sechs Landtagswahlen zu einer „Ministerpartei" auf Bundesebene zu werden, doch gelang es ihr, durch einen Führungswechsel im Anschluss an den „Flick-Skandal" und die geplante Amnestiegesetzgebung wieder Stabilität zu gewinnen. Als strukturelles Problem der FDP verblieb lange Zeit gleichwohl ihre Funktion als Mehrheitsbeschaffer für die jeweiligen Regierungsparteien, eine die Eigenständigkeit kaum fördernde und dem Wähler nicht immer zu verdeutlichende Position. Nach der langen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene (1969-1998) fand sich die FDP in der ungewohnten und für eine ausgesprochene Funktionspartei existenzbedrohenden Rolle der Opposition wieder (U. v. Alemann, 2003, S. 76). Programmatisch versuchte die Partei vor allem Akzente in der Wirtschaftspolitik zu setzen. Das Schlagwort ihrer „Wiesbadener Grundsätze" von 1997, die „liberale Bürgergesellschaft", wurde als Innovation propagiert (vgl. Materialband, IV/5d); allerdings erscheint das damit verbundene Eintreten für die Marktwirtschaft nicht eben neu, auch blieben die Ausführungen zur „Teilhabergesellschaft" als Voraussetzung für Freiheit („Wer nicht teilhaben kann, ist nicht frei") eher blass und „reihen sich in die Inflation der Worthülsen moderner Werbestrategen ein" (J. Dittberner, 2000, S. 33). In der Tat erwies es sich für die FDP als schwierig, Visionen zu entwickeln und jene Zustände zu kritisieren, an deren Zustandekommen sie als jahrzehntelange Regierungspartei mitgewirkt hatte. Darüber hinaus führte die programmatische Entwicklung der 1990er Jahren zu einer Stärkung des wirtschaftsliberalen Flügels auf Kosten rechtsstaatlich und linksliberal ausgerichteter Strömungen (O. Niedermayer, 2001, S. 122). Zu lange hatte sich die FDP mit der Rolle des Mehrheitsbeschaffers für die Union zufrieden gegeben (Wahlkampfslogan 1994: „FDP, damit Kohl Kanzler bleibt"). Die programmatische und strategische Sackgasse, in der sich die Partei 1998 befand, mündete 1999 in einer Reihe existenzbedrohender Niederlagen bei Landtagswahlen. Erst mit der erfolgreichen Strategie des nordrhein-westfalischen FDP-Vorsitzenden Jürgen W. Möllemann, der im NRW-Landtagswahlkampf im Mai 2000 auf koalitionspolitische Eigenständigkeit setzte, gelang der Partei die höchste Steigerungsrate und das beste Wahlergebnis in Bund und Ländern seit zehn Jahren. Dadurch schien sich auch für die Gesamtpartei eine Perspektive zu eröffnen, sich von der engen Bindung an die Union zu lösen und im Wettbewerbsspektrum eine „äquidistante" Position zu beiden Großparteien einzunehmen. Die Bundespartei unter Vorsitz Guido Westerwelles griff diese Strategie auf, erweiterte sie auf Initiative Möllemanns um die unrealistische Zielmarke von „18 Prozent" für die Bundestagswahlen und pflegte das Image einer „Spaßpartei". Diese strategischen Entscheidungen, in Verbindung mit Möllemanns Anti-Israel-Kampagne, führten zu einem eher enttäuschenden Resultat bei der Bundestagswahl 2002. Die Programmentwicklung von Bündnis 90IDie Grünen war in hohem Ausmaß von Identitätsfragen und parteiinterner Konkurrenz gekennzeichnet. Als inhaltliche Grundlage der Parteiarbeit diente bis Anfang 2002 das Saarbrücker Programm von 1980, das eine lose Sammlung unterschiedlicher Grundwerte, Ziele und Strategien darstellte und sich spätestens nach der deutschen Wiedervereinigung als stark revisionsbedürftig erwies (C. Egle, 2003, S. 96). Waren die Anfangsjahre noch vom innerparteilichen Gegensatz zwischen „Fundís" und „Realos" sowie von ideologischen Fixierungen (Misstrauen gegenüber der Privatwirtschaft, Vertrauen in staatliche Steuerung) geprägt, gelang es der Partei erst nach dem weitgehenden Auszug der Fundamentalisten Anfang der 1990er Jahre, „in der Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft anzukommen" (E. Wiesendahl, 2000 b, S. 24). Darüber hinaus wirkte sich der Zusammenschluss mit dem ostdeutschen „Bündnis 90" mäßigend auf die Profilentwicklung aus, der latente Technik- und Fortschrittspessimismus verlor an

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Boden. Allein in der bedingungslosen Ablehnung der Nukleartechnologie sind sich die Grünen bis heute einig. Am deutlichsten zeigte sich die programmatische Neuorientierung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Angesichts des Jugoslawienkrieges schloss der Länderrat der Partei 1993 den Einsatz von Gewalt zum Schutz der Menschenrechte nicht mehr grundsätzlich aus und relativierte damit die einstige fundamentalpazifistische Position. Allerdings sorgten unerwartete Voten anlässlich der Parteitage immer wieder für ein konfuses Erscheinungsbild. So verdeutlichte etwa das Wahlprogramm von 1998, das u.a. einen Benzinpreis von fünf D M , den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie und eine pazifistische Außenpolitik vorsah, mehr denn je den Konflikt zwischen grüner Programmatik und politischem Alltag. Erst die Regierungsbeteiligung seit 1998 beschleunigte die überfällige programmatische Erneuerung, führte die Bündnisgrünen jedoch zuweilen an der Rand der ideologischen „Selbstverleugnung" (U. v. Alemann, 2003, S. 76). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund gewann die Programmdebatte unter den Parteivorsitzenden Fritz Kuhn und Claudia Roth seit Anfang 2000 an Intensität. Im März 2002 wurde ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das den „Sieg" der realpolitischen Position dokumentiert. So wird in der Außen- und Sicherheitspolitik Gewalt als letztes Mittel nicht mehr ausgeschlossen, solange sie rechtsstaatlich und völkerrechtlich legitimiert ist. Im Umweltbereich hat die Atompolitik aufgrund des beschlossenen Ausstiegs aus der Kernenergie ihre prominente Stellung verloren, während die bislang eher vernachlässigte Steuer- und Finanzpolitik („ökologische Steuerreform") einen größeren Stellenwert einnimmt. Insgesamt zeichnet sich eine gewisse „Liberalisierung" von Bündnis 90/Die Grünen ab. Mit bürgerrechtlichen Programmpunkten besetzen sie inzwischen Positionen, die die zunehmend wirtschaftsliberale F D P vernachlässigt. Durch ihr Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft und außenpolitischer Mäßigung könnte es der Partei zudem gelingen, ihre auf die SPD beschränkte Koalitionsoption mittelfristig zu erweitern. Mit Blick auf die programmatische Ausrichtung der PDS decken sich Fremdwahrnehmung und Selbstzuschreibung dahingehend, dass sie eine linke, sozialistische Partei darstellt, die „den Vorwurf der programmatischen Verwaschenheit am wenigsten verdient" (T. Dürr, 2002, S. 10). Die vermeintliche Stringenz des Parteiprogramms von 1993 täuscht allerdings über die innerparteilichen Konflikte zwischen den Traditionalisten an der „Basis" und der eher reformorientierten Parteiführung hinweg. Seit Anfang 1999 versucht eine eigene Kommission das in der Nachwendezeit erstellte Parteiprogramm zu erneuern; die bislang vorgelegten Ergebnisse gehen jedoch kaum über das bereits erkennbare Konglomerat alter und neuformulierter Positionen hinaus. Zudem überlagerten Strategiedebatten, etwa über die Anerkennung durch die etablierten Parteien, zu Koalitionsoptionen oder auch die Akzeptanz in der westdeutschen Wählerschaft, die inhaltliche Diskussion stark (G. Neugebauer, 2000, S. 39). Das Ziel, eine „sozialistische Volkspartei" zu werden, dient mithin unverändert eher der Selbstlegitimierung als einer realistischen Positionsbeschreibung. 2.3.4. Leistungen und Funktionsprobleme des Parteiensystems CDU/CSU, SPD und in geringerem Umfang auch die F D P haben in den 1950er und 1960er Jahren eine zweifellos imponierende politische Integrationsleistung erbracht. In dem von ihnen bestimmten Gesamtspektrum konnten sich die meisten Wähler zurecht- und wohl auch wiederfinden. Es gelang diesen Parteien auch, das politische System personell und programmatisch „zu bedienen"; bereits früh war in diesem Zusammenhang vom „deutschen Wahlwunder" (C.-C. Baer/E. Faul, 1953) die Rede. In der Tat gelang es den Parteien, Millio191

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung nen von Flüchtlingen und Vertriebenen zu integrieren, einen sozioökonomischen Strukturwandel zu bewältigen sowie ehemalige Kommunisten und Nationalsozialisten in das demokratische System „einzubinden" (vgl. U. v. Alemann, 2003, S. 58). Dabei bewiesen sie eine erhebliche Kooperationsbereitschaft. Lange Zeit galt als Grundsatz, dass alle demokratischen Parteien miteinander koalitionsfähig sein müssten. Diese Bereitschaft verhinderte aber nicht die harte Konfrontation, wie sie etwa seitens der SPD angesichts der Westoption und der Wiederaufrüstungspolitik Adenauers und später seitens der CDU und der CSU angesichts der Ostpolitik Brandts gewählt wurde. Auch in wirtschafts- und - sehr viel eingeschränkter - sozialpolitischer Hinsicht gab es solche Konfrontationen, denen sich auf der Länderebene vor allem schulpolitische Auseinandersetzungen hinzugesellten. Damit übte man Konkurrenzdemokratie ein: 1957 erhielten die CDU und die CSU im Bundestag die absolute Mehrheit, was die SPD zur Zurücknahme ihrer Opposition gegen die bis dahin geübte Deutschland- und Bündnispolitik zwang, und Ende 1972 erklärte angesichts eines wiederum eindeutigen Wählervotums die CDU, die Ost- und Deutschlandverträge formal korrekt einhalten zu wollen. So gelang es in der politischen Auseinandersetzung immer wieder, Streitfragen zu entscheiden und sie nicht zum Gegenstand von Dauerkonflikten werden zu lassen. Zugleich bewährte sich die Konkordanzdemokratie·, in den meisten Fragen kam es zu einer umfassenden oder wenigstens kompromisshaften Verständigung zwischen den großen Parteien innerhalb des föderalistischen Beziehungsgeflechts und im Nebeneinander von Bundestag und Bundesrat. Die Parteienkonkordanz wurde zudem durch eine sich auf die Politik auswirkende Bereitschaft der großen Verbände unterstützt, sich auf berechenbare Verfahren auch im Verhältnis zum Staat einzulassen, sich also innerhalb einer gewissen Formierung die formierte Gesellschaft" war in den 1960er Jahren ein politischer Begriff, den die Wissenschaft in der Korporatismusdiskussion wieder aufnahm - zu bewegen und so eine Art Arbeitsteilung anzuerkennen. Die Leistungsfähigkeit des Parteiensystems setzt formale Mehrheiten oder klare Koalitionsmöglichkeiten voraus (aber auch einen gewissen Respekt der Parteien voreinander), Grenzen der Parteilichkeit (etwa in der Ausübung der Rechtsaufsicht durch einen SPD-Regierungspräsidenten über einen CDU-Bürgermeister) sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, sich als Partei an den jeweiligen „Rändern" offen zu halten. Dass CDU und CSU einem erheblichen Teil ehemaliger Nationalsozialisten und kämpferischen Nationalisten eine politische Heimat boten, durfte man ihnen niemals zum Vorwurf machen; es musste immer als Leistung verstanden werden. Das gilt ebenso für die SPD: Leistungsfähige sozialdemokratische Politik hat in Westdeutschland (neben dem Schreckensbild, das der real existierende Sozialismus in der DDR täglich neu entwarf) ganz sicher dazu beigetragen, die Hoffnung auf eine Verbindung von rechtsstaatlicher Demokratie und einem humanen Sozialismus zu bestärken. Damit hatten „Systemverander er" auf beiden Seiten des politischen Spektrums keinen ernstzunehmenden Zulauf. Gleichwohl traten zu Beginn der Parteienentwicklung in der Bundesrepublik immer wieder Probleme auch aufgrund einer nicht oder nur unzureichend bewältigten Vergangenheit auf. So ist in der Rückschau oft vom „CDU-Staat" (C. SchäferIG. Nedelmann, 1972) der 1950er und frühen 60er Jahre die Rede, in dem restaurative Tendenzen erkennbar wurden. Die Rückkehr ehemaliger Nationalsozialisten in hohe Ämter der jungen Bundesrepublik wurde ebenso beklagt wie die gelegentliche Beeinträchtigung einer kritischen Presse. Letzteres fand in der Spiegel-Affäre von 1961 ihren Höhepunkt. Die Gegenentwicklung dieser Jahre bestand jedoch in der Herausbildung einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit, die im Fall der Spiegel-Affare vordergründig zu Rücktritten in der Regierung, langfristig aber zu einer gesellschaftlichen Liberalisierung in den 1960er Jahren führte (vgl. M. Greiffenhagen/S. Greiffenhagen, 1993). In den 1970er Jahren nahm die Integrationsfähigkeit des Par-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte teiensystems dann ab, nachdem es SPD, CDU/CSU und F D P zuvor noch gelungen war, bei den Bundestagswahlen 1972 und 1976 jeweils 99,1 Prozent der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen und andere Parteien an den Rand der Bedeutungslosigkeit zu verweisen. In der Hauptsache bieten sich dafür drei Erklärungen an. Zum einen veränderte sich das Verhältnis zwischen den Parteien und ihren Mitgliedern. Die Parteien wurden größer, reicher, besser organisiert und damit immer abhängiger von hauptamtlichen Mandatsträgern und Funktionären. Hier summierten sich die Möglichkeiten derer, die man jeweils „repräsentierte". In der Hauptsache aber kam hinzu, dass diese Gruppe in einen arbeitsteiligen Prozess hineinwuchs, in dem jeder an seinem Platz und in seinem Wirkungsbereich ein Vielfaches der faktisch repräsentierten Beteiligungsmöglichkeiten wahrnehmen konnte und musste. Die Unterscheidung zwischen Laien und Professionellen ist dabei zugleich eine zwischen einer höchst fragwürdigen und schwer zu gewichtenden „allgemeinen" politischen Teilnahme und einer Mitwirkung an jenem arbeitsteiligen Prozess, der sich dem Laien allemal entzieht. Deshalb sind Bundestagsfraktionen in der Regel auch konservativer als Parteitage und Parteitage konservativer als viele Mitgliederversammlungen. Die zweite Erklärung zielt auf politische Inhalte. Wie ausgeführt, erschienen die westeuropäischen Parteiensysteme auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung „eingefroren". In der Bundesrepublik konnte sich das erst 1945 auswirken, trug hier aber vermutlich mit dazu bei, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik derart in den Vordergrund des Interesses rückte, dass sich aus ihr die (politischen) Erfolgsmaßstäbe ableiteten. Es kam dabei nach Einschätzung kritischer Beobachter zu einer „imperialistischen Durchdringung unserer Gesellschaft mit ökonomischen Denkfiguren und Verhaltensweisen" (H. P. Widmaier, 1974, S. 102 f.). Das legte auch die Parteien thematisch fest und zwang sie zugleich, stärker auf Mitwirkung als auf Zukunftsorientierung zu drängen. Die „handelnde" Fraktion erhielt den Vorrang vor der diskutierenden Partei. Das Parteiensystem insgesamt geriet so in eine gewisse Abhängigkeit vom Konjunkturverlauf; das Wirtschaftswachstum wurde zu einer für die C D U und SPD in ähnlicher Weise verbindlichen Zielgröße; die Folgen dieser einseitigen Fixierung blieben zunächst unbeachtet. Damit aber wurden wichtige Felder nicht besetzt, und als diese aufgrund der sich auch hier stellenden Probleme und in Zusammenhang mit einem einsetzenden „Wertewandel" politische Bedeutung erhielten, übte das eine unvermeidliche Sogwirkung auf Kräfte am Rande des Parteiensystems aus, die mit der bisherigen Politik weniger verflochten waren. Der Umweltbereich ist hierfür das deutlichste Beispiel. Die dritte Erklärung ergibt sich aus Veränderungen im Verhältnis der Parteien zueinander. Dieses war lange Zeit durch das angesprochene Nebeneinander konkurrenz- und konkordanzdemokratischer Handlungsmuster bestimmt. Die konkordanzdemokratischen Mechanismen überspielten Probleme des Nebeneinanders unterschiedlicher Mehrheiten auf den einzelnen Ebenen des politischen Systems, bewirkten aber auch, dass der „kleinste gemeinsame Nenner" handlungsleitend und damit die Problemverarbeitungskapazität des Regierungssystems geschwächt wurde. Das führte zur Kritik und zu der Frage nach der Leistungsfähigkeit des Systems schlechthin. Zu einem Teil funktionieren Konkordanzmechanismen natürlich auch schlechter, wenn die konkurrenzdemokratischen mehr und mehr durch Verhaltensweisen ersetzt werden, die auf Polarisierung gründen und zielen. Diese Polarisierung geht auf alte Entgegensetzungen, vor allem auf das vereinfachende „RechtsLinks-Modell" zurück (vgl. W. P. Bürklin, 1982, S. 339 f f ; K. v. Beyme, 2000, S. 64 ff.), brach nach 1949 immer wieder auf, um sich nach Gründung der sozialliberalen Koalition stärker durchzusetzen. Im Bundestagswahlkampf 1976 steigerte sich die ideologische Distanz zwischen den beiden großen Parteien noch einmal. 1977 kam die Identifikation des Terrors mit „Links" hinzu. Ein Bündnis zwischen der CDU und der SPD erschien kaum mehr möglich.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Mehrheitsbeschaffer gleich welcher Couleur erhielten ihre Chance. Zugleich drohte Illiberalität: Wenn die eigene Position in der Nähe der Mehrheit bedroht wird, gerät man in Versuchung, zu manipulieren. Der den Intentionen des Parteien- und des Wahlgesetzes völlig entgegenstehende Vorschlag von F. J. Strauß (Oktober 1982), durch „Zulassung" Parteien zu behindern, die nur ins Parlament kommen, nicht aber Regierungsfunktionen wahrnehmen wollen, zielte auf eine solche Manipulation. Die deutsche Vereinigung hat das Parteiensystem und dessen Ausgangssituation beträchtlich verändert.13 Zwar gleicht das gesamtdeutsche System in seinen Grundzügen dem der alten Bundesrepublik und hat von daher anfängliche Befürchtungen einer zunehmenden Fragmentierung und verstärkten Polarisierung nicht bestätigt (O. Niedermayer, 2001). Allerdings wird eine erweiterte regionale Ausdifferenzierung des Parteiensystems deutlich, wobei die Trennungslinie zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil vor allem durch die Stellung der PDS bestimmt wird, die in Westdeutschland eine bestenfalls marginale Position einnimmt (Bundestagswahl 2002: 1,1 Prozent), im Osten der Republik dagegen zur drittstärksten Partei wurde (Bundestagswahl 2002: 15,3 Prozent); in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin ist sie sogar Koalitionspartner. Sieht man von der PDS ab, gelang es den westdeutschen Parteien nach dem Zerfall der D D R innerhalb kürzester Zeit, sich auch in den neuen Bundesländern zu etablieren und ihre Organisationsstruktur und Programmatik dorthin zu übertragen. Besonders erfolgreich war hier die Stabilität, Wachstum und „westliche Werte" symbolisierende und gleichsam garantierende CDU. Aufgrund zunehmender Erfahrungen mit dem westdeutschen Parteiensystem und einer Reihe offensichtlicher Funktionsdefizite kam es dann allerdings zu einer raschen Desillusionierung und deutlichen Umorientierung, auch im Westen. Der schleppende Verlauf und die Kosten der „inneren" Vereinigung, der in der Wahrnehmung ostdeutscher Betrachter nachteilige Entwicklungsprozess in den fünf neuen Ländern, die Skandale im Bereich der Parteienfinanzierung und bei der Besetzung politischer Spitzenämter haben eine Veränderung der Haltung bewirkt. Sie erklären den erschreckend hohen Anteil an Nichtwählern (in den östlichen Bundesländern enthielten sich bei der Bundestagswahl 2002 mit 26,5 Prozent mehr als ein Viertel aller Wähler) sowie die nicht selten ostentative Abwendung von den „etablierten" politischen Parteien. Die Volksparteien verlieren zwar nicht das Volk, wie allzu vorschnell kommentiert wurde, allerdings sind als selbstverständlich begriffene Loyalitäten und Legitimitäten keinesfalls mehr voraussetzungslos gegeben. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Achtung vor politischen Mandatsträgern reduziert hat und Politikergebnisse - so sie denn überhaupt erkennbar sind - kontinuierlich in Frage gestellt werden. Zieht man hiervon jene Elemente eines gleichsam saisonbedingten Unbehagens ab, die es zu jedem Zeitpunkt der parteienstaatlichen Entwicklung in Deutschland gab, verbleiben Probleme der Offenheit, der Transparenz und vor allem der integrativen wie sachlichen Kompetenz, die die Parteien nicht nur „fordern" (so die häufig exkulpativen Reaktionen der Parteizentralen), sondern sie im Einzelfall durchaus existentiell treffen. Allerdings bleibt unverändert zu berücksichtigen, dass es weniger ein genereller Anti-Parteien-Affekt sein dürfte, der das Unbehagen speist, als vielmehr der Zorn über deren Selbstdarstellung und Leistung. Beobachter der parteienstaatlichen Entwicklung kommen deshalb häufig zu eher pessimistischen Einschätzungen und negativen Attributen: „Für die einen sind die deutschen

13 Weitere Literatur zu diesem Thema findet sich bei F. LöblerIJ. Schmid, 19922, O. Niedermayer I R. Stöss, 1993 und 1994, J. Schmid, 1994, R. Linnemann, 1994, H.-J. Veen, 1995, K. Niclauß, 1995, sowie O. Niedermayer, 1996a, 1999, 2000 und 2001.

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Parteien .entkeimt, ermattet, ziellos', für andere gesellschaftlich entwurzelte, von der Logik der Medien domestizierte, von den Stimmungen der Bevölkerung abhängige, kommerzialisierte, profilverwässerte und ihre Identitäten preisgebende, vermehrt staatliche Ressourcen in Anspruch nehmende Organisationen, die kaum noch sinnstiftende Vermittlungsleistungen erbringen und schlichtweg unattraktiv für potenzielle Mitglieder sind, insbesondere für jüngere Menschen" (U. Jun, 2002, S. 770). Entsprechende Urteile werden jedoch meist unabhängig von dem spezifischen Erscheinungsbild der einzelnen politischen Partei formuliert. Detailliertere Aussagen dürften sich ergeben, wenn man sich der konkreten Situation der Parteien annimmt, diese kurz kennzeichnet und erst dann fragt, welche verallgemeinerungsfähigen „Defizite" erkennbar sind, die ein gesamthaftes Bild ergeben könnten. Blickt man zunächst auf die CDU, stellte das Jahr 1998 eine wichtige Zäsur insofern dar, als die Union bei den Bundestagswahlen mit 35,1 Prozent der Stimmen die bislang größte Niederlage ihrer Geschichte erfuhr. Nach dem Verlust der Regierungsmacht begann ein langer Prozess personeller, organisatorischer und programmatischer Erneuerung, der bis heute andauert. Personell kam es zwar relativ rasch zu einem Führungswechsel, als im November 1998 Wolfgang Schäuble die Nachfolge des zurückgetretenen Helmut Kohl antrat; ein substanzieller „Austausch" der obersten Parteigremien blieb jedoch aus. Bei den Wahlen zu Präsidium und Bundesvorstand dominierten nach wie vor „Kohl-Zöglinge", während innerparteiliche Kritiker des ehemaligen Bundeskanzlers, wie Rita Süßmuth oder Norbert Blüm, schlechte Ergebnisse erzielten oder nicht gewählt wurden. Wolf gang Schäuble und die neue Generalsekretärin Angela Merkel symbolisierten zu diesem Zeitpunkt eher Kontinuität als Wandel. Beobachter kamen denn auch zu dem Urteil, dass „die C D U nach Kohl" zunächst eine „ C D U mit Kohl" blieb (F. Bosch, 2000, S. 14). Erst infolge der im November 1999 zutage tretenden Spendenaffäre, die die Verstrickung Kohls in ein System illegaler Parteispenden und schwarzer Konten erkennen ließ, vollzog sich eine umfassendere Erneuerung des Führungspersonals. So löste Anfang 2000 Angela Merkel, die sich zuvor öffentlich von Helmut Kohl und seinem Führungsstil distanziert hatte, Schäuble an der Parteispitze ab, zudem gelangten - einhergehend mit einer Aufwertung der Bundestagsfraktion - auch bislang unbekannte CDU-Abgeordnete, wie Friedrich Merz, in hohe Parteiämter (ebd., S. 14). Zugleich propagierte die neue CDU-Führung eine strukturelle Erneuerung der Partei. Nachdem traditionelle Vorfeldorganisationen, wie die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft oder der Evangelische Arbeitskreis, ihre Verbindung zu unterschiedlichen Gesellschaftsteilen bereits zuvor in Teilen eingebüßt hatten und Überalterung und rückläufige Mitgliederzahlen hinzutraten, propagierte man nun, die C D U von einer Mitglieder- zu einer „Bürgerpartei", die „mitten im Leben" stehe, fortentwickeln zu wollen. Damit verbindet sich bislang allerdings keine organisatorische Neuausrichtung, vielmehr wird auf traditionelle Formen der Mobilisierung zurückgegriffen, etwa Kampagnen zur Doppelten Staatsbürgerschaft {ebd., S. 18). Auch programmatisch befindet sich die Partei unverändert in einer Ubergangsphase. Zwar gelang es der neuen Vorsitzenden, die Programmdiskussion zu dynamisieren, ohne dass allerdings die Richtung erkennbar wird. Einerseits sind Ansätze zu einer liberaleren Familienpolitik (Einbezug von Alleinerziehenden) erkennbar, andererseits zeichnen sich konservativere Positionen in der Frage des Zuwanderung- und Staatsbürgerschaftsrechts ab (U. v. Alemann, 2003, S. 76). Insgesamt fehlt es an einer übergreifenden programmatische Erneuerung. Initiativen gingen bislang nur von der Vorsitzenden aus, andere führende CDU-Politiker schwiegen oder beließen es bei allgemeinen Aussagen, „in der Mitte" bleiben zu wollen. Auch das gemeinsame Wahlprogramm von C D U und CSU 2002 war stark an traditionellen Grundlinien ausgerichtet, was die mangelnde Innovationsfähigkeit der Partei unfreiwillig offenbarte (F. Bosch, 2000, S. 21). Auch nach der Bundestags-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung wähl blieb eine breitere inhaltliche Diskussion aus, selbst Kanzlerkandidat Edmund Stoiber warnte in diesem Zusammenhang vor einer Strategiedebatte (E. Wiesendahl, 2003, S. 68). Die angesprochenen Probleme der „Volkspartei" CDU gelten in ähnlicher Weise für die SPD. Für sie stellen sich Fragen der Erneuerung vor allem im programmatischen Bereich, nachdem die Personaldebatten der 1990er Jahre und der häufige Wechsel des Parteivorsitzes damit endeten, dass sich Bundeskanzler Schröder 1999 gegen den damaligen Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine durchsetzen konnte. Dies markierte zugleich auch das vorläufige Ende eines innerparteilichen Richtungsstreits zwischen „Modernisierern" und „Traditionalisten". Zuvor hatte sich die Partei allzu lange mit personellen Fragen beschäftigt. Nach der Ablösung des glücklosen Parteivorsitzenden Scharping durch Lafontaine auf dem Mannheimer Parteitag 1995 gewann die SPD erstmals nach der Vereinigung wieder an Farbe und Profil. Hinzu kam die Profilierungskampagne des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder. Unter dieser Konstellation kam es im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 zu einem Zweckbündnis zwischen Lafontaine als dem Vertreter des „kritischen Flügels" und dem medienwirksamen „Modernisierer" Schröder, der die „neue Mitte" erreichen wollte und sollte. Zur Belastung wurde diese ungleiche Allianz erst nach dem Wahlsieg, als Lafontaine erkennen musste, dass er trotz großzügigen Zuschnitts des ihm anvertrauten Finanzministeriums zwar ein starkes Gegengewicht zum Bundeskanzler darstellte, die politische Ausrichtung der rot-grünen Regierung jedoch nur bedingt beeinflussen konnte, und daher im März 1999 überraschend von seinen Ämtern zurücktrat. Im April 1999 übernahm Schröder den Parteivorsitz und führte, wie Willy Brandt vor ihm, Regierung und Partei in Personalunion. Gleichwohl ist erkennbar, dass die SPD noch immer vor einer Reihe von Strukturproblemen steht, die sich mit ihrer Geschichte verbinden und von Beobachtern als „lose verkoppelte Anarchie" (P. Lösche, 1996, S. 20) gekennzeichnt werden: In der Organisation dezentralisiert und fragmentiert, mit einem hohen Maß an Autonomie für die einzelnen Gebietsverbände (vom Ortsverein bis zur Bundespartei), für die verschiedenen innerparteilichen Interessengruppen (also die Arbeitsgemeinschaften) und für die Fraktionen in den Gemeindeparlamenten, Kreistagen, Landtagen und im Bundestag; in der sozialen Zusammensetzung ihrer Wähler, Mitglieder und Funktionäre bunt und vielfältig - im Spagat zwischen konservativem Facharbeiter und „angegrüntem Yuppie"; programmatisch und ideologisch so farbenfreudig und auch widersprüchlich wie in ihrer Sozialstruktur, zusammengehalten durch den Willen zur Macht, durch Patronage, durch tradierte Symbole, Rituale und Programmrelikte und manchmal durch charismatische oder organisationskompetente Persönlichkeiten. Diese organisatorische Fragmentierung wiederum trägt zu jener politischen Substanzlosigkeit bei, die zahlreiche Beobachter beklagen und die über das hinausgehen, was bei Regierungsparteien generell beobachtbar ist. Allerdings belegen die politischen Auseinandersetzungen um Bundeswehreinsätze in internationalen Allianzen (Mazedonien, Afghanistan), Maßnahmen der inneren Sicherheit nach dem 11. September 2001, die Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik (Haushaltskonsolidierung, Steuerreform), aber auch die Weiterentwicklung der Europäischen Union, dass Parteivorstand und Präsidium seit Übernahme der Regierungsverantwortung erkannt haben, dass die Wählerschaft die innenpolitischen Schwierigkeiten und das wachsende außenpolitische Gewicht der Bundesrepublik (mit den daraus folgenden Verpflichtungen) wesentlich ernster nimmt, als man es im Willy-Brandt-Haus lange Zeit wahrhaben wollte. Im Übrigen finden sich mit Blick auf die Binnenstruktur der SPD ähnliche Entwicklungstendenzen wie in anderen Parteien: So verliert die SPD beträchtlich an Mitgliedern, ist überaltert und in den fünf neuen Bundesländern nur unzureichend präsent. Hinzu kommt, dass heute nur noch 15 Prozent der SPD-Mitglieder Jung-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Sozialisten sind; 1974 waren es 31 Prozent. Die Anziehungskraft der SPD auf die junge Generation hat deutlich nachgelassen. Die programmatischen Schwierigkeiten der Sozialdemokratie werden vor allem darin deutlich, dass das lange Jahre verfolgte gesellschaftliche Organisations- und Regulationsmodell zu einem „Auslaufprodukt" geraten ist. Der entwickelte Sozialstaat, die Stärkung der Massenkaufkraft, öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Massengewerkschaften und ausgebaute Mitbestimmungsregelungen sind in die Defensive geraten. Das „klassische" sozialdemokratische Politikmodell („Modell Deutschland*') ist randlagig geworden. Inzwischen spricht man zwar in der Parteispitze von „Verschlankung" und „Enthierarchisierung" des öffentlichen Sektors wie von der Ü b e r p r ü f u n g des Leistungskatalogs, doch bleibt die „Sicherung des Sozialstaates" traditioneller Programmbestandteil. Programmatisch wie praktisch-politisch spiegelte sich dieser Widerspruch in einer Reihe diffuser programmatischer Aussagen wider. Ende der 1990er Jahre etwa übte das vom Soziologen Anthony Giddens formulierte und von Tony Blair's Labour Party verfolgte Konzept des „Dritten Weges" zeitweilig große Anziehungskraft auf Teile der S P D aus. Außer einem „Schröder-BlairPapier" 1999 und gelegentlichen Treffen sozialdemokratischer Regierungschefs in den Jahren 1999 und 2000 hatte dieser Ansatz allerdings kaum nachhaltige Auswirkungen auf den politischen Alltag. Andererseits bewirkte der Rückzug Lafontaines, dass auch die letzten Neo-Keynesianischen Ansätze innerparteilich an Bedeutung verloren. Die programmatische Orientierungslosigkeit wurde schließlich auch im SPD-Wahlprogramm 2002 deutlich, ergänzt um eine sozialdemokratische Regierungspraxis, die allenfalls an der Lösung kurzfristiger, akuten Sachzwängen geschuldeter Probleme ausgerichtet war. Die bis 2002 betriebene „Haushaltskonsolidierung", aber auch die von Kanzler Schröder im Frühjahr 2003 vorgelegte „Agenda 2010" machten es Stammwählern schwer, hierin auf sozialdemokratischer Programmatik fußende Politiken zu erkennen. Die CSU stand nach dem Tod des Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß (1988) und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor einem doppelten Dilemma-, dem personalbedingten Verlust einer nachhaltigeren bundespolitischen Rolle und der Gefahr, strukturund programmbedingt auf die Wirkungsweise einer Regionalpartei zurückgeführt zu werden. Gleichwohl gelang es der CSU, nicht nur in personeller Hinsicht die „Lücke" zu schließen (nach dem Übergangs-Minsterpräsidenten Streibl und der zeitweiligen Arbeitsteilung zwischen dem ehemaligen Parteivorsitzendem und Bundesfinanzminister Theo Waigel und Ministerpräsident Edmund Stoiber übernahm letzterer 1998 auch den Parteivorsitz und gilt seitdem als unumstrittene Führungsfigur), sondern auch als erste der „etablierten" Parteien den unausweichlichen Modernisierungsprozess einzuleiten. So nutzte vor allem Ministerpräsident Stoiber seine ersten Amtsjahre, um einige jener Forderungen zu übernehmen und umzusetzen, die in der Diskussion um die Zukunft des Parteienstaates erhoben wurden. Dies reichte vom Verzicht auf Nebentätigkeiten durch Kabinettsmitglieder über die vergleichsweise klare Struktur der Parteienfinanzierung bis hin zum Versuch der Wiedergewinnung der politischen Führerschaft in programmatischen Fragen. Natürlich ging es dabei auch um Anpassungen an den „Zeitgeist", doch gelang es Stoiber darüber hinaus, Strukturprobleme der deutschen Entwicklung anzusprechen. So hielt er bereits frühzeitig eine Reform des deutschen Föderalismus für unausweichlich, widersetzte sich gemeinsam mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten einer Fortsetzung überprüfungsbedürftiger Finanzausgleichsregelungen und brachte die Bedenken nicht nur der bayerischen Bevölkerung gegenüber einem zu schnellen Prozess der europäischen Integration durch seinen Widerstand gegen die Einführung eines „weichen" Euros zum Ausdruck. Dass dies gleichzeitig auch eine Demontage des Kontrahenten Waigel bedeutete, war ein sicher nicht un-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung geplantes Nebenprodukt. Nach dem Regierungswechsel 1998 beschränkte sich die bundespolitische Rolle der Partei zunächst auf die Gewährleistung der bayerischen Repräsentanz in Berlin. Erst durch zahlreiche Wahlsiege der C D U auf Landesebene und der neuerlichen Mehrheit der unionsregierten Länder im Bundesrat erlangte Bayern wieder eine Schlüsselposition im Bund. Nicht zuletzt Stoibers Kanzlerkandidatur 2002 bestätigte einmal mehr, dass die CSU Schwächephasen der großen Schwesterpartei - die im vorliegenden Falle durch den Spendenskandal beeinträchtigt war - durchaus zu ihrem Vorteil zu nutzen weiß und aus einer „sicheren" Position in Bayern heraus die Gesamtunion zu dominieren sucht. Programmatisch steht die Partei am Scheideweg. Sie hat erkannt, dass mit früheren Parolen wie „Freiheit oder Sozialismus" nichts mehr zu gewinnen ist. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme fehlt nicht nur der Gegner, es fehlt auch die Möglichkeit, Freunden, Koalitionspartnern und der Opposition mangelnde Wachsamkeit vorwerfen zu können. Auch dies motiviert Stoiber zu seinen Aktivitäten. Er hat ernstgenommen, was Parteienkritiker als Stärken und Schwächen der CSU bezeichneten: So war und ist sie erfolgreich im Verwalten des Bestehenden, doch fehlen Mut und Phantasie zu weitsichtigem Entwurf. Dass 1993 erarbeitete CSU-Grundsatzprogramm, ursprünglich als Forschreibung des Programms von 1976 gedacht, musste angesichts der veränderten Rahmenbedingungen aufgegeben werden. „In Freiheit dem Gemeinwohl verpflichtet" - so lautete jetzt der Titel des Grundsatzprogramms, zu dessen geistigen Grundlagen u. a. die Förderung der Familie als gesellschaftliches Fundament, die Fortführung des sozialen Marktwirtschaft, die Betonung der Handlungsfähigkeit des Staates, die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland und die Entwicklung eines „Europas der Nationen" gehören. Zusammenfassend wird man die CSU als eine deutlich volksnah ausgerichtete Regionalpartei einschätzen können. Sie ist ein Beleg dafür, dass die Kategorie der „Volkspartei" keinesfalls der Vergangenheit angehört. Gerade weil die Partei in Bayern stark ist, hat ihr Wort in der Bundesrepublik Gewicht, auch ohne dass sie jemals den Bundeskanzler, den Bundespräsidenten oder den Außenminister gestellt hätte. Bislang war es die Stärke der CSU, mit einer Stimme zu reden. Gerade ihre Geschlossenheit macht sie zu einer Konstanten im deutschen Parteiensystem und führt Beobachter zu der gelegentlich paradoxen Erkenntnis, dass Parteien in langjähriger Regierungsfunktion nicht nur degenerative, sondern durchaus auch moderne Züge aufweisen können. Die Chancen, die sich durch die mit der Ära Strauß verbundenen Verwerfungen boten, hat der Ministerpräsident konsequent genutzt. Bündnis 901Die Grünen verzeichneten nach der Wahlniederlage 1990 mit der Bundestagswahl 1994 und der Regierungsbeteiligung seit 1998 ein erstaunliches Comeback. Anfang der 2000er Jahre sind die Bündnisgrünen die „dritte Kraft" im Parteiensystem. Der Weg dahin verlief jedoch nicht immer geradlinig. Wurden sie Mitte der 1990er Jahre neben der Union als „Gewinner" im Prozess der Parteienentwicklung angesehen, war dies gleichzeitig auch Ausdruck der erheblichen personellen und programmatischen Probleme, mit denen der potenzielle Allianzpartner SPD zu kämpfen hatte; die Verluste der Sozialdemokraten fielen in diesem Zeitraum durchwegs höher aus als die Zugewinne der Ökopartei. Ein Bruch in der aufsteigenden Entwicklung ergab sich mit dem Parteitag von Magdeburg 1998, anlässlich dessen die Grünen unrealistische Forderungen verabschiedeten und in den nachfolgenden Wahlumfragen einbrachen. Trotz eines vergleichsweise bescheidenen Ergebnisses bei der Bundestagswahl 1998 kam es mit der wiedererstarkten SPD zur Ablösung der Regierung Kohl. Gleichwohl gelang es den Grünen nicht, an die Wahlerfolge aus der Mitte der 1990er Jahre anzuknüpfen. So musste die Partei empfindliche Niederlagen bei den Landtagswahlen in Hessen und dem Saarland einstecken. Erst 2002 erholte sie sich und wurde mit einer

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte deutlichen Stimmensteigerung bei der Bundestagswahl zur drittstärksten Kraft im Parteiensystem. Dies gelang nicht zuletzt durch die Ausrichtung des Wahlkampfs auf die Person Joschka Fischers, war aber auch darin begründet, dass die Grünen während der ersten rotgrünen Regierungsperiode Kernpunkte ihres Programms umsetzen oder entsprechende Reformen in Gang setzen konnten („Atomausstieg", Ökosteuer, Staatsbürgerschaftsrecht, ökologischer Umbau der Landwirtschaft). Wähleranalysen zufolge verfügen die Bündnisgrünen inzwischen über eine konsolidierte Stammwählerschaft vor allem in der Alterskohorte der heute 30 bis 50-jährigen (W. Müller, 1998). Da die Partei überdurchschnittlich stark von Beamten und Angestellten, aber auch von Selbständigen, mithin Bevölkerungsschichten mit vergleichsweise guter Ausbildung gewählt wird, profitieren sie sowohl vom gesellschaftlichen Strukturwandel (etwa: Zunahme von Dienstleistungsberufen, Expansion des Bildungsund Ausbildungssektors) als auch von den natürlichen Austauschprozessen der Wählerschaft. Die ehemals überwiegend jungen Anhänger der Grünen werden älter, bleiben aber mehrheitlich bei ihrer Parteipräferenz. Diese Aussagen verdeutlichen, dass die Bündnisgrünen eine Klientel ansprechen, die nicht mehr allein auf das Umweltthema begrenzt ist. Insbesondere seit ihrer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene ist es der Partei gelungen, weitere Themenbereiche anzusprechen und zu besetzen, etwa die der Außen- und Europapolitik, die eng mit der Person Fischers verbunden sind. Auch Politikfelder wie Verbraucherschutz und Landwirtschaft sowie Teile der Rechtspolitik wurden erfolgreich ins grüne „Kompetenzspektrum" aufgenommen. „Wo früher allerhand schrille Tonlagen, Sozialrevolutionäre Selbstmissdeutung, ein Übermaß an Radikalismus und die Verwerfungen eines erbitterten innerparteilichen Flügelkampfes das öffentliche Bild der Grünen verdüsterten, ist heute das Image einer vergleichsweise modernen Partei entstanden, die mit ihrem politischen Profil, das neben Ökologie vor allem Bürgerrechtsorientierung und Sozialstaat umschließt, auch im Stil und der politischen Rhetorik zunehmend dem Lebensgefühl großer Teile der jüngeren und mittleren Generation entspricht" (vgl. bereits H. Kleinen 1996, 38 f.). So ist im Westen das Bild einer eher linken und mitunter provokanten, aber im Großen und Ganzen doch pragmatischen und berechenbaren Partei entstanden. Im Osten hingegen hat sie unverändert große Schwierigkeiten, Fuß zu fassen. Nach Anfangserfolgen der Bürgerrechtler sind die Unterschiede in der Sozialstruktur, in den sozio-kulturellen Milieus und der im Osten Deutschlands anders gearteten Parteienlandschaft den Bündnisgrünen nicht zuträglich. Die im Westen erkennbare Bereitschaft, Grüne als Generationenpartei und als Ausdruck eines spezifischen Lebensgefühls zu wählen, stellt sich im Osten der Republik (noch) nicht. Insgesamt sieht sich die Partei auf dem Weg von einer Klein- zu einer „Mittelpartei". Demnach sprechen die Besonderheiten ihrer sozialstrukturellen, generativen und Lebensstilverortung dafür, sie als ökologisch-linksbürgerliche Partei der neuen Mittelschichten mit ausgeprägt ökologisch-sozialem und bürgerrechtlichem Werteprofil zu begreifen. Allerdings ist damit auch der Weg zur Volkspartei versperrt. Mit Blick auf die Entwicklungsperspektiven der Bündnisgrünen sind sich die Beobachter uneinig. Während Einige deutliche Wachstumsgrenzen sehen, zumal die Partei von gelegentlichen Schwächen der SPD profitiere, glauben andere, dass der Stimmenanteil vor allem in den großstädtischen Räumen Wahlergebnisse über 20 Prozent zulassen könnte. Als Voraussetzung dafür galt lange Zeit die weitere Konsolidierung und politisch-programmatische Glaubwürdigkeit der Partei als Ganzes. Spätestens nach den ersten vier Jahren rotgrüner Bundesregierung konnten diesbezügliche Zweifel beseitigt werden. Die Grünen haben durch die meist überzeugende, nicht selten aber auch populistische Arbeit ihrer Bundesminister in den Augen vieler an Seriosität und Substanz gewonnen. Allein parteiinterne Auseinandersetzungen, wie die langwierige Diskussion um die Aufhebung der Trennung von

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Amt und Mandat, lassen mitunter noch erkennen, dass die Grünen ursprünglich aus einer Anti-Parteien-Bewegung hervorgingen. Der FDP wurde in der Geschichte der Bundesrepublik bereits häufig das „Aus" prophezeit. Die Zeit seit 1990 war allerdings durch besonders ausgeprägte Schwankungstendenzen gekennzeichnet. Mitte der 1990er Jahre schien sie sich im freien Fall zu befinden. Über das schlechte Ergebnis bei der Bundestagswahl 1994 (6,9 Prozent der Stimmen) konnte die Partei noch hinwegsehen, da sie zusammen mit der Union weiter an der Macht blieb. Die folgenden Landtagswahlen führten jedoch zu einer Serie empfindlicher Niederlagen, so dass die FDP 1996 nur noch in vier von 16 Landtagen vertreten war und ihr der Verlust eines stabilen „Unterbaus" drohte. Gegen Ende der Regierung Kohl wurden die Liberalen in weiten Teilen der Wählerschaft fast ausschließlich in der Rolle des Mehrheitsbeschaffers auf Bundesebene wahrgenommen, so dass sie bei der Bundestagswahl 1998 mit nur 6,2 Prozent der Stimmen eines ihrer schlechtesten Ergebnisse der Nachkriegszeit verzeichneten. Auch die folgenden Landtagswahlen bestätigten den Abwärtstrend (Saarland, Brandenburg, Thüringen, Sachsen; Ausnahme: Hessen). Erst infolge des CDU-Spendenskandals und der damit einher gehenden Schwächung der Union ergaben sich deutliche Zugewinne bei den nachfolgenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Sachsen-Anhalt. Insbesondere nach dem außergewöhnlich guten Ergebnis in NordrheinWestfalen setzte sich die FDP mit dem ambitionierten „Projekt 18" das Ziel, zu einer liberalen Volkspartei zwischen Union und SPD anzuwachsen. Fehlendes inhaltliches Profil, personelle Querelen, verbale Entgleisungen sowie strategische Fehlentscheidungen führten im Ergebnis der Bundestagswahl 2002 dazu, dass die Liberalen mit 7,4 Prozent der Stimmen zwar gegenüber 1998 hinzugewannen, jedoch gemessen an dem eigenen Anspruch eine empfindliche Niederlage hinnehmen mussten. Im Längsschnitt zeigt sich, dass das FDP- Wählerpotential - trotz zwischenzeitlicher Hochs - nicht nur stark zusammengeschmolzen ist, sondern es der FDP auch weniger als allen anderen Parteien gelingt, dieses Potential zu mobilisieren (J. W. FalterIJ. R. Winkler, 1996, S. 48). Je geringer aber die Wählerbindung einer Partei, desto eher wird ihre Beurteilung in Wahlumfragen von situationsbezogenen Einflüssen bestimmt. Gerade dieses Phänomen hat die FDP in den letzten Jahren deutlich zu spüren bekommen. Während die FDP-Anhänger Ende der 1970er Jahre noch nahezu geschlossen bei ihrer Wahlentscheidung blieben, orientierten sich 1990 zehn, 1994 bereits 20 und 1998 noch einmal zehn Prozent um. Besonders der Vergleich zwischen Landtagsund Bundestagswahlen hat in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass während der christlich-liberalen Koalition auf Bundesebene etliche Zweitstimmen der FDP „Leihstimmen" von Unionswählern waren. Die Zahl der eigentlichen FDP-Anhänger und Sympathisanten nimmt stetig ab, die Zukunftsaussichten der Partei sind somit ungewiss. Diese skeptische Zukunftsprognose wird durch eine gewisse Ausdünnung des Führungspersonals verstärkt. So ist heute unübersehbar, dass die Partei, die über lange Jahre und Jahrzehnte „Spitzenpolitiker" der Republik stellte, derzeit nur wenige überzeugende Vertreter ausweist. Keiner der gegenwärtigen FDP-Politiker erreicht signifikante Sympathiewerte; ein Vergleich mit den Namen Genscher, Friedrichs oder Lambsdorff verbietet sich. Hinzu kommt, dass mit der inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf den Wirtschaftsliberalismus traditionelle Bürgerrechtsorientierungen der FDP sich heute nicht mehr repräsentiert sehen. An die Stelle von Politikern, die glaubwürdig Liberalität verkörpern, sind entweder Technokraten des politischen Geschäftes oder „Lebensgefühl" und „Zeitgeist" vermittelnde Personen getreten, beides wenig wählerwirksame Persönlichkeitsprofile. Schließlich erweist es sich als abträglich, dass es der FDP nicht gelang, zentrale Themenfelder zu besetzen. Als „Partei der Mitte" hatte sie sich über lange Jahre in der Außen-, Wirtschafts- und Rechtspolitik Kompetenz erworben

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte oder sie doch dem Wähler gegenüber suggerieren können. Heute aber ist diese Kompetenzvermutung verflogen. Der Rückzug auf durchaus strittige Positionen im Bereich der Steuerund Rentenreform zählt zu den fast verzweifelten Versuchen, Profil zurückzugewinnen, ohne dass damit deutlich würde, auf welche Stamm- oder Wechselwähler man damit zielt. Verstärkt wird die programmatische Diffusion der F D P durch die Strategie im Wahlkampf 2002, ein wie auch immer definiertes „positives Lebensgefühl" in der Bevölkerung anzusprechen. Hinzu kamen die populistisch vorgetragenen antiisraelischen Äußerungen Möllemanns im Mai 2002, von denen sich die Parteiführung, allen voran Guido Westerwelle, nur halbherzig distanzierte. In der Zusammenfassung stellt sich die Situation für die Freie Demokratische Partei somit als äußerst problematisch dar. Ihre Rolle als Mittler zwischen den beiden großen Volksparteien scheint akut gefährdet, der gleichsam selbstverständliche Anspruch, in Koalitionsregierungen vertreten zu sein, ist spätestens seit 1998 nicht mehr realisierbar. Während der christlich-liberalen Koalition von 1982 bis 1998 konnte sich die F D P besonders stark auf „Leihstimmen" von CDU/CSU-Anhängern verlassen, die die F D P - meist per Zweitstimme - nur wählten, wenn nicht ganz sicher war, ob es die Partei über die Fünf-ProzentHürde schaffen würde und zugleich unklar blieb, ob die Union allein eine absolute Mehrheit erzielen könnte. Die überaus starke Orientierung an solchen Koalitionswählern hatte allerdings den Nebeneffekt, dass sich ein Teil ihrer Anhänger in der Partei nicht mehr wiederfand. Diese jahrelange Abhängigkeit von der Union schlug 2002 in ihr Gegenteil um. Beflügelt durch zwischenzeitliche Wahlerfolge auf Länderebene und die Strategie des „Projekts 18" zog die F D P 2002 mit eigenem Kanzlerkandidaten und ohne Koalitionsaussage in den Wahlkampf. Das negative Resultat zeigte zweierlei: Zum einen offenbarte es die geringe Anzahl an FDP-Stammwählern, zum anderen die Fehleinschätzung, mit schwachem inhaltlichen Profil und viel Humor in die Größenordnung einer Volkspartei vorstoßen zu können. Spricht man der Partei aber die eigenständige politische Kraft mit einer unverwechselbaren Programmatik ab, ist ihre Existenz bedroht. Diese Situation scheint durchaus gegeben, zumal der Anteil der Anhänger, Wähler und Sympathisanten der F D P in den alten wie (noch rascher) in den neuen Bundesländern stetig zurückgegangen ist, die Partei mithin vor dem Dilemma steht, zum Einzug in die Parlamente kurzfristig Wähler rekrutieren zu müssen, die ihr eigentlich fern stehen und in dem Moment ausbleiben, in dem die F D P zur Mehrheitsbeschaffung nicht mehr benötigt wird. Damit ist eine Entwicklung eingeleitet, die um so schwerer rückgängig zu machen ist, je länger sie anhält. Hinzu kommt der geschilderte personelle Engpass und die Frage nach dem inhaltlichen Profil. Da die Personalisierung der Politik weiter zunehmen dürfte, wäre es wichtig, sich personell und inhaltlich, also nicht nur funktional zu definieren. Die Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) schließlich, Nachfolgeorganisation der SED, hat sich in den 1990er Jahren im östlichen Teil Deutschlands zu einer bedeutsamen Regionalpartei entwickelt, während sie in den alten Bundesländern, wie aufgezeigt, fast nicht existent ist oder in der linksextremen „Szene" untergeht. Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2002 zeichnen ein interessantes Bild vom Zustand der Partei im vereinten Deutschland. So wurde deutlich, dass sich in West- und Ostdeutschland zwei unterschiedliche Parteiensysteme herausgebildet haben. Während in den alten Bundesländern SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F D P die dominierenden politischen Parteien sind, findet sich im Osten Deutschlands ein Parteiensystem mit der PDS als drittstärkster Kraft (16,9 Prozent der Stimmen) hinter der SPD (39,7 Prozent) und der CDU (28,3 Prozent) sowie weit vor der F D P (6,4 Prozent) bzw. Bündnis 90/Die Grünen (4,7 Prozent). Noch deutlicher wird der Ost- WestGegensatz, wenn man das Ergebnis der Berliner Abgeordnetenhauswahlen vom Oktober

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung 2001 betrachtet. Während das Parteiensystem im Westen der Stadt weitgehend dem der alten Bundesländer entspricht, wird der Ostteil von der PDS dominiert. Hier entfielen auf sie mit 47,6 Prozent mehr Stimmen als auf SPD, CDU und Bündnis 90/Die Grünen zusammen (jeweils 23,2, 12,4 bzw. 5,9 Prozent). Im wiedervereinten Deutschland verzeichnete die PDS bis zur Bundestagswahl 1998 kontinuierliche Stimmengewinne in den neuen Bundesländern (bei konstant marginaler Bedeutung im Westen). Die Wahl 2002 erbrachte dann aber einen deutlichen Rückgang der PDS in der Gunst der ostdeutschen Wähler, so dass sie derzeit mit nur zwei direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag vertreten ist. Der Blick auf die Binnenstruktur der Partei und das Profil der Wählerschaft verweist auf einen hohen Organisationsgrad und eine beträchtliche Mobilisierbarkeit der Stammwählerschaft (vgl. P. MoreaulJ. P. Lang, 1996). Die Treue zur Partei hat dabei eher ideologische und psychologische denn materielle Gründe. Die PDS-Anhängerschaft zeichnet sich zwar durch Unzufriedenheit und Pessimismus aus, trotz meist entgegengesetzter persönlicher Situation. Zudem scheinen PDS-Anhänger vor allem emotional von der Vereinigung enttäuscht zu sein, ein Großteil von ihnen orientiert sich noch immer am kommunistischen Weltbild und der Hoffnung auf seine Verwirklichung. In programmatischer Sicht geht es darum, Unzufriedenheit, Protest und Systemopposition zu kanalisieren und der Partei zuzuführen. Deshalb finden sich auch zahlreiche Forderungen, die einem programmatischen „Populismus" nahe kommen. Niedrige Mieten, soziale Grundsicherung, hohe Renten, sichere Arbeitsplätze und umfassender Umweltschutz sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Im Übrigen hofft man auf eine „Transformation der Gesellschaft", ohne freilich auszuführen, wie diese erreicht werden sollte. Vorstellungen, nach denen die Gesellschaft ihre Geschicke jenseits des politischen Systems selbst in die Hand nehmen solle, richten sich offensichtlich gegen den Staat der Bundesrepublik und seine Vertreter. Eine Selbstorganisation der Betroffenen und die damit verwirklichte Basisdemokratie soll der herrschaftsfreien Entfaltung der Individuen und Kollektive dienen. Im Hintergrund steht die Hoffnung auf eine Massenbewegung aller oppositionellen Kräfte. Diese programmatischen Ansätze stehen zunehmend im Konflikt mit der Funktion, die die PDS in Ostdeutschland tatsächlich einnimmt. Nachdem Anfang der 1990er Jahre eine Zusammenarbeit der westdeutschen Parteien mit der PDS nicht nur nicht vorstellbar, sondern von diesen auch ausgeschlossen wurde, änderte sich das Mitte der 1990er Jahre zusehends. Besonders nach dem Mannheimer Parteitag der Sozialdemokraten schürte deren damaliger neuer Vorsitzender, Oskar Lafontaine, die Hoffnung auf eine großes Bündnis der linken Mitte in Deutschland, das unter Einschluss der PDS ein Gegengewicht zum bürgerlichen Lager bilden sollte. Ein erster Schritt dahin ergab sich 1994 bereits in Sachsen-Anhalt, als es zur Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung unter Tolerierung der PDS kam. Wenngleich die SPD-Führung diese Entwicklung nicht gerade mit überschwänglicher Euphorie begleitete, duldete sie doch das „Experiment" ihres Landesverbandes. Für die PDS war es jedoch ein erster Schritt, das „Paria-Dasein" aus der Nach-Wendezeit zu verlassen und Anschluss an die politische Realität der Bundesrepublik Deutschland zu finden. Einen weiteren Schritt in diese Richtung unternahm die Partei 1998, als sie nach den Landtagswahlen in Mecklenburg- Vorpommern in einer Koalitionsregierung mit der SPD erstmals auf Landesebene politische Verantwortung übernahm. Nach den Berliner Abgeordnetenhauswahlen 2001 kam es auch dort zur Bildung einer rot-roten Regierungskoalition. Allerdings scheinen gerade die zunehmende Anerkennung der PDS durch die ostdeutschen SPDLandesverbände, die Hinwendung zu politischen Realitäten und die Übernahme von Regierungsverantwortung zu einer innerparteilichen Zerreißprobe zu werden. So dokumentierte der PDS-Parteitag im Oktober 2002 den wachsenden Gegensatz zwischen „Moderni-

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte sierern", die an einem weiteren Ausbau der Koalitionsfähigkeit interessiert sind, und „Traditionalisten", die sich für eine klare Abgrenzung zur SPD und einen konsequenten Oppositionskurs aussprechen. Mit Bestätigung der als führungsschwach eingeschätzten Parteivorsitzenden Gabriele Zimmer erreichten letztere zwar einen vorläufigen Sieg, der jedoch bald durch die Wahl Lothar Biskys zum neuen Vorsitzenden und den Auftrag zur Erstellung eines neuen Parteiprogramms relativiert wurde. Die in diesen Entwicklungstendenzen zusammengefassten Prozesse innerhalb des deutschen Parteiensystems überlagern eine Reihe eher grundsätzlicher Erwägungen, die bereits vor der Vereinigung unter Überschriften wie „ Volksparteien: Ratlose Riesen?" (R. Wildenmann, 1989), „Parteien in der Krise?" (P. HaungslE. Jesse, 1987) oder „Die demokratischen Parteien im Umbruch" diskutiert wurden. Auch in der gegenwärtigen Diskussion zur Parteienentwicklung finden sich kaum „positive Attribute" oder „farbenfrohe, optimistische Zukunftsszenarien" (U. Jun, 2002, S. 770). Dabei unterscheiden sich die Phänomene, die in den 1980er Jahre zur Debatte standen, von den heute diskutierten beträchtlich. Versucht man die ablaufende Debatte zu systematisieren, sind es vor allem vier Aspekte der Parteienentwicklung, die für die Stabilität des Regierungssystems von Bedeutung sind (vgl. F. Decker, 1999; T. Poguntke, 1999; D. Schefold, 1999; R. Stöss, 2000; E. Wiesendahl, 2000 a und 2001a; F. Walter, 2001; A. Dörner, 2002): die Integrationskraft der Parteien, ihr Verhältnis zum staatlichen Bereich, ihre Binnenorganisation sowie ihre Anpassungs- und Innovationsfähigkeit gegenüber auftretenden Problemstellungen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Mit Blick auf die Integrationskraft ist festzustellen, dass es den politischen Parteien in der Geschichte der Bundesrepublik weitestgehend gelungen ist, zwischen unterschiedlichen Gruppen, Klassen, Religionszugehörigkeiten und Territorialinteressen zu vermitteln. So kamen religiöse, regionale, berufsständische und klassenspezifische Differenzen im deutschen Parteiensystem kaum zur Geltung. Dies mag zum einen daran liegen, dass die Erfahrung des Nationalsozialismus den alliierten Selektionsprozess bei der Zulassung der Parteien steuerte, darüber hinaus aber waren die Parteigründungen selbst durch den Versuch einer Uberwindung klassischer Antagonismen gekennzeichnet. So stand bei der Gründung der CDU/CSU die Einebnung konfessioneller Grenzen im Vordergrund, stützte sich die SPD zwar schwergewichtig auf die Arbeiterschaft, signalisierte aber schon zu einem frühen Zeitpunkt die Öffnung hin zu einer „Volkspartei", fanden die Interessen der Wirtschaft, der Beamtenschaft, des Agrarsektors und durchaus auch der Vertriebenen Ausdruck in den sich schnell etablierenden Parteien. Extreme Positionen waren dabei nicht nur aufgrund der historischen Erfahrung, sondern auch und gerade aufgrund des breiten programmatischen Ansatzes und nicht zuletzt auch der Begrenzungen des Wahlrechts ohne Chance. Das zyklische Auftreten rechts- wie linksradikaler Parteien blieb in der Geschichte der Bundesrepublik ohne nachhaltige Wirkung. Erst die Grünen durchbrachen Anfang der 1980er Jahre das „Zweieinhalbparteiensystem", ohne dass es zu einer grundlegenden Infragestellung des beschriebenen Konzentrationsprozesses gekommen wäre. Ebenso stellt die PDS in den neuen Bundesländern seit 1990 nur eine regionale Ausdifferenzierung, nicht aber einen grundlegenden Wandel im Parteiensystem dar. Weit aussagekräftiger als die generellen Veränderungen im Parteiensystem ist die Veränderung der Integrationsleistung nach innen. Hier ist inzwischen über den Rückgang der längerfristigen affektiven Parteibindungen ein Bedeutungsverlust im gesellschaftlichen Bereich zu erkennen (F. Decker, 1999, S. 352). Innerorganisatorisch bleiben seit Anfang der 1980er Jahre die Neumitglieder weitgehend aus, der Zustrom ähnelt seitdem „immer mehr einem Rinnsal" (E. Wiesendahl, 2001a, S. 594). Das betrifft im besonderen die Jugend, die nicht mehr bereit ist, ihr durchaus vorhandenes politisches Engagement in den hergebrachten 203

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Parteistrukturen und Parteiorganisationen auszuleben (s. E. Wiesendahl, 2001 b). Der Effekt dieser Entwicklung ist die bereits beklagte Überalterung der Parteien. Dabei ist keinesfalls ein genereller Rückgang gesellschaftlichen Engagements zu verzeichnen, lediglich die Formen öffentlicher Partizipation ändern sich, insbesondere die Bereitschaft, in „großen, hierarchisch und bürokratisch durchorganisierten Verbänden einer regelmäßigen Tätigkeit nachzugehen" (A. Dörner, 2002, S. 762). Bei Wahlen drückt sich die nachlassende Bindewirkung in zunehmender Volatilität, geringerer Parteiidentifikation und rückläufiger Wahlbeteiligung aus (s. J. W. Falter/H. Schoen, 1999, S. 466; E. Wiesendahl, 2001a, S. 594). Die skizzierten Veränderungen resultieren aus einem sich bereits seit einigen Jahrzehnten vollziehenden sozialen Wandel, durch den „die übersichtliche und sozial festgefügte .StandardGruppen-Gesellschaft' aus Arbeitern, Bauern, Katholiken uns Selbstständigen" (E. Wiesendahl, 2001a, S. 595) einer stärkeren Individualisierung und einer größeren Vielfalt der Lebensformen gewichen ist. Die sozialen Milieus nehmen in ihrer Bedeutung ab, der klassische Stammwähler stellt mithin „eine aussterbende Spezies" dar (A. Dörner, 2002, S. 764). In Reaktion darauf suchen die Parteien, mit kurzfristigen Ankündigungen und Lösungsansätzen der fluktuierenden Wählerschaft gerecht zu werden, vernachlässigen dabei aber die Bearbeitung längerfristiger Wert- und Verteilungsfragen. Das Verhältnis zwischen Staat und politischen Parteien unterliegt angesichts der benannten gesellschaftlichen Veränderungen verstärkter Diskussion. In diesem Zusammenhang wurde das Auftreten eines neuen Parteientyps in Westeuropa diagnostiziert (vgl. R. Katzl P. Mair, 1995): Angesichts nachlassender sozialer Verankerung und damit einhergehenden Unsicherheiten im politischen Wettbewerb seien solche „Kartellparteien" dazu übergegangen, sich stärker dem Staat zuzuwenden, um von ihm jene Ressourcen und Privilegien zu erhalten, mit deren Hilfe sie ihren Machtanspruch durchsetzen können. Dabei handle es sich sowohl um staatliche (Teil-)Finanzierung als auch um indirekte Privilegien, so bei der Besetzung wichtiger Positionen im öffentlichen und halb-öffentlichen Dienst. Für die Bundesrepublik ist diese These zu relativieren. Zwar besteht kein Zweifel, dass vor allem die beiden großen Parteien über die engeren politischen Entscheidungsorgane hinaus weite Teile der Justiz, Verwaltung, der Sozial- und Bildungseinrichtungen, der öffentlich-rechtlichen Medien sowie der öffentlichen Wirtschaftsunternehmen „kolonisiert" haben (Κ. v. Beyme, 19952, S. 58). Diese Entwicklung kann aber nur bedingt als Kompensationsstrategie für nachlassende soziale Verankerung gelten, sie muss vielmehr auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Erwartungen gesehen werden, die in einem voll ausgebauten und hochdifferenzierten Wohlfahrtsstaat an Parteien herangetragen werden. Vor allem die Volksparteien waren in der Vergangenheit geradezu gezwungen, einen weit reichenden staatlichen Gestaltungsanspruch und eine leistungsfähige, professionalisierte Organisation zu entwickeln. Dies beinhaltete den Auf- und Ausbau professioneller Apparate, die auch auf staatliche Unterstützung angewiesen waren. Bis Anfang der 1990er Jahre führte dies zu einem steten Anwachsen staatlicher Zuschüsse und einer parallelen Kritik an dieser Entwicklung. Mit dem oben erwähnten Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1992, das die „Staatsferne" der Parteien neu definierte, eine staatliche Teilfinanzierung der Parteiarbeit garantierte und zugleich eine Obergrenze hierfür festsetzte, verlor die Diskussion an Brisanz. Auch die parteipolitische Durchdringung des öffentlichen Dienstes bedarf einer Relativierung. Richtig ist, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Staatstätigkeit und damit einhergehend der öffentliche Dienst weit ausgebaut wurden. Berücksichtigt man jedoch, dass der Staat in den letzten beiden Jahrzehnten an gesellschaftlicher Steuerungsfähigkeit verlor, hat sich auch die Bedeutung der Parteien in diesem System relativiert (F. Decker, 1999, S. 354). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass das Verhältnis zwischen Staat und Parteien nach wie vor eng bleibt,

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte „vollends verstaatlicht bzw. vom Staat absorbiert wurden die Parteien, wie Katz und Mair behaupten, als Ganzes nicht" (E. Wiesendahl, 2001 a, S. 599). Die Binnenorganisation und die „Durchlässigkeit" des Parteiensystems sind vor allem im Verhältnis zwischen Partei und Mitgliedern (zum Teil auch mit Blick auf die Fraktionen) von Bedeutung. In Ergänzung zu den im ersten Teil dieses Kapitels vorgetragenen Ausführungen ist hier lediglich anzumerken, dass sich alle Parteien der Verbindung von „Vertrauensverlust" und Selbstdarstellung bewusst sein sollten. Grundsätze der innerparteilichen Demokratie bleiben dabei von Relevanz, gewinnen vielleicht noch an Gewicht, wenn jene Stimmen Auftrieb erhalten sollten, die davon ausgehen, dass nach einer bestimmten Verweildauer in einem öffentlichen Amt die Rückkehr in den erlernten oder erworbenen Beruf zur Regel werden sollte. Auch hier freilich sei sofort die Einschränkung mitgedacht. Ohne ein hauptamtliches Personal und über mehrere Legislaturperioden erfahrene Politiker ist die Gewährleistung parteipolitischer Kontinuität nicht möglich. Andererseits: Die größere Professionalisierung des Parteipolitikers ist sicher auch mit einem schnelleren „Verschleiß" verbunden; hier könnten erweiterte Durchlässigkeiten (nicht nur mit Blick auf weibliche Parteimitglieder) und eine Begrenzung der wahrzunehmenden Mandate heilsam wirken. Schließlich ist die Innovationsfähigkeit der Parteien gegenüber auftretenden Problemen und erkennbaren Entwicklungen von Bedeutung für die Stabilität des Regierungssystems. Hier hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erwiesen, dass für die politischen Parteien der Bundesrepublik von einer insgesamt doch überzeugenden Innovationskraft ausgegangen werden kann. Zwar ist unstrittig, dass die Volksparteien auf neue Problemstellungen nur schwerfällig reagieren (Umweltbewusstsein, Gleichstellungsfragen, Zuwanderungsregelungen als Beispiele), doch macht die allmähliche Absorption dieser und anderer Themen deutlich, dass die großen Parteien durchaus lernfähig sind. Gelänge es darüber hinaus, sich wichtigen Veränderungen der gesellschaftlichen Grundhaltungen zu öffnen, ohne sich „modischen" Fragestellungen zu schnell anzupassen, könnte das Parteiensystem seine in den ersten 50 Jahren der Bundesrepublik bewiesene Stabilität beibehalten. Zwar erscheint es noch immer verfrüht, die Auswirkungen des Vereinigungsprozesses abschließend zu beurteilen, doch ist wahrscheinlich, dass die Übertragung des westdeutschen Parteiensystems auch auf das Territorium der ehemaligen D D R zur Stabilisierung der gesamtdeutschen Gesellschaft und ihres Regierungssystems beigetragen hat. Dabei bleibt zu hoffen, dass die Bewohner der neuen Bundesländer sich von dem gelegentlich penetrant paternalistischen Verhalten der (West-)Parteien nicht abschrecken lassen, sie vielmehr deren stabilitätsorientierte Wirkungsweise sehen. Nur so auch wird es gelingen, die an den „Rändern" des politischen Spektrums deutlich werdenden Differenzierungsprozesse aufzufangen. Republikanern wie Nationaldemokraten sollte es unmöglich gemacht werden, jene Unzufriedenen und Unbelehrbaren anzuziehen, deren zerstörerisches Potential die deutsche und europäische Geschichte in diesem Jahrhundert nachhaltig prägte. Die damit verbundene Herausforderung an die demokratischen Parteien verdeutlicht einmal mehr die Daueraufgabe der Integration, ohne die auch vermeintlich stabile Gesellschaften nicht auskommen.

2.4 Wahlen und Wähler: die Bestellung der politischen Führung Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland legitimieren Kommunalparlamente, Landtage, den Bundestag sowie die deutschen Vertreter im Europäischen Parlament. Für die Wahl zum Deutschen Bundestag gilt dabei ein Wahlrecht (E. Jesse, 1985; W. Schreiber, 19986; D. Nehlen, 20003), nach dem die Abgeordneten gemäß Art. 38 Abs. 1 G G in allgemeiner, 205

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung unmittelbarer, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. I m Grundgesetz ist darüber hinaus auch noch von „freien" Wahlen die Rede, eine Formulierung, die sich nur aus der Situation der Jahre 1948/49 heraus verstehen lässt. Wahlen, die nicht „frei" sind, sind keine Wahlen. 2.4.1. Wahlrecht und Kandidatenaufstellung Unter den unterschiedlichen Varianten der Mehrheits- und der Verhältniswahl entschied man sich nach 1945 in der Bundesrepublik ohne größere Auseinandersetzung f ü r ein „verbessertes" Verhältniswahlsystem (vgl. grundlegend B. Vogel/D. NohlenIR.-O. Schultze, 1971). Nach ihm wird ein erheblicher Teil der künftigen Abgeordneten „direkt" im Wahl- oder Stimmkreis gewählt oder aber (im kommunalen Bereich) dem Wähler die Möglichkeit zugestanden, innerhalb der Parteienvorschläge einzelne Personen besonders hervorzuheben. Damit wird das Wählen relativ kompliziert. Bei der Bundestags- und bei der Landtagswahl in Bayern etwa sind zwei Stimmzettel auszufüllen, von denen einer die N a m e n der Direktkandidaten im örtlichen Stimmkreis, der andere die Landeslisten der Parteien aufführt. Die zweite, die Listenstimme, entscheidet über die relative Stärke der Parteien im Parlament; mit der ersten Stimme findet eine örtliche Vorauswahl der Parlamentsmitglieder statt, von denen auf diese Weise etwa die Hälfte direkt gewählt und dem örtlichen Stimmkreis besonders eng verbunden ist. In den Kommunen wird das System noch komplizierter, weil es meist so viele Stimmen wie zu wählende Gemeindevertreter gibt, die man als Paket einer Liste zuführen, innerhalb einer Liste auf die besonders genehmen Bewerber verteilen oder auch quer über alle Listen unterschiedlichen Bewerbern zukommen lassen kann (Panaschieren). Außerdem kennt man im Kommunalwahlrecht vielfach das Kumulieren, das „Häufeln" von Stimmen zugunsten eines Bewerbers. Damit kann der Wähler die von den Parteien bestimmte Reihenfolge der Liste verändern, wovon er in erheblichem U m f a n g auch Gebrauch macht. Die Wahlen vermitteln ein vierjähriges Mandat im Bund und einigen Ländern; die Mehrzahl der Landtage (Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Sachsen und Thüringen) werden inzwischen auf fünf Jahre gewählt. Damit liegen auch die Wahltermine fest. Sie sollen bis auf den wirklichen Notfall der Manipulation entzogen sein. Im Notfall kann es nach einigen Landesverfassungen zur Selbstauflösung des Landtages kommen; f ü r den Bundestag gilt dies aus guten Gründen nicht. Er kann nur in einem komplizierten und als Ausnahme geltenden Verfahren aufgelöst werden. An ein Wahlsystem (vgl. D. SternbergerlB. Vogel, 1969; H. Meyer, 1973 und 1987; D. Nehlen, 1978, und 2000 3 ; E. Jesse, 1985; A. Lijphart, 1994; W. Woyke, 199810; W. Schreiber, 19986; R. Rose, 2000) stellt man in der Demokratie zwei sehr unterschiedliche Anforderungen. Es soll auf der einen Seite zu regierungsfähigen Mehrheiten verhelfen und auf der anderen möglichst genau das Meinungsspektrum in der Wählerschaft widerspiegeln, was zugleich bedeutet, dass man die Hürde nicht zu hoch legt, die eine neue Partei überwinden muss, bevor sie „bei der politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken kann. Der ersten Anforderung an ein Wahlsystem entspricht eher ein Mehrheits-, der zweiten eher ein Verhältniswahlsystem. In der Bundesrepublik waren nach der Lizenzierung der ersten Parteien die Weichen schnell in Richtung Verhältniswahlsystem gestellt. D a aber auch die negativen Erfahrungen mit dem uneingeschränkten Verhältniswahlrecht in der Weimarer Republik eine Rolle spielten, kam es zu einer „Verbesserung" oder „Personalisierung" der Verhältniswahl. Zu ihr gehört die FünfProzent-Hürde, die eine Partei (1949 in einem Bundesland, ab 1953 bundesweit) überwinden

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte muss, um bei der Verteilung der Mandate berücksichtigt zu werden; die Aufteilung in Direktund Listenmandate kommt hinzu. Direktmandate bleiben dabei meist den Kandidaten der größeren Parteien vorbehalten. Trotz der genannten Weichenstellung ist für die Bundesrepublik auf eine mehr oder weniger heftige Diskussion um das Wahlsystem bis Anfang der 1970er Jahre zu verweisen (vgl. u.a. F. A. Hermens, 19682, als Verfechter der Mehrheitswahl, und T. v. d. Vring, 1968, als einen ihrer Gegner, sowie D. Sternberger, 1964, mit einer Aufsatzsammlung aus 15 Jahren Wahlrechtsdiskussion in Deutschland). Sie wurde allerdings nie „im luftleeren Raum" geführt. Die Einführung des Mehrheitswahlrechts hätte über viele Jahre hin die F D P bedroht. Demzufolge wurden Wahlrechtsänderungen als unmittelbar wirksame politische Waffe interpretiert, Vorschläge entsprechend diskreditiert. Man hat deshalb auch auf eine Reform verzichtet, obgleich es vor allem in der Zeit der Großen Koalition entsprechende Bemühungen gab. Die tatsächliche Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems (Konzentration zur politischen Mitte hin) widerlegte die Argumente der Reformer weitgehend (vgl. R. Bredthauer, 1973; E. Hübner, 19764; E. Schutt, 1973). Sieht man von der in mehrfacher Sicht untypischen Bundestagswahl von 1990 ab, gibt es seit 1972 keine aktuelle Wahlrechtsfrage mehr. Das folgt nicht aus der theoretischen Behandlung des Problems, sondern aus einer spezifisch politischen Komponente. Nach 1949 zeigten sich in der Regel eher die C D U und noch mehr die CSU dem Mehrheitswahlrecht zugeneigt. Da aber 1953 und 1957 deren Mehrheit wuchs, drängte sich das Thema nicht eben auf. Die SPD dagegen befürchtete, bei Einführung des Mehrheitswahlrechts hoffnungslos in die Defensive gedrängt zu sein. Für die F D P und für alle anderen kleineren Parteien stellte sich eine entsprechende Frage nicht. Erst nach 1961 ergab sich eine gewisse Änderung. Die SPD brauchte nicht mehr davon auszugehen, bei einer Mehrheitswahl ohne jede Chance zu sein; die CDU/CSU stieß erstmals mit der F D P als Koalitionspartner auf Schwierigkeiten. 1965 verstärkten sich diese Trends. So löste der wissenschaftliche Versuch, nachzuweisen, dass bei „Mehrheitswahl in der BRD eine realistische Chance des Machtwechsels bestehen würde" (R. Wildenmann u.a., 1965), eine heftige Diskussion aus (vgl. etwa K. Liepeltl A. Mitscherlich, 1968). Nach der Bildung der Großen Koalition kam es 1967 zur Berufung eines (zweiten) Beirats für die Wahlrechtsreform durch den Bundesinnenminister (vgl. Wahlrechtskommission, 1955; Wahlrechtsbeirat, 1968). Zugleich arbeiteten Kommissionen der C D U und der SPD. Der Beirat legte seine Empfehlungen im Frühjahr 1968 vor; sie liefen auf die Einführung der relativen Mehrheitswahl hinaus. Das erschien auch als die einzige reale Alternative; die sonstigen Kombinationsmöglichkeiten einschließlich der „Verhältniswahl in kleineren Wahlkreisen" (vgl. J. A. FroweinIR. Herzog, 1968) hatten nie eine reale Chance. Nach Vorlage des Beiratsberichts scheiterte eine Wahlrechtsreform dann zunächst an der SPD (vgl. W. Hennis, 1968 c); ob sie nicht auch an Kräften innerhalb der C D U gescheitert wäre, die eine Land (CDU)-Stadt (SPD)-Polarisierung und anderes fürchteten, sei dahingestellt. Betrachtet man rückblickend die Debatte um das Wahlrecht, erscheint ihr theoretischer Ertrag gering. Die Argumente sind bekannt. Jedes Wahlsystem bietet Vor- und Nachteile. Sie seien hier nicht aufgezählt (vgl. D. Nehlen, 2000 3 ). Dabei ist davon auszugehen, dass der größte Nachteil des Mehrheitssystems in der Verödung des politischen Lebens in den Hochburgen der Parteien liegt, dort also, wo es gar nicht lohnt, Gegenkandidaten zu nominieren. Umgekehrt zählt es zu den großen Vorteilen, dass es von dem Zwang entbindet, in den Parteien selbst Spielraum für Mehrheit und Minderheit, Mitte und Flügel zu lassen und sich dort zusammenzufinden. Andererseits sind dem die Chancen zu einer besseren Fraktionsausgewogenheit und verstärkter politischer Repräsentanz auch in den Hochburgen des Geg-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung ners gegenüberzustellen. Der Terminus „Gerechtigkeit" erscheint in diesem Zusammenhang problematisch; ein Wahlrecht muss politisch zweckmäßig sein. Zweckmäßig erscheint es dann, wenn es auch den Wechsel ermöglicht. Von dieser Frage war die Wahlrechtsdiskussion nach 1966 maßgeblich bestimmt, weil angeblich nur der Wechsel eine Auflösung der Großen Koalition ermöglichen würde. Tatsächlich erfolgte der Wechsel auch auf der Basis des bisherigen Wahlrechts; es kam zu einer entscheidenden Veränderung nicht im Wahl-, sondern im Parteiensystem. Auf längere Sicht hin ist also von dem seit 1956 gültigen Bundestagswahlrecht auszugehen (vgl. Materialband, V/1-2). Ihm zufolge wird die eine Hälfte der Abgeordneten direkt, die andere über Landeslisten der Parteien gewählt. Der Wähler hat zwei Stimmen. Die Zweitstimme wird für eine Landesliste abgegeben, später zählt man die gesamten Zweitstimmen jeder Partei im Bundesgebiet und verteilt nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren (nach einer Änderung des Bundeswahlgesetzes im März 1985 erstmals für die Sitzverteilung im 11. Deutschen Bundestag eingesetzt) die Mandate erst auf die Bundesparteien und dann auf die Landeslisten der Parteien. Davon zieht man diejenigen Mandate ab, die durch Direktwahl ermittelt sind. Die Direktmandate sind aufgrund der festgelegten Wahlkreisgrenzen für die einzelnen Länder zahlenmäßig fixiert, der andere Teil ist flexibel. Die Gesamtzahl der auf ein Bundesland entfallenden Mandate kann von der Höhe der Wahlbeteiligung abhängen. Die Direktwahl erfolgt durch die Erststimme. Jede Partei benennt einen Kandidaten für den Wahlkreis; derjenige mit den meisten Stimmen ist gewählt. Bei der Verteilung der Mandate nach den Landeslisten bleiben diejenigen Kandidaten unberücksichtigt, die schon über ein Direktmandat verfügen. Parteien, die im Bundesgebiet nicht mindestens fünf Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten oder drei Direktmandate („Grundmandatsklausel") errungen haben, scheiden bei der Sitzverteilung aus. Erhalten Parteien in einem Bundesland mehr Direktmandate als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, vermehren sich die Gesamtsitze im Bundestag um die sog. „Überhangmandate" (vgl. F. Grotz, 2000). Die Wahlkreiseinteilung birgt eine Reihe von Problemen. Sie sind zunächst technisch bedingt, da sich die Wahlkreise nach den politischen Grenzen richten, also eine größere Stadt oder mehrere Landkreise umfassen müssen. Schon das führt zu Unterschieden. Die Mobilität der Bevölkerung kommt hinzu. Sie bedingt ein ständiges Arbeiten an der Wahlkreiseinteilung. Dennoch sind Abweichungen bis zu einem Drittel von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise nach dem Gesetz möglich. Dadurch ist in den bevölkerungsschwächeren Wahlkreisen die relativ stärkste Partei bevorzugt, zumal dann, wenn ihr die zusätzlich gewonnenen Direktmandate als Überhangmandate erhalten bleiben, der rechnerisch volle Ausgleich über die Landeslisten insoweit also nicht erfolgt. Die 2002 erstmals wirksam gewordene Reduzierung der Wahlkreise ( Wahlkreisreform von 2001) von 328 auf 299 stellte in diesem Zusammenhang eine „technische Anpassung" der Wahlkreiseinteilung dar. Zum einen wurde die Gesamtzahl der Abgeordneten im Bundestag von 656 auf 598 reduziert, zum anderen kam es zu einer Anpassung der vergleichsweise kleinen Wahlkreise (in Bezug auf die Bevölkerungszahl) in den neuen Bundesländern an die westdeutsche Wahlkreisgröße. Nach dem Wahlgesetz sind Wahlkreisbewerber von den Mitgliedern der betreffenden Parteien oder von eigens dazu bestellten Delegierten geheim zu wählen. Der Einspruch des Parteivorstandes kann in einem zweiten Wahlgang überstimmt werden. Auch die Landeslisten werden von dazu beauftragten Delegiertenversammlungen verabschiedet, wobei jedoch unterschiedlich vorgegangenen werden kann. In der Regel gilt, dass die meisten Wahl- oder Stimmkreise aus mehreren kommunalen Bezirken bestehen, dass Delegiertenversammlun208

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte gen (Wahl- oder Stimmkreiskonferenzen) die Direktkandidaten auswählen und die Parteivorstände ihren Einfluss vorwiegend bei der Aufstellung der Landeslisten geltend machen. Die Bundesvorstände haben keinen unmittelbaren Einfluss. Für die bayerischen Landtagswahlen gilt dies auch mit Blick auf die Landesvorstände, weil hier die Bezirkslisten von Bezirksdelegiertenversammlungen beschlossen werden und sie außerdem alle Direktkandidaten nennen müssen, die aufgrund ihrer Erststimmen einen erheblichen Vorsprung vor den Kandidaten haben, die nur auf der Liste genannt sind. Bei der Kandidatenaufstellung der Parteien (vgl. H. Oberreuter/A. Mintzel, 1992; B. Weßels, 1996; F. Brettschneider, 2002 b) ist zu unterscheiden zwischen Personen, die in der Partei auf eine Kandidatur hinarbeiten oder wiedergewählt werden möchten, und denen, die die Partei zur Kandidatur gewinnen will. Gerade für die letzteren gilt, dass die Belastungen eines Wahlkampfs und die Arbeitsbelastung durch das wahrgenommene Mandat groß sind, das Ansehen von Politikern beträchtlich sinkt und die Privatsphäre politischer Funktionsträger nicht sonderlich geschützt ist. Noch mehr scheint es an einer zureichenden öffentlichen Einstellung denen gegenüber zu fehlen, die das Risiko einer Wahlniederlage auf sich nehmen und erst dadurch dem Wähler das Auswählen, also eine Wahl ermöglichen. Dennoch haben die großen Parteien heute meist keine Mühe mehr, die erforderlichen Kandidaten zu benennen. Zwei Entwicklungen kommen ihnen zugute: der zunehmend plebiszitäre Charakter der Landtags- und Bundestagswahlen, durch den das Profil des örtlichen Kandidaten an Gewicht verliert, und die ständig wachsende Besoldung der Abgeordneten, die vielen früher Zögernden den Entschluss zur Kandidatur erleichtert. Faktisch liegt die Kandidatenaufstellung in Händen der relativ kleinen Zahl von aktiven Parteimitgliedern und Angehörigen der engeren Parteiführung. Generell bemüht man sich, bei der Kandidatenaufstellung sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten zu entsprechen. Der Kandidat sollte, wenn möglich, örtlich bekannt sein und außerhalb der Partei über Reputation verfügen. Er sollte zudem diejenigen Wählergruppen vertreten, die man ansprechen will. Schließlich muss die künftige Fraktionsarbeit berücksichtigt werden. Popularität, die zum örtlichen Wahlerfolg verhilft, bedeutet noch nicht, dass sich in der Fraktion genügend Fachleute für die einzelnen Arbeitskreise finden und die Politiker auch überörtlich die Reputation der Partei mehren. Auf der Liste müssen zudem mitgliederstarke Orts- und Kreisvereine berücksichtigt werden, auch ist zwischen den Landesteilen ein Ausgleich herzustellen. Dass eine berufsständische Aufteilung versucht wird und die Liste insgesamt „zugkräftig" sein sollte, versteht sich von selbst. Obgleich bei der Bundestagswahl die örtlichen Kandidaten keine wesentliche Rolle spielen und den Wählern oft sogar unbekannt sind, wirken bei der Aufstellung von Direktkandidaten örtliche Gesichtspunkte mit. So werden fast alle Abgeordneten weniger nach ihren allgemeinen Leistungen in der Partei als vielmehr nach ihren Leistungen im und für den Wahlkreis beurteilt. Das übt einen starken Druck auf die Abgeordneten aus, sich regelmäßig um den Wahlkreis und die Parteiorganisation zu kümmern. Damit fällt es einem Abgeordneten meist auch leichter als einem Neuling, wieder als Kandidat aufgestellt zu werden. Größer ist der Einfluss der zentralen Gremien auf die Landeslisten. In einzelnen Ländern werden gelegentlich fast alle Bundestagswahlkreise von Direktkandidaten einer Partei erobert. Infolgedessen hat die Landesspitze dieser Partei nur insofern Einfluss, als einige wenige Mandate auch nach der Landesliste vergeben werden. Für die Gegenpartei ohne oder mit nur wenigen Direktkandidaten ist das die Liste beschließende Gremium hingegen von ausschlaggebendem Gewicht. Das gilt etwa für Bündnis 90/Die Grünen und die F D P im gesamten Bundesgebiet, da diese Parteien über keinen sicheren Wahlkreis verfügen. Die Liste ist aber für alle Parteien wichtig. Über sie werden vorwiegend notwendige „Aus-

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung gleiche" geschaffen - etwa weibliche Kandidaten aufgestellt - und Verbandswünsche erfüllt, außerdem ist auf ihr oft Parteiprominenz „unterzubringen", die aufgrund ihrer Aufgaben in Berlin nur bedingt Gelegenheit hat, sich um einen Wahlkreis zu bemühen. Die ersten Plätze der Liste müssen ohnehin mit Prominenten besetzt werden, weil nur sie dem Wähler auf dem Stimmzettel und auf dessen Vorankündigungen mitgeteilt werden. Die restlichen Listenplätze bleiben bei der Bundestagswahl „im Dunkeln", der Wähler ist kaum informiert. Betrachtet man die Kandidatenaufstellung für Bundestag und Landtage, fällt der Einfluss der örtlichen Parteigremien auf. Er führt dazu, dass in aller Regel die Bewährung in der Parteiarbeit Vorbedingung der Kandidatur ist. Dabei braucht der Kandidat nicht unbedingt wichtige Funktionen in der Partei wahrzunehmen; diese erhält er vielfach erst aufgrund seines Abgeordnetenmandats und seines damit erfolgenden Eintritts in die Berufspolitik. Eine zweite Vorbedingung ist für die Masse der Kandidaten ein gewisses örtliches Renommée. Es ist selten, dass ein örtlich relativ Unbekannter Kandidat wird. Nur in den kleineren Verhältnissen eines Landes lässt sich dies überspielen. Hier ist häufig auch die Bindung an den Wahlort nicht entscheidend. Dass jeweils für zahlreiche Kandidaten die örtlichen Verhältnisse maßgeblich sind, bedeutet für die Parteien, mit unerwünschten Abgeordneten rechnen zu müssen, bedeutet aber auch, dass die Parteispitze nicht so souverän „steuern" kann. Dabei ist die Möglichkeit zu erwähnen, in kleinen Stimmkreisen mit wenigen Parteimitgliedern die Stimmkreiskonferenz zu unterwandern oder gar zu manipulieren. Auch bei der Aufstellung der Landeslisten versuchen die Parteien, die Direktkandidaten auf der Liste abzusichern, damit Abgeordnete aus den einzelnen Kreisen durch regelmäßige Arbeit die Voraussetzungen dafür schaffen, später einmal direkt gewählt zu werden. Das verstärkt die Tendenz zur Wiederaufstellung von Abgeordneten. Sie besteht auch, wenn immer jüngere Abgeordnete nachrücken, die ihr Mandat längere Zeit behalten wollen und sich entsprechend darum bemühen. Je mehr das der Fall ist, desto enger wird die Bindung der Abgeordneten an die örtlichen Parteigremien und desto stärker bildet sich der Typus des Berufspolitikers heraus, der bemüht sein muss, in der örtlichen Parteiorganisation entscheidenden Einfluss zu erlangen. Die Kandidatenaufstellung ist durch das Parteiengesetz und durch das Wahlgesetz eindeutig geregelt. Dies folgt einer Gesetzgebung, die die Gründung der Parteien zwar uneingeschränkt freigibt, die Teilnahme an der Wahl aber von bestimmten Bedingungen abhängig macht. Diese Bedingungen erfüllen Parteien, die im Bundestag oder in einem Landtag vertreten sind, von vornherein. Wer sich sonst zur Wahl stellen will, muss dem (Bundes-)Wahlleiter und dem ihm zugeordneten Ausschuss Programm und Satzung einreichen und für jede Landesliste 2000 sowie für jeden örtlichen Vorschlag 200 Unterschriften von wahlberechtigten Bürgern beibringen, die in dem betreffenden Land oder Wahlkreis ihren ersten Wohnsitz haben. Jede Unterschrift muss auf einem eigenen Formblatt erfolgen und mit Adresse und Geburtsdatum versehen dem Einwohnermeldeamt zur Beglaubigung vorgelegt werden. Es muss sich mithin um „echte" Listen handeln. Die formale Prüfung steht hier im Vordergrund, so wie in den weiteren Teilen der Wahlgesetze vor allem Formvorschriften dazu dienen, Wahlmissbräuche, Verletzungen der Wahlprinzipien, Zählfehler u.a.m. zu vermeiden. Wahlen in der Bundesrepublik verlaufen daher meist auch ohne jeden Zwischenfall, und in den vielen tausend Wahllokalen kommt es zwar gelegentlich zu Unstimmigkeiten, nur selten aber zu Vorkommnissen, die einen Grund für eine Wahlanfechtung bieten. Ein Problem stellt lediglich die Briefwahl dar, mit der man dem Wähler entgegenkommen wollte, mit der man jedoch eher seine Bequemlichkeit herausgefordert (Briefwähleranteile von mehr als zehn Prozent sind inzwischen die Regel) und Möglichkeiten zum Missbrauch geschaffen

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte hat. Bei der Briefwahl greifen die üblichen Kontrollen nicht. Was sich in einer Wohnung oder Krankenanstalt abspielt, bleibt unbekannt. In der Zusammenfassung sei wiederholt: Unter politischem Aspekt ist zunächst das Wahlsystem von Interesse; darüber hinaus bleibt von Bedeutung, wie die Kandidaten der Parteien aufgestellt werden. Viel hängt auch von der Funktionsfähigkeit des Wahlrechts im engeren Sinne ab, dessen Formvorschriften sicherstellen sollen, dass die Wahlgrundsätze wirklich eingehalten werden. Das Nebeneinander von Inhalt und Form und das Eigengewicht der Form wird am Beispiel des Wahlrechts besonders sichtbar. 2.4.2. Wählerverhalten und Wahlergebnis In oft widersprüchlicher Weise wird nach jeder Wahl sowohl nach den langfristigen Wählergewohnheiten als auch nach den Unterschieden zu früheren Wahlergebnissen gefragt. Die Wahlforschung bemüht sich um gesicherte Daten über Zusammenhänge etwa zwischen Geschlecht, Berufszugehörigkeit, Bildungsstand und dem Wahlverhalten, oder auch über das Potential an Wechselbereitschaft.' 4 Die Parteien wollen möglichst genau über ihre Stammwähler informiert sein und wissen, unter welchen Bedingungen man Wechselwähler wird oder werden kann. Einschlägige Untersuchungen haben deshalb in demokratischen Systemen immer Konjunktur, finden ein großes Echo, fordern aber auch Widerspruch heraus. Im Rahmen der folgenden Darstellung soll dies berücksichtigt werden, ohne ein herausragendes Thema bilden zu können. Die Wahlergebnisse liegen vor; sie sind meist eindeutig im Blick auf die unmittelbaren Konsequenzen und verweisen zugleich auf eine Reihe von langfristigen Entwicklungen, die die Situation und Denkweise der Wähler (wie die der Gewählten) verändert haben. Im internationalen Vergleich liegt danach in der Bundesrepublik die Wahlbeteiligung von den Kommunal- und Landtagswahlen zu den Bundestagswahlen ansteigend - noch immer erfreulich hoch. Die Beteiligungsrate provoziert in der Regel zwei Interpretationen. Die eine, häufig von Parteienvertretern vorgetragen, sieht darin eine immer wieder neue Legitimierung des politischen Systems und der Parteien durch die Wähler. Tatsächlich wird man in einem Land ohne Wahlpflicht eine hohe Wahlbeteiligung nicht einfach als politisch irrelevant abtun können. Dass es sich um eine Art Konsumverhalten, um eine bloße Gewohnheit handele, ist dagegen Ergebnis der zweiten Interpretation, zumeist von (Sozial-) Wissenschaftlern vertreten (vgl. F. U. Pappi, 1970). Eine weitere Variante dieser Diskussion: In der Bundesrepublik wird oft Angst geschürt und entsprechend vor dem politischen Gegner gewarnt, so dass an sich politisch Uninteressierte zu bloßen Angstwählern würden. Nun lässt sich sicher nicht verkennen, dass die Wahlbeteiligung nicht nur politisches Interesse beweist, sondern es in Zusammenhang mit der Wahl Mechanismen gibt, die auch Unpolitische bewegen, zur Wahl zu gehen. Auch hier aber liegen keine eindeutigen Gegebenheiten vor. Jede Mikroanalyse verweist vielmehr auf erhebliche Schwankungen bei der Wahlbeteiligung, die auf vorgängige, von Wahl zu Wahl sich unterscheidende Überlegungen einer nicht geringen Wählergruppe schließen lassen. Frühere Vermutungen, nach denen die Wahlbeteiligung etwa auch vom Wetter abhängig sei oder dass die Wähler bürgerlicher Parteien potenziell bequemer seien als die der SPD, waren noch nie sehr plausibel. Heute wären sie abwegig. 14 Vgl. u.a. H.-D. Klingemann/M. Kaase, 1994; IV. BürklinIM. Klein, 19982; M. KaaselH.-D. Klingemann, 1998; J. W. FalterlH. Schoen, 1999; M. Klein! W. JagodzinskilE. Mochmann/D. Ohr, 2000; H.D. Klingemann/M. Kaase, 2001.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Im Längsschnitt erweist sich allerdings, dass die durchschnittliche Wahlbeteiligung vor allem bei Landtagswahlen in den 1970er Jahren (mit einem Durchschnitt von 80,2 Prozent) ihren Höhepunkt erreicht haben dürfte. So zeigt sich in der geringen Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen 2001/2002 (Rheinland-Pfalz: 62,1 Prozent; Berlin: 68,1 Prozent; Hamburg: 69,2 Prozent; Sachsen-Anhalt: 56,5 Prozent; Mecklenburg-Vorpommern: 70,6 Prozent), dass sich ein bundesweiter Trend zu einer „Partei der Nichtwähler" fortzusetzen scheint; immer weniger Bundesbürger geben bei Landtagswahlen ihre Stimme ab (vgl. T. Kleinhenz, 1995; F. DeckerU. v. Blumenthal, 2002). Die angesprochenen Wahlergebnisse stellen allerdings keinen Rekord dar. Zum Teil beeinträchtigt durch einen ungünstigen Wahltermin machte in Brandenburg (54,3 Prozent, 1999), Nordrhein-Westfalen (56,7 Prozent, 2000) und SachsenAnhalt (56,5 Prozent, 2002) fast die Hälfte der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch. Bei den jüngsten Landtagswahlen lag, mit Ausnahmen von Niedersachsen (73,8 Prozent, 1998) und Mecklenburg-Vorpommern (70,6 Prozent, 2002), die Wahlbeteiligung durchweg unter 70 Prozent. Für die niedersächsische Wahl 1998 muss zudem berücksichtigt werden, dass sie der damalige Ministerpräsident Schröder zu einem „Referendum" über seine Kanzlerkandidatur erhoben hatte, während für Mecklenburg-Vorpommern zu beachten ist, dass die dortigen Landtagswahlen stets mit der Bundestagswahl zusammenfallen. Insgesamt lag die Wahlbeteiligung auf Länderebene seit 1949 noch nie so tief wie bei den erwähnten Wahlen in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt; lange Zeit markierte die baden-württembergische Landtagswahl von 1960 ein Rekord tief, als nur 59 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben. Seit 1980 stieg die Beteiligung bei 62 Landtagswahlen nur noch 17 Mal geringfügig an - zuletzt 2001 in Berlin und Hamburg. Das konkrete Wahlverhalten wird von der einschlägigen Forschung zunächst unter dem Aspekt des Wählers untersucht. 15 Sein Wahlverhalten ist bedingt durch persönliche und soziale Merkmale sowie seine primäre und sekundäre Umwelt, von der die erstere möglicherweise an Gewicht gewinnt, während die letztere besser untersucht ist. Mit Blick auf die sozialen Merkmale des Wahlverhaltens ergeben sich zwei langfristige Konfliktlinien (cleavages) : der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit sowie der zwischen Staat und Kirche. Beide gehen auf die Zeit der Reichsgründung im 19. Jahrhundert zurück. Die Verwurzelung der SPD liegt dabei im Klassenkonflikt, die der CDU/CSU im konfessionellen bzw. nach 1945 im religiösen Konflikt. Die Ausprägung des Klassenkonflikts hat ihren Ursprung in den gesellschaftlichen Veränderungen während der industriellen Revolution. Der konfessionelle Konflikt geht auf den Kulturkampf im Deutschen Reich zurück (vgl. hierzu F. U. Pappi, 1985). Nach dem Zweiten Weltkrieg orientierten sich die entstehenden Parteien - mit einigen Modifikationen - an diesen beiden Hauptkonfliktlinien: Die SPD konstituierte sich erneut als Arbeiterpartei, während mit Gründung der C D U und in Teilen auch der CSU überkonfessionelle Parteien entstanden, die die diesbezügliche Begrenzung des katholischen Zentrums aufhoben und protestantische Bevölkerungsteile aus dem alten Mittelstand integrierten. Für beide Konfliktlinien, die sozio-ökonomische wie die religiös-konfessionelle, spielten soziale Milieus als gesellschaftliche Vermittlungsinstanzen eine wichtige Rolle. Affektive und organisatorische Bindung an die Gewerkschaften verstärkte die Parteipräferenz für die SPD, während praktizierende Christen mit großer Wahrscheinlichkeit zur CDU/CSU ten-

15 Vgl. W. KalteßeiterIP. Nissen, 1980; R.-O. Schultze, 1990; J. W. Falterl Schumann, S.I Winkler, J., 1990; H.-D. KlingemannIM. Kaase, 1994; W. Müller, 1998; W. Jagodzinski/M. Quandi, 2000; M. Klein/M. Pötschke, 2000; /. C. Oedegaard, 2000; J. van Deth/H. Rattinger/E. Roller, 2000; B. Weßels, 2000, 2002; P. GluchowskilJ. GraflU. v. Wilamowitz-Moellendorf, 2001; J. MaierlK. Schmitt, 2002; E. Henning!R. Lohde-Reiff, 2002.

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte dierten. Die Stimmanteile beider Parteien waren somit „in hohem Maße an die sozialstrukturelle Entwicklung der Bundesrepublik gekoppelt" (P. Gluchowskil J. Graf/U. v. Wilamowitz-Moellendorf, 2001, S. 186). In den Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik haben jedoch gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu einer Abschwächung der Prägekraft dieser Konfliktlinien geführt. So ist seit den 1950er Jahren der Anteil der Arbeiter unter den Erwerbstätigen von 50 Prozent (1950) auf 32 Prozent (2002) gesunken, während im Gegenzug der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor von 33 auf 66 Prozent gestiegen ist. Parallel dazu ist der Anteil der Erwerbstätigen im Angestellten- und Beamtenverhältnis von 20 auf über 57 Prozent angestiegen. Es verringerte sich somit die Berufsgruppe, in der die SPD traditionell ihre stärkste Unterstützung fand. Ein zweiter Aspekt gesellschaftlichen Wandels betraf die religiös-konfessionelle Konfliktlinie. Säkularisierungstendenzen haben zu einem Rückgang der Kirchenbindung und der Kirchgangshäufigkeit geführt, ebenso wie zu einer Zunahme weltlicher Orientierungs- und Glaubenssysteme - auf Kosten christlich-kirchlicher Normvorstellungen, mit dementsprechend negativen Auswirkungen auf die Kernwählerschaft der CDU/ CSU. Die Prägekraft der Hauptkonfliktlinien hat also nachgelassen, während mit den neuen Mittelschichten aus Angestellten und Beamten eine überaus flexible Wählergruppe entstand, die „weder in den ökonomischen Interessen und Wertvorstellungen des (,alten') Mittelstandes noch in der stark gewerkschaftlich beeinflussten Arbeiterschaft verankert ist" (H. U. Brinkmann, 1988, S. 25). Die wachsende Gruppe der Angestellten und Beamten und die zunehmende Säkularisierung ließen eine Wählerschaft entstehen, die politisch ungebundener und problemorientierter auftrat und aufgrund der nachlassenden traditionellen Bindungen ihre Parteipräferenzen entsprechend schnell wechseln konnte. Mit anderen Worten: Die Gruppe der Wechselwähler nahm stetig zu. Die interessenbedingte Wahlentscheidung hat an Bedeutung gegenüber der Vermittlung durch soziale Milieus gewonnen (F. U. Pappi, 2002, S. 45). Gänzlich unbedeutend sind die benannten soziostrukturellen Konfliktlinien jedoch auch nicht. So wirken die grundlegenden Konflikte, die beim Übergang zum allgemeinen Wahlrecht im 19. Jahrhundert die gesellschaftlichen Spaltungen wiedergaben, im heutigen Parteiensystem fort und sind „mehr als eine bloße historische Reminiszenz" (ebd., S. 44; vgl. auch U. Feist/H. Krieger, 1987, S. 33ff.; F. U. Pappi, 1990; H.-D. Klingemannl M. Kaase, 1994). Eine Besonderheit ist für Ostdeutschland zu nennen, wo traditionelle Wählerbindungen durch die lange Zeit der Diktaturen abgebaut und sich seit der Einheit nicht neu etabliert haben. Hier gilt stärker noch als für die „alten" Bundesländer, dass „länderspezifisch profilierte personelle und programmatische Politikangebote zu den wichtigsten Orientierungspunkten der Wähler" geworden sind (J. Maier/K. Schmitt, 2002, S. 106; vgl. auch K. Arzheimerl F. W. Falter, 2002). Die individuelle Wahlentscheidung ist - nach dem sozialpsychologischen Ansatz von Campbell - von langfristigen Gegebenheiten der angesprochenen Art sowie von länger- wie kurzfristigen Einschätzungen der politischen Lage und der um den Wähler werbenden Parteien abhängig (A. Campbell/P. Converse, 1960). Mit Blick auf diesen Bereich wird Wahlforschung sehr viel komplizierter. Sie rückt das allgemeine Image von Parteien und ihre jeweilige Kompetenz in bestimmten Problemfeldern der Politik in den Mittelpunkt, sodann die Präferenzen der Wähler für einzelne Problemfelder, weiter die Popularität der Spitzenkandidaten u.a.m. Das alles lässt sich nur über Umfragen erschließen und in methodisch aufwendigen Verfahren mit den Beziehungen zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und dem Wahlverhalten in plausible Zusammenhänge bringen. Die Untersuchungen zu den Bundestagswahlen machen das sehr deutlich (D. Oberndörfer, 1978; II Just/P. Röhring, 1978; M. Kaase, 1977; M. KaaselH.-D. Klingemann, 1983; H.-G. Wehling, 1983; M. KaaselH.-D. Klingemann, 1986;

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung H.-D. Klingemann/M. Kaase, 1994; M. KaaselH.-D. Klingemann, 1998; H.-D. Klingemann/M. Kaase, 2001), zumal dort, wo sie sich auf dem inzwischen erreichten methodischen Niveau der Wahlforschung bewegen, das frühere, meist stärker deskriptive Darstellungen von Bundestagswahlen kaum erreichen konnten (W Hirsch-WeberlK. Schütz, 1957; V. Kitzinger, 1960; B. VogellP. Haungs, 1965 usw.). In den 1950er und 60er Jahren hat sich die potentielle Wählbarkeit aller etablierten Parteien durchgesetzt, als es für eine wachsende Zahl von Wählern möglich wurde, die Barriere zu überwinden, die vorher zwischen einem katholischen Arbeiter und der SPD oder einem engagierten Liberalen und der CDU stand (vgl. P. GluchowskilH. J. Veen, 1979, S. 312ff.). Im Rahmen dieses Prozesses baute die CDU ihre Position auf Kosten der kleineren bürgerlichen Parteien aus und stieß die SPD aus einer potentiellen Minderheitenposition zu absoluten Mehrheiten in einigen Bundesländern und zu Koalitionsperspektiven im Bund vor. Das Fallen von Wählbarkeitsschranken kam also den großen Parteien zugute. Es setzte allerdings den Verzicht auf programmatische und politische Eindeutigkeit voraus. Insofern ist Erfolg immer auch Ursache für potenzielle Misserfolge. Die auf Wählbarkeit zielende Strategie der SPD erleichterte es früheren SPD-Wählern, nunmehr die CDU zu wählen, und erschwerte es auf Konsequenz drängenden Wählern, „bei der Stange zu bleiben". Zugleich nahm die Bedeutung der Stammwähler als einer sicheren Größe ab, während die der Wechselwähler zunahm, wobei ein erheblicher Teil des Wechsels immer auch zwischen den großen Parteien erfolgte. Tendenziell kann man von einer wachsenden Mobilität des Wählers sprechen, die sowohl Änderungen der Parteien und des Parteiensystems als auch Veränderungen in der Sozialstruktur (im weitesten Sinne) voraussetzt. Die Wahlen 1987, die erstmals Verluste der beiden großen und entsprechende Gewinne der kleineren Parteien erbrachten, verstärkten diesen Trend, ebenso die Wahlen im vereinten Deutschland (vgl. Materialband, V/3, 6, 9). Ein Mehr an Flexibilität des Wählers bewirkt aber auch, dass kurz- und mittelfristig wirkende Eindrücke das Wahlergebnis unmittelbar beeinflussen, gelegentlich auch bestimmen. Praktisch braucht das nur zu bedeuten, dass eine relativ kleine Gruppe von Wählern aus den eigenen Gewohnheiten ausbricht und damit aktuelle Trends verstärkt. So wird man die hohe Emotionalisierung etwa in der Bundestagswahl von 1972 nicht unterschätzen dürfen, die vor allem der SPD zugute kam und ihr zum besten Wahlergebnis in ihrer Geschichte verhalf. Wie stark aktuelle Ereignisse ein Wahlergebnis bestimmen können, wurde auch bei der Bundestagwahl 2002 deutlich. Lag die Union von Beginn des Jahres an bis wenige Wochen vor der Wahl in Umfragen noch weit vor der SPD und ergaben Erhebungen, dass die CDU/CSU bei der Lösungskompetenz in den zentralen Themen Wirtschaft und Arbeitsmarkt deutlich vor der SPD rangierte (D. RothlM. Jung, 2002, S. 10f.), kehrten sich die Erfolgschancen zwischen beiden Parteien angesichts der Flutkatastrophe in Ostdeutschland (im August 2002) und der seinerzeit aktuellen Frage einer deutschen Beteiligung an einem möglichen Irak-Krieg um (vgl. D. Roth, 2003, 46f.). Während die Bundesregierung im Rahmen der Hochwasserkatastrophe Handlungsfähigkeit demonstrieren konnte und Bundeskanzler Schröder mit seiner kategorischen Ablehnung einer Kriegsbeteiligung die Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit traf, gelang es der Union nicht, in beiden Fragen überzeugende (Gegen-)Positionen zu beziehen. Je mehr Wahlen im Ergebnis neben festgefügten Strukturen auch von der Beweglichkeit einer größeren Wählergruppe abhängen, desto spannender werden sie, desto genauer betrachten die Parteien die Ergebnisse der Wahlforschung, desto größer wird der Einfluss der Meinungsforschung. Um diesen Einfluss gibt es seit langem mehr oder weniger heftige Auseinandersetzungen, an der früher u. a. Wilhelm Hennis (1968) und Elisabeth Noelle-Neumann 214

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte (1968) teilnahmen. Über die weitere Entwicklung wird man sich bei Edgar Traugott (1970), in den Sammelbänden von Max Kaase und Hans-Dieter Klingemann (1977, 1983, 1986, 1990, 1994, 1998 und 2001) sowie bei Frank Brettschneider (2000) und erneut Kaase (2000) informieren. Dabei ist festzustellen, dass die Zahl der veröffentlichten Wahlumfragen in Zuge der Pluralisierung der Medienlandschaft seit den 1980er Jahren stark angestiegen ist, und alte Diskussionen über eine mögliche Begrenzung der Wählerbefragung in den Wochen vor der Wahl an Bedeutung verloren haben. Diese Entwicklung hat Auswirkungen sowohl auf die Wähler als auch auf die Parteien. Vor dem Hintergrund der abnehmenden Bedeutung traditioneller Sozialmilieus ist auch die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass die Wähler sich der Umfrageergebnisse bedienen und ihre Wahlentscheidung danach ausrichten (vgl. M. Kaase, 2003). Die Strategen der Parteien hingegen nutzen die Umfragen nicht mehr nur zur Informationsbeschaffung, sondern richten zunehmend die öffentlichkeitswirksame Planung politischer Entscheidungen über die gesamte Legislaturperiode an den Ergebnissen der Wahlund Umfrageforschung aus. Der Hauptvorwurf in diesem Zusammenhang lautet, dass Meinungsforschungsinstitute Daten veröffentlichen, deren einschränkende Bedingungen nicht zureichend erklärt oder mitberücksichtigt werden und so nur momentane Stimmungsbilder wiedergeben, die mit dem künftigen Wahlergebnis zu verwechseln sind. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, dass einer Partei ein günstiges Ergebnis prognostiziert wird und viele Beteiligte eine solche Prognose nur als eine Wahl- und Mobilisierungshilfe für die andere Partei betrachten (können). Vereinfacht: Ergebnisse der Meinungsforschung können auf einem von vorheriger Parteinahme bestimmten Weg zustande kommen oder missbraucht werden. Einen Vorwurf in diese Richtung erhob Renate Köcher vom Allensbacher Institut für Demoskopie nach der Bundestagswahl 2002, indem sie behauptete, die Umfragedaten ihres Instituts, die im Vorfeld der Wahl stark von den Ergebnissen der anderen Meinungsforschungsinstitute abwichen und einen sehr deutlichen Vorsprung der Oppositionsparteien prognostizierten, hätten die wahre Stimmung im Land wiedergegeben. Erst die Konsistenz der anderslautenden, die Regierungsparteien begünstigenden Prognosen der restlichen Institute hätten zu einem Meinungsumschwung in den letzten Wochen vor der Wahl geführt, worauf Allensbach nur noch bedingt reagieren konnte (vgl. M. Kaase, 2003, S. 7). Zu einem größeren Problem wird diejenige Meinungsforschung, die eine sich verändernde politische Einschätzung von Befragten mit Annahmen über Ursachen kombiniert. Hier hat sich in der Bundesrepublik vor allem E. Noelle-Neumann hervorgetan - nach der Bundestagswahl 1972 mit der Theorie der „Schweigespirale" und nach der Bundestagswahl 1976 mit der Behauptung, einen erheblichen Einfluss des Fernsehens auf die Wahlentscheidung nachweisen zu können, der in diesem Falle der SPD zugute gekommen sei (heute grundlegender E. Noelle-Neumann, 1990). Die „Schweigespirale" beruhte auf der einfachen Annahme, dass Siegesgewissheit eher als Ungewissheit gezeigt wird und zu einem Meinungsklima führt, in dem die sich unterlegen Fühlenden eher schweigen. Auf Bundestagswahlkämpfe angewandt provozierte das den Einwand, dass angesichts sehr unterschiedlicher Parteienlandschaften und -hochburgen auch unterschiedliche „Klimata" eine Rolle spielen müssten. Noelle-Neumann ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Sie konstruierte später einen Unterschied zwischen der Meinung von Journalisten und derjenigen der Öffentlichkeit, behauptete, die Journalisten seien frühzeitig von einem Wahlsieg der sozialliberalen Koalition im Jahre 1976 ausgegangen und hätten dies vor allem im Fernsehen zum Ausdruck gebracht, was zu Diffusion und Unsicherheit auch bei engagierten CDU-Sympathisanten und zu einem doppelten Meinungsklima geführt habe (vgl. E. Noelle-Neumann, 1977, S. 408), in dem es zum Sieg der sozialliberalen Koalition gekommen sei. Hier werden mehrere Ergebnisse eigener Untersuchungen miteinander kombiniert: längere Zeit vor der

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Wahl stärkere Neigung zur C D U als am Wahltag; andere Einschätzungen bei Journalisten; Auswirkungen dieser Journalisteneinschätzung auf die Tätigkeit in den Medien; Einfluss der Medien auf die Wahlentscheidung. Dass sich dabei viele methodische Probleme vor allem mit Blick auf die Formulierung der Fragen ergaben und man Noelle-Neumann wiederholt Nachlässigkeiten vorwarf (vgl. ζ. B. Der Spiegel 43/1978), sei nur erwähnt. Die politisch-praktischen Folgen der wahlbezogenen Umfrageforschung liegen auf der Hand. Einschlägige Thesen werden von in der Wahl unterlegenen Parteien gern übernommen und verstärken damit den Druck auf die Journalisten in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, zumal hier die Forschung schnell beliebig werden kann. Als man 1976 feststellte, dass im Fernsehen die beiden Kanzlerkandidaten weithin „ausgewogen" gezeigt wurden und Journalisten ihre (etwaige) eigene Meinung deutlich hintangestellt hätten, wurde darauf hingewiesen, dass es nicht nur auf die Journalisten, sondern in erheblichem Umfang auch auf die Kameraleute ankäme (vgl. H. M. Kepplinger, 1980). Die unmittelbare Wirkung einschlägiger Forschungen ist unstrittig, ihr Einfluss auf das Meinungsklima dementsprechend groß (s. auch die Beiträge in: F. Plasser/P. Ulram/M. Welan, 1985). Ob die Untersuchungsergebnisse dagegen vom Ansatz her tragfahig sind, bleibt offen. Ihnen steht jedenfalls der entscheidende Einwand entgegen, dass hier isolierte Zusammenhänge konstruiert werden, die sich im komplexen Kommunikationsprozess in Wahrheit gar nicht auffinden lassen, eben weil man sie nicht isolieren kann. Mit Blick auf spätere Wahlkämpfe erscheint dabei die bedrückende Vision denkbar, dass Zeitungen und Zeitschriften unverblümt Partei ergreifen, die öffentlich-rechtlichen Anstalten dagegen zu einer völlig sterilen Berichterstattung verurteilt sind und viele Beteiligte letztlich das Bild vom unmündigen, jederzeit beeinflussbaren Wähler vor Augen haben.

2.4.3. Wahlkampf und politischer Wettbewerb Moderne Wahlkämpfe werden unter den heutigen Bedingungen von allen Parteien in vergleichbarer Weise vorbereitet und durchgeführt. Die Wahlkampfplanung muss berücksichtigen, dass ein großer Apparat über mehrere Monate hin bewegt sein will, man die Themenbereiche nicht allzu früh verschleißen darf, die verfügbaren Mittel rechtzeitig einsetzen sollte und sich zugleich darauf einstellen muss, durch das Verhalten des Gegners oder durch aktuelle politische Ereignisse gestört und zu flexiblen Reaktionen gezwungen zu werden. Eine solche Planung kann nur in der jeweiligen Parteizentrale erfolgen. Sie setzt einen Stab, die Verfügung über einen beträchtlichen Teil der Mittel, die Zusammenarbeit mit Werbeagenturen und anderes voraus, vor allem aber professionelle Akteure, die langfristig nüchtern planen, was später als heftige Emotionalisierung oder Erregung sich abspielen soll. Die strategische Planung eines Wahlkampfs ist für alle Parteien ähnlich und lässt sich in fünf teils ineinandergreifende Stufen unterteilen: Programmentwicklung, Kandidatenpräsentation, Bestimmung der politischen Themen, Mobilisierung der Anhänger und Wählerwerbung (vgl. unter vielen U. v. Alemann, 2003, S. 154). Jeder Stufe werden bestimmte Ziele und Mittel zugeordnet und entsprechende Serviceleistungen vorbereitet. Zu ihnen gehören etwa das Bereitstellen von Plakaten, finanzielle Hilfen, Informationen oder Argumentationshilfen. Vor Ort muss ein solches Angebot vom Kandidaten und seinem Wahlkampfleiter „verarbeitet" werden. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Parteipublikationen. Sie müssen aus Kostengründen zentral hergestellt und können allenfalls mit einer lokalen Einlage versehen werden. Ihre Herstellung braucht Zeit; bei Änderungen in der Wahlkampfstrategie kann sich das negativ auswirken. Auch die notwendigerweise langfristige Terminplanung für die prominenten Politiker einer Partei, die ebenfalls zentral erfolgen muss, und der meist ein

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2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte hartes Ringen zwischen den unteren Parteiorganisationen vorausgeht, macht die einmal beschlossene Planung inflexibel. So kommt alles darauf an, dass man den Einsatz von Parolen, Mitteln und Personen einerseits so sorgfaltig wie möglich vorbereitet, andererseits sich aber auch auf Überraschungen gefasst macht: Adenauer etwa reagierte auf den Mauerbau in Berlin 1961 höchst ungeschickt; die SPD war 1976 nicht auf das Rententhema vorbereitet; die F D P musste 1980 mühsam taktieren, als der Wahlkampf auf eine große Polarisierung hinauslief, an der sie nicht beteiligt war. Dass Taktik allein nichts nützt, bewiesen dagegen die Wahlen im Herbst 1982, in der die FDP, trotz eines scheinbar großen Erfolges in Bonn, in Hessen und Bayern die parlamentarische Bühne verlassen musste, und auch Johannes Raus Erfahrungen als Kanzlerkandidat 1987 deuten darauf hin, dass die Anlage erfolgreicher Landtagswahlkämpfe nicht ungestraft auf Bundestagswahlkämpfe zu übertragen ist. Die jeweilige Wahlaussage spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Das gilt planerisch, weil man einen „roten Faden" braucht, an dem sich die Herstellung der Wahlkampfmittel, der Transparente, der Anzeigen, der Fernsehspots u.a.m. orientieren kann. Es gilt aber mehr noch inhaltlich, weil die zentrale Wahlaussage vor allem für die Mitglieder noch etwas bedeutet. Sieht man von den umfangreichen Wahlprogrammen einmal ab, die zustande kommen, um eine präzise Zielgruppenarbeit leisten zu können, deuten die Wahlkampfparolen gelegentlich sehr genau den Kurs an, den man im Wahlkampf und danach steuern will. „Keine Experimente" (1965 CDU) oder „Auf den Kanzler kommt es an" (1969 zugunsten von Bundeskanzler Kiesinger) deuteten auf eine eher zurückhaltende Strategie von Regierungsparteien, während die „Freiheit oder Sozialismus"-Parole die offensive Strategie einer Oppositionspartei deutlich machte, auf die übrigens 1976 die SPD, die mit ihrem „Modell Deutschland" in die Schlacht ziehen wollte, ausgesprochen unsicher reagierte, so wie sich auch 1980 „Sicherheit für Deutschland" nicht gerade stimulierend für die SPD auswirkte. Polarisierende Slogans wie 1976 und 1980 („Den Sozialismus stoppen", CDU/CSU) sind jedoch bislang die Ausnahme geblieben. In den letzten Wahlen häuften sich entweder Aussagen, die so allgemein gehalten waren, dass jeder ihnen zustimmen konnte („Gemeinsam schaffen wir es", CDU/CSU 1990), oder Appelle, die weitgehend inhaltsleer blieben („Wir sind bereit", SPD 1998; „Zeit für Taten", CDU/CSU 2002; „Außen Minister - innen grün", Bündnis 90/Die Grünen 2002). Einen Höhepunkt solcher an die Gefühlswelt appellierender Darstellungen war sicher das 1994 von der C D U eingesetzte vollkommen textfreie Plakat mit einem „in der Menge badenden" Helmut Kohl. Dennoch scheinen Wahlkampfmottos noch immer unentbehrlich. Sie stellen oft eine erkennbare Schwerpunktsetzung dar, die im Wahlkampf eine große Rolle spielt und damit die konsequente Durchführung der Wahlkampfplanung erleichtert, die aber auch unbeachtet bleiben kann. Eine besondere Schwierigkeit bereitete dieses Problem immer der FDP, die Wahlaussagen lange durch Koalitionsaussagen ersetzen musste. Sie können entweder auf Selbstverständliches verweisen - so als die F D P 1980 für Bundeskanzler Helmut Schmidt ins Feld zog - , weil es keine Handlungsalternative gibt, oder aber einen Kurswechsel oder auch Bündnisbereitschaft andeuten, eine allerdings risikoreiche Option. Die Wahlkampfaussagen und die strategischen Wahlkampfziele müssen nicht übereinstimmen. „Strategisch" handelt es sich hier meist um den Ausweis von Maximalzielen. Man will stärker werden, eine absolute Mehrheit (des politischen Gegners) verhindern, die FünfProzent-Hürde überwinden, an der Regierung beteiligt werden oder bleiben. Aus diesen Zielen ergeben sich Handlungsnotwendigkeiten. Wer eine Koalition anstrebt, wird den denkbaren Partner nicht nachhaltig bekämpfen. Wer um die eigene Stärke besorgt ist, wird einen parteibezogenen Wahlkampf führen, und wer den Hauptpartner in einer Regierungskoalition bildet, wird sich vorwiegend mit der Opposition anlegen, aber den kleineren Partner

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung als nicht gleichberechtigt behandeln, weil sonst Stimmen zu ihm abwandern könnten. Ziele dieser Art liegen meist auf der Hand, auch wenn man sich vor der Wahl nur zu den Maximalzielen bekennt. Weniger deutlich sind oft die Zusammenhänge zwischen Zielen und Wahlkampfstrategie und -taktik. Das kann mit einer gewissen Zielunklarheit zusammenhängen. In den Vorphasen des Wahlkampfes kann noch unsicher sein, was sich später erwarten lässt. Zu den wichtigsten Zielen eines jeden Wahlkampfes gehört in jedem Fall die Mobilisierung der eigenen Anhänger oder Sympathisanten. So sehr man sich an einzelne Zielgruppen wendet, Wechselwähler für sich zu gewinnen sucht, potentielle NichtWähler anspricht: Wahlerfolge beruhen entscheidend darauf, dass ein möglichst großer Teil der denkbaren Parteigänger nicht nur zur Wahl geht, sondern seine Bereitschaft dazu auch zeigt, für seine Überzeugung eintritt. Gegenüber solcher Identifikationsbereitschaft wiegen die üblichen Wahlkampfmittel nicht sehr viel. Ihre Herstellung und Verteilung erfordert meist ungewöhnlich hohe Geldaufwendungen. Der Wert der großen Anzeigenkampagnen ist umstritten. Aber auch die Luftballons, Kugelschreiber, Feuerzeuge, Spielkarten, kurz: die Parteidevotionalien unterliegen immer wieder dem Verdacht, dass man den Wähler nicht ganz ernst nimmt. Ob die großen Postwurfsendungen, die Sonderillustrierten und schließlich und vor allem die Plakatierungen viel bringen, ist ungewiss. Die Parteizentralen unterscheiden auch deutlich zwischen einer Binnen- und einer Werbewirkung. Die Parteidevotionalien werden nur durch eigene Mitglieder an den Mann/die Frau gebracht. Sie sind ggf. eher zum Einsatz bereit, wenn sich ein gewisser Aufwand treiben lässt. Geschenke werden nur selten direkt abgelehnt, der Kandidat, der Blumen in der Parteifarbe verteilt, stößt nur selten auf Widerspruch. Kinderfeste der Parteien, für die durch Luftballons geworben wird, finden ihren Zulauf. Der Zulauf wiederum vermittelt ein gewisses Erfolgsbewusstsein. Aktionen motivieren nicht zuletzt die Mitglieder, von denen viele sich am Straßenrand und im direkten Gespräch lieber auf Allgemeinplätze einlassen als auf tiefgründige politische Diskussionen. Der Wahlkampf erzwingt offenbar ein gewisses Maß an Banalität, die Wahlkampfmittel entsprechen ihm. Wahlkämpfer und Wahlhelfer bestimmen das äußere Bild. Die Direktansprache wird bevorzugt. Versammlungen „ziehen" meist mehr, wenn ihnen ein gewisser „Show-Charakter" zukommt, gleichgültig, ob über Musik und Darbietungen oder über die große Zahl von Beteiligten vermittelt, die ein Prominenter anzieht. Dennoch setzt sich die normale Wahlversammlung immer wieder durch. Der örtliche Kandidat tritt als Redner auf. Seine Parteifreunde hören ihm zu. Interessierte und ggf. ein paar Gegner bestimmen die Atmosphäre. Man verschafft sich einen persönlichen Eindruck, beurteilt das Reaktionsvermögen des Kandidaten, ist am Prozess der Themendiffusion beteiligt. Die Standardreden der Kandidaten variieren, weil die Wahlkampfplanung die eigenen Themen zwar vorbereiten kann, orts- und persönlichkeitsbezogene Aussagen aber hinzutreten. Die Wahlversammlung allein gewährleistet auch die Flächendeckung. Zur normalen Plakatierung tritt die örtliche Ankündigung; die Presse nimmt Notiz. Mit all dem verbindet sich viel Ritual, das man aber in den Veranstaltungen der Parteispitze auf andere Weise wiederfindet. Die Art, wie man sie empfängt und vorher für „massenhaften" Zulauf sorgt, die Aussagen, mit denen man Gelächter oder Empörung hervorruft, unterscheiden sich von Partei zu Partei nur wenig. Auch die Standardreden der Prominenten nähern sich mehr und mehr an. Die Ritualisierung nimmt dann im Laufe des Wahlkampfs zu, weil sich bei den Akteuren Gewohnheiten herausbilden, sich ihre Variationsmöglichen erschöpfen, sie überhaupt zunehmend unter Erschöpfung leiden. Wer als lokaler Kandidat 100 bis 150 öffentliche Auftritte hinter sich hat, oder wer als Spitzenkandidat wochenlang im „Großeinsatz" war - oft mehrmals täglich - , muss psychisch wie physisch Wirkung zeigen. Es gibt nur wenige geborene Wahlkämpfer. 218

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte Was abgesehen von den langfristigen Erfahrungen der Wähler im Wahlkampf an Wahlkampfmethoden wirkt und welche Wahlkampfmittel wirklich werben, ist ungewiss. Deshalb scheuen die Parteien keine Kosten und setzen das Instrumentarium in voller Breite ein. Man wird aber vermuten können, dass zum einen die direkte Begegnung mit dem Kandidaten und zum anderen die Selbstdarstellung der Spitzenkandidaten in den Medien ausschlaggebend sind (U.v. Alemann, 2003, S. 156). Trifft diese Vermutung zu, wäre ein großer Teil des Aufwandes für Wahlkampfmittel pure Verschwendung, während der persönliche Auftritt vor Werkstoren oder S-Bahnhöfen, der Straßenwahlkampf und die Hausbesuche, die Versammlungen mit Sachthemen und offener Diskussion, die Information über den Kandidaten und die Grundzüge des Wahlprogramms sowie die persönlich gestaltete Zielgruppenarbeit das kurzfristig zu beeinflussende Ergebnis des Wahlkampfes stärker bestimmen. Jene Vermutung hängt auch mit der Erfahrung zusammen, dass die aufwendigen Wahlkämpfe, mit denen man 1957 begann, eine gewisse Entpolitisierung signalisierten, während man seit den 1970er Jahren eine deutliche Re-Politisierung feststellen kann. Die Rentenproblematik von 1976, die Staatsschulden von 1980, der Koalitionswechsel 1983, die vermeintliche RotGrüne-Gefahr 1987, das Verhältnis zur Wiedervereinigung 1990 wie 1994 sowie die Arbeitslosigkeit und das schwache Wirtschaftswachstum 2002 waren Themen, denen man nicht ausweichen konnte und die sich für eine Polarisierung besonders eigneten, weil man Schuldzuweisungen formulieren konnte. Politisierung zwingt zur Argumentation. Das gute Argument lässt sich nicht mit dem Kugelschreiber verkaufen. Die Parteien haben also Gründe, über eine veränderte Wahlkampftaktik nachzudenken. Der Wahlkampfplanung entziehen sich eine Reihe von spezifischen Hilfen, die die Parteien erfahren. Am umstrittensten ist dabei der Einsatz des Regierungsapparats. Niemand kann und will verhindern, dass der Regierungschef seinen Amtsbonus nutzt und etwa außerhalb der vereinbarten und in Zeilen und Sekunden auszurechnenden Sendezeiten seinen Regierungsgeschäften nachgeht, nicht zuletzt mit dem Ziel, die Berichterstattung darüber in den Dienst des Wahlkampfes zu stellen. Niemand kann auch verhindern, dass politische Entscheidungen mit Blick auf den Wahltag terminiert werden - der Abschluss des Grundlagenvertrages im Spätherbst 1972 bietet hierfür ein Beispiel. Stärker kritisiert wurden dagegen die Wahlgeschenke früherer Zeiten. Von den Parteien gern gesehen, für sie aber nicht voll kalkulierbar, sind die unterschiedlichen Wählerinitiativen und ihre Aktionen. Sie gehen auf amerikanische Vorbilder zurück, nahmen in der Bundesrepublik ihren Ausgang beim außerparteilichen Einsatz von Schriftstellern und Künstlern für die SPD und bürgerten sich dann ab 1972 in allerdings abnehmender Variationsbreite ein. Inwieweit sie jeweils spontan zustande kommen oder von Parteien doch gesteuert sind, etwas mit zusätzlichem Geld für die politische Auseinandersetzung zu tun haben oder inzwischen einfach einer Gewohnheit entsprechen, wird man nicht immer entscheiden können. Das Instrument gehört jedenfalls zu modernen Wahlkämpfen. Der Wahlkampf der Verbände hat demgegenüber eher an Bedeutung verloren. Noch immer stellen Verbände den Kandidaten, mit denen sie sympathisieren, ein Podium oder ihre Presse zur Verfügung. Noch immer versucht sich auch der DGB in „Wahlprüfsteinen" oder anderen Fragen an die Parteien. Noch immer gibt es Hirtenbriefe der Katholischen Kirche zur Wahl. Angesichts der Veränderungen der Verbändelandschaft und damit auch ihrer politischen Zuordnung übt das aber wohl weniger Wirkung aus als früher. Zwar fiel 1980 auf, dass die Katholische Kirche, die sich in den Wahlen zuvor meist mit eher unverbindlichen Aufrufen zur Wahlpflicht begnügt hatte, nunmehr wieder deutlich Partei für die C D U und die CSU nahm; das war nach den Beschlüssen des II. Vatikanischen Konzils von 1965 für 219

III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung manche etwas überraschend und wurde sogleich auch mit einem personellen Wechsel in der Bundesrepublik erklärt. Alle Beobachter waren sich aber einig, dass diese Verhaltensweise der Katholischen Kirche das Wahlergebnis nicht nachhaltig beeinflussen werde. Ähnliches gilt für die Aktivitäten des DGB. Das Verbändesystem erscheint trotz der ihm aufgezwungenen Flexibilitäten heute weniger beweglich als die Wählerschaft. Einen erheblichen Bedeutungsgewinn haben demgegenüber die Medien (vgl. u. a. R. Mathesl U. Freisens, 1990; K. KoszykIJ. Prause, 1990; P. Schrott, 1990; B. Pfetsch/K. Voltmer, 1994; C. Holtz-Bacha, 2002; F. Brettschneider, 2002 a) erfahren, gleichgültig, ob sie ein Instrument bieten, das die Parteien mehr oder weniger geschickt nutzen, oder ob sie selbst eine kritische und meinungsbildende Funktion bewahren. Dem Instrument traten die Parteien bis Ende der 1980er Jahre unterschiedlich gegenüber. Während die öffentlich-rechtlichen Medien zuweilen barsch zur Ausgewogenheit und zum kostenlosen Angebot von Sendezeiten aufgefordert wurden, blieb der Umgang mit den Printmedien traditionellerweise zurückhaltender. Mit dem Aufkommen kommerzieller Sender und der anschließenden Diversifizierung der Programmformate wandelte sich jedoch auch der Umgang der Parteien mit den Funk- und Fernsehmedien. Die Parteien überprüften ihr Forderungsverhalten und bemühen sich seitdem zusehends, ihre Darstellung und Inhaltsvermittlung an die Regeln moderner Fernsehunterhaltung, mithin den Programmvorstellungen der Sender, anzupassen. Dabei ist eine Doppelstrategie erkennbar: Zum einen setzen Parteien mit Anzeigen und Werbespots, den paid media, von sich aus Akzente, zum anderen nutzen sie zunehmend die (kostenlose) Nachrichten- und Zeitungsberichterstattung, die free media. Dazu muss es ihnen gelingen, Ereignisse zu schaffen, über die die Medien anschließend berichten. Traditionellerweise sind dies Pressekonferenzen und Pressemitteilungen, aber auch Grundsteinlegungen, Spatenstiche oder Autobahneröffnungen. Der Wahlkampf 2002 hat darüber hinaus verdeutlicht, dass die Parteien zunehmend populäre Fernsehsendungen als Medium entdeckt haben, um politische Inhalte zu vermitteln und parteipolitische Inszenierungen zu betreiben. Die einschlägigen Fernseh-Talkshows seien hier an vorderster Stelle genannt. Im Gegenzug entfalten die Fernsehmedien ihre Wirksamkeit nicht mehr über eine an politischen Lagern ausgerichtete Frontstellung, sondern durch die Bereitstellung einer Plattform zur medialen Entfaltung (T. Bruns, 2003, S. 97). Hier lassen sich Konvergenzen zu den Printmedien feststellen. Um eine gewisse Neutralität bemühte Tageszeitungen werden sich auch weiterhin im Wahlkampf nicht aus der Reserve locken lassen und das Zeilenzählen als Ersatz für eine eigene Berichterstattung begreifen. Über die denkbare kritische Funktion von Medien sei hier nicht reflektiert. Selbstverständlich gibt es in der Bundesrepublik Zeitungen, die auch Hintergründe eines Wahlkampfes erörtern, Wahlkampfplanungen vorstellen, in Stilfragen Position beziehen und prominente Wahlkämpfer nicht aus der Kritik entlassen. Es gibt auch die eine oder andere Veranstaltung öffentlich-rechtlicher wie kommerzieller Sender, die man so einordnen kann. Insgesamt muss man eher den Eindruck gewinnen, dass Anstalten und Zeitungen gerade während des Wahlkampfs zu bloßen Bühnen werden, zu unkritischen Vermittlern, die vielfach nur ihre technischen Möglichkeiten zur Verfügung stellen. In der Entwicklung der Bundesrepublik gab es Wahlkämpfe unterschiedlichster Art. Einige wirkten eher schicksalhaft, einige waren eher dem Show-Geschäft verwandt; hier standen die Ergebnisse von vornherein fest, dort ging es um Entscheidungen am Wahltag selbst; manchmal dominierte ein Thema, während zu anderer Zeit die Palette größer war oder die eigenen Themen von weltpolitischen Ereignissen überlagert wurden. Wenngleich in der Vergangenheit wirtschafts- und sozialpolitische Probleme in den Wahlkämpfen stark dominierten, erscheint die Hoffnung auf eine Prognostizierbarkeit von Wahlen noch immer 220

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte vergleichsweise naiv: zu komplex die zu berücksichtigenden möglichen Themenbereiche, zu fluktuierend das öffentliche Interesse, zu gefährdet der gesellschaftliche Konsens. Bedenkt man darüber hinaus, dass die Mobilität der Wählerschaft sich verstärkt hat, Werte und Einstellungen eher flexibel geworden sind und schließlich der moderne Staat eine Vielzahl neuer und zum Teil unvorhergesehener Probleme erzeugt, ist Skepsis gegenüber einem allzu technischen Verständnis von Wahlkämpf und Wahlvorgang angezeigt. Positiv formuliert könnte dies dazu führen, dass die Wahlentscheidung wieder zu einer wirklichen Auswahl unter Alternativen werden könnte, negativ gesehen bleibt der Verweis auf das Spannungsverhältnis zwischen täglichem Steuerungsbedarf und punktueller demokratischer Legitimation. 2.4.4. Anmerkungen zur Bundestagswahl 2002 Erste Interpretationen und Kommentare zum Ausgang der Bundestagswahl 2002 hoben deren Ausnahmecharakter hervor. Demnach sei das Wahlergebnis nicht nur das „knappste seit der Wiedervereinigung" (Forschungsgruppe Wahlen, 2002), sondern auch Ausdruck der „Ratlosigkeit" (Die Zeit vom 26.09.2002, S. 3). Da sich solche ersten Kennzeichnungen von Wahlresultaten „nicht selten als voreilig und irreführend herausstellen" (R.-0: Schultze, 1994, S. 336), werden im Folgenden die wichtigsten Ergebnisse der Bundestagswahl nochmals zusammengefasst und analysiert. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, inwiefern die Wahlergebnisse bedeutsame Veränderungen der politischen Wettbewerbsstruktur widerspiegeln oder Kontinuitäten zu früheren Bundestagswahlen überwiegen (vgl. zu Folgendem F. Grotz, 2003; Materialband, V/3). Betrachtet man die Wahl 2002 im Zeitvergleich, ist die Charakterisierung als „knappstes Wahlergebnis seit der Wiedervereinigung" zumindest präzisierungsbedürftig. So siegte 1994 die schwarz-gelbe Koalition unter Helmut Kohl mit einem noch geringeren Stimmenvorsprung über die parlamentarischen Oppositionsparteien als das rot-grüne Bündnis 2002: 1994 entfielen auf CDU/CSU und F D P 48,3 Prozent der Stimmen, auf SPD, Grüne und PDS 48,1 Prozent; 2002 erhielten SPD und Grüne 47,1 Prozent, CDU/CSU und F D P dagegen 46,7 Prozent (die PDS wurde hier wegen des Scheiterns an der Sperrklausel nicht berücksichtigt). Darüber hinaus musste Kohl in seiner letzten Amtszeit mit einer Bundestagsmehrheit von nur fünf Mandaten auskommen - derselben Mehrheit, über die die zweite Regierung Schröder seit Beginn der 15. Wahlperiode verfügt. Richtig ist allerdings, dass die großen Parteien bei Bundestagswahlen noch nie so dicht beieinander lagen: Der Abstand zwischen SPD und CDU/CSU betrug bundesweit lediglich 6.027 Zweitstimmen, weniger als 0,02 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Gewinne und Verluste beider Parteien stellen sich je nach zeitlichem Bezugspunkt unterschiedlich dar. Im Vergleich zu 1998 gewann die CDU/CSU deutlich an Stimmenanteilen hinzu (3,3 Prozentpunkte), während die Sozialdemokraten einen nennenswerten Teil ihrer Wählerschaft verloren (2,4 Prozentpunkte). War der rotgrüne Wahlsieg vier Jahre zuvor „nahezu allein von der SPD getragen" ( U. Feist!H. -J. Hoffmann, 1998, S. 233), konnte die amtierende Regierungskoalition 2002 ihre Parlamentsmehrheit nur aufgrund des Stimmenzuwachses der Grünen sowie des Scheiterns der PDS an der Sperrklausel knapp behaupten. Der Langzeitvergleich (1949-1998) zeigt indes ein anderes Bild. Hier lag die SPD nicht nur über ihrem Durchschnittsergebnis, sondern erzielte sogar das zweitbeste Resultat seit Ende des „Zweieinhalb-Parteiensystems" 1983. Umgekehrt blieb die Union 2002 klar unter ihrem langjährigen Durchschnitt (5,6 Prozentpunkte), gelang es ihr nicht, die traditionelle „Asymmetrie" (0. Niedermayer, 1998, S. 24ÍT.) im bundesdeutschen Parteiensystem nach der desaströsen Wahlniederlage von 1998 wiederherzustellen.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Interpretiert man diese Annäherung von SPD und CDUICSU im Rahmen der politischen Wettbewerbsstruktur, so kann sich mit Blick auf die inhaltliche Profilierung keine der beiden Parteien als „Wahlsieger" betrachten; das Ergebnis ist „weder als klare Aufforderung zum Abdanken noch als Anerkennung für geleistete Arbeit" (infratest dimap, 2002) zu interpretieren. Bezüglich der formalen Struktur des Parteiensystems ist hingegen festzuhalten, dass sich die Stimmenanteile beider Parteien nach den „Erosionserscheinungen" (O. Niedermayer, 1998, S. 25) der 1980er Jahre bereits seit der Wiedervereinigung nicht nur zunehmend stabilisierten, sondern auch - ähnlich wie in den 1970er Jahren - eine größere Symmetrie aufweisen. Für die politische Mehrheitsbildung im Fünfparteiensystem ist daher die „neue Asymmetrie" (P. Graf Kielmansegg, 2002) um so bedeutsamer, die weniger auf den Stimmenanteilen von CDU/CSU und SPD als auf deren Koalitionsoptionen mit den kleinen Bundestagsparteien beruht. Obwohl FDP und Bündnis 90/Die Grünen im Vergleich zu 1998 Stimmenanteile von ähnlicher Größenordnung hinzugewannen (1,2 bzw. 1,9 Prozentpunkte), stellt sich dieses Resultat jeweils unterschiedlich dar. Während die FDP an ihrem selbstgesteckten Ziel, sich zu einer liberalen Volkspartei zu entwickeln („Projekt 18"), mehr als deutlich scheiterte, erzielten die Grünen ihr bislang bestes Bundestagswahlergebnis. Das für beide Parteien unerwartete Abschneiden - noch im August 2002 lag die FDP in den Wahlumfragen aller führenden Meinungsforschungsinstitute mit klarem Abstand vor den Grünen - ist kaum auf deren programmatische Positionen zurückzuführen. Zwar wurde den Grünen in Umfragen eine hohe Kompetenz in den von ihnen geführten Regierungsressorts (Umwelt, Verbraucherschutz, Außenpolitik) bescheinigt, doch verfügte auch die FDP über ein beträchtliches positives Image als „Steuersenkungspartei" (infratest dimap, 2002). Eher dürften unterschiedliche Wahrnehmungen des politischen Personals die jeweiligen Ergebnisse beeinflusst haben. So profitierten die Grünen von der Beliebtheit ihres Spitzenkandidaten, Joschka Fischer, die FDP hingegen sah sich angesichts der erratischen Verlautbarungen des stellvertretenden Parteivorsitzenden, Jürgen Möllemann, mit deutlichen Vorbehalten konfrontiert. Allerdings dürfte die Interpretation, der zufolge das FDP-Resultat als „Quittung für das Treiben ihres ewigen Querschlägers Möllemann" (Neue Zürcher Zeitung vom 23.09.2002) zu verstehen sei, nicht nur zu einseitig sein, sondern auch bedeutsame Veränderungen im taktischen Wählerverhalten übersehen. So kam es insgesamt zu einem wesentlich häufigeren Stimmensplitting zugunsten der Grünen als zugunsten der FDP - in Umkehrung der Situation von 1998. Der Verzicht auf eine klare Koalitionsaussage hat hier offensichtlich den Liberalen geschadet. Zwar schien diese „Offenheit" angesichts der strategischen Position der FDP zwischen den großen Parteien zweckrational, doch ging sie faktisch an der mehrheitlichen Präferenz der FDP-Wähler für eine schwarz-gelbe Regierung vorbei (Forschungsgruppe Wahlen, 2002). Dass das liberale Wählerpotential 2002 deutlich höher lag, dokumentiert nicht nur die Anzahl der FDP-Erststimmen, die sich gegenüber 1998 fast verdoppelte (von 3,0 Prozent auf 5,8 Prozent); bei einem „normalen Anteil taktischer Wähler hätte die FDP [...] gut 9 Prozent erreichen können" (E. Noelle, 2002, S. 12). Umgekehrt verzeichneten die Grünen erstmals ähnlich viele „Leihstimmen" wie die FDP bei früheren Bundestagswahlen. Ob sich dieser „Rollentausch" für künftige Wahlen verfestigt, hängt indes nicht nur von Positionsbestimmungen der kleinen Parteien, sondern auch vom strategischen Verhalten von SPD und CDU/CSU ab. Auch das Abschneiden der PDS zeichnete sich erst in den letzten Wochen vor der Wahl ab. Die SED-Nachfolgepartei erhielt nicht nur weniger Stimmen als 1998 (4,0 Prozent statt 5,1 Prozent), sondern verlor aufgrund von nur zwei Direktmandaten auch den Fraktionsstatus. Stellt dieses Resultat tatsächlich einen „Einbruch" dar, ist die PDS mehr als zuvor als ost222

2. Organisation der politischen Beteiligung: Strukturen, Prozesse, Inhalte deutsche Regionalpartei anzusehen? In Beantwortung dieser Frage gilt es zunächst zu erinnern, dass die PDS 1998 erstmals die gesamtdeutsche Fünf-Prozent-Hürde knapp übersprang, während sie in den beiden vorangegangenen Wahlen lediglich durch wahlgesetzliche Sonderregelungen eine größere Anzahl von Mandaten erhielt: 1990 profitierte sie von der (einmalig) regional geteilten 5 Prozent-Sperrklausel (2,6 Prozent der Mandate bei 2,4 Prozent der Stimmen), 1994 wurden ihr dank der Grundmandatsklausel 4,5 Prozent der Bundestagsmandate zugeteilt (vgl. D. Nehlen, 2000 3 ). 2002 dagegen war sie als einzige Partei von dem territorialen Neuzuschnitt der Wahlkreise substanziell betroffen.' 6 Allerdings ist damit die deutlich gesunkene Unterstützung für die Post-Kommunisten auch und gerade im Osten Deutschlands nicht ausreichend zu erklären. So wurde zu Recht auf eine Reihe situativer Faktoren verwiesen, wie die „fehlende Proteststimmung" in den neuen Bundesländern oder auch die „Besetzung" aktueller Themen durch die SPD (Flutkatastrophe, Irak-Debatte) unmittelbar vor der Wahl (Forschungsgruppe Wahlen, 2002). Hinzu traten programmatische Undeutlichkeit (s. oben) und personalpolitische Probleme, wie der Rücktritt Gregor Gysis. Mittelfristig dürfte das bundespolitische Überleben der PDS vor allem davon abhängen, ob und inwieweit ihr eine überzeugende programmatische wie personelle Erneuerung gelingt. Als bloße „Protestpartei" ist das Überschreiten der Sperrklausel mehr als unsicher - auch bei weiterhin zweistelligen Prozentanteilen in einigen der ostdeutschen Bundesländer. Einem verbreiteten Urteil folgend, sind Bundestagswahlen bereits seit längerem von „Amerikanisierungstendenzen" geprägt, die sich in zunehmender Entideologisierung und einem Bedeutungszuwachs von Persönlichkeitsfaktoren für die Wahlentscheidung äußern (O. Niedermayer, 1998, S. lOff.). 2002 schien die Personalisierung insofern eine neue Qualität zu erreichen, als nicht nur die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD erstmals zu „Fernsehduellen" zusammentrafen, sondern auch weitere Spitzenpolitiker im Wahlkampf besonders herausgehoben bzw. ex post für (Miss-)Erfolge verantwortlich gemacht wurden. Beispiele bilden etwa der „Grüne Personenkult" um Außenminister Fischer mit der Wahlwerbung, die Zweitstimme sei „Joschka-Stimme" (Neue Zürcher Zeitung vom 16. 09. 2002), die „Affäre Möllemann", die von der FDP-Führung für das schlechte Wahlergebnis der Partei verantwortlich gemacht wurde (Die Zeit vom 26.09.2002, S. 6), sowie die mehr als nur unglücklichen Äußerungen der amtierenden Justizministerin Däubler-Gmelin über den amerikanischen Präsidenten wenige Tage vor der Wahl, die der SPD nach verbreitetem Urteil geschadet haben sollen. Mit Blick auf den relativen Einfluss von Personen und Parteiprofilen auf das Wählerverhalten 2002 dürfte unstrittig sein, dass sich der deutliche Vorsprung von Amtsinhaber Schröder gegenüber seinem Herausforderer Stoiber bei der „Kanzlerfrage" in Wählerstimmen niederschlug, es der Union trotz deutlich besserer Kompetenzzuschreibungen in Schlüsselbereichen nicht gelang, „sich als überzeugende Alternative darzustellen" (infratest dimap, 2002). Umgekehrt konnte jedoch der Kandidatenbonus die Verluste der SPD, die sich bis in ihre Kernwählerschaft hinein erstreckten, nicht kompensieren. Die Relativierung der Personalisierungsthese wird auch durch den demoskopischen Befund gestützt, dem zufolge „für zwei Drittel der Bundesbürger die Parteien wichtiger [sind] als die

16 Durch das 16. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 2001 (BGBl. I, S. 701) wurden im Zuge der Reduzierung der Bundestagsmandate 75 Einerwahlkreise neu zugeschnitten. Dies betraf insbesondere die (überproportional kleinen) Wahlkreise Ostdeutschlands. D a die P D S 1998 nach der neuen Wahlkreiseinteilung nur zwei statt vier Direktmandate erhalten hätte (eigene Berechnung nach Daten des Bundeswahlleiters), hätte sie umgekehrt 2002 nach alter Wahlkreiseinteilung die Grundmandatshürde (drei Sitze) wahrscheinlich übersprungen.

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III. Politische Willensbildung: Formen und Verfahren der Beteiligung Frage, wer Kanzler wird" (ebd.). Allgemein gilt, dass angesichts der zunehmenden Zahl von Wechselwählern kurzfristige Einflüsse an Bedeutung für den Wahlausgang gewinnen. Allerdings wurden auch und gerade 2002 die Auswirkungen von Verhaltensweisen einzelner Spitzenpolitiker in der Medienberichterstattung deutlich überschätzt, wie nicht zuletzt eine Analyse der Briefwahlergebnisse zur „Affäre Möllemann" zeigte (vgl. R. Hilmer, 2002, S. 4). Blickt man schließlich auf die regionalen Wahlergebnisse, haben bereits seit der Wiedervereinigung bei Bundestagswahlen territoriale Unterscheidungen an Bedeutung gewonnen. Stellte man für 1998 eine Verfestigung der „Ost-West-Spaltung des Parteiensystems" sowie die Herausbildung einer „Nord-Süd-Teilung Deutschlands" fest (U. FeistlH.-J. Hoffmann, 1998, S. 238), wurde von der Wahl 2002 behauptet, sie habe „tiefverwurzelte regionale Unterschiede verstärkt" {Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.09.2002). Diese Aussage spricht Richtiges an, ist allerdings weiter zu differenzieren. So hat sich der West-Ost-Gegensatz insbesondere bei der Wahlbeteiligung sowie beim Ergebnis der Grünen verstärkt, die in den alten Bundesländern (einschließlich Berlins) durchweg mehr zulegen konnten als in Ostdeutschland, wo sie unverändert unter der Fünf-Prozentmarke verblieben. Das „Nord-SüdGefälle" hingegen zeigte sich am deutlichsten bei den beiden großen Parteien: Während die SPD in den südlichen Bundesländern sowohl nach Stimmenanteilen wie nach Direktmandaten an Boden verlor, verzeichnete die Union in Bayern und Baden-Württemberg jeweils erwartbar hohe Zuwachsraten. Allerdings weist das Wahlergebnis auch gegenläufige Tendenzen auf. So haben sich infolge deutlicher Zugewinne in Ostdeutschland nicht nur die Stimmenanteile der SPD zwischen alten und neuen Bundesländern weiter angenähert; Gleiches gilt vielmehr auch für die FDP, die erstmals seit 1990 wieder in allen Bundesländern (außer Bayern) über die Fünf-Prozenthürde kam und zudem das regional ausgeglichenste Ergebnis aller Bundestagsparteien aufwies. Diese Annäherungstendenzen sagen freilich noch nichts über deren Beständigkeit oder gar über eine zunehmende Konvergenz des Wählerverhaltens aus - ebenso wenig, wie die benannten wahlgeografischen Unterschiede für sich allein ein politisches „Auseinanderdriften" der Bundesrepublik belegen können. Territoriale Differenzen sind indes nach wie vor verantwortlich für das Entstehen von „ Überhangmandaten" (s. oben 2.4.1.). Zwar hat sich die Anzahl dieser zusätzlichen Bundestagssitze infolge der Wahlkreisreform 2001 gegenüber 1998 deutlich verringert (von 13 auf fünf). Doch bewirkten auch 2002 politisch-soziologische Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, dass mehr Überhangmandate auftraten als vor 1990. Erneut entstanden die meisten Überhangmandate in ostdeutschen Bundesländern; ausschlaggebend waren diesmal die unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligungsraten, was zur Zuteilung relativ weniger Zweitstimmenmandate auf die betreffenden Länder führte. Hätte darüber hinaus die PDS wie 1998 die Sperrklausel übersprungen, wären aufgrund der „breiteren" Verteilung der Zweitstimmenmandate mindestens drei weitere SPD-Überhangmandate in Ostdeutschland entstanden. Dabei hätte die rot-grüne Koalition jedoch zugleich ihre Parlamentsmehrheit verloren. Zumindest vor diesem Hintergrund dürfte der Satz „Bundestagswahlen werden im Osten gewonnen" auch künftig bedeutsam bleiben.

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat Mit dem Themenbereich „Parlament und Regierung" wendet sich die Darstellung des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland ihrem institutionellen Kern zu. Dieser Kern bestimmt entscheidend die Leistungsfähigkeit des „Systems", in ihm wird festgelegt, welche Aufgaben sich das System im Einzelnen stellt, welche Ressourcen der Gesellschaft es in Anspruch nimmt und wie es diese Ressourcen einsetzt. An ihm werden auch die Probleme sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und deren Folgen deutlich. Der Parlamentarismus ist ein historisches Phänomen, das sich mit den jeweiligen Bedingungen verändert. Bildet man einen Idealtypus, kann die Realanalyse nur auf mehr oder weniger signifikante Abweichungen verweisen. Dieses Verfahren hat in Deutschland vor allem Carl Schmitt (1923 und 1928) vorexerziert; ihm sind viele Parlamentarismusforscher und -interpreten gefolgt. Verzichtet man auf den Ausweis eines solchen Idealtypus oder Modells, wird der Begriff des „Parlamentarismus" eher beliebig. Wer sich um eine empirische Bestandsaufnahme und um eine wenigstens vorläufige Bewertung bemüht, steht zwischen der Scylla einer Vorgabe, die vorwiegend Schwächen jedes konkreten Parlamentarismus erhellt, und der Charybdis einer nicht näher definierten Begrifflichkeit, die keine Unterscheidungen mehr ermöglicht. Im Folgenden wird deshalb Parlamentarismus als Oberbegriff für alle Verhältnisse benutzt, in denen ein frei gewähltes Parlament mit originärer Kompetenz handelt. „Freie Wahl" bezeichnet dabei die Auswahlmöglichkeit des Wählers und die Offenheit des Wahlergebnisses. Dementsprechend lässt sich der Begriff nicht auf Vorformen parlamentarischer Mitwirkung und parlamentsähnliche Gebilde anwenden, in denen die Wahlen entweder stark eingeschränkt sind (oder waren) oder man aufgrund von Geburt, Besitz oder beruflicher Position dem Gremium angehört(e). Dass man den modernen Parlamentarismus ohne seine Vorformen, seine spezifische Geschichte also, nicht verstehen kann, bleibt davon unberührt (einen guten Überblick über die historisch interessanten Fragestellungen zu diesem Thema vermitteln die Zusammenstellungen von K. Kluxen, 19805, und H. Rausch, 1980, sowie die komprimierten Überblicke von P. Moraw, 1989, J.-D. Kühne, 1989, H. Möller, 1990, und J. Bellers/R. Graf von Westphalen, 19962). Darüber hinaus wird im Folgenden auch vom parlamentarischen System als einem Sonderfall des Parlamentarismus gesprochen (vgl. H.-P. Schneider, 1984, S. 239ff.; K. v. Beyme, 1999). In ihm hat das Parlament entscheidenden Einfluss auf das Zustandekommen und den Bestand der Regierung - mit beträchtlichen Konsequenzen für das Zusammenwirken beider. Auch das parlamentarische System wird als ein historisches Konstrukt begriffen. In ein entsprechendes Grundmodell sind deshalb nur wenige Merkmale einzubringen. Dazu gehören in erster Linie die Repräsentation, das (auch funktionale) Nebeneinander von Mehrheit und Minderheit sowie die politische Verbundenheit von Parlamentsmehrheit und Regierung als Regelfall, gleichgültig, ob sich diese Verbundenheit als Abhängigkeit der Regierung von der Mehrheit oder umgekehrt als Führung der Mehrheit durch die Regierung auswirkt. Darüber hinaus muss, wie im Parlamentarismus generell, eine originäre Kompetenz des Parlaments gegeben sein, während sich die Regierung „von selbst versteht". Vor dem Hintergrund dieser Merkmale sind es vor allem drei Ebenen, auf denen die Bürger und Wähler der Bundesrepublik durch ein Parlament repräsentiert werden und auf dessen Zusammensetzung sie Einfluss haben: die Landesebene, die Bundesebene und der Bereich

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat der Europäischen Union.1 Dabei bilden die Stadtstaaten einen (im Folgenden nicht weiter thematisierten) Sonderfall, weil ihre Parlamente auch kommunale Funktionen wahrnehmen - etwa Bebauungspläne beschließen - , darin aber über weitaus größere originäre Kompetenzen verfügen als die Räte anderer Gemeinden. Einen zweiten Sonderfall bildet das Europäische Parlament, dessen Kompetenzen sich erst allmählich bilden und politisch weiterhin strittig sind. Im Mittelpunkt der folgenden Darstellung steht deshalb das parlamentarische System in Bund und Ländern. Es hat seine Gemeinsamkeit darin, dass zwischen den Wählern und der Sphäre des Repräsentation zuletzt allein die Parteien vermitteln und der Regierungschef vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig ist. Über die entsprechenden Konsequenzen und zahlreiche Abweichungen wird im Einzelnen zu berichten sein. 2

1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust Minister verfügen in Deutschlands Parlamenten über zwei Sitzplätze. Einer davon steht ihnen als Abgeordneter zu, der andere findet sich auf der Regierungsbank. Sie steht zumeist dem Parlamentshalbrund gegenüber, was auf ein Denken in Kategorien der Gewalten-

1 Bei diesen definitorischen Vorklärungen ist darüber hinaus auch zwischen Staat und Gemeinden zu unterscheiden. So trifft der hier gewählte Begriff des Parlamentarismus nicht auf die Vertretungskörperschaften der Gemeinden zu, die zwar „in der Art" eines Parlaments organisiert sind, aber über keine originären, sondern nur über die ihnen in der Gemeindeordnung und durch Gesetz zugewiesenen und in der Regel nur unter staatlicher Aufsicht wahrzunehmenden Kompetenzen verfügen. Staatstheoretisch bietet es sich deshalb an, trotz zahlreicher möglicher Analogien die kommunale Selbstverwaltung der Verwaltung zuzuweisen; staatspraktisch allerdings läuft dies auf eine Politisierung der Verwaltung hinaus, für die es viele theoretische wie empirisch-analytische Begründungen gibt, die aber Stadt- und Gemeinderäte nicht aus der Rolle derer entlassen, die in der Regel Beschlüsse in einem ihnen verbindlich gesetzten Rahmen fassen. Auch zum zweiten Begriffsmerkmal besteht eine kommunale Analogie: Zwischen der im Wesentlichen britisch beeinflussten ehemaligen Kommunalverfassung etwa Nordrhein-Westfalens, nach der Bürgermeister und Gemeindedirektor vom Rat gewählt wurden, und dem süddeutschen Verfassungstyp, nach dem der Bürgermeister vom Volk gewählt ist, nach seiner Wahl den Vorsitz im Rat übernimmt und zugleich Chef der kommunalen Verwaltung wird, bestehen nicht nur rechtliche Unterschiede. Es ergeben sich vielmehr auch zahlreiche „praktische" Differenzen, weil die Volkswahl den Bürgermeister stärkt, während die theoretische Möglichkeit einer Abwahl den Gemeindedirektor schwächt, der sich überdies in der unguten Situation befindet, dem Rat nicht direkt anzugehören, ggf. aber Ratsbeschlüsse rechtlich beanstanden zu müssen und damit ihren Vollzug auszusetzen. Dieser Hinweis soll jedoch lediglich auf die Möglichkeiten einer analogen Betrachtungsweise aufmerksam machen, ohne dass damit der kommunale Rat wirklich zum Parlament oder der Bürgermeister zu so etwas wie einer „Regierung" würde. 2 Neben den in den Einführungen benannten Material- und Literaturhinweisen sind zum Gesamtthema „Parlamentarismus" zu nennen: //. Rausch, 19764, H. Oberreuter, 1981, D. Engels, 19912, K. PorznerlH. Oberreuter/U. Thaysen, 1990, U. Bermbach!F. Esche, 1993, J. Hartmann!U. Thaysen, 1992, W. Demmler, 1994, P. M. HuberlP. Badura, 1995, P. A. Weber-Panariello, 1995, W. Ismayr, 20012, und H. Oberreuter/U. KranenpohllM. Sebaldt, 20022; zur DDR-Volkskammer E. Jesse, 1989; zu einer eher rechtswissenschaftlichen Sichtweise vgl. vor allem H.-P. Schneiderl W. Zeh, 1989; Ansätze zu einem Vergleich parlamentarischer Regierungssysteme finden sich u.a. bei K. v. Beyme, 19732 und 1999.

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust teilung verweisen könnte, oft allerdings auch noch etwas erhöht, was an spezifisch deutsche Traditionen erinnert. Mit diesem Hinweis verbinden sich Schwierigkeiten bei einer Darstellung von Parlamentsauf gaben. Zum einen finden sich im parlamentarischen System Parlament und Regierung eng miteinander verbunden und nehmen die Aufgaben der politischen Führung gemeinsam wahr, ohne allerdings die Opposition umfassend zu beteiligen; dieser Realität entsprechen alle diejenigen Maßstäbe nicht, die von einer materiellen Gewaltenteilung ausgehend und ggf. durch Artikel 20 G G gestützt zwischen Gesetzgebung und Vollzug unterscheiden und beide „besonderen Organen" zuweisen wollen. Zum anderen gibt es eine noch immer nachwirkende politische Tradition, innerhalb derer sich in Deutschland Parlament und Regierung gegenüberstehen und dem Parlament eher eine Abwehr- denn eine Kontrollfunktion zukommt. Die Tradition steht dabei weniger der Praxis des parlamentarischen Systems im Wege, wohl aber dessen Verständnis. Zudem ergeben sich Verschiebungen, weil - gemessen an der eigenen Tradition - der Bundestag an Bedeutung gewonnen hat, während man hinsichtlich der allgemeinen Entwicklung eher von einem Funktionsverlust des Parlaments spricht - als Maßstab dann freilich das englische Parlament einer sehr kurzen Blütezeit im 19. Jahrhundert nutzend. Auch kann kaum, wie einleitend dargelegt, von einer klar definierbaren Rolle des Parlaments ausgegangen werden, wie man sie in der Nachfolge Montesquieus und Bagehots immer wieder zu bestimmen versucht hat (K. v. Beyme, 19732, 1999; F.Schäfer, 19824; U.Lohmar, 1975; H.Rausch, 19764). Die Rahmenbedingungen der Parlamentsarbeit ändern sich ständig. Das Parlament bleibt davon nicht unberührt. Den Ausgangspunkt der folgenden Erörterungen bildet das benannte Verständnis des parlamentarischen Systems. Dabei steht zunächst die Gesetzgebungstätigkeit der Parlamente im Vordergrund, bevor auf das Verhältnis zwischen Mehrheit und Regierung und das Parlament als Haushaltsgesetzgeber eingegangen wird. Abschließend sind einige Organisationsfragen zu erörtern, wobei Möglichkeiten und Grenzen einer Parlamentsreform mitangesprochen werden. 1.1. Gesetzgebung Der Deutsche Bundestag hat in den 14 Wahlperioden von 1949 bis 2002 insgesamt 9.273 Gesetzentwürfe behandelt und 6.021 Gesetze verabschiedet. Das entspricht einer Jahresleistung von über 174 Entwürfen und etwa 113 Gesetzesbeschlüssen oder einem Aufkommen von etwa 662 Entwürfen und etwa 430 Beschlüssen je Legislaturperiode. Deutlich über diesem Schnitt lagen die ersten beiden Perioden bis 1957 (545 und 507 Beschlüsse) und später die siebente (1972-1976) mit 516 Beschlüssen. Danach ging die Zahl zurück; nach der Wiedervereinigung war ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen (11. Wahlperiode: 595 Entwürfe; 12. WP: 800; 13. WP: 923; 14. WP: 864; vgl. dazu P. Schindler, 1999, sowie Materialband, VI/9). Bei den Beschlüssen findet sich eine analoge Zunahme (11. WP: 369; 12. WP: 507; 13. WP: 566; 14. WP: 559). Diese Zahlen belegen zunächst, dass der Bundestag in erster Linie als Gesetzgeber tätig ist. Für die Landtage lässt sich das so nicht sagen. Legislative Aktivitäten sind hier deutlich begrenzt, die Tätigkeitsschwerpunkte verschieben sich. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen kommt etwa mit der Hälfte der Plenarsitzungen aus und behandelt in den Ausschüssen mehr Einzelfálle (Verwaltungsangelegenheiten) als der Bundestag. Dieser wendet sich neben den Gesetzen noch den EU-Vorlagen (d. h. Mitteilungen der Kommission, Entwürfen von Richtlinien und Verordnungen, etc.) zu (im 14. Bundestag: 3.137). Gesetz ist als Begriff nur eindeutig in seinem formalen Gehalt. Danach ist Gesetz, was in dafür vorgesehenen Verfahren vom Gesetzgeber als Gesetz beschlossen wird. Damit aber 227

IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat lässt sich weder das Verhältnis des Gesetzes z u m Recht klären, n o c h ergibt sich so ein Z u g a n g zu den Inhalten der Gesetzgebung. D e s h a l b wird in der Literatur häufig nach der Herkunft von Gesetzesinitiativen gefragt und unterscheidet m a n bei den Initiativen der Bundesregierung n a c h den jeweils zuständigen Ministerien. Eine weitere Kategorisierung differenziert nach Gesetzgebungsanlässen (vgl. H. Hill, 1982, S. 53ff.; H.-P. Schneider, 1982, S. 54ff.; B.-O. Bryde, 1989; K. v. Beyme, 1997); Peter Schindler (1999, S. 2374ÍT.) nimmt dies mit folgenden Kategorien auf: I) Gesetzgebungsauftrag des G G (mit Fristsetzung), 2) Gesetzgebungsauftrag des G G (ohne Fristsetzung), 3) Gesetzesvorbehalt des GG, 4) Zustimmungsgesetze (Ratifizierungsgesetze) zu völkerrechtlichen Verträgen, 5) Beschlüsse anlässlich internationaler Konsultationen, 6) Rechtsgrundlage zum Erlass von Rechtsverordnungen, 7) Ersatz für Gesetze, die vom Bundesverfassungsgericht für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden sind, 8) Gesetzesvorbehalt aufgrund von Gerichtsentscheidungen, 9) Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichtes, 10) Ausfüllung von Gesetzeslücken aufgrund von Gerichtsentscheidungen (Bundesverfassungsgericht oder andere Gerichte), II) Entgegenwirken von Richterrecht, 12) Verpflichtung zur Gesetzgebung aufgrund der EG-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland, 13) Anregungen internationaler Gremien, 14) Gebot zur Harmonisierung des Rechts der EG-Mitgliedstaaten, 15) Bedarf nach einer einheitlichen gesetzlichen Regelung im Bundesstaat, 16) Gesetzgebungsaufträge in bestehenden Gesetzen: Anpassungs- und Fortschreibungsgesetze, 17) Folge- und Anpassungsgesetze zu bestimmten Programm- und Planungsgesetzen, 18) Gesetzesankündigungen in bestehenden Gesetzen: Vorschaltgesetze, 19) Absicht zur Aufhebung eines Gesetzes, 20) Absicht zur Aufhebung des Inkrafttreten eines Gesetzes, 21) Bemühungen um Anpassung, Vereinheitlichung und Überschaubarkeit bestimmter Rechtsbereiche („Einführungsgesetze", „Gesetzbücher"), 22) Erforderliche Maßnahmen infolge der Vereinigung Deutschlands, 23) Erforderliche Maßnahmen infolge industriestaatlicher Entwicklungen, 24) Erforderliche Maßnahmen infolge konjunktureller und sozialpolitischer Entwicklungen, 25) Erforderliche Maßnahmen infolge aktueller Geschehnisse, 26) Parteitagsbeschlüsse sowie Versprechungen und Forderungen in den Wahlprogrammen der Parteien, 27) Versprechungen in der Regierungserklärung, 28) Ersuchen des Bundestages an die Bundesregierung um Vorlage eines Gesetzentwurfs, 29) Empfehlungen durch parlamentsinterne Untersuchungsausschüsse, Enquête-Kommissionen und ähnliche Gremien, 30) Empfehlungen durch parlamentsexterne Beiräte, Sachverständigenkommissionen usw., 31) Forderungen und Empfehlungen der Wissenschaft, 32) Wünsche und Forderungen von Interessenverbänden, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen usw., 33) Wünsche und Forderungen in Form von Petitionen. Für alle diese G r u p p e n lassen sich Beispiele benennen. Insgesamt verdeutlichen sie, dass der Gesetzgeber in sehr vielen Fällen auf Anstöße „von außen" reagiert, die sich jeglicher G e setzesplanung entziehen. N u r ein Teil der Gesetzentwürfe geht auf ein zumindest mittelfristiges Programm zurück, wie es etwa im W a h l k a m p f vorgetragen, in einer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben und/oder in Regierungserklärungen verkündet wird. Wie die A n s t ö ß e „von außen" wirken z u d e m die Selbstverpflichtungen des Gesetzgebers durch Vorschaltgesetze oder andere Aufträge. Schließlich ist der Anpassungsbedarf an soziale u n d ö k o n o m i s c h e Entwicklungen zu berücksichtigen, auch die Verflechtung zwischen Gesetzen, die bewirkt, dass Veränderungen in einem Gesetz Ä n d e r u n g e n in anderen Gesetzen zur Folge haben. Mit Blick auf die politische Ausgangslage erscheint es deshalb angebracht, zwischen drei Hauptgruppen von Gesetzen zu unterscheiden: • • •

Gesetzen, die erlassen werden, weil der Gesetzgeber durch andere Instanzen oder durch Selbstverpflichtung hierzu gezwungen ist; Gesetzen zur U m s e t z u n g politischer Programme oder zur Ä n d e r u n g bzw. Ergänzung bestehender Ordnungen; sowie Änderungs- u n d Anpassungsgesetzen, die in der Regel aus G r ü n d e n der Gesetzessystematik erforderlich werden.

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust Diese Unterscheidung macht deutlich, warum im Bundestag immer von einem großen Teil einvernehmlich verabschiedeter Gesetze auszugehen ist und die Gesetzgebung so umfangreich ausfallt. Der faktische Gesetzesbestand in Bund und Ländern ist allerdings sehr viel weniger umfangreich. Systematisch und inhaltlich dient die Mehrzahl aller Beschlüsse nur der Pflege und Fortschreibung des Bestandes. Auch daran ist immer der Bundestag beteiligt. Die Beteiligung des Parlaments an der politischen Führung ist eine wesentliche Ursache einer etwaigen Ausweitung der Gesetzgebung (weshalb mit Ausdrücken wie „Gesetzesflut" vorsichtig umgegangen werden sollte). Diese Beteiligung wird vom Parlament selbst eingefordert; sie wird ihm auch vom Bundesverfassungsgericht zugesprochen (Wesentlichkeitstheorie). Die Regierung kann sich in der Regel nicht gegen eine Beteiligung wenden. Das Parlament hat darin eine originäre Kompetenz, dass es zuletzt allein beschließt, was im Gesetz geregelt wird und was nicht, soweit darüber nicht schon in einer höherrangigen Norm vorentschieden ist. Auch deshalb ist von einem Vorrang der Gesetzgebungsfunktion zu sprechen und wird im Vergleich zwischen Bundestag und Landtagen ein Funktionsverlust der letzteren deutlich (ausführlich und mit notwendigen Differenzierungen hierzu H. Klatt, 1989). Für den formalen Ablauf des Gesetzgebungsprozesses bleibt es gleichgültig, welchen Bedeutungsgehalt ein Gesetz hat; für alle Gesetze gelten die gleichen Verfahrensvorschriften (im Bund durch Art. 76-79, 81 und 82 G G geregelt). Die Praxis kennt dagegen tiefgreifende Unterschiede: in der Länge der parlamentarischen Beratung, in der Zahl der beteiligten Ausschüsse, in der Intensität der Debatten zur ersten und ggf. dritten Lesung, im Anhörungsverfahren („Hearing") - kurz: in der höchst unterschiedlichen Nutzung dessen, was der formale Rahmen ermöglicht, kommt zum Ausdruck, ob ein Gesetz wichtig ist oder das Parlament nur „passiert". Letzteres gilt für zahllose Gesetze und für die meisten Verordnungen, die im internationalen Bereich erst nach Beteiligung des Parlaments in Kraft treten. Gleichwohl gibt es keine allgemein akzeptierten Kategorien, die Bedeutung eines Gesetzes zu ermessen. Dass der Bundestag nach seinem Selbstverständnis viele eher unwichtige Gesetze verabschiedet, kann man aus der Art ihrer Behandlung entnehmen. So ermittelte Wilhelm Hennis (1966) bereits für den 4. Bundestag, dass von den 429 beschlossenen Gesetzen 260 im Plenum überhaupt nicht beraten wurden und auf 41 eine Beratungszeit von weniger als zehn Minuten entfiel. Nur 25 Gesetze wurden länger als drei Stunden debattiert. Zu denken gibt auch, dass von den Gesetzesbeschlüssen des 7. und 8. Bundestages 70,5 Prozent bzw. 61,9 Prozent einstimmig getroffen wurden; im 11. Bundestag waren es nur noch 17,3 Prozent, im 12. Bundestag dagegen wieder 27,6 Prozent. Unabhängig davon, dass sich in der Gesetzgebung die „politische Handschrift" der Regierung abzeichnet oder doch abzeichnen sollte, ist die Opposition nicht nur voll beteiligt, sie stimmt meist auch dem Ergebnis zu. Das muss sich mit der Materie und dem Verfahren verbinden (Einschränkungen bei P. Schindler, 1999, S. 1954ff.). Von den 9.273 Gesetzentwürfen bis 2002 brachte die Bundesregierung 5.184 ein, von den Beschlüssen gingen 75 Prozent auf Entwürfe der Bundesregierung zurück. Regierungsvorlagen haben mithin eine viel größere Chance auf Verabschiedung als Vorlagen aus der Mitte des Bundestages. Im parlamentarischen System verwundert das nicht: Wenn Regierung und Regierungsmehrheit eng miteinander verbunden sind, bedeutet das auch, dass die Führungsinitiative bei der Regierung liegt und man sich hinsichtlich der Gesetzesvorbereitung deren großen Apparats bedient. Eher muss verwundern, dass zu den Regierungsentwürfen so zahlreiche Vorlagen aus dem Parlament selbst treten. Sie stammen indessen zu einem großen Teil von der Opposition, die es in einem Parlament, das sich primär als Gesetzgeber versteht, zu ihrer Oppositionsrolle rechnen muss, eigene Gesetzentwürfe vorzulegen. Dass

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat diese letztlich keine Chance haben (von den 728 Gesetzesinitiativen, die die jeweiligen Oppositionsfraktionen zwischen 1983 und 2002 einbrachten, waren nur fünf erfolgreich), ist freilich nicht mit einer „Entmachtung des Parlaments" zu verwechseln (vgl. hierzu bereits W. Steffani 19732; W. Ismayr, 20012, S. 240ff.; zu Oppositionsvorlagen M. Sebaldt, 1992). Der quantitative Umfang der Gesetzgebung verweist auf ihre Komplexität. Ihr zu entsprechen, erfordert Spezialisten, die sich andauernd mit der Materie beschäftigen. Das können die zuständigen Referate und Abteilungen der Ministerien, die den Überblick über die vorhandenen Bestimmungen besitzen und als erste über weitere legislatorische Bedürfnisse informiert werden. Wollte das Parlament mithalten, müsste es sich eine vergleichbare Bürokratie aufbauen; ein wie auch immer ausgestalteter Hilfsdienst kann das nicht ersetzen. Allerdings erscheint der gegenwärtige Zustand zwar verbesserungsbedürftig, insgesamt jedoch dem parlamentarischen System adäquat. Das gilt zuletzt auch für die durch Information gestützte Teilnahme des Parlaments an langfristigen Planungen (vgl. B. Lutterbeck, 1977; W. Graf Vitzthum, 1978; H. Oberreuter/U. Kranenpohl/M. Sebaldt, 20022). Die Bundesgesetzgebung wird von Regierung und Parlament bestimmt, der Bundesrat tritt als dritter unmittelbar Mitwirkender hinzu. Das Verhältnis der drei Akteure zueinander regelt das Grundgesetz, ergänzt durch die Geschäftsordnungen von Parlament, Regierung und Länderkammer. Dabei hält sich der formale Gang der Gesetzgebung an die verbreiteten Usancen, so dass man im Rahmen der Bundesgesetzgebung im Regelfall von folgenden Stationen (vgl. unter vielen B.-O. Bryde, 1989) ausgehen kann: Referentenentwurf in einem Ministerium, Unterrichtung anderer Referate und Abteilungen im Ministerium selbst, Unterrichtung des Bundeskanzleramtes, ggf. Unterrichtung anderer Ministerien, Verständigung mit den zuständigen Verbänden, Kabinettsvorlage, Kabinettsbeschluss, Vorlage im Bundesrat, Stellungnahme des Bundesrates, Erarbeitung der Stellungnahme der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, Vorlage im Bundestag, Fraktionsberatungen, erste Lesung und Überweisung an die zuständigen Ausschüsse, Ausschussberatungen, Bericht darüber und zweite Lesung im Plenum, ggf. nochmalige Ausschussberatungen und dritte Lesung im Plenum, Beschluss des Bundestages, zweiter Durchgang im Bundesrat, dessen Zustimmung oder Bedenken und Einwände, im letzteren Falle Befassung des Vermittlungsausschusses, Billigung der Vorschläge des Vermittlungsausschusses durch Bundestag und Bundesrat, Unterzeichnung des Gesetzes durch Kanzler und Ressortminister, Unterzeichnung (und Verkündigung) durch den Bundespräsidenten. Seit 1949 hat sich noch keine einheitliche Übung dafür ergeben, wann das Parlament und wann die Regierung die Gesetzesinitiative ergreift. Ganz allgemein ist davon auszugehen, dass politisch besonders umstrittene Entwürfe dann von Fraktionen vorgelegt werden, wenn sie nicht zu umfangreich sind. Sonst beauftragt man in aller Regel die Regierung, die Vorlage auszuarbeiten. Zu beachten ist auch, dass ein Gesetzentwurf, den eine Fraktion im Parlament einbringt, schneller verabschiedet werden kann, weil es keiner Kabinettssitzung bedarf und der Bundesrat nur einmal Stellung zu nehmen hat. Insgesamt wird man in der Hauptsache drei Arten von Gesetzen unterscheiden: • solche, die die geltende Rechtsordnung grundlegend ergänzen, umfangreiche Verwaltungsvorschriften enthalten, Einzelmaßnahmen dienen oder nur eine rechtsstaatlich notwendige Anpassung herbeiführen; • solche, durch die Interessen einzelner Gruppen befriedigt werden; sowie • solche, die in besonderer Weise politisch umstritten sind. Die erste Gruppe von Gesetzen wird dabei stets von der Regierung vorgelegt, die zweite meist, bei der dritten wird eher das Parlament aktiv, wenn es sich nicht um Ratifizierungs230

1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust gesetze zu internationalen Verträgen oder dergleichen handelt, wenn also nicht der politische Führungsanspruch der Regierung in dem Entwurf zum Ausdruck kommt (zu frühen einschlägigen Fallstudien vgl. O. Stammer, 1965 und G. Braunthal, 1972; für eine neuere vergleichende Analyse s. K. v. Beyme, 1997). Zur ersten Gruppe gehören auch die großen Neukodifikationen und Zusammenfassungen, bei denen oft auf Ausschüsse des engeren Regierungsbereichs zurückgegriffen wird. Dass für zahllose Gesetze, die einzelne Bevölkerungsgruppen oder Wirtschaftszweige begünstigen, die Ministerien initiativ sind, beweist den Einfluss von Verbandsvertretern in Berlin. Deren Gesprächspartner sind vorwiegend Beamte, nicht Abgeordnete. In der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien finden sich auch die wichtigsten Vorschriften für den Verkehr mit den Verbänden (vgl. Materialband, VII/2). Grundsätzlich sollen Ministerien nur mit Zentral- oder Gesamtverbänden verkehren, nicht mit örtlichen oder gebietlichen Unterverbänden. Das galt ursprünglich als Schutz der Ministerien vor zahllosen Besuchern, trug aber erheblich zur Zentralisierung des Verbandswesens bei. Wie viele der ministeriellen Gesetzesentwürfe auf die Einwirkung von Verbandsvertretern zurückzuführen sind, lässt sich natürlich nicht feststellen. Dass Vorlagen der Regierung im Parlament bereits mit den zuständigen Fachverbänden besprochen sind, darf aber als Regel gelten. Zum Teil lässt sich das damit begründen, dass die Ministerien vielfach auf die „Beschaffung von Unterlagen (durch) die Vertretungen der beteiligten Fachverbände" angewiesen sind (vgl. u.a. R. Steinberg, 1985). Ein Gesetzentwurf (vgl. Art. 76 ff. G G und die entsprechenden Geschäftsordnungen) muss frühzeitig den anderen Ministerien und seit 1969/70 dem Kanzleramt - diesem mittels Formblatt - mitgeteilt werden. Unerlässlich sind die Prüfung der Rechtsförmlichkeit durch das Justiz- oder Innenministerium sowie die Zustimmung des Finanzministeriums, sofern das Gesetz Kosten verursacht (§ 26 GOBReg.; Materialband, VII/1). Wird ein politisch bedeutsamer Entwurf bearbeitet, entscheidet das Bundeskanzleramt, ob die Öffentlichkeit, der Bundestag oder andere „amtlich nicht beteiligte Stellen" informiert werden sollen. Diese frühzeitige Unterrichtung führt dazu, dass Regierungsvorlagen fast immer vom Kabinett angenommen werden. Anders liegt es mit den Haushaltsanforderungen der Ministerien, über die oft erst im Kabinett entschieden wird. Auch kommt es vor, dass Ministerialreferenten, die mit ihren Ressortwünschen gegenüber Finanzministerium oder Kabinett nicht durchgedrungen sind, versuchen, einzelne Abgeordnete zu gewinnen, um in den Ausschussberatungen noch etwas zu erreichen. Nach dem Kabinettsbeschluss wird die Vorlage dem Bundesrat zugeleitet. Dieser kann innerhalb von sechs Wochen Stellung nehmen, sofern die Bundesregierung nicht von der Ausnahmeregelung des Artikels 76 Abs. 2 G G Gebrauch macht. Meist liegt das Schwergewicht der Tätigkeit des Bundesrates jedoch nach der Verabschiedung des Entwurfes im Bundestag. Äußert er sich sogleich, gehen die Äußerungen mit der Stellungnahme der Regierung dem Bundestag zu. Hier lässt der Präsident aus der Vorlage eine Bundestagsdrucksache fertigen, leitet sie den Abgeordneten zu und entscheidet gemeinsam mit dem Ältestenrat, wann die erste Lesung stattfinden soll. Vor der ersten Lesung des Entwurfes haben Abgeordnete und Fraktionen Gelegenheit, ihr Verhalten zu bedenken, falls sie über den Entwurf nicht schon vorher informiert wurden. Die erste Lesung dient dann der allgemeinen Aussprache über die Grundsätze der Vorlage; Änderungsanträge können erst im Anschluss an die Debatte gestellt werden. Diese endet mit der Überweisung an den zuständigen Ausschuss oder - in der Regel - mehrere Ausschüsse, wobei stets einer die Federführung (und mithin die Kompetenz zur Beschlussempfehlung an das Plenum) innehat. Dass ein Entwurf von vornherein abgelehnt wird, ist selten und gilt meist nur für oppositio-

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat nelle Eingaben. Auch bei diesen aber wird üblicherweise - zumindest höflichkeitshalber die Überweisung an den Ausschuss veranlasst, ggf. nur als Material. Im Bundestag hat sich allerdings - ähnlich wie in manchen Ländern - die Unsitte eingebürgert, sogar wichtige Gesetze sogleich an die zuständigen Ausschüsse zu überweisen (vgl. hierzu schon W. Hennis, 1966 und T. Ellwein/A. Görlitz, 1968). Die Beratung im Einzelnen erfolgt in den Ausschüssen (vgl. u.a. P. Dach, 1989; R. Schick/ W. Zeh, 200115; Materialband, VI/3 und VI/6). Die deutschen Parlamente treten im Vergleich zum britischen Unterhaus weniger zu Plenar- als vielmehr zu Ausschusssitzungen zusammen. Wilhelm Hennis ermittelte für 1960 und 1961, dass der Bundestag täglich eine halbe Stunde debattierte, das Unterhaus hingegen vier Stunden. Er nannte den Bundestag deshalb „mundfaul". Tatsächlich ging die Sitzungszeit in Bonn zunächst stark zurück. Der 1. Bundestag benötigte insgesamt 1.800 Stunden für sein Plenum, der 2. nur noch 1.580, der 3. und der 4. kamen auf knapp über und unter 1.100 Stunden. Danach stieg die Sitzungszeit allerdings wieder an (1987-1990: 1.730 Stunden in 236 Sitzungen; 1990-1994: 1.844 Stunden in 243 Sitzungen; 1994-1998: 1.864 Stunden in 248 Sitzungen; 1998-2002: 1.999 in 253 Sitzungen), was auf eine stärkere Konfrontation, aber auch auf „aktuelle Stunden" und anderes zurückgeführt wird. Die Plenarsitzungen müssen aber neben den Ausschusssitzungen gesehen werden - 2.085 in der 12., 2.058 in der 13. und 2.519 in der 14. Wahlperiode (über 30.000 1949 bis 2002 im Vergleich zu 2.988 Plenarsitzungen; s. M. F. Feldkamp, 2003). Alle Abgeordneten sind in Ausschüssen tätig. Die meisten von ihnen werden nur hier wirklich „eingesetzt", während sie im Plenum zum Zuhören verurteilt sind. Das erklärt die relativ hohe Präsenz in den Ausschüssen und die relativ geringe Anwesenheit im Plenum (zu Ausschüssen in den Landtagen s. M. Friedrich, 1975 und 1989; H. Klatt, 1989). Wie in den Landtagen entsprechen auch im Bundestag die meisten Ausschüsse dem Amtsbereich eines Ministeriums (vgl. W. Ismayr, 200P, S. 167ÍF.; P. Schindler, 1999, S. 2019ff.). Ausnahmen in dieser Hinsicht bilden der Petitionsausschuss und der Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union, die neben Verteidigungs- und Auswärtigem Ausschuss im Grundgesetz verankert sind (Art. 45, 45 a, 45 c), sowie der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. In den 1990er Jahren wurden zudem mehrere Ausschüsse mit „Querschnittsfunktionen" gebildet, so für die Bereiche „Tourismus" (1991) oder „Menschenrechte und humanitäre Hilfe" (1998). Die Konstituierung der Ausschüsse für „Angelegenheiten der neuen Länder" wie „Kultur und Medien" (1998) diente darüber hinaus der Schwerpunktbildung, zumal Kanzler Schröder für die benannten Ressorts je einen im Bundeskanzleramt angesiedelten Staatsminister ernannte (1998-2002: R. Schwanitz; M. Naumann/ab 2001: J. Nida-Rümelin/ab 2002: C. Weiss). Schließlich sei noch auf Besonderheiten wie Untersuchungsausschüsse oder £«^ttêfe-Kommissionen verwiesen (s. unten IV., 1.2. sowie Materialband, VI/7-8). Rechtlich sind die Ausschüsse Organe der Parlamente. Ihre Mitgliederzahlen variieren. Da ihre Zusammensetzung den Fraktionsstärken entspricht, repräsentieren sie das Parlament auch politisch im gegebenen Stärkeverhältnis. Die Ausschussvorsitzenden werden im Altestenrat auf die Fraktionen verteilt. Die Vorsitzenden leiten die Ausschusssitzungen entsprechend der Geschäftsordnung des Parlaments. Allerdings erteilt man im Ausschuss das Wort in der Reihenfolge der Wortmeldungen, was eine lebendigere Aussprache gewährleistet. Diese ergibt sich auch daraus, dass die Sitzungen grundsätzlich nichtöffentlich sind. Es können jedoch auch „Interessenvertreter, Sachverständige, die Presse oder sonstige Zuhörer" zugelassen werden (vgl. §§ 69 ff. G O BT). Von dieser seit 1969 bestehenden Möglichkeit wird allerdings nur selten Gebrauch gemacht. NichtÖffentlichkeit ist im Übrigen nicht mit Geheimhaltung gleichzusetzen: Vertraulichkeit muss eigens beschlossen werden. Außerdem haben Abgeordnete, die nicht Ausschussmitglie-

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust der sind, in der Regel und die Minister und ihre Beauftragten immer Zutritt zu den Sitzungen. Sie sollen allerdings die Öffentlichkeit nicht unterrichten, weil dies primär dem Ausschussvorsitzenden zusteht. Ansonsten ist es meist nicht schwierig zu erfahren, was in einem Ausschuss besprochen wurde. Der Verhandlungsstil ist meist sachlich, zudem verzichtet man darauf, offenkundige Streitpunkte länger als nötig zu diskutieren, um dadurch Zeit für diejenigen Fragen zu gewinnen, bei denen eine Einigung möglich ist (zur Diskussion über die Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen vgl. K. PorzneriH. OberreuterIU. Thaysen, 1990, sowie 5. Marschall, 1999). Die Ausschussarbeit ist durch die Teilnahme von Beamten gekennzeichnet. Ministerielle Vorlagen werden häufig vom ursprünglich zuständigen Referenten vertreten, was diesem erheblichen Einfluss verschafft. Dass dennoch die meisten Vorlagen im Ausschuss abgeändert werden, zeigt, wie einerseits politische Gesichtspunkte bedacht und wie andererseits die Dinge außerhalb der Verwaltung oft anders gesehen und beurteilt werden. Im Ergebnis lässt sich wohl sagen, dass die Ausschüsse gründlich beraten; die Ausführungen der Berichterstatter im Plenum haben häufig hohes Niveau. Eine wesentliche Funktion haben die Ausschüsse vor allem auch darin, dass sie das Gespräch zwischen Opposition und Ministern gewährleisten. Im Bundestag und in den größeren Landtagen finden sich eigene Ausschussassistenten, die für das Protokoll und andere Vorbereitungsarbeiten zuständig sind, dem Ausschussvorsitzenden zur Verfügung stehen und vor allem die wichtigen Arbeitsunterlagen bereitstellen. Eine Arbeitsunterlage sieht im Bundestag etwa so aus, dass für den jeweiligen Ausschuss zusammengestellt werden: der Regierungsentwurf mit der Begründung, die bisherige gesetzliche Regelung, die Änderungsvorschläge des Bundesrates, die dazu vorliegenden Äußerungen der Bundesregierung und ggf. die Beschlüsse solcher Ausschüsse, die sich vorher mit dem Gesetzentwurf beschäftigt haben. Innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens kann das Parlamentsplenum in der zweiten Lesung noch am ehesten offen diskutieren. In dieser Lesung findet keine allgemeine Debatte statt, sondern es sollen die einzelnen Bestimmungen einer Vorlage dem (mindestens drei Tage vorher den Abgeordneten zugänglichen) Ausschussbericht entsprechend beraten werden. Dabei kommt es gleichzeitig auch zu Abstimmungen. Während der Einzelberatung kann jeder Abgeordnete Änderungsvorschläge einbringen und relativ leicht zu Wort kommen. Das gilt natürlich nur, wenn überhaupt eine ausführliche zweite Lesung stattfindet. Am Ende der zweiten Lesung kann eine Gesamtabstimmung erfolgen. Im Übrigen wird das Ergebnis dieser Lesung, wenn keine Rückverweisung an die Ausschüsse erfolgt, mit den eingetretenen Änderungen in dritter Lesung beraten, für die noch einmal Änderungsanträge gestellt werden können, allerdings nur noch von mehreren Abgeordneten gemeinsam (Fraktionsstärke). Die dritte Lesung wird meist von einer allgemeinen Beratung eingeleitet, dann werden die noch anstehenden Änderungswünsche einzeln beraten, am Ende steht die Schlussabstimmung. Abgesehen von außenpolitischen Debatten und vergleichbaren Anlässen geben also die erste und die dritte Lesung wichtiger Gesetze die beste Gelegenheit zu grundlegenden Äußerungen der Fraktionen, soweit man nicht zweite und dritte Lesung verbindet und auf die Schlussaussprache verzichtet. Das alles wird meist in der sachlichen und etwas trockenen Art genutzt, derer sich die westdeutschen Parlamente seit 1945 befleißigen und die oft etwas steril wirkt. Dies ist nicht zu ändern, sofern man nicht ernstlich das Ablesen von Reden verbietet - die Geschäftsordnungen lassen das zu - und Sitzordnung und Redezeiten nicht anders handhabt. Ohne rasche Wechselrede kann sich kein attraktiver parlamentarischer Stil ergeben. Die „große Debatte" bleibt Ausnahme und kommt überwiegend dem Parlamentsestablishment zugute.

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat In der Bundesgesetzgebung wird die vom Bundestag angenommene Vorlage dann dem Bundesrat zugeleitet. Stimmt dieser nicht zu, ruft er den Vermittlungsausschuss an, dem je 16 Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates angehören. Sein Verfahren ist in einer eigenen Geschäftsordnung geregelt, die vor allem vorsieht, dass über Vorschläge des Vermittlungsausschusses, die von der Abstimmungsvorlage des Bundestages abweichen, keine neue umständliche Beratung mehr erfolgt. Wie noch in anderem Zusammenhang anzusprechen sein wird (s. unten IV., 4.1.), hat sich das Institut des Vermittlungsausschusses so bewährt, dass der Bundesrat von seinem Einspruchsrecht gemäß Art. 77 Abs. 3 und 4 GG nur wenig Gebrauch macht. Wie überall ist auch in der Bundesrepublik die Gesetzesverkündung Sache der Exekutive. In den Ländern sind dafür der Regierungschef und je ein Ressortminister zuständig, auf Bundesebene unterzeichnet außerdem der Bundespräsident. Im Allgemeinen ist unumstritten, dass die Regierung zur Ausfertigung eines Gesetzbeschlusses des Parlaments nicht gezwungen ist, wenn sie begründete Zweifel an dessen Verfassungsmäßigkeit hat. Praktisch kann dies nur vorkommen, wenn ein Entwurf zuerst im Parlament eingebracht wurde und die Regierung mit ihrer ablehnenden Stellungnahme nicht durchgedrungen ist. Da andererseits das richterliche Prüfungsrecht und die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts auch in Fragen der Vereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung Platz greifen, dürfte die Berechtigung der Regierung, ein Gesetz nicht zu verkünden, nur einen äußersten Ausnahmefall darstellen, der eine Brüskierung des Parlaments bedeutete. Das gilt ähnlich für den Bundespräsidenten, dessen Amt ebenfalls Vorlagen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen hat (s. unten IV., 5.). Gesetze, die am Ende der Legislaturperiode nicht ordnungsgemäß verkündet sind, können dann auch nicht mehr verkündet werden und geraten in Vergessenheit. Wer den Gesetzgebungsprozess nur anhand der Geschäftsordnungen der Regierung und der gesetzgebenden Körperschaften verfolgt, übersieht einige wichtige Akteure. Das gilt zum einen für die Fraktionen. Die von ihnen entsandten Ausschussmitglieder sind faktisch Delegierte, denen gegenüber ein mehr oder minder ausgeprägtes Weisungsrecht der Fraktion besteht. Auch in den Ausschüssen wird in der Regel geschlossen abgestimmt; nur gelegentlich zeigte sich innerhalb der Opposition - etwa in der SPD-Fraktion unter der Regierung Kohl (1982-98) - ein „abweichendes" Stimmverhalten (s. W. Ismayr, 2001). Zum anderen ist auf die Wirksamkeit der Verbände zu verweisen. Zwar konzentrieren sich diese auf eine Beeinflussung der Bürokratie, doch werden auch die Parlamentsverhandlungen aufmerksam verfolgt. Da dies legal zumeist durch verbandsangehörige Abgeordnete geschieht und es in allen Fraktionen Brauch ist, bei der Vergabe von Ausschusssitzen solche Verbandszugehörigkeit zu respektieren, gibt es hier für die Verbände keine größeren Schwierigkeiten. In einigen Fällen wird die Verbandsfärbung des Parlaments derart offenkundig (auch in den Ausschüssen), dass es dagegen entschiedenen, freilich wirkungslosen Protest gibt. Ein weiteres Problem verbindet sich mit der relativen Kürze der Legislaturperiode. Da sich jedes Parlament verfassungstheoretisch als eigenständige Körperschaft verstehen muss, für die nicht abgeschlossene Arbeiten ihres jeweiligen Vorgängers sachlich unerheblich sind, bewegt sich zumeist im ersten Jahr nach der Wahl die Gesetzgebungsmaschinerie nur mühsam. Auch beginnt schon weit vor dem Wahltermin eine Periode, in der die Parlamentstätigkeit mehr oder minder vom Blick auf die Wahlen bestimmt wird. Damit ist zum einen die Notwendigkeit angesprochen, sich als Abgeordneter um die Wiederaufstellung zu bemühen und noch mehr als sonst im Wahlkreis präsent zu sein; zum anderen besteht die Versuchung, auf alle unpopulären Gesetzesberatungen zu verzichten. So sind nur das zweite 234

1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust und das dritte Jahr einer Legislaturperiode in vollem Umfang fruchtbar, was in den Ländern noch durch Bundestags- und Gemeindewahlen eingeschränkt werden kann. Die Haushaltsgesetzgebung trifft das ganz besonders. Finden im Herbst Wahlen statt, kommt der nächste Haushalt fast immer zu spät, obgleich man aus ihm meist die „Wahlgeschenke" finanziert. So gibt es beide: die Vorlagen, die man zum Schluss einfach vertagt, und diejenigen, die man nicht mehr gründlich berät, aber „vom Tisch" haben will. Vor diesem Hintergrund finden sich in der öffentlichen Diskussion immer wieder Stimmen, die eine Verlängerung der Legislaturperiode des Bundestages auf fünf Jahre fordern. In den meisten Bundesländern ist dies inzwischen der Fall (Ausnahmen: Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, SachsenAnhalt). Das faktische Recht zur Gesetzgebung wird den Landtagen dadurch streitig gemacht, dass sich der Umfang der genuinen Länderkompetenzen im Zuge der bundesstaatlichen Entwicklung wie der fortschreitenden europäischen Integration beträchtlich verringert hat. Selbst innerhalb der verbliebenen Länderzuständigkeiten spielt immer wieder die „dritte Ebene" zwischen Bund und Ländern eine Rolle, auf der oft einvernehmlich Gesetzentwürfe und Verwaltungsvorschriften erarbeitet werden. Den Landtagen wie dem Bundestag könnte weiter die Gesetzgebungskompetenz durch ein zu großes Übergewicht der Regierung und der hinter ihr stehenden Verwaltung bestritten werden. Im Rahmen der hier vertretenen Vorstellung vom parlamentarischen System bleibt das aber irrelevant, solange die Regierung nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten kann, wenn dieser sich versagt. Davon kann aber staatspraktisch keine Rede sein. Das Parlament ist eher den umgekehrten Weg gegangen und hat bereitwillig den Bereich der Gesetzgebung ausgedehnt, sicher auch eine Reaktion auf seine eigenen Beteiligungsmöglichkeiten. Eine spezifische Variante des Eingriffs in die originäre Gesetzgebungskompetenz des Parlaments gibt es dagegen auf Bundesebene bei zustimmungspflichtigen Gesetzen: Ob diese zustande kommen, hängt letztlich auch vom Bundesrat ab (s. unten). Diese Einflussmöglichkeit bewegt sich verfassungspolitisch und rechtlich auf einem ganz anderen Niveau als die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, das nur die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes prüfen und verneinen kann. Der Bundesrat setzt hingegen seine politische Wertung gegen die des Bundestages. Über die Stellung des Bundestages im Gesetzgebungsbereich lässt sich ein begründetes Urteil deshalb nur gewinnen, wenn man die Rolle und Funktion des Bundesrates einbezieht. Mit der Fortentwicklung der Europäischen Union erfuhr indes auch das legislative Letztentscheidungsrecht des Bundestages zunehmende Einschränkungen. Infolge der „Europäisierung" zahlreicher nationalstaatlicher Aufgabenbereiche sind seit Mitte der 1980er Jahre entsprechende Gesetzgebungskompetenzen von Bonn bzw. Berlin nach Brüssel „abgewandert", wo die Regierungen der Mitgliedstaaten im Ministerrat über eine zentrale Stellung im Entscheidungsprozess verfügen. Dies scheint mit den normativen Grundlagen des Parlamentarismus nur schwer vereinbar. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Anfang der 1990er Jahren die Kontrollrechte des Bundestages in der Europapolitik beträchtlich erweitert wurden (vgl. zum Folgenden u.a. F. Hauck, 1999; W. Zeh, 1999; P. Huber, 2001). Dies betrifft insbesondere Art. 23 Abs. 3 G G sowie das „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union" (EUZBBG), die festlegen, dass die Bundesregierung bei Verhandlungen auf europäischer Ebene Stellungnahmen des Bundestages „berücksichtigen" bzw. diesen Verhandlungen „zugrunde legen" soll. Faktisch ist die parlamentarische Kontrolle der EU-Politik allerdings nicht so weitreichend, wie die benannten Bestimmungen suggerieren. Restriktionen ergeben sich nicht nur aus der politischen Funktionslogik des parlamentarischen Systems, in dem die Abgeordnetenmehrheit den Handlungsspielraum der von ihr gestützten Regierung nicht

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat unnötig „beschneidet" (s. unten), sondern auch daraus, die immer umfangreicheren an den Bundestag überwiesenen EU-Vorlagen sach- und termingerecht zu verarbeiten. In diesem Zusammenhang wurden einige organisatorische und verfahrenstechnische Veränderungen vorgenommen, so etwa die der Bundesregierung eingeräumte Möglichkeit, einer Vorlage im Rat der EU unter „Parlamentsvorbehalt" zuzustimmen, der erst nach Stellungnahme des Bundestages aufgehoben werden und diesem mithin etwas „Luft" verschaffen kann, ohne den Verfahrensgang zu beeinträchtigen. Mit Blick auf die Binnenorganisation des Bundestages bestand die sichtbarste Anpassung in der Einrichtung des „Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union", der 1993 grundgesetzlich festgeschrieben wurde (Art. 45 GG) und dem vom Plenum substanzielle Kontrollkompetenzen in europapolitischen Angelegenheiten übertragen werden können (s. insbesondere §93 GO BT). Im Rahmen des EU-bezogenen Gesetzgebungsprozesses kommt ihm bislang jedoch nicht die Bedeutung einer „echten" parlamentarischen Kontroll- oder gar Mitwirkungsinstanz zu ( W. Zeh 1999, S. 40 fr.).

1.2. Das Parlament als Teil der politischen Führung Die politische Führung soll aus denkbaren Zukünften auswählen, also Ziele setzen, die für die Zielerreichung notwendigen Mittel zur Verfügung stellen, die erforderlichen Entscheidungen treffen und schließlich dafür sorgen, dass diese auch vollzogen werden. Im parlamentarischen System wird rein äußerlich die politische Führung zunächst von Parlament und Regierung gebildet; das „zunächst" verweist aber auf mitzudenkende Einschränkungen. Dies gilt für unscharfe Trennlinien zwischen Parlament, Regierung und Parteien, für den politischen Einfluss von Verbänden und für die dominierende Position der Verwaltung. Mit Blick auf das Parlament sind als die wichtigsten Führungsfunktionen zu benennen: • die Regierungsbildung und die Besetzung weiterer wichtiger öffentlicher Amter; • die Mitwirkung bei der Programmentwicklung und der Mittelbeschaffung; • die Mitwirkung am Entscheidungsprozess (sofern die Entscheidung nicht ohnehin dem Parlament vorbehalten ist); • die Kontrolle der Regierung; sowie • die Öffnung des politischen Prozesses nach außen. Ein solcher Funktionskatalog folgt primär pragmatischen Erwägungen. Er soll hier lediglich die Darstellung gliedern und Verflechtungen aufzeigen, innerhalb derer jeweils einzelne Aufgaben wahrgenommen werden. Zur Regierungsbildung (vgl. u.a. H.-P. Schneider/W. Zeh, 1989): Bundestag und Landtage wählen den jeweiligen Regierungschef, die Regierungsmehrheit beeinflusst darüber hinaus die Zusammensetzung des Kabinetts. Diese Wahlfunktion der Parlamente wird allerdings dadurch eingeschränkt, dass Bundes- und Landtagswahlen insofern plebiszitären Charakter angenommen haben, als vor dem Urnengang geklärt ist, welcher Spitzenkandidat im Erfolgsfall zum Zuge kommen wird (s. hierzu F. Brettschneider, 2002 b). Auch die „Regierungsmannschaft" ist vielfach schon vorher benannt. Danach hat die jeweilige Mehrheit das Kabinett meist nur noch zu bestätigen. Eine darauf zielende Kritik geht jedoch fehl. Zum einen bilden in der Regel die Mehrheit und ihr Spitzenkandidat wirklich eine Einheit Überraschungskoalitionen mit einem bis dato nicht vorgesehenen Regierungschef sind denkbar, müssen aber Ausnahme bleiben - und beziehen sich auf die Wählermehrheit. Zum anderen kommt es nicht nur auf den einmaligen Akt der Regierungsbildung an. Das Parla-

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust ment bildet vielmehr auch die Stätte, an der sich der politische Nachwuchs bewähren kann und an der aus dem politischen Personal dessen Führungskräfte hervorgehen. Der Spitzenkandidat „von außen" bildet - trotz der anfänglichen Erfahrungen in den neuen Bundesländern - eine Ausnahmeerscheinung. Wahl, ggf. Mehrheitsbildung durch Koalition und schließlich Regierungsbildung führen im parlamentarischen System zu einem Nebeneinander von Regierungsmehrheit und Opposition. Ein eher partnerschaftliches Verhältnis ergibt sich dabei durch die ausgedehnte Ausschussarbeit, in der kooperative Formen der Zusammenarbeit überwiegen - im Bundestag weitaus häufiger als in den Landtagen. Eine eindeutige Konfrontation hingegen findet man dort, wo sich das „Freund-Feind-Denken" auf die persönlichen Beziehungen auswirkt oder bestimmte Auseinandersetzungen auf Konfrontation drängen - so in vielen „großen" Debatten des Bundestages, die von diesem im Bewusstsein ihrer Öffentlichkeitswirkung geführt werden. Das Nebeneinander wird am deutlichsten im parlamentarischen Alltag. Der Arbeitsrhythmus des Bundestages sieht etwa vor, dass in den Sitzungswochen der Montag und der Dienstag ganz den Fraktionen vorbehalten sind, am Mittwoch Ausschusssitzungen und im Plenum Fragestunden anberaumt werden, am Donnerstag Plenarsitzungen stattfinden und am Freitag entweder Plenum oder Ausschüsse tagen. In der Praxis beraten am Montag die Fraktionsvorstände (unmittelbar nach den Parteivorständen), am Dienstag die Arbeitsgruppen und dann die Arbeitskreise der Fraktionen, nachmittags die Fraktionen selbst. In den Arbeitskreisen und -gruppen der Regierungsfraktionen sind immer die Parlamentarischen Staatssekretäre und häufig die Minister anwesend. Sie nehmen auch an den Fraktionssitzungen teil. Damit sind Mehrheitsfraktion(en) und Regierung eng verzahnt, gibt es einen ständigen Gedankenaustausch, ist eine starke interne Kontrolle gewährleistet, die auch der Feinabstimmung zwischen der Regierung und der sie tragenden Mehrheit dient. Wer dabei „führt", hängt von der personellen Konstellation ab. Selbstverständlich ist mancher Vorsitzender eines Arbeitskreises oder Obmann einer Arbeitsgruppe „führungsbegabter" als das beteiligte Regierungsmitglied. Auch spielen die Regierungschefs in der Mehrheitsfraktion eine ganz unterschiedliche Rolle. Wie sich dabei Kontrolle und wechselseitige Beeinflussung im Einzelnen abspielen, ist kaum zu generalisieren, weil die Unterschiede zwischen den Parlamenten und den Parteien zu groß sind. Allerdings weiß man, dass manche Minister lieber in den Parlamentsausschuss als in den Arbeitskreis ihrer Fraktion gehen, in dem der Umgangston nicht immer kooperativ und freundlich ist. Die Gremien der Opposition tagen dagegen allein. Manchmal findet sich ein informierender Beamter ein; gelegentlich empfängt man einen Gast der Regierung. Im Übrigen konzentriert man sich auf die Möglichkeiten, die sich in den Gremien des Parlaments und in der Öffentlichkeit ergeben. Dabei kommt in Berlin der potentielle Rückgriff auf die Bundesratsmitglieder der eigenen Partei hinzu. Das fördert den Informationsfluss, es eröffnet auch weitere taktische Möglichkeiten. Eine Opposition, die im Bundesrat gar über die Mehrheit verfügt, wird gelegentlich fast hofiert. Während sich die interne Kontrolle der teilnehmenden Öffentlichkeit entzieht, findet ein großer Teil der Kontrolle durch das Parlament (W. Steffani, 1997, C. v. Boetticher, 2002) nicht nur formal öffentlich statt; die Zuwendung zur Öffentlichkeit liegt vielmehr im System begründet. Während es in den nicht-öffentlichen Ausschusssitzungen meist bei einem Nebeneinander von Regierungsmehrheit und Opposition bleibt, kommt es in öffentlichen Plenarsitzungen häufig zu einem Gegeneinander. Ein Teil der sich historisch entwickelnden Parlamentsfunktionen scheint dabei auf die Opposition übergegangen zu sein (vgl. H.-P. Schneider, 1984, S. 245). Bis in den Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts hinein standen 237

IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat Parlamente in Deutschland einer vom Fürsten eingesetzten Regierung gegenüber und betrachteten sich als Sachwalter des Steuerzahlers oder als Vertreter bestimmter Gruppen (N. Gehrig, 1969; M. Hereth, 1971). Im parlamentarischen System entfallen diese Voraussetzungen; Regierung und Parlamentsmehrheit tragen politische Führung, Gesetzgebung und Vollzug gesamthänderisch. Dass die Kontrollfunktionen deshalb auf die Opposition übergegangen seien, ist allerdings zumindest dann eine unsinnige Vorstellung, wenn Kontrolle mehr sein soll als ein Aufzeigen von Missständen. Zu effektiven Kontrollmaßnahmen bedarf es zum Schluss eines Mehrheitsentscheides, und gerade ihn kann die Opposition nicht herbeiführen. Weil die Opposition in dem Sinne schwach ist, dass sie nur in Ausnahmesituationen das Verhalten des ganzen Parlaments bestimmen kann, gilt ihr ein umfangreicher Minderheitenschutz. Er kommt in Berlin besser zur Geltung als in manchen Landeshauptstädten, weil die Opposition im Bundestag immer noch über den Rückhalt im Bundesrat verfügt. Klagen der Opposition, sie würde in der Wahrnehmung ihrer Rechte benachteiligt, entstammen jedenfalls meist den Landesparlamenten, ein Aspekt, auf den noch zurückzukommen sein wird.3 Der Begriff der parlamentarischen Kontrolle hat Karriere gemacht, weil man verbreitet davon ausgeht, die internen Kontrollbeziehungen zwischen Mehrheitsfraktion(en) und Regierung enthielten zwar (auch) ein kontrollierendes Element, entsprächen damit aber nur bedingt den „eigentlichen" Parlamentsfunktionen. Auf diese Weise rückt die vorwiegend öffentlich veranstaltete Kontrolle, deren Garant die parlamentarische Opposition ist oder doch zumindest sein sollte, in den Vordergrund des Interesses, auch wenn damit Kontrolle nur bis an die Grenzen der Mehrheitsmacht möglich wird. Dieser Kontrolle wegen kam es zu den erwähnten Schutzrechten für die Minderheit und lässt sich - mit Einschränkungen sagen, dass die Opposition zu einem Teil den Gedanken der Gewaltenteilung verkörpert. Das Kontrollproblem entwickelt sich dann in zwei Richtungen·. Zum einen geht es - so schon früh Theodor Eschenburg - um die politische „Richtung", um die Konsequenz, mit der ein (etwa in der Regierungserklärung) angekündigter Weg beschritten wird. In dieser Hinsicht bilden Regierung und Mehrheit eine Erfolgsgemeinschaft. Seitens der Mehrheit muss dabei die interne Kontrolle überwiegen, während die Opposition einerseits Widersprüche zwischen Programm und Programmvollzug aufzudecken sucht und andererseits darstellen kann, welchen Weg sie selbst gehen würde. Ihre „Kontrolle" kann nicht darin bestehen, „der Regierung den Willen des Parlaments aufzuzwingen (Aufsicht) oder das Heil in einer Zusammenarbeit hinter verschlossenen Türen zu suchen (Kooperation), sondern (sie muss) vor allem Publikation von Missständen (Kritik), Aggregation vernachlässigter Interessen (Werbung) und Demonstration eines alternativen Willens (Kontrast)" anstreben (H.-P. Schneider, 1984, S. 273). Ob zu Letzterem die Opposition potentielle Regierungspartei, also mehrheitsfähig sein muss, ist ebenso umstritten wie die Antwort auf die Frage nach den Chancen von Opposition in der Bundesrepublik. Zu einschlägigen Überlegungen braucht hier aber nicht Stellung genommen zu werden, zumal die Bundesrepublik in dieser Hinsicht deutlich eine Entwicklung durchlief. Das Theorem von der „Opposition ohne Alternative" (so M. Friedrichs, 1962) wird heute überhaupt nicht mehr diskutiert und dass sich einer neuen Regierungsmehrheit keinerlei neue Handlungsspielräume eröffnen, kann nur behaup-

3 Zu den Schutzrechten der Minderheiten gehören auch die Immunität und die Indemnität der Abgeordneten (Art. 46 GG; s. hierzu F. Schäfer, 19824, H. J. Vonderbeck, 1983). Zur verfassungsrechtlichen Einordnung vgl. v. a. H.-P. Schneider, 1989, und K. Stern, 19842, S. 23. Zu international-vergleichenden Analysen s. R. Dahl, 1966, W. Steffani, 1991, sowie L. Helms, 2002.

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust ten, wer „Handlungsspielraum" lediglich in weiter Ausdehnung gelten lässt und ein pragmatisches, schrittweises Regierungshandeln ablehnt. Die zweite Richtung, in der sich das Kontrollproblem entwickelt, zielt auf konkrete Leistungs- und Sachkontrollen, auf Kontrolle also der „Vollzugsapparatur", der die politische Führung in ihrer Eigenschaft als Verwaltungsführung gegenübertritt. Hier können Mehrheit und Minderheit durchaus wieder gemeinsam auftreten und die Rolle des Parlamentariers gegenüber der Bürokratie betonen. Verwaltungskontrolle genießt dabei qualitativ wie quantitativ einen hohen Stellenwert im Bundestag und oft mehr noch in den Landtagen. Sie lässt sich vielfach von einzelnen Abgeordneten ausüben oder doch initiieren und wird das beweisen die unzähligen und sich ständig vermehrenden Petitionen - vom Parlament auch erwartet. Inwieweit sie „greift", wird noch zu diskutieren sein. Die Kontrollinstrumente des Parlaments dienen beidem, der Richtungs- wie der Sachkontrolle. Formale Kompetenzen lassen sich unterschiedlich nutzen. Auch das kontrollierende Parlament bewegt sich deshalb zwischen Kooperation und Konfrontation; dabei sind unterschiedlichste Koalitionen möglich. Das erklärt, warum von jenen Instrumenten meist eher formal die Rede ist und warum man fast alle Verhaltensmöglichkeiten des Parlaments und der in ihm vertretenen Gruppen der Kontrolle zurechnen kann. Legt die Regierung einen Gesetzentwurf vor und das Parlament nimmt ihn nur in veränderter Form an, übt es Kontrolle aus. Der Kontrolle dienen aber auch die Registrierung von Interessenverbänden und die Behandlung von Petitionen. In der Praxis sollte man die Wahrnehmung von Kontrollaufgaben deshalb nicht als eine gesonderte Funktion des Parlaments begreifen, sondern eher als Querschnittsfunktion. Das schließt nicht aus, dass es instrumenteil gesehen Kontrollschwerpunkte gibt. Sie seien im Folgenden kurz angesprochen. 4 Zu den verfassungsmäßig gesicherten Kontrollrechten zählen zunächst das konstruktive Misstrauensvotum und die Vertrauensfrage sowie das Recht auf Herbeirufung eines Regierungsmitglieds, ein Recht, von dem hierzulande allerdings sehr sparsam Gebrauch gemacht wird, zumal die Minister insoweit durch die Parlamentarischen Staatssekretäre entlastet sind. Darüber hinaus ist auf die Parlamentarischen Kontrollkommissionen zu verweisen, die den gesetzlich fixierten Auftrag haben, die Nachrichtendienste des Bundes und ihre Wirtschaftspläne zu kontrollieren und Berichte des Innenministers über Eingriffe in die Anwendung des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses entgegenzunehmen (und zu diskutieren). Dabei gibt es mit Blick auf die Zusammensetzung der Kontrollkommissionen Probleme, weil die Beteiligung an ihnen nicht im Gesetz selbst festgelegt ist, sondern sich geschäftsordnungsmäßig bestimmen lässt; damit aber können einzelne politische Gruppierungen ausgeschaltet werden. Die bedeutsamsten Kontrollrechte, wenn man dabei an den parlamentarischen Alltag denkt, ergeben sich mit dem Interpellationsrecht, also den Großen, Kleinen oder Mündlichen Anfragen, sowie den Aktuellen Stunden (vgl. H. G. Ritzel u.a., 1981 ff.). Während es von 1949 bis 2002 nur zu 18 Missbilligungs- und 15 Entlassungsanträgen gegen Bundesminister kam, beriet man in diesem Zeitraum 1.196 Große und 11.409 Kleine Anfragen und stellte über 77.000 mündlich vorgetragene Fragen, die ohne weitere Diskussion beantwortet wurden. Von der Möglichkeit der „Aktuellen Stunde" wurde zunächst sparsam Gebrauch gemacht (7. bis 9. Wahlperiode: 41), im 11. Bundestag stieg deren Zahl dann auf 126 an, um

4 Vgl. außer der bereits genannten Literatur W. Krebs, 1984, K. U. Meyn, 1982, und P. M. Stadler, 1984. Bei P. Schindler, 1999, S. 2636 ff. finden sich eine umfassende Auflistung der Kontrolltätigkeiten und ihre quantitative Erfassung für den Bundestag.

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat in den folgenden beiden Legislaturperioden wieder leicht zurückzugehen (je 103); in der 14. Wahlperiode wurde mit 141 Aktuellen Stunden der bislang höchste Wert erreicht (s. M. F. Feldkamp, 2003). Die Regeln für die Handhabung dieser Instrumente finden sich in der Geschäftsordnung des Bundestages. Mündliche Anfragen kann jeder Abgeordnete einbringen, für „Kleine" und „Große" bedarf es nach § 76 GO BT der Fraktionsstärke. Damit sind Grenzen gezogen; nicht der Einzelne kann eine Debatte in Gang setzen, die Fraktion hat den Vorrang. Was die Quantität anlangt, ist das Petitionswesen hier gleich im Anschluss zu nennen. Das Petitionsrecht ist in der Verfassung verankert (Art. 17 GG) und gehört zum demokratischen „Urbestand". Weniger klar sind die daraus zu ziehenden Konsequenzen (vgl. R. Pietzner, 1974; auch W. Graf Vitzthum/W. März, 1989). Das führte in Bonn zu längeren Diskussionen und 1975 zu einer Änderung des Grundgesetzes, in das Art. 45 c aufgenommen wurde, der den Petitionsausschuss über die Ebene der Geschäftsordnung des Bundestages hinaus fest verankerte und für sein Verfahren ein Gesetz vorschrieb, das ebenfalls 1975 erlassen wurde. Es räumt dem Ausschuss Auskunfts- und Anhörungsrechte, einen Amtshilfeanspruch und die Möglichkeit ein, die Ausübung der Befugnisse im Einzelfall auf ein einzelnes Mitglied zu übertragen. Der Ausschuss verfügt über eine größere Amtsausstattung, regelmäßige Berichte bewirken eine entsprechende Publizität (vgl. die Daten bei Ρ Schindler, 1999, S. 3133 ff.). Der jährlich vorzulegende Petitionsbericht gibt einen interessanten Einblick in jene bürgerschaftlichen Mónita, denen gewöhnlich eine eher geringe Öffentlichkeit zukommt. Nach dem neuesten Petitionsbericht (2002) kam es im Jahr 2001 zu insgesamt 15.765 Eingaben von Bürgern oder Bürgerinitiativen, wobei es sich in 41 Prozent der Fälle (6.466) um Bitten zur Gesetzgebung und in 59 Prozent (9.299) um Beschwerden über das Vorgehen einer Behörde handelte. Inhaltlich geht es vor allem um jene Bereiche, die nicht in die Routinen des politischadministrativen Handelns „passen". Wie in den Vorjahren war auch 2001 das Ressort „Arbeit und Soziales" mit mehr als 5.000 Eingaben „Spitzenreiter", gefolgt von den Bereichen „Justiz" (2.443), „Gesundheit" (1.452) und „Finanzen" (1.447). Bei Sammel- und Massenpetitionen ging es am häufigsten um Fragen des Rentenrechts der DDR, der Forderung nach Atomausstieg, der Herabsetzung der gesetzlichen Ozongrenzwerte sowie um die verfassungsrechtliche Stellung des Sonntags. Zieht man das Ausmaß an querulatorischen Eingaben ab, erweist sich, dass der Petitionsausschuss insgesamt eine wichtige Funktion wahrnimmt. Gerade angesichts des Fehlens eines Ombudsmannes kommt dieser ungewöhnlichen Form, sich an die gesetzgebenden Einrichtungen zu wenden, eine große Bedeutung zu. Deshalb stimmt es bedenklich, dass die Umsetzung vieler sachlich durchaus begründeter Petitionen durch die Bundesregierung nicht zufrieden stellen kann. So wurden 2001 nur acht der 469 an die Bundesregierung überwiesenen Eingaben „positiv erledigt". Die Petitionsausschüsse der Länder gelten meist als noch einflussreicher, zum Teil aufgrund der geringen Kompetenzen der Landtage, zum Teil, weil man dort der Verwaltung näher ist und somit Kontrolle direkter ausüben kann. Im Zusammenhang mit dem Petitionswesen ist auch der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages (Art. 45b GG) zu nennen und an die Datenschutzbeauftragten zu erinnern, die in der Regel nicht dem Parlament, sondern der Regierung zugeordnet sind, deren Berichte aber entweder direkt dem Parlament zugehen - so der Bremischen Bürgerschaft - oder doch von jedem Parlament aufgegriffen werden können. Dem Wehrbeauftragten entspricht cum grano salis der Bürgerbeauftragte in Rheinland-Pfalz, der, in der Tradition des Ombudsmanns stehend, einige Aufmerksamkeit verdient (U. Kempf/H. Uppendahl, 1986). Ferner sind im Bereich der parlamentarischen Kontrolle zwei weitere Handlungsmöglichkeiten zu erwähnen: Enquête-Kommissionen und Untersuchungsausschüsse. Die Einrich240

1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust tung einer Enquête-Kommission, die von einem Viertel der Bundestagsmitglieder eingesetzt werden kann, ermöglicht es dem Bundestag, sich auch mit Hilfe von externen Experten in einem bestimmten Bereich umfassend zu informieren und Vorschläge zu erarbeiten, ohne dabei die Konfrontation im Rahmen von Untersuchungsausschüssen in Kauf nehmen zu müssen (vgl. XV. Hoffmann-RiemlU. Ramcke, 1989; R. Altenhof, 2002; zur Übersicht über die bisherigen £nç«êfe-Kommissionen s. Materialband, VI/8). Thematisch stand hierbei seit den 1980er Jahren die Technologiebewertung oder Technologiefolgenabschätzung im Mittelpunkt (A. Vierecke, 1994; R. Graf v. Westphalen, 1997). Ein einerseits sehr effektives, andererseits aber auch durchaus problematisches Kontrollrecht ergibt sich aus der Möglichkeit, Untersuchungsausschüsse einzusetzen (vgl. hierzu ausführlich D. Wiefelpütz, 2003). Der entsprechende Antrag ist von einer qualifizierten Zahl von Abgeordneten (einem Viertel der Bundestagsmitglieder) einzubringen, wobei eine Aussprache nicht stattfindet. Das Parlament muss daraufhin den Untersuchungsausschuss einsetzen, „der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt". Während des Verfahrens wird die Strafprozessordnung „sinngemäß" angewandt (Art. 44 GG). Derartige Bestimmungen haben eine längere Tradition und finden sich vergleichbar auch in anderen Ländern. Ihre Problematik ist ebenfalls eher allgemeiner Natur. Sie ergibt sich daraus, dass sich schlechterdings kaum klären lässt, was letztlich in die Kompetenz solcher Ausschüsse fallen sollte; zudem lassen die Mehrheitsverhältnisse im Parlament eine sinngemäße Anwendung der Strafprozessordnung kaum zu. Maßvoll angewandt, kann das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen dem Parlament brauchbare Möglichkeiten einer unmittelbaren Kontrolle von Verwaltungsaktivitäten eröffnen; sobald politische Fragen einbezogen werden, ergeben sich beträchtliche Schwierigkeiten. Entweder stellt die Minderheit den Antrag und die Mehrheit ist uninteressiert, muss aber mittun und im Ausschuss sogar die Leitung übernehmen, oder aber die Mehrheit geht gegen die Minderheit vor und verfügt dann auch noch über die Mehrheit im Ausschuss. Aber auch wenn es um Verwaltungsfragen geht, sind die Möglichkeiten eines Ausschusses begrenzt; Akteneinsicht und Zeugeneinvernahme vermögen gegenüber einer gut eingespielten Verwaltung wenig zu bewirken. Vor allem die „politischen" Untersuchungsausschüsse haben die Fragwürdigkeit des Verfahrens deutlich gemacht. Dabei standen am Beginn der Entwicklung der Spielbankenausschuss des Bayerischen Landtages, in dem Geldzuwendungen an die Bayernpartei untersucht wurden und dessen Verhandlungen mehrere Meineidsverfahren zur Folge hatten, sowie der Fibag-Ausschuss des Bundestages (1962), der Verbindungen zwischen Bundesverteidigungsminister Strauß und einem gescheiterten Bauprojekt untersuchte. In dem Spielbankenausschuss wurde offenbar, dass die Strafprozessordnung vor allem im Hinblick auf die Zeugenvereidigung problematisch ist, da vor einem solchen Ausschuss faktisch nur Zeugen vernommen werden, auch wenn es sich eigentlich um Angeklagte handelt. Im Fibag-Ausschuss erwies sich, dass in hochpolitischen Fragen die beteiligten Abgeordneten kaum unabhängig genug sind, um eine ordnungsgemäße Verhandlung zu gewährleisten. Auch in neueren Ausschüssen wie dem Flick-Ausschuss (1983) (Parteispenden), dem NeueHeimat-Ausschuss (1986), dem U-Boot-Ausschuss (1986/87) oder auch dem Untersuchungsausschuss zur CDU-Spendenaffäre (2001) kam Unerquickliches zutage - zum Teil in einer Form, welche die „Wahrheitsfindung" eher beeinträchtigte als begünstigte. Schon frühe Reformvorschläge, wie die der Konferenz der Landtagspräsidenten (1962/1972), zielten deshalb vor allem darauf, Untersuchungsausschüsse nur einzusetzen, wenn sie dem Parlament Grundlagen für eine Beschlussfassung „im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeit" vermitteln können. In Bayern wurde beschlossen, auf die obligatorische Zeugenvereidigung zu verzichten. Im Übrigen bleibt es der Einsicht der Fraktionen über-

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat lassen, von dem einmal gegebenen Recht nur sparsam Gebrauch zu machen und sich vor allem auf Fragen zu konzentrieren, die eher Sachergebnisse zeitigen können und weniger dem Meinungsstreit unterworfen sind. Als potentieller Untersuchungsausschuss gilt schließlich der Verteidigungsausschuss gemäß Art. 45 a Abs. 2 GG. Zwischen zwei Wahlperioden gab es zudem den „Ständigen Ausschuss" mit gleichen Rechten. Dieses Institut blieb aber bedeutungslos; Verteidigungsund Auswärtiger Ausschuss traten hingegen zwischen den Wahlperioden schon zusammen (vgl. R. Kipke, 1985). Die formalen Kon trollmöglichkeiten sind unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten anzusprechen. Drei davon seien kurz benannt. Zum einen fehlt es an der notwendigen Klarheit derjenigen Kontrollmittel, bei denen Mehrheit und Minderheit zusammenwirken müssen. Das gilt in erster Linie für die Untersuchungsausschüsse. So klagte 1980 die (SPD-)Opposition in Bayern, weil die Regierungsmehrheit ihr einige Beweisanträge in einem Untersuchungsverfahren abgelehnt hatte. Schon 1978 war die Opposition aus einem Untersuchungsausschuss ausgezogen, weil die Mehrheit ihre Anträge ablehnte. 1979 kam es in Stuttgart zu einem Eklat; hier schloss die Mehrheit ein Minderheitenmitglied des Untersuchungsausschusses aus, weil sie es für befangen hielt. 1978 gab das Bundesverfassungsgericht der Klage der Opposition im Kieler Landtag statt, nach der die Mehrheit keinesfalls den von der Minderheit bezeichneten Untersuchungsgegenstand durch Zusatzfragen erweitern dürfe. In allen Fällen richtete sich das Untersuchungsbegehren gegen die Mehrheitspartei oder zumindest eines ihrer Mitglieder. Je stärker die jeweilige Mehrheit verankert ist, desto eher wird sie geneigt sein, das entsprechende Oppositionsrecht nach Möglichkeit zurechtzustutzen; keine Ordnung kann das ausschließen, eben weil konkret gehandelt werden muss und es keinen Ausschuss der Opposition allein geben kann. Das gilt ähnlich auch für Petitionen, die vom Ausschuss, praktisch also von der Mehrheit, zu behandeln sind. Über Petitionen kann die Opposition zur Akteneinsicht gelangen oder mit Hilfe der Anhörung von Petenten und Zeugen sich andere Einblicke verschaffen, sofern dies in der Geschäftsordnung entsprechend geregelt ist. Es bedarf aber der Mitwirkung der Mehrheit. Damit ergeben sich zuletzt Stilfragen oder aber die Gefahr, dass langwährende Mehrheiten besonders kleinlich gegenüber der Minderheit verfahren. Die Vielzahl der Kontrollvorgänge verweist weiter auf das Problem, dass einerseits viele Tausend mündlicher Anfragen in einem Parlament eine entsprechende Arbeitszeit innerhalb der Verwaltung erfordern, und dass andererseits kaum mehr auf das Gewicht des jeweiligen Gegenstandes wirklich geachtet wird, sondern Profilierung und Selbstdarstellung dominieren. Nur der „fragende" Hinterbänkler kommt ins Protokoll und womöglich mit der Antwort der Regierung in die örtliche Tageszeitung. In allen Parlamenten wird deshalb überlegt, wie man zu entsprechenden Einschränkungen gelangen kann. Da es aber eine politische Wertung bleibt, ob man etwas für bedeutsam hält oder nicht, ist für das Parlament insgesamt kaum Handlungsspielraum gegeben. Zahlreiche mündliche Fragen, aber auch viele Kleine Anfragen, werfen zwar ein merkwürdiges Licht auf den Fragesteller, das Gleichheitsprinzip erzwingt aber eine Antwort. Parlamentarier tragen damit zum Leerlauf in der Verwaltung bei. Das gilt inzwischen auch für Petitionsausschüsse, durch die in Landtagen nicht selten eine Arbeitsbefriedigung vermittelt wird, die dem Abgeordneten sonst kaum widerfährt. Die Voraussetzung ist sehr oft, dass man etwas macht, was mit geringerem Aufwand erfolgen könnte, oder dass man massiv in die Verwaltung eingreift und damit insgesamt verzögernd wirkt. Das dritte und entscheidende Problem: Wenn sich Kontrollvorgänge ins Tausendfache hin steigern, vollzieht sich zugleich ein Abwertungsvorgang. Knapp 5.000 Kleine Anfragen in 242

1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust einer Wahlperiode des Bayerischen Landtages bedeuten, dass kaum eine von ihnen allgemeines Interesse beanspruchen kann. Die massierte Kontrolle stellt sich bei näherem Zusehen als eine spezifische Form der Flucht aus der Öffentlichkeit dar. Wenn etwas halbwegs bedeutsam sein soll, muss es vom Fraktionsvorstand kommen - so die natürliche Reaktion der Journalisten. In der Konsequenz wird Kontrolle zu einem Teil abgewertet, zu einem anderen Teil vermindert sich das Kontrollelement zugunsten des Profilierungsaspektes. Von der Debatte und der „großen" Öffentlichkeit ausgeschlossene Abgeordnete müssen ihren Profilierungsbedarf auf ihre Weise befriedigen. Da sie örtlich nur präsent sein, nichts aber unmittelbar bewirken können, muss sich Aktivität im Vermittlungsbereich zwischen Wahlkreis und Zentrale finden und dokumentieren lassen. Zu ihm gehört das „Verkünden" froher Botschaften (etwa über die Zuteilung spezifischer Ressourcen), die Anfrage über lokale Angelegenheiten im Parlament, die Zuschussbewilligung im Ausschuss, die Unterstützung einer Petition oder der „Transport" örtlicher Wünsche in die zuständige Ministerialverwaltung. Zwar gibt es in diesem Tätigkeitsbereich erhebliche Unterschiede zwischen Bundestag und Landtagen, aber auch deutliche Gemeinsamkeiten. Die über die „Telekratie" der Fraktionsführung klagenden Hinterbänkler, die „wenigstens" mit derartigen Aktivitäten zum Zuge kommen wollen, verstärken nur die Medienfixierung und die ihr zugrunde liegende Hierarchie. Die vom Parlament erwartete Zuwendung zur Öffentlichkeit, die kommunikative Vermittlung zwischen Bevölkerung und engerer politischer Führung, wird zugleich zu einem erheblichen Teil eher im Detail wahrgenommen. Das Detail aber schließt Öffentlichkeit auf seine Weise aus und zwingt das Parlament zu bürokratischem Verhalten. Petitionen im Übermaß kann kein Ausschuss behandeln. Man muss eine Vorprüfung (durch Beamte) einrichten, was das Bundesverfassungsgericht zwar für zulässig erklärt, aber auch kritisch kommentiert hat. Die „praktischen Bedürfnisse" entscheiden letztlich auch hier.

1.3. Haushaltsberatung und Haushaltskontrolle Das Grundgesetz beschäftigt sich im Anschluss an den Grundrechtsteil und an die eher prinzipiellen Artikel des Abschnittes II mit den obersten Organen des Bundes (Abschnitte III bis VI) und mit den klassischen Staatsfunktionen der Gesetzgebung, des Vollzuges und der Rechtsprechung. Abweichend von dieser Systematik findet sich ein eigener Abschnitt X über das Finanzwesen. Er zerfällt in einen materiellen Teil, der vorwiegend durch die föderalstaatliche Kompetenz- und Arbeitsteilung bedingt ist, und in einen Teil mit Verfassungsregeln. Sie gelten ähnlich auch in den Ländern. Ihnen zufolge müssen alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes in einen Haushaltsplan eingestellt und muss dieser durch Gesetz festgestellt sein, wobei abweichend vom sonstigen Verfahren der betreffende Entwurf dem Bundesrat und dem Bundestag zugleich zugeht (Art. 110 GG). Das Haushaltsgesetz soll vor Beginn des in ihm angesprochenen Zeitraums beschlossen sein; kommt es dazu nicht, kann die Bundesregierung bei Vorliegen spezifischer Voraussetzungen auch ohne Gesetz wirtschaften (Art. 111 GG). Uberschreitungen des Plans im normalen Vollzug bedürfen der Genehmigung des Finanzministers (Art. 112 GG), Gesetze mit finanziellen Folgen der Zustimmung der Bundesregierung (Art. 113 GG). Der Bundesminister der Finanzen legt für die Regierung Rechnung, die wiederum der Bundesrechnungshof prüft (Art. 114 GG). Schließlich wird die öffentliche Kreditaufnahme geregelt. Mit diesen Grundzügen des Haushaltsrechts (vgl. u.a. E. A. Piduch, 1969ff.; W. KriigerSpittalH. Bronck, 1973; W. Heun, 1989; J. Schuy, 200219) erwächst dem Parlament ein wirksames Kontroll- und ein erhebliches Mitwirkungsrecht im engeren Exekutivbereich. Während 243

IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat das Haushaltsgesetz nur den Gesamtumfang der Einnahmen und Ausgaben, den Kreditplafond und Ermächtigungen festlegt, umfasst der beigefügte Haushaltsplan das gesamte finanzielle Gefüge, in dem sich Staatstätigkeit vollzieht, einschließlich sämtlicher Planstellen, Investitionen und Reisekosten. Dabei wird zwischen den verschiedenen Ausgabearten nur bedingt unterschieden; vor allem finden sich die Ausgaben aufgrund zwingender gesetzlicher Verpflichtungen nicht zureichend ausgesondert. Innerhalb des riesigen, im Bund mehrere tausend Seiten umfassenden Gesamtplans lassen sich deshalb nicht überall Korrekturen anbringen; die Macht des Parlaments zeigt sich nur, wenn Ausgabeerhöhungen ohne gesetzliche Verpflichtung beantragt werden. Im Übrigen wird wie folgt verfahren: Spätestens im Frühsommer melden die Ministerien ihre Forderungen dem Finanzminister. Diese Forderungen müssen sich seit deren Einführung an die Richtwerte der Mittelfristigen Finanzplanung halten. Sofern es sich um einen Doppelhaushalt handelt, dürfen für das zweite Jahr Korrekturen nur unter bestimmten engen Voraussetzungen beantragt werden. Über die Anforderungen verhandelt man dann zwischen Fach- und Finanzministerium zunächst auf der Referenten- und Abteilungsleiterebene; ungeklärte Streitfragen suchen anschließend die Staatssekretäre und notfalls die Minister zu lösen; dem Kabinett legt man nach Möglichkeit keine Einzelfragen mehr vor. Hier bedeutet die Mittelfristige Finanzplanung ein wichtiges Führungsmittel, sofern die Kabinettsdisziplin ausreicht und alle Minister sich bei der Planvorbereitung an den ihnen zugewiesenen Plafond halten. In den Verhandlungen muss der Finanzminister dafür sorgen, dass der Haushalt ausgeglichen ist, entweder durch Deckungsgleichheit von Einnahmen und Ausgaben oder - in der Regel - durch eine Kreditaufnahme in Höhe des voraussichtlichen Fehlbetrages. Der vom Kabinett verabschiedete Entwurf wird dem Parlament, im Bund Bundestag und Bundesrat, zugeleitet. Der erstere beraumt wie die Landtage eine ausführliche erste Lesung an, die weitgehend einer Grundsatzdebatte über die Ressortaufgaben dient, wobei der Einzelplan des Bundeskanzlers Anlass für eine allgemeine politische Aussprache bietet. Anschließend verhandelt der Haushaltsausschuss, dem dazu auch die Voten der Fachausschüsse vorliegen. Erfahrungsgemäß nehmen die stark von der Anwesenheit der zuständigen Beamten bestimmten Fachausschussverhandlungen einen eher hektischen Verlauf, weil oft sehr große Einzelhaushalte in wenigen Sitzungen beraten werden, während sich der Haushaltsausschuss etwas mehr Ruhe verschafft und meist auch nur die Leitungsebene der Ministerien zu seinen Beratungen zulässt. Ressort- und Haushaltsausschuss benennen im übrigen Berichterstatter für den Ressorthaushalt oder Teile davon, die ggf. schon vor den Ausschusssitzungen mit den Ressorts verhandeln und häufig eine Moderatorenrolle übernehmen. Kontrolle und Mitwirkung des Parlaments (vgl. prinzipiell E. Busch, 19914, und das Handbuch von E. Heuer/H. Dommach) vollziehen sich vorwiegend in diesen Ausschusssitzungen. Dort bleibt die Möglichkeit zu kleineren Korrekturen; man kritisiert am konkreten Haushaltstitel, stellt Beamte zur Rede oder gibt Anregungen für das kommende Jahr. Was vorund nachher im Plenum geschieht, ist unter Öffentlichkeitsgesichtspunkten zu sehen; im Übrigen beschließt das Plenum meist den Ausschussvorlagen entsprechend und nur selten spontan. Da die Bundesregierung und jede Landesregierung im Haushaltsplan über einzelne Politiken umfassend Auskunft geben müssen, kann sich bei alledem das Parlament auch in Einzelheiten vertiefen. Allerdings macht man auf diese Weise nicht Haushaltspolitik (sie verbleibt ganz bei der Regierung), sondern man nimmt Einfluss, kontrolliert, interveniert. Mit dieser Einschränkung zählen die Haushaltsausschüsse - mehr noch in den Landtagen als im Bundestag - zu den wichtigsten Ausschüssen und gelten die Haushaltsexperten der Parteien als besonders einflussreich. Sie stehen in ständigem Kampf mit Ministerialbeamten, die ihrerseits eine große Fertigkeit entwickeln, für kleine Beträge fast

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust „lyrische" Erläuterungen vorzulegen, um große mit einem Nebensatz abzutun. Das ändert aber für alle Beteiligten nichts daran, dass der politisch verfügbare Teil der Haushalte sich immer mehr verringert und eines so aufwendigen Beschlussverfahrens eigentlich kaum mehr bedarf. Der „Spielraum" der Regierung und damit auch des Parlaments vermindert sich entsprechend (vgl. dazu mit weiterer Literatur R. Sturm, 1988). Die deutschen Parlamente erwarten mit Blick auf den Haushalt ein intensives Zwiegespräch mit der Exekutive und verhalten sich entsprechend der deutschen Tradition als die eigentlich Bewilligenden. Das kommt auch der Opposition zugute. Sie kann zwar keine Beschlüsse herbeiführen, ist aber umfassend am Beratungsprozess beteiligt. Aus der Haushaltsgestaltung finden sich die Parlamente hingegen mehr und mehr ausgeschaltet. Politisch entscheidend sind hier die Daten, an denen die Regierung die Richtwerte für die mehrjährige Finanzplanung ausrichtet. Mit ihr hat man zwar die Probleme der früheren einjährigen Haushaltsfrist, die weder den Investitionsprogrammen noch den konjunkturpolitischen Erfordernissen entsprach, überwunden, dafür aber die haushaltspolitische Entmachtung des Parlaments noch ein Stück vorangetrieben. Wo immer politische Planung beginnt, stärkt das zunächst die Exekutive und schwächt die parlamentarischen Gremien, solange man keine Verfahren zu frühzeitiger Beteiligung entwickelt, ohne die unterschiedlichen Formen der politischen Verantwortung gänzlich zu vermischen. Weil politische Planung in erster Linie Finanzplanung ist, kommt diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Bei aller Ausführlichkeit der Haushaltsberatungen des Bundestagsplenums ist jedenfalls der Haushalt noch mehr als die Gesetzgebung zur Sache der Exekutive geworden. Die Planungsimperative verstärken diesen Trend ebenso wie die Entwicklung der Haushaltsbewirtschaftung. Sie räumt dem Finanzminister zunehmend mehr Handlungsspielraum ein; die „bewilligende" Rolle des Parlaments wird immer mehr zu einer „ermächtigenden". Unter diesen Umständen ist das Haushaltsgrundsätzegesetz (1969) neben der Bundeshaushaltsordnung eine wichtige Determinante staatlichen Handelns. Dass in der Haushaltsplanung und -bewirtschaftung das Parlament etwas zurücktritt, ist allerdings nicht mit Kontrollverlusten gleichzusetzen. Planung und Vollzug gelangen auf andere Weise an die Öffentlichkeit - etwa durch den jährlichen Finanzbericht des Bundesministers der Finanzen. Planungs- und Vollzugsmacht (vgl. H. Mandelartz, 1980; J. Welz, 1982) wachsen auf Kosten des Parlaments. Das macht jeder Vergleich mit Haushaltsplänen des 19. Jahrhunderts deutlich, die im Bewilligungsteil meist viel konkreter und spezifischer waren als die Pläne der Gegenwart, die dafür eine beweglichere Haushaltspolitik zulassen. Angesichts einer solchen Entmachtung könnte man mit einer Intensivierung der Haushaltskontrolle rechnen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Zwar steht der Verwaltung, letztlich auch als Parlamentshilfe, eine umfangreiche Rechnungsprüfung gegenüber und untersuchen Bundesrechnungshof wie Landesrechnungshöfe (in ihrem Spitzenpersonal mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattet) die gesamte Haushaltsführung, nehmen Stichproben vor, prüfen unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten und erarbeiten daraus umfangreiche Berichte (vgl. S. Tiemann, 1974; N. Diederich u. a., 1990; C. Meissner, 1995) - das anschließende Verfahren nimmt dem aber viel von seiner Wirkung. Die Berichte der Rechnungshöfe gehen zunächst der Regierung zu; die Ministerien nehmen Stellung; mit der Weiterleitung an das Parlament aber lässt man sich Zeit, zumal das Parlament vom Ergebnis nicht viel Aufhebens macht, nachdem es vorher meist zu einer Ausweitung des Haushaltes beigetragen hat. Auch erfolgen immer wieder Vorveröffentlichungen, die zu Schuldzuweisungen und entsprechender Parteinahme führen. Viel später erst beschäftigen sich der Haushaltsausschuss oder der Rechnungsprüfungsausschuss - oft Unterausschuss des ersteren - mit den Empfehlungen und erstatten dem Plenum Bericht. J.Hirsch (1968, S. 143ff.) kam deshalb

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat zu dem auch heute noch zutreffenden Ergebnis, die Rechnungsprüfung funktioniere als Verwaltungskontrolle, als Verfassungskontrolle hingegen (dort, wo die Rechnungshöfe als Hilfsorgan des Parlaments fungieren sollten) könne man nur von einer eingeschränkten Wirkung sprechen. Die Einschränkungen verbinden sich nicht zuletzt damit, dass die Rechnungshofberichte oft Einzelheiten der Verwaltungsführung betreffen und weniger auf politische Randbedingungen abstellen. Deshalb ist es an dieser Stelle auch nicht von sonderlichem Interesse festzustellen, dass sich die Verwaltung durch Schaffung privater Kostenträger und Zuschussempfänger der Kontrolle entziehen kann und die Effizienz der Rechnungsprüfung zumindest unterschiedlich zu beurteilen ist. Insgesamt dürfte sie für Regierung und Verwaltung zwar oft ärgerlich, kaum aber hinderlich sein. Im Endergebnis misslingt das idealtypische Nebeneinander von eher bürokratischer und eher parlamentarisch-politischer Rechnungskontrolle. 1.4. Parlament und Öffentlichkeit Die Stellung des Bundestages und im Prinzip auch die der Landtage ist geprägt durch den Anteil an der politischen Führung, der sich in Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit der Regierung ergibt. Da zwischen Regierung und Verwaltung keine definierbare Grenze verläuft, greift das Parlament auch in den engeren Verwaltungsbereich hinein. Seine Instrumente sind konkrete Beschlüsse im Rahmen des Haushaltes, Genehmigungsvorbehalte vor allem bei größeren Projekten, die Thematisierung strittiger Fragen in Ausschüssen, u.a.m. Solche Instrumente werden in den Landtagen häufiger eingesetzt, da sie der Verwaltung oder den Einzelentscheidungen der Regierung näher stehen. In den Stadtstaaten sind die Übergänge zum Rat einer Großstadt ohnehin fließend, was vor allem bei den Bausatzungen sichtbar wird. Sie werden in Hamburg auch für relativ kleine Gebiete beschlossen, müssen staatspraktisch als „Gesetz" zustande kommen und lassen deshalb die Hansestadt in der Statistik der legislativen Leistung immer, wenn eben auch nur scheinbar, führen. Im Blick auf den genannten Anteil geht es aber vor allem um das Inhaltliche dieses Teils und um die Form, in der er vom Parlament wahrgenommen wird. Inhaltlich ist die Wahlkompetenz des Parlaments zwar faktisch, nicht aber formal eingeschränkt, erscheint die Mitwirkung an der Gesetzgebung durch Mitwirkungsverfahren der Regierung überlagert, bestreitet aber niemand das Recht des letzten Beschlusses - die Ausnahme auf Bundesebene wird noch zu erörtern sein - und geht jedermann davon aus, dass die Regierungsmehrheit am Regieren durch Rat und Tat beteiligt ist und der Opposition gewichtige Kontrollmöglichkeiten zustehen. Versagt sich die Mehrheit, kann man allenfalls klagen. Als sich Ministerpräsident F. J. Strauß 1980 weigerte, eine vom Landtagspräsidenten zugelassene Anfrage nach den Auslandsreisen der bayerischen Minister (und nach deren Kosten) beantworten zu lassen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.4.1980), nutzte er seine Mehrheitsmacht; sein Vorgänger hatte sechs Jahre zuvor eine ähnliche Frage anstandslos und rechtzeitig beantwortet. Strauß ließ den Fragesteller erst einmal zwölf Wochen warten. Die Machtfrage ist zugleich eine Stilfrage. Beides wird halbwegs relevant, weil sich der Vorgang „öffentlich" abspielt. Das Verhältnis des Parlaments zur Öffentlichkeit erweist sich dabei als das Kernproblem des deutschen Parlamentarismus. Nahezu alle Erörterungen zu einer Parlamentsreform in der Bundesrepublik stellen darauf ab.5

5 Über die Diskussion und über einzelne Reformversuche unterrichten zunächst G. Loewenberg, 1969, M. Hereth, 1971, U. Thaysen, 1972, H. Rausch, 19764, und F. Schäfer, 1982. Die Vorschläge zur Par-

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust Dabei geht es vor allem um zwei Bereiche: die Arbeitsbedingungen und den Arbeitsstil, ggf. auch um die Verhaltensweisen der Abgeordneten - insgesamt aber und vor allem um die politische Position des Parlaments. Dass man sich leicht über verbesserte Arbeitsbedingungen verständigen kann, versteht sich von selbst. Die parlamentarische Arbeit begann 1949 in provisorischem Rahmen. Sparsamkeit galt lange als Tugend, die sich besonders vom ehrenamtlichen Abgeordneten erwarten ließ. Da dieser Abgeordnete in Wahrheit aber bald als Berufspolitiker tätig war, ergaben sich Klassenunterschiede allein aufgrund der Arbeitsbedingungen. Im Parlament sparte man; nur einer Führungsgruppe standen Sekretariat und Assistent zur Verfügung. Begünstigt waren außerdem die Abgeordneten, die in Bonn oder in den Landeshauptstädten als Rechtsanwälte, Verbandsmitarbeiter oder Firmenvertreter über ein Büro verfügten, das die Informationsbeschaffung und Wahlkreisbetreuung erleichterte. Ähnlich wie bei den Diäten zog man dann aber doch allmählich Konsequenzen aus der veränderten Situation des Abgeordneten und bot ihm Büroanteil, Schreibkraft, den Assistenten und auch innerhalb des Parlaments eine Amtsausstattung mit wissenschaftlichem Hilfsdienst und Bibliothek, so dass die Vorbedingungen für eine Gleichbehandlung der Abgeordneten gegeben waren. Dieser gesamte Komplex, in dem selbstverständlich immer vieles umstritten ist, wurde jahrelang auch unter dem Stichwort Parlamentsreform diskutiert. Er ist im Folgenden zu vernachlässigen. Die Parlamentsreform im engeren Sinne stellt sich zunächst als ein „notwendiger und ständiger Prozess der Angleichung von Mitteln und Möglichkeiten des Parlaments an die Dynamik interdependenter Entwicklungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens und an die Gegebenheiten einer sich wandelnden Welt" dar (H. Rausch, 1977, S. 450). Insofern reagiert man mit der Diskussion über die Parlamentsreform auf ganz unterschiedliche Entwicklungen: auf Veränderungen im Steuerungsinstrumentarium, auf die Bevorzugung der Regierung in den Massenmedien oder auch auf die zunehmende internationale Verflechtung. Einen Konsens über eine Parlamentsreform gab und gibt es allerdings nicht, lediglich ihre Notwendigkeit ist unbestritten. Ein Konsens setzte eine klare Zielorientierung voraus, die sich sowohl auf die Einordnung der Parlamentsreform in einen umfassenden Reformprozess als auch auf die konkrete Funktionsbestimmung des Parlaments selbst beziehen müsste. In der politischen Praxis der Bundesrepublik hängt man indessen (oft gleichzeitig) unterschiedlichen Modellvorstellungen an und beurteilt (verständlicherweise) die Realität höchst kontrovers. Hinsichtlich der Modelle widersprechen sich vor allem das eher am britischen Unterhaus entwickelte Bild vom Redeparlament und das eher der deutschen Tradition entsprechende Bild vom Arbeitsparlament. Zum Ersteren gehören die strikte Gegenüberstellung von Regierungsmehrheit und Opposition, die große Zahl der Plenardebatten, der weitgehende Verzicht auf die Ausschussarbeit und die „Gouvernementalisierung" im Sinne des Verzichts einer Teilhabe des Parlaments am Führungswissen der Regierung und an wichtigen Entscheidungen, also im Sinne eines Verzichts der Opposition auf Mitwirkung. Da der Bundestag selbst kein eindeutiges Verständnis seiner Rolle entwickelt hat, lassen sich seine bisherigen Reformen auf den einen wie auf den ande-

lamentsreform listen vor allem Thaysen und Hereth auf. Eine gute Dokumentation bietet C. F Liesegang, 1974. Bemühungen in Länderparlamenten schildern M. Friedrich, 1975 und 1989, sowie W. Hoff mann-Riem. 1993. Uber Einstellungen der Abgeordneten informieren //. Maier/H. Rausch u.a. 19792, sowie E. Hübner, 1980. Über Einzelheiten unterrichtet zuverlässig die Zeitschrift für Parlamentsfragen. Zum neuesten Stand vgl. S. Marschall, 1999 sowie W. Ismayr, 20012. Aus der Sicht von Parlamentariern vgl. immer noch H. Hamm-Brücher, 1991

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat ren Typus beziehen und aus beiden Typen rechtfertigen (hierzu bereits H. Rausch, 1977, S. 364). In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung dürfte insgesamt eher das Modell des Redeparlaments bevorzugt werden. Dabei steht die Erwägung im Vordergrund, dass keine Parlamentsausstattung denkbar ist, die den Informationsvorsprung der Regierung überwindet und zwischen der kleinen Zahl von Abgeordneten und der großen Zahl von leitenden Ministerialbeamten ein Gleichgewicht herstellt, weshalb das Parlament trotz aller Spezialisierung und mühevoller Kleinarbeit in der Gesetzesberatung doch nur „nachhinkt", bestenfalls zu korrigieren, niemals aber wirklich zu initiieren und damit Partner der Regierung zu sein vermag. Demgemäß erscheint es konsequent, die politischen Funktionen des Parlaments zu betonen: die Wendung an die Öffentlichkeit, die ständige Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und Minderheit, die Aufwertung als Stätte der politischen (Erst-)Information. Die bisher durchgeführten Parlamentsreformen zielen in diese Richtung. Zu erinnern ist an die Änderung der Richtlinien für die Fragestunden, an die Einführung der Aktuellen Stunde, an die Vereinbarungen über Zwischenfragen, an die vor allem seit etwa 1967 zunehmende Nutzung der Möglichkeit eines Hearings sowie an die ständigen Bemühungen darum, der freien Rede und der Wechselrede im Plenum mehr Raum zu verschaffen. 1969 trat eine neue Geschäftsordnung des Bundestages in Kraft, die u.a. den Verzicht auf die allgemeine Aussprache bei der ersten Lesung von Gesetzen, technische Erleichterungen auch für die zweiten Lesung und ein Recht der Selbstbefassung für die Ausschüsse erbrachte - hier dominierten die Vorstellungen von einem Arbeitsparlament. Die Kontrollinstanz des Wehrbeauftragten und das Institut der Parlamentarischen Staatssekretäre kann man dagegen unterschiedlich zuordnen. Mit dem Ersteren hat der Bundestag lange Zeit wenig anzufangen gewusst, die Letzteren, auf die noch einzugehen sein wird, haben sich fest eingebürgert, sich aber wohl dem Parlament entfremdet - zumindest in dem Maße, in dem sie sich im jeweiligen Ministerium einen festen Platz verschafften. Zu den institutionellen Reformen gehörte schließlich die sog. Notstandsverfassung, zumal sie eine erhebliche und bedenkliche Veränderung der Parlamentsstruktur erbrachte. So gibt es seither einen Gemeinsamen Ausschuss (nach Art. 53 a GG), bestehend zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages und zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates; die Ersteren dürfen nicht der Regierung angehören und repräsentieren die Fraktionen entsprechend ihrer Stärke, die Letzteren sind als Mitglieder dieses Ausschusses weisungsfrei gestellt. Das Nähere bestimmt eine Geschäftsordnung, der zufolge die dem Bundestag zuzurechnenden Ausschussmitglieder eine Zahl von 22 erreichen sollen, darunter der Parlamentspräsident, der zugleich als Vorsitzender fungiert. Mit diesem Ausschuss ist in normalen Zeiten eine Zweiteilung der Abgeordneten erreicht, weil nach Art. 53 a Abs. 2 G G nur die Mitglieder dieses Ausschusses von der Bundesregierung über die Planungen für den Verteidigungsfall zu unterrichten sind. In Krisenzeiten stellt sich der Ausschuss als Notparlament dar, das nach Art. 115 a Abs. 2 G G anstatt des Bundestages und des Bundesrates das Eintreten des Verteidigungsfalles feststellen und auch später nach Art. 115e an die Stelle von Bundestag und Bundesrat treten kann, sofern der Erstere nicht rechtzeitig zusammenzutreten vermag oder nicht beschlussfähig ist. Dass es in der legalistisch formulierten Notstandsverfassung keine Bestimmung gibt, die die Beteiligten verpflichtet, das Zusammentreten des Parlaments binnen einer gewissen Frist zu ermöglichen, gehört zu ihren deutlichsten Fehlern. Der Gemeinsame Ausschuss (wohl eher charakteristisch für die Notstandsverfassung als für die Position des Parlaments) stellt gemeinsam mit dem Verteidigungsausschuss und (bedingt) dem Auswärtigen Ausschuss einen Weg dar, auf dem das Parlament unmittelbar Mitverantwortung für Exekutivmaßnahmen übernimmt. Dies kann man als Stärkung des

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust Arbeitsparlaments oder der Kontrollfunktionen interpretieren. Nüchtern betrachtet stellen sich die Dinge allerdings so dar, dass die Mitglieder des Verteidigungsausschusses dem Ankauf eines Waffensystems aufgrund von Informationen zustimmen, die die politische und militärische Führung im Verteidigungsbereich zur Verfügung stellen. Damit erschwert die Übernahme einer Mitverantwortung allerdings die spätere Kontrolle. Das Beispiel macht deutlich, dass es auch ohne Zugrundelegen eines Modells mit präziser Unterscheidung von Regierungs- und Parlamentsfunktionen sehr wohl Kriterien für solche Differenzierungen gibt. Deshalb erscheint der Typus des „redenden Parlaments" eher plausibel. Das Parlament tritt in ihm weniger als ein Repräsentationsorgan und mehr als Volksvertretung hervor, der es bei aller Unterstützung der Regierung durch die Mehrheit in erster Linie zukommt, Forum der politischen Auseinandersetzung zu sein, Stätte der politischen Information, Garantie dafür, dass der Meinung der Regierung unmittelbar die der Opposition entgegengestellt werden kann. Dabei tritt die Elektoralfunktion zurück; über die Person des Bundeskanzlers oder der Ministerpräsidenten entscheidet in aller Regel schon die Wahl selbst. Auch das Gesetzgebungsverfahren kann vereinfacht werden, weil im Vordergrund die politische Auseinandersetzung über das Gesetz zu stehen hat; bedarf es dieser nicht, kann man das Ritual der drei Lesungen, der Ausschussverhandlungen und der Berichte einschränken, ein Weg, auf dem sich bereits die Geschäftsordnungsreform von 1969 bewegte. Demgegenüber müssen Informations- und Kontrollmöglichkeiten verbessert werden, immer mit dem Ziel, die Volksvertretung der Regierung gegenüberzustellen und dadurch zu erreichen, dass im Parlament selbst der entscheidende Beitrag zur Meinungsbildung (des Volkes) erfolgt und hier die gegensätzlichen Positionen in verständlicher Form vorgetragen und verdeutlicht werden. So bleibt festzuhalten: Der Bundestag orientiert sich eher am Vorbild des Arbeitsparlaments und ist damit mehr auf Mitwirkung am Regierungsgeschäft hin angelegt als auf Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Positionen und Interessen. Für eine umfassende Reform fehlen wohl auch die Voraussetzungen, vor allem fehlt es an einem halbwegs gemeinsamen Leitbild über die Rolle des Parlaments, auf das sich Abgeordnete und interessierte Öffentlichkeit wirklich verständigen könnten (vgl. H. Maierl H. Rausch u.a., 19792; E. Hübner, 1980; W. Patzelt, 1995). Meist kommen nur technische Verfahrensänderungen zustande. Sie erbringen Verfahrensvereinfachungen, aber keine Klärung der Position des Parlaments. Sie führen nicht einmal zu einer „Totalrevision" der Geschäftsordnung, wie sie seit langem erforderlich wäre, da man seit 1949 immer nur zusammengestellt und „geflickt" hat - übrigens mit dem Ergebnis, dass das deutsche Parlamentsrecht übermäßig umfangreich und kompliziert, ja zuletzt nur von Geschäftsordnungsexperten zu begreifen und funktionsfähig zu halten ist. Das machten die Kommentare von N. Achterberg (1984) und H. Trossmann (1977) ebenso deutlich wie die von Norbert Achterberg begründete Reihe „Beiträge zum Parlamentsrecht". Der Wunsch nach einem „lebendigeren Parlament" und die Bereitschaft, in der Geschäftsordnung daraus Konsequenzen zu ziehen, entsprechen einander nicht. Das Ablesen von Reden bleibt erlaubt, man verkürzt kaum die Redezeiten, gibt dem amtierenden Präsidenten keine Auswahlmöglichkeiten in der Rednerliste und damit keine „dramaturgische Verantwortung" für den Ablauf der Debatte, die von den Fraktionsgeschäftsführern vorbereitet und festgelegt wird, ohne Rücksicht auf das, was dann wirklich gesprochen wird. Die Konsequenzen sind bekannt und werden häufig kritisiert. Die „großen" Debatten werden von der Prominenz dominiert, die kleinen sind oft langweilig, finden jedenfalls kaum öffentliches Interesse. Der deutsche Parlamentarismus findet nur in Ausnahmefällen öffentlich statt. Auch wenn sich die Kritik hier einig ist: In der Realität haben die meisten Abgeordneten und die Parteien eher für den Typus des Arbeitsparlaments votiert und wollen, dass Ent249

IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat scheidendes in den Ausschüssen geschieht, die Opposition mitbeteiligt und in gewissem Maße auch mitverantwortlich ist. Unter partizipatorischem Aspekt versagt sich das Parlament. Die Öffentlichkeit wird früher als das Parlament unterrichtet. Die kontroversen Positionen werden zuerst außerhalb des Parlaments vorgetragen. Will man das alles ernstlich nicht, müsste man eine grundlegende Änderung herbeiführen. An sie ist nicht zu denken, auch wenn man im Plenum mehr redet als früher und die Zahl der Ausschusssitzungen zurückgegangen ist. Damit bleibt auf der Strecke, was eine parlamentarische Debatte wohl auch noch heute leisten könnte und was die Fernsehauftritte der Parteiführer nicht leisten, eben weil sie sich der Debatte entziehen: nicht nur das Aufzeigen von Unterschieden, sondern auch das von Gemeinsamkeiten, darüber hinaus das Eingestehen von Unsicherheit und Zweifeln. Prononciert: Das größte Versäumnis des deutschen Parlamentarismus und Folge des Fehlens ernstlicher Debatten ist, dass die Notwendigkeit des Ringens um den besseren Weg, das Unsicherheit voraussetzt, ausgeblendet bleibt und Politik sich in der Regel so darbietet, als ob sie den besseren Weg kenne - nur widrige Umstände, zuletzt „die anderen", tragen die Schuld daran, dass man ihn nicht auch einschlägt. Schuldzuweisungen und Freund-Feind-Denken führen aber kaum zu besserer Politik. Das Parlament jedenfalls zeigt deutlich kommunikative Schwächen. Damit erscheint es der handelnden und leistenden Regierung unterlegen. Um diesem Missverhältnis entgegenzuwirken, verabschiedete der Deutsche Bundestag im September 1995 ein Reformpaket, das auf umfassenden Diskussionen basierte, die bis zur Tätigkeit der ad /¡oc-Kommission Parlamentsreform 1987/88 zurückreichten, und auch die Überlegungen der Enquête-Yjzmmisùoxi Verfassungsreform einbezog (BT-Drs. 13/1803 vom 26.06. 1995). Der Paketcharakter des Reformwerks ergab sich dabei aus den Elementen: geplante Verkleinerung des Bundestags; Neuregelung des Abgeordnetenrechts und der Abgeordnetenbezüge; sowie Reform der Geschäftsordnung, die der parlamentarischen Arbeit vor allem größere Transparenz verleihen sollte. Bei einer Würdigung der Reform wird immer wieder darauf verwiesen, dass Verbesserungen der inneren Struktur und der Arbeitsweise eines Parlaments schwieriger umzusetzen sind und auf größere Beharrungskräfte stoßen als Neuerungen in anderen politischen Bereichen (vgl. u.a. W. Zeh, 1993; S. Marschall, 1999). Dies verdeutlicht auch ein Blick auf bisherige Reformbemühungen, die neben punktuellen Veränderungen auch substantiellere Umgestaltungen von Parlamentsrecht und Parlamentspraxis beinhalten. Dies gilt etwa für die sog. „Kleine Parlamentsreform" im Jahre 1969, die einen stärker dialogisch orientierten Debattenstil im Bundestagsplenum einzuführen suchte und den Ausschüssen ein Selbstbefassungsrecht einräumte; die Parlamentsreform von 1980, die der Entwicklung des Bundestages zu einem Fraktionenparlament Rechnung trug und sie zugleich verstärkte; schließlich für eine Reihe von Änderungen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und für die Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, deren auf den Bereich des Parlamentsrechts zielenden Anregungen allerdings nicht gefolgt wurde. Entsprechend der Parlamentsreform von 1995 wurde die Zahl der Bundestagsabgeordneten mit der 15. Legislaturperiode (2002-2006) von zuvor 656 auf 598 „reguläre" Mitglieder (ohne Uberhangmandate) reduziert. Diese Verkleinerung kam nicht zuletzt dadurch zustande, dass sich die Zahl der Abgeordneten im 13. Deutschen Bundestag durch 16 Überhangmandate auf 672 erhöhte und der Bundestag im internationalen Vergleich damit zum größten Parlament aller westlichen Demokratien wurde. Zwar fanden sich Gegenargumente, die auf einen Verlust an Bürgernähe, die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit der Fraktionen oder aber begrenzte flächenmäßige Repräsentanz abstellten, doch „zogen" die Hinweise auf eine notwendigerweise zu verbessernde Arbeitsfähigkeit und Effizienz. Auch hielt man eine

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1. Aufgaben der Parlamente: die Volksvertretung zwischen Routine und Bedeutungsverlust weitere Vergrößerung der Wahlkreise für akzeptabel, weil sie aufgrund der föderalen Struktur nicht nur von Bundestagsabgeordneten, sondern auch von Abgeordneten des Europaparlaments, der Landtage, Kreistage und Gemeinderäte betreut würden. Zudem wurde ausgeführt, dass die Verkleinerung ein „Symbol für die Fähigkeit der Politik, gegen die Verstaatlichung der Parteien und gegen Wucherungen des Parteienstaates, also gegen sich selbst, noch einmal Handlungsfähigkeit zu beweisen", sei. Auf dem Weg von der Bonner zur Berliner Republik ergäbe sich damit zusätzlicher Legitimitätsgewinn (vgl. S. Lemke-Müller, 1996, S. 3 ff.). Eine Verkleinerung des Parlaments nahmen jüngst auch einige der Bundesländer vor. Nachdem Bayern die Zahl der Landtagsabgeordneten seit 2003 von 204 auf 180 verringert hat, wird der Landtag Nordrhein-Westfallens ab 2005 von derzeit 201 auf 181 Sitze verkleinert. Auch in letztgenanntem Fall gab die große Anzahl an Überhangmandaten (derzeit 27) den Ausschlag für die Reform, von der Einsparungen von bis zu 20 Mio. € erwartet werden. Eine mit der Verkleinerung des Bundestags verbundene Initiative zur Neuregelung des Abgeordnetenrechts und der Abgeordnetenbezüge sollte es den Parlamentariern erleichtern, das „Reformpaket" zu akzeptieren. Angesichts der stereotypen Einwände, mit denen die Öffentlichkeit auf Diätenerhöhungen reagiert, zielte man auf eine dauerhaftere Lösung, zumal man im Zeitraum von 1987 bis 1995 mehrfach „Null-Runden" akzeptierte und auch die „Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Abgeordnetenrechts" 1993 die Angemessenheit der gegebenen Entschädigungsregelung bezweifelte und deutliche Diätenanhebungen empfahl. Die Rechtsstellungskommission des Deutschen Bundestages erarbeitete deshalb ein neues Verfahren zur Diätensteigerung, das sich an der Besoldung der obersten Bundesrichter orientiert. Nachdem sich die beiden großen Fraktionen des Bundestages auf einen Gesetzentwurf zur Ergänzung des Art. 48 Abs. 3 G G verständigten, schlug die bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes im Juni 1995 noch eher zustimmende Reaktion in der Öffentlichkeit um. Das unbedachte Wort von einer „Ermächtigungsvorschrift für den Bundestag" (H. H. von Arnim), das in populistischer Manier Widerstände und Unbehagen verstärken sollte, brachte einen unsachgemäßen Ton in die Debatte. Zwar wurde die für eine Grundgesetzänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit der Bundestagsabgeordneten bei namentlicher Abstimmung erreicht, doch scheiterte die Vorlage schließlich im Bundesrat. Nach einer Reihe externer Appelle, so auch der deutschen Staatsrechtslehrer, wurde die Mehrheit deutlich verfehlt. Verfassungspolitische Bedenken standen dabei im Vordergrund. Mit Blick auf die Struktur und Darstellung der parlamentarischen Arbeit kam es dagegen zu einer funktionalen Parlamentsreform durch Neuregelungen der Geschäftsordnung, die vor allem eine Straffung der gesetzgeberischen Arbeit und eine Erhöhung ihrer Transparenz bewirken sollen. Im Einzelnen kann die Opposition jetzt stärker auf die Tagesordnung einwirken (durch den Ausbau von Minderheitsrechten in der Geschäftsordnung des Bundestages), eine lebhaftere Plenardebatte ermöglichen (durch eine Auflockerung der Redeordnung und des erstarrten Debattenrituals werden die Plenardebatten durch den Ausweis einer „Kernzeit" neu strukturiert) und kommt es schließlich zu einer erweiterten Transparenz der Ausschussarbeit und einer Stärkung der Rechte einzelner Abgeordneter. Damit verbundene Erwartungen, dass Kernzeit-Debatten über wichtige Themen eine übersichtlichere Strukturierung parlamentarischer Abläufe ermöglichen und eine regelgemäße Berichterstattung erlauben sowie Ausschusssitzungen der Öffentlichkeit zugänglicher und nachvollziehbarer werden, haben sich bislang nicht erfüllt (W. Ismayr, 20012). Die Einführung des von A R D und Z D F gemeinsam getragenen Informations- und Dokumentationskanals „Phoenix", in dem seit 1997 sämtliche Bundestagsdebatten, viele Anhörungen sowie Reden auf Parteitagen oder Gewerkschaftskongressen live übertragen werden, war sicherlich ein Schritt in

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat die richtige Richtung, reicht jedoch bei Weitem nicht aus, um die Distanz zwischen Bundestag und Öffentlichkeit nachhaltig abzubauen. In der Zusammenfassung lässt sich für das Parlament ein klarer Bedeutungsverlust im Rahmen des Regierungssystems feststellen, insbesondere mit Blick auf seine Gesetzgebungs-, Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktionen. Wurde diese demokratietheoretisch bedenkliche Entwicklung bereits in früheren Jahrzehnten punktuell angesprochen (s. etwa S. Schüttemeyer, 1978), haben sich die Belege in den vergangenen Jahren verstärkt. Sowohl in der wissenschaftlichen wie der politischen Diskussion werden im Wesentlichen drei Ursachen benannt. Zum einen hat die bereits mehrfach angesprochene „ Verlagerung" legislativer d.h. ursprünglich genuin parlamentarischer - Zuständigkeiten auf die Ebene der Europäischen Union dazu geführt, dass die entsprechenden (Mit-)Entscheidungskompetenzen auf die Exekutive - d. h. Vertreter der Bundesregierung bzw. des Bundesrats im Rat der EU übertragen wurden, während dem Bundestag und den Landtagen nur (eingeschränkte) Kontrollrechte verbleiben. Darüber hinaus wird - zweitens - auch innerhalb des nationalen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses eine „Aushöhlung" des parlamentarischen Systems insofern erkennbar, als von der Exekutive immer häufiger Beiräte und Kommissionen zur Beratung von Zukunftsfragen eingesetzt werden (Nationaler Ethikrat, Zuwanderungskommission, ifartz-Kommission zur Reform des Arbeitsmarkts, ÄMr«/»-Kommission zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, etc.). Wie unübersichtlich dieses „Gremiengeflecht" zwischenzeitlich geworden ist, dokumentiert sich nicht zuletzt im Unvermögen der Bundesregierung, eine Anfrage der FDP-Fraktion (2002) nach der genauen Zahl solcher Kommissionen und Beiräte zu beantworten. Zwar steht die Einrichtung entsprechender Gremien formal-rechtlich nicht im Widerspruch zur Verfassungsordnung, ist aber verfassungspolitisch insofern bedenklich, als dadurch politische Debatten und erforderliche Konsensbildung bei Zukunftsfragen in den „vorparlamentarischen" Raum verlagert werden und damit eine entscheidende Vorprägung durch Interessenvertreter, Medien und „Experten" erfahren, nicht aber seitens der demokratisch legitimierten Repräsentanten. Die Konsequenzen, insbesondere für das Öffentlichkeitsbild des Bundestages, liegen auf der Hand. Drittens schließlich wird die zunehmende Medienmacht für den Bedeutungsverlust der institutionalisierten Politik - und folglich auch des Parlaments - verantwortlich gemacht. So konstatierte etwa Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, dass wichtige politische Debatten immer häufiger in „ Talkshows" ausgetragen würden und daher der einzelne Politiker zunehmend unter „Zwang" stehe, „sich und seine Ideen für die Medien zu inszenieren" (Frankfurter Rundschau vom 25.06.2001). Diese Diagnose spricht zweifellos Richtiges an; fraglich ist allerdings, ob damit tatsächlich Ursachen und nicht nur Symptome des parlamentarischen Bedeutungsverlusts benannt werden. Letztlich liegt es an den (partei-)politischen Akteuren selbst, relevante Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse - und damit politische Führung - wieder verstärkt im parlamentarischen Raum zu konzentrieren; erst dies böte die Voraussetzung, dass sich die (medial vermittelte) öffentliche Aufmerksamkeit zugunsten des Parlaments „verschiebt".

2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns In Artikel 21 erwähnt und bestätigt das Grundgesetz die Funktion der Parteien und geht damit innerhalb der deutschen Verfassungstradition neue Wege. Der Abschnitt über den Bundestag verbleibt dagegen im herkömmlichen Rahmen. In ihm genießen die Abgeordneten Immunität, ein Zeugnisverweigerungsrecht und eine umfassende Freiheitsgarantie für 252

2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns ihre Parlamentstätigkeit. Sie gelten als Vertreter des „ganzen Volkes", „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", als gleichberechtigte Mitglieder eines Parlaments, das öffentlich verhandelt. Bestimmungen dieser Art bürgerten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein, als man die neuen Volksvertretungen in bewusstem Gegensatz zu den früheren Ständeversammlungen konstruierte, den Abgeordneten von besonderen Pflichten gegenüber einem ihn beauftragenden Stand entband und die Epoche der geheimen Sitzungen beendete. Unmittelbare Volkswahl, das freie im Gegensatz zum imperativen Mandat und die Öffentlichkeit der Sitzungen waren die leitenden Prinzipien. Daraus ergab sich zwar keine tragfahige Repräsentationstheorie, denn solange Monarchie und Bürokratie für sich erfolgreich „das Monopol beanspruchten, Wahrer und Interpreten des Gemeinwohles zu sein, mussten sie den Anspruch des Parlaments, den hypothetischen Willen des Volkes zu repräsentieren', ablehnen; sie waren eher geneigt, das Parlament als Sprachrohr des (politisch als relativ ungewichtig angesehenen) empirischen Volkswillens anzuerkennen" (E. Fraenkel, 1964, S. 97). Von den Zielsetzungen des 19. Jahrhunderts blieb in der Praxis wenig übrig. Der moderne Parlamentarismus unterscheidet sich auch in der Bundesrepublik trotz Art. 38 G G völlig vom monarchischen Konstitutionalismus. Die unmittelbare Volkswahl findet sich durch Parteien vermittelt·, die Gesetzgebung ist so umfangreich und kompliziert, dass das Plenum wohl noch beschließen, kaum aber noch beraten kann; die eigentliche Debatte findet vielmehr in Fraktionen und Ausschüssen statt, deren Sitzungen meist nicht öffentlich sind. Auch die Stellung des Abgeordneten hat sich mit seiner starken Bindung an Partei und Fraktion grundlegend verändert. Er kann sich nicht mehr während einer erschöpfenden Diskussion eine eigene Meinung bilden, sondern nimmt an einem vielfach verzweigten Gruppenprozess teil und gilt zunächst als Mitglied und Vertreter seiner Fraktion. Die Fraktionen bestimmen auch die Erscheinung des Parlaments. Sie machen es handlungsfähig und sind über Tagesordnung, Aufgabenteilung, Redezeiten und Rednerlisten organisiert. Sie bereiten die meisten Abstimmungen vor und sorgen für Präsenz. Fraktionszwang ist nicht erkennbar, er wäre auch verboten (so bereits Staatsgerichtshof Bremen, Urteil vom 13.5.1953); was man mit ihm erreichen könnte, vollzieht sich fast von selbst. Der Abgeordnete ist kaum Vertreter des Volkes; er orientiert sich zuerst an seiner Fraktion, die wiederum über seinen Einfluss entscheidet. Partei- oder fraktionslose Abgeordnete sind nur noch Zufallserscheinungen (vgl. Materialband, VI/5). Von der liberal-parlamentarischen Überlieferung bleibt so nur der formale Schutz, der sich aus Art. 38 GG ergibt.

2.1. Die Zusammensetzung der Parlamente Das Parlament wird durch die Fraktionen arbeitsfähig; der einzelne Abgeordnete (zu seinem Status H. H. Klein, 1987) erfahrt durch sie seinen Wirkungszusammenhang. Wirft man einen Blick auf die soziale Zusammensetzung der Fraktionen, konnte man bestenfalls für die ersten Jahre des deutschen Nachkriegsparlamentarismus von einer gewissen „Fraktionsplanung" (R. Wildenmann, 1956, S. 139ff.) sprechen. Später verfestigten sich die Verhältnisse rasch. Die meisten Abgeordneten streben nach Wiederwahl, mit dem Typus des Berufspolitikers (zu entsprechenden Karrieremustern vgl. D. Herzog, 1975 und 1990) vermindert sich die Fluktuation im Parlament und bestimmen die Wiedergewählten das Klima in den Fraktionen. Sie beanspruchen Vorrechte bei der Vergabe wichtiger Funktionen und bewirken, dass die Neulinge rasch im Parlament sozialisiert werden, d. h. in der Fraktion und in ihrem arbeitsteiligen System ihre Heimstätte finden (vgl. B. BaduralR. Reese, 1976). Da die Wiederwahl angesichts eher geringer Schwankungen im Wahlergebnis für die meis-

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat ten Parlamentarier relativ sicher ist, verlagert sich die Entscheidung über die soziale Zusammensetzung des Parlaments fast ganz in die Parteiorganisation. Sie reagiert vor allem örtlich und regional sensibler auf Veränderungen in der Parteienstruktur als im Wählergefüge. Das erschwert es manchmal selbst Prominenten, „sichere" Wahlkreise zu erhalten und lässt sie gern auf einen Listenplatz ausweichen, für dessen Zuteilung man nur eine engere Parteiführung mobilisieren muss, während man der mühsamen Wahlkreisarbeit entgeht. Umgekehrt verstärkt sich so der Einfluss der die Partei dominierenden Gruppen, weil sie auch regionale Prozesse weithin kontrollieren. Hinzu kommen vor allem zwei Phänomene: der hohe Anteil von Abgeordneten mit abgeschlossener Hochschulbildung sowie von Beamten oder Angestellten im öffentlichen Dienst (H. Klatt, 1980; A. Hess, 1989; J. BorchertIL. Golsch, 1999; P. Schindler, 1999; Materialband, VI/2). Hier stellt sich erneut die Frage nach der Repräsentation, allerdings nicht im statistischen Sinne und auch nicht im Sinne einer in Deutschland verbreiteten Repräsentationstheorie, nach der der Staat „das mittels Repräsentation sich selbst darstellende und verwirklichende Richtige der politischen Gruppe" ist und Repräsentation dazu dient, der politischen Gruppe (Gesellschaft) ihr „besseres Ich entgegenzusetzen". Repräsentative Demokratie wäre dann „eine Methode der autonomen Bildung eines Gesamtwillens durch die Bürger, die dadurch von deren natürlichem' zum .besseren' Ich zu gelangen sucht, dass sie den Prozess der Willensbildung in zwei Abschnitte zerlegt, erstens: Heraussetzung von repräsentativen Willensbildnern durch das Volk, und zweitens: Willensbildung des dergestalt aufbereiteten Volkes durch diese Repräsentanten" (H. Krüger, 1964, S. 241 und 249, der sich u.a. auf C. Schmitt, 1923, stützen kann; kritisch dazu E. Fraenkel, 1964, S. 71 ff.; ausführlicher zum Thema T. Ellwein/A. Görlitz, 1968, v. a. S. 239 ff.). Die „richtige" Frage muss vielmehr lauten, welche Repräsentation funktional erforderlich wäre und ob sie empirisch vorfindbar ist. Was funktional erforderlich wäre, lässt sich zwar nicht einvernehmlich klären, weil es zum einen unterschiedliche Auffassungen von den Aufgaben des Parlaments und zum anderen noch unterschiedlichere Ansichten über die Funktionen der Politik gibt und geben muss. Immerhin verhilft die Frage aber dazu, einige Kriterien anzusprechen und an ihnen Probleme der Parlamentszusammensetzung zu erörtern. Die große Mehrzahl der Bundestagsabgeordneten entstammt der Mittelschicht. Da Frauen zunächst weitgehend fehlten (der Anteil von Frauen im Bundestag überstieg bis 1987 kaum 10 Prozent; im 15. Bundestag sind jedoch bereits 32 Prozent der Abgeordneten Frauen) und die verbleibenden sozialen Unterschiede durch den Homogenisierungseffekt, den der Hochschulabschluss mit sich bringt, stark relativiert wurden, bildete sich eine ziemlich einheitliche „Gruppe" von Abgeordneten heraus, die Schwierigkeiten hatte, die sozial höchst unterschiedlichen Bedürfnisse wirklich wahrzunehmen. Auch heute noch entspricht der Bundestag in seinem Erscheinungsbild einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft. In dem Maße, in dem die Kommunikation mit der sozialen Umwelt über bestimmte, Gewohnheiten hervorrufende Mechanismen vermittelt wird, wächst die Gefahr, dass dem Bundestag immer mehr die Sensibilität für Wünsche und Bedürfnisse der breiteren Bevölkerung, für den Wertewandel, für den gesellschaftlichen Wandel überhaupt verloren geht. Die in den Parteien erkennbaren Auswahlprozesse verstärken dabei den Isolierungstrend innerhalb des politischen Systems, erschweren also die Kommunikation mit der (übrigen) Gesellschaft. Trivialer formuliert: Man ist in Berlin und weithin auch in den Landeshauptstädten eher „unter sich", eine Aussage, die auch durch den Vereinigungsprozess nicht wesentlich relativiert wurde (vgl. C. Anderson, 1992). Mit etwa 81 Prozent Akademikern und 46 Prozent Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die amtierenden und ehemaligen Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre einge254

2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns schlossen, werden in den deutschen Parlamenten Fähigkeiten optimiert, die anderswo nicht oder nicht in gleichem M a ß e entwickelt werden. I m Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten findet m a n überwiegend Rechtsanwälte. D a s erscheint „ f u n k t i o n a l " , weil der Abgeordnete in erster Linie als Vertreter seiner Wähler (Direktwahl) gilt, viele konkrete Wählerwünsche durchzusetzen sucht (private bills) und mit der Lobby umzugehen hat. Der Anwalt hat das alles „gelernt" (vgl. z.B. E. HübnerlH. Oberreuter, 1977, S. 95ff., und prinzipiell E. Fraenkel, 1976); m a n erwartet von ihm, dass er konkrete Interessen wahrnehmen kann. Vom Akademiker und vom Beamten wird m a n das nicht ohne Weiteres sagen können. Der Letztere bringt häufig den Vorteil mit, dass sein unmittelbares Berufswissen ihm auch in der Politik zugute k o m m t . Er hat außerdem wenig Mühe, Beruf und Parteiarbeit zu vereinbaren, und er verfügt nach der Wahl über E r f a h r u n g e n in arbeitsteiligen Organisationen Statusvorteile zunächst einmal ausgeklammert. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in Deutschland die Angehörigen des öffentlichen Dienstes seit je eine große Rolle im Parlament spielen (so waren in der Paulskirche 52 Prozent der Abgeordneten Beamte, 1862 im Preussischen Abgeordnetenhaus 47 Prozent). Es ist auch nicht verwunderlich, dass A k a demiker unter den Beamten und den übrigen Berufsgruppen über Startvorteile verfügen. Beamte wie Akademiker üben in der Regel stark auf Kommunikation hin angelegte Tätigkeiten aus, bringen mithin in den politischen Prozess ein, was sich ein Facharbeiter meist erst m ü h s a m erwerben muss und was ihn, wenn er es erworben hat, in der Regel rasch in andere F u n k t i o n e n bringt (etwa als Mandatsträger in einer Gewerkschaft). Den Vorteilen stehen aber auch eindeutige Nachteile gegenüber. Interessenvertreter ist m a n so nicht; das interpretierbare Gesamtinteresse liegt näher. Der wichtigste Nachteil aber d ü r f t e sein, dass nach H e r k u n f t und E r f a h r u n g Akademiker und Beamte leicht als Spezialisten einsetzbar sind. Die Entwicklung des Bundestages zum Spezialistenparlament, aus dem heraus die K o m m u nikation mit den Wählern immer schwieriger wird, hat auch sozialstrukturelle Gründe. D a s „Bild" des US-Repräsentantenhauses wird ungleich mehr über seine Mitglieder und ihre örtliche Tätigkeit vermittelt als das „Bild" des Bundestages, in dem die Masse der Abgeordneten a u f g r u n d der Monopolisierung der Redechancen vor allem bei öffentlich interessanten Debatten nur als Claque a u f t a u c h t , was dann örtlich schwer zu korrigieren ist, wenn man etwa über die Details der Beratungen des Arzneimittelgesetzes unterrichten müsste. Die Abgeordnetenrekrutierung, so diese These, leistet dem Spezialisierungstrend Vorschub, der die Bedeutung des Parlaments, wie noch auszuführen sein wird, eher vermindert (dazu K. Schrode, 1977; K. Kremer, 19924; B. Oldoff, 2001). Schließlich: Wenn die soziale Homogenisierung der Bundestagsabgeordneten einerseits den Trend zum Spezialistentum verstärkt und andererseits die G e f a h r heraufbeschwört, dass sich die angesprochene G r u p p e sozial eher isoliert, muss das notwendigerweise zu einer vorwiegend geregelten, sich bürokratischer Verhaltens- und Verfahrensweisen bedienenden Politik führen, die dabei Berechenbarkeit und die Fähigkeit gewinnt, gestellte Aufgaben zu bewältigen, d a f ü r aber Spontaneität und eine bestimmte F o r m der Kreativität einbüßt. Polemisch: Die parteinehmende Vereinfachung setzt sich im streng geregelten Betrieb eher durch als die „offene Diskussion". Die angesprochene Sozialstruktur, so die These, ist eine unentbehrliche Voraussetzung f ü r einen reibungslosen Funktionsbetrieb, wie ihn mit vielen interessanten Details C.C. Schweitzer (1979) wohl nur deshalb schildern konnte, weil er nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag nicht mehr auf Partei und Fraktion angewiesen war. Ähnliches gilt f ü r H. Apel, 1990 und 1991.

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat 2.2. Mandat und Fraktionsbindung Der Abgeordnete ist somit im Wesentlichen durch drei Umwelten geprägt. Die erste bildet die Partei; sie entscheidet in ihrer örtlichen Organisation bei der Wiederwahl, der Landesverband wird mit Blick auf die Listenplätze bedeutsam. Die Partei sichert damit den Berufspolitiker, gleichzeitig macht sie ihn von sich abhängig. Darüber hinaus ist die Fraktion von Bedeutung. Sie bestimmt in beträchtlicher Unabhängigkeit von der Partei über Fraktionsämter, die Mitgliedschaft in Ausschüssen oder über Plenumsreden und prägt so die relative Position des einzelnen Abgeordneten. Das Parlament schließlich erweist sich erst als die dritte Einflussgröße. Erhält ein Abgeordneter wichtigere Aufgaben, bekommt er die Chance, sich innerhalb wie außerhalb des Parlaments einen Ruf zu verschaffen, mit dessen Hilfe er dann womöglich wieder eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der Fraktion erlangt, weil diese nicht auf ihn verzichten kann und will. Damit bestimmen drei Größen das einzige politische Ausleseverfahren, das die Ordnung der Bundesrepublik zulässt (vgl. Th. EllweinlA. Görlitz, 1967, S. 24ff.; Κ. v. Beyme, 1974 und 19952; D. Herzog, 1975; D. Herzog u.a.., 1990; W. P. Bürklin u. a„ 1997). In ihm kann man allenfalls Parteiarbeit durch Verbandszugehörigkeit ersetzen und sich durch Geld oder denkbare Stimmenpakete in die Partei einkaufen. In der Fraktion kann man nur noch erwarten, dass die Verbandszugehörigkeit bei der Zuteilung von Ausschusssitzen berücksichtigt wird; im Übrigen aber entscheidet die parlamentarische Leistung, nicht das, was ein Abgeordneter repräsentiert. Das gilt auch in den Landtagen, wenngleich in überschaubaren Verhältnissen das lokale Gewicht eine größere Rolle spielen kann. Das genannte Ausleseverfahren bewirkt also Abhängigkeit (s. W. Demmler, 1994). Unabhängige Abgeordnete stellen eine Ausnahme dar, weil sich Unabhängigkeit nur bei einer durch das Mandat nicht beeinträchtigten und mit ihm nicht verbundenen beruflichen Existenz und zugleich bei voller Unbefangenheit angesichts der Frage einer neuerlichen Kandidatur bewahren lässt. Ob dies den „Vollblutpolitiker" erfasst, dürfte zweifelhaft sein. Zumeist handelt es sich um solche Industrielle, Landwirte oder auch Rechtsanwälte, die nicht in erster Linie als Verbandsvertreter zu gelten haben. Verbandsvertreter können ggf. von der Partei unabhängig sein, stehen dafür aber in einer anderen engen Bindung, die es allerdings erforderlich macht, sich eine sichere Position auch in der Fraktion zu erwerben, um die erwarteten Dienste leisten zu können. Von den übrigen Abgeordneten erscheint am abhängigsten der Berufspolitiker ohne sonderliche parlamentarische Karriere, der sich ganz auf die Gunst der örtlichen Gremien angewiesen weiß und sich deshalb in der Fraktion eher anpasst. Wer dagegen als Fachmann gilt, erwirbt sich ein Stück Bewegungsfreiheit und kann Rücksichtnahme beanspruchen. Der für einen bestimmten Bereich unentbehrliche oder zumindest wichtige Fachmann erfährt auch Unterstützung von Partei und Fraktion bei der Wiederaufstellung und vermag gelegentlich Parteiprominenz für seinen Wahlkampf zu gewinnen. Diese Prominenz erscheint dann vordergründig wieder eher unabhängig, weil Partei und Fraktion auf die Prominenten ähnlich angewiesen sind wie diese auf Fraktion und Partei als Voraussetzung und Rahmen ihrer Wirksamkeit. Die Unabhängigkeit zeigt sich auch gegenüber den örtlichen Gremien; ein Prominenter muss in der Regel weniger um seine Wiederaufstellung bangen (etwa wenn er seinen Wahlkreis vernachlässigt) als ein Hinterbänkler. Insgesamt ergibt sich ein verwirrendes Geflecht von Abhängigkeitsformen, das weit über das Parlament und die Partei hinausgreift, weil viele Abgeordnete nicht Nur-Abgeordnete sind, sondern weitere politische Funktionen ausüben, in denen sie wiederum anderen Abhängigkeitsverhältnissen unterliegen. Die Abhängigkeit in ihren vielen Variationen kommt durchgängig in den zahlreichen kritischen Auseinandersetzungen von Abgeordneten mit ihrem Tun und ihren Arbeitsbedingungen zum Ausdruck. Die schreibenden und die befragten Abgeordneten stammen fast

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2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns ausnahmslos aus dem Bundestag (vgl. u.a. H. G. Ritzel, 19672; E. Lemmer, 1968; H. Apel, 1968, 1972 und 1991; U. Lohmar, 1975; D. Lattmann, 1977; R. Barzel, 1978; C. C. Schweitzer, 1979; P. Glotz, 1979, 1985 und 1996; H. Hamm-Brücher, 19872 und 19912; sowie die ausführliche Bibliographie bei P. Schindler, 1999, 470 ff.). Die Fraktionsdisziplin ist Ausfluss sowohl der Organisation und Arbeitsweise der Fraktion als auch der Zugehörigkeit des Abgeordneten zur Partei. In beider Hinsicht versteht sie sich zunächst von selbst. Wer sich einer Partei anschließt, teilt zwar nicht unbedingt deren Weltanschauung, er ist aber den übrigen Mitgliedern dieser Partei durch ein mehr oder minder gemeinsames Konzept darüber verbunden, wie das Gemeinwesen beschaffen sein sollte. So ist die Fraktion keine Gesinnungs-, aber doch eine Aktionsgemeinschaft, in der eine unerlässliche Arbeitsteilung stattfindet. Das Parlament bedarf dabei der Spezialisten, die in den Ausschüssen und zugleich für ihre Fraktion Entscheidungen vorbereiten. Die Fraktionsdisziplin lässt sich teilweise aus innerer Notwendigkeit begründen. Gleichzeitig sind mit ihr erhebliche Vorteile verbunden. Der feste Zusammenhalt der Fraktionen hat das westdeutsche Parlamentsleben deutlich stabilisiert. Abgesehen von den Gründungsjahren und den bis etwa 1962/63 andauernden Auflösungsprozessen in den kleineren Parteien stellt der Parteiwechsel von Abgeordneten eine Ausnahme dar. Er führt in der Regel zum späteren Verlust des Mandats, es sei denn, dass es sich um besonders renommierte Persönlichkeiten handelt, deren Übertritt „Signalwirkung" beigemessen wird. Was bis 1969 als Bereinigung der Parteienlandschaft interpretiert werden konnte, erhielt vorübergehend neue politische Bedeutung, als der Parteiwechsel angesichts knapper Mehrheitsverhältnisse zu einem Instrument der Politik wurde. Das gilt sowohl für den Übertritt der FDP-Abgeordneten Mende, Starke und Zoglmann zur CDU/CSU ein Jahr nach Bildung der SPD/FDP-Koalition, als auch für die spektakulären Übertritte von SPD- und FDPAbgeordneten in Zusammenhang mit der Verabschiedung der Ostverträge. 1982 kam es zur nächsten aufsehenerregenden Entwicklung, als die F D P aufgrund der Auflösung der sozialliberalen Koalition in eine Krise geriet, in der sie von prominenten Politikern verlassen wurde, von denen einige in der SPD bereitwillig Aufnahme fanden. Auch das muss aber wie der Übertritt prominenter Grüner zur SPD (O. Schily) oder der Fraktionswechsel ostdeutscher Abgeordneter der Bündnis 90/Grünen zur C D U ( V. Lengsfeld) - noch immer als Ausnahme gelten. In der Regel sind Fraktionen stabil, „Abwertungen" haben wenig Sinn; fraktionslose Abgeordnete finden sich fast nur noch nach einem Parteiaustritt/-ausschluss (Daten bei P. Schindler, 1999, S. 907 ff.). Zum Problem wird die Fraktionsbindung des Abgeordneten, wenn man sie erzwingt oder erwartet, dass ein Abgeordneter seine Überzeugung gänzlich zurückstellt. Im Allgemeinen erweist sich die Praxis zwar als großzügig (vgl. noch immer G. Loewenberg, 1969, Tabelle 33); unüberbrückbare Gegensätze klammert man nach Möglichkeit auch in der Fraktionsarbeit aus oder tabuisiert sie zwischen Koalitionspartnern. Dennoch überprüft jede Fraktion ihr Verhältnis zu einem Abgeordneten, der in wichtigen Fragen mehrmals gegen die Fraktion stimmt und darüber womöglich öffentlich redet. Zwar konnte bislang kein einziger Fall nachgewiesen werden, in dem es der Fraktionsführung gelungen wäre, die erneute Bundestagskandidatur eines „Abweichlers" zu verhindern (Th. Saalfeld, 1995, S. 290ff; S. Schüttemeyer, 1999). Allerdings gibt es durchaus eine „praktische", über sozialen Druck erfolgende Disziplinierung innerhalb einer Fraktion. Sie stabilisiert Fraktionen und Parlamente, nimmt beiden aber auch einiges von ihrer möglichen Farbigkeit und Spontaneität. Im heutigen Parlament kann weder von einem wirklich freien Mandat im Sinne Edmund Burkes die Rede sein, noch von einem imperativen Mandat, wie es sein Wahlkonkurrent von 1774 proklamierte (vgl. W. Steffani, 1981, S. 109 ff.)

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat Keine moderne Diskussion über die Stellung des Abgeordneten kann allerdings an seiner Parteizugehörigkeit vorbeigehen. Sie lässt im Verhältnis zwischen Wählern und Repräsentanten kaum Rollenklarheit zu. Für die Partei muss eine deutliche Abhängigkeit des Abgeordneten als normal gelten. In der Partei lassen sich bis zu einem gewissen Grade auch Zusammenhänge zwischen Diskussion und Entscheidung denken, während sie im Parlament offenkundig nur noch in den Fraktionen, keinesfalls im Plenum bestehen, nachdem die Plenardebatten längst nicht mehr dem Austausch von zu bedenkenden Argumenten, sondern dem Vortrag der eigenen, festgelegten Position dienen. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Debatte über das imperative Mandat verstehen, die häufig mit dem Postulat nach innerparteilicher Demokratie verbunden war. Der Imperativ sollte danach von der Parteibasis ausgehen und deren Beteiligung gegen die praktizierte Vorherrschaft von Parteigremien, Fraktionen und Ausschüssen ins Spiel bringen (vgl. B. Guggenberger, u. a., 1976). Das wiederum steht demokratietheoretisch in engem Zusammenhang mit Fragen nach dem „Grundkonsens" als Voraussetzung der Geltung der Mehrheitsregel und danach, ob die Mehrheitsentscheidung auch dort gilt, wo sich eine Minderheit existentiell betroffen oder bedroht fühlt, wie etwa im Blick auf AKW-Genehmigungen oder unterlassene Entscheidungen im Umweltschutz (vgl. B. Guggenbergeric. Offe, 1984). Ohne dies hier theoretisch begründen zu wollen, sei festgestellt, dass empirisch alle Dichotomien versagen, weder „Freiheit" noch imperative Bindung des Abgeordneten wirken, es vielmehr unterschiedliche Arten von institutioneller und sozialer Einbindung des Abgeordneten gibt und geben muss, die ihm Handlungsspielräume in ganz unterschiedlichen Richtungen einräumen und ihn unterschiedlich koalitionsfähig machen: mit der Basis gegen die Partei, mit der Partei gegen die Basis, mit Abgeordneten anderer Parteien gegen die eigene Partei, mit einer eigenen Position in der Öffentlichkeit gegen die Basis. Dass damit besondere Stärken und Schwächen des einzelnen Abgeordneten Bedeutung gewinnen, versteht sich von selbst. In etwaige Typologien von Abgeordneten müssten auch sie eingehen; hier zeigen sich unverändert die Grenzen empirischer Forschung. „Freiheit oder Bindung" als Formel besagt nur wenig. Der einzelne Abgeordnete befindet sich in einem Beziehungsgeflecht, in dem ihn vieles determiniert, in dem er aber auch über Spielräume verfügt. Parteibindung im Sinne des „sentire cum ..." wird vom Führungskern der Partei und von solchen Mitgliedern erwartet, die, ohne ihr Amt zu gefährden - diese Einschränkung ist wesentlich - , im Amt für die Partei wirken können. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Ämtern, die mit Hilfe der Partei eingenommen wurden, und solchen, die das betreffende Mitglied unabhängig von der Partei innehat. Insofern ist die Parteibindung weit vielschichtiger als die Fraktionsbindung. Diese erwächst unmittelbar aus den täglichen Arbeitsbeziehungen und der strengen, sich aber ganz von selbst ergebenden Gruppenkontrolle. Ziel der Fraktionsbindung ist die unmittelbare Wirksamkeit der Fraktion als Gruppe. Als Abgeordneter und damit als Fraktionsmitglied wird man Mitglied einer arbeitsteiligen Gruppe mit notwendigerweise ausgeprägtem geschlossenen Auftreten. Das Mitglied ordnet sich ein, weil es die Technizität des Arbeitsstiles bejaht; nur in Ausnahmefallen ist eine Kollision in Gesinnungs- und Überzeugungsfragen denkbar. Ob unter solchen Verhältnissen der Abgeordnete in der Fraktion „entmündigt" wird, hängt von seiner Stellung in der Fraktion ab, und auch davon, inwieweit diese Fraktion sich intern auf Auseinandersetzungen und gegenseitiges Sich-Anhören einlässt. Fraglos liegt hier die entscheidende Gefährdung der Abgeordnetenfreiheit. Der parlamentarische Prozess drängt auf ja oder nein und entweder/oder. Er drängt die Unentschiedenen und solche, die gern die Argumente anderer hören und berücksichtigen, an den Rand, weil er von den Entschiedenen oder Entscheidungsbereiten beherrscht wird. Der zur unbedingten Parteinahme Fähige wird also begünstigt; wer um die

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2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns Relativität der eigenen Position nicht nur weiß, sondern daraus auch Konsequenzen ziehen will, sieht sich benachteiligt. Dass man in diesem Zusammenhang so eindeutig von Abhängigkeit sprechen muss, verweist entscheidend auch auf die Besoldung des Abgeordneten. Für die meisten Abgeordneten bedeutet Politik Beruf (vgl. u.a. F. K. Fromme, 1978; A. Renger, 1979; K. v. Bey me, 19952; sowie J. Borchert/L. Goisch, 1999). Das berufsbedingte Einkommen entscheidet darüber, ob man den Beruf ergreifen und später wieder ohne Not aus ihm ausscheiden kann - Letzteres gilt noch immer als wünschenswert. Das führt allerdings nicht zu einer plausiblen Antwort auf die Frage nach dem politischen Einkommen, zumal man auch hier an der Einheitlichkeit der Besoldung festhalten muss. Vernünftig wäre es, den Individualfall in einem gegebenen Rahmen zu regeln. Was sich immer nur unbefriedigend lösen lässt, ging man in der Nachkriegszeit zunächst mit spürbarer Zurückhaltung an. Später verfiel man auf den „Trick", sich der unbeliebten Diätendiskussion zu entziehen, und band die Abgeordnetenbezüge in einem Umrechnungsverfahren an die Beamtenbesoldung (vgl. G. Loewenberg, 1969). Später baute man Hemmungen ab; die laufenden Bezüge erreichten vor allem in einigen Landtagen eine erstaunliche Höhe, und die schon vor den aktuellen Versorgungsskandalen insgesamt großzügigen Pensionsregelungen setzten sich durch. Beides erleichtert die Zuwendung zum Beruf und mindert persönliche Probleme, die grundlegenden Fragen bleiben aber nach wie vor unbeantwortet. In der Bundesrepublik wurden diese Probleme lange unter dem Stichwort Besteuerung der Abgeordnetendiäten diskutiert. Dabei herrschte Übereinstimmung, dass die meisten Parlamentarier Berufspolitiker sind. Ihre Amtseinkünfte müssen mithin eine angemessene Lebensführung abdecken, dafür aber wie andere Einkommen auch besteuert werden (vgl. hierzu bereits H. H. v. Arnim, 1975). Ein erstes Ergebnis dieser Diskussion war, dass sich im Juni 1973 im Bundestag eine „Kommission für Fragen der Besteuerung der Abgeordnetendiäten" unter dem Vorsitz der Bundestagspräsidentin A. Renger konstituierte. In der Kommission einigte man sich über die Besteuerung, ohne das Geschäft allerdings intensiv zu betreiben. In Zugzwang geriet man dann durch eine Verfassungsbeschwerde aus Saarbrücken, die im März 1974 beim Bundesverfassungsgericht einging und diesem Gelegenheit gab, seine bereits 1971 anlässlich einer Klage aus Hessen abgesteckte (parteienstaatliche) Position näher auszuführen. Dem Zugzwang ließ sich aber auch ausweichen; man konnte erklären, dass man erst das Urteil aus Karlsruhe abwarten müsse. Dieses kam dann im Herbst 1975; eine Überraschung brachte es nicht. Die Diätenbesteuerung erweist sich bei näherer Analyse kaum als materielles Problem. Um den Besitzstand zu wahren, muss man nur entsprechend dem durchschnittlichen Steueranteil die Diäten erhöhen. Das mag optisch unerwünscht sein und die Abgeordneteneinkünfte gegenüber begehrlichen Parteiorganisationen noch durchsichtiger machen, bleibt zuletzt aber doch im finanztechnischen Bereich. Schwieriger ist das Grundsatzproblem. Mit der Diätenbesteuerung wird der Abgeordnete endgültig zum Berufspolitiker. Empirisch ist er das - auch in vielen Landtagen - schon lange. Erzwingt man es endgültig, kann dies nicht ohne Folgen bleiben. Die erwähnte Abhängigkeit verstärkt sich; die Rückzugsmöglichkeiten werden geringer. Das kann mit Vorteilen verbunden sein. Mit dem Abgeordnetengehalt lässt sich in den Ehrenordnungen (1972 und 1986) schärfer gegen die problematischen Nebentätigkeiten vorgehen, die in einzelnen Fällen - im Bundestag ist an die Parlamentarischen Geschäftsführer Leo Wagner und Karl Wienand zu erinnern bis in strafrechtlich zu würdigende Bereiche führten. Weiter beseitigt man auf diesem Wege einige der Beamtenprivilegien, die vom bezahlten Wahlkampfurlaub über die Auszahlung eines ggf. sogar angereicherten Ruhegehaltes bis hin zu der Möglichkeit reichten,

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat im Vorübergehen (d. h. ohne das Mandat wirklich aufzugeben) auch noch „befördert" zu werden. Solchen Regelungsvorteilen steht entgegen, dass der erzwungene „Beruf' des Abgeordneten dessen spezifischen Arbeitsbedingungen nur bedingt entspricht. Abgeordnete sollen dem Bundesverfassungsgericht zufolge extrem gleich behandelt werden; Funktionsunterschiede im Parlament sollen sich finanziell nicht auswirken. Abgeordnete sind aber nicht gleich; zwischen politischem Führungspersonal, fleißigen Parlamentsarbeitern, aktiven Wahlkreisbetreuern und Honoratioren in der Politik bestehen erhebliche Unterschiede. Sieht man diese als notwendig und funktional an, erscheint eine offene finanzielle Regelung vorteilhaft. Die Gehaltsregelung, der die Altersversorgung nach dem Pensions-, nicht mehr nach dem allerdings problematischen Versicherungsprinzip entspricht, lässt solche Offenheit nicht mehr zu. Sie erzwingt geradezu das Streben nach Wiederwahl, was die ohnehin schon große Abhängigkeit der Abgeordneten im Zweifel eher verstärkt. So genügt man einem Gleichheitsgrundsatz und schafft Privilegien ab, kreiert damit aber auch einen Typus des Abgeordneten, mit dem man auf längere Sicht das Parlament und das parlamentarische System verändert. Dass man dies hierzulande aufgrund eines Gerichtsurteils betrieb, weil sich das Parlament als unfähig erwies, seine eigenen Versorgungsregelungen in offener Weise den veränderten Bedingungen anzupassen, muss als eine erhebliche Schwäche des parlamentarischen Systems gelten. Der bessere Weg wäre - schon zu einem früheren Zeitpunkt - der über eine unabhängige, in aller Öffentlichkeit arbeitende Kommission gewesen. Für die jetzt geltenden Regelungen müsste im Übrigen wenigstens als oberstes Ziel gelten, dass man nicht nur jedermann den Weg ins Parlament öffnen, sondern vor allem auch den Weg aus dem Parlament wirklich freihalten sollte. Der Berufspolitiker, den das Bundesverfassungsgericht als empirische Größe seiner Rechtsprechung zugrunde legt, ist zuletzt ein Unding; Politik und Parlamentarismus bedürfen der Rotation, weil sonst nicht mehr von einer Auswahl gesprochen werden kann. Bisher hat es diese Rotation gegeben. Eine ihrer Voraussetzungen war, dass die Bindung des Abgeordneten an den bisher ausgeübten Beruf nicht unter allen Umständen verloren gehen musste. Nach Karlsruhe setzt sich allerdings immer mehr ein „Beruf ohne Berufsbild" durch, wie Walter Scheel das einmal nannte. Er beginnt immer häufiger bereits auf der Ebene des parlamentarischen Hilfsdienstes. Noch einmal: Die grundlegende Schwierigkeit besteht nicht in der jeweiligen Höhe der Parlamentarierbezüge, bei der allenfalls zu fragen ist, ob man im Vergleich zum Bundestag die hohen Bezüge in einigen Landesparlamenten rechtfertigen kann. Das Problem entsteht mit der unentrinnbaren Ausschließlichkeit des Typus „parteiorientierter Berufspolitiker", der immer häufiger in der politischen Sphäre allein seine beruflichen Erfahrungen sammelt, der aus ihr ohne deutlichen Statusverlust nicht ausscheiden kann und der ihr damit in einer ganz spezifischen Weise zugehört. Er kann „Repräsentant" nur sein, indem er sich den Bedingungen des politischen Systems anpasst, und er kann Erfolg in diesem System nur haben, wenn er dessen Funktionsanforderungen entspricht, sich also professionalisiert. Professionelle aber geraten in Distanz zu den Laien, hier zu den Repräsentierten. In dem von den Grünen im 10. Deutschen Bundestag praktizierten Rotationsverfahren war deshalb eine durchaus zutreffende Reaktion auf diese Missstände zu erkennen; sie war aufgrund des Professionalisierungsbedarfs allerdings nicht durchzuhalten.

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2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns 2.3. Formale und informelle Fraktionsstrukturen In der Regel können in der Bundesrepublik erst zehn Abgeordnete eine Fraktion bilden und die für sie vorgesehenen finanziellen und personellen Angebote des Parlaments in Anspruch nehmen; im Bundestag sind mindestens fünf Prozent seiner Mitglieder hierfür erforderlich (zu den rechtlichen Grundlagen der Parlamentsfraktionen in Bund und Ländern vgl. ausführlich S. Hölscheidt, 2001; zur politischen Struktur und Entwicklung der Bundestagsfraktionen S. Schüttemeyer, 1998, sowie U. Kranenpohl, 1999). Im letzteren Fall wird die Politik von den zwei großen Fraktionen (Fraktionsgemeinschaften) der SPD und der CDU/CSU beherrscht. Letztere treten seit 1949 im Parlament einheitlich auf, bilden nach außen aber zwei Parteien, was viele Vorteile mit sich bringt; im Parlament kann man ggf. Vorrechte als stärkste Fraktion geltend machen, erhält aber zweimal den Sockelbetrag aus der Parteienfinanzierung und nimmt bei zentralen Fernsehsendungen eine doppelte Präsenz in Anspruch. Die großen Fraktionen des Bundestages sind größer als die meisten Landesparlamente; sie müssen sich in der Fraktionssitzung ähnlich wie ein Parlament verhalten, um überhaupt beschlussfähig zu sein. Die Hoffnung, dass sich die Diskussion aus dem Parlamentsplenum in Fraktionen und Ausschüsse verlagert habe, zielt insoweit ins Leere. Wortmeldungen, die Beachtung der sich ergebenden Reihenfolge u.a.m. verbieten eine spontane Debatte; die Dominanz des Fraktionsvorstandes kommt erschwerend hinzu. Faktisch muss man die wirkliche Willensbildung also in kleinere, noch anonymere Gebilde verlagern. Damit wächst die Abhängigkeit der Fraktion von ihren Fachleuten. Da bei mehr als 50 Mitgliedern die Größe einer Fraktion eigene Gesetzlichkeiten aufweist, ergibt sich für die SPD und CDU/CSU eine mehrfach differenzierte formale Arbeitsteilung - im Bundestag wie in den größeren Landtagen. Offiziell gliedern sich die Fraktionen dabei in Arbeitskreise und Arbeitsgruppen (vgl. Materialband, VI/4). Sie gelten ähnlich wie die Ausschüsse des Parlaments als Hilfsorgane der Fraktionen und sollen „Entscheidungen der Gesamtfraktionen sachlich und fachlich vorbereiten und der Fraktion ein abschließendes politisches Urteil ermöglichen. Tatsächlich geht (aber) die Macht dieser Untergliederungen der Fraktion weit über die theoretisch fixierte Aufgabe hinaus. Wenn sich die Fachleute eines Bereichs einig geworden sind und ihre Festlegung nicht mit der Meinung und der Interessenlage anderer Fachbereiche und ihrer Repräsentanten kollidiert, wird die Fraktion gemeinhin ohne viel Aufhebens den ihr vorgetragenen Sachverhalt und die dazu empfohlene Stellungnahme akzeptieren und zu ihrer eigenen machen" (so, noch immer zutreffend, H. Apel, 1970, S. 223). Man hat deshalb immer wieder auch mit anderen Untergliederungen experimentiert; es blieb aber meist dabei, dass jeweils einer Gruppe von Parlamentsausschüssen - und den dort tätigen Fraktionsmitgliedern - ein Arbeitskreis entspricht. Neben der formalen Arbeitsteilung in der Fraktion (G. Kretschmer, 19922) gilt es, deren informelle Struktur zu sehen. Hier wird meist zwischen „Hinterbänklern", Fraktionsspezialisten und der Fraktionsführung unterschieden. Immer gibt es auch näher bestimmbare Flügel oder Gruppen ganz unterschiedlicher Zusammensetzung - etwa den „Arbeitnehmerflügel" in der CDU/CSU oder die „Kanalarbeiter" in der SPD. Die zugrunde gelegten Kriterien treffen allerdings nie voll zu. Gleichgültig, ob man nach der beanspruchten Redezeit fragt oder alle von der Fraktion vermittelten Funktionen erfasst und dann deren Träger als „führende Parlamentarier" bezeichnet, immer geraten diffizilere Positionen aus dem Blick. Daher unterscheidet man sinnvollerweise zwischen Hinterbänklern, Spezialisten, einflussreichen Fraktionsmitgliedern (aufgrund von Positionen außerhalb der Fraktion), der Gruppe der Abgeordneten mit besonderer Publizität und schließlich dem engeren Führungskern der Fraktion. Greifbar erscheint auch ein „Management des Bundestages", dessen Befürworter

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat ihm „die Kerngruppe der Initiatoren, Vermittler, Organisatoren, Koordinatoren sowie Repräsentanten politischer Entscheidungen und parlamentarischer Arbeit" zurechnen wollte. „ N u r wer als Abgeordneter in deutlich erkennbarem Umfange diese Funktion ausübt und ein Mindestmaß an Verfügungsmöglichkeiten über die zu solcher Tätigkeit notwendigen parlamentarischen Apparaturen besitzt", soll zum Management gehören - etwa 15 Prozent aller Abgeordneten, während G. Loewenberg früher über 25 Prozent erfassen wollte (F. Grube u. a., 1970, S. 152fT.). M a n nähert sich auf diesem Wege der Analyse von Machtkonstellationen innerhalb der Fraktionen und erhält zusätzliche Beiträge zum Rekrutierungsproblem, weil sich die Karrieremuster jenes Managements mit allgemeinen Daten vergleichen lassen; die Klärung der freilich auch ständig wechselnden informellen Struktur gelingt so jedoch nicht. Zu ihr tragen soziale Herkunft, Berufsbildung und in gewissem U m f a n g das Geschlecht bei - solange Frauen deutlich unterpräsentiert waren, verfügten sie als Fraktionsmitglieder gelegentlich über größere Chancen (dazu G. Bremme, 1956; M. Fiilles, 1969) - , darüber hinaus aber vor allem genuine Fähigkeiten wie Fleiß und Verlässlichkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Redegewandtheit usw., mit deren Hilfe man sich unentbehrlich machen kann. Dabei scheint die „Ochsentour" nicht die ihr gern von jüngeren Abgeordneten zugesprochene Rolle zu spielen - wenn es auch nur selten zum „Senkrechtstart" kommt. Informell bieten die Fraktionen jedenfalls ein buntes, wenn auch schwer zu ergründendes Bild. Es lässt sich nur zeichnen, k a u m quantitativ belegen. In ihm spielen Konfessionszugehörigkeit, soziale Herkunft und Parteifunktionen eine geringere Rolle, Beruf und spezifische Fähigkeiten, landsmannschaftliche Bindung und die Art des Mandats hingegen eine größere. Das letztere bedarf der Erläuterung: Der Kern der Fraktionsführung verfügt in der Regel über ein Direktmandat und kommt seinen Wahlkreisverpflichtungen durch allgemeine politische Präsenz nach. Die meisten Listenabgeordneten streben ein Direktmandat an, weil es als sicherer gilt; sie bemühen sich deshalb u m eine Art Heimatwahlkreis. Das kommt der örtlichen Arbeit zugute. Fraglos können im Ergebnis deshalb viele Abgeordnete mit ihrer Wiederaufstellung rechnen, weil sie gute Behördengänger oder „Briefträger" sind und die Wünsche einzelner Wähler energisch oder dauerhaft vertreten. In den Landtagen spielt dieser Abgeordnetentyp, auf den man in der täglichen Parlamentsarbeit wenig rechnen kann, eine erhebliche Rolle. Im Bundestag wird der Vorteil der Hinterbänkler, mehr Zeit f ü r den Wahlkreis zu haben, durch den größeren Einfluss ausgeglichen, den die eigentlichen Parlamentsarbeiter ausüben. Kein Abgeordneter kann es sich jedoch leisten, seinen Wahlkreis zu vernachlässigen. Ein Teil der Abgeordneten geht dabei ganz im Wahlkreis auf und genießt oder erleidet dort seine protokollarische Stellung (etwa vor dem Regierungspräsidenten), während sich andere nur gelegentlich blicken lassen, für den Wahlkreis aber etwas bewirken, weil sie einem wichtigen Ausschuss Vorsitzen und sich damit gute Beziehungen zu den Ministerien verbinden, deren Fonds sich wiederum örtlich unterschiedlich einsetzen lassen. Unter Wahlkreisaspekt sind trotz gelegentlicher Sprechstunden Kanzler oder Oppositionsführer durch die überörtliche Berichterstattung präsent, andere Abgeordnete durch sichtbare Leistungen, wieder andere über die Teilnahme an örtlichen Veranstaltungen. Daneben gibt es Abgeordnete, die sich ganz auf die Partei - dann mindestens auf einen Landesverband - konzentrieren, u m so das Listenmandat abzusichern, wobei sie sich entweder der Partei oder der Fraktion unentbehrlich machen oder ggf. den Umweg über Verbände gehen, an deren Unterstützung der Partei gelegen sein muss. In der Folge finden sich Abgeordnete, die sich keine Minute länger als notwendig in Berlin aufhalten, weil sie daheim oder in Verbandsveranstaltungen repräsentieren müssen, während sich andere dort häuslich niederlassen und auch in der Lebensführung den höheren Beamten angleichen. Das Ganze folgt keinen festen Regeln; von Wahl zu Wahl gibt es Änderungen. Obgleich das Parlament zu-

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2. Abgeordnete und Fraktionen: die Vertretung des Souveräns meist aus Berufspolitikern besteht, verfehlt nichts so sehr die Realität wie das Klischee vom Typus „des" Funktionärs. Der Wirklichkeit nähert man sich deshalb besser an, wenn man von einer funktionsbedingten Hierarchie in den Fraktionen ausgeht und sich deren Konsequenzen nach innen und außen vergegenwärtigt. Nach innen geht es vor allem darum, die Fraktion möglichst reibungslos zu steuern. Die Steuerungsleistung besteht darin, die zu bewältigende Arbeit zu verteilen, den Zielbedarf zu befriedigen, den Konsens der Mehrheit zu sichern und Minderheiten oder Einzelne mit abweichenden Meinungen entweder zu integrieren oder zu isolieren - notfalls gegen sie auch die Sanktionsmittel der Fraktion einzusetzen. Über letztere hat in der Literatur bislang nur C. C. Schweitzer (1979) einigermaßen offen berichtet. Bei einer Eskalation kommt es zum Ausschluss von wichtigeren Ämtern, zur Nichtberücksichtigung von Wünschen nach Mitarbeit in Ausschüssen, im Wahlkampf dann zu mangelnder Unterstützung durch Prominenz und schließlich zum Druck auf die Landes- und Regionalorganisation der Partei, den Abgeordneten nicht erneut aufzustellen. Nach außen lässt sich die Hierarchisierung wohl am besten an der Zuteilung von Redezeiten ablesen. Von „Zuteilung" muss man reden, weil die Debatten vom Ältestenrat und den Fraktionsgeschäftsführern weithin vorgeplant sind, es eine Rednerliste gibt und somit kein Recht des Präsidenten, um der Dramaturgie der Verhandlung willen diese zu unterbrechen. Entsprechend standardisierte und stereotype Debatten sind die Folge. Der Fraktionswrstand steuert unter Berücksichtigung der ihm zugehenden Information die Fraktion, die Fraktionen konstituieren das Parlament (vgl. G O BT § 10 f. sowie Materialband, VI/3). Ihre Stärke bildet die Berechnungsgrundlage für die Zusammensetzung der Ausschüsse, für die Verteilung der Ausschussvorsitzenden und für die Zusammensetzung des Ältestenrates und des Parlamentspräsidiums. Im Ältestenrat verständigen sich die Fraktionen über den Arbeitsplan des Parlaments, über Verteilung und Besetzung von Parlamentsämtern, über die Tagesordnung und die Handhabung der Geschäftsordnung. Bei alledem findet sich der einzelne Abgeordnete stets nur repräsentiert. Für ihn entscheidet die Fraktion, von dem Schutzrecht einmal abgesehen, dass nichts beraten werden darf, was nicht vorher angekündigt wurde. Damit bleibt dem Abgeordneten nur übrig, sich gut vorzubereiten und vor allem die etwas weniger festgelegte Diskussion während der zweiten Lesung von Gesetzen zu nutzen - manchmal sogar, um die Fraktion zu überspielen. Nur mit kleinen Anfragen kann sich der Abgeordnete den Weg ins Stenographische Protokoll erzwingen. In einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 27.4.1982 wird deutlich, wie weit die Bevorrechtigung der Fraktionen gehen kann. In Bremen war es Usus, dass die Finanzdeputation anstelle des Plenums eine Reihe wichtiger Beschlüsse zum Haushaltsvollzug fasst. Dagegen wandten sich die Grünen, die nur im Parlament, nicht aber in der Deputation vertreten und damit von jener Beschlussfassung ausgeschlossen waren. Das Gericht wies die Klage ab und führte u. a. aus: „Die Antragsteller machen zwar geltend, der Landtag habe durch Selbstaufgabe bestimmter Rechte und Zuständigkeiten zugleich ihre Mitwirkungsrechte aus Art. 83 Abs. 1 LV und § 31 G O sowie allgemein ihre Beteiligungsrechte an der parlamentarischen Arbeit eingeschränkt, weil sie diese Rechte nur im Rahmen der Zuständigkeiten des Landtags ausüben könnten. Damit ist jedoch kein Sachverhalt vorgetragen worden, der die Schlußfolgerung zuließe, daß in ihre eigene Rechtsstellung unmittelbar eingegriffen worden sei. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn sie geschäftsordnungswidrig gehindert worden wären, bestimmte Anträge zu stellen, an bestimmten Abstimmungen teilzunehmen" usw. Röper kommentiert: „Dem einzelnen Abgeordneten verbleibt damit neben der Pflicht zur Teilnahme an der Arbeit des Parlaments vor allem das Recht auf einen Ausweis, allgemeine Unterlagen einschließlich der Parlamentsdrucksachen und grundsätzliche Einsicht in die Akten des Parlaments. Er kann persönliche

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat Erklärungen, solche zu seinem Abstimmungsverhalten und zur Geschäftsordnung abgeben. (Im übrigen ist er) in ein sehr enges Geschäftsordnungskorsett eingeschnürt. [...] Ausgangspunkt der Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts bei der vorliegenden Entscheidung war die Prämisse, daß die Kontrolle der Regierung und die Wahrnehmung parlamentarischer Rechte wie das Budgetrecht nicht dem einzelnen Abgeordneten, einzelnen Fraktionen oder Gruppen unterliegt, sondern dem körperschaftsähnlichen Verfassungsorgan Parlament als Ganzem, das die Kontrolle nach Form und Inhalt im Rahmen der Geschäftsordnung frei gestalten, ja sogar Befugnisse auf einen Ausschuß übertragen kann. Folgerichtig ist dann die Ausübung der (sehr beschränkten) parlamentarischen Rechte durch eine Gruppe oder einen Einzelabgeordneten - wie etwa beim Fragerecht - nur eine Teilhabe an der Kontrollfunktion des Parlaments, kein Statusrecht" (E. Röper, 1982, S. 310ff.).

Die Rechte eines Mitglieds des Deutschen Bundestages hat Hans-Josef Vonderbeck (1983) übersichtlich und erschöpfend zusammengestellt (Aktualisierungen bei H.-P. Schneiderl W. Zeh, 1989; S. Hölscheidt, 2001). Sie bilden einen wichtigen Teil des Parlamentsrechts, das letztlich auf den Norddeutschen Reichstag und dessen Geschäftsordnung von 1868 zurückgeht, also in „Altersschichten" überliefert ist (vgl. N. Achterberg, 1984; G. Kretschmer, 1989; J. Pietzcker, 1989). Empirisch muss man den Abgeordneten jedoch in der Fraktion sehen. Ihr wachsen neben den institutionellen auch die praktischen Vorrechte zu. An sich sind die Parlamente überfordert. Der Technizität der Gesetzgebung werden sie nur durch zunehmende Spezialisierung Herr. Kein Abgeordneter vermag allen Gesetzesvorlagen zu folgen im 14. Bundestag gab es 1998-2002 253 Plenarsitzungen, 864 Gesetzentwürfe sowie 10.006 Parlamentsdrucksachen, von denen nicht wenige mehrere hundert Seiten umfassten. Man muss sich deshalb auf die Kollegen verlassen, um sich selbst wenigstens in einigen Gebieten ein gewisses Mitspracherecht zu sichern. Damit fügt man sich in das schon erwähnte arbeitsteilige System ein und macht sich abhängig. Dies alles bildet den Hintergrund, vor dem man die Tätigkeit der Fraktionsvorsitzenden, des engeren und des erweiterten Fraktionsvorstandes und auch der früher meist anonym wirkenden parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführer sehen muss. Die besondere Färbung ergibt sich dabei durch die Rolle als Regierungs- oder als Oppositionspartei. Die letzteren pflegen im Parlament möglichst geschlossen aufzutreten, was zu gewährleisten dem Führungskern zukommt. Für Regierungsparteien ist hingegen das Verhältnis zwischen Regierungschef und Fraktionsvorsitzendem von Bedeutung. Im Bundestag spielte bis 1969 der Fraktionsvorsitzende der SPD immer eine große Rolle. In der zwanzigjährigen Regierungsphase der CDU/CSU profilierten sich dagegen die früheren, mit Adenauer konfrontierten Vorsitzenden kaum, weil der Bundeskanzler auch im Fraktionsvorstand faktisch den Vorsitz führte, wenn er anwesend war. Nach 1969 wurde der CDU-Fraktionsvorsitzende aufgewertet. In der SPD übernahm Herbert Wehner lange Zeit eine Sonderrolle (vgl. H. Knorr, 1975). Im engeren Fraktionsvorstand wird die Fraktion als formale Organisation arbeits- und handlungsfähig gemacht; hier wird über Organisation und Verlauf der parlamentarischen Arbeit entschieden. Dem Fraktionsvorsitzenden fallen dabei unübertragbare Führungsaufgaben zu. Er bestimmt maßgeblich den Führungsstil, das Verhandlungsklima, die Arbeitsatmosphäre. Das grundlegende Führungsmittel bildet das partielle Informationsmonopol des Vorsitzenden und damit die Chance, Informationen zu kanalisieren.

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive

3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive Parlament und Regierung bilden das Führungszentrum im politischen System. Dabei ist die Regierung6 als der aktive, gestaltende Teil zu sehen, während das Parlament unterstützt, kontrolliert oder behindert. So wichtig die parlamentarischen Funktionen auch sein mögen, in der Hauptsache weisen sie den Weg zu unmittelbarer politischer Gestaltungsmacht. Das Streben der Parteien nach der Regierungsgewalt zeigt dabei besser als jedes theoretische Modell, wo sich Grenzen des Parlaments stellen. Teilhabe an der Gesetzgebung, Kontrolle im Prozess der Haushaltsberatung, Kritik an den jeweils Regierenden sind wichtig und zentral, lassen sich aber mit der realen Macht etwa eines Ressortministers nicht vergleichen. Zwar ist richtig, dass die Regierung durch Gesetze und „Sachzwänge" gebunden ist, doch verbleibt ein Bereich freier Tätigkeit, der über Gesetzesinitiativen, die Haushaltswirtschaft, die regionale Mittelverteilung oder die Personalpolitik reiche Gestaltungsmöglichkeiten bietet.

3.1. Regierungsfunktionen Jede Analyse von Regierungsfunktionen hat zunächst von dem Bestand an öffentlichen Aufgaben auszugehen (vgl. zur Einführung in den Themenbereich u.a. W. Hennis, 1965; H. H. Hartwiehl G. Wewer, 1990 ff.; J. I Hessel Ch. Zöpel, 1991; K.-R. Körte, 2001). Dies ergibt sich schon aus dem zunächst trivialen Tatbestand, dass keine ins Amt kommende Regierung vor einer gänzlich neuen Situation steht, sondern zunächst verlässlich zu erledigen hat, was aufgrund früherer politischer Entscheidungen vorliegt. Die Gewährleistung der Kontinuität des Regierungshandelns vermindert somit bereits den Spielraum für eine neue Regierung. Dieser Aufgabenbestand innerhalb der Regierungs- und Verwaltungsorganisation ist auf einzelne Politiken verteilt. Ihnen folgt eine entsprechende „Aufmerksamkeitslenkung" in Ministerien, Behördenzweigen, Interessenverbänden, Fachwissenschaften und eigenen Teilöffentlichkeiten. Der Regierungs- und Verwaltungsorganisation entspricht so immer auch ein bestimmter Aufgabenbestand. Dabei erweist sich die Gleichzeitigkeit von Regierung als Verwaltungsführung (Bestandspflege) und als politische Führung (Zukunftssicherung) als Kernproblem. Einer allzu visionären Regierung kann die Verwaltung rasch entgleiten, zumal hier ohnehin starke Tendenzen zur Selbstführung erkennbar sind; umgekehrt kann eine allzu intensive Konzentration auf die Verwaltung und den in ihr gegebenen Führungsbedarf auch bedeuten, dass die Zukunftsorientierung der Regierungsarbeit aus dem Blick gerät und mit ihr die Distanz zum Aufgabenbestand und zu dem ihn verwaltenden Apparat. Müssen einzelne Regierungsfunktionen also nebeneinander und häufig genug gleichzeitig wahrgenommen werden, ist Information eine offensichtlich zentrale Voraussetzung. Die Regierung verdankt einen großen Teil ihrer Information der Verwaltung. Nachgeordnete

6 Während sich die Einrichtungen der „Regierung" rechtlich und institutionenbezogen eindeutig bestimmen lassen, herrscht mit Blick auf das „Regieren" begriffliche Konfusion. Dabei werden vor allem verfassungsbezogene, institutionell-organisatorische und funktionale Begriffe häufig miteinander vermischt. Allerdings sollte dies kaum verwundern, weil sich bei einer Analyse von Regierungsfunktionen empirische und normative Kategorien notwendigerweise verbinden. Zum Stand der politikwissenschaftlichen Diskussion vgl. unter vielen H.-U. DerlienlA. Murswieck, 2001, M. Fröhlich!K.-R. Körte, 2003, W. Hennis, 2000, Α. Kaiser, 2000, Β. Kohler-Koch, 1998, sowie K. König, 2002. Eher rechtswissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen finden sich u.a. bei M. Schröder, 1987, und N. Achterberg, 1984.

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat Behörden melden Erfolge und Probleme bei der Aufgabenerledigung; ein nach Bereichen unterschiedlich intensives Berichtswesen oder einschlägige Statistiken erlauben die Vorbereitung und den Nachvollzug einzelner Politiken. Die Staatsorganisation lässt sich deshalb auch als Informationssystem begreifen, das der Programmentwicklung und später dann dem Programmvollzug und der Programmkontrolle dient. Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung werden dabei zum Führungsproblem, auch und gerade aufgrund der sich mit den neuen Kommunikationstechniken verbindenden Kapazitäten. Selektionsprozessen und „Filtern" gilt dabei besondere Aufmerksamkeit. Mit der Informationsaufnahme und -Verarbeitung verbindet sich die Entscheidungsvorbereitung. Dabei geht es einerseits um technisch-instrumentelle Aspekte des Regierungshandelns, zum anderen um deren politische Dimension. Die Vorbereitung beider lässt das Durchspielen von Entscheidungsalternativen meist zurücktreten. Zur Entscheidungsvorbereitung gehört ferner die Koordination, sowohl zwischen einzelnen Teilpolitiken als auch zwischen Verwaltungseinrichtungen - und dies gilt in horizontaler wie vertikaler Perspektive. Dabei bedeutet Koordination im administrativen Sinne zunächst Beteiligung (vgl. Hochschule Speyer, 1976; Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, 1991). Hier stellen sich mit Blick auf die anzusprechenden Referate, Abteilungen oder auch Ministerien Grenzen. Gleichwohl ist der Anspruch nicht zu reduzieren, da Koordinationsdefizite Zeitverlust, Ressourcenverschleiß und politische Konflikte mit sich bringen. „Frühkoordination" bleibt deshalb ein Postulat; unter „negativer Koordination" versteht man demgegenüber das Bemühen von Funktionsträgern, Koordination soweit als möglich zu unterbinden (zum Verhältnis von Koordination und Führung vgl. Th. Ellwein, 1991, S. 121ÍT.). Erst im Anschluss an derartige Vorbereitungsstadien kommt es zur Entscheidung selbst. Entscheidungen der Regierung beenden dabei Ungewissheit, verändern die gegebene Ausgangssituation, beantworten offene oder latente Machtfragen, legen Konflikte bei und regeln steuerungsbedürftige Tatbestände. Worüber zu entscheiden ist, verdeutlicht etwa die Geschäftsordnung der Bundesregierung (Materialband, VIII/1). In ihr ist festgelegt, dass der Bundesregierung, also dem Kabinett, zur Beratung und zur Beschlussfassung alle Angelegenheiten von allgemeiner innen- oder außenpolitischer, wirtschaftlicher, sozialer, finanzieller oder kultureller Bedeutung zu unterbreiten sind. Dazu gehören Gesetzes- wie Verordnungsentwürfe der Bundesregierung und die wichtigeren Verordnungen einzelner Ministerien, die Entwürfe zur Finanzplanung, die Haushaltsplanung sowie alle wichtigeren Personalangelegenheiten; die Klärung von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministerien tritt hinzu. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Regierungsentscheidungen unterschiedlich formalisiert sind. Das Zustandekommen eines Gesetzentwurfes folgt strengen Form Vorschriften; Personalentscheidungen müssen sich nach bestimmten Regeln richten; finanzielle Entscheidungen bedürfen hingegen nur eines gewissen Rahmens. So müssen im Haushalt Straßenbaumittel zwar bereitgestellt sein, in ihrer Vergabe jedoch ist die Regierung frei oder durch einen mit dem Parlament abgestimmten Straßenbauplan gebunden. Ob strenger formalisiert oder weniger: hinsichtlich der Information wie der Vorbereitung gibt es einfachere und schwierigere Entscheidungen. Das einfachste Beispiel: Ministerialdirektor A geht zum Jahresende in Pension, man muss einen Nachfolger bestimmen. Das Entscheidungsbedürfnis ergibt sich aus dem Kalender. Als nächstes ist auszuwählen. Dazu braucht man Zeit und Personalkenntnis, geht es um solide Personalwirtschaft, steht entweder der Kandidat fest oder man trifft zunächst eine engere Auswahl und erst später die eigentliche Wahl. Schließlich kommt es dann zur Ernennung. Erst zu diesem Zeitpunkt sind auf Bundesebene Kabinett und Bundespräsident beteiligt. Die Wahl selbst ist Sache des Ministers. Die Auswahl

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive dagegen treffen diejenigen, die das Vorbereitungsgeschäft betreiben. Die eigentliche Entscheidung fallt deshalb nicht dort, wo sie formal erfolgen sollte, sondern anderenorts und zu einem früheren Zeitpunkt. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Bei dieser Abfolge sind die ersten drei Stufen wichtiger als die vierte. Wenn bei einem Gesetzentwurf aber diese drei Stufen ausschließlich durch die Ministerialbürokratie geprägt werden und Regierung und Parlament gar nicht erfahren, welche Entscheidungsmöglichkeiten gegeben sind, dann ist die Bürokratie der „eigentliche" Gesetzgeber. Vereinfacht: Es regiert, wer die Entscheidungsmöglichkeiten kennt und unter ihnen auswählt. Das aber bedeutet für die Regierung, dass sie sich nicht mit dem Entscheiden selbst begnügen kann, sondern auf den Prozess der Information und der Entscheidungsvorbereitung einwirken muss. Ist die Entscheidung schließlich gefallt, ist sie zum einen öffentlich zu vertreten, zum anderen zu vollziehen. Mit Blick auf den Vollzug ergeben sich dabei drei unterschiedliche Funktionen. Zunächst geht es um Leitung und Aufsicht; ihm dienen die Hierarchieprinzipien und die Regeln für den Vollzug. Die Regierung erteilt Weisung oder die politische Führung erlässt ein Gesetz. Damit ist die Verwaltung gebunden. Aufsicht soll gewährleisten, dass die sich daraus ergebenden Pflichten auch erfüllt werden. Hinzu tritt die (nachträgliche) Kontrolle, die Prüfung also, ob Vorschriften und Weisungen befolgt wurden. Die Organisationsgewalt der Regierung schafft dabei die institutionellen Voraussetzungen, um Entscheidungsinhalte zu verwirklichen. Verkürzt ist deshalb zusammenzufassen, dass sich an die politische Entscheidung, an das Regieren im Sinne des regere das Regieren als Verwaltungsführung anschließt. Zu ihr gehört auch die Überwachung des Vollzuges; entsprechende Instrumentarien hat die Verwaltungsforschung vorgestellt (vgl. R. Mayntz, 1980 und 1983). In der politischen Praxis geht es natürlich nicht um einen idealtypischen Ablauf mit den Stufen: Problemwahrnehmung - Information - Problemdefinition - Programmentwicklung - Regierungsentscheidung - Vollzug - Aufsicht und Kontrolle. In der Empirie erscheinen diese Stufen vielmehr miteinander verknüpft, ihre Reihenfolge oft verändert. Auch ist nur so eine programmatische Politik zu gewährleisten, die entgegen einer reinen Bestandspflege nicht nur reaktiv, sondern auch aktiv auf Entwicklungen einzugehen und in diese planend, korrigierend und steuernd einzugreifen sucht. Zwar bedeutet eine solche Alternative eine nicht unbeträchtliche Vereinfachung der politischen Realität, doch kann man für weite Teile des deutschen Regierungshandelns in der Tat davon ausgehen, dass sie eher auf Bestandspflege als auf Zukunftsorientierung ausgerichtet sind. Zwar scheitert eine solche Politik nie eindeutig, erweist sich letztlich aber als unzureichend, weil sich die Überzeugung durchzusetzen beginnt, es sei besser, den der Lebensqualität drohenden Gefahren frühzeitig und vorbeugend zu begegnen, als sie nur in ihren Folgen zu bekämpfen. Die Notwendigkeit eines zukunftsorientierten Denkens wird daher zunehmend akzeptiert - mit entsprechenden Folgen für den Informationsbedarf und das einzusetzende Instrumentarium (vgl. zu entsprechenden Überlegungen die Reihe Forum Zukunft, hrsg. von J. J. HesselCh. Zöpel, 1987ff, sowie die Berichte zahlreicher „Zukunftskommissionen"). Der solchen Überlegungen verbundene Planungsbedarf führte in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu einer beträchtlichen Ausweitung der staats- und verwaltungswissenschaftlichen Diskussion. Die vermeintliche Planbarkeit der Entwicklung wurde zum Leitpunkt einer entsprechenden Ausweitung des Regierungshandelns. Aufgaben- und Regierungsplanung zählten zu den Kernbereichen der Reform, entsprechende Organisationsstrukturen sollten die längerfristige Stabilisierung dieser Regierungsfunktion gewährleisten. Das relative Scheitern organisierter politischer Planung nach 1969 (vgl. R Mayntz/F. W. Scharpf 1973) darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass die theoretischen Möglichkeiten von Planung und die praktischen Bedürfnisse, auf Entwicklungen möglichst früh-

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat zeitig einzuwirken, die Regierungsfunktionen drastisch verändert haben. Politik soll auf längere Fristen hin angelegt sein, ihre steuernden Wirkungen werden gesehen und hervorgehoben. Das hebt die Unmittelbarkeit der Beziehung von Problem und Problemlösung mittels politischer Entscheidung immer häufiger auf. Zahlreiche politische Entscheidungen haben erst nach längerer Zeit konkrete Wirkungen, so dass die bislang übliche Erfolgskontrolle versagt, Korrekturen aufgrund von Rückkoppelungen schwieriger werden. Der zunehmenden Rationalität von Politik entspricht dabei eine zunehmende Komplexität, die die vom System legitimerweise zu erwartende Transparenz faktisch aufhebt. Insofern verändert Planung das System in zweierlei Hinsicht qualitativ: Sie behindert spontane Aktion und damit auch eine bestimmte, früher als ausschlaggebend gedachte Form der Partizipation, und sie erweitert den Bereich aktiver Gestaltung - und damit auch die Gefahren der Fehl- oder Verplanung und der Beschränkung individueller Entfaltungsmöglichkeiten. Unstrittig aber bildet Planung eine der Regierungsfunktionen, und zwar nicht nur in dem früheren Sinne einer angemessenen Zeitplanung für eine Legislaturperiode oder einer Prioritätenplanung im Hinblick auf den jeweiligen Haushalt. Gemeint ist vielmehr eine Planung, die zumindest die Perspektive einer zukünftigen Gesellschaft und ihrer sozialen Ordnung voraussetzt, und die gewährleistet, dass wenigstens die politisch zu verantwortenden Einzelmaßnahmen dieser Perspektive entsprechen oder ihr jedenfalls nicht widersprechen, Programme zudem gebündelt und etatmäßig abgesichert oder Großprojekte in der ihnen gemäßen Weise administriert werden. Eine funktionale Betrachtungsweise darf schließlich nicht dazu führen, den spezifischen Führungsauftrag der Regierung zu übersehen. Hinsichtlich dieses Auftrages lässt sich zwischen faktischer und legaler politischer Führung unterscheiden. Die letztere steht ausschließlich Parlament und Regierung zu, wobei die Regierung in das Zentrum rückt. Sie „herrscht" - im Auftrag und für das Gemeinwesen. Grundsätzlich repräsentiert Herrschaft das Gemeinwesen nach außen und organisiert den nach außen nötigen Schutz. Sie stiftet nach innen Ordnung oder gewährleistet, dass Ordnung eingehalten wird. Sie übt die traditionellen öffentlichen Funktionen der Streitschlichtung und des Schutzes der physisch Schwächeren sowie etwaiger Minoritäten aus. Sie bewirtschaftet die gemeinsamen Einrichtungen und schafft und leitet die dazu nötigen Institutionen, innerhalb derer die einzelnen Funktionen dann in vielfältiger Weise delegiert werden. Damit leistet Herrschaft einen wesentlichen Beitrag zur Integration des Gemeinwesens, sie entwickelt und stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl, sie repräsentiert das im Gemeinwesen lebende Volk als eine „überzeitliche Existenz", und sie orientiert durch ihre eigene Existenz an mehr oder weniger bestimmten Vorstellungen, Werten und Erwartungen. Herrschaft sichert damit Stabilität und Dauerhaftigkeit und verweist in der Gegenwart auf die Zukunft. Herrschaft bedeutet auch Führung. Wer führt, benennt Ziele, bestimmt die Mittel und setzt sie ein. Zu einem symbolischen und praktischen Inbegriff dafür ist die Regierungserklärung geworden. Sie fasst die Programme, Schwerpunkte und Akzente der „neuen" Regierung zusammen - auch als Richtlinie für die Beteiligten. Die Erklärungen zeigen aber auch, wie sich der moderne Staat von früheren Gemeinwesen unterscheidet; neben das eher statische Element der Herrschaft tritt zunehmend das mehr aktive Element der politischen Führung. Die Veränderungen im Bereich der Ordnungsaufgaben und der gesellschaftlichen Selbstorganisation verweisen auf neue Zuständigkeiten, die Forderung nach sozialer Sicherung durch das Gemeinwesen intensiviert sich in dem Maße, in dem die Sicherungsmöglichkeiten des Einzelnen geringer werden. An die Stelle der im Grunde mystischen Überlebenshoffnung tritt die reale Erwartung, die politische Führung müsse in der Gegenwart das Notwendige tun und zugleich den Weg in die Zukunft aufzeigen. Während Herrschaft

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive früher vielfach nur präsent sein musste, soll F ü h r u n g in diesem Sinne konkret artikulieren und sich durch ihr Tun legitimieren. Grundlegender noch wirkt sich der Wandel in der Struktur des Gemeinwesens aus. Die Interdependenz der Lebensverhältnisse entlarvt dabei jede Theorie der Trennung von Staat und Gesellschaft als Utopie; der Staat erscheint vielmehr als eine Integrationsform der Gesellschaft, und durch die politische F ü h r u n g vollzieht sich diese Integration immer wieder neu. 3.2. Minister und Ministerien Die deutschen Regierungen sind Kabinettsregierungen; sie setzen sich aus dem Regierungschef und den Ministern oder Senatoren zusammen - die jeweiligen Bezeichnungen stimmen außerhalb der Stadtstaaten weitgehend überein. Mit Blick auf die Ressortgliederung finden sich in Bund wie Ländern zunächst drei der klassischen Ressorts (Inneres, Finanzen, Justiz), ergänzt durch Ministerien, die vor allem aus dem Bereich des Innenressorts hervorgegangen sind (Kultus, Wirtschaft, Landwirtschaft, Soziales). Eine Landesbesonderheit bilden Minister für Bundesrats- und Europaangelegenheiten, deren Verwaltung meist in den jeweiligen Staats- bzw. Senatskanzleien integriert ist. Die Stadtstaaten weichen von diesem Organisationsschema ab und orientieren sich zum Teil an der Referatsverteilung einer Großstadt, weil sie noch weniger als die Flächenstaaten zwischen den Funktionen der politischen Führung und denen der Verwaltung unterscheiden können. Der Bund schließlich komplettiert die benannten klassischen Ressorts durch das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium; hinzu kommen weitere Ressorts, die der Arbeitsteilung innerhalb der modernen Gesellschaft und neu auftretenden Problemstellungen entsprechen: Zu nennen sind Bildungs-, Verkehrs-, Umwelt-, Bau- und Familienressorts. Andere Bundesministerien sind durch die spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit oder koalitionsbedingt geprägt. Dabei herrschte bis in die sechziger Jahre die Tendenz vor, das Bundeskabinett von Wahl zu Wahl etwas zu vergrößern; inzwischen ist die Zahl der Ressorts, die zwischenzeitlich 16 bis 18 betrug, wieder gesunken (14 Bundesministerien in der 14. Wahlperiode, 13 in der 15. Wahlperiode). G e m ä ß Artikel 65 GG leitet jeder Bundesminister innerhalb der Richtlinien der Politik seinen Geschäftsbereich „selbständig und unter eigener Verantwortung". Diese Bestimmung schließt die Ernennung von Bundesministern ohne eigenen Geschäftsbereich aus und setzt eine klare Zuständigkeitsverteilung zwischen den Ressorts voraus. Sie gelingt allerdings immer weniger, zum Teil als Folge der wachsenden Interdependenz nahezu aller Lebensbereiche und damit auch der entsprechenden Teilpolitiken, zum Teil aufgrund des Widerstreits zwischen traditioneller Ressorteinteilung und modernen Erfordernissen. Im Übrigen sei hier dahingestellt, ob Unklarheiten bei der Zuständigkeitsverteilung unvermeidbar sind oder o b man sie vielleicht sogar bewusst in Kauf nimmt, um „synergetische" Prozesse zu institutionalisieren oder Koordinationseinrichtungen zu legitimieren. Unbeschadet solcher Unklarheiten kommt den einzelnen Ministerien natürlich ein sehr unterschiedliches Gewicht zu. In den Ländern ist die Ressortgliederung stabiler, zumal die Länderministerien auch in größerem U m f a n g Verwaltungsaufgaben im klassischen Sinne zu leisten haben. Hier geht es vor allem um die Aufsicht über nachgeordnete Behörden, die Personalplanung und -Steuerung, die Mittelbewirtschaftung, die Entscheidung in schwierigen Einzelfällen u.a.m., während Politik im klassischen Sinne eher auf Bundesebene gemacht wird. Auch wenn diese Unterscheidung zunehmend fragwürdig ist und vor allem nicht die Mitwirkung der Landesbürokratie an bundespolitischen Entscheidungsprozessen erfasst, bleibt der administrative Teil von Führungsaufgaben auf Landesebene größer als im Bund. Darauf zielt dann auch

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat eine Reihe von Reformpolitiken (vgl. die sog. Bulling-Kommission, 1985), ohne dass die in diesem Zusammenhang erarbeiteten Vorschläge jedoch Realität geworden wären. Die dabei angesprochene, in anderen westlichen Industriestaaten zunehmend praktizierte Trennung von politischen und eher vollzugsorientierten Aufgaben folgt dabei nicht nur funktionalen Erwägungen, die Freistellung für politische Aufgaben tritt vielmehr hinzu. Die Einrichtung der Ministerien fallt in die Organisationsgewalt des Regierungschefs. Bundestag oder Landtage sind insofern beteiligt, als sie die entsprechenden Ressourcen bereitstellen. Das Haushaltsrecht des Parlaments ist aber nur eine notwendige Voraussetzung für die Tätigkeit der Regierung, nicht die verfassungsrechtliche Grundlage für deren Organisationsgewalt (vgl. E. Böckenförde, 1964; M. Schröder, 1987; B. Becker, 1989). Im Bund ergibt sich die Zuständigkeit des Bundeskanzlers für die Einrichtung von Ministerien aus Art. 64 GG. Die Kompetenzzuteilung auf die Ministerien nimmt der Bundeskanzler hingegen nach Art. 65 G G vor; außerdem ist die Organisationsgewalt noch in Art. 86 G G und in § 9 der Geschäftsordnung der Bundesregierung verankert. Gelingt es nicht, die Geschäftsbereiche der einzelnen Ministerien einigermaßen deutlich gegeneinander abzugrenzen, ist jeweils zu fragen, ob hier unüberwindbare sachliche Schwierigkeiten vorliegen oder die Mängel in der Zuständigkeitsverteilung politisch bedingt sind. Mit Blick auf die Bundesregierung wird die angesprochene Problematik beispielhaft an der Organisation des Querschnittsressorts „europäische Politik" deutlich. So wurde bereits anlässlich der Regierungsbildung im Jahr 1957 über die Schaffung eines eigenständigen Europaministeriums diskutiert. Allerdings konnten sich Wirtschaftsminister Erhard und Außenminister von Brentano auf eine „Arbeitsteilung" zwischen ihren Häusern verständigen, wonach das Auswärtige Amt für die Grundsätze der europäischen Integration verantwortlich zeichnete, während das BMWi die Bearbeitung von Detailfragen der EG-bezogenen Wirtschafts-, Agrar- und Finanzpolitik sowie die Koordination der Europapolitik übernahm (s. hierzu J. J. Hesse/K. H. Goetz, 1992). Trotz der beträchtlichen materiellen Ausweitung, die die europäische Politik in den darauf folgenden Jahrzehnten erfuhr, blieb diese „halbzentralisierte" Organisationsstruktur bis 1998 unverändert. Mit Antritt der rot-grünen Regierung wurden auf Druck des neuen Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine die EUbezogenen Kompetenzen wie Verwaltungskapazitäten des BMWi auf das B M F übertragen. Einer vollständigen Bündelung der Europapolitik in diesem Haus widersetzte sich indes Außenminister Fischer mit Erfolg, wobei das Auswärtige Amt schließlich sogar einige europapolitische Zuständigkeiten hinzugewann (u. a. Vorsitz wie Sekretariatsleitung des Staatssekretärsausschusses für Europafragen). In der fachwissenschaftlichen Diskussion werden Zuständigkeitsverteilung wie Koordination der deutschen Europapolitik im Rahmen der Bundesregierung allerdings nach wie vor kritisch beurteilt. Zwar versucht man gelegentlich aus der „Not" europapolitischer Abstimmungsdefizite eine „Tugend" zu machen, so etwa mit der Behauptung, dass sich mit ungefestigten inhaltlichen Positionen der Bundesregierung strategische Vorteile bei Verhandlungen auf europäischer Ebene verbänden. Dieses Argument lässt sich jedoch allenfalls auf Entscheidungen im Rahmen der europäischen „Verfassungsentwicklung" anwenden, nicht aber auf die „EU-Routinepolitik", die nahezu alle innenpolitischen Ressorts mehr oder minder stark durchdringt. Zwar verfügen die meisten Bundesministerien inzwischen über eigene Europaabteilungen und wurde die Gemeinsame Geschäftsordnung punktuell angepasst (s. Materialband, VII/2, insbesondere § 37), doch spiegeln diese Maßnahmen eher den Bedeutungszuwachs der Europapolitik wider, als dass sie auf den deutlich gestiegenen Koordinierungsbedarf sachgerecht reagierten. Einschlägige Reformvorschläge sprechen sich deshalb für eine Übertragung der europapolitischen Koordinationsabteilung ins Kanzleramt sowie für die Einsetzung eines Europa-

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive (Staats-)Ministers aus. Ein eigenes „Europaministerium" auf Bundesebene wäre demzufolge weder eine funktional adäquate Lösung - die interministeriellen Abstimmungsprobleme würden lediglich in das neue Ressort „verschoben" - noch scheint es politisch umsetzbar, da insbesondere das Auswärtige Amt, das meist vom kleineren Koalitionspartner geführt wird, sich gegen die Beschneidung eines seiner wichtigsten Kompetenzbereiche zur Wehr setzen würde (s. H.-U. Derlien, 2000, S. 66ff.). Zuständigkeitsverteilung und Koordination bilden mithin zwei zentrale Parameter der Regierungsorganisation. Während die Zuständigkeitsverteilung auf eine zeitgemäße Anpassung der Ministerialorganisation (und der Regierungsarbeit insgesamt) an die zu lösenden Problemstellungen zielt, geht es bei der Koordination entweder um einen nachträglichen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Einzelpolitiken oder aber um Versuche zu einer Frühkoordination. Hier ist auf zahlreiche Ansätze zu verweisen, geeignete Instrumente zu entwickeln, ein System der Aufgabenplanung einzuführen oder den Informationsfluss zwischen den Ministerien und den Zentraleinheiten zu verbessern. Institutionell werden Koordinationsaufgaben vom Regierungschef und dem Kabinett wahrgenommen; das Bundeskanzleramt und die Staatskanzleien in den Ländern sind die hierfür vorgesehenen Einrichtungen. Da - jedenfalls im Bund - das Kabinett zu groß ist, um als Koordinationsorgan fungieren zu können, weicht man auf ad Aoc-Ausschüsse und sog. ständige Kabinettsausschüsse aus. Ihnen obliegt die Verständigung zwischen den beteiligten Ressorts bis hin zu einem einheitlich auftretenden Kabinett (vgl. G O BReg § 16f.; Materialband, VII/1). Die Koordinationsaufgabe des Kabinetts wird hier also an ein Teilkabinett delegiert. Dieser offizielle, eher formale Weg der Koordination wird ergänzt durch Staatssekretärsausschüsse und eine Vielzahl interministerieller Koordinationsformen, in denen Beamte in ähnlicher Weise einen Ausgleich anstreben. Daneben ist auf informelle Willensbildungsprozesse zu verweisen, also auf das Bemühen, sich ggf. langwierige formelle Verfahren zu ersparen, die einzelnen Politiken abzusichern und die Unterstützung entsprechender Maßnahmen zu gewährleisten. Dabei lässt sich zusammenfassen, dass die hohe Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften den Koordinationsbedarf erheblich erhöht hat; er wird zum Teil formal befriedigt, ohne damit informelle Wege der Koordination entbehrlich zu machen. Innerhalb der Ministerien verfügen die Minister und ihre Stellvertreter zunächst über einen ihnen persönlich zugeordneten Arbeitsstab sehr unterschiedlichen Umfangs, dem u. a. der persönliche Referent, der Pressereferent oder der Kabinettsreferent, zusammengefasst als Ministerbüro oder als Leitungsstab, angehören (vgl. Materialband, VII/5). Darüber hinaus ist eine eigene Zentralabteilung für die Personal- und Haushaltsangelegenheiten sowie für die innere Organisation zuständig. In der Hauptsache aber findet sich die Arbeit auf Fachreferate verteilt, die dann wiederum zu Unterabteilungen zusammengefasst sind, welche Abteilungen bilden. Im Bund fungieren als Abteilungsleiter Ministerialdirektoren, in Länderministerien gibt es oft nur einen einzigen solchen Direktor, der dann als leitender Beamter wirkt. Zwischen dem Minister und den Beamten stehen die politischen Beamten, zu denen überall der beamtete Staatssekretär (vgl. U. Echtler, 1973) und meist auch der leitende Beamte zählen. Politische Beamte können im Gegensatz zu anderen Beamten vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden; bei ihrer Ernennung gelten die Laufbahnbestimmungen nur bedingt (vgl. H.-U. Derlien, 1984, S. 689ff). In Bayern ist der Staatssekretär vollberechtigtes Regierungsmitglied und meist auch Abgeordneter. Schließlich ist im Bund noch auf den Parlamentarischen Staatssekretär zu verweisen, von der Großen Koalition zunächst für die bedeutenderen, nach der Regierungsbildung von 1969 dann für alle Ministerien eingeführt (vgl. H. Laufer, 1969, auch H. RitzellJ. Bückerl H. J. Schreiner, 1989). Diese Staatssekretäre - im Auswärtigen Amt und im Bundeskanzleramt auch als „Staatsminister"

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat bezeichnet - müssen grundsätzlich ein Bundestagsmandat innehaben; eine Ausnahmeregelung besteht erst seit 1998, als anlässlich der Ernennung des Parteilosen Michael Naumann zum Kulturstaatsminister im Bundeskanzleramt das „Gesetz über die Parlamentarischen Staatssekretäre" (§1) entsprechend verändert wurde. Innerhalb der Regierung sollen sie den Minister bei der politischen Außenvertretung, vor allem dem Parlament gegenüber, entlasten. Darüber hinaus kann ihre Ernennung auch stärker parteipolitische Funktionen erfüllen, wie eine „regionale Ausbalancierung" des Kabinetts oder - durch „überkreuzte" Besetzung von Ministern und zugehörigen Staatssekretären - eine (wechselseitige) Kontrolle der Regierungsparteien in einzelnen Ressorts, ein Verfahren, das insbesondere in der Ära Kohl zur Anwendung kam. Innerhalb der Ministerien gilt es, wie in jeder rechtlich verfassten Organisation, formale und informelle Wege zu unterscheiden. Formal handelt es sich um eine hierarchische Struktur, zugeschnitten auf den Minister. Er soll allein die Verantwortung tragen, über ihn soll alles kanalisiert sein, was vom Ministerium nach außen geht. Intern muss man infolgedessen „abfiltern", um den Minister vor Informationsüberflutung und Entscheidungsüberlastung zu bewahren. Was der in der Hauptsache Zuständige, also der Referent vorlegt, soll erst den Unterabteilungsleiter, den Abteilungsleiter und den Staatssekretär passieren. Der Schutz des Ministers kann allerdings auch seine Entmachtung bedeuten. Ein guter Minister weiß von den ihm aus seinem Hause formal, d.h. kanalisiert zufließenden Informationen, dass sie nur die miteingereichten Entscheidungsvorschläge unterstützen. Als Ergänzung bieten sich die informellen Wege der Meinungsbildung an. Sie haben zunächst eine ähnliche Funktion wie die zwischen den Ministerien. Man vermeidet auf ihnen, etwa als Referent, den formalen Weg über den eigenen Abteilungsleiter und gewinnt damit Zeit. Die Kenner der informellen Informationsströme im Ministerium sind dabei wiederum unabhängig von ihrer rechtlichen Position einflussreich. Ein guter Minister wird sich auch diese informellen Wege zunutze machen, um zu erfahren, was man ihm vorenthalten will. Dass Beamte und gerade höhere Ministerialbeamte dies immer wieder versuchen, wird - verbunden mit Loyalitätsbehauptungen - bestritten. Ohne hier auf Loyalitätsfragen einzugehen, ist lediglich festzuhalten, dass selbstverständlich häufig der Versuch gemacht wird, den Minister für die eigene Entscheidung zu gewinnen, indem man ihn einseitig oder unvollständig informiert. Die höhere Ministerialbürokratie betreibt Politikvorbereitung, also Politik. Der Referent, der ein Gesetz entwirft, will, dass es „durchkommt". Er antizipiert deshalb Entscheidungen seiner Vorgesetzten, seines Ministers, des Kabinetts, der Mehrheitsfraktion (vgl. immer noch exemplarisch B. Steinkemper, 1974; zu neuerer Literatur s. die Ubersicht von M. Ohlhauser, 19942). Er wird im eigenen Hause nicht verschweigen, dass er nicht nur gedanklich antizipiert, sondern auch auf anderem Wege. Er sichert also nach Möglichkeit das weitere Verfahren ab. Das ist verständlich, führt aber dazu, dass nicht nur dem Parlament Entwurfsbegründungen lediglich im Indikativ - es geht nur so und nicht anders - vorgelegt werden, sondern auch bereits dem eigenen Minister. Abgesehen von politisch brisanten Angelegenheiten übt die Ministerialbiirokratie damit oft erhebliche Macht aus, eine Macht, die man gleichzeitig gern leugnet (vgl. Th. Ellwein/R. Zoll, 1973). Sich mit dieser Macht zu arrangieren, ohne sich ihr auszuliefern, ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ministerschaft. Wollte man erst das Ministerium reformieren, ist die Legislaturperiode schnell verstrichen. Die Regierung bildet nur bedingt eine Einheit. Das ergibt sich schon aus der Struktur der Ministerien. Neben den benannten klassischen Ressorts stehen solche zur Daseinsvorsorge sowie schließlich ausgesprochene Spezialministerien. Sie haben ganz unterschiedliche Funktionen. Das Gesundheitsministerium etwa ist seiner Funktion nach Beobachtungs-, Auf272

3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive klärungs- und Gesetzgebungsministerium. Für alle gesundheitspolitisch einschlägigen Fragen besteht also eine beobachtende Behörde mit der Aufgabe, aus den Beobachtungen legislatorische Konsequenzen zu ziehen, wozu inzwischen auch Aufsichtsbefugnisse gekommen sind, die etwa mit Hilfe des Bundesgesundheitsamtes wahrgenommen werden. Das Wirtschaftsministerium hat es dagegen auch mit der Gesetzgebung zu tun, zugleich aber wird von diesem Ministerium eine Fülle von Einzelentscheidungen erwartet, Entscheidungen, die wie Einfuhrverordnungen eher grundsätzlicher Art oder, wie Kreditbewilligungen und andere unmittelbare Wirtschaftshilfen, eher singulärer Natur sind. In dem einen Fall hat das Ministerium nur prinzipielle Aufgaben und nimmt insoweit an der politischen Planung und Führung teil, in dem anderen kommen ihm auch Vollzugsaufgaben zu. Mit diesen wächst die Macht. Die Landesministerien sind dabei homogener, weil sie alle auch Vollzugsaufgaben wahrnehmen und einen mehr oder minder großen Vollzugsapparat dirigieren. In den Ländern gibt es keine bloßen Gesetzgebungsministerien wie im Bund, wenn auch derartigen Bundesministerien gelegentlich Vollzugsaufgaben übertragen sind. So setzt das Bundesfamilienministerium den Bundesjugendplan um, und vergibt das Bildungsministerium Forschungsmittel. Diese Vollzugsfunktionen sind aber kaum vergleichbar mit der Vollzugsmacht eines Verkehrsministeriums, das über Straßenbaumittel verfügt, oder des Verteidigungsministeriums, dem nicht nur personell die gesamte Bundeswehr und ihre Verwaltung unterstehen, sondern das auch zu den wichtigsten wirtschaftlichen Auftraggebern in der Bundesrepublik zählt. Nach der Bundestagswahl 2002 kam es mit Blick auf den Zuschnitt der Bundesministerien insofern zu einer signifikanten Veränderung, als erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Ressorts für Wirtschaft und Arbeit unter der Leitung des ehemaligen Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, Wolfgang Clement (SPD), zusammengeführt wurden; hinzu trat ein weiteres „Superministerium", das neben dem Gesundheitsbereich alle weiteren sozialen Sicherungssysteme unter der bisherigen Ministerin Ulla Schmidt (SPD) umfasst. Dieser Umstrukturierung kam zunächst politische Signalwirkung zu, nach der es der Regierung mit der Umsetzung der von der /farfz-Kommission vorgeschlagenen arbeitsmarktpolitischen Reformen „ernst" sei. Inwieweit sich auch das funktionale Potential dieses begrüßenswerten Neuzuschnitts verwirklichen lässt, bleibt abzuwarten. Die Stellung des Ministers ist unter drei unterschiedlichen Aspekten zu sehen, aus denen sich dann wiederum die Funktion der Regierung bestimmen lässt. Zunächst die persönliche und politische Dimension: In Deutschland Minister zu sein, heißt, an der überlieferten Autorität hoher staatlicher Ämter zu partizipieren und entsprechend behandelt zu werden. Daraus ergibt sich ein Kapital, das dem Minister persönlich keinen Nutzen bringen sollte, das aber seiner Partei zugute kommt. In der Regel bedeutet die Nominierung zum Ministeramt seitens der Partei einen Vertrauensbeweis; der Minister spielt also in der Partei eine wichtige Rolle. Er ist zugleich zumeist Abgeordneter und hat die Möglichkeit, seinen Einfluss im Parlament nicht nur von der Regierungsbank aus geltend zu machen. Die sich aus solchen Unwägbarkeiten ergebende Führungsrolle verbindet sich im Einzelnen natürlich mit der Persönlichkeitsstruktur des Betreffenden. Der zweite Aspekt ergibt sich aus der Zugehörigkeit zum Kabinett. Erneut: Die deutschen Regierungen sind Kabinettsregierungen; die Geschäftsordnungen schreiben für alle wesentlichen Entscheidungen Abstimmungen vor, in denen bei Stimmengleichheit die Stimme des Kabinettschefs den Ausschlag gibt. Da die Regierung im Wesentlichen aus Ressortministern besteht, ergibt sich, dass die Regierung als Ganzes einerseits Beschlussorgan und andererseits Organ der Koordination zwischen den unterschiedlichen Ressorts ist. Entscheidungen der Regierung verpflichten den Minister, auch wenn er anderer Meinung ist, d. h. er darf

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat sich öffentlich nicht gegen diese Entscheidung aussprechen und kann gezwungen sein, im Parlament als Abgeordneter im Sinne des Regierungsbeschlusses abzustimmen, selbst wenn ihn das in Gegensatz zu seiner Fraktion bringt (GO BReg § 12). Regierungsdisziplin sollte bis zu einem gewissen Grad selbstverständlich sein. Vor der Entscheidung hat jeder Minister seinen vollen Anteil an der Willensbildung im Kabinett. Dass dies durch das Vorrecht des Regierungschefs, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, wieder eingeschränkt wird, sei hier nur erwähnt. In jedem Fall aber bedeutet Kabinettsrang Teilhabe an der Macht der engeren Führungsspitze und damit eine Stellung, die es etwa ungeschickten Minister ungestraft erlaubt, das Parlament zu brüskieren, während geschickte Minister sich eine nach allen Seiten feste Position zu sichern vermögen. Das „Gewicht" eines Ministers hängt vor allem davon ab, wie stark seine politische Stellung ist und welche Bedeutung dem von ihm vertretenen Ministerium zukommt. Je größer ein Kabinett ist, desto eher kristallisiert sich eine Führungsgruppe heraus, ein Prozess, der sich aufgrund des politischen Gewichts und der Persönlichkeitsmerkmale der Beteiligten meist von selbst einstellt. Der dritte Aspekt verbindet sich mit der Leitung des Ministeriums. Der Minister hat die volle Organisationsgewalt in seinem Haus, d.h. er bildet und verteilt Referate, erlässt eine Geschäftsordnung und betreibt Personalpolitik. Er ist allein verantwortlich·, der Verwaltungsaufbau endet in seiner Person. Außer den parlamentarischen Möglichkeiten gegen einen Minister stehen nur noch die gerichtlichen offen. Das Ministerium wird in mittelbarem Sinne geleitet, weil der Minister zuletzt zuständig für alles ist, was in den Aufgabenbereich seines Hauses fällt. Erst hier werden dann spezifische Unterschiede sichtbar, je nachdem, ob dem Ministerium eine größere oder eher kleinere Verwaltung untersteht, es vorwiegend nur rechtsaufsichtlich tätig wird oder freie Sachentscheidungen trifft, ob es einen zentralen oder eher peripheren Politikbereich vertritt oder ob es schließlich als besonders ressourcenintensiv gilt (vgl. Th. Ellwein, 1970, 1976, 1978). Im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung (Art. 56) ist die Ministerverantwortlichkeit im Grundgesetz nicht eindeutig geregelt. Dass nach Art. 65 G G jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich im Rahmen der Richtlinien „selbständig und unter eigener Verantwortung" leitet, lässt offen, wem die Verantwortung geschuldet wird. Im Staatsrecht wird verschiedentlich nur der Kanzler als Adressat gesehen; die „herrschende Lehre" geht allerdings von einer parlamentarischen Verantwortung aus, auch wenn der Bundestag keine direkte Möglichkeit hat, die Abberufung eines Bundesministers zu erzwingen, vielmehr allein der Kanzler dies veranlassen kann (Art. 64 GG). Der Bundestag hat dennoch in einer Reihe von Fällen die Ministerverantwortlichkeit geltend gemacht (vgl. U. Wengst, 1984, S. 539ÍF.), wobei theoretisch verschiedene Möglichkeiten bestehen, die vor allem bewirken, dass das Parlament öfientlichkeitswirksam seine Meinung bekundet oder die Mehrheit gezwungen ist, einen Minister gegen die Argumente der Minderheit in Schutz zu nehmen. Eindeutige Fälle sind aber selten - um gute Beispiele für das Übernehmen politischer Verantwortung sind die Berichterstatter in der Bundesrepublik verlegen. Mag dabei vieles auch mit Stilfragen verbunden und damit umstritten sein, so hinterlässt es doch ein ungutes Gefühl, wenn ein Bundesverteidigungsminister einen seiner Fürsorgepflicht anheim gegebenen Soldaten öffentlich anprangert, danach mühsam selbst noch Verdachtsmomente sucht, um schließlich zögernd seinen Irrtum einzugestehen und mit den Anwälten des Gescholtenen einen Vergleich über die Formen eines „ehrenvollen Abschiedes" vereinbaren zu lassen (Fall Kießling 1983/84). Hier ist der Minister Falschmeldungen von Untergebenen aufgesessen und hat sich selbst um Belastungsmaterial bemüht. Er hätte zurücktreten müssen. Im hier angesprochenen Zusammenhang ist die Ministerverantwortlichkeit weniger verfassungsrechtlich und auch nicht in erster Linie mit Blick auf den politischen Stil zu sehen,

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive sondern eher unter dem Gesichtspunkt ihrer faktischen Möglichkeit. In der Realität kann kein Minister eine wirksame Kontrolle über den ihm unterstellten Apparat ausüben. Er kann sich auch nicht für alle Teile seines Aufgabenbereichs in gleicher Weise interessieren. Es ist kaum ein Finanzminister denkbar, der gleichermaßen Haushalts- wie Steuerminister ist, Haushaltskonsolidierung ebenso energisch wie Steuerreform und Steuervereinfachung betreibt. Auch den Verkehrsminister, der dem Straßenbau und der Bahn vergleichbare Aufmerksamkeit zuwendet, wird man suchen müssen. Politischer Erfolg setzt vielfach eine Schwerpunktbildung und damit Aufmerksamkeitslenkung voraus; Teile des Ministeriums und einzelne Politikbereiche geraten so in den „Windschatten". Führungstechnisch kann das durch den gezielten Einsatz der Parlamentarischen Staatssekretäre wettgemacht werden. Zumindest bietet sich hier ein Instrument an, die notorische Überforderung des Ministers auszugleichen. Zu ihr kommt es, wie immer wieder betont werden muss, weil der Minister nicht nur sein Haus zu führen, sondern entscheidend auch seine Kabinettsaufgaben zu erfüllen hat, die ihn - ernst genommen - schon allein fordern und um deren Straffung man sich immer wieder bemüht. Schwerpunkte dieser Tätigkeit bilden die Vorbereitung für und die Teilnahme an Kabinettsitzungen. Die ordentlichen Kabinettsitzungen finden sehr häufig, meist wöchentlich statt. Daneben findet sich das Umlaufverfahren, das der schriftlich zu erteilenden Zustimmung zu Vorlagen und Maßnahmen dient. Termin der Kabinettsitzung ist im Bund der Mittwochvormittag. Tagesordnungen und Verfahrensvorschriften spielen dabei zumeist keine sonderliche Rolle. Der Sitzungsverlauf wird protokolliert. Neben den Kabinettsmitgliedern nehmen im Bund der Staatssekretär bzw. Staatsminister im Bundeskanzleramt, der persönliche Referent des Kanzlers und der Bundespressechef teil. Der Chef des Bundespräsidialamtes kann teilnehmen. Schließlich können Beamte hinzugezogen werden, zumindest für den Teil der Sitzung, für den sie benötigt werden. In den Ländern begnügt man sich häufig mit dem Schriftführer als ständigem Sitzungsteilnehmer, zieht dafür aber des öfteren Beamte hinzu. Die Landeskabinette sind auch in mancher Hinsicht Verwaltungskollegien. Für die Sitzungsthemen selbst gibt es lediglich eine Tabuzone: die Personalpolitik eines Kollegen. Das gilt auch für die durch Geschäftsordnungen geregelte gegenseitige Stellvertretung der Minister. Sie bezieht sich im Wesentlichen nur auf Maßnahmen außerhalb des Hauses, weil innerhalb jeder Minister ohnehin seinen ständigen Vertreter hat; es ist bislang kein Fall bekannt geworden, in dem die Stellvertretung benutzt wurde, um etwas den Intentionen des Kollegen Gegenläufiges zu bewirken (vgl. auch R. Wahl, 1971). Die Struktur der deutschen Kabinette garantiert ein gewisses Übergewicht des Regierungschefs. Bei einiger Standfestigkeit verfügt ein Minister aber durchaus über zureichende Möglichkeiten, seine Meinung zur Geltung zu bringen. Das wird ihm durch persönliche politische Reputation erleichtert; auch lässt sich das Gewicht eines Ministeriums nutzen. Dass dem Finanz-, dem Justiz- und dem Innenminister Prärogative zuerkannt sind, wurde bereits erwähnt; dass die Vertreter der bedeutenden Ministerien als Sprecher eines beträchtlichen Personals und als Verfügungsberechtigte über sehr große Etats nicht eben leicht zu umgehen sind, versteht sich von selbst. Da der Regierungschef schließlich keinen Beamten unter Umgehung des zuständigen Ministers zu etwas veranlassen kann, kommt als Machtmittel die Möglichkeit hinzu, Kabinettsaufträge nur zögerlich zu erfüllen. Dies alles ist neben der Verfassung und der Geschäftsordnung zu berücksichtigen, will man ein Bild von den Randbedingungen des Ministeramtes gewinnen.

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat 3.3. Ministerauswahl und Regierungsbildung Während man Staatssekretär ohne Rücksicht auf die Vorbildung werden kann, diese Stellung aber meist früheren Beamten vorbehalten ist, führt der Weg ins Ministeramt fast ausnahmslos über das Abgeordnetenmandat und häufig über wichtige Fraktionsämter. Wird jemand ausnahmsweise als Nichtparlamentarier Minister, kandidiert er zumeist bei der nächsten Wahl auch für das Parlament. Nur bei den Kultusministern findet sich - aber auch das eher im Rückblick - eine größere Zahl von Personen, die nicht vorher Abgeordnete waren. Für die Minister bestehen eigene Rechtsvorschriften. Die Verfassungen schreiben vor, dass sie „kein anderes besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben" dürfen. Dies betrifft nicht das Abgeordnetenmandat. Ob der Minister neben dem Abgeordnetenmandat noch eine zusätzliche Funktion im Parlament ausüben kann, ist umstritten, von der Natur der Sache her aber fragwürdig. Immerhin besteht die Neigung, vor allem in Koalitionsregierungen potentielle Fraktionsführer mit ins Kabinett zu nehmen. Dass jemand gleichzeitig Fraktionschef der Mehrheitspartei und Minister war, blieb aber Ausnahme; die Folgen für die Kontrollfunktion etwa des Landtages liegen auf der Hand. Die Verfassungsbestimmung über die Unvereinbarkeit von Ministeramt und sonstiger Amts- und Berufsausübung (Art. 66 GG) lässt sich vergleichsweise leicht verwirklichen. Schwierig wird es bei Ministern, die als Unternehmer die Beteiligung auf ihre Frau überschreiben oder die ein wichtiges Ehrenamt innehaben; hier sind Interessenkollisionen nicht auszuschließen. Die Ministerbesoldung ist mit der Beamtenbesoldung gekoppelt, so dass sich eigene Besoldungsverhandlungen und -gesetze erübrigen. Bei den meisten Ministern kommen die Abgeordneteneinkünfte hinzu. Auch die persönliche Amtsausstattung mit Büro, Arbeitsstab, Wagen und Fahrer, unbeschränkten Reisekosten, besonderen Repräsentationsmitteln und einem oft erheblichen Verfügungsfonds lässt sich im Bund wie in den Ländern als relativ großzügig bezeichnen, selbst wenn - wie eingewendet wird - in der Industrie oft höhere Gehälter bezahlt werden und in aller Regel die Beanspruchung eines Ministers das zumutbare Maß überschreitet. Hinsichtlich der Versorgung hat man ähnlich wie bei den Abgeordneten die einschlägigen Bestimmungen schrittweise verbessert. Ein Bundesminister erhält 2002 nach dem Bundesministergesetz als Amtsbezüge 165.657.- € (Parlamentarischer Staatssekretär 124.242,72 €) zzgl. Ortszuschlag und Dienstaufwandsentschädigung. Dazu kommen eine jährliche Sonderzuwendung und Anteile der Abgeordnetenbezüge. Dass man dies der Höhe nach unterschiedlich bewerten kann, wurde gesagt. Vom Missbrauch bei Pensionsregelungen war bereits die Rede. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die Minister Berufspolitiker. Ein Rücktritt ereignet sich deshalb eher selten. Man bindet sein Schicksal an das des Regierungschefs. Dieser wiederum führt, anders als in Großbritannien, nur im Ausnahmefall eine Ministerrotation durch, zumal die Vorstellung vom Minister als Fachmann zwar zum Immobilismus führen kann, gleichwohl aber unausrottbar zu sein scheint. Auch zu Entlassungen kommt es nur selten. Man kann sich also als Minister einarbeiten und in den Fristen einer Legislaturperiode denken. Das wiederum verstärkt die Gefahr des „Ressortismus"', je weniger sich ein Minister als Fachmann für politische Führung versteht und je mehr er als Fachmann in dem Bereich auftritt, für den er ministeriell die Verantwortung trägt, desto mehr verwächst er mit seiner Bürokratie und geriert sich eher als Botschafter seines Ressorts (und dessen Klientel) im Kabinett denn als Abgesandter des Kabinetts im Ministerium. Eine gewisse Verbandsfärbung kann das unterstützen. So bestehen meist engere persönliche Beziehungen im Landwirtschaftsbereich, ähnliches gilt für Lehrer und Professoren im Kultussektor; Arbeitsminister „müssen" dem DGB angehören. Ansonsten ist von einer Reihe von Negativ-

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive klausein auszugehen: Man wird ungediente Politiker kaum zum Verteidigungsminister, keinen Nichtjuristen zum Justizminister und keinen Junggesellen zum Minister für Gesundheit, Familie und Jugend berufen. Dass Frauen erst allmählich in zunehmender Zahl in Ministerämter rücken, verweist auf die - etwa im Vergleich zu Skandinavien - begrenzte Lernfähigkeit der deutschen Eliten. Die Bedeutung der Konfessionszugehörigkeit ist im Vergleich zu den 1950er Jahren überall deutlich zurückgegangen. Insgesamt hat sich in der Bundesrepublik der Parlamentarismus also auch insofern normalisiert, als die politische Karriere, die über Ämter in der kommunalen Selbstverwaltung, ein Parlamentsmandat und eine Führungsrolle in der Fraktion zum Ministeramt führt, immer selbstverständlicher wird. Dieser Prozess hat im Gefolge der deutschen Vereinigung eine nur temporäre Unterbrechung erfahren; der anfangs hohe Anteil „nicht-professioneller" Minister in den neuen Bundesländern, eine Folge des diskreditierten Personals und der Führungsfunktion, die der Bürgerrechtsbewegung bei der friedvollen Revolution in der D D R zukam, ist seit Mitte der 1990er Jahre stark rückläufig. Die Vorschriften der deutschen Verfassungen über die Regierungsbildung (vgl. vor allem den bereits benannten Überblick bei H.-P. Schneiderl W. Zeh, 1989) halten sich zunächst an die bewährten Muster. Für die Bundesebene sieht das Grundgesetz die Mitwirkung des Bundespräsidenten vor: „Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt" (Art. 63 Abs. 1 GG). Für die Wahl werden die Stimmen der Mehrheit des Hauses benötigt. Werden diese für den vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten nicht erreicht, kann die Bundestagsmehrheit allein tätig werden und von sich aus einen Kandidaten benennen und wählen. Gelingt das binnen 14 Tagen nicht, findet ein erneuter Wahlgang statt, nach dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Den vom Bundestag mit Mehrheit Gewählten muss der Bundespräsident ernennen; ist ein Kandidat nicht von der Mehrheit gewählt, kann ihn der Bundespräsident ernennen, er kann den Bundestag aber auch auflösen. Die Bundesminister werden ebenfalls vom Bundespräsidenten ernannt; das Vorschlagsrecht liegt ausschließlich beim Bundeskanzler. Dieser allein ernennt einen Minister zu seinem Stellvertreter (Art. 63 und 64 GG). Im Falle eines Konfliktes zwischen Bundesregierung und Bundestag sieht das Grundgesetz in den Art. 67 und 68 folgende Lösungsmöglichkeiten vor: Die „glatteste" Lösung besteht darin, dass die Mehrheit des Bundestages von sich aus einen neuen Bundeskanzler wählt, woraufhin der Bundespräsident den amtierenden Kanzler entlässt und den neuen ernennt. Man spricht vom konstruktiven Misstrauensvotum, weil diese Bestimmung verhindert, dass eine Mehrheit lediglich negativ wirkt, aber nicht bereit und fähig ist, auch positiv zusammenzuarbeiten, also eine neue Regierung zu bilden. Die zweite Möglichkeit ergibt sich daraus, dass der Bundeskanzler, wenn ihm das erbetene Vertrauen nicht ausgesprochen wird, den Bundespräsidenten bitten kann, binnen 21 Tagen den Bundestag aufzulösen. Die Verfahren nach Art. 67 und Art. 68 G G kamen erstmals 1972 zur Anwendung. CDU und CSU brachten im Frühjahr ein Misstrauensvotum gegen Willy Brandt ein und schlugen Rainer Barzel als neuen Kanzler vor. Die erforderliche Mehrheit kam aber nicht zustande, weil offenbar ein Fraktionskollege Barzel nicht wählen wollte. Später führte das zu einem Bestechungsvorwurf, der nicht bewiesen, aber auch nicht wirklich widerlegt werden konnte. Im Herbst stellte Brandt angesichts des Patts im Bundestag die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG, vermied dabei den Begriff „Vertrauensfrage" (man sprach von „Verfahren nach Art. 68"), erhielt keine Mehrheit und konnte somit den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen. Zehn Jahre später kam es während der Krise der sozialliberalen Koalition zu langen Erörterungen über denkbare Auflösungsverfahren. Nach dem „Schwenk" der F D P wurde Bundeskanzler Schmidt nach Art. 67 G G gestürzt, Helmut Kohl zum Bundes-

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat kanzler gewählt. Kohl hatte zu diesem Zeitpunkt Neuwahlen versprochen. Sie wären verfassungstechnisch am ehesten möglich gewesen, wenn man Schmidt bewogen (oder sein Angebot angenommen) hätte, die Vertrauensfrage zu stellen, um dann den Bundestag auflösen zu lassen. Kohl aber wollte Schmidt den Kanzlerbonus im bevorstehenden Wahlkampf nicht lassen, praktizierte deshalb das Verfahren nach Art. 67, um nach wenigen Wochen das Verfahren nach Art. 68 GG in seinem Sinne erfolgreich durchzuführen. Der Bundespräsident löste am 7.1.1983 den Bundestag auf und beraumte Neuwahlen an. Regierungssturz und Regierungswechsel haben eine verfassungsrechtliche, eine politische und eine moralische Komponente. Rechtlich war das Verfahren gegen H. Schmidt einwandfrei. Politisch war es nicht zu beanstanden, dass die FDP als selbständige Partei ihr Koalitionsengagement kritisch überprüfte. Dass es dennoch zu einer Vertrauenskrise kam, fallt in den moralischen Bereich. Die FDP hatte mit Berufung auf H. Schmidt 1980 erfolgreich Wahlkampf geführt und ihre Lösung von der SPD dann in einem langwierigen, schwer verständlichen und von den Mitgliedern, wie sich später zeigte, nur mit großen Bedenken hingenommenen publizistischen Prozess vorbereitet, anstatt in offener Auseinandersetzung die Situation zu analysieren und aus ihr Konsequenzen zu ziehen. Die Diskussion über die „Legitimität" des Frontenwechsels der FDP ging deshalb an der Realität vorbei. In ihr stand tatsächlich das Moralische im Vordergrund und mit ihm die Möglichkeit sehr unterschiedlicher Bewertung. Problematischer war hingegen die darauf folgende Anwendung von Art. 68 GG, der mit dem Ziel eingesetzt wurde, dass sich die Mehrheit Helmut Kohl verweigere, um so eine Bundestagsauflösung zu erreichen. Hier spricht die Verfassung von „Vertrauen". Die Mehrheit, die wenige Wochen zuvor Kohl gewählt hatte, musste jetzt bekunden, dass sie ihm kein Vertrauen (mehr) schenke, um ihn sofort anschließend wieder als Kanzlerkandidaten eben dieser Mehrheit in den Wahlkampf zu schicken (Vertrauensfrage am 15.12.1982 und Abstimmung darüber am 17.12.1982). Die Entscheidung lag beim Bundespräsidenten. Er traf sie im Sinne Kohls, erklärte aber immerhin zur Begründung seines Vorgehens, es sei dem Bundespräsidenten nicht möglich festzustellen, „aus welchen Gründen der einzelne Abgeordnete dem Bundeskanzler die Zustimmung versagt hat. Ich halte mich an die öffentlich vorgetragenen Begründungen." Mag dies der politischen Ausgangssituation entsprechen, bedeutete die Auflösung des Bundestages am 7.1.1983 verfassungspolitisch aber nichts Anderes, als mit Hilfe des Art. 68 zu erreichen, was das Grundgesetz dem Bundestag im Gegensatz zu den meisten Länderparlamenten aus guten Gründen versagte: ein Selbstauflösungsrecht. Art. 67 anzuwenden, um nur acht Wochen gemeinsam zu regieren, ein solches Verhalten wollten die Verfassungsgeber unter allen Umständen vermeiden. Die zweite Anwendung von Art. 68 GG in der Geschichte der Bundesrepublik kommt somit einer Verfassungsbeugung nahe. Dass der Bundespräsident sehr wohl darum wusste, wird daran deutlich, dass er seine Entscheidung öffentlich begründete und nahezu entschuldigte. Das Bundesverfassungsgericht wiederum musste politisch entscheiden und im Februar 1983, kurz vor der anberaumten Wahl, sich der normativen Kraft des Faktischen beugen. Es beruhigte sich indessen dadurch, dass es die Abstimmung in Bonn umdeutete in eine „im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten" (Leitsätze Ziff. 5), um im Übrigen an der bisherigen Verfassungsauslegung festzuhalten: „Eine Auslegung dahin, dass Art. 68 GG einem Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, gestattete, sich zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen, mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben, würde dem Sinn des Art. 68 GG nicht gerecht" (Ziff. 7) - eine korrekte Beschreibung des von Kohl gewählten Verfahrens, angesichts dessen es allerdings schon einiger argumen-

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive tativer Windungen bedurfte, um es für rechtens zu erklären. Der Bundespräsident sprach daraufhin, wohl erleichtert, dem Gericht seinen Dank und insgesamt die Hoffnung aus, „dass die politische Diskussion über diese Frage nunmehr zum Abschluss kommt". Das freilich sollte sicher nicht bedeuten, dass jemand, der nach reiflicher Prüfung eine Verfassungsbeugung zu erkennen glaubt, dies nicht mehr sagen darf, wenn der Kanzler diese Beugung initiiert, der Präsident sie toleriert und das Gericht sie hinnimmt - mit dem ausdrücklichen Hinweis, „eigentlich" ginge das nicht (vgl. die Beiträge in ZParl 1983, S. 5ff. und K. Stern, 19842, Bd. I, § 22; a. Α. H.-P. Schneider, in: E. Benda u.a., 1983, der von einem „Funktionsäquivalent" (S. 272) für das fehlende Selbstauflösungsrecht spricht). Eine völlig andere Ausgangssituation ergab sich bei der dritten (und bislang letzten) Anwendung der Vertrauensfrage am 16.11.2001 (zur Chronologie der Ereignisse vgl. ZParl, 2002, S. 6ff.). Sie stand im Zeichen außenpolitischer Handlungsfähigkeit nach den Ereignissen des 11. September 2001. Im Rahmen der internationalen „Allianz gegen den Terror" versicherte Bundeskanzler Schröder den USA die „uneingeschränkte Solidarität" Deutschlands; dem folgend hatte der Bundestag über eine Regierungsvorlage zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu entscheiden. Angesichts grundlegender Bedenken einiger Abgeordneter der Koalitionsfraktionen zeichnete es sich ab, dass der Antrag keine eigene Regierungsmehrheit erhalten würde. Für diesen Fall forderte die CDU/CSU-Fraktion Bundeskanzler Schröder auf, die Vertrauensfrage zu stellen. Schröder tat dies, verknüpfte jedoch die Vertrauensfrage überraschenderweise mit dem Entschließungsantrag zum AfghanistanEinsatz. Entgegen ersten Kommentaren war dieser Schritt nicht nur vom Grundgesetz ausdrücklich „gedeckt" (vgl. Art. 81 Abs. 1 GG), er erwies sich vielmehr auch machtpolitisch als geschickt, da er Regierungs- wie Oppositionsfraktionen (mit Ausnahme der PDS, die sich strikt gegen den Bundeswehreinsatz aussprach) in ein je spezifisches Dilemma stürzte. F D P und CDU/CSU, die der Sache nach übereinstimmten, jedoch nicht zugleich der Regierung das Vertrauen aussprechen wollten, versuchten sich durch je eigene Entschließungsanträge zur Bereitstellung von Bundeswehrsoldaten für den Afghanistan-Einsatz aus der Affaire zu ziehen (BT-Drucksachen 14/7503 und 14/7512). Die Fraktionen von SPD und Grünen hingegen bemühten sich, die „Bedenkenträger" in ihren Reihen mit dem Hinweis auf die notwendige Fortsetzung der Koalition umzustimmen, was sich - trotz des Austritts der Abgeordneten Christa Lörcher aus der SPD-Fraktion und einigen dezidierten Gegenstimmen bei den Grünen im Vorfeld der Abstimmung - letztlich als erfolgreich erwies: Die „Kanzlermehrheit" von 334 Stimmen wurde knapp übertroffen (336). Das Grundgesetz wollte unter allen Umständen die Stabilität des Regierens sichern. Es räumte deshalb zwei wichtige Mängel der Weimarer Verfassung aus. So ist zum einen die Ernennung des Kanzlers nicht mehr Sache des Staatsoberhaupts allein, und es kann nicht mehr geschehen, dass der von ihm ernannte Regierungschef sofort von einem Misstrauensvotum bedroht wird. Zum zweiten kann ein Misstrauensvotum nur ausgesprochen werden, wenn die Mehrheit des Bundestages zur Zusammenarbeit mit einem anderen Kanzler bereit ist.7 Zugleich ist die Auflösung des Bundestages erschwert, so dass damit kein Missbrauch

7 Diese Einschätzung ist nach den Vorgängen im September und Dezember 1982 so nicht mehr haltbar. Eine Mehrheit, die ihr Vertrauen dem von ihr gewählten Kanzler nur für die eine Stunde der Abstimmung nach Art. 68 G G entzieht, offenbart die Schwäche der geschriebenen Verfassung im Verhältnis zur Politik, sobald diese nicht mehr uneingeschränkt „verfassungstreu" ist, sondern - im konkreten Fall - „das Gesetz so lange streichelt, bis es passt". Die Vorgänge um die Jahreswende 1982/1983 offenbarten aber noch eine weitere Schwäche im Umgang mit der Verfassung. 1949 hatte man im alten Art. 39 G G bestimmt, dass die Wahlperiode eines Bundestages vier Jahre nach seiner

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat getrieben werden kann. Faktisch hat sich eine Gewichtsverlagerung vom Präsidenten zum Kanzler vollzogen, die auch in der Rolle der Minister sichtbar wird. Da mit diesen Regeln allgemeingültigen politischen Erfahrungen gefolgt wird, finden sie sich ähnlich in den Landesverfassungen. Im Gegensatz zum Grundgesetz entfallt dabei natürlich das Staatsoberhaupt und ist der Regierungschef in der Auswahl seiner Minister meist weniger souverän. So heißt es etwa in Art. 46 der Verfassung von Baden- Württemberg: „1. Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt [...] 2. Der Ministerpräsident beruft und entlässt die Minister, Staatssekretäre und Staatsräte. Er bestellt seinen Stellvertreter. 3. Die Regierung bedarf zur Amtsübernahme der Bestätigung durch den Landtag. Der Beschluss muss mit mehr als der Hälfte der abgegebenen Stimmen gefasst werden. 4. Die Berufung eines Mitgliedes der Regierung durch den Ministerpräsidenten nach der Bestätigung bedarf der Zustimmung des Landtages." Die Verfassung beteiligt auf diese Weise den Landtag wenigstens formell an der Bestellung der Minister. Gelingt eine Regierungsbildung innerhalb von drei Monaten nach dem Zusammentritt des Landtages nicht, gilt dieser als aufgelöst. Hinsichtlich einer Abberufung des Ministerpräsidenten gilt das konstruktive Misstrauensvotum. Die Entlassung eines Ministers kann eine qualifizierte Mehrheit des Landtages erzwingen. Weniger eindeutig formuliert die Verfassung Bayerns·. „Artikel 44: 1. Der Ministerpräsident wird von dem neugewählten Landtag spätestens innerhalb einer Woche nach seinem Zusammentritt auf die Dauer von fünf Jahren gewählt. [···]

3. Der Ministerpräsident kann jederzeit von seinem Amt zurücktreten. Er muss zurücktreten, wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen. Der Rücktritt des Ministerpräsidenten hat den Rücktritt der Staatsregierung zur Folge. Bis zur Neuwahl eines Ministerpräsidenten geht die Vertretung Bayerns nach außen auf den Landtagspräsidenten über [...] 4. Bei Rücktritt oder Tod des Ministerpräsidenten während seiner Amtsdauer wird in der nächsten Sitzung des Landtages ein neuer Ministerpräsident für den Rest der laufenden Amtsdauer gewählt. 5. Kommt die Neuwahl innerhalb von vier Wochen nicht zustande, muss der Landtagspräsident den Landtag auflösen. Artikel 45: Der Ministerpräsident beruft und entlässt mit Zustimmung des Landtages die Staatsminister und Staatssekretäre." Zunächst kann also als gemeinsames Verfassungsrecht in Bund und Ländern gelten, dass das Parlament mit einfacher oder näher präzisierter Mehrheit ohne Aussprache den RegieWahl oder mit seiner Auflösung ende. Für den Notfall hatte man gemäß Art. 45, der inzwischen aufgehoben ist, den Ständigen Ausschuss parat. 1976 änderte man Art. 39. Die Wahlperiode eines Bundestages endet nun mit dem Zusammentritt des neuen Parlaments. Das gilt auch für aufgelöste Bundestage. Deshalb konnte im Januar 1983 der 9. Bundestag noch einmal zusammentreten, um den französischen Staatspräsidenten zu begrüßen, konnten die Abgeordneten ihre Diäten bis weit über den Wahltag hinaus beziehen und die Parlamentarischen Staatssekretäre, deren Amt an das Mandat gebunden ist, im Amt bleiben und vom Amt aus den Wahlkampf führen, obwohl dieser Bundestag sich für unfähig erklärt hatte, eine stabile Mehrheit zu bilden. Das alles sind Konsequenzen der Regelung von 1976, die vorwiegend den Parteien zugute kommen. Auch an solchen „Kleinigkeiten" wird sichtbar, welche Entwicklung sich seit 1949 vollzogen hat und warum sich manchem Beobachter die Interpretation der Bundesrepublik als eines „Parteienstaates" aufdrängt.

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive rungschef wählt, während dieser die Minister ernennt. Im Bund wird formell die Ernennung vom Bundespräsidenten vorgenommen, in den Ländern ist dafür die Zustimmung der Parlamentsmehrheit erforderlich. Faktisch sind so die Landesminister enger an das Parlament gebunden. Im Bund dagegen ist der Bundeskanzler allein dem Parlament voll verantwortlich. Soweit Koalitionen dem nicht entgegenstehen, kann der Bundeskanzler Minister nach Belieben entlassen. Adenauer hat das mehrfach und nachdrücklich praktiziert. Für die Wahlvorgänge sind in den Verfassungen Fristen gesetzt. Nach einer gewissen Zeit führt Erfolglosigkeit bei der Regierungsbildung zur Auflösung des Parlaments. Eine nur von einer Minderheit gewählte Regierung ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich (Niedersachsen 1976). Die Befugnis des Parlaments, die Regierung abzuberufen, ist in der Regel von der Bereitschaft abhängig, zuvor oder sogleich danach einen neuen Regierungschef zu wählen. Maßnahmen gegen einzelne Minister sind nur in einigen Ländern möglich. Manche Landesverfassungen (Hamburg und Schleswig-Holstein etwa) sehen keine ausdrückliche Neuwahl der Regierung vor. Insofern blieb 1982 und 1986 in Hamburg der Senat im Amt, obwohl er die Mehrheit in der Bürgerschaft verloren hatte. Von dieser Konstruktion weichen die Verfassungen der drei Stadtstaaten in einem wesentlichen Punkt ab. In Berlin wird der Regierende Bürgermeister vom Abgeordnetenhaus gewählt. Dieses wählt auf Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters auch die Senatoren und beschließt deren Geschäftsbereiche, wobei die Anzahl der Senatoren auf höchstens acht beschränkt ist (Art. 55 Berliner Verfassung). In Hamburg werden die Senatoren von der Bürgerschaft gewählt und wählen dann ihrerseits den Ersten und den Zweiten Bürgermeister. Sie verteilen auch die Geschäftsbereiche nach eigenem Ermessen. Ähnlich liegen die Dinge in Bremen. Unbeschadet der Unterschiede zwischen Bund und Ländern ist festzuhalten, dass die Regierungsbildungen seit 1946 den entsprechenden Verfassungsbestimmungen gefolgt sind. Auslegungsstreitigkeiten hielten sich in Grenzen. Zu Misstrauensvoten ist es nur vereinzelt gekommen. In der Regel erfolgte dann ein Regierungswechsel während der Legislaturperiode vor dem Hintergrund der Umorientierung von Fraktionen. Zur Parlamentsauflösung kam es u. a. in Niedersachsen, Hamburg und im Bund. Die Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestages 1972 sind mit dem Veränderungsprozess der Parteien in den fünfziger Jahren vergleichbar, weil sie auf dem Partei- und Fraktionswechsel von Abgeordneten gründeten. Auch die Vorgänge von 1982 verwiesen auf Entwicklungen im Parteiensystem - in diesem Fall auf die Stärkung des Wirtschaftsflügels in der FDP. Das verdeutlicht, dass die Fragen der Regierungsbildung nur am Rande verfassungsrechtlicher Natur sind, während im politischen Tagesgeschäft Programm, Interessen, Führung und Personalangebot der Parteien im Vordergrund stehen. Auf Landesebene kam es deshalb längerfristig auch zu fachbezogenen Polarisierungen. Auf Bundesebene dagegen steht eher die Person des Regierungschefs im Vordergrund. Adenauer konnte 1953 und 1957 unangefochten sein Kabinett bilden. 1961 war er auf die F D P angewiesen, die mit ihm schlechte Erfahrungen gemacht hatte und deshalb u.a. auf einer schriftlichen Koalitionsvereinbarung bestand, der Wissenschaftler vorwarfen, sie verstoße gegen die Richtlinienkompetenz des Kanzlers und gefährde die Gewissensfreiheit der Abgeordneten. Ähnlich Einwände wurden gegen den Koalitionsausschuss erhoben. Für Koalitionsvereinbarungen gilt zunächst, dass eine Koalition ohne vorausgehende Programmeinigung es den Ministern überlässt, sich im Kabinett zu verständigen. Entwickelt man dagegen inhaltliche Maßstäbe und bindet damit auch die Minister, grenzt man deren natürliche Kompromissbereitschaft ein, was eine Koalition mit beträchtlicher Unsicherheit belasten kann. Der Koalitionsausschuss mit der Funktion, schwebende Fragen zu klären, 281

IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat Gesetzesvorhaben vorzubesprechen und die gemeinsame Arbeit zu koordinieren, ist dagegen verfassungsrechtlich unbedenklich, wohl aber politisch problematisch (vgl. hierzu etwa W. Schreckenberger, 1992). In der bayerischen Viererkoalition nach 1954 etwa war der Ausschuss unentbehrlich, weil das Kabinett allein die heterogenen Kräfte kaum hätte zusammenhalten können. In der Großen Koalition in Bonn (1966 bis 1969) wurden dagegen die beiden Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Schmidt zu den beherrschenden Akteuren. Inzwischen kennt der Geschichte der Bundesrepublik nahezu alle Formen der Regierungsbildung, so die aufgrund eines eindeutigen Wählerauftrages, schwieriger Koalitionsverhandlungen und einer Umorientierung von Parlamentsfraktionen während der Legislaturperiode; mit Allparteien-, Großen, diversen Kleinen und schließlich sogenannten „Ampel"- Koalitionen scheint das Spektrum möglicher Koalitionsbildungen ausgeschöpft, sieht man von der nach wie vor grundlegenden Distanz zwischen der PDS und den anderen etablierten Parteien ab. Dass das „Magdeburger Modell" (von der PDS tolerierte SPD-Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt, 1998-2002) oder gar die rot-roten Koalitionen in Mecklenburg-Vorpommern (seit 1998) und Berlin (seit 2001) für die Bundesebene Vorbild werden könnten, ist derzeit unwahrscheinlich. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass auch diese Regierungsbündnisse zwischen Sozialdemokraten und Post-Kommunisten, die noch Mitte der 1990er Jahre undenkbar schienen, die zunehmende Durchlässigkeit und Reagibilität des deutschen Parteiensystems dokumentieren. Weitere Entwicklungen in dieser Hinsicht sind mithin nicht ausgeschlossen. 3.4. Der Bundeskanzler Der Bundeskanzler ist vom Parlament gewählt. Er stellt sich sein Kabinett zusammen, gegen dessen Mitglieder sich das Parlament kritisch wenden, deren Abberufung es aber nicht erzwingen kann. Das führt, wie dargestellt, nicht zu einer vollständigen Abhängigkeit der Bundesminister vom Kanzler. Verfassungsvorschriften entscheiden nicht über politisches Gewicht, sie setzen nur einen Rahmen. Dieser Rahmen ist in Bund und Ländern formal vergleichbar. Die Bestimmung der Richtlinien der Politik (Art. 65 GG) bedeutet allerdings auf Bundesebene anderes als auf der Ebene der Länder. Hier geht es im Wesentlichen um Verwaltungsmacht und Mitwirkung im Bund; die gestaltenden Möglichkeiten sind beschränkt. Man führt nicht nur, aber vielfach doch verstärkt aus, was anderswo dem Grunde nach beschlossen wurde; das macht den Landesminister auch unabhängiger, da er nicht dem Bundesminister unterstellt, in der Durchführung von Bundesgesetzen aber auch seinem Regierungschef oder seinem Landtag nicht wirklich verantwortlich ist. Die Richtlinien des Bundeskanzlers wenden sich dagegen an Minister, die diesem Kanzler verantwortlich sind, und nur über ihn vermittelt dem Parlament. Wenn auch der Kanzler vom Parlament nicht unabhängig, also auch und gerade bei der Regierungsbildung nicht wirklich souverän ist, so entscheidet er doch letztlich allein. Zwar kann er nicht alle seine Vorstellungen durchsetzen, er muss aber auch die Wünsche anderer nicht erfüllen. Das gilt gegenüber den Koalitionsfraktionen und erst recht gegenüber dem Bundespräsidenten, der zur Ernennung der vorgeschlagenen Minister nahezu gezwungen ist. Aus der Vorrangstellung des Bundeskanzlers, wie sie zuerst Konrad Adenauer interpretierte, erklärt sich, wie rasch sich der Begriff Kanzlerdemokratie (K. Niclauß, 1988) durchzusetzen vermochte. Auch in diesem Zusammenhang empfiehlt sich allerdings Zurückhaltung. Die Kanzlerdemokratie ist kein deutsches Novum; jede Regierung bedarf der Führung. Dass 282

3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive Adenauer nicht nur in den ihn interessierenden Fragen das Parlament an die Wand gespielt, sondern auch dem Kabinett eine eher bescheidene Rolle zugewiesen hat, folgte der politischen und personellen Konstellation, nicht den Bestimmungen des Grundgesetzes. Dass später Ludwig Erhard im Kabinett einen weitaus kollegialeren Stil pflegte und damit scheiterte, hatte auch wiederum spezifische, nicht zuletzt persönlichkeitsorientierte Gründe. Dass während der Großen Koalition dann engere Zirkel der CDU/CSU und der SPD „das Heft in der Hand hielten" und das Kabinett unter der geringen Sitzungsdauer wie der Redseligkeit seines Chefs Kiesinger litt, widerspricht nahezu dem Begriff der Kanzlerdemokratie. Dass Willy Brandt nach 1969 wiederum zum Inbegriff seiner Regierung im öffentlichen Bewusstsein wurde, mag zwar erneut für das Verständnis von Kanzlerdemokratie sprechen, seine Autorität geriet aber nicht zu wirklicher Kabinettsführung, die nach allgemeiner Überzeugung erst Helmut Schmidt gelang. Dennoch zerbrach dessen Koalition auch und gerade im Kabinett, was Helmut Kohl die Chance gab, seine spezifische Führungs- und politische Überlebensfähigkeit zu demonstrieren, wozu auch das Festhalten an skandalgeschwächten oder leistungsschwachen Ministern gehörte - das „Aussitzen" schwieriger Lagen wurde gar zu einem Synonym entsprechender Politik (vgl. E. Fraenkel, 1964, u.a. S. 18; A. Baring, 1969 und 19823; A. Grosser, 1960 und 1970; K. D. Bracher, 1976; J. Küpper, 1985; A. Gauland, 1994). Den verfassungsmäßigen Rahmen, in dem Kanzler so unterschiedlichen Temperaments und so ungleicher Führungsbegabung tätig wurden, bildet Art. 65 GG: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung." Der Bundeskanzler ist dabei nach den Art. 67 und 68 G G dem Parlament verantwortlich (s. oben 3.3.). Die Verantwortung des Ministers gilt gegenüber dem Gesetz und für sein Ministerium, ist aber nicht unmittelbar parlamentarisch wirksam. Die verfassungsrechtliche Selbständigkeit der Minister schränkt das Grundgesetz jedoch deutlich ein, da es dem Bundeskanzler das Recht zuspricht, jederzeit den Bundespräsidenten um Entlassung eines Bundesministers zu bitten und der Präsident dieser Bitte zu folgen hat. Die eigene Verantwortung besteht weiterhin nur innerhalb der Richtlinien der Politik, deren jeweilige Interpretation letztlich wieder beim Kanzler selbst liegt. Insofern ist die Zuständigkeit der Bundesregierung bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministern begrenzt. Bei einem Streit über die Richtlinien entscheidet der Bundeskanzler allein. Dies alles ist in der Geschäftsordnung der Bundesregierung verdeutlicht (vgl. Materialband, VII/1). Die Interpretation der entsprechenden Vorschriften hängt dabei von der Definition des Begriffs „Richtlinien" ab. Sie kann nicht eindeutig sein. Da „reale Dispositionsmöglichkeit im Grundsätzlichen kaum noch besteht, hat sich die Vorschrift in der praktischen Handhabung zwangsläufig dahin gewendet, dass in die Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes alle diejenigen Angelegenheiten fallen, die für die Gesamtpolitik der jeweiligen Bundesregierung bedeutsam sind" (E. Forsthoff, 1964, S. 204f.; dagegen W. Hennis, 1968; vgl. auch E. U. Junker, 1965, W. R. Pfister, 1974). Praktisch handelt es sich nicht um ein festes Programm, sondern um allgemeine Grundsätze, die jeweils zu spezifizieren sind. Am realistischsten wäre es wohl, die Richtlinienkompetenz als Führungsbefugnis zu interpretieren, nach der der Bundeskanzler in allen Zweifelsfällen seine Vorstellungen durchsetzen können muss. Er soll dabei nicht konkret in den Geschäftsbereich eines Ministers eingreifen, wohl aber kann er generelle Weisungen erteilen, durch sie Einzelmaßnahmen an bestimmte Grundsätze binden und deren Einhaltung überwachen. Dazu steht ihm das Bundeskanzler-

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat amt zur Verfügung, kann auf die Informationspflicht der Ministerien zurückgegriffen werden und wird mit der Unterstellung des Presse- und Informationsamtes und des Bundesnachrichtendienstes ein Informationsprimat des Bundeskanzlers begründet. Die Sonderstellung des Bundeskanzlers ergibt sich auch aus einem Vergleich mit einigen Landesverfassungen, in denen das kollegiale Element weit nachdrücklicher gesichert ist. Auch die Landesverfassungen weisen dem Regierungschef den Vorsitz im Kabinett zu und lassen ihn die Richtlinien der Politik bestimmen. Im Übrigen aber ist vorwiegend von der Regierung die Rede, und die Minister führen die Geschäfte zwar ebenfalls gemäß den Richtlinien der Politik, aber - wie es in der Bayerischen Verfassung heißt - trägt der Minister „dafür Verantwortung gegenüber dem Landtag" (Art. 47 Abs. 2). Diese Verantwortung gilt implizit auch in den anderen Landesverfassungen, sofern sie die Entlassung eines Ministers von der Zustimmung des Parlaments abhängig machen, also den Regierungschef hier weniger freistellen als im Falle des Grundgesetzes. Dabei bleibt die Frage offen, was nach den Grundsätzen der Landesverfassungen zu geschehen hat, wenn die Landesregierung Beschlüsse fasst, die nach Meinung des Regierungschefs nicht mit seinen Richtlinien übereinstimmen. In der Staatspraxis wird das von den Beteiligten abhängig sein, insgesamt aber ist die Situation des Ministerpräsidenten rechtlich schwächer. Sie ist es auch deshalb, weil trotz des wachsenden Gewichts der Staatskanzleien (vgl. A. Katz, 1975; Bulling-Kommission, 1985; J. J. HesselA. Götz, 2004) keinem Ministerpräsidenten ein derartiges Steuerungspotential an die Hand gegeben ist wie dem Bundeskanzler. Dieser könnte seine Machtfülle nicht bewältigen, wenn er nicht das Bundeskanzleramt (vgl. auch K. König, 1989; F. Müller-Rommel!G. Pieper, 1991; Materialband, VII/4) zur Seite hätte. Von ihm ist in der Verfassung nicht die Rede. Auch die Geschäftsordnung der Bundesregierung führt nur aus, dass der Staatssekretär des Bundeskanzleramtes zugleich die Geschäfte eines Staatssekretärs der Bundesregierung wahrnimmt. Allerdings bedarf es einer ausdrücklichen Verfassungsermächtigung schon deshalb nicht, weil der Kanzler nach der Verfassung auch hinsichtlich der Zahl und der Organisation der Ministerien freie Hand hat. Umstritten kann lediglich das dem Bundeskanzleramt zugeordnete Funktionsbündel sein, weil es die Macht des Kanzlers auf Kosten des Kabinettsprinzips stärken könnte. Nach dem Vorwort zum Einzelplan 04 im Bundeshaushalt hat das Bundeskanzleramt den Kanzler „über die laufenden Fragen der allgemeinen Politik und die Arbeit in den Bundesministerien zu unterrichten. Es hat die Entscheidungen des Bundeskanzlers vorzubereiten und auf ihre Durchführung zu achten. Aufgabe des Bundeskanzleramtes ist es auch, die Arbeiten der Bundesministerien zu koordinieren". Das Amt nimmt weiter die Sekretariatsgeschäfte der Bundesregierung wahr, bereitet die Kabinettsitzungen vor und ist für die Durchführung von Kabinettbeschlüssen sowie für die Gesamtplanung und Koordinierung der Landesverteidigung zuständig. Sein Chef vertritt die Bundesregierung im Ältestenrat des Bundestages. Das Bundeskanzleramt ist mit weit mehr als 100 Mitarbeitern des höheren Dienstes größer als manches Ministerium. Es war bis 1982 in fünf Abteilungen gegliedert: I-Recht und Verwaltung, Ii-Auswärtiges und innerdeutsche Beziehungen, äußere Sicherheit, IIIInnere Angelegenheiten, IV-Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, V-Planung. Die Planungsabteilung ist nach 1969 aus dem bis dahin mit wenigen Mitarbeitern besetzten Planungsstab hervorgegangen. Die übrigen Abteilungen werden in der Hauptsache aus Referaten gebildet, die jeweils die Tätigkeit eines Ministeriums oder mehrerer Ministerien und Bundesbehörden beobachten, was es dem Kanzler ermöglichen soll, aus seinem Recht auf Unterrichtung durch die Ressorts auch Konsequenzen zu ziehen. Da der Kanzler nicht unter Umgehung eines Ministers Weisungen an ein Ressort geben darf, sichert man durch die Amtskonstruktion weiter, dass infolge des regelmäßigen Kontaktes auf Referentenebene

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive zwischen Amt und Ressort ersterem ein gewisser Einfluss zukommt, ohne dass Formvorschriften verletzt werden. Das Kanalisieren von Informationen gelang von Anfang an. Obgleich das Amt unter Adenauer sehr klein war, informierte es ihn vortrefflich. Später erst trat die Notwendigkeit von Planungsmaßnahmen ins Bewusstsein. Als man daraus Konsequenzen zog, änderte sich auch die Kernstruktur des Bundeskanzleramtes (vgl. S. Schöne, 1968; K. Carstens, 1971; H. Flohr, 1972; R. Mayntz/F. W. Scharpf, 1973; V. Busse, 20013). Helmut Kohl gliederte es dann im Oktober 1982 um, seitdem werden Planungsaufgaben in der Abteilung I wahrgenommen, zudem findet sich eine Abteilung VI „Koordination der Bundesnachrichtendienste" (zu letzteren vgl. M. Brenner, 1990 sowie U. Ulfkotte, 19973; zu deren parlamentarischer Kontrolle C. Arndt, 1989). Dem Bundeskanzleramt ist darüber hinaus das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA) zugeordnet. Dieses soll den Bundespräsidenten und die Regierung „auf dem gesamten Nachrichtensektor" laufend unterrichten, die öffentliche Meinung für die Arbeit der Regierung erkunden und das deutsche Nachrichtenwesen fördern. Es vertritt die Politik der Regierung gegenüber den Organen der Medien und unterrichtet die Bevölkerung über Ziele und Arbeit der Regierung. Die Zuständigkeit für die Öffentlichkeitsarbeit des BPA im Ausland hingegen wurde nach der Bundestagswahl 2002 dem Auswärtigen Amt übertragen (s. Organisationserlass des Bundeskanzlers gemäß § 9 der G O BReg vom 22.10. 2002). Das Presseamt kann die Informationspolitik koordinieren und damit den ministeriellen Pressereferenten gegenüber ähnliche Funktionen wahrnehmen wie das Bundeskanzleramt gegenüber den Ministern. In der Hauptsache wirkt es intern als Informationsbüro und vertritt die Regierung darüber hinaus nach außen. In der Zusammenfassung erscheint die Konstruktion des Art. 65 GG widerspruchsvoll. Im ersten Satz überträgt der Artikel dem Kanzler die Richtlinienkompetenz und eröffnet damit die Möglichkeit, das Kanzlerprinzip voll zu entfalten. Im zweiten Satz wird festgelegt, dass jeder Minister im Rahmen der Richtlinien sein Ressort selbständig und unter eigener Verantwortung leitet, was die Möglichkeit eröffnet, das Ressortprinzip zu verwirklichen. Trotz der Richtlinienkompetenz soll dann schließlich nach dem dritten Satz die Bundesregierung über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministern entscheiden; das entspräche dem Kabinettsprinzip. Dem folgt auch § 15 der Geschäftsordnung der Bundesregierung, der ihr eine umfassende Beratungs- und Beschlussfassungszuständigkeit - und damit auch Anspruch auf Information - zuspricht, während umgekehrt für den Bundeskanzler, von der Richtlinienkompetenz abgesehen, in der Hauptsache nur die Vorsitzendenfunktionen festgelegt werden. Tatsächlich hat das Grundgesetz „hier eine interessante Kombination von Kollegialsystem und Einzelführung geschaffen. Durch diese Verbindung sollen die Mängel jedes Systems sich gegenseitig einschränken", meint Theodor Eschenburg und fahrt fort: „Gleichgültig, ob der Bundeskanzler die Richtlinien selbst bestimmt oder sie von anderen übernimmt, ob er sich dem Mehrheitsbeschluss des Kabinetts fügt oder diesen umstößt: Immer trägt er allein die Verantwortung. Wird der Bundeskanzler überstimmt, so muss er sich, symbolisch ausgedrückt, aus der Kabinettsitzung in sein Arbeitszimmer zurückziehen und noch einmal die Entscheidung für sich fällen, die dann die endgültige ist. „Einsame Entschlüsse'" sind also nicht aus der Eigenheit Adenauers zu erklären, sondern werden durch den Artikel 65 geradezu verlangt; allerdings muss eine Beratung und Beschlussfassung der Bundesregierung vorangegangen sein" (1963, S. 735). Man könnte an dieser Stelle die verfassungsrechtliche Problematik des Nebeneinanders von drei Gestaltungsprinzipien in Art. 65 ganz ausklammern und sich mit der Feststellung begnügen, dass es sich nur um einen weitgefassten Rahmen handelt, der von den Beteiligten je nach personeller und sachlicher Konstellation höchst unterschiedlich ausgefüllt werden

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat kann, wenn nicht doch die Interpretation des Artikels darüber entschiede, was an Instrumenten eingeführt und wem sie zugeordnet werden können. Legt man das Ressortprinzip weit aus, dürfte es im Bundeskanzleramt nur eine koordinierende, keine politikvorbereitende Abteilung geben. Unter solchem Aspekt wäre die Anweisung von Bundesminister Ehmke verfassungsrechtlich angreifbar gewesen, der zufolge ein Schwerpunkt der Tätigkeit der Planungsabteilung „die Entwicklung und Verwirklichung der längerfristigen politischen Programme der Bundesregierung sein" sollte. „Durch Aufstellung mit den Ressorts abgestimmter Arbeits- und Zeitpläne soll eine langfristige Vorausschau auf allen Gebieten, das rechtzeitige Setzen von Prioritäten, eine Harmonisierung der Arbeit der Bundesregierung und die Durchführung einer permanenten Erfolgskontrolle, d.h. die Überwachung aller Vorhaben auf ihre Realisierung, aber auch auf ihre Realisierungsmöglichkeiten hin sichergestellt werden" (H. Flohr, 1972, S. 55). Was die bisherige Praxis anlangt, darf es nicht verwundern, dass in ihr nur das Kanzlerund das Ressortprinzip zur Geltung kamen und ein größeres publizistisches Echo fanden. Das Kabinett verfügt zwar über die Beschlussgewalt, nicht aber über die Initiative. Deshalb verbindet man allgemeinere politische Aussagen eher mit dem Kanzler, konkrete Initiative hingegen mit den Ministern. Das entspricht sicher auch der Realität, selbst wenn sich diese einer Standardisierung entzieht. Konrad Adenauer verwirklichte die Kanzlerdemokratie. Er duldete faktisch keinen Stellvertreter, nutzte die Geschäftsordnung voll aus, umging sie aber auch, wenn sie ihm hinderlich war. Das gilt vor allem für deren § 10, dem zufolge Abordnungen vom federführenden Fachminister und vom Kanzler nur in besonderen Fällen empfangen werden sollen. Der Empfang beim Kanzler bürgerte sich aber rasch ein. Wurden Wünsche nicht erfüllt, gingen die Vorsitzenden großer Verbände zum Kanzler. Da sie dort oft Erfolg hatten, galten viele Minister als überspielbar. Adenauer vermehrte so die eigene Autorität auf Kosten der Minister, die unter ihm schon deshalb leicht wie Untergebene wirkten, weil er die Personalunion von Kanzler und Parteivorsitzendem voll ausnutzte. Die Macht des Kanzlers hatte natürlich noch viele andere, vor allem zeitbedingte Voraussetzungen. Eine von ihnen ergab sich aus der Fähigkeit, sich nur auf wenige Grundsatzfragen zu konzentrieren, aus ihnen den eigenen Führungsanspruch zu bestreiten und die Mitarbeiter in den übrigen Bereichen relativ freizustellen. Je ferner ein Amt den Interessen des Kanzlers lag, desto mehr bestand dort die Chance, sich politisch zu entfalten. Das galt besonders für den Wirtschaftspolitiker Erhard. Dass man dabei das Bild vom „starken Kanzler" nicht überzeichnen darf, zeigen anschaulich Jost Küpper (1985), die Analysen von Hans-Peter Schwarz (1981, 1983 und 1991) sowie die sogenannten „Adenauer-Studien" (R. Morsey/ Κ Repgen, 1971 ff.). Ludwig Erhard wurde nach der „Kanzlerdemokratie in der Sterbestunde", von der man seit 1961 sprach, Kanzler. Er gab sich als Kabinettschef völlig anders als sein Vorgänger. Fraglos ließ jedoch der Führungsanspruch der Zentrale nach, die Ressorts wurden selbständiger, ohne dass das Kabinett die ihm zugewiesene Aufgabe der Koordination erfüllen konnte. Zugleich fehlte Erhard die klare Unterstützung der Partei, und es stand ihm eine selbstbewusste FDP gegenüber. Eine Koalition aber, in der der kleinere Partner nicht willenlos dem größeren folgt, wertet das Parlament auf, und ein Finanzminister, der nicht der Partei des Kanzlers angehört, kann viel wirksamer die ihm eingeräumten Vorrechte praktizieren. Unter diesen Umständen geriet keine Kanzlerdemokratie, und Erhard erhielt den Ruf des wohlmeinenden, aber führungsschwachen Kanzlers, der dann später aus Mangel an Fortune scheitern musste. Ohne dies näher auszuführen: Die relative Schwäche des Kanzlers wertete in der Regierungszeit Erhards nicht das Kabinett, wohl aber die Ressorts auf. Unter der Kanzlerschaft Kurt Georg Kiesingers setzte sich das in anderer Weise fort. Die Große

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3. Die Regierung: Zentrum der Exekutive Koalition wurde dann im Parlament von Barzel und Schmidt und im Kabinett von Schiller und Strauß geführt. Der Kanzler koordinierte ohne großen Einfluss. Öffentlich sichtbare Eingriffe galten nur Außenminister Willy Brandt, der auf des Kanzlers politischem Territorium mit ihm konkurrierte. In der Praxis ergab sich ein engerer Führungskern im Kabinett und in einem Rahmen, der weitaus mehr von der mittelfristigen Finanzplanung bestimmt wurde als von den Richtlinien der Politik. Die Regierungsbildung von 1969 wurde deshalb vielfach von der Erwartung begleitet, es werde eine stärkere Kabinettssolidarität und damit eine größere Kollegialität geben. Die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Querelen und Eifersüchteleien kennzeichneten auch das Kabinett Brandt!Scheel. Zum einen grenzten sich SPD und F D P deutlich ab, was nur aufgrund des guten persönlichen Verhältnisses zwischen Kanzler und Vizekanzler nicht hinderlich wurde. Zum anderen kam es zur Auseinandersetzung zwischen den ausgabefreudigen politischen Ministern und ihren konjunkturbewussten Kollegen, eine Auseinandersetzung, die vor allem bei Karl Schiller so ins Persönliche ging, dass dieser 1972 erst das Kabinett und dann seine Partei verließ. Institutionell wurde eher das Kabinett aufgewertet, da der Kanzler die Zügel nicht in die Hand nahm. Diese Aufwertung, weil sie nicht auf größerer Kollegialität beruhte, machte jedoch nicht das Kabinett als solches stark; sie führte nur dazu, dass mehr Entscheidungen in der Institution Kabinett auch wirklich beraten und durch Abstimmung herbeigeführt wurden. Dass dabei interne Vorabsprachen eine immer größere Rolle spielten und Kleingruppen im Kabinett sich als geschickte Lobby etablierten, sei allerdings erwähnt. Im Ergebnis wurde eine weitere Variante praktischer Interpretation des Art. 65 G G beigesteuert, innerhalb derer das Kabinett wohl so wenig einheitlich war wie noch nie - überdeckt freilich durch die allgemeine Polarisierung zwischen SPD/FDP und CDU/CSU, welche von außen als Klammer auch für das Kabinett wirkte, so dass es den relativ häufigen Rücktritt von Ministern und Staatssekretären überdauerte. Im Übrigen erwarb sich Brandt so viel persönliche Autorität, dass sein weitgehender Verzicht auf wirkliche Führung kaum ins öffentliche Bewusstsein trat. Sein Nachfolger Helmut Schmidt nahm Führungsaufgaben wesentlich intensiver wahr. Unter ihm wurde es um das Bundeskanzleramt still; auch die Kabinettsitzungen kamen aus dem Gerede. Das änderte sich erst 1981, als sich ein Teil der FDP-Führung von der Koalition zu distanzieren begann, was zu Koalitionsquerelen und zu dem Vorwurf an die Adresse Schmidts führte, er lasse Führungsqualitäten vermissen. Bei Helmut Kohl (1982-1998) war ein Führungsstil erkennbar, der nach Übergangs- und Anpassungsproblemen an das von Adenauer praktizierte Selbstverständnis erinnerte. Kohl erschien nach den ersten beiden Wiederwahlen und insbesondere nach seinem schnellen und entschlossenen Nutzen der Chance zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten nahezu unangreifbar. Dies veränderte sich nach den Bundestagswahlen 1994, als der Kanzler zwar innerhalb der C D U unumstritten blieb, jedoch die Regierungskoalition angesichts der deutlichen ökonomischen Probleme, den Schwierigkeiten, der „äußeren" die „innere" Vereinigung folgen zu lassen, sowie einer zunehmenden „personellen Enge" verbraucht erschien. Paradigmatisch für den Sieg der SPD bei den Bundestagswahlen 1998 stand mithin die Maxime ihres Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder, „nicht viel anders, dafür vieles besser" machen zu wollen. Im Unterschied zur Ära Kohl oszillierte Schröders Regierungsstil während der ersten Wahlperiode (1998-2002) zwischen öffentlichkeitswirksamer Konsenssuche, die sich exemplarisch in der Einrichtung parteien- wie interessenübergreifender ad /¡oc-Gremien ausdrückte (Zuwanderungskommission, MKS-Krisenstab, //arfz-Kommission) und einer Zentralisierung politischer Entscheidungen im Kanzleramt, die sich nach dem Ausscheiden Oskar Lafontaines aus dem Kabinett und der Übernahme auch des SPD-Vor287

IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat sitzes durch Schröder anbot. Dem Bild des „Machers" Schröder, das anlässlich von Krisensituationen („Rettung" insolventer Firmen, Flutkatastrophe im Sommer 2002, Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, „Nein" zu einem Krieg gegen den Irak) medienwirksam aufgebaut wurde, dürfte es zu verdanken sein, dass die rot-grüne Koalition trotz massiver ökonomischer wie vor allem arbeitsmarktpolitischer Probleme mit knapper Mandatsmehrheit eine zweite Amtszeit antreten konnte. Die seither erkennbaren Veränderungen sind vor allem von dem Versuch getragen, eine den Namen verdienende Reformpolitik in Deutschland zu gewährleisten. So gelang es, vor allem über die Bestellung Wolfgang Clements und die Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs von Ulla Schmidt, entsprechende Politiken in zwei Schlüsselressorts zu bündeln. Die angesichts zunehmend schlechter werdender ökonomischer Indikatoren unabweisbaren Reformen wurden schrittweise konsensfähig gemacht, wobei es in Teilbereichen (wie der Gesundheitspolitik) zu einer verstärkten Kooperation zwischen der Regierung und einer Opposition kam, die keine wirklichen Alternativen erarbeitete. Trotz starker innerparteilicher Widerstände gelang es, die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik den Umständen anzupassen und überregelte Politikbereiche zu „flexibilisieren". Das einst gepriesene „korporatistische Modell", das die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeziehungen in der Bundesrepublik zu versachlichen und routinehaft zu gestalten versuchte, erwies sich als in Teilen unhaltbar und wurde neueren Formen der Interaktion geöffnet. Schröders Kanzlerschaft, die bislang eher als Reflex auf die durchgängige Kommunikationsorientierung der öffentlichen Auseinandersetzung erschien, wurde im Verlauf dieser Prozesse materiell bedeutsamer und ließ schließlich so etwas wie eine „politische Handschrift" erkennen. Andererseits hat sich Schröder den medialen Anforderungen an das Amt von allen bisherigen Kanzlern wohl am perfektesten „angepasst". Diese Orientierung nach außen hat spiegelbildlich ein Defizit an Aufmerksamkeit nach innen zur Folge, die zunächst scheinbar arbeitsteilig funktional erschien - vor allem im Verhältnis zum Fraktionsvorsitzenden der Mehrheitspartei, personifiziert in Franz Müntefering. Die allmählich erkennbare politische Führung nach innen beginnt dieses Bild zu verändern und gibt dem Kanzler inzwischen „Profil". Allerdings reichte die Kraft bislang nicht, um auf die verflochtenen internen wie externen Anforderungen auch mit verstärkten Koordinationsleistungen innerhalb der Bundesregierung zu reagieren. Klassische Rivalitäten, wie etwa die zwischen dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt oder zwischen einzelnen Fachressorts, setzen sich fort, ohne die Bundesregierung zu einer den Namen verdienenden Regierungsund Verwaltungsreform zu motivieren.

4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ Die verfassungsrechtliche Stellung von Bundestag und Bundesregierung ist denen anderer Staaten vergleichbar. Seinen spezifischen Charakter erhält das deutsche Regierungssystem dagegen durch den Bundesrat und das durch ihn gegebene Nebeneinander und Zusammenwirken der obersten Staatsorgane (vgl. Materialband, VI/10-12). Zwar verfügen auch andere Bundesstaaten über Einrichtungen, die eine föderalstaatliche Ordnung repräsentieren, und kennt die deutsche Geschichte mit den Reichsverfassungen von 1871 und 1919 einen Bundesrat und einen Reichsrat, doch ist der heutige Bundesrat sehr unterschiedlicher Natur. Dies soll eine kurze historische Einführung verdeutlichen.8

8 Zu einführender Literatur vgl. die in Kapitel II benannten Hinweise; darüber hinaus ist auf R. Her288

4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ 4.1. Historischer Rückblick Die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland beruht auf dem zunächst 1848 unternommenen Versuch, nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten eine Verfassung zu schaffen, die der überlieferten Eigenständigkeit der Länder ebenso gerecht werden soll wie der erwünschten und notwendigen Einheit. Bismarck beteiligte in seiner Verfassung von 1866 und 1871 die Landesfürsten an der Souveränität des Reiches, brachte dies im damaligen Bundesrat zum Ausdruck und fand so eine Konstruktion, in der Kaiser, Kanzler und Bundesrat dem Reichstag gegenüberstand. In Artikel 7 der Reichsverfassung von 1871 hieß es: „Der Bundesrat beschließt: 1. über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die von demselben gefassten Beschlüsse; 2. über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen, sofern nicht durch Reichsgesetz etwas anderes bestimmt ist". Der Kaiser wirkte nach der Verfassung als „Präsidium des Bundes" und ernannte in dieser Eigenschaft den Reichskanzler, der gleichzeitig Vorsitzender des Bundesrates war. Faktisch entwickelte sich der Bundesrat damit zu einem zweiten Regierungskollegium, das sich nach dem Schema der konstitutionellen Verfassung mit dem Reichstag in die Gesetzgebung teilte und im Übrigen an den Rechten und Aufgaben der Regierung partizipierte. Den durch die Verfassung nicht geregelten Problemen ging man mit der Identität von Reichskanzler und preußischem Bundesratsbevollmächtigten aus dem Wege (vgl. u.a. E. R Huber, 1975fT., Band III; Bundesrat, 1974, 1989, 1998; H. HuhnIP.-C. Witt, 1992; G. Zillerl G. B. Oschatz, 1998; G. Lehmbruch, 2002). 1919 bestand keine Neigung, die Länder in gleichem Umfang an der Reichsgewalt zu beteiligen; auch war es mit dem neuen parlamentarischen System nicht zu vereinbaren, den jetzt Reichsrat gleichberechtigt an der Gesetzgebung teilnehmen zu lassen (vgl. G. Anschütz/ R. Thoma, 1930 und 1932). Der Vorrang des Reichstages wurde deshalb in der Weimarer Verfassung betont (Art. 68 WV): „Die Reichsgesetze werden vom Reichstag beschlossen." Der Reichsrat verfügte außerdem über ein Gesetzesinitiativ- und ein Vetorecht, das der Reichstag jedoch aufheben konnte, wenn er einen Einspruch des Reichsrates mit einer Zweidrittelmehrheit überstimmte. Außerdem konnte in diesem Fall der Reichspräsident einen Volksentscheid anordnen. Dieses Verfahren galt analog auch für Verfassungsänderungen; hier musste jedoch auf Verlangen des Reichsrates ein Volksentscheid herbeigeführt werden, wenn der Rat nicht bereit war, den Vorstellungen des Reichstages zu folgen. Auch für Verwaltungsvorschriften war die Zustimmung des Reichsrates notwendig, so in Angelegenheiten, die von Landesbehörden auszuführen waren. Bei der Haushaltsberatung hatte der Reichsrat ein Vorrecht gegenüber dem Reichstag, da dieser ohne Zustimmung des ersteren keine Haushaltsansätze erhöhen oder neu einfügen durfte. Schließlich bedurfte es der Zustimmung des Reichsrates bei einigen Verordnungen, etwa für das Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen sowie für die Wasserstraßen. Den Vorsitz im Reichsrat führte ein Mitglied der Reichsregierung; eine Personalunion mit dem preußischen Bevollmächtigten bestand nicht mehr. Auf diese Weise bildete der Reichsrat ein Organ in eigentümlicher Zwischenstellung; er war weder Teil der Gesetzgebung noch war er, wie früher der Bundesrat, ein Regierungskollegium. Die Regierungsbildung war Sache des Reichspräsidenten allein. Reichskanzler und jeder einzelne Minister waren vom Vertrauen des Reichstages

zog, 1987, M. Dietlein, 1989, J. HuhnIP.-C. Witt, 1992, K. Reuter, 1996, H. KilperlR. Lhotta, 1996, u n d H. LauferlU. Münch, 1998 zu verweisen; international vergleichende Analysen finden sich u.a. bei J. J. Hesse/W. Renzsch, 1991, J. J. Hesse/V. Wright, 1996 sowie G. RiescherlS. RußlCh. Haas, 2000.

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat abhängig und mussten zurücktreten, wenn ihnen das Misstrauen ausgesprochen wurde; der Reichsrat blieb unbeteiligt. Er fungierte als Vertretung der Länder mit beschränkter, theoretisch überstimmbarer Einwirkung auf die Gesetzgebung und verfügte über das Recht, auf die Verwaltung des Reiches in gewissem Umfang Einfluss zu nehmen. Der Bundesrat des Grundgesetzes entspricht insofern dem früheren Reichsrat, als auch er sich aus Mitgliedern der Landesregierungen zusammensetzt. Während es aber 1919 vorsichtig hieß (Art. 60 WV): „Zur Vertretung der deutschen Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reichs wird ein Reichsrat gebildet", wurde 1949 viel eindeutiger festgelegt (Art. 50 GG): „Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit. " Auch ist die Selbständigkeit des Bundesrates stärker betont. Der Bundesrat organisiert sich selbst, wählt einen Präsidenten, der ihn unabhängig von der Bundesregierung einberufen kann, und gibt sich eine Geschäftsordnung; er ist faktisch „nach Art" eines Parlaments organisiert. In der Kontinuität deutscher Verfassungstradition steht hingegen die Stimmengewichtung im Bundesrat nach einem stark „abgemilderten" Bevölkerungsproporz, nach dem die kleineren Länder eine relativ hohe Stimmenzahl innehaben (mindestens drei bei maximal sechs bzw. - seit der vereinigungsbedingten Änderung des Art. 51 Abs. 2 GG - sieben Stimmen). Die Mitglieder des Bundesrates verfügen aber über keine abgeordnetenähnliche Position; ihre Rechtsstellung bestimmt sich nach dem Status, der ihnen nach der Verfassung ihres Landes als Regierungsmitglied zukommt. Dass dieses Prinzip seit 1871 nicht durchbrochen wurde, entspricht der Eigentümlichkeit des Bundesstaates in Deutschland, in dem sich der Bund der Länder zum Vollzug seiner Gesetze und Weisungen bedient. Die Länder arbeiten somit für den Bund, sind dafür aber, repräsentiert durch ihre Regierungen, an dessen Willensbildung beteiligt. Ihre „Staatlichkeit" bringen sie zugleich durch ihre Landesvertretungen in Berlin und Brüssel zum Ausdruck. In Deutschland standen sich 1948149 zunächst die Anhänger des Bundesrats- und die des Senatsprinzips schroff gegenüber; eine vermittelnde Gruppe versuchte, beide Prinzipien miteinander zu verbinden. Den Ausschlag gab dann, dass der bayerische Ministerpräsident Ehard (CSU) mit dem Düsseldorfer Innenminister Menzel (SPD) eine Abmachung zugunsten des reinen Bundesratsprinzips traf: „Der Abg. Dr. Heuss hat in der 10. Sitzung des Plenums am 8. Mai (1949) zutreffend festgestellt, daß bei diesem .Legende gewordenen Frühstück des Herrn Abg. Menzel mit dem Ministerpräsidenten Ehard aus München [...] der Bundesrat entstanden' ist. Er hat dieses Ereignis fast den interessantesten Vorgang in der Arbeit des Parlamentarischen Rates genannt. Dr. Lehr habe in der Debatte noch so ein bißchen die Fiktion aufrechterhalten, der Bundesrat sei so etwas wie eine zweite Kammer. Das sei er nämlich nicht. Für den Historiker werde es ,eine sehr reizvolle Anekdote sein, einmal festzustellen, daß der rheinische Sozialist und der weiß-blaue Staatsmann sich bei Bismarck gefunden haben, und zwar über Weimar zurück noch bismärckischer geworden' seien. Diese beiden neuen Bismärcker hätten nur eines vergessen, daß nämlich die Bismarcksche Konstruktion und Wesenheit des deutschen Bundesstaates den Hintergrund von Preußen besaß. Wir ständen dadurch vor der großen Wahrscheinlichkeit, einen Föderalismus der Bürokratie zu bekommen" (H. v. Mangoldt, 1961, S. 265 f.).

Die Beteiligung der Länder ist durch das Grundgesetz jeweils ausschließlich normiert; weitere Rechte können dem Bundesrat nur durch Verfassungsänderung zugesprochen werden - von Verwaltungskompetenzen abgesehen, für die ein Gesetz ausreicht. Zu unterscheiden ist dabei die Beteiligung an der Gesetzgebung und an der Verwaltung (vgl. Kapitel II.); letztere ergibt sich aus der Mitwirkung beim Erlass von Verwaltungsverordnungen, bei einigen Regierungsakten (etwa bei der Anwendung des Bundeszwanges gegen ein Land) sowie vereinzelt bei Verwaltungsakten, wie etwa der Bestellung von Bundesverfassungsrichtern. Die Mitwirkung an der Gesetzgebung ist unterschiedlichen Rechtscharakters. Bei der gesamten 290

4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ Gesetzgebung ist der Bundesrat insofern beteiligt, als seine Mitglieder Zutritt zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse haben und dort jederzeit gehört werden müssen, ein Recht, von dem in den Ausschüssen - und mehr und mehr auch im Plenum Gebrauch gemacht wird. Weiter werden alle Gesetzentwürfe der Bundesregierung zuerst dem Bundesrat zur Stellungnahme vorgelegt, auch kann er selbst Entwürfe einbringen. Hat der Bundestag dann seinen Beschluss gefasst, wird der Bundesrat erneut tätig. Weicht seine Meinung von der des Bundestages ab, kann der Vermittlungsausschuss einberufen werden. Gelingt diesem keine Einigung oder weist der Bundestag Änderungen des Ausschusses zurück, kann der Bundesrat noch einmal Einspruch erheben, den der Bundestag nur mit einer gleichgroßen Mehrheit zurückweisen kann. So vermag der Bundestag den Bundesrat zu überstimmen. Allerdings gilt das nicht für Gesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen (Art. 77 f. GG). Zustimmungsbedürftig sind inzwischen etwa 60 Prozent aller Gesetze, darunter vor allem die wichtigeren (vgl. Bundesrat, 1974 und 1989; Ch. Dästner, 2001). In etwa zwei Drittel aller Fälle ergibt sich die Zustimmungsbedürftigkeit aus Art. 84 Abs. 1 GG: „Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen." Ohne Zweifel handelt es sich hierbei um einen Machtzuwachs des Bundesrates, um den sich dieser zielstrebig und zäh bemüht hat, obgleich die Rechtslage nicht eindeutig ist. Der Bundesrat vertritt die sog. Mitverantwortungstheorie, nach der ein Gesetz, in dem ein Teil etwa die Behördenorganisation betrifft, insgesamt der Zustimmung unterliegen müsse. Das wird zwar bestritten, faktisch hat sich der Bundesrat aber mit dieser Auffassung durchgesetzt und ein wirksames Veto oder - umgekehrt - eine volle Mitwirkung in großen Teilen der Gesetzgebung erkämpft. Eine Konsequenz ist, dass man über die Aufteilung von Gesetzen nach zustimmungs- und nichtzustimmungsbedürftigen Teilen nachdenkt und sie in Einzelfällen auch praktiziert (vgl. G. Fritz, 1982). Außerdem ist die Selbständigkeit der Länder bei der Ausführung der Bundesgesetze stärker betont als in der Weimarer Zeit. Zur Mitwirkung des Bundesrates bei der Verwaltung des Bundes gehört zunächst der Anspruch darauf, durch die Regierung regelmäßig unterrichtet zu werden. Weiter bedürfen fast alle Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 2 GG) sowie allgemeine Verwaltungsvorschriften des Bundes der Zustimmung des Bundesrates, wenn es sich um die Ausführung von Gesetzen des Bundes durch die Länder handelt. Dabei besteht kein Unterschied zwischen den Gesetzen, welche die Länder als eigene Angelegenheiten ausführen und solchen, durch die sie im Auftrag des Bundes tätig werden. Auch in diesem Fall (in dem die Bundesregierung Weisungen erteilen kann und die Aufsicht führt) ist sichergestellt, dass die Länder nur Weisungen zu befolgen haben, an deren Zustandekommen sie prinzipiell beteiligt sind. Wird die Bundesaufsicht durch Beauftragte ausgeführt und werden diese zu nachgeordneten Behörden entsandt, bedarf auch das der Zustimmung der obersten Landesbehörden oder des Bundesrates. In einem Notstandsfall (Art. 91 GG), in dem die Bundesregierung die Polizei eines Landes ihren Weisungen unterstellt oder auch Polizeikräfte anderer Länder anfordert, gilt, dass solche Anordnungen auf Verlangen des Bundesrates sogleich aufzuheben sind. Hier wie beim Bundeszwang verfügt der Bundesrat also über ein wirksames Vetorecht, das bisher nicht zum Zuge kam, innerhalb der Verfassungskonstruktion aber zeigt, wie sehr man sich darum bemühte, die Länder gegen Bundesübergriffe zu sichern. Umgekehrt ist in Notfällen, bei denen sich das Zusammenspiel der obersten Bundesorgane als problematisch erweist, der Bundesrat nicht auszuschalten. Von seiner Zustimmung etwa hängt es ab, den Gesetzgebungsnotstand zu erklären (Art. 81 GG). Dass der Bundesratspräsident den Bun-

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat despräsidenten vertritt, wenn dieser im Ausland oder verhindert ist, sei darüber hinaus erwähnt. Die Bundesgesetzgebung, an der zwei so wenig vergleichbare Partner beteiligt sind, verdankt ihre Funktionsfähigkeit dem Vermittlungsausschuss (vgl. E. Hasselsweiler, 1981; M. Dietlein, 1989; J. A. Kämmerer, 2003). Dieser wiederum ist ein Institut eigenen Gepräges. Das Grundgesetz legt seine Funktion fest und überlässt das Weitere einer Geschäftsordnung. Nach ihr besteht der Vermittlungsausschuss aus jeweils 16 Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates. Sie können nur beschränkt ausgewechselt werden; die Mitglieder des Bundesrates sind nicht an Instruktionen gebunden. Der Vermittlungsausschuss kann vom Bundestag und vom Bundesrat angerufen werden, bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen auch von der Bundesregierung. Seine Aufgabe ist es, einen Einigungsvorschlag zu erarbeiten. Gelingt das, muss der Bundestag noch einmal ohne weitergehende Verhandlung abstimmen, falls der Vergleichsvorschlag von seinem ursprünglichen Beschluss abweicht. In der Praxis wird der Vermittlungsausschuss zumeist vom Bundesrat angerufen (in knapp 90 Prozent der Fälle). Das erklärt sich aus dem Gang der Gesetzgebung: Der Bundestag beschließt, anschließend verhandelt der Bundesrat; kommt er zu einem anderen Ergebnis als der Bundestag, erfolgt die Anrufung des Vermittlungsausschusses. Nach seiner Geschäftsordnung arbeitet der Ausschuss insofern rasch, als bereits in der zweiten Sitzung, die für die gleiche Angelegenheit einberufen wird, der Abschluss des Verfahrens beantragt werden kann. Die Häufigkeit der Anrufungen des Vermittlungsausschusses war seit 1949 beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Sie hängt in erster Linie von den parteipolitischen Konstellationen zwischen Bundestag und Bundesrat ab. Wenn die parlamentarische Opposition die Bundesratsmehrheit innehatte (1973 bis 1982 und - mit Unterbrechungen - seit 1990), musste der Ausschuss wesentlich öfter zusammentreten als in Zeiten „konkordanter" Kräfteverhältnisse. Ausschuss und Geschäftsordnung haben sich zweifellos bewährt. Eine Einigung gelingt fast immer. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um einen Kompromiss; häufiger übernimmt der Ausschuss die Linie des Bundesrates, seltener wird der ursprüngliche Beschluss des Bundestages zur Annahme empfohlen. Entscheidend ist dabei wohl auch, dass die Politiker im Ausschuss unter sich sind und die durch ihr früheres Auftreten festgelegten Abgeordneten ebenso fehlen wie die Beamten, von denen die Gesetzesinitiative ausging. Der Ausschuss wirkt somit als Filter, und in etwa neun von zehn Fällen nehmen die Beteiligten seinen Vorschlag an. Die günstigere Position des Bundesrates erklärt sich dabei daraus, „daß der Bundestag mit der Bundesregierung an dem baldigen Zustandekommen der von ihm beschlossenen Gesetze lebhaft interessiert ist und daß andererseits der Bundesrat den überwiegenden Teil der Vermittlungsfalle durch ein bloßes Votum zum Scheitern bringen kann". Deshalb „kommt man dazu, dem Bundesrat die bei weitem bessere Verhandlungsposition zuzugestehen. Bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen werden sich die Vertreter des Bundestages sehr genau überlegen, ob sie nicht lieber weitreichende Zugeständnisse in Kauf nehmen sollen, ehe sie eine Ablehnung riskieren" (so schon K. Neunreither, 1959, S. 81). Bis zum Sommer 1969 scheiterte von 267 Gesetzen, die in den Vermittlungsausschuss kamen (durchschnittlich 53 pro Legislaturperiode), nur etwa jedes zehnte. 1972 bis 1980 vermehrten sich die Anrufungen des Ausschusses drastisch (auf insgesamt 181, also etwa 90 pro Wahlperiode), seitdem verzeichnet man ein kontinuierliches Auf und Ab. Dabei ist erneut zu betonen, dass sich das Verfahren bewährt hat, weil der Vermittlungsausschuss nicht-öffentlich verhandelt und Bindungen weithin ausgeschaltet sind. Schließlich ist festzuhalten, dass die günstige Position des Bundesrates sich zwar aus der Zustimmungserfordernis vieler Gesetze erklärt, dass aber durch die Funktionsfähigkeit des Vermittlungs292

4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ ausschusses die Autorität des Bundesrates insgesamt, also auch hinsichtlich der nichtzustimmungsbedürftigen Gesetze, wuchs. Die Mitwirkung des Bundesrates an der Gesetzgebung ist dadurch gewichtiger geworden. Der Vermittlungsausschuss wirkt, auch wenn er nicht eingeschaltet ist (vgl. M. Dietlein, 1983; s. dort auch die Ausschussprotokolle für 1949-1972). 4.2. Selbstverständnis und Wirkungsweise Der Bundesrat ist ein verfassungsmäßiges Organ eigener Art. Die Eigentümlichkeiten werden sichtbar, wenn man die Position des Bundesratsmitglieds als Fachminister und Chef einer mehr oder weniger großen Verwaltung, als Regierungsmitglied im Lande, als Mitglied einer Partei und - in der Regel - als Landtagsabgeordneter dieser Partei sowie schließlich als Mitglied des Bundesrates betrachtet. Als Fachminister hat dieser Politiker Teil am Sachverstand seiner Behörde. Als Regierungsmitglied weiß er sich den spezifischen Interessen seines Landes verpflichtet, ist in gewisser Weise vom Landtag abhängig und voll an Kabinettsbeschlüsse gebunden. Als Mitglied einer Partei bestehen Bindungen gegenüber der Mehrheit oder Minderheit im Bundestag und damit gegenüber der Regierung oder der Opposition. Als Bundesratsmitglied endlich partizipiert er an den Vollmachten eines Bundesorgans, denn der Bundesrat ist nicht die Vertretung der Länder im Bund - auch wenn er faktisch so wirken kann - , sondern das Bundesorgan, in dem in besonderer Weise die Anliegen der Länder berücksichtigt werden. Vom einzelnen Bundesratsmitglied aus gesehen sind diese vier Aspekte einer Funktion zunächst nicht so deutlich, weil die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können (Art. 51 Abs. 3 GG; s. unten). So gesehen ist das Mitglied primär Regierungsmitglied und an die Instruktionen der Regierung gebunden. Da es seinerseits aber wiederum an der Abfassung der Instruktionen beteiligt ist, kann dieser Einwand zunächst unberücksichtigt bleiben. In der Praxis tritt der erste Aspekt am deutlichsten hervor. Bei der Gesetzgebung und der Beteiligung an der Verordnungsgewalt der Regierung bringt der Bundesrat zunächst seine Verwaltungserfahrung - und den jeweiligen Ressortegoismus - ein. Der Bund verfügt zwar über einige Verwaltungseinrichtungen (über die überzeugte Föderalisten nicht eben glücklich sind), im Großen und Ganzen aber hat der Bundesrat ein Aufblähen der Bundesverwaltung verhindert und die Verwaltungsmacht der Länder verteidigt. Als effektive „Sperre" erwies sich in diesem Zusammenhang Art. 84 Abs. 1 GG, der die Zustimmung des Bundesrates bei bundesgesetzlicher Regelung von Behördeneinrichtung und Verwaltungsverfahren auf Länderebene festschreibt. Zugleich kommt bei der Gesetzgebung selbst, bei der Teilnahme an Ausschusssitzungen des Bundestages oder bei der Auseinandersetzung über Verwaltungsverordnungen wirksam das Gewicht der Landesbürokratie ins Spiel. Die verwaltungstechnische Brauchbarkeit der Gesetzgebung wird dadurch zweifellos verbessert. Dabei hat der Bundesrat keinen Anlass, darauf hinzuwirken, dass insgesamt nur sparsam Gesetze gemacht werden. Wird der Bundestag entscheidend nur tätig, wenn es „in der Form" des Gesetzes geschieht, so gilt das ähnlich auch für den Bundesrat, obwohl dieser Einfluss auch auf die Verordnungspraxis hat und deshalb für ihn nicht die gleichen Argumente gelten wie für den Bundestag. Der zweite Aspekt ist deutlich genug: Der Bundesrat verteidigt die Interessen der Länder. Das gilt zunächst rechtlich. So hat der Bundesrat argwöhnisch (aber lange erfolglos) darüber gewacht, dass durch Bundesgesetze nicht in das Kommunalverfassungsrecht eingegriffen wird oder Kompetenzen zu Lasten der Länder auf die Europäische Union übertragen werden. Abwehr gegenüber dem Ausweiten der Bundeskompetenz ist selbstver293

IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat ständlich. Dies gilt aber auch faktisch: Der Bundesrat wird bei einer Änderung der Finanzverfassung kaum auf den vorhandenen Besitzstand verzichten, während er selbst oder die Landesvertretungen sich stets bemüht haben, Bundesmittel in das eigene Land zu schleusen. In diesen Dingen wirkt der Bundesrat gelegentlich durchaus nach Art einer territorialen Interessenvertretung. Dies machen die Bundesratsmitglieder auch ihrem Landtag gegenüber deutlich. Hier schadet eine gelegentliche Rechtfertigung nicht, weshalb auch der Hinweis auf gute Kontakte zu den Dienststellen in Berlin nur selten fehlt. Das stellt sich, wie ausgeführt, zunächst als demokratietheoretisches Problem dar; dieser Perspektive zufolge soll der Föderalismus Machtteilung und Beteiligung des Bürgers gewährleisten. Beides wird in der Bundesrepublik durch eine zunehmende Aufgabenvermischung sowie dadurch beeinträchtigt, dass der einflussreiche Bundesrat jeglicher parlamentarischen Kontrolle entzogen ist. Angesichts der allmählichen Aufgabenverlagerung zum Bund verstärkte das die „politische Auszehrung" der Landtage. Neben dem demokratietheoretischen ist deshalb auch das praktisch-politische Problem zu sehen. So schlug der Landtagspräsident in Stuttgart bereits Ende 1972 vor, dass die Landesregierung dem Landtag vor den jeweiligen Entscheidungen im Bundesrat berichten und der Landtag von Zeit zu Zeit Debatten über Bonner Gesetzesvorhaben durchführen solle. Der bayerische Landtag hat damit schon begonnen, als er in Zusammenhang mit der Debatte über die Ostverträge eine eigene (CSU-)Regierungserklärung entgegennahm, was dann der Opposition Anlass gab, sich als Wahrer des föderalistischen Prinzips vorzustellen. Offenkundig ist dieser Weg aber untauglich; er schränkt die Handlungsfreiheit der Bundesratsmitglieder noch mehr ein als es die Bindung an die Kabinettsbeschlüsse ohnehin schon tut, verschafft aber dem Landtag und damit dem Bürger keinen wirklichen Einfluss. So bleibt es dabei, dass Landesminister im Bundesrat eine erhebliche politische Macht ausüben, ohne sich parlamentarisch verantworten zu müssen (vgl. u.a. bereits G. Kisker, 1971). Dies bedeutet zugleich, dass unter den beiden bisher genannten Aspekten der Bundesrat weit weniger als Zweite Kammer, sondern eher als zweite Regierung fungiert. Mit dem Typ der Zweiten Kammer stimmt er äußerlich nur darin überein, dass er lange Zeit kaum politische Initiativen entwickelte und besondere Wünsche meist der Regierung übermittelte, anstatt selbst einen Entwurf zu erarbeiten. Im Zusammenspiel mit dem Bundestag aber, der auch nach dem Eingangswortlaut der Gesetze der eigentliche Gesetzgeber ist, wirkt der Bundesrat nach Art einer Regierung (vgl. R. Wildenmann, 1963). Seine beauftragten Beamten gehen in die Bundestagsausschüsse und fordern dort Gehör; die Argumente entstammen häufig dem Verwaltungsbereich; in Berlin verhandeln Bundes- und Landesbürokratie miteinander. Erst wenn man den Bundesrat unter dem dritten Aspekt, unter dem der Parteizugehörigkeit der Bundesratsmitglieder betrachtet, verschiebt sich das Bild wieder, ohne allerdings klare Konturen zu gewinnen. Bereits seit 1949 gab es immer wieder Versuche, die Argumente der im Parlament unterlegenen Opposition im Bundesrat noch einmal vorzutragen und dieses Gremium zum „Gegenparlament" zu machen. Umgekehrt lässt sich auch nachweisen, dass Landesregierungen im Bundesrat oft anders abgestimmt haben als die Fraktion ihrer Partei im Bundestag, was dann Bundesregierungen veranlasste, recht deutlich und nachdrücklich auf die ihr nahestehenden Landesregierungen Einfluss zu nehmen. Nach der Bundestagswahl 1969 schien sich dies zu verschieben: Die Politisierung des Bundesrates galt als ausgemachte Sache (vgl. die Beiträge in ZParl, 1970, S. 318 ff., 1972, S. 148f., 1974, S. 157ff.), nachdem der knappen sozialliberalen Mehrheit im Parlament eine schmale, indessen verlässliche CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat gegenüberstand. Der Bundesrat gewann dadurch ein größeres publizistisches Interesse, und in einigen Fällen machte er auch spektakulär von seiner verfassungskonformen Möglichkeit Gebrauch, als 294

4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ Gesetzgeber ohne direktes Mandat den gewählten Gesetzgeber zu „bremsen", ohne dabei auch nur so zu tun, als ob landespolitische Argumente eine Rolle spielten. Das führte bereits seinerzeit zu der Warnung, „den Bundesrat nicht zum Gegenparlament der Volksvertretung und Antibundestag umzufunktionieren" (A. Osswald), oder zu der Überlegung, die Stimmenverteilung sei doch höchst ungerecht und benachteilige vor allem NordrheinWestfalen. Umgekehrt zog Heinz Laufer (1972, S. 28) nüchtern legislatorische Bilanz und meinte, C D U und CSU hätten ihre Mehrheit nur behutsam und nie voll wirksam eingesetzt, da am Bundesrat „noch kein Gesetzesvorhaben der Regierungskoalition wirklich gescheitert" sei. Heute ist die Polarisierung indes intensiver, „Blockadehaltungen" wie deren Umgehungsversuche sind deutlicher erkennbar (vgl. im Folgenden). Der vierte Aspekt: Immer wieder berät der Bundesrat, ohne dass etwa Landesinteressen oder solche Themen im Vordergrund stehen, in denen sich die Parteien dezidiert festgelegt haben. In solchen Fällen kann der Bundesrat wie eine Zweite Kammer wirken. Er erzwingt als solche eine weitere Diskussion in Ausschüssen und auch im Plenum und trägt zur sorgfältigen Gesetzgebung, zur Vorsicht bei Verfassungsänderungen und zu genauer Prüfung auch der Rechtsverordnungspraxis bei. Das wird vor allem bei der Haushaltsberatung sichtbar, solange es weder um Landesinteressen noch um die Finanzverfassung geht. Die im Grunde unbeteiligte Landesbürokratie wirkt dann ggf. auflockernd, zumal die Bundesbürokratie ihren Entwurf nur verteidigen kann. Als Zweite Kammer wirkt der Bundesrat auch dann, wenn die Bundesregierung die Gesetzgebungsarbeit überstürzen will. Der Bundesrat ist Bundesorgan. Sein Beitrag zur Koordination der Länderpolitik blieb lange unbedeutend. Ministerpräsidenten- und Fachministerkonferenzen betrieben diese Koordination und schufen damit jene „dritte Ebene"' (vgl. Bundesrat, 1989), die zum verfassungspolitischen Problem wurde, weil sie die Landtage noch weitergehend zu entmachten drohte. Der Bundesrat konzentriert sich auf die Bundespolitik; die Absicht des Verfassungsgebers erscheint in diesem Punkt erfüllt. Die entscheidende Frage aber lautet, wie er das tut, wie sich das den Ländern zugeordnete Bundesorgan selbst versteht und einordnet, wie eine dem demokratischen Prozess weithin entzogene Einrichtung, deren Mitglieder einem imperativen Mandat unterliegen und ausschließlich der sie entsendenden Landesregierung verbunden sind, sich in das Dreieck von Volksvertretung, mehrheitsabhängiger Regierung und föderativem Organ einfügt. Der Verfassungsgeber ließ dabei wohl eindeutig den Landesbezug dominieren; er wollte ein politisches, keinesfalls ein parteipolitisches Organ und lehnte deshalb auch die von der SPD gewünschte demokratienähere Senatslösung ab. Cum grano salis blieb es dabei bis etwa 1972. Danach kam es zu deutlicherer Konfrontation: Im Dezember 1973 blockierte der Bundesrat die Steuerreform, um Vorstellungen der Opposition in die neuen Gesetze einzubringen. Im Frühjahr 1974 stilisierte man - auf beiden Seiten und in Erinnerung an das, was sich um 1953 in Zusammenhang mit dem Deutschland- und dem EVG-Vertrag ereignete (vgl. dazu A. Baring, 1969) - den Landtagswahlkampf in Niedersachsen zu einem Kampf um die Mehrheit im Bundesrat. Gleichzeitig bürgerte sich im Bundesrat ein Blockverhalten der CDU-regierten Länder und Bayerns ein (Süddeutsche Zeitung vom 11.4.1974 mit Beispielen). Im Juli 1974 erzwang die C D U als Partei einen Steuerkompromiss mit der Bundesregierung - Kohl, Stoltenberg und Strauß, der letztere noch nicht einmal Bundesrats-Mitglied, warfen das Gewicht des Bundesrats in die Waagschale. Die Bundesregierung wehrte sich. Es kam zu einem aufsehenerregenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts (vgl. ZParl 1974, S. 475ff.). Ihm zufolge „ist der Bundesrat nicht eine zweite Kammer eines einheitlichen Gesetzgebungsorgans, die gleichwertig mit der ,ersten Kammer' entscheidend am Gesetzgebungsverfahren beteiligt wäre" (in: Bundesrat, 1974). Im Blick auf den Bundesrat kam es zum Kompromiss beim Hochschulrahmengesetz; im Bundesrat scheiterte das Bundeswahlgesetz, und der bayerische Regierungschef Goppel erklärte (13.3.1975), nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen müsse man ggf. Bundestagsneuwahlen durchführen, da der Verlust der SPD-FDP-Mehrheit im Vermittlungs-

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat ausschuss zur Funktionsunfähigkeit der Regierung führen könnte. Es sei möglich, dass zustimmungspflichtige Gesetze dann „nicht mehr zustande kommen". Der Bundesrat lehnte das Namensrecht ab, spielte bei internationalen Verträgen (Polen-Vertrag) eine zunehmende Rolle und bezeichnete sich in einer Werbebroschüre im Januar 1976 durchgängig als Zweite Kammer. Vor dem Ende der Legislaturperiode 1976 kam es dann zum Verfassungskonflikt, weil der Bundesrat das Wehrdienstverweigerungsgesetz ablehnte, das die Bundesregierung als nicht zustimmungsbedürftig bezeichnete, und weil man sich in Sachen Ausbildungsplatzförderungsgesetz nicht einigen konnte. In beiden Fällen entschied das Bundesverfassungsgericht, ohne dass damit das jeweilige Problem gelöst gewesen wäre.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Bundesrat sich nicht nur als föderatives Korrektiv, sondern tendenziell auch als eigenständiges Bundesorgan verstehen kann, innerhalb dessen den parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Seit 1973 hat sich dieses Selbstverständnis eher noch verstärkt. Die sich daraus ergebenden Probleme werden allerdings nur sichtbar, wenn es im Bundesrat eine andere Parteienmehrheit gibt als im Bundestag. Dann finden sich in der Bundesrepublik zwei Mehrheiten, von denen zwar nur die eine demokratisch legitimiert ist, von denen dafür aber die andere über den längeren Atem verfügt. Dies war, wie ausgeführt, von 1973 bis 1982 und - mit Unterbrechungen - seit 1990 der Fall. Dass solche „wechselnde Mehrheiten" seit der Wiedervereinigung häufiger auftreten, erklärt sich weniger aus der größeren Zahl von Bundesländern bzw. Landtagswahlen, die häufigere Kräfteverschiebungen im Bundesrat nach sich ziehen können. Der Hauptgrund findet sich vielmehr in strukturellen Veränderungen des Parteiensystems, die bereits in den 1980er Jahren erkennbar wurden (s. hierzu Lehmbruch, 2000, S. 48 ff.). Mit Etablierung der Grünen und der PDS sowie dem (vor allem auch in Ostdeutschland) erkennbaren Anstieg der Wählerfluktuation dekonzentrierte sich das bisherige „Zweieinhalbparteiensystem", wurden Koalitionsmöglichkeiten wie -praktiken auf Länderebene variantenreicher und wuchs die Gruppe der „C-Länder", die weder von einer Parteienkoalition der Bundestagsmehrheit noch der Opposition geführt wurden. Die Regierungen Kohl und Schröder taten sich mithin gleichermaßen schwer, ohne eigene Bundesratsmehrheit parteipolitisch umstrittene Gesetzesvorhaben durchzubringen. Dass die rot-grüne Steuerreform 1999 - im Unterschied zu derjenigen der CDU/CSU-FDP-Regierung ein Jahr zuvor - eine Mehrheit fand, war letztlich darauf zurückzuführen, dass Schröder sich die zunehmenden Disparitäten zwischen finanzkräftigen und -schwachen Bundesländern zunutze machte und die Zustimmung einiger oppositioneller bzw. „neutraler" Landesregierungen buchstäblich „erkaufte". Natürlich ist das Verhalten des Bundesrates dann, wenn er eindeutig seine politische Wertung gegen die der Bundestagsmehrheit setzt, nicht verfassungswidrig. Es zeigt aber auch, dass die Demokratie im Sinne von Mehrheitsherrschaft in der Bundesrepublik im Zweifel begrenzt ist. „Im Zweifel" gibt nicht die in der Bundestagswahl erkennbare Mehrheit den Ausschlag, sondern eine Gruppe von Landesministern, die sich weder vor ihrem Landtag noch vor dem Wähler rechtfertigen müssen. Das Votum des Wählers wird relativiert. Eine Konsequenz ist die Abschwächung von Landtagswahlen zu Testwahlen für den Bund, noch verstärkt dadurch, dass es oft an interessanten Themen der Landespolitik fehlt. Eine andere Konsequenz ist die Denaturierung der öffentlichen Auseinandersetzung im Bundestag; solange Mehrheit und Minderheit kooperieren, was bislang meist der Fall war, kommt nur bedingt eine Auseinandersetzung zustande. Bildet sich dagegen ein wirklicher Konflikt, wird er in Wahrheit nicht im Bundestag ausgetragen, sondern im nicht-öffentlich tagenden Vermittlungsausschuss und im nur eingeschränkt öffentlichen Bundesrat. In Ausnahmesituationen wird der Bundesrat allerdings auch als parteipolitische Arena benutzt. Eine neue Qualität erreichten die damit verbundenen Prozesse im März 2002 mit 296

4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ der Abstimmung über das von der rot-grünen Bundestagsmehrheit verabschiedete Zuwanderungsgesetz. Da sich die CDU/CSU dezidiert gegen den Gesetzentwurf aussprach und im Bundesrat eine Pattsituation zwischen CDU- und SPD-geführten Ländern herrschte, war das Votum Brandenburgs, das von einer „Großen Koalition" regiert wurde, ausschlaggebend. Bei der Abstimmung selbst kam es zu einem Eklat, als der brandenburgische Innenminister Schönbohm (CDU) dem zustimmenden Votum des Arbeitsministers und Stimmführers Ziel (SPD) widersprach. Bundesratspräsident Wowereit (SPD) bat den brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe (SPD) daher um ein klärendes Votum und wertete dessen Zustimmung als „Ja". Hierauf kam es zu tumultartigen Szenen, sprachen Vertreter der CDU/CSUgeführten Länder von „Verfassungsbruch", verließen sie den Saal unter Protest und drohten mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, die nach Unterzeichnung des Gesetzes durch Bundespräsidenten Rau dann auch folgte. Dieser Vorfall gibt Anlass zu einigen interessanten Schlussfolgerungen. So erwies sich aus verfassungsrechtlicher Perspektive nach über 50-jähriger Staatspraxis erstmals, dass die Regelungen des Grundgesetzes zur Stimmabgabe und -wertung im Bundesrat nicht hinreichend präzise sind, insbesondere wie bei einem Verstoß gegen die Einheitlichkeit der Stimmabgabe (Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG) zu verfahren ist. Bezüglich dieser Frage waren sich zunächst auch die Staatsrechtslehrer uneinig. Wollten die einen die Stimmabgaben auch nach dem wiederholten Votum des brandenburgischen Ministerpräsidenten als ungültig gewertet wissen, da es keine grundgesetzliche Hierarchie unter den Bundesratsmitgliedern gebe, ein Verweis auf landesverfassungsrechtliche Richtlinienkompetenzen mithin ausscheide, betonten die anderen dagegen die Verfassungskonformität sowohl der Nachfrage des amtierenden Bundesratspräsidenten als auch dessen Wertung der Stimmen Brandenburgs - nicht nur mit Verweis auf die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten, sondern auch darauf, dass die Länder (und nicht einzelne Bundesratsmitglieder) nach Art. 51 G G Träger des Stimmrechts seien. Das von den CDU-geführten Ländern angerufene Bundesverfassungsgericht (BVerfG, 2 BvF 1/02 vom 18.12.2002, Absatz-Nr. 1-180) erklärte die Bundesratsabstimmung mit folgender Argumentation für verfassungswidrig und damit das Zuwanderungsgesetz für nichtig: „ l . D e r Bundesrat ist ein kollegiales Verfassungsorgan des Bundes, das aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht. 2. Die Länder wirken durch den Bundesrat nicht unmittelbar an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen U n i o n mit, sondern vermittelt durch die aus dem Kreis der Landesregierungen stammenden Mitglieder des Bundesrates. Die Länder werden jeweils durch ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten. 3. Die Stimmen eines Landes im Bundesrat werden durch seine Bundesratsmitglieder abgegeben. Das Grundgesetz erwartet die einheitliche Stimmenabgabe und respektiert die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen. 4. Aus der Konzeption des Grundgesetzes für den Bundesrat folgt, dass der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden kann und damit die Voraussetzungen der Stimmführerschaft insgesamt entfallen. 5. Der die Abstimmung leitende Bundesratspräsident ist grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. D a s insoweit bestehende Recht zur Nachfrage entfällt allerdings, wenn ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht besteht und nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten ist, dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde."

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat Verfassungspolitisch verweist der Fall vor allem darauf, dass der Bundesrat nicht nur seinem traditionellen Selbstverständnis nach, sondern auch seiner institutionellen Grundlagen zufolge ein denkbar schlechtes Organ für die Austragung parteipolitischer Auseinandersetzungen ist. Unter strategischen Gesichtspunkten verfügt der kleinere Koalitionspartner einer Landesregierung immer über „Obstruktionspotential", solange Koalitionsverträge (wie derzeit üblich) bei Meinungsverschiedenheiten Stimmenthaltung im Bundesrat vorsehen, letztere jedoch aufgrund der grundgesetzlichen Mehrheitsregel (absolutes Mehr der Gesamt stimmen) wie ein Negativvotum wirkt. Empirisch-analytisch schließlich gilt es zu bedenken, dass dieser für alle Beteiligten peinliche Vorfall, der zurecht vom Bundespräsidenten „gerügt" wurde, nur unter sehr spezifischen Voraussetzungen zustande kommen konnte. Erstens musste eine Pattsituation zwischen „Α-Ländern" und „B-Ländern" im Bundesrat bestehen (dies war schon wenige Wochen später aufgrund des Landtagswahlerfolgs der C D U in Sachsen-Anhalt nicht mehr der Fall). Zweitens war für die gleichsam bühnenreife Eskalation die Existenz einer „Großen Koalition" in (mindestens) einem Bundesland erforderlich, in dem die Protagonisten (Stolpe und Schönbohm) das erkennbar gute Koalitionsklima erhalten wollten, ohne Parteiloyalitäten zu verletzen. Drittens bestanden im Vorfeld der Abstimmung seitens der Regierungs- wie Oppositionsparteien auf Bundesebene klare Vorgaben bezüglich des jeweiligen Votums, die von allen anderen Ländervertretern strikt befolgt wurden. Dass parteipolitische Geschlossenheit auch bei wichtigen Abstimmungen im Bundesrat alles andere als selbstverständlich ist, verdeutlicht die bereits erwähnte Abstimmung über die Steuerreform 1999, bei der es Bundeskanzler Schröder gelang, die Zustimmung der von Großen Koalitionen regierten Länder Berlin, Brandenburg und Bremen entgegen den vorherigen Absprachen innerhalb der CDU/CSU - durch finanzielle Zusagen zu gewinnen. Fasst man die Funktionen des Bundesrates zusammen, ergibt sich folgendes Fazit: Erstens stabilisiert der Bundesrat den deutschen Verwaltungsföderalismus. Unterhalb der Ebene der Politik kommt es zu einem dauerhaften Arrangement zwischen den Bürokratien des Bundes und der Länder. Dieses Arrangement zu gewährleisten, ist mühsam und zeitaufwendig, fast nie aber erfolglos. Dem Vermittlungsausschuss gelang nur gelegentlich keine Einigung. Von 1949 bis Juli 2002 (778. Sitzung) beriet der Bundesrat 977 allgemeine Verwaltungsvorschriften, wobei er in nur sieben Fällen seine Zustimmung versagte. Als besonders kooperationsfreudig gilt der Finanzbereich. Hier benötigt man zwar erhebliche Zeit, um etwa die Einkommens- oder Lohnsteuerrichtlinien (Allgemeine Verwaltungsvorschriften) einvernehmlich zu beschließen und zu verändern, doch hat man Wege gefunden, die zeitaufwendige Koordination - und gelegentlich auch den Bundesrat - zu umgehen: Das Bundesfinanzministerium „schreibt" im Benehmen mit den Landesfinanzministerien, die das Schreiben in Erlasse umsetzen. Nur so ist rasch etwa auf Urteile des Bundesfinanzhofs zu reagieren. Auch in anderen sensiblen Bereichen (etwa der Gewerbeaufsicht) erweist sich derlei als machbar. Zum Zweiten trägt der Bundesrat zur politischen Unitarisierung der Bundesrepublik bei, solange er die Aufgabenverschiebung zum Bund hinnimmt, wenn nur seine eigene Position gewahrt bleibt (Zustimmungspflichtigkeit von Gesetzen und ausschließlicher Vollzug durch die Landesverwaltung). Der Bundesrat stärkt dabei die föderalstaatliche Ordnung, schwächt aber deren Aufgabenteilung. Dagegen regt sich seit geraumer Zeit Protest. Dieser kommt vor allem von den mehr und mehr ausgeschalteten Landtagen, aber auch zunehmend von den Ministerpräsidenten jener Länder, die wirtschaftlich stark sind und somit der Hilfe des Bundes entbehren können (Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg). So betonte man bereits in den 1980er Jahren die normativen wie funktionalen Vorteile einer Regionalisierung der Willensbildung und Entscheidung, sprach von einem „Aufbruch der Teil-

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4. Der Bundesrat: Ländervertretung und politisches Organ Staaten" (Bulling-Kommission, 1985) und erhob - anlässlich der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1985) - erstmals nachdrücklich Anspruch auf eine verstärkte Beteiligung an der europapolitischen Willensbildung (s. R. HrbeklU. Thaysen, 1986). Die letztbenannte Forderung wurde bei der Neufassung des Art. 23 G G (1993) insofern berücksichtigt, als dem Bundesrat erweiterte Mitwirkungsrechte „in Angelegenheiten der Europäischen Union" zugesprochen wurden. Dazu zählen insbesondere das Letztentscheidungsrecht, wenn „im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind" (Art. 23 Abs. 5 GG), sowie die „Wahrung der Rechte der Bundesrepublik" in europäischen Gremien durch einen „vom Bundesrat benannten Vertreter" bei Gesetzgebungsmaterien, die in ausschließlicher Länderkompetenz liegen (Art. 23 Abs. 6 G G ) . Diese verfassungspolitische Reaktion auf die „Europäisierung" des deutschen Föderalismus greift die Bedenken der Länder gegenüber dem „verkappten Einheitsstaat" (H. Abromeit, 1992) indes nur zum Teil auf. Abgesehen davon, dass die in die Kritik geratenen Gemeinschaftsaufgaben und ihre Mischfinanzierung unverändert fortbestehen, setzt sich hier die Logik der „Politikverflechtungsfalle" (F. W. Scharpf) fort, der zufolge die „Abwanderung" materieller Zuständigkeiten der Länder über Mitbestimmungsrechte auf Bundesebene kompensiert werden. Ein „starker" Bundesrat begünstigt jedoch weitere Unitarisierungsprozesse, wohingegen eine „Revitalisierung" der Länder - politisch eines der möglichen Modernisierungskonzepte - seine Kompetenzen beeinträchtigen könnte. An der zwiespältigen Situation des Bundesrates als Bundesorgan und Ländervertretung hat die „Europäisierung" mithin nichts geändert, sie eher noch forciert. Drittens schließlich ist die Stärkung des Bundesrates nur sehr begrenzt mit den Theorien der Gewaltenteilung zu vereinbaren. Gewaltenteilend müssten im Bundesrat andere Gesichtspunkte zur Geltung kommen; in einem Balancesystem sollten die konkurrierenden Organe eine vergleichbare demokratische Legitimation haben - weshalb die amerikanischen Senatoren in freier Wahl gewählt und vom Wähler nach ihrem Verhalten im Senat beurteilt werden. Wenn sich der Bundesrat gern als Zweite Kammer geriert, dann ist er dies im Sinne vorparlamentarischer Verfassungen, nach denen gewählte Volksvertreter in der einen Kammer mit Mitgliedern einer anderen Kammer, deren Mitgliedschaft auf anderen Gründen beruhte, konkurrieren und sich ggf. verständigen mussten. Noch einmal: Die Bundesratsmitglieder verfügen im Bundesorgan Bundesrat über keine demokratische Legitimation. Ihr Wirken mag der Bundespolitik zugute kommen. Hier steht aber nicht zur Debatte, o b etwa die Bundestagsmehrheit vor 1982 und nach 1990 eine in sich vernünftige Politik oder nicht gemacht und wie der Bundesrat diese Politik gebremst oder verbessert hat. Verfassungspolitisch geht es ausschließlich um den „Rang" der Volksvertretung im Bund. D a sie sich nicht immer, aber doch in vielen entscheidenden Fragen dem Bundesrat anpassen oder sogar vor ihm zurückstecken muss, ist ihr Rang geschmälert. Das wird wenig sichtbar, solange der kooperative Föderalismus funktioniert - meist analog zur Kooperation mit der Opposition. Ist das aber nicht der Fall, geht es mithin um reale Macht, dann ist im Bund die Mehrheitsherrschaft nicht nur durch die Verfassung und das sie schützende Bundesverfassungsgericht begrenzt, sondern im Zweifel eben auch durch eine andere Mehrheit ohne direkte Legitimation. Dies mag - durch Machtverteilung - den Inkrementalismus der Politik fördern, es trägt aber auch zur Entmachtung des Parlaments bei, zur Bedrohung seiner wichtigsten originären Kompetenz.

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat

5. Der Bundespräsident: das Staatsoberhaupt als „Hüter der Politik" Unter den obersten Organen der Bundesrepublik Deutschland findet sich das Amt des Staatsoberhauptes in der schwächsten Position (vgl. außer den Verfassungskommentaren vor allem U. Scheuner, 1966; W. Kaltefleiter, 1970; Ε. H. M. Lange, 1978; K. Schiaich, 1987; sowie M. Jochum, 20002). Das verwundert angesichts der unmittelbaren historischen Erfahrung nicht. Die Lage nach 1945 führte fast zwangsläufig dazu, dass die Zuwendung des Verfassungsgebers der Regierung, die Sorge aber dem Parlament und das Misstrauen dem Staatsoberhaupt gehörten. Zwar behielt man dieses Organ bei, reduzierte seine Funktion aber so weit als möglich und verzichtete auch auf eine unmittelbare Volkswahl, um mit der etwas umständlichen Konstruktion der Bundesversammlung zu gewährleisten, dass sich aus der Wahl kein überparteilicher Führungsauftrag ableiten lässt. Weiter machte man die Bundesregierung vom Vertrauen des Bundespräsidenten unabhängig und räumte dem Staatsoberhaupt lediglich im Falle eines ausgeprägten Organstreites gestaltende Möglichkeiten ein. Die hier interessierende Frage lautet daher: Was hat sich aus dieser Amtsausstattung entwickelt? Zunächst einige wenige Hinweise zur Rechtslage: Das Grundgesetz widmet seinen Abschnitt V dem Bundespräsidenten, ohne dort die Funktionen des Staatsoberhauptes vollständig darzulegen. Es regelt die Wahl des Präsidenten, klärt die Voraussetzungen der Wählbarkeit, nennt die Amtsdauer, bestimmt das Wahlverfahren der Bundesversammlung (Art. 54 GG) und formuliert einen Amtseid (Art. 56 GG). Auch gehören zu dieser Gruppe von Verfassungsartikeln Art. 57, der festlegt, dass der Bundespräsident vom Bundesratspräsidenten vertreten wird, sowie Art. 58 (Regelung der Gegenzeichnung). Abgesehen von genau bezeichneten Akten (Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers, Auflösung des Bundestages gemäß Art. 63 GG und Ersuchen gemäß Art. 69 Abs. 3 GG) erhalten Anordnungen und Verfügungen des Präsidenten nur bei Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder der zuständigen Ressortminister Gültigkeit - die letzteren übernehmen damit die parlamentarisch-politische Verantwortung, während der Präsident selbst keine unmittelbare Verantwortung trägt. Die Möglichkeit der Anklage nach Art. 61 GG darf als Regel für einen kaum denkbaren Ausnahmefall außer Betracht bleiben. Hinsichtlich konkreter Funktionen des Bundespräsidenten verweist Abschnitt V des Grundgesetzes nur auf die „völkerrechtliche Vertretungsmacht", die in Abs. 1 des Art. 59 GG in der klassischen Manier formuliert ist („Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt [...] Verträge [...], beglaubigt und empfängt die Gesandten"), während Abs. 2 sogleich die Parlamentarisierung hinzufügt, der zufolge für alle wichtigeren Verträge ein Bundesgesetz erforderlich ist. Im folgenden Artikel geht es dann noch um das Ernennungsrecht (Bundesrichter und -beamte, Offiziere und Unteroffiziere, soweit nicht gesetzlich anderes bestimmt ist) und um das Begnadigungsrecht, beides Befugnisse, die übertragen werden können. Minimale eigene Aufgaben dieser Art werden ergänzt durch Funktionen in Sonderfällen: Nach einer Bundestagswahl schlägt der Bundespräsident dem Bundestag einen Bundeskanzler vor und ernennt ihn im Falle der Wahl. Findet sich keine Mehrheit und kann sich der Bundestag nicht auf einen anderen Kandidaten einigen, ermöglicht Art. 63 in Abs. 4 die Wahl nur durch die „meisten" Stimmen, wobei der Präsident dann entweder die Ernennung oder die Auflösung des Bundestages aussprechen kann. Auch bei der Regierungsbildung ist der Bundespräsident beteiligt, da er auf Vorschlag des Bundeskanzlers die Bundesminister ernennt und entlässt. Strikt gebunden ist wieder das Ernennungsrecht des Präsidenten im Falle der erfolgreichen Anwendung des konstruktiven Misstrauensvotums: wenn das Parlament mit Mehrheit eine Kanzler wählt, hat ihn der Präsident zu ernennen. Ein „Kann"300

5. Der Bundespräsident: das Staatsoberhaupt als „Hüter der Politik" Recht ergibt sich dagegen aus Art. 68 GG; bei verneinter Vertrauensfrage kann der Bundespräsident den Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers auflösen, ein Recht, das bei rechtzeitiger Wahl eines anderen Kanzlers wieder erlischt. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch das Ersuchen nach Art. 69 Abs. 3 G G zu erwähnen; der Präsident kann den Kanzler oder einen Minister ersuchen und damit verpflichten, die Geschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterzuführen. Neben solchen Rechten im Organbildungsprozess geht es darüber hinaus um die Mitwirkung an der Gesetzgebung. Hier regelt Art. 82 G G den Normalfall: „Die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet." Das eröffnet den Streit um das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten. Zu erwähnen ist schließlich noch die Beteiligung des Bundespräsidenten im Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG. Der Bundespräsident braucht im Falle einer gescheiterten Vertrauensfrage nach Art. 68 G G den Bundestag nicht unbedingt aufzulösen; er kann auf Antrag der Bundesregierung auch den Gesetzgebungsnotstand für eine Gesetzesvorlage erklären, wozu er allerdings der Zustimmung des Bundesrates bedarf, der dem Gesetz dann zur Gültigkeit verhilft. Fasst man dies alles zusammen (einschl. Art. 115a und 115 Abs. 1 GG), ist in der Hauptsache auf prohibitive Rechte zu verweisen, die das Staatsoberhaupt in der Regel nur auf Vorschlag oder unter Mitwirkung anderer Organe - zumeist des Bundeskanzlers - wahrnehmen darf. Der Bundespräsident kann von sich aus nicht tätig werden, keinen Vertrag schließen und keinen Beamten ernennen; ob er dann aber tätig werden muss, bleibt vielfach offen. Er hat unzweifelhaft ein Gesetz auszufertigen, das nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen ist. Wieweit er dagegen berechtigt und verpflichtet ist, die Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, ob es sich insbesondere nur um eine formale Prüfung oder auch um eine materielle handelt, die dann in Konkurrenz zur materiellen Verfassungsmäßigkeitsprüfung des Bundesverfassungsgerichts stünde, bleibt unklar (vgl. K. Stern, 1980, S. 228 ff. mit der einschl. Literatur); ebenso bleibt es offen, ob man den Präsidenten je belangen könnte, wenn er ein offenkundig verfassungswidriges Gesetz ausfertigt, das Parlament und Regierung mit den erforderlichen Mehrheiten ihm vorlegen. Geklärt ist hingegen, dass der Präsident nicht zu belangen ist, wenn er im Einzelfall die Ernennung eines Beamten oder die Beglaubigung eines Gesandten ablehnt; die Regierung muss den Konflikt vermeiden. Wenn Verfassungsbestimmungen unklar sind, besagt dies allerdings auch, dass der Bundespräsident keine starke, aber auch keine gänzlich schwache Stellung hat; man muss ihn jedenfalls anhören und seine Zweifel berücksichtigen. Stärker ist die Stellung dann, wenn in der Verfassungspraxis Schwierigkeiten entstehen, wenn es zum Konflikt zwischen Parlament und Regierung kommt, also die Grundvoraussetzung des parlamentarischen Systems, das Miteinander von Regierung und Parlamentsmehrheit, nicht mehr gegeben ist. Alle diese Sonderrechte sind bislang jedoch noch nicht so angewendet worden, dass es dabei entscheidend auf das Verhalten des Präsidenten angekommen wäre, sofern man von der Auflösung des Bundestages 1983 absieht, mit der Bundespräsident Carstens sein Ermessen zugunsten von Helmut Kohl und zu Lasten der Verfassung ausgeübt haben dürfte. Die Vorstellungen vom Amt des Präsidenten werden deshalb aus anderen Quellen gespeist. Der Betrachter des Amtes muss vor allem fragen, wie die bisherigen Bundespräsidenten das Amt verstanden und wahrgenommen haben (vgl. u. a. E. Jäckel/H. Möller/H. Rudolph, 1999; G. ScholzIF. K. Fromme, 2001). Den Ausschlag geben dabei die ersten beiden Präsidenten, die jeweils über zwei Amtsperioden tätig waren. So wenig man zunächst Theodor Heuss und Heinrich Lübke miteinander vergleichen kann: Gemeinsam haben sie aus der Not eine Tugend gemacht und das zugesprochene Amt mehr oder weniger ausschließlich auf die

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat eigene Person bezogen. Sie haben damit das Amt des Staatsoberhauptes entpolitisiert. Eine solche Feststellung lässt sich begründen, wenn man folgende allgemeinere Überlegungen einbezieht. Unabhängig von der konkreten Bestimmung eines politischen Amtes, wie sie sich aus rechtlichen Voraussetzungen, Zuständigkeiten, persönlicher und sachlicher Verfügungsmacht, dem Einbau in den Nachrichtenfluss, der Zahl der unmittelbaren Hilfskräfte, der eigenen Person und aus der politischen Gesamtkonstellation ergibt, ist, abstrakt betrachtet, jedes politische Amt oder Mandat zunächst ein mehr oder weniger abgrenzbares Betätigungsfeld, auf dem es gilt, objektive Gegebenheiten durch Einsatz der eigenen Person anzunehmen, zu verändern und auszuweiten, um auf diese Weise den erteilten Auftrag, sei er mehr festgelegt oder eher offen, zunächst zu interpretieren und dann auszufüllen. Im Vergleich etwa zu der Position eines Beamten in hoher Stellung ist dabei die Interpretationschance des Politikers von Bedeutung. Auch der Beamte entscheidet, in welchem Umfang er seine Energie, sein Machtstreben und die seinen persönlichen Vorstellungen folgende Motivation ins Amt einbringen will. Auch ihm verbleibt dabei ein weiter Handlungsspielraum, in dem er überzeugen und überreden und die objektiven Organisationsbedingungen nutzen kann. Diese aber sind ihm vorgegeben, der Amtsumriss ist relativ festgelegt; Tradition, Behördenstil, Dienstrecht, Geschäftsordnungen sind zu beachten. Hinzu kommt aber vor allem: Der Beamte muss das, was er erreichen will, im Amt und unter dessen Bedingungen erreichen wollen - wenn wir den Sonderfall dessen außer Acht lassen, der sich nebenbei politisch betätigt und durch politischen Einfluss Vorgesetzte und gegebene Strukturen zu überspielen vermag. Anders beim Politiker, dessen Amtsumriss weniger festgefügt ist, der unterschiedliche Rollenbezüge einsetzen kann und soll, der also seine Person stärker zur Geltung bringen darf. Ein Minister kann einflussreich sein, weil er hinter sich die Macht eines großen Ministeriums weiß, weil er Ministerkollegen überragt, weil ihn eine ganze Partei oder eine wichtige Parteigruppierung unterstützt, oder weil er mehr Zugang zur Öffentlichkeit hat als andere Kollegen. Demzufolge ist - sehr konkret - die Position eines Abteilungsleiters im Bundesinnenministerium relativ personenunabhängig, die des Ministers nicht. Als das Grundgesetz in Kraft trat und die obersten Staatsorgane in Bonn gebildet wurden, kam den ersten Inhabern die Chance zu, ihr Amt unter weitgehend offenen Bedingungen zu prägen. Ihre Nachfolger hatten es in dieser Hinsicht schon schwerer, an der Gestaltungsmöglichkeit verändert sich aber wenig. Der Politiker wird deshalb, übernimmt er ein Amt, den Versuch machen müssen, zugleich amts- und personenbewusst zu handeln. Er wird mithin Macht, Zuständigkeit und Einfluss des vorgegebenen Amtes wahren, wird sich darin aber nicht verlieren, sondern seine Person zur Geltung bringen. Er wird unterlassen, was er nicht kann, und betonen, worin er sich kompetent und stark fühlt. Er wird sich vor allem nicht dadurch „abnutzen" lassen, dass er sich in eine nicht mehr kontrollierbare Abhängigkeit begibt, wie sie meist dann entsteht, wenn etwa ein Minister ohne Verwaltungserfahrung verwaltungstechnisch von seiner Bürokratie „an die Leine genommen" wird, oder wenn ein Minister ohne näheren Bezug zu der von ihm zu vertretenden Politik sich zum Wortführer seiner Berater machen lässt. Wie stark hier die Gestaltungsmöglichkeiten sind, wird besonders an denjenigen politischen Funktionen sichtbar, die relativ isoliert sind. Was Adenauer aus seinem Amt als Bundeskanzler gemacht hat, lässt sich kaum mit dem vergleichen, was später Erhard versuchte - und woran er scheiterte. All dies gilt auch für das Amt des Bundespräsidenten. Seine spärliche Zuständigkeit ist grundgesetzlich festgelegt; welche Funktionen sich daraus ergeben, ist personal zu interpre-

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5. Der Bundespräsident: das Staatsoberhaupt als „Hüter der Politik" tieren. Theodor Heuss hatte dabei größere Chancen als sein Nachfolger. Seine Persönlichkeit sicherte ihm einen Öffentlichkeitszugang, der sich jederzeit auch für das Amt nutzen ließ, nachdem man vergaß, welche taktischen Überlegungen dazu geführt hatten, dass das Präsidialamt 1949 zunächst der F D P überlassen blieb. Da Theodor Heuss oft genug gewürdigt wurde, braucht dem hier nichts hinzugefügt zu werden. Für die folgenden Erwägungen ist allein die Feststellung wichtig, dass er insgesamt wenig amtsbezogen handelte. Dies in Kürze zureichend zu belegen, ist schwer. Ein Urteil über seine persönlichen Motive verbietet sich angesichts der veröffentlichten Unterlagen. Im vorliegenden Zusammenhang kann man sich allerdings damit begnügen, die öffentliche Position des ersten Bundespräsidenten zu betrachten. Sie ergab sich vor allem aus Repräsentationshandlungen, aus dem persönlichen Auftreten, aus der Schlagfertigkeit und aus einigen wenigen Versuchen, gestaltenden Einfluss auszuüben. Dabei scheiterte die Einführung einer neuen Hymne, während sich Heuss in der Frage des militärischen Schmuckes allmählich in eine Rückzugsposition begab und mit der Einführung des Bundesverdienstkreuzes dem Gemeinwesen einen durchaus diskussionswürdigen Dienst leistete. Wichtig ist an dieser Stelle das, was fehlt. Der Bundespräsident hat die Möglichkeit, zu den bestinformierten Funktionsträgern auf Bundesebene zu gehören. Er kann den Leiter seines Amtes zu jeder Kabinettssitzung entsenden, er kann erwarten, regelmäßig vom Kanzler persönlich informiert zu werden, er zelebriert eine Art republikanischen Hof. Von all dem hat auch Heuss Gebrauch gemacht. Er hat darüber die Öffentlichkeit aber nicht informiert, sein Ort in der Politik blieb weithin unbekannt. Seine unbestritten würdige Repräsentation der Bundesrepublik beeinflusste den politischen Stil in Bonn kaum, obwohl sich hierzu Möglichkeiten boten. Erinnert sei nur an die miserable Behandlung der Opposition durch Adenauer. Wenn es der Bundeskanzler schon nicht fertig brachte, durch regelmäßigen Umgang mit dem Oppositionsführer dessen Funktion zu respektieren, Heuss hätte das tun können. Allein die Meldung, der Bundespräsident habe sich vom Bundeskanzler und anschließend vom Oppositionsführer unterrichten lassen, hätte Entscheidendes bewirkt. Insgesamt mag man sagen, dass Heuss sein Amt - nicht seine persönliche Position - entscheidend durch Adenauer interpretieren ließ oder aber sich mehr und mehr als eine Art Gegenpol zu Adenauer, als Repräsentant einer anderen Form der Politik verstand (so die These von E. Pikart, 1976). Warum es dazu kam, ist schwer zu erklären. Es lag sicher nicht in der Absicht von Heuss, sich an den Rand der Politik drängen zu lassen, aber er nahm es dann hin - spätestens 1952 in Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zum beabsichtigten Wehrbeitrag (vgl. Institut für Staatslehre und Politik, 1952). Was hier wirklich geschehen ist, wissen wir nicht. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass Heuss seinen damaligen Rückzug auf Drängen Adenauers einleitete und dann wenig Widerstand gegen die spätere Abschaffung des Gutachtenverfahrens vor dem Verfassungsgericht leistete, durch die seine Funktion als einer der „Hüter der Verfassung" empfindlich beschnitten wurde. Wir wissen, dass Heuss die Politik Adenauers weithin bejahte, ihr in vielen Fragen aber auch sehr kritisch gegenüberstand. Dass er sich hier zurückhaltend gezeigt hat, mag amtsbewusst gewesen sein, ein Stück Kampfesmüdigkeit tritt aber hinzu (vgl. H.-P Schwarz, 1981). Noch einmal: Es geht hier nicht um die unbestreitbaren Verdienste von Theodor Heuss, sondern um einen bestimmten Aspekt der Amtsführung. Unter ihm betrachtet erschien die Funktion des Amtes 1959 eng auf den Verfassungstext festgelegt, während die persönliche Position des ersten Präsidenten zwar unbestritten war, aber relativ wenig Einfluss auf die Politik gewährte. Als Adenauer mit dem Gedanken spielte, Nachfolger von Heuss zu werden, ging er - so ist sein Verhalten zu interpretieren - zunächst durchaus davon aus, dass er 303

IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat ein wesentlich politischerer Präsident sein würde, zweifelte dann aber mit Blick auf die verfassungsmäßigen Möglichkeiten und beschwor damit die unwürdige Situation herauf, in der jeder künftige Bundespräsident einerseits an den Maßstäben gemessen werden muss, die Heuss gesetzt hat - und es waren dies ausschließlich persönliche Maßstäbe - , andererseits dem Eindruck ausgeliefert ist, den Adenauer vermittelte und nach dem es sich für einen Mann von Tatkraft nicht recht lohne, dieses Amt zu übernehmen. An beidem ist Heinrich Lübke gescheitert. Mit Heuss konnte er intellektuell nicht konkurrieren, Adenauer war er politisch nicht gewachsen. Man darf vermuten, dass Lübke mit dem festen Vorsatz ins Amt gegangen ist, dieses politisch stärker zu akzentuieren und seine Rechte mehr auszuschöpfen - bis hin zu der Position, die er sich in der Bundestagswahl 1965 zusprach. Das alles schwand aber rasch, und was übrig blieb - die Plattform der Repräsentation und des persönlichen Auftretens - vermochte Lübke nicht auszufüllen (eine freundlichere Argumentation findet sich bei R. Morsey, 1996). Seine Reisefreudigkeit kann als Ersatz für die ursprünglichen Absichten verstanden werden. Indessen kam, was kommen musste; da das Amt ganz auf die Person abgestellt war und Lübke das nicht zu verändern vermochte, musste er einsetzen, was er einzusetzen hatte. Das Vorstehende impliziert die Behauptung, nach 1949 wäre eine andere Entwicklung denkbar gewesen. Blickt man unter diesem Aspekt noch einmal auf das Amt des Bundespräsidenten, dann ergibt sich rasch, dass nicht die grundgesetzlich geregelten Aufgaben nach Art. 59, 60, 63, 64, 67, 68 und 82 GG und die nach den für den Verteidigungsfall und den Notstand hinzugekommenen Vorschriften im Mittelpunkt des Interesses stehen. Wichtiger ist die zentrale Frage nach dem Sinn des Amtes. Anders formuliert: Warum hat man in der parlamentarischen Demokratie die Funktion des Staatsoberhauptes beibehalten, auch wenn sich diese auf die Ratifikation von Entscheidungen beschränkt und mit nur wenig eigener Verfügungsgewalt verbunden ist? War nach den Worten Theodor Eschenburgs der Präsident der Weimarer Verfassung „Ersatzkaiser", kann das republikanische Staatsoberhaupt insgesamt eher als eine Art von Ersatzmonarch gesehen werden. Er repräsentiert die Einheit des Staates und gewährleistet nach außen, dass etwaige Kompetenzstreitigkeiten zwischen den einzelnen Organen, vor allem zwischen Parlament und Regierung, nicht zu Rechtsunsicherheit führen. Er verdeutlicht darüber hinaus nach innen, dass personelle und materielle Entscheidungen, gleichgültig von welcher Mehrheit und von welcher Regierung sie getroffen werden, nunmehr für alle gelten. Auf dieser Ebene lassen sich noch zahlreiche Begründungen hinzufügen. Zwingend sind sie alle nicht. Niemand nimmt daran Anstoß, dass der amerikanische Präsident Chef der Exekutive und Staatsoberhaupt zugleich ist, obgleich die relativ strenge Gewaltenteilung zwischen Präsident und Kongress ersteren leicht in die Rolle eines streitenden Organs bringen kann. Umgekehrt weiß jeder, dass die Verfahrensvollmachten der niederländischen oder der belgischen Monarchie weithin unwichtig sind, während den symbolischen Funktionen hohe Bedeutung zukommt. Ob Belgien eine Wendung zur Republik überleben würde, ist ungewiss. Die englische Monarchie ist demgegenüber keineswegs unersetzlich. Auf der Insel würden sich aber kaum zwei Staaten konstituieren, wenn man des Monarchen überdrüssig würde. Allerdings stellt sich diese Frage nicht, weil in England Tradition auch dann akzeptiert wird, wenn man sie für überflüssig hält. Schwierig wird es innerhalb demokratischer Traditionen erst, wenn sich Rollenunklarheiten ergeben - wie etwa bei Präsident de Gaulle, der unbedenklich alle Privilegien des Staatsoberhauptes in Anspruch nahm, zugleich aber die Regierung als seine Sache betrachtete. Blickt man auf die Funktion des Staatsoberhauptes allein, ist die Nähe zur monarchischen Tradition unverkennbar und sind es Beispiele aus Monarchien, mit deren Hilfe noch am 304

5. Der Bundespräsident: das Staatsoberhaupt als „Hüter der Politik" ehesten interpretiert werden kann, was das Amt mit sich bringt. So wird man sagen können, dass aus den unmittelbaren Pflichten heraus die Notwendigkeit eines obersten Amtes ebenso wenig zu begründen ist wie die von Monarchien in parlamentarischen Demokratien. Eher erscheint das Amt wünschenswert, weil die enge Verbindung zwischen Kabinett und Parlament den Regierungschef stark auf die Mehrheit festlegt (und umgekehrt), es also durchaus erwägenswert ist, einige wichtige Formalien zuletzt weder dem Regierungschef noch dem Parlamentspräsidenten zu überlassen. Letztlich ist der Regierungschef zu parteiergreifender Aktivität gezwungen und muss sein Auftreten der Rechtfertigung seiner Politik dienen, während das aus der unmittelbaren politischen Aktivität herausgenommene Staatsoberhaupt eher allgemeinen Ansprüchen zu genügen vermag. Um ihretwillen, nicht um der Unterzeichnung von Gesetzen und Verträgen willen, rechtfertigt sich das Amt. Die Rechtfertigung liegt damit aber nicht in einer wenig sieht- und greifbaren Repräsentanz, nicht im „Darstellen" des Staates, sondern in der Präsenz eines der Politik zugehörigen, ihr in allen ihren wesentlichen Ausprägungen eng verbundenen Amtsinhabers, der in dieser Präsenz das Privileg hat, nicht selbst entscheiden und für seine Entscheidung einstehen, nicht auf seine Wiederwahl achten und in der Regel unmittelbare persönliche Kritik nicht scheuen zu müssen. In diesem Sinne ist der Bundespräsident weder als unerhebliche Galionsflgur noch als bloßer Staatsnotar zu sehen, sondern eher als ein Moderator oder sogar Koordinator der Politik, zur Sorge dafür bestimmt, dass diese Politik, die er nicht zu vertreten hat, nicht nur im verfassungsmäßigen Rahmen verläuft, was an sich selbstverständlich ist, sondern grundlegend auch durch humane Umgangsformen, durch einen sauberen politischen Stil und durch eine (vielfach fehlende) Verständlichkeit ausgezeichnet ist. Der Bundespräsident ist weniger „Hüter der Verfassung" als das Bundesverfassungsgericht, weil er Entscheidungen nur verzögern, nicht aber selbst herbeiführen kann. Wohl aber sollte er Hüter der Politik sein. Die Macht dazu hat er im gesellschaftlich-repräsentativen wie im formalen Bereich. Zu fragen ist, ob er die Autorität dazu hat. Wie allenthalben gibt ihm das Amt die Macht, während er sich die Autorität selbst erwerben muss. Und dies kann nicht durch Einmischen und durch das Erteilen von unerbetenen Ratschlägen geschehen, gefordert sind vielmehr Präsenz, Mitdenken, die Bereitschaft, Streitende an einen Tisch zu bringen, in Auseinandersetzungen auch immer wieder die menschliche Würde zu betonen - kurz: Der Bundespräsident hat keine gestaltende oder leitende, sondern eine pflegende Aufgabe. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe kann nicht in belehrender Weise geschehen, sondern nur durch den ständigen Versuch, den politischen Alltag zu transzendieren, die strengen und anspruchsvollen Funktionsbezüge zu durchbrechen, um es so den Politikern zu ermöglichen, aus ihrer prägenden Einbindung in vorgegebene Organisationsstrukturen heraus zu menschlicher Begegnung zu finden. Allerdings darf man die Maßstäbe nicht überdehnen. Die „pflegende Aufgabe" muss mit einigen wenigen Mitteln erfüllt werden: durch öffentliche Auftritte, durch die Möglichkeiten der Selbstdarstellung (Heinemann als „Bürgerpräsident") und schließlich und vor allem durch Reden. Mit seinen Reden hat Heuss etwas von dem ausgeglichen, was er dem Amt nicht verschafft hat: die unmittelbare Zugehörigkeit zur Politik. Mit ihren Reden haben auch einige seiner Nachfolger einen wichtigen Beitrag geleistet - vor allem Heinemann, von Weizsäcker und Herzog. Das Instrument ist allerdings nicht ohne Tücken. Der Präsident „ d a r f ' selbstverständlich nicht gegen die Regierungsinteressen sprechen - schon gar nicht im Ausland. Er „muss" aber in der Tradition von Heuss möglichst seine eigenen Reden vortragen, nicht die der Mitarbeiter. Er hat das in Grenzen entpolitisierte Amt individuell aufzuwerten. Das kann er vor allem, wenn er auf seine Weise Probleme artikuliert - manchmal eher visionär wie Heinemann und Scheel oder eher nüchtern klärend oder auch mahnend wie von Weizsäcker. Wer „redet", gerät allerdings immer in eine Situation, in der man sich

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IV. Parlament und Regierung: Politikformulierung im Bundesstaat

mit ihm auseinandersetzt. Dafür eine Form anzubieten, die entgegenstehende Meinungen und damit Angriffsflächen nicht verschleiert, die Auseinandersetzung also fruchtbar werden lässt, setzt intellektuelles Vermögen und politische Erfahrung voraus. Dies konnte man auch bei Roman Herzog (1994-99) beobachten, der in zahlreichen Beiträgen den „Eliten der Republik" ein nicht unbeträchtliches Versagen vorhielt und für einen „Ruck nach vorn" plädierte. Insbesondere seine „Berliner Rede" (1997), als Medienereignis im wiedererbauten Hotel Adlon inszeniert, zielte auf die Republik im Übergang zur Normalität, auf ein bestimmtes Beharrungsvermögen, auch auf eine Ängstlichkeit, die im Alltag der politisch, ökonomisch und sozio-kulturell Handelnden deutlich wurde. Dabei vermied es der Präsident, diejenigen konkreter zu benennen, die er zum Handeln aufrief. Das wiederum machte ihn verletzbar, weil für einige die Rede konsequenzlos blieb und durchaus „wohlfeilen" Charakter annahm. Mit der Person Herzogs verbindet sich im Übrigen auch die Frage, welche politischen Funktionen ein Bundespräsident nach dem Ende seiner Amtszeit übernehmen kann oder sollte. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf den Konvent zur Erarbeitung einer Europäischen Grundrechtecharta (2000) zu verweisen, dem Roman Herzog eher als renommierter Rechtswissenschaftler denn als ehemaliger Inhaber des höchsten Staatsamts der Bundesrepublik Deutschland vorsaß - und den er mit einer von allen Beteiligten gepriesenen Souveränität leitete. Die Mischung aus wissenschaftlichem Sachverstand und politischer Aura führten zu parteienübergreifender Anerkennung. Anders verhält es sich mit dem Vorsitz einer CDU/CSU-Kommission zur „Sanierung der sozialen Systeme", den Herzog im Februar 2003 übernahm. Damit wurde er auch formal Akteur im Parteienstreit und gab seine Überparteilichkeit in einer für das repräsentative Amtsverständnis des Bundespräsidenten durchaus diskussionswürdigen Weise auf. Natürlich kann ein Alt-Bundespräsident gelegentlich auch persönliche Positionen in der Öffentlichkeit vertreten, nur sollte er sich dann nicht auch in den Dienst parteipolitisch motivierter und entsprechend zusammengesetzter Expertengruppen stellen lassen. In weit höherem Maße als bei den anderen obersten Bundesorganen behält ein Bundespräsident seine „Aura" auch über die Amtszeit hinaus, sollte er das tradierte Rollenverständnis pflegen. Herzogs Nachfolger Johannes Rau machte in seinen ersten Amtsjahren weniger durch streitbare Reden als vielmehr durch moderierende Beiträge auf sich aufmerksam, die gemäss seinem Wahlspruch „Versöhnen statt Spalten" das Amtsverständnis erkennen ließ. In der Frage des umstrittenen Zuwanderungsgesetzes (s. oben Kapitel IV., 4.2.) bezog Rau dann jedoch klar und wegweisend Position, indem er sich einerseits dem Drängen der Opposition verweigerte, die Unterzeichnung des Gesetzes zu versagen (wobei er in einer ausführlichen Begründung auf das Bundesverfassungsgericht als rechtliche Prüfinstanz verwies), andererseits jedoch allen am „Eklat" im Bundesrat Beteiligten eine in der Geschichte der Bundesrepublik untypische und möglicherweise stilprägende Rüge erteilte: „Ich bin der Auffassung, dass die Art und Weise, wie die Sitzung des Bundesrates am 22. März verlaufen ist, dem Ansehen von Staat und Politik Schaden zugefügt haben. Ich rüge das Verhalten des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und seines Stellvertreters. Ich rüge und ermahne aber auch alle übrigen, die zu diesem Ansehensverlust beigetragen haben. [...] Die Parteien sollten sich weniger mit sich selber beschäftigen. Jenseits von Machterhalt oder Machtgewinnung müssen sie offen sein für die Probleme, die die Menschen tatsächlich bewegen. Die Parteien sollten sich neu und verstärkt darum bemühen, dass sie ihre Verwurzelung in der Gesellschaft nicht verlieren. Der politische Streit zwischen den Parteien darf sein und muss sein. Der Streit darf aber nicht in einer Art und Weise inszeniert werden, wie das am 22. März im Bundesrat geschehen ist" (Bundespräsidialamt, Presseerklärung vom 20.06.2002).

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5. Der Bundespräsident: das Staatsoberhaupt als „Hüter der Politik" Auch bei weiteren Fragen der politischen Auseinandersetzung bezog Rau dann zunehmend Position, eine Verhaltensweise, die die Anerkennung von Person wie Amt auch und gerade in der Öffentlichkeit förderte. Was bleibt, ist ein durch und durch politisches Amt, verbunden mit entsprechenden Anforderungen an den Amtsinhaber. Er bedarf jener politischen Erfahrung, muss gesellschaftlich gewandt, gebildet und bescheiden sein und den ihm anvertrauten Apparat leiten können. Er muss sich weiter auf beides verstehen: im Stillen zu wirken und öffentlich aufzutreten, d. h. dann auch in die unmittelbare Begegnung mit anderen hereinzuholen, was öffentlich an Glaubwürdigkeit erworben ist, und umgekehrt vor der Öffentlichkeit sinnvoll eine Politik zur repräsentieren, der der Präsident selbst zugehört. Vereinfacht: Der Bundespräsident erfüllt seine Amtspflichten, wenn es eine Ehre und zugleich ein Vergnügen ist, bei ihm zu Gast zu sein; wenn er selten, dann aber gut spricht; wenn er den Eindruck erweckt, es habe einen Sinn, an sein Amt zu schreiben, weil der Brief zumindest an die richtige Stelle weitergeleitet wird, und wenn man glauben kann, dass er liest, was er unterschreibt. Alle diese Anforderungen besagen auch, dass man das Amt missachtet, wenn man immer wieder meint, ein zur aktiven Politik Berufener könne dieses - politisch gesehen - eher bescheidene Amt nicht übernehmen. Solche Vorstellungen beruhen auf einer einseitigen Reduzierung von Politik auf Entscheiden, Fortentwickeln und Gestalten. Zur Politik gehören aber auch die Pflege und die Kunst des Ausgleichs, nicht nur von Interessen, auch nicht nur im Sinne des Aushandelns von Kompromissen, sondern durchaus im Sinne persönlicher Vermittlung zwischen Gruppen, die sich gegenüberstehen. Das bedeutet nicht konservierende Pflege einer Tradition. Es meint vielmehr eine Rolle, nach der keine konkrete Entscheidung herbeigeführt, aber dafür gesorgt wird, dass Entscheidungen in bestimmten Formen zustande kommen. Merkmal solcher „Ämter" ist die Zugehörigkeit zur Politik - auch ohne Entscheidungsmacht.

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y. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik Was für den Einzelnen und die großen gesellschaftlichen Gruppen gilt, muss auch für den Staat und seine Einrichtungen selbstverständlich sein: sich den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und Reformen dort einzuleiten, wo sie unvermeidbar sind. Die angesprochenen Folgen der Vereinigung, der fortlaufende Europäisierungsprozess und die veränderte sozioökonomische Ausgangssituation machen eine Überprüfung von Form und Funktion des öffentlichen Sektors unausweichlich. Der öffentlichen Verwaltung kommt innerhalb einer Darstellung des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland deshalb eine zentrale Bedeutung zu. 1 Dabei geht es zunächst um strukturelle Fragen wie die Position der Verwaltung gegenüber Parlament und Regierung, dann um ihre Aufbau- und Ablauforganisation, schließlich und endlich um die Handlungs- und Leistungsfähigkeit. Die folgenden Ausführungen nehmen hierauf Bezug. Sie umfassen zunächst Grundlagen des Verwaltungsaufbaus, suchen dann die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung näher zu umreißen und verweisen schließlich auf die Rolle der Verwaltung als Organisation und Betrieb. Bei der Kennzeichnung des Verhältnisses zu Parlament und Regierung wird es vor allem darum gehen, spezifische Unterschiede und wechselseitige Beeinflussungen aufzuzeigen. So bedient sich das Parlament des Gesetzes als Führungsmittel, während die Verwaltung informiert, berichtet und vorschlägt. Im Unterschied zum Parlament hat die Regierung dabei unmittelbaren Zugriff auf die Verwaltung. Ihre „Macht" ist entscheidend von deren Existenz und den Handlungsmöglichkeiten abhängig. Umgekehrt wächst die Macht der Verwaltung in dem Maße, in dem die Regierung nicht mehr zureichend Verwaltungsführung leistet. Auf der Basis dieser Diskussion sollte es dann möglich sein, sich auch näher zum Gewicht und zur Bedeutung der Verwaltung innerhalb des Regierungssystems der Bundesrepublik zu äußern. Dabei ist daran zu erinnern, dass Gesetze und politische Entscheidungen für sich allein genommen zunächst noch wenig bedeuten, es vielmehr auch und gerade auf ihren Vollzug ankommt. Diesen Vollzug leistet die öffentliche Verwaltung, sie erledigt die Masse der öffentlichen Aufgaben und bestimmt damit entscheidend das Gesicht des Gemeinwesens, das deshalb gelegentlich auch als „ Verwaltungsstaat" bezeichnet wird. Daran erscheint zumindest richtig, dass die täglich erlebte Abhängigkeit des Bürgers Abhängigkeit von der Verwaltung in Gemeinde, Land und Bund bedeutet und sich damit die Frage verbindet, unter welchen Bedingungen solche Abhängigkeit am ehesten erträglich und mit

1 Das folgende Kapitel ist den Verwaltungswissenschaften zuzurechnen. Über sie informieren u.a. T. Ellwein, 1994, K-Η Mattern, 2000', W. Thieme, 1995, K. KöniglH. Siedentopf, 1997 und J. J. HesselA. Götz, 2004. Eine umfassende, allerdings diskussionswürdige Aufarbeitung findet sich in den voluminösen Werken von B. Becker, 1989 und G. F. Schuppert, 2000. Das Verhältnis von Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft steht im Zentrum der Arbeiten von J. J. Hesse, 1982, 1997, 1998-2002. Die betriebswirtschaftliche Sicht der Verwaltung stellt u.v. H.-J. Schmidt, 1994 vor. Ansätze zu einer Verwaltungssoziologie finden sich nach R. Mayntz, 1978, bei K. Dammannl D. GrunowIK. Japp, 1994. Die verwaltungswissenschaftliche Theoriebildung hat besonders N. Luhmann, 1966, 1970 und 1981, viel zu verdanken. Eine jährliche Bestandsaufnahme der staats- und verwaltungswissenschaftlichen Forschung strebt seit 1987 das Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft an (bis 1992 hrsg. von T. EllweinU. J. HesselR. Mayntz/F. W. Scharpf ab 1993 hrsg. von T. EllweinID. Grimm/J. J. Hesse/G. F. Schuppert); die internationale Diskussion wird seit 1995 unregelmäßig dokumentiert in J. J. HesselT. A. J. Toonen, 1995 ff.

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1. Die Grundlagen des Verwaltungssystems dem Leitgedanken bürgerschaftlicher Mitwirkung zu vereinbaren ist. Dies mündet in die Frage, ob die öffentliche Verwaltung trotz ihrer unbestrittenen Notwendigkeit und offensichtlichen Vorzüge letztlich nicht auch zu einer tendenziellen Überlastung des Staates beiträgt. Die mit ihr verbundenen Kosten, die Ausgaben, die sie durch ihr Tätigwerden verursacht, bestimmen ja zu weiten Teilen den staatlichen Anteil am Bruttosozialprodukt. Erscheint dieser als zu hoch oder nimmt - wie in den vergangenen Jahren deutlich geworden die Staatsverschuldung weiter zu, steht meist auch die öffentliche Verwaltung zur Diskussion. Für ihr Personal (einschließlich der Pensionsleistungen) wird ein beträchtlicher Teil der Steuereinnahmen verbraucht. Da dieses Personal in seinem Anstellungsverhältnis besonders geschützt ist, vermindert sich die Dispositionsfreiheit des Haushaltsgesetzgebers entsprechend. Durch den Bestand des öffentlichen Dienstes sind zudem die öffentlichen Aufgaben bis zu einem gewissen Maße abgesichert. Das System droht unhandlich zu werden.

1. Die Grundlagen des Verwaltungssystems 1.1. Vertikaler und horizontaler Verwaltungsaufbau Die Zahlen zur Entwicklung des öffentlichen Dienstes und der für ihn und seine Tätigkeit notwendigen Kosten geben ein gelegentlich widersprüchliches Bild. Hinzu kommt, dass die Verwaltung der öffentlichen Hand vielfaltig aufgegliedert ist und Wissenschaft wie Praxis zudem um eine Definition der Verwaltung verlegen sind. Sie lässt sich nach einem vielzitierten Wort von Ernst Forsthoff (1973, S. 1) nur beschreiben, nicht aber definieren. Die Beschreibung kann dabei von dem Unterschied zwischen den Gebietskörperschaften (Bund, Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden) und den sonstigen Trägern öffentlicher Aufgaben ausgehen. Man wird dann bei den Gebietskörperschaften die wichtigsten öffentlichen Aufgabenbereiche verankert sehen und in diesem Zusammenhang auch den größeren Teil der öffentlichen Verwaltung. Die übrigen Aufgabenbereiche sind aber keinesfalls zu vernachlässigen. Das Personal der Gebietskörperschaften umfasste am 30.06.2002 (Statistisches Bundesamt, 2003) 4.809.100 Mitarbeiter, von denen 1.288.200 teilzeitbeschäftigt waren (vgl. Materialband, IX/1-3). Von diesen Mitarbeitern entfielen auf den Bund 490.300, auf die Länder und die Stadtstaaten 2.156.000 und auf die Gemeinden und Gemeindeverbände 1.441.700. Damit weist der Bund lediglich zehn Prozent der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst aus, während bei den Ländern 45 und bei den Gemeinden 30 Prozent beschäftigt sind (die verbleibenden 15 Prozent arbeiten im Bereich von Sonderbehörden sowie im sog. mittelbaren öffentlichen Dienst, so der Bundesanstalt für Arbeit, der Deutschen Bundesbank, den Sozialversicherungsträgern sowie diversen Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts). Mit Blick auf die Bruttoausgaben der drei Ebenen trägt der Bund demgegenüber einen Anteil von 27 Prozent am Gesamtvolumen der öffentlichen Ausgaben, während sich die Anteile der Länder und der Gemeinden auf je 26 bzw. 15 Prozent belaufen (der verbleibende Rest der Ausgaben entfällt auf die Sondervermögen des Bundes, den deutschen Anteil am EU-Haushalt sowie die Sozialversicherung, die mit 46 Prozent 2001 den bei weitem größten Anteil der öffentlichen Ausgaben ausmachte). Der Staatsaufwand ist also zwischen Bund und Ländern in etwa gleich verteilt während die Gemeinden abfallen. Bund und Länder haben aber sehr unterschiedliche Teile des Staatsaufwandes zu tragen und zu verwalten. Beim Bund spielt die Umverteilung eine größere Rolle, bei den Ländern eher Bildung und Polizei. Länder und Gemeinden betreuen gemeinsam die beschäftigungsinten-

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik siven Aufgabenbereiche der öffentlichen Hand. Bei ihnen wird deshalb auch das Wachstum des öffentlichen Dienstes besonders sichtbar. Während 1960 etwa 1,48 Mio. Mitarbeiter im Bereich der Länder und Gemeinden tätig waren, verdoppelte sich diese Zahl bis 1979. Nach 1979 verlief das Wachstum aus den bekannten Gründen langsamer, gleichwohl zählte man 1990 bereits 4,19 Mio. Mitarbeiter. Seitdem vermehrte sich das Personal des Bundes nicht mehr nennenswert. Auch kam es hier zu keiner signifikanten Aufgabenvermehrung. Bahn und Post zählten auch schon vor ihrer Privatisierung als „eigener Bereich", während die Angehörigen der Bundeswehr und des (uniformierten) Bundesgrenzschutzes von der offiziellen Statistik überhaupt nicht einbezogen wurden.2 Der Bund ist nach der Privatisierung von Post und Bahn als Arbeitgeber vor allem für die Bundeswehr zuständig, ohne dass man ihm deren Personal direkt zurechnet. Von dem auf ihn entfallenden Personal arbeitet der größte Teil (etwa 314.300 Mitarbeiter) im Bereich der Verteidigung. Daneben fallen nur noch die Finanz- und die Verkehrsverwaltung ins Gewicht. Der Bund arbeitet also weithin ohne Unterbau, er bedient sich der Verwaltung der Länder und Gemeinden. Nur das Auswärtige Amt verfügt mit dem Auswärtigen Dienst über eine eigene Verwaltung, zudem das Bundesministerium der Verteidigung und das Bundesministerium der Finanzen, das im Finanz- und Zollbereich neben den Ländern eigenes Personal beschäftigt. Dies schließt nicht aus, dass der Bund eine große Zahl von Bundesoberbehörden oder zentralen Einrichtungen unterhält - als Beispiele seien das Bundeskriminalamt, das Statistische Bundesamt, die Bundeszentrale für politische Bildung, der Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz oder das Bundeskartellamt genannt. Solche Ämter nehmen aber in der Regel nur Spezialaufgaben wahr, sind also eher zusätzlich zu der Verwaltungsorganisation zu denken, die Länder und Gemeinden bereitstellen, soweit sie nicht den Mangel an einem eigenen Unterbau ausgleichen sollen. Darauf deutet die große Zahl solcher Behörden hin (vgl. R. Löser, 1986). Bei den Ländern und Stadtstaaten ergibt sich der große Personalaufwand in der Hauptsache im Bereich von Unterricht und Wissenschaft, gefolgt von dem der Polizei. Die öffentliche Verwaltung besteht mithin nur zu einem kleinen Teil aus Verwaltung im engeren Sinne; in der Hauptsache gehören zu ihr die großen öffentlichen Dienstleistungsbereiche. Sie finden sich vor allem auf Landesebene; hier verfügt - anders als im Bund - nahezu jedes Ministerium über einen Unterbau, wobei im Regierungspräsidium die Fäden noch einmal zusammenlaufen sollen, um das Prinzip der Einheitlichkeit der Verwaltung zu wahren (vgl. Materialband, XII/7-12). Dessen ungeachtet unterstehen dem Finanzminister die Oberfinanzdirektionen und die Finanzämter, dem Justizminister die (Verwaltung der) Gerichte, Staatsanwaltschaften und der Strafvollzug, dem Wissenschaftsminister die Universitäten und Hochschulen und dem Kultusminister die Schulen oder dem Landwirtschaftsminister die Landwirtschafts- und die Forstverwaltung. Auch in den Ländern findet sich eine Reihe von Sonderbehörden. Dabei soll auf regionaler Ebene in einigen Ländern das Regierungspräsidium als Zentralbehörde fungieren und gleichzeitig die Aufsicht über die unteren Verwaltungsebenen führen, die von den kreisfreien Gemeinden, den Landratsämtern und den besonderen Verwaltungsbehörden, etwa für den Forst oder das Wasser, gebildet werden. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können, lässt sich sagen, dass die derzeitige Landesverwaltung einen etwas mühsamen Kompromiss zwischen einem regionalen und einem

2 Auch für die folgenden Zahlenangaben wird vor allem auf die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes verwiesen, neben dem Statistischen Jahrbuch vor allem auf die einschlägigen Fachserien. Die Angaben geben den Stand am 03.12.2002 wider.

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1. Die Grundlagen des Verwaltungssystems funktionalen Gliederungsprinzip der öffentlichen Verwaltung darstellt, wobei die Idee der allgemeinen Verwaltung an Boden verlor, bis die Koordinationszwänge etwa in den Bereichen Raumordnung und Landesplanung sowie Umweltpolitik ein gewisses Umdenken nahe legten. Die dritte Ebene bilden die Gemeinden und Gemeindeverbände (vgl. Materialband, VII/ 18-20). Hier kommt es deshalb zu einer starken personellen Belastung, weil zentrale öffentliche Einrichtungen (Parkanlagen, Sportstätten, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Theater, Museen und der gesamte Versorgungs- und Sozialbereich sowie der größte Teil des Gesundheitswesens) auf lokaler Ebene angeboten werden, außerdem große Teile des öffentlichen Verkehrs, der Bauverwaltung und der Wirtschaftsförderung. Den Kern bilden die Gesundheits- und Sozialverwaltung mit etwa einem Drittel des Gemeindepersonals. Neben den drei Gebietskörperschaften und ihren personell unmittelbar mitzuzählenden rechtlich unselbständigen Wirtschaftsunternehmen ist auf Körperschaften des öffentlichen Rechts zu verweisen. Zu ihnen gehören in erster Linie die Bundesanstalt für Arbeit mit der gesamten Arbeitsverwaltung sowie die Einrichtungen der Soziahersicherung. Nicht zu ihnen zählen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, wichtige Stiftungen und zahllose Quangos (Quasi-non-governmental-organisations), also im engeren Sinne privatrechtlich konstruierte Einheiten, die unmittelbar für den staatlichen Auftraggeber arbeiten und dabei öffentliche Aufgaben wahrnehmen oder in anderer Weise den Staat entlasten (zum Problembereich W. Kirberger, 1978, B. Becker, 1979, S. 161 ff., G. F. Schuppert, 2000, sowie für den internationalen Vergleich G. F. SchuppertIC. Hood, 1988). Dass man hier in einen schwer überschaubaren Grenzbereich stößt, braucht nicht näher erläutert zu werden. Dies gilt ebenso für die „Überlappungsbereiche" der Einrichtungen der Kirchen und der Wohlfahrtsverbände, die Leistungen erbringen, die sich von denen „öffentlicher" Einrichtungen nicht unterscheiden und deren Finanzierung ggf. auf ganz ähnlichen Wegen erfolgt. Der Hinweis steht hier nur zur Verdeutlichung; die Grenzen zwischen den öffentlichen und entsprechenden privaten Dienstleistungen müssen heute fließend sein. Nimmt man den Bereich, der eindeutig der öffentlichen Hand zuzurechnen ist (unmittelbarer öffentlicher Dienst), dann ergeben sich für 2002 etwa 4.088.000 Beschäftigte (Vollund Teilzeit). Sie waren unabhängig von der Zugehörigkeit zu Gebiets- oder anderen Körperschaften in folgenden Bereichen tätig: Schulwesen Öffentliche Sicherheit Politische Führung Gesundheit Sozialwesen Verteidigung Wissenschaft und Forschung

928.500 439.400 391.300 382.800 345.000 311.800 286.200

Finanzverwaltung Wohnungswesen Rechtsschutz Verkehrs- und Nachrichtenwesen Wirtschaftsunternehmen Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Energie und Wasserwirtschaft

257.700 195.700 192.700 98.800 69.500 28.100 25.400

Diese Übersicht ist mit den angedeuteten Vorbehalten zu lesen, die Reihung erschließt aber Realität. Danach verzeichneten die meisten der Verwaltungszweige durchaus ein kräftiges Wachstum, wobei die Sprünge in der Leistungsverwaltung besonders hoch waren. Zwei Schwerpunkte stehen für die vergangenen Jahrzehnte im Vordergrund: der Bildungsbereich und der Bereich Gesundheit und Soziales. Hierin dokumentiert sich der ablaufende gesellschaftliche und ökonomische Strukturwandel (mit den entsprechenden Umorientierungen und Anspruchshaltungen) am deutlichsten. Die Gemeindegebietsreform, durch die die Zahl der Gemeinden vermindert, ihre Leistungskraft aber vergrößert werden sollte, führte zudem zu einer nicht unerheblichen Personalvermehrung im Kommunalbereich; bildungs- und

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik sozialpolitische Grundsatzentscheidungen schließlich bewirkten einen großen Schub im Landesbereich. Zusammenfassend ist somit zunächst festzuhalten: Öffentliche Verwaltung ist in der Hauptsache Bund, Ländern und Gemeinden zugeordnet, aber auch Einrichtungen außerhalb der Gebietskörperschaften, die meist mit einem gewissen Grad von Selbstverwaltung ausgestattet sind. Betrachtet man nur die Gebietskörperschaften, liegt die öffentliche Verwaltung in den Sektoren oberste Staatsorgane und auswärtige Angelegenheiten sowie Verteidigungs-, Finanz- und Steuerverwaltung im Schwerpunkt beim Bund; in den Sektoren öffentliche Sicherheit und Ordnung, Rechtsschutz und Bildungswesen bei den Ländern·, in den Sektoren innere Verwaltung und allgemeine Staatsaufgaben, Soziales, Gesundheitswesen, Wirtschaftsförderung und Verkehr sowie öffentliche Einrichtungen bei den Gemeinden. Die Gebietskörperschaften stehen dabei vor jeweils eigenen Verwaltungsproblemen. Dennoch ist von einem hohen Maß an Gemeinsamkeit „der" Verwaltung auszugehen, weshalb man sie nicht zu Unrecht als ein eigenes System begreift. 1.2. Tätigkeitsfelder und Verwaltungsverfahren Verwaltung ist nach Max Weber Herrschaft im Alltag und zugleich Dienstleistung. Beides verweist auf unterschiedliche Bezüge, in denen die Verwaltenden stehen; die große Ausdifferenzierung des tatsächlichen Verwaltungshandelns tritt hinzu. Dabei führen Begriffe wie Verwaltung oder Verwaltungspersonal leicht in die Irre. Tatsächlich umfassen die realen Tätigkeitsfelder der öffentlichen Verwaltung nur zu einem relativ geringen Teil Tätigkeiten „im Büro". In der Hauptsache geht es um Aufgaben, die ein fachlich geschultes Personal in den Schulen oder Hochschulen, in den Krankenhäusern oder Altersheimen, im Forstdienst, in Straßenbauämtern oder in der Flurbereinigung übernimmt. Dieses Fachpersonal vollzieht dabei nicht (nur) Gesetze, sondern wird auch aufgrund von fachlich bestimmten Geboten, Usancen und Entscheidungen tätig. Das gilt vielfach sogar für die sog. Ordnungsverwaltung, zumal ein nicht unerheblicher Teil des beschäftigten Personals im Außendienst tätig ist und dort Polizei-, Aufsichts- oder Sicherungsfunktionen übernimmt; auch hier arbeitet nur ein geringerer Teil „büromäßig". Lediglich für einen insgesamt kleinen Teil des Personals der öffentlichen Verwaltung geht es zudem um den unmittelbaren Vollzug von Gesetzen. Dass für alle der gesetzliche Rahmen gilt, bleibt davon unberührt. Die Tätigkeit der Verwaltung entbehrt mithin des gemeinsamen Nenners, sieht man von der Gemeinsamkeit des Dienstherrn für das Personal ab. Will man aus solchen Gründen die Verwaltung nicht als einheitliches Gebilde betrachten (was dann entscheidend auch die Analyse der Verwaltungsführung bestimmt), ist nach der verbleibenden Gemeinsamkeit zu fragen. In diesem Sinne lässt sich die öffentliche Verwaltung begreifen als Summe aller Einrichtungen und organisierten Wirkungszusammenhänge, die vom Staat, den Gemeinden und den von ihnen geschaffenen öffentlich-rechtlichen Körperschaften zur Erledigung öffentlicher Aufgaben unterhalten werden und für die ein Rechtsrahmen gilt, der über das für alle Bürger geltende Recht hinausgeht. Dieser Rechtsrahmen schließt auch das Sonderrecht für die in den genannten Einrichtungen Tätigen ein. Damit ergeben sich für die öffentliche Verwaltung insgesamt drei gemeinsame Elemente: eine Zweckbestimmung durch die übertragenen öffentlichen Aufgaben; ein Bezug auf die politische Verfassung des Gemeinwesens - alle Verwaltungseinrichtungen gehören nach deutscher Tradition zum politischen Organisationsbestand, der Ausweg, sich privatrechtlich organisierter Einrichtungen zu bedienen, erscheint - aber auch nur insoweit - traditionswidrig; eine besondere Organisation und Verfahrensweise, weil die Verwaltung nicht ausschließlich allgemeinen Organisations- und Verfahrensprinzipien folgt,

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1. Die Grundlagen des Verwaltungssystems sondern auch und gerade in dieser Hinsicht in die öffentliche Rechtsordnung eingebunden ist. Eine nach diesem Verständnis noch als Einheit betrachtete Verwaltung kann man in ihrer Wirksamkeit nach außen aufgliedern, weil sie entweder dem Bürger gegenüber hoheitlich tätig ist und Gebote des öffentlichen Rechts vollzieht oder mit dem Bürger gemeinsam unter dem privaten Recht steht. Mit Blick darauf wollte man früher in Deutschland zwischen hoheitlicher und fiskalischer oder auch zwischen gebundener und freier Verwaltungstätigkeit unterscheiden. Diese Differenzierung beruhte aber letztlich nur auf dem besonderen deutschen Staatsdenken des 19. Jahrhunderts. Heute entspricht sie der weitgehenden Vermischung von Staat und Gesellschaft nicht mehr, so wie es auch keine klare Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht mehr gibt. Eher verhüllt eine solche Unterscheidung einen staatlichen Funktionswandel; die Zuständigkeit der früheren Hoheitsverwaltung ist geringer angewachsen als die der fiskalischen Verwaltung, und gerade in der fiskalischen Verwaltung erhielt der Staat zunehmend Möglichkeiten, Bürger und Gruppen von Bürgern so zu benachteiligen oder zu begünstigen, dass auch hier die Schutzbedürftigkeit evident wurde. Schon deshalb muss die gesamte Verwaltungstätigkeit verwaltungsgerichtlicher Überprüfung unterliegen. Dies besagt: Gleichgültig, in welcher Rechtsform die Verwaltung dem Bürger gegenübertritt, sie gilt in der Regel als der mächtigere Partner; aus dem System der Rechtsordnung ergibt sich keine Aufgliederung der Verwaltung mehr. Deshalb erscheint es erforderlich, eher funktional zu differenzieren, selbst wenn in der Verwaltung vielfach mehrere Funktionen gleichzeitig wahrgenommen werden. Dementsprechend ergibt sich folgendes Bild: •

Die Ordnungsverwaltung vollzieht Gesetze und vergleichbare Vorschriften und kontrolliert, ob solche Vorschriften von den Betroffenen eingehalten werden. Sie dient der bestehenden, also der ihr vorgegebenen Ordnung, indem sie für deren Bestand sorgt. Dabei kann der Einzelne in der Ordnungsverwaltung Tätige über einen mehr oder weniger großen Entscheidungsspielraum verfügen und unterschiedliche fachliche Voraussetzungen für seine Arbeit mitbringen; immer ist er primär an die Vorschriften und an deren Interpretation gebunden, solange diese von dazu legitimierten und ihm übergeordneten Instanzen vorgenommen wird. • Die Dienstleistungsverwaltung erbringt technische und personale Dienstleistungen aufgrund von gesetzlichen Vorschriften und politischen Weisungen. Auch für sie gilt ein Gefüge verbindlicher Vorschriften; sie steht aber gleichzeitig unter dem Gebot wissenschaftlicher oder fachlicher Anforderungen. Das bedeutet für viele der hier Tätigen einen Dualismus von rechtlichen und fachlichen Bezugssystemen, der zu Spannungen führen kann. Deshalb entscheidet auch immer das M a ß der jeweiligen Verantwortlichkeit, auf das bezogen es Dienstleistungen gibt, die sich eng an Vorschriften binden lassen - technische Sicherheitsvorschriften als Beispiel - , während andere, wie etwa pädagogische Aufgaben, die Freiheit des Tätigen voraussetzen. Gleichgültig, ob Dienstleistung unmittelbar personal erbracht wird oder in technischer Versorgung besteht, ein Minimum an persönlicher Freiheit gegenüber den Vorschriften wird man aufgrund eigener fachlicher Zuständigkeit als Voraussetzung annehmen müssen - der Dienstleister steht fachlich in zumindest zwei Bezugssystemen. • Die wirtschaftende Verwaltung richtet sich auf das Vermögen und die Einnahmen der öffentlichen Hand, in spezifischer Weise auch auf ihre Ausgaben. Sie arbeitet dabei einerseits in strenger Bindung an die geltenden Rechtsvorschriften, andererseits muss sie, dem Leitgedanken dieser Vorschriften folgend, den wirtschaftlichen Kriterien der Zweckmäßigkeit, des Erfolges und des Ertrages genügen. Wieder ergibt sich entweder eine stär-

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik kere Orientierung allein an den Vorschriften oder eine größere persönliche Verantwortung dadurch, dass Vorschriften interpretierbar sind und nur den Rahmen für erfolgreiche Tätigkeit bilden. • Die Organisationsverwaltung, die Verwaltung der Verwaltung selbst, umfasst diejenigen Verwaltungstätigkeiten, durch die erst die Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung geschaffen werden und das Personal eingestellt, betreut und im Organisationssinne beaufsichtigt wird. Hierzu gehören innerhalb der Behörden die Personalabteilungen, die Registraturen, Fahrbereitschaften, Kanzleien u.a.m., sowie mit Blick auf die Verwaltungsspitze diejenigen Einrichtungen, die für das Recht und die Besoldung des öffentlichen Dienstes im Einzelnen und für andere grundlegende Arbeiten zuständig sind. • Als politische Verwaltung soll endlich derjenige Teil der Verwaltung bezeichnet werden, in dem Führungshilfe, Entscheidungsvorbereitung für die politische Spitze sowie Beobachtung und Planung samt den sich daraus ergebenden Führungstätigkeiten für die Verwaltung selbst erbracht werden. Diese politische Verwaltung ist durch die Nähe zur Politik definiert, also auch dadurch, dass in ihr politische Überlegungen angestellt werden müssen und Rücksichtnahmen auf das geltende Recht häufig keine größere Rolle spielen als für die politisch Verantwortlichen (vgl. T. Ellwein, 1976; andere Systematiken bei H.-P. Bull, 1977, G. F. Schuppert, 1981, und B. Becker, 1989; zum Begriff der politischen Verwaltung auch R. R. Grauhan, 1970, und J. J. Hesse, 1976). Ordnungs-, Dienstleistungs- und wirtschaftende Verwaltungen erledigen unmittelbar öffentliche Aufgaben, die Organisationsverwaltung sorgt - immer idealtypisch vereinfacht - für die Voraussetzungen der Aufgabenerledigung, während die politische Verwaltung an der näheren Bestimmung jener Aufgaben teilhat. In diesem Sinne bildet die politische Verwaltung einen Teil der politischen Führung, genießt wie diese mehr Bewegungsfreiheit als die übrige Verwaltung und muss die relevanten politischen Faktoren berücksichtigen. Stärker rechtsgebunden arbeitet die Organisations-, voll rechtsgebunden sollte die Ordnungsverwaltung tätig sein. In der wirtschaftenden Verwaltung treten andere Gesichtspunkte hinzu. Die Dienstleistungsverwaltung, in der das Gros der öffentlichen Bediensteten tätig ist, lässt sich in ihrem Schwerpunkt kaum bestimmen. Immerhin erlaubt eine solche Zusammenstellung das Benennen von Schwerpunkten in einzelnen Tätigkeitsbereichen der Verwaltung, und sie erlaubt es zudem, die Nähe zur Politik herauszuarbeiten. Mit ihr erscheint die politische Verwaltung bis zur Ununterscheidbarkeit verbunden, während die Ordnungsverwaltung am weitesten von ihr entfernt ist - einmal ergangene Grundsatzentscheidungen können ohne solche Nähe im Vollzug kontrolliert werden. Auch die Dienstleistungsverwaltung arbeitet vergleichsweise weit von der Politik entfernt; Dienstleistungen werden aufgrund politischer Entscheidungen erbracht; sie wirken aber nur konstituierend und stimulierend, nicht im einzelnen handlungsbestimmend. Enger mit der Politik verbunden arbeitet dagegen wieder die wirtschaftende Verwaltung; wirtschaftspolitisch oder konjunkturell bedeutsame Entscheidungen sind dabei der politischen Verwaltung zuzuordnen. 1.3. Die Verwaltung als Organisation und Betrieb Verwaltung ist traditionell hierarchisch konstruiert und stellt gleichzeitig ein System strenger Zuständigkeitsverteilung dar. Das ergibt eine formale Organisation von eigener Stringenz, die sich zwar mit zahllosen anderen Organisationen im industriellen Bereich oder in dem der Verbände vergleichen lässt, sich zugleich aber von ihnen unterscheidet, weil die formalen 314

1. Die Grundlagen des Verwaltungssystems Prinzipien weithin heteronomer Setzung folgen. Aufbau und Verfahrensweise der Behörde sind dieser vorgeschrieben. Nur in einem eng umgrenzten Raum bleibt die Möglichkeit der Selbstorganisation. Auch die dienstlichen Beziehungen zwischen den Stufen der Hierarchie folgen allgemeinen Regeln. Selbstverständlich lässt sich dies durch informelle Gepflogenheiten ergänzen oder interpretieren; mit der Organisationsgewalt der Regierung und den verwaltungsinternen Systemen von Aufsicht und Kontrolle gewährleistet man jedoch, dass das informelle Gefüge das formale nicht gefährdet (vgl. N. Luhmann, 1964). In der Tradition erscheint die Behörde als ein rechtlich geformtes Gebilde. Seiner Herkunft nach hat es der hierarchische Bürokratietypus mit der lokalen oder regionalen Allzuständigkeit und dementsprechend auch mit der breiten Verwendbarkeit des Personals zu tun. Das verweist schon auf die Veränderungen, die der Typus erfährt und von welchen sich dann auch das Personal - nun unter Arbeitsplatzgesichtspunkten - betroffen sieht. Nur zwei Entwicklungen seien hier angesprochen. Die eine ergibt sich aus der zunehmenden Spezialisierung. Sie ist als umfassendes Phänomen zu verstehen, weil es sich sowohl um die Spezialisierung ganzer Behörden und Verwaltungszweige als auch um die Spezialisierung des einzelnen Mitarbeiters handelt. Mit Blick auf die Behördenorganisation insgesamt gefährdet die Spezialisierung die früher behauptete Einheit der Verwaltung. Das erscheint nicht als Problem, solange diese Einheit etwa der örtlichen oder der regionalen Repräsentanz von Herrschaft wegen als wünschenswert gilt. Problematisch wird die Auflösung der Verwaltungseinheit, wenn die übergreifenden Verwaltungszwecke darunter leiden und es überhaupt nicht mehr oder nur unter erheblichen Reibungsverlusten gelingt, Behörden und Mitarbeiter, die unterschiedlichsten Bezugs- und Loyalitätssystemen verhaftet sind, zur Kooperation zu bewegen. Davon aber abgesehen: Die Spezialisierung ganzer Behörden verstärkt die Spezialisierung in der Tätigkeit des einzelnen Mitarbeiters. Bei dem leitenden Beamten einer kleinen Stadtverwaltung „kommt noch alles vor" und seine Mitarbeiter übersehen, was die Stadtverwaltung tut. In einer größeren Stadt weiß man hingegen im Liegenschaftsamt kaum, was im Verkehrsamt geschieht, und man richtet sich nolens volens auf einen engeren Amtsumriss und Fachhorizont ein, innerhalb dessen dann für den einzelnen Mitarbeiter eine immer noch hochgradigere Spezialisierung gelingt (vgl. dazu allgemein H. Strutz, 1982; T. Ellwein, 1991; J. J. Hesse, 2002). Dies alles erscheint unvermeidlich. Wer die dem Rechtsstaat entsprechende Zuständigkeitsverteilung in der öffentlichen Verwaltung will, darf sich nicht auf wechselnde Zuständigkeiten einlassen. In einer quantitativ deutlich vermehrten und qualitativ weitaus umfangreicher zuständigen Verwaltung bedeutet das konsequent eben jene Spezialisierung innerhalb eines engen Amtsbereichs. Wer darüber hinaus Verwaltungsarbeit rationalisieren will, muss ebenfalls der Spezialisierung das Wort reden. Man muss dann jedoch auch die Folgen sehen, gleichgültig, ob man an das Problem der Verantwortung oder an das der möglichen bürokratischen Erstarrung denkt. Das traditionelle Muster der durchgängig hierarchisch gegliederten Verwaltung mit fest zugewiesenem Kompetenzbereich für jeden Mitarbeiter birgt seine Entartungsmöglichkeiten in sich, wenn die Verwaltung zusammen mit den Aufgaben und mit der Notwendigkeit, bei deren Erledigung immer stärker zu differenzieren, wächst (vgl. T. EllweinlJ. J. Hesse, 1997; J. J. Hesse, 2002). Ein nicht unerheblicher Teil der verwaltungswissenschaftlichen Diskussion kreist daher auch um die Frage, wie man solchen Entartungsmöglichkeiten begegnen kann, wie man Verantwortung zweckmäßig delegiert, wie man dezentralisiert und dekonzentriert, wie man durch ein Nebeneinander von Stab und Linie die erforderlichen Innovationsprozesse sichert oder ansonsten dazu beiträgt, dass nicht Routinen dominieren. Darüber hinaus ist dem Problem des reinen Spezialisten gerecht zu werden, der bestimmte Funktionen aufgrund seiner spezifischen Ausbildung und Erfahrung wahrnimmt, ohne dass seine Vor-

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik gesetzten über die gleichen Fähigkeiten verfügen und ihn entsprechend kontrollieren können. Die Verwaltung als Arbeitgeber muss sich bemühen, entsprechende Arbeitsplatzprobleme zu erkennen und zu lösen. Hinzu kommt, dass die öffentliche Verwaltung nach dem Typus der klassischen Bürokratietheorie Max Webers (1964, u.a. S. 160ff.) konstruiert ist. Nur deshalb war es auch möglich, Arbeitsplatzprobleme spezifisch bürokratisch lösen zu wollen. Die Masse der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes arbeitet aber nicht in einem bürokratischen Rahmen. Dies gilt vor allem für die gesamte Dienstleistungsverwaltung, auch wenn man eine Schule oder ein Krankenhaus als Anstalt konstruiert und Schüler oder Kranke einer Anstaltsordnung unterwirft. Ohne auf die rechtlichen Probleme, die sich damit verbinden, einzugehen, genügt hier der Hinweis auf die widersprüchliche Situation. Der Lehrer als Beamter erhält seinen Platz in einer Hierarchie zugewiesen. Er hat es wie ein Inspektor im Wasserwirtschaftsamt mit einem Dienstvorgesetzten zu tun und wird beurteilt aufgrund von Kriterien, die sich schon beim Verwaltungsbeamten als problematisch erweisen, kaum aber zu erfassen vermögen, was sich täglich im Umgang zwischen Lehrern und Schülern ereignet. Mit anderen Worten: Dass in diesem Zusammenhang überhaupt von öffentlicher Verwaltung gesprochen und ihr Altersheime, Krankenhäuser, Schwimmbäder, Schulen, also die gesamten öffentlichen Einrichtungen im weitesten Sinne zugerechnet werden, wird für das dort tätige Personal spätestens dann zum Problem, wenn verwaltungstechnisch oder -rechtlich Gebotenes mit fachlich Gebotenem in Widerstreit gerät. Die Benennung des Problems mag hier ohne eine Erörterung von Zweckmäßigkeitsfragen genügen. Selbstverständlich bedeutet die Zugehörigkeit der Schule zum Organisationsbestand der Verwaltung nicht nur Traditionsballast; sie befriedigt auch eine Reihe elementarer Bedürfnisse. Was immer zur öffentlichen Verwaltung gehört, etwa Rechtsansprüchen und öffentlicher Kontrolle ausgesetzt ist, es bleibt relativ transparent und weithin berechenbar - Eigenschaften, die sich nicht beliebig auch bei anderer Organisation gewährleisten lassen. Das ändert aber nichts daran, dass der technisch oder pädagogisch vorgebildete Fachmann, um nur zwei große Beamtengruppen anzusprechen, mit seinem Eintritt in die öffentliche Verwaltung in ein hoch formalisiertes Bezugssystem gelangt, in das er gleichzeitig und oft unter erheblichen Reibungen seine fachlichen Bezüge einbringen soll. Fragt man nach der Macht der Verwaltung und nach ihrer Führbarkeit, muss dieser Zusammenhang berücksichtigt werden - rechts- und verfassungstheoretisch ein sich daraus ergebender Zusammenhang, dass der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes der Staat ist, in einer Demokratie also das Volk, von dem wiederum die Staatsgewalt ausgeht und zu dem auch die Angehörigen des öffentlichen Dienstes gehören. Diese Doppelstellung kennzeichnet jenen Problembereich, der in der Diskussion über ein wünschenswertes oder weiterhin zu untersagendes Streikrecht für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes angesprochen wird.

2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem 2.1. Vorteil der Kontinuität - Last der Tradition Die öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik wurde nach 1945 ohne grundlegendes Konzept wiederaufgebaut (vgl. u.a. T. Eschenburg, 1983; K. G. A. JeserichlH. Pohl/G. C. v. Unruh, 1983 ff, Bd. V; H. Fenske, 1985; B. Wunder, 1986; T. Ellwein, 1997, Bd. 2). In Zeiten der Not denkt man selten an eine Reform, weil das, was der Tag erfordert, zu sehr drängt. So kam es zwar zu umfangreichen personellen Veränderungen und einer sprunghaften Ausweitung des öffentlichen Dienstes, kaum aber zu strukturbedeutsamen Neuerungen. Die erstaunliche 316

2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem Kontinuität der deutschen Verwaltungsgeschichte und des damit verbundenen Anknüpfens an die eigene Tradition erklärt sich nicht nur aus dem Druck der Verhältnisse. Man konnte die Tradition vielmehr auch deshalb bejahen, weil sie die einer guten Verwaltung war. Verwaltungstechnisch ließ sich die Qualität der deutschen Verwaltung in der Tat kaum bestreiten. Die im 19. Jahrhundert ausgebildete Apparatur war modern und damals fraglos zeitgemäß. Sieht man von den konstitutionellen Problemen und auch davon ab, dass man in dieser Hinsicht im 19. Jahrhundert die vom absolutistischen Wohlfahrtsstaat gebahnten Wege weiterging (T. Ellwein, 1987, S. 13ÍT.), gelang es jedenfalls, eine ursprünglich ganz auf den Monarchen bezogene Verwaltung in den sich ausbildenden Verfassungsstaat zu übernehmen, ihr dort einen gesicherten Platz zu geben und sie durch eine Fülle von Regulierungsmaßnahmen den neuen Erfordernissen anzupassen (vgl. H. Heffter, 19692; E. R Huber, 1957 ff.). Man betrieb im 18. wie im 19. Jahrhundert also erfolgreich Verwaltungspolitik. Unter dem Schutz einer Gewaltenteilungslehre, die die bürgerliche Gesellschaft im Parlament wohl an der Legislative, nicht jedoch an der Exekutive beteiligt sah und diese ganz dem Monarchen und der von ihm bestellten Regierung überließ, konnte man die im 18. Jahrhundert entwickelten Prinzipien rationaler Verwaltung weiter entfalten. Führungsprobleme und untypische gesellschaftliche Ansprüche gab es kaum; der Bereich von Regierung und Verwaltung war und blieb autonom, man konnte ihn ungehindert von äußeren Einflüssen zweckmäßig gestalten. So entstand in den größeren deutschen Ländern eine sinnvolle territoriale Verwaltungsorganisation. Gleichzeitig führte man das Ressortprinzip ein. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es darüber hinaus zur endgültigen Trennung von Justiz und Verwaltung und innerhalb der Verwaltung zur Aussonderung der Finanzverwaltung. Da man außerdem äußere und innere Verwaltung streng trennte, entstand ein recht übersichtliches Gebilde. Spätere Ausgliederungen bezogen sich auf isolierbare Bereiche technischer Natur (Post und Bahn) oder auf solche, die in sich sachlich kohärent waren (Kultur- und Schulverwaltung). Dieses Verwaltungsgebilde repräsentierte in allem, was es tat, den Staat und gilt noch heute als der „Staat in Aktion" (H. Krüger, 19662, S. 730 ff.). Im klassischen Werk der neueren Verwaltungsrechtslehre schreibt Otto Mayer (1914) eingangs, die Verwaltung sei Tätigkeit des Staates zur Erfüllung seiner Zwecke. Das Ganze der staatlichen Tätigkeit werde zwar durch Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung dargestellt, die Justiz lasse sich aber ausklammern, während die Gesetzgebung auf die Verwaltung bezogen sei. Der Staat verwirkliche in diesem Sinne seine Zwecke „unter seiner Rechtsordnung". Über den drei Staatstätigkeiten gebe es noch so etwas wie die Regierung, sie beeinflusse aber nur die drei Arten der wirksamen Staatstätigkeit, ohne selbst eine davon zu sein. Deshalb komme sie in Zusammenhang mit der Verwaltung nicht „weiter in Betracht". Einer solchen Denkweise fiel es dann auch nicht schwer, aus der Staatsverwaltung ein Stück kommunaler Selbstverwaltung auszuklammern (vgl. erneut H. Heffter, 19692). Nach dem entsprechenden bayerischen Edikt von 1818 waren die Gemeinden Teile des ganzen Staatskörpers und „den allgemeinen Staatszwecken untergeordnet". Sie standen unter der „besonderen Curatel und Aufsicht des Staates" und genossen die „Vorrechte der Minderjährigen". Als man später ihre Zuständigkeit und ihre Rechtsstellung erweiterte, beeinträchtigte dies das staatliche Aufsichts- und Weisungsrecht nicht. Eine solche Entwicklung lässt sich unter zwei Aspekten betrachten. Zunächst ergibt sich eine konstitutionelle Problematik, weil die von Montesquieu an englischen Verhältnissen entwickelte Gewaltenteilungslehre bei ihrer Übernahme auf die kontinentaleuropäische Situation gründlich umgedeutet werden musste. Meinte Montesquieu, der englische König fungiere gleichsam als Exekutivspitze, dann traf das insoweit nicht zu, als das Parlament zu jeder Zeit Verwaltungsentscheidungen treffen konnte und es zudem nur Ansätze einer staat-

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik liehen Verwaltung gab. In Deutschland war bei Annahme der Gewaltenteilungslehre der Verwaltungsstaat hingegen voll ausgebildet. So bedeutete die Beteiligung an der Gesetzgebung weniger als Montesquieu unterstellt hatte, während die exekutive Machtposition des Monarchen unangetastet blieb. Wollte die Volksvertretung Einfluss nehmen, musste sie sich der Gesetzgebung bedienen. Das Gesetz veränderte sich damit von der generellen Norm, bezogen auf Freiheit und Eigentum des Bürgers, zu einem Führungsinstrument gegenüber der Verwaltung. Das stärkte die Stellung der Parlamente, ohne ihnen eine wirkliche Führungsposition zukommen zu lassen. Die Verwaltung blieb ein eigener Bereich, in dem man den Dienst am Staat, nicht den an der Gesellschaft betonte, und der sich gegenüber der Gesellschaft isolierte. Diese Isolierung macht das eigentliche Ingredienz der obrigkeitsstaatlichen Tradition aus; sie allein erlaubt das aufdringliche Bekenntnis zur Neutralität der Regierung und damit der Verwaltung, eine „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" (G. Radbruch, 19323, S. 289). Nach dem Verfassungswandel von 1918 führte dies zur Orientierungsschwierigkeiten für viele Beamte. Verwaltungstechnisch verbanden sich damit unzweifelhaft Vorteile. Unterscheidet man ideologisch zwischen der am Allgemeinen orientierten Politik und derjenigen, die der Austragung von Interessengegensätzen dient, gerät die Verwaltung auf eine höhere Ebene. Der Beamte wird im Sinne Hegels zum Spezialisten für das Allgemeine. Sein Arbeitsbereich lässt sich ungehindert organisieren. All dies bildete sich im 19. Jahrhundert heraus, als man etwa Paul Laband (1902) folgend den Binnenbereich des Staates für die Öffentlichkeit unzugänglich machte und eigenen Regeln unterwarf (vgl. H. H. Rupp, 1965). Hierarchie und strikte Kompetenzverteilung sowie ein umfassendes System von Regelungen sorgten für einheitlichen Vollzug und für ein - nach früheren Maßstäben - rasches Arbeitstempo. Gleichzeitig baute man die internen Kontrollen aus und beschränkte die Außenkontrolle. Auch die Einrichtung besonderer Verwaltungsgerichte kam den Bedürfnissen der Verwaltung mehr entgegen, als es je eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für den Schutz der Bürger gegenüber der Verwaltung hätte tun können (vgl. A. Görlitz, 1970; I. Bauer, 1996). Mit Hilfe dieses Apparates konnte man dann die großen Aufgaben bewältigen, die der moderne Staat in Deutschland übernahm. Aus dem alten Wohlfahrts- entstand allmählich der neue Sozialstaat (B. Wunder, 1986; vgl. auch T. Ellwein/J. J. Hesse, 1994). Wie leistungsfähig die das alles durchdringende Verwaltung war, zeigte sich im Ersten Weltkrieg. Aus der Ordnungs- und der in Ansätzen vorhandenen Leistungsverwaltung heraus entwickelte man übergangslos eine Kriegswirtschaftsverwaltung, die lange Zeit gut funktionierte. Auch die späteren Perioden der deutschen Geschichte sind zumeist solche großer Verwaltungsleistungen (vgl. K. G. A. JeserichlH. Pohl/G.-C. von Unruh, 1983ff.), zeigen damit aber auch, dass man die Verwaltung eben nicht isoliert und außerhalb der konstitutionellen Zusammenhänge sehen und damit zum beliebig einsetzbaren Instrument machen darf. Deshalb ist hier die Rede von einer Last der Tradition. Wenn man in der Bundesrepublik nach 1945 mehr oder weniger unkritisch an die eigene Tradition anknüpfte, übernahm man dabei eben auch Prinzipien, die in einem völlig anderen Zusammenhang und unter dem Eindruck völlig anderer Zweckbestimmungen erdacht und der Organisation zugrunde gelegt wurden. Sicher wäre es denkbar, dass dieser umfassende Rückgriff auf die Tradition rational erfolgte und auf der Annahme beruhte, die Tradition habe sich eben bewährt und gegenüber ihren Entstehungsbedingungen nur wenig verändert. So einfach liegen die Dinge aber nicht - woran man nicht dachte, wird zum Problem: Die Tradition steht vielfach quer zur Realität. Im 19. Jahrhundert kamen sich die Selbstdarstellungen des monarchischen Obrigkeitsstaates und die in der bürgerlichen Gesellschaft verbreitete Ideologie weit entgegen. Beide 318

2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem gingen von dem Leitbild eines aufgabenbegrenzten Staates aus und unterschieden damit den Rechtsstaat des 19. vom Wohlfahrtsstaat des 18. Jahrhunderts. Sie unterstellten beide, dass staatliche Eingriffe in bürgerliche Freiheit und bürgerliches Eigentum einer gesetzlichen Grundlage bedürften. Was der Staat im Übrigen tat, wurde merkwürdig selten zum Gegenstand der Diskussion. Der Staat als Unternehmer, der Staat als Garant der Infrastruktur, der Staat als Förderer der Wirtschaft, des Handwerks, der Landwirtschaft, der Staat als Patron der Musen und der Wissenschaften oder als Inhaber des Schulmonopols - dieser Staat stand kaum zur Debatte. Gesellschaftliche Ideologie und die entsprechende Staats- und Verwaltungslehre arbeiteten an einem kunstvollen Bild eines im Prinzip auf die Ordnungs- und Eingriffsverwaltung beschränkten Staates. Er musste allerdings daneben auch als Fiskus tätig sein, der vor dem Gericht keinen Vorrang genoß. Dass dieser Staat auch Außenpolitik betrieb, ließ sich weniger übersehen, dennoch im gedanklichen Schema nicht unterbringen. Man sprach deshalb von einer Domäne des Monarchen und seiner Minister. Seit dem 20. Jahrhundert ging und geht es demgegenüber konstitutionell und sozial um die Gewährleistung der Demokratie. Es gibt keine klare Aufgabenteilung zwischen Staat und Gesellschaft mehr und auch keine relevante Begrenzung der öffentlichen Aufgaben - vom Schutz der Privatsphäre einmal abgesehen. Die traditionellen Führungstechniken und -instrumente lassen sich nicht mehr ungeprüft benutzen; sie erweisen sich zu häufig als an statischen Verhältnissen orientiert. Die öffentliche Verwaltung muss sich also verändern, um den neuen Aufgaben zu entsprechen; die Ordnungsverwaltung verliert an Bedeutung, andere Verwaltungszweige rücken in den Vordergrund. Das beeinträchtigt auch die Wirksamkeit früher als unumstößlich betrachteter Prinzipien. So hält man die Berufung auf das Berufsbeamtentum nicht mehr durch, höhlt das hierarchische Prinzip aus und erleidet die strenge Zuständigkeitsverteilung oft mehr als sie zu praktizieren. Auch die Gesetzesbindung erweist sich nur noch als Rahmen. Die Unterscheidung zwischen Hoheits- und Fiskalverwaltung zwingt kein selbstbewusstes Parlament mehr in Schranken; die überlieferten Kontrollen greifen zwar noch, haben aber nur wenig regulierende Wirkung - die Aufzählung ist damit nicht beendet. Dennoch: Man knüpfte 1945 an die skizzierte Tradition an und muss das heute als Belastung empfinden.

2.2. Verwaltungspolitik als Daueraufgabe Die nahezu ubiquitäre Kritik am Zustand des Gemeinwesens, und hier insbesondere der öffentlichen Verwaltung, bringt zum Ausdruck, dass es in den vergangenen Jahrzehnten versäumt wurde, in Deutschland eine zielstrebige Verwaltungspolitik und Institutionenpflege zu betreiben. Dabei ist vor allem auf vier Tendenzen zu verweisen, die sich ungehindert auswirkten und wechselseitig verstärkten: das Wachstum der öffentlichen Verwaltung, ihre Spezialisierung sowie die daraus folgenden Prozesse der Verflechtung und Bürokratisierung (T. EllweinU. J. Hesse, 1997). In Deutschland begann das Wachstum der öffentlichen Verwaltung zunächst fast unbemerkt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Zuerst waren die größeren Städte betroffen, als sie ihr Versorgungs- und ihr Dienstleistungsangebot den neuen Gegebenheiten anpassten. Sie mussten ihren „öffentlichen Dienst" vergrößern und die Verwaltung im engeren Sinne ausbauen, weil es nun Gaswerke, Bauhöfe, Krankenhäuser oder Schulen zu „verwalten" galt und dafür die herkömmliche ehrenamtliche Betreuung durch Ratsmitglieder nicht mehr ausreichte. Das durch Bevölkerungsvermehrung und Aufgabenerweiterung bestimmte Verwaltungswachstum hielt dann eher moderat bis zum Ersten Weltkrieg an, beschleunigte sich anschließend, um nach 1945 in der „alten" Bundesrepublik und - unter anderen Vo-

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik raussetzungen - in der DDR seinen Höhepunkt zu erreichen. In der Zeit von 1950 bis etwa 1980 kam es dann zu einem Wachstum, das in der Verwaltungsgeschichte beispiellos ist. Es ging mit einem Wandel der Gesellschaft einher, für den es im Zeitraum weniger Jahrzehnte gleichfalls an Beispielen fehlt. Auch wurde das Wachstum bis zum Ende der 1970er Jahre durch einen nahezu bruchlosen wirtschaftlichen Aufschwung und eine dem folgende regelmäßige Zunahme der Steuereinnahmen begünstigt. Beides relativierte allfállige Kritik. Auch wenn das Wachstum sich vor allem auf die (dienstleistenden) Einrichtungen der öffentlichen Hände, also Schulen und Hochschulen, das Gesundheitswesen oder die zahllosen Bäder, Turnhallen und Museen richtete, waren auch die Verwaltungen im engeren Sinne, also die Ordnungs- und Kämmereiverwaltungen, die Führung der Verwaltung und die „Verwaltung der Verwaltung" selbst einbezogen. Wachstum verändert. Dabei sind zwei grundlegende Veränderungen anzusprechen: Erstens wird eine auf Wachstum angelegte Verwaltung meist nicht mehr daraufhin befragt, was sie kann. Die vorhandene Kapazität, durch die früher ein Aufgabenzuwachs begrenzt wurde, verliert an Interesse, weil man sie jederzeit und bequem erweitern kann. Gemeinde-, Landes- und Bundespolitik haben darauf jahrzehntelang gesetzt und kaum nach unmittelbaren Verwaltungskosten und überhaupt nicht nach mittelbaren Folgekosten gefragt. Das administrative System war auf Erweiterung angelegt; sie korrespondierte dem Interesse der unmittelbar Beteiligten. Wer eine Erweiterung miterlebt, gar noch mitgestaltet, vergrößert seine Handlungsoptionen und verbessert seine „Chancen". Zum Zweiten führt Wachstum meist zu Arbeitsteilung. Sie ist dann unproblematisch, wenn man große Fallzahlen nach dem Alphabet oder nach Steuerbezirken aufteilen kann, wird aber zum Problem, wenn das Finanzamt in einem Kleinbetrieb getrennt voneinander die Lohnsteuer- und die Betriebsprüfung vornehmen lässt, weil seine Mitarbeiter nicht beide Materien beherrschen, obwohl man das vom Betriebsinhaber verlangt. Solche Probleme vermehren sich in dem Maße, in dem weniger definierte und vermehrt zu definierende Aufgaben erledigt werden. Zwischen den Geboten der Arbeitsteilung und der Realität wenig definierter Aufgaben gibt es einen immanenten Widerspruch, den man dann entweder negiert oder dem man durch „Flucht in Abstraktion" ausweicht. Diese Flucht hinterlässt ihre Spuren auch in ministeriellen Referatsbezeichnungen. Anders formuliert: Arbeitsteilung stößt auf Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten, die wiederum durch organisierte, d. h. verfestigte Arbeitsteilung verwischt werden. Arbeitsteilung ermöglicht darüber hinaus die bereits angesprochene Spezialisierung. Noch in den 1950er Jahren haben Amtmänner in Kleinstädten die Stadtverwaltung voll übersehen und ihre Agenden zu einem großen Teil beherrscht, waren als Liegenschafts-, Bau-, Haushalts-, Schulverwaltungs- oder Standesbeamte sachverständig. Verwaltungswachstum und Arbeitsteilung haben diesen Typus zur Ausnahme werden lassen. In der Regel werden Mitarbeiter der Verwaltung in dieser spezialisiert, wenn sie nicht schon als Spezialisten eingestellt wurden. Spezialistentum stärkt zwar die Leistungsfähigkeit der Verwaltung, trägt aber auch zu ihrem Wachstum und den damit verbundenen - nicht nur finanziellen - Kosten bei. Das eine bedarf kaum der Begründung. Die staatliche Börsenaufsicht kann nur ausüben, wer sich im Börsengeschäft und seinen Regeln auskennt. Das andere versteht sich dagegen nicht für Jeden von selbst. Arbeitsteiliges Spezialistentum bedeutet in vielen Fällen, dass anfallende Arbeit nur zu einem Teil, eben dem Teil des Spezialisten, erledigt wird. Deshalb braucht man die Abstimmung mit anderen Teilerledigungen, muss man Widersprüche verhindern oder Abläufe in einem gemeinsamen Zeithorizont planen. Neben die Regeln für die inhaltliche Aufgabenerledigung treten dabei die für deren Ablauf. Die Regelsysteme sind zu verbinden. Zugleich wachsen der Koordinationsbedarf und die Koordi-

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2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem nierungskosten und gibt man oft nach außen oder unten Handlungsanleitungen weiter, die dort nur von Spezialisten befolgt werden können. Schließlich verbinden sich mit verstärkter Arbeitsteilung Prozesse, die vielen Mitarbeitern zu einer kleinteiligen Kompetenz verhelfen und damit die professionelle Bearbeitung im Alltag fördern, gleichzeitig aber die Zusammenarbeit behindern können. Kooperation setzt Distanz zum eigenen Arbeitsfeld voraus. Einer bestimmten Art von Kompetenz fallt das schwer. Inflexibilität der Verwaltung ist eine der Folgen. Arbeitsteilung und Spezialisierung führen zudem zu formal gebotenen wie informell nützlichen Verflechtungen, also regelmäßigen, angeordneten oder gewachsenen Arbeitsbeziehungen, die die formale Ordnung der Aufbau- und Ablauforganisation vielfältig überlagern. Funktionierende Verflechtungen beschleunigen Arbeitsabläufe und verbessern die Zusammenarbeit, weil wechselseitiges Wissen um die Arbeitsbedingungen des anderen deren vorweggenommene Berücksichtigung erleichtert. Verflechtungen in Behörden interessieren deshalb weniger, obwohl sie Verantwortlichkeit begrenzen, Zeit kosten und die Optimierung von Arbeitsergebnissen behindern können. Horizontale wie vertikale Verflechtungen zwischen Behörden oder Ebenen des politischen Systems interessieren hingegen mehr, weil sie dieses System verändern, indem sie zu eigenen Formen der Machtausübung (etwa durch Vetorechte, Verzögerungstaktiken oder Zuschüsse) führen. Der kooperative Föderalismus ist etwas anderes als ein Unterschiede respektierender Föderalismus. Die politische Willensbildung wird beeinträchtigt, wenn Fachbruderschaften untereinander Standards festlegen, die dann gegen die jeweilige Verwaltungseinheit geltend gemacht werden. Entscheidungsprozesse sind oft mit einem zu hohen Zeitaufwand verbunden, führen zu unbefriedigenden Kompromissen oder zu einer Anonymisierung des Vorgangs. Systematisch verweisen Verflechtungen somit auch auf Mängel oder Grenzen der Arbeitsteilung und auf Folgen einer in die hierarchische Ordnung eingebundenen Spezialisierung. 3 Kindertagesstätten sind Sache der Gemeinden. Gibt das Land Zuschüsse, dann erlässt es auch Richtlinien, überprüft deren Einhaltung und - bei der Abrechnung - den gesamten Aufwand. Damit entsteht Verflechtung. Die Folgen sind erheblich. Für die Kindertagesstätten bildet sich oberhalb der Träger eine eigene Bürokratie heraus und erhebt bald den Anspruch, auch in Sachen Kindererziehung sachverständig zu sein.4 Die Bau- und Kostenträger wiederum sind bei allen Planungen gezwungen, die Auslassungen jener Bürokratie zu berücksichtigen. Sie werden

3 Auf die Veränderung des Demokratiegehalts einer Gesellschaft durch die Verflechtung politischer Ebenen weisen wir nur hin. Demokratie hat es bekanntlich immer auch mit Macht und Herrschaft zu tun. Sie wird in einem hierarchischen politisch-administrativen System (in dem etwa zwischen Gemeinde, Kreis, Land, Bund und Europa unterschieden wird) beschränkt. Schon deshalb müsste man anstreben, die gebietskörperschaftlichen Ebenen zu entflechten, d.h. die Aufgabenteilung zwischen ihnen eindeutiger als heute vorzunehmen. Umgekehrt erscheinen uns die Bemühungen, weitere Zwischenebenen mit einer demokratischen Komponente auszustatten, überprüfungsbedürftig. Im Ergebnis läuft das eher auf Schwächung der demokratischen Ordnung hinaus und widerspricht diametral dem heute so hoch gehaltenen Prinzip der Delegation. 4 An in Teilen panoptikumsreifen Beispielen hierfür herrscht kein Mangel. Besonders illustrativ war für lange Zeit die Feuerschutzbürokratie der deutschen Innenministerien. Sie führte in Baden-Württemberg zu dem Meisterstück einer jahrelang vorbereiteten Vorschrift für die (kommunalen) Feuerwehranzüge („Jacke 90" nebst zugehöriger Hose - 35 Seiten entfallen auf die Jacke), die ironische, zynische oder auch nur resignative Ausführungen über Bürokratien und Regelungskulturen weit übertrifft. Vgl. u.a. Stuttgarter Zeitung vom 26.11.1996, S. 2: „Wenn Beamte um ein Strickbündchen feilschen".

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik durch Verflechtung in ihrem ureigenen Aufgabengebiet abhängig. Dass der Bund sich gelegentlich bei verbleibender finanzieller Unzuständigkeit für sachlich zuständig erklärt, gehört zu den Unerträglichkeiten gegenwärtiger Politik. Verflechtung ist somit ein Oberbegriff, unter den sich verschiedene Formen der Zusammenarbeit subsumieren lassen. Entsprechende Ausprägungen sind konsequent auf ihre Notwendigkeit hin zu befragen, auf ihre Kosten hin zu untersuchen und dann aufzuheben, wenn sie entbehrlich erscheinen. Bürokratisierung steht am Beginn der modernen Verwaltung und hält seitdem als ständiger Prozess an. Ihre Auswirkungen haben sich mehrfach geändert, in den vergangenen Jahrzehnten aber einen neuen Höhepunkt erreicht. Zu Beginn ging es um Regelhaftigkeit, Schriftlichkeit, Aktenmäßigkeit, Gleichmäßigkeit, Rechtmäßigkeit, Überprüfbarkeit, also um das bürokratische „Korsett" einer hierarchisch konstruierten Verwaltung, die einen ihr vorgegebenen Willen dem Inhalt wie der vorgeschriebenen Weise nach vollziehen sollte. Die bürokratische Organisation entwickelte sich als grundlegende Form rationalen Verhaltens im Dienste gegebener Zwecke. Im Verlauf der wissenschaftlich-technischen Entwicklung wuchsen dann die Fähigkeiten dieser Organisation, sich im Büro ein eigenes Bild von der Wirklichkeit zu machen und vom Büro aus auf diese Wirklichkeit steuernd einzuwirken. Jenes Bild beruht auf zweckorientierten Auswahlakten. Bürger werden in Formularen auf ihre Rolle als Steuerzahler begrenzt; Wirklichkeit wird durch Reduktion auf bestimmte Tatbestände hantierbar. Nicht mehr der durch seinen Kreis „kutschierende" und am Ort anregende und entscheidende Landrat ist prototypisch für die Verwaltung, sondern der Fachmann, der sich im Büro die erforderlichen Unterlagen verschafft, um dann das Verhalten oder Entscheiden anderer zu lenken. Diese Form der Bürokratisierung erlaubt die beliebige Hochzonung von Informations- und Entscheidungsprozessen; das Büro muss nicht orts- oder bürgernah, es kann durchaus der Macht- oder der Entscheidungszentrale eng verbunden sein. Die Fähigkeit zur Wirklichkeitserfassung muss sich mit zunehmender räumlicher Distanz nicht vermindern, Distanz kann sogar entlasten. Vermehrte bürokratische Kapazität stärkt deshalb in der Regel die Zentralen. Zugleich bildet sich die spezifisch moderne Form der Verflechtung aus, wenn zwischen Büros unterschiedliche Bilder von Wirklichkeit a b z u gleichen sind, deren formale und inhaltliche Verfestigung oft erheblich ist und die von Spezialisten mit jeweiligen Fachsprachen verteidigt werden. Umgekehrt gewährleisten oft nur die besonderen bürokratischen Fähigkeiten den wenigstens losen Zusammenhalt großer Verwaltungen und den der öffentlichen Verwaltung schlechthin.

2.3. Ansätze zur Verwaltungsreform: ein Rückblick Die beschriebenen Tendenzen der Verwaltung, sich auszudehnen, zu spezialisieren, zu verflechten und zu bürokratisieren, mussten - vor allem vor dem Hintergrund überkommener Organisationsstrukturen - schon bald eine Reformdiskussion auslösen. Da für die öffentliche Verwaltung in der Hauptsache die Länder zuständig sind, die ihre eigene Verwaltung strukturieren und den Kreisen und Gemeinden in den Kreis- und Gemeindeordnungen einen entsprechenden Rahmen setzen, ist auch die Verwaltungsreform vor allem eine Angelegenheit der Länder. Der Bund kommt nur bei der Reform des öffentlichen Dienstrechts ins Spiel, weil er hier über eine eigene Kompetenz gemäß Art. 73 Ziff. 8 GG und eine die Länder übergreifende Kompetenz gemäß Art. 74 a GG verfügt, welche die Rahmenkompetenz nach Art. 75 Ziff. 1 GG weithin erübrigt. Schon dieses Nebeneinander führt zu neuen Widersprüchen·, der Bund entscheidet über das Dienstrecht, obgleich die große Zahl der Verwaltungsmitarbeiter von Ländern und Gemeinden beschäftigt wird. Umgekehrt fallen Last und Notwendigkeit der Verwaltungsreform bei den Ländern an, obgleich der Bund ganz 322

2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem überwiegend Ausweitung und Intensivierung der öffentlichen Aufgaben verursacht. Das durch Föderalismus und Selbstverwaltung bedingte Auseinanderfallen von Aufgaben- und Organisationszuständigkeit macht sich hier besonders bemerkbar. Die Bemühungen der Länder um eine Verwaltungsreform (unter vielen F. Behrens u.a., 1995; M. Miller, 1995; J. J. Hesse, 1998-2002) vollzogen sich in bislang vier Phasen. In der ersten Phase ging es vor allem um eine Rechtsbereinigung. Bayern machte den Anfang und summierte 1957 in vier Bänden den Bestand an gültigen Gesetzen, wodurch die Gesetzesund Verordnungsblätter der Zeit ab 1806 überflüssig wurden. Die anderen Länder folgten; meist begnügte man sich aber mit einer punktuellen Bereinigung, welche dann sporadisch wiederholt werden müsste. In Nordrhein-Westfalen ging man einen Schritt darüber hinaus und verfügte, dass Erlasse und zum Teil auch Verordnungen nach fünf Jahren außer Kraft treten, wenn nicht im Einzelfall Gegenteiliges beschlossen wird. Die nordrhein-westfälische Sammlung der Gesetze und Verordnungen, die neben das Gesetz- und Verordnungsblatt tritt, enthält damit einen weithin aktualisierten Bestand. Ein solches Verfahren hat langfristig aber nur Sinn, wenn man an dem Bestand nicht allzuviel ändert. Deshalb hat die in den 1950er Jahren beginnende Rechtsbereinigung kaum etwas von der Kritik an Bürokratisierung, Überregelung und Verrechtlichung abschwächen können, die die spätere Diskussionen bestimmte. In einer zweiten Phase ging es dann um eine territoriale Verwaltungsreform, wobei nach dem Scheitern einer Länderneugliederung vor allem die Gemeinde- und Kreisebene im Mittelpunkt stand; zum Teil wurden auch staatliche Einheiten (Regierungsbezirke) erfasst (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz). Die territorialen Neugliederungspläne wurden in den 1960er Jahren diskutiert und führten vergleichsweise rasch zu konkreten Vorschlägen, die man dann weitestgehend verwirklichte. Die Unzahl der Gemeinden (mehr als 24.000), die oft kleinen Kreiszuschnitte, die den früheren Verkehrsbedingungen entsprechenden Regierungsbezirke u.a.m. legten entsprechende Reformen nahe. Die Ziele lagen auf der Hand. 5 Man wollte leistungsfähige Verwaltungseinheiten schaffen, die ein Mindestangebot an öffentlichen Dienstleistungen erbringen, ein ausreichendes und zureichend spezialisiertes Personal beschäftigen und - in ihrer Selbstverwaltung - wenigstens bedingt eigenständig handeln können. Zugleich ergaben sich zwei Vorteile. Die Neugliederung kostete wenig und ließ sich als wirtschaftlich bezeichnen. Dass man sie vielfach mit der Behauptung verband, es werde damit auch Personal eingespart, entsprach allerdings nicht der Realität; das Gegenteil war der Fall (nachgewiesen in Th. Ellwein/R. Zoll, 1973). Man sparte nicht, setzte nur mehr Personal rationeller ein als bisher. Soweit die Neugliederung zur Auflösung von kleinen Gemeinden führte, ging dort das ehrenamtliche Element verloren. Wenn größere Gemeinden entstanden, geschah das vor allem, um ein Schwimmbad unterhalten, ein besseres Verkehrsangebot erbringen oder über die Mindestgröße für bestimmte kommunale Einrichtungen verfügen zu können. Die Auflösung der Kleinst- und der kleineren Gemeinden bewirkte zudem einen Urbanisierungssprung mit erheblichen Kostenfolgen; sie auch zu wollen, wäre ein wichtiges Politikum der Neugliederung gewesen.

5 Aus der umfangreichen Literatur sind zu nennen: die grundlegende Erörterung „rationaler" Verwaltungseinheiten bei F. Wagener, 1969, die Arbeiten von V. Wrage, 1975, und D Schimanke, 1978, die große VeröfFentlichungsreihe von H J. Oertzen/W. Thieme, 1979ÍT., sowie W. ThiemelG. C. v. Unruhl G. Scheuner, 1981. Die Auseinandersetzungen wurden nahezu identisch erneut geführt, als die Gemeinde- und Kreisgebietsreformen in den neuen Ländern diskutiert wurden, siehe dazu H. Schneider, 1994, sowie A. Fremei, 1995. Zu einer aktuellen Einschätzung vgl. J. J. Hesse!A. Götz, 2004.

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik Insgesamt aber lässt sich sagen, dass die Gebietsreform unvermeidlich war und offenkundig Fortschritte erbrachte. Man muss jedoch hinzufügen, dass sie unter einschränkenden Bedingungen erfolgte. Vor allem fehlte die Bereitschaft, den nunmehr leistungsfähigeren unteren Verwaltungseinheiten auch mehr Selbständigkeit einzuräumen. Die Landesministerien reformierten eifrig, gaben aber von der eigenen Zuständigkeit nichts ab. Damit schrieb man den bestehenden Zustand der kommunalen Selbstverwaltung fest, obgleich die frühere Rechtfertigung entfiel, viele Kommunen seien gar nicht in der Lage, die Möglichkeiten der Selbstverwaltung auszuschöpfen. Die in der dritten Phase zu erwartende Funktionalreform, zunächst vielfach als der eigentliche Grund für die Territorialreform genannt und später gleichsam als Kompensation gesehen, blieb jedenfalls in größerem Umfang aus. Dabei gibt es selbstverständlich Unterschiede: Nordrhein-Westfalen, seit 1949 besonders kommunalfreundlich, vollzog um 1970 die radikalste Gebietsreform, führte aber auch eine weitgehend konsequente Funktionalreform durch (vgl. D. Thränhardt, 1978; G. W. Wittkämper, 1978; J. J. Hesse, 1999). Die offiziellen Aufstellungen über die Zuständigkeiten der Kreise und erstinstanzlichen Zuständigkeiten der Regierungspräsidenten gehören heute zu den wenigen nahezu vollständigen Erhebungen. Die Fülle der Zuständigkeiten hat ansonsten fast jeden Versuch einer Reform etwa der Ministerialebene oder der Mittelinstanz scheitern lassen. In anderen Ländern hielt man sich vorsichtig zurück. Was etwa Bayern nach seiner Gebietsreform auf die Gemeinden verlagerte, ist kaum der Rede wert. Die Funktionalreform in ihrer begrenzten Wirkung zeigt, dass es leichter ist, eine abhängige Organisation zu verändern - und die Gemeinden waren und sind abhängig - als im eigenen Bereich tätig zu werden. Auch mag in der Zeit der kommunalen Gebietsreform, die für den Staat nicht zuletzt notwendig wurde, um den Planungsegoismus der kleineren Gemeinden zu überwinden, die Einsicht gewachsen sein, dass die neuen, sehr viel größeren Kommunen noch immer nicht groß genug seien, um bei der Regionalplanung die Konzepte der Landesplanung zu realisieren und dabei einen innerregionalen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen zu gewährleisten. Jedenfalls richtete man allenthalben Planungsorganisationen oberhalb der Kreise und kreisfreien Städte ein, komplizierte damit den Entscheidungsprozess und brachte zum Ausdruck, dass die unteren Planungsinstanzen eben noch immer nicht groß genug seien, um überregional und überörtlich festgelegte Ziele umsetzen zu können. Da inzwischen der Stellenwert der (Bundes-) Raumordnung, der Landesplanung und der Regionalplanung ersichtlich geringer geworden ist (vgl. für die Zeit bis 1980 D. Fürst!J. J. Hesse, 1981, zu neueren Entwicklungen E.-H. Ritter, 2003), tritt dieser Gesichtspunkt wohl auch künftig zurück. Das Erstarken der Gemeinden als Folge einer Schwächung staatlicher Einrichtungen lässt sich prognostizieren. Das wird auch in Zusammenhang mit der Funktionalreform sichtbar. Die Reform sollte dezentrale Einrichtungen stärken; diese hätten dazu auch Impulse der nächsthöheren Ebene benötigt. Über die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern wurde aber nur diskutiert, wurden auch, etwa durch die (im Ergebnis gescheiterte) £«^wê/e-Kommission des Deutschen Bundestages, Vorschläge unterbreitet, ist aber letztlich nie nachhaltig verhandelt worden. Rechtsbereinigung, Gebietsreform und Funktionalreform haben wachsende Kritik an Staat und Bürokratie sowie an beider Anonymität und Intransparenz im Verhältnis zum Bürger nicht verhindern können. Diese Kritik, von der Politik notgedrungen aufgenommen, bestimmte die vierte Phase, die etwa Mitte der 1970er Jahre einsetzte und zunächst unter dem Stichwort Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit stand. Bald erhielt sie aber ihre entscheidenden Impulse von einer Bürokratie, die sich in unterschiedlichsten thematischen und formalen Bezügen äußerte und auf Verwaltungsvereinfachung drängte. Die auch in anderen 324

2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem westlichen Industriestaaten erkennbare Diskussion führte dabei ab 1978 zunächst zur Bildung einer Reihe von Länderkommissionen, deren Titel („Kommission zur Gesetzes- und Verwaltungsvereinfachung" oder zur „Bürgernähe in der Verwaltung") den Schwerpunkt des jeweiligen Untersuchungsinteresses verdeutlichte; 1983 folgte der Bund mit der Einrichtung einer „Unabhängigen Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung". Die damit gegebene Eingrenzung der sehr breiten Bürokratiediskussion ermöglichte einerseits eine Konkretisierung von Fragestellungen und Untersuchungskategorien (Bürgernähe, Verwaltungseffizienz, Gesetzesvereinfachung), begrenzte andererseits aber auch die Reichweite der angestrebten Empfehlungen. Dies nahmen einige Bundesländer, allen voran BadenWürttemberg, zum Anlass, die auf Verwaltungsvereinfachung zielenden Bemühungen schrittweise zu erweitern, wobei zunächst Fragen der Führungsorganisation, schließlich die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechniken in den Vordergrund des Interesses traten. Die zusammenfassend als Modernisierung der öffentlichen Verwaltung firmierenden Aktivitäten gewannen damit einen weit über die ursprünglichen Vorstellungen hinausgehenden Anspruch. Gleichsam gescheitert und deshalb hier nicht unter die Phasen einer Verwaltungsreform eingereiht, ist die Reform des öffentlichen Dienstrechts. Für sie ist, wie ausgeführt, der Bund zuständig. Er stand dabei 1949 vor der Ausgangslage, dass das überkommene Dienstrecht (vgl. W. Wiese, 1972; T. EllweinIR. Zoll, 1973; T. Ellwein, 1980; H. Hattenauer, 1980) drei Gruppen unterscheidet: die Beamten in einem gesetzlich geregelten, öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis sowie die Angestellten und Arbeiter, beide in einem zwischen Dienstherren und Gewerkschaften ausgehandelten Vertragsverhältnis. 1949 legte der Verfassungsgeber in Art. 33 G G die Gleichheit des Zugangs zu den öffentlichen Amtern fest und behielt die hoheitsrechtlichen Aufgaben in der Regel den Beamten vor. Das Recht des öffentlichen Dienstes sollte im Übrigen „unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln" sein. Das war von vornherein widersprüchlich, weil zum einen die hoheitsrechtlichen Aufgaben an Umfang und Bedeutung längst hinter denen der leistenden Verwaltung zurückgetreten waren, und weil es zum anderen schon weitaus mehr Angestellte und Arbeiter als Beamte gab. Verfassungsrechtler und Beamtengesetzgeber mussten deshalb die Verfassung dynamisch interpretieren. Dennoch bleibt der Zustand unbefriedigend. Zahllose Angestellte üben hoheitliche Funktionen aus, zahllose Beamte - so etwa Lehrer - tun etwas, was sich zwar auch in einem Rechtsrahmen bewegt, nichts aber mit einer Beamtenfunktion im früheren Sinne, also mit der Repräsentation des Staates gegenüber dem Bürger, gemein hat. In der Folge wollen die Angestellten an den sozialen Privilegien der Beamten teilhaben, während viele Beamte nach dem Sinn ihrer besonderen Abhängigkeit fragen, die sie in ihrem Streikrecht oder an beruflicher Mobilität hindert. Deshalb verständigte man sich verbal auf die Forderung nach einem einheitlichen Dienstrecht für alle Mitarbeiter. Der Bundestag erteilte einen entsprechenden Auftrag; die Bundesregierung setzte eine Studienkommission ein. Die Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts legte termingerecht ihren Bericht vor. Dieser und elf Gutachten-Bände wurden 1973 veröffentlicht. Im Ergebnis forderte die Kommission einen einheitlichen öffentlichen Dienst, konnte sich aber nicht einigen, ob dieser gesetzlich oder tarifvertraglich geordnet werden sollte. Das Erstere fand eine geringe Mehrheit, die durch die Zusammensetzung der Kommission vorgezeichnet war. Auch das Hinausschieben oder Scheitern einer etwaigen Reform war vorprogrammiert, solange man sich um eine Lösung aus einem Guss bemühte. Darauf aber zielten 1972 sowohl die sozialliberale Koalition als auch die Kommission und die in der Hauptsache beteiligten Verbände, die ÖTV, der DBB und bedingt auch die DAG. Diese mussten wie alle 325

V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik Verbände den status quo wahren - die Reform durfte also nur Verbesserungen bringen - , und es ging zugleich um ihre Existenz; die des Beamtenbundes wäre mit einer tarifrechtlichen Lösung gefährdet gewesen, die wiederum der ÖTV einen besseren Zugang zum gehobenen und höheren Dienst gebracht hätte. Geldmangel, Verbändewiderstand und wachsende öffentliche Kritik an den Privilegien des öffentlichen Dienstes, an den überproportionalen Zuwachsraten der Beförderungsstellen - beim Bund verdoppelten sich in 20 Jahren der gehobene und der höhere Dienst, und hier wie in den Gemeinden schrumpfte der einfache Dienst („Beförderungsinflation") - oder an der Zurückstellung des Leistungsprinzips erzwangen den Verzicht auf die „große Reform". Nach dem Scheitern dieses Versuches zur Verwirklichung einer umfassenden Dienstrechtsreform schien das Feld lange Zeit für Politiker zu unattraktiv, um erneute Vorstöße zur Modernisierung der Personalstrukturen und des Personalrechts im öffentlichen Dienst zu unternehmen. Lorbeeren ließen sich hier nicht gewinnen. Die qualitative und quantitative Ausdehnung des öffentlichen Dienstes in den 1970er Jahren erfolgte deshalb im Rahmen der im Wesentlichen unverändert übernommenen Strukturen. Die absehbare Doppelbelastung der öffentlichen Haushalte, die zukünftig sowohl Gehälter als auch Pensionen für die stark angestiegene Zahl öffentlicher Bediensteter tragen mussten, wurde ignoriert. Erst in den 1990er Jahren zeitigte das seit langem absehbare Problem erste Reaktionen. Zunächst errichteten Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz einen Pensionsfonds, in welchem Rückstellungen für die Alterssicherung angesammelt wurden. Schließlich reagierte auch der Bund, nachdem im sog. „ Versorgungsbericht", den das Bundesinnenministerium im Herbst 1996 vorlegte, die voraussichtlichen Belastungen für die Haushalte von Bund und Ländern konkret benannt wurden. Nun sah man eine verpflichtende Rücklage für Pensionszahlungen vor, die von den Beamten ab dem Jahr 2001 durch einen jährlichen Verzicht auf 0,2 Prozent ihrer Besoldungserhöhung finanziert wird. Zusätzlich wurden unbedeutendere Flexibilisierungsmaßnahmen innerhalb des öffentlichen Dienstrechts auf den Weg gebracht - so die Möglichkeit, Führungspositionen zunächst auf Probe zu besetzen und erweiterte Leistungsanreize einzuführen (vgl. Bundesministerium des Innern, 2002). Der Anspruch, eine „große Dienstrechtsreform" einzuleiten, blieb unerfüllt.

2.4. Staats-, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Bund und Ländern Heute erzwingen die Folgen der Vereinigung und der fortlaufende Europäisierungsprozess eine konsequente Diskussion über den Zustand der deutschen Staatlichkeit. Dabei stehen die Einrichtungen von Bund, Ländern und Gemeinden gleichermaßen auf dem Prüfstand. Allerdings dominieren auch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung noch immer Absichtserklärungen - über die parteipolitischen Grenzen hinweg. Die Forderungen nach einem „schlanken Staat" sind zwar Legion, doch ist nicht erkennbar, dass man sich ernsthaft darum bemühte, die Frage nach dem „ Was soll und kann der Staat?" auch wirklich zu beantworten. Politik und Verwaltung wollen zwar zu einer Reform der deutschen Staatlichkeit mit einer Überprüfung der öffentlichen Aufgaben und einer Neudefinition des Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor beitragen, entziehen sich aber dieser Pflicht. Obwohl laut nach einer Rückführung des Staates auf seine „Kernaufgaben" gerufen wird, kommt es noch immer zu einer Aufsplitterung - und damit zwangsläufig Aufgabenausdehnung - von Bundes- wie Landesministerien. Statt konsequent zu fragen, welche Aufgaben durch welche gebietskörperschaftliche Ebene wirklich wahrzunehmen sind, wie Spezialisierungsprozesse und daraus folgende Verflechtungen abgebaut werden können und ob es des durchaus noch immer erkennbaren Wachstums öffentlicher Aufgaben tatsächlich bedarf,

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2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem wird über eher periphere Veränderungen, diskussionswürdige Trägerschaften und fragwürdige Arbeitsteilungen debattiert. Damit entzieht sich die Diskussion einer notwendigen Bestandsaufnahme des deutschen Föderalismus und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern, verbleibt die deutsche Ministerialorganisation nicht selten noch auf dem Stand der 1960er Jahre, werden eine Reihe von Instanzenzügen und überkomplexe Verfahren zunehmend funktionslos. Man kuriert also weiterhin an Symptomen und versucht, den Eindruck zielorientierten Handelns zu erwecken, obwohl häufig Beliebigkeit und punktuelles Agieren vorherrschen. Welche Aufgaben sollte, welche Aufgaben müsste ein Staat unbedingt erfüllen? Die Grenzen einer Beantwortung dieser Frage werden bereits mit Blick auf die quantitative und qualitative Varianz der Staatstätigkeit im internationalen Vergleich deutlich. Während 1999/ 2000 in Deutschland (46,6 Prozent) und in Frankreich (51,6 Prozent) nahezu die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts auf den öffentlichen Sektor und seine Ausgaben entfällt, beträgt die Staatsquote in den USA lediglich 34,3 Prozent und in Großbritannien 42,3 Prozent (OECD, 2001). Über zwei Drittel des Bundeshaushaltes fließen in staatliche Aufgaben der Sozialen Sicherung und des Gesundheitswesens, in den USA nicht einmal ein Drittel. Schon von daher erweist es sich als schwierig, jene Aufgaben zu benennen, die ein Staat unbedingt erfüllen muss. Zudem wird fast jede Aufgabe, die hierzulande als öffentlich gilt, anderswo durchaus auch privatwirtschaftlich angeboten; dies reicht von der Abwasserbeseitigung über den Bau und den Unterhalt von Straßen oder Parkanlagen bis weit in das jeweilige Bildungssystem hinein. Wir wissen nur näherungsweise, was Staat und Gemeinden zusammenfassend tun, weil man weder alle konkreten Aufgaben, die von den öffentlichen Händen in Deutschland erledigt werden, erfassen noch die jeweiligen Kosten genau ermitteln kann. Eine erste Schwierigkeit ergibt sich bereits aus den unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die in Geschäftsverteilungsoder Organisationsplänen Verwendung finden. Auch behindert die in der Verwaltung entwickelte Kunst, aus allem und jedem mit anspruchsvollen Bezeichnungen ein „Geschäft" zu machen, das „verteilt" werden und für das ein Mitarbeiter „zuständig" sein muss. Weiter wird die Frage der Kostenermittlung durch das Haushaltsrecht und die Praxis der Haushaltsgestaltung erschwert. Aufgrund der hier kaum noch nachzuvollziehenden Differenzierungsprozesse wird eine Zuordnung von Kosten zu Aufgaben nahezu unmöglich. Aufgaben- und Kostenverantwortung verbleiben damit auch weiterhin getrennt. Zudem wird die Vermögensrechnung systematisch ausgeblendet, was der Verschuldungsdiskussion gelegentlich fast irreale Züge gibt. Die relative Unkenntnis über tatsächlich bewältigte öffentliche Aufgaben und ihre Kosten prägt und behindert die Staatsdiskussion. Während es vergleichsweise leicht ist, öffentliche Aufgaben durch einen Gesetzes- oder Haushaltsbeschluss oder auch durch die Bereitstellung von Personal und Einrichtungen auszuweisen, fällt es umgekehrt ausgesprochen schwer, auf die Aufgabe gänzlich zu verzichten oder auch nur ihre Erledigung grundlegend zu verändern. Wirksame Mechanismen zur Aufgabenüberprüfung fehlen bislang noch immer. Die Praxis einiger Städte, über aufwendige Produktkataloge zu einer kritischen Sichtung des Aufgabenbestandes beizutragen, muss sich erst noch bewähren. Zu befürchten ist, dass auch die auf diese Weise bereitgestellten Informationen nicht zur Reduzierung des Bestandes führen werden. Staatsauf gaben expandieren im Zeitablauf. Wie aufgezeigt, kam es in der Folge zu einem ständigen Wachstum der öffentlichen Aufgaben, des Personals im öffentlichen Dienst, des Umfangs öffentlicher Regelungen und des finanziellen Bedarfs der öffentlichen Hand. Die Frage nach dem, was der Staat wirklich tun und dem, was er lassen sollte, wurde weder 327

V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik zureichend gestellt noch gar beantwortet, die Grenzen zwischen dem Notwendigen und dem unter den verschiedensten Gesichtspunkten Wünschenswerten vermischten sich. So kam es zu einer Überforderung des Staates und einer Auflösung der Politik in unzählige Teilpolitiken, mit der wiederum eine Gefährdung der grundlegenden Staatsfunktionen einherging. Der Staat, den wir zur Bewältigung von Zukunftsaufgaben brauchen, sollte zunächst das Notwendige tun, bevor er sich dem Wünschenswerten zuwendet. Dabei geht es um die Festlegung von Kernbereichen staatlichen Handelns. Diese Überlegungen können der Einfachheit halber bei den fünf klassischen Ministerien ansetzen. Uber die Gewährleistung des äußeren Friedens, die Bekämpfung von Armut, den Schutz der Umwelt oder auch den der eigenen Staatsangehörigen, alles Kernaufgaben auch im internationalen Vergleich, wird es nie nur eine Meinung geben. Deshalb sind hier auch keine Meinungen vorzutragen und zu begründen, außer der, dass es sich um öffentliche Kernaufgaben handelt. U m diese lösen zu können, muss der Staat der Zukunft anders entscheidungsfähig sein als heute. Das gilt aus deutscher Sicht zunächst für die Europäische Union und die NATO sowie zunehmend auch für die Vereinten Nationen. Ziel der nationalen Politik müsste es mithin sein, das internationale System zu stärken, es mehrheits- und damit entscheidungsfähig zu machen. Das wiederum wird nur möglich sein, wenn die Aufgabenunterscheidung zwischen Zentralstaat und Ländern gelingt, wenn also - vereinfacht - Baden-Württemberg oder Bayern keine Vertretung in Brüssel benötigten, weil dort keine gesonderte Lobby für den Wirtschaftsstandort Stuttgarter oder Münchener Raum erforderlich ist und kein bundeslandspezifischer Zugang zu Fördermitteln eröffnet werden müsste. Kurz: Verfassungspolitik muss so lange vor der Fachpolitik rangieren, bis Entscheidungsfähigkeit gewährleistet ist - im Zweifel auf weniger Entscheidungsfeldern als heute. Im Innern und weitgehend dem transnationalen Zugriff entzogen, gehören unstrittig zu den Kernaufgaben des Staates die Wahrung des Rechtsfriedens und der öffentlichen Ordnung. Die deutsche Justiz und die Polizeibehörden sind zweifellos funktionsfähig. Natürlich gibt es auch hier Kritik, diese aber zielt in der Hauptsache auf Vereinfachung - die auch notwendig ist - und nicht auf die Aufgabe selbst. Ordnung, Sicherheit, organisierte Gefahrenabwehr im weiteren Sinne also, beziehen sich heute auf sehr viel mehr Gefahren und Gefahrenarten als früher. Auch früher war Wasser ein kostbares Gemeingut und Brunnenvergiftung ein schweres Verbrechen. Auch früher konnten Bauart oder Nutzung eines Hauses zur Gefährdung für andere Häuser werden. Hier wie dort reagierte man mit Nutzungs- und Schutzvorschriften. Das alles hat sich erweitert: Technische Geräte werden überprüft, die Sicherheit am Arbeitsplatz unterliegt der Kontrolle, für Emissionen werden Grenzwerte festgelegt, der Schutz von Nachbarn, anderweitig Betroffenen oder auch der Umwelt erlangen immer größere Bedeutung. Das machte die Erweiterung der öffentlichen Verwaltung notwendig und brachte die Gefahr des Missbrauchs mit sich. Deutsche Landesbauordnungen - seit einigen Jahren Objekt der Vereinfachung - liefern gute Beispiele für die Schwierigkeiten der Grenzziehung, wenn sie etwa im Hausinneren Treppengeländer oder Mindestmaße für Wendeltreppen vorschreiben, während sich in anderen Ländern niemand um solche Fragen kümmert oder sie zumindest nicht durch Regelungen zu beantworten sucht. Zum Kernbereich staatlicher Tätigkeit gehört weiter die Ressourcenbeschaffung. Der moderne Staat ist ein Steuerstaat, dessen Ausgaben vornehmlich aus dem unmittelbaren Staatsbeitrag der Bürger bestritten werden, während andere Einnahmen nur noch eine marginale Rolle spielen. Auch hier stellt sich nicht die Frage nach dem „Ob", weil niemand den Einnahmebedarf des Staates bestreiten kann. Es stellt sich aber die Frage nach dem „Wie" und dem „Wieviel". Jeder halbwegs Steuerkundige weiß, dass man mit einem höheren

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2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem Grundfreibetrag, mit einer in den unteren Bereichen langsameren Progression und mit der Abschaffung einiger Nebensteuern den Steuereinzug drastisch beschleunigen und verbilligen könnte, ohne den Steuerertrag nennenswert zu vermindern. Diese Grundideen liegen auch den Vorschlägen im Rahmen der jüngsten Diskussion um eine Steuerreform zugrunde. Dennoch lässt sich heute schon absehen, dass der angekündigte „große W u r f wohl erneut nicht Realität werden wird. Es ändert sich bestenfalls Marginales. Fach- und Teilpolitiken wirken so auf die Steuerpolitik ein, dass diese ihrem Kernauftrag entfremdet wird. Der Ausweis öffentlicher Kernaufgaben sagt freilich noch nichts über ihre Bewältigung aus. Die öffentliche Hand soll die Wasserqualität und die Wasserversorgung gewährleisten, muss die entsprechenden Einrichtungen aber nicht unbedingt selbst betreiben; die öffentliche Hand soll Standards festlegen, kann die Kontrolle ihrer Einhaltung aber durchaus privatisieren; im Übrigen vermag sie sich an Prioritäten zu orientieren, indem sie etwa den Schutz Dritter in den Vordergrund stellt. In Deutschland wird man alles in allem eher über eine Rücknahme der staatlichen Gewährleistung von Sicherheit und ein Mehr an individueller Verantwortung (und auch an Haftung von Produktherstellern jedweder Art, Architekten eingeschlossen) nachdenken müssen. Angesichts der zunehmenden Überlastungs- und Überforderungssymptome des Staates muss der schleichenden Verantwortungsexpansion ein Ende bereitet werden. Um den Staat sinnvoll und effektiv zu entlasten, ist mithin eine wirkliche Reform von Staat und Verwaltung notwendig. Neben der Diskussion um die staatlichen Aufgaben und die sie erfüllenden Institutionen sind dabei auch Fragen nach den Verfahren sowie den finanziellen und personellen Ressourcen zu stellen. Dies wird auf allen gebietskörperschaftlichen Ebenen zwar angekündigt, von einer Umsetzung ist man jedoch noch weit entfernt. So haben Haushaltskrise und Funktionsdefizite der öffentlichen Hand bei Bund, Ländern und Gemeinden zwar zu eifrigen Diskussionen, heftigem - und manchenorts blindem Aktionismus und nahezu überall zur Einsetzung von Reformkommissionen und Sachverständigengremien geführt, doch ist wirklich Sachkundigen erinnerlich, dass ähnliche Einrichtungen mit austauschbaren Arbeitsaufträgen seit vielen Jahren auf die immer gleichen Fragen zielen. Sieht man von der Finanzreform 1969 und den Gemeindegebietsreformen Anfang der 1970er Jahre ab, blieben die Bemühungen meist folgenlos. Es ist daher zu fragen, ob es sich mit dem „Schlanken Staat" um einen erneuten Versuch am untauglichen Objekt handelt oder ob die Untauglichkeit nicht eher im Ansatz selbst liegt. Blickt man auf die gegenwärtige Diskussion, dominieren die bereits angesprochenen Absichtserklärungen. Wer will keinen „schlanken Staat", eine „Übertragung privatwirtschaftlicher Managementkonzepte auf den öffentlichen Sektor", „Testkataloge" für Gesetzgebungsverfahren, ein „Leitbild für eine zukunftsorientierte Verwaltung", eine „Fortsetzung von Deregulierungspolitiken" oder ein „ Controlling" zur Überwindung der herkömmlichen Kameralistik? „Gesellschaftliche Aufgaben müssen nicht zwangsläufig vom Staat selbst erledigt werden", erkennen die großen politischen Parteien und fordern den Abbau von „Überbürokratisierung und Überregulierung". Selbst in Dokumentationen wie „Grüne Ideen zur Verwaltungs- und Haushaltsreform" werden einem Abschnitt „Effizienzsteigerung durch Deregulierung" mehrere Seiten eingeräumt. Wer derartige Kategorien für „innovativ" oder umsetzbar hält, sei erneut auf die seit wenigstens 20 Jahren andauernde Diskussion verwiesen. Sie blieb im Ergebnis zirkulär, setzte unkonkrete Zielkataloge an die Stelle umsetzbarer Politiken und beantwortete den Ruf nach unabweisbaren Reformen mit nicht selten wohlfeilen Erklärungen. Inzwischen sieht es so aus, als kapitulierten die Volksvertreter endgültig vor einem reformresistenten Aufgaben329

V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik feld, als suche man sich über eine Vereinfachung von Fragestellungen aus der Verantwortung zu stehlen. Der unbestreitbare, wenn auch zu häufig - und folgenlos - diagnostizierte „Reformstau" reicht offenbar noch immer nicht aus, um die Politik zu deutlichen Aussagen und nachvollziehbaren Maßnahmen zu bewegen. Auch hier also die Gefahr des Stillstandes, ja des Rückschritts - und dies in einem Bereich, der für die Stabilität des Gemeinwesens und die Wiedergewinnung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit von zentraler Bedeutung sein dürfte. Unterscheidet man nach den einzelnen Ebenen des politischen Systems, wird deutlich, dass der Bund für lange Zeit fast vollständig inaktiv blieb. Unterstützt und in Teilen gar angeleitet von Beamtenverbänden und einer reformunwilligen Bürokratie vermochte man es hier besonders eindrucksvoll, die Politik zu „zügeln". Trotz eindeutiger Haushaltsdaten und konkreter Leistungsdefizite gelang es auch dem Sachverständigenrat „Schlanker Staat" nicht, handlungsleitend zu wirken. Die meisten der vorgetragenen Empfehlungen blieben ohne Reaktion. Erst Ende der 1990er Jahre schien dann Bewegung erkennbar. So fand sich in einer programmatischen Erklärung des Bundesinnenministers „Moderner Staat - Moderne Verwaltung" (1999) die (Selbst-)Erkenntnis: „Methoden der Staats- und Verwaltungsmodernisierung sind seit längerem bekannt; was auf Bundesebene bisher fehlt, ist der entscheidende Schritt zu einer konzertierten Gesamtreform. Das in der Vergangenheit verfolgte Konzept des ,schlanken Staates' war zu sehr auf die Reduzierung öffentlicher Aufgaben beschränkt und hat so lediglich eine negative Zielbestimmung postuliert." Über solche „Ansätze" der Binnenmodernisierung wollte die amtierende Bundesregierung also hinausgehen. Dazu wurde das Leitbild eines „aktivierenden Staates" formuliert, wobei man neue Verantwortungsteilung, verstärkte Bürgerorientierung, staatliche Vielfalt und effiziente Verwaltung als entscheidende Prinzipien benannte. Sie führten zu sog. „Reformbereichen", die in 15 Leitprojekte der Bundesregierung mündeten. Hieraus auf einen konzertierten Ansatz zur Verwaltungsmodernisierung zu schließen, wäre allerdings verfrüht. Auch unter den „Leitprojekten" fand sich vieles, was in dieser oder ähnlicher Form bereits seit Jahren gefordert, nicht aber verwirklicht wurde. So war die Rede vom modernen Management, sollte die Gesetzesfolgenabschätzung intensiviert werden, folgte man dem Vorschlag der Länder in Richtung einer Zuständigkeitslockerung und hoffte man über eine standardisierte Kostenund Leistungsrechnung sowie die Verfolgung spezifischer IT-Strategien auf den Abbau von Defiziten im Bereich der Bundesverwaltung. Erneut gingen die hierzu vorgelegten Ausführungen allerdings nicht über Absichtserklärungen hinaus; immerhin wies man konkrete Fristen aus und bemühte sich um eine organisatorische Verankerung des Reformprozesses über einen Staatssekretärsausschuss zur Staats- und Verwaltungsmodernisierung. Im Gegensatz dazu sahen sich die Gemeinden aufgrund finanzieller Probleme und einer insgesamt wenig gemeindefreundlichen Politik von Bund und Ländern schon frühzeitig gezwungen, nicht nur den Aufgabenbestand zu überdenken, sondern auch innerhalb der gegebenen Routinen nach Reformpotentialen zu fahnden. Nach Angaben des Deutschen Städtetages haben mehr als 80 Prozent seiner Mitgliedstädte Maßnahmen im Rahmen des von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle propagierten, inzwischen selbst deutlich diskussionswürdigen „neuen Steuerungsmodells" ergriffen. Damit sind Ansätze einer Verwaltungsreform erkennbar. Auch wenn Modisches oder ImitationsefTekte im Spiel sein mögen: Die Orientierung an einem „Modell" grenzt den Zufall ein und hält geplante Veränderungen innerhalb eines gemeinsamen Rahmens. In den Ländern ist das Bemühen erkennbar, über eine Verwaltungsreform nicht mehr nur zu reden, sondern sie auch zu praktizieren. Nach den mutigen Schritten Nordrhein-Westfalens ist in fast allen Ländern ein Reformprozess in der Diskussion, den nachzuvollziehen sich lohnt. Zwar finden sich auch hier zunächst eher gängige Kategorien, wie die der Ergeb330

2. Zur Position der Verwaltung im Regierungssystem nis- und Kundenorientierung, der Delegation und Wirtschaftlichkeit. Es mehren sich allerdings Ansätze, dem auch Strukturreformen und einen entsprechenden Vollzug folgen zu lassen. N a c h dem gegenwärtigen Stand (J. J. HesselA. Götz, 2004) ist vor allem von zwei Modellen auszugehen: Während Baden-Württemberg sich in einem aufsehenerregenden Reformansatz darum bemüht, bei Beibehaltung des dreistufigen Verwaltungsaufbaus alle Sonderbehörden des Landes einzugliedern (vor allem in die Regierungspräsidien und die Landkreise) oder sie aufzulösen, bemüht sich die neu ins Amt gewählte Landesregierung Niedersachsens um einen konsequenten Übergang zur Zweistufigkeit. Die Abschaffung der Regierungspräsidien, in den größeren Flächenländern diskussionswürdige „Mittelinstanz", steht dabei im Vordergrund. Gleichwohl verbleibt aufgrund meist noch immer eher deklamatorischer Äußerungen eine unbefriedigende Situation, die mit der unappetitlichen, aber treffenden Metapher „Der Fisch stinkt vom Kopf her" beschrieben werden kann. So leisten wir uns in Deutschland zu viele, zu große und möglicherweise sogar zu gute Ministerien. Hier begnügt man sich nicht mehr mit der Informationsaufnahme und -Verarbeitung. Interessanteres wartet: der Entwurf von Programmen, die Produktion von Vorschriften, die Einmischung in die Geschäfte des nachgeordneten Bereichs oder die „Hochzonung" des Vollzugs. Kurz: „Steuerungsanmaßung" in der Sache und Übersteuerung im Verfahren sind organisationsbedingte Konsequenzen. Mit weniger Ministerien könnte man sich leichter auf „Kernaufgaben" beschränken, mit weniger Referenten begrenzte sich die ministerielle Detailverliebtheit ganz von selbst. Bei den Ministerien hört der M u t der Regierungschefs in Bund und Ländern aber auf. Eichämter kann man auflösen, Ministerien dagegen sind wehrhafte Gebilde. In Bonn bewiesen das pflichtgetreue Beamte täglich - nicht zuletzt mit ihrem Widerstand gegen den Umzug nach Berlin. Auch er wurde k a u m zum „Abschlanken" genutzt, zusätzliche Stellenanforderungen belegten dies nachdrücklich. Natürlich sind die Mitarbeiter dabei nicht allein am Werk; Politiker schützen sie. Die Zusammensetzung einer Regierung ist durch Koalitionsvereinbarungen zu sichern; bestimmte Politiker sieht der Regierungschef lieber am Kabinettstisch als in der Fraktion; auch Proporze gilt es zu bedienen. Sieben oder bestenfalls acht Landesministerien - eine sinnvolle Zahl - bieten da wenig Spielräume. Eine sich selbst und den Bürger überfordernde Politik sorgt so auch für eine Vorschriftenproduktion, die dann als Überregulierung beklagt wird. Die politische Führung nimmt diese Klage meist auf, setzt Kommissionen ein, lässt den Prozess selbst aber unberührt. Regierungs- und Verwaltungsreformen sollten jedoch immer auch und oft zuerst auf eine bessere, also einfachere Organisation zielen; die Pflege der Institutionen, ihre Fortentwicklung, muss Vorrang vor der Pflege des Bestandes haben. Einen wichtigen Teil der Reform von Regierung und Verwaltung bildet in diesem Kontext die Verfahrensvereinfachung. Sie wird einerseits durch eine größere Selbständigkeit der Vollzugsebenen und den damit verbundenen Abbau von Zwischenebenen und Verflechtungen und andererseits durch eine konkrete Ü b e r p r ü f u n g von Verfahrensvorschriften erreicht. Ziel dieser Ü b e r p r ü f u n g muss die Vereinfachung der allgemeinen Verfahrensregeln und eine Rückführung besonderer Verfahrensvorschriften sein. Diese Forderung richtet sich zunächst und vor allem an den Bundesgesetzgeber. Er provoziert mit der Aufnahme von Verfahrensregeln in Gesetze den Erlass nachfolgender Verwaltungsvorschriften. Die hierauf zielenden Empfehlungen des Sachverständigenrats sind ohne Substanz. Die Vorstellungen zur Reduzierung von Verwaltungsvorschriften und zum Abbau von Standards geben nur das wieder, was seit vielen Jahren konsequenzlos diskutiert wird. Zu Forderungen an den Bundesgesetzgeber tritt im Übrigen die Empfehlung an die Landespolitik, die Vorschriftenproduktion durch Begründungszwänge zu erschweren, einen Teil der Verwaltungsvorschriften f ü r be-

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik fristet zu erklären, die jährlich erscheinenden Gültigkeitsverzeichnisse zu verbessern und Zurückhaltung bei der konkreten Verfahrensanweisung zu üben. Die ständig beschworene Deregulierung öffentlichen Handelns muss in der Verwaltung beginnen, wenn auch extern etwas bewirkt werden soll. Deregulierung darf aber nicht nur auf eine Verminderung des Vorschriftenbestandes zielen. Es geht auch und gerade um die inhaltliche Vorschriftenbereinigung. Unsere Gesetzes- und Verordnungsblätter (oder Staatsanzeiger) ähneln erschreckend denen früherer Jahrhunderte. Einzelprodukte und „Schnellschüsse" dominieren; die Regelung im gegebenen Zusammenhang ist selten, weil schwierig. Von der Ministerialverwaltung ist aber zu erwarten, dass sie solche Schwierigkeiten meistert und nicht die eigene Ausdifferenzierung und Spezialisierung zum Diktat für den nachgeordneten Bereich und für den Bürger macht. Exakt dafür leisten wir sie uns. Eine Folge der plakativen Absichtserklärungen zur Reform der öffentlichen Verwaltung ist schließlich die damit verbundene Diskreditierung und Demotivierung des öffentlichen Dienstes. Hier sehen sich die Staatsdiener der Republik einer meist pauschalen Bürokratiekritik ausgesetzt, die selten der Realität öffentlichen Handelns entspricht. Mit Verweis auf eine vermeintlich reform- und innovationsfreudige Privatwirtschaft fühlt man sich in die Rolle des Verzögerers und Bedenkenträgers gedrängt, gilt aufgrund einer undifferenzierten Gleichsetzung von öffentlichem und privatem Bereich alles „Öffentliche" als gleichsam vormodern. Unbestritten ist allerdings, dass der Umfang und die Strukturen, innerhalb derer der öffentliche Dienst agiert, verändert werden müssen. Hierzu zählen unter anderem eine klare Aufgabenzuweisung an Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst sowie eine Reform des Laufbahngruppenprinzips. Vor beidem schreckt das Bundesinnenministerium trotz der benannten Detailkorrekturen zurück. Stattdessen wird mit pauschalen Klagen über Arbeitsmoral und Arbeitsqualität im öffentlichen Bereich ein Klima der Abwertung, des Misstrauens und der Angst geschaffen, das kaum günstige Voraussetzungen für eine unabweisbare Reform schafft. Es sollte sich herumgesprochen haben, dass es der Mitwirkung der Betroffenen bedarf, um Reformen Realität werden zu lassen. Im Übrigen müsste auch unstrittig sein, dass die deutsche Verwaltung innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen ihre Arbeit gut bewältigt und die Arbeitsmoral oft besser ist, als das öffentlich diskutiert wird. Diese Rahmenbedingungen aber setzt die Politik. Sie hat es zu vertreten, dass Beamte und Angestellte noch immer nicht nach Leistung, sondern nach ihrer Position in der Hierarchie bezahlt werden. Das aber verfestigt die vorhandenen Hierarchien, lässt immer wieder neue entstehen und prägt ein hierauf bezogenes Verhalten. Wer sich verbessern will, muss sich um die Mitwirkung derer bemühen, die darüber entscheiden. Dass häufig Vorschriftentreue und Vorgesetztenorientierung stärker wirken als das Bemühen um ein passables Ergebnis, darf niemanden verwundern. Das Fehlen der Ergebnisorientierung, heute ein Modebegriff der Diskussion, ist strukturbedingt. In zahlreichen Gemeinden übernimmt man derzeit Erfahrungen aus dem privatwirtschaftlichen Bereich; in einigen Ländern folgt man zögernd. Anderswo bedient man sich lediglich des Vokabulars, um von einem Mangel an Lernbereitschaft und Handlungswilligkeit abzulenken. In den Gemeinden spricht man dagegen von einer denkbaren „Konzernstruktur" und bemüht sich um eine Ergebnissteuerung, die an die Stelle bürokratischer Verfahren Zielvereinbarungen setzt, Qualitätsstandards definiert, Produktkataloge entwickelt, Kennziffern festlegt, ein Berichtswesen institutionalisiert und in vielfältiger Weise ein umfassendes Kostendenken fördert. Dies ist schon deshalb erforderlich, weil in einer modernen Verwaltung die Fach- und Ressourcenverantwortung zusammengehören. Und auch im Umgang mit der Ressource Personal will man lernen. Leistung soll belohnt, Flexibilität selbstverständlich werden. Die Abkehr vom Modell hierarchisch geord332

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" neter Bürokratie ist gewollt. Dabei sind im „neuen SteuerungsmodeΙΓ natürlich Übertreibungen erkennbar. Dies gilt dann, wenn man das öffentliche zu sehr am privatwirtschaftlichen Handeln misst, einseitig auf Quantifizierung setzt und dabei vergisst, dass es neben einer „handfesten" Staats- und Verwaltungslehre auch so etwas wie eine „Staatskunst" gibt. Die Kosten- und Leistungsrechnung erfasst nicht alle Leistungen und Leistungsarten der öffentlichen Hand. Lernen also nur dort, wo es sich anbietet, ohne das Öffentliche und das Private gleichzusetzen. Zusammenfassend sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Regierung und Verwaltung lassen sich nie gänzlich erneuern, sondern nur mit dem Ziel der Verbesserung weiterentwickeln. So bleibt zu hoffen, dass die derzeit geführten Diskussionen letztlich zu einer nach Organisation und Anspruch bescheideneren, aber besseren Regierung und Verwaltung führen, innerhalb derer man den Zugriff auf die Politik begrenzt, zwischen Willensbildung und Vollzug gewissenhafter unterscheidet und dem Vollzug sein Recht gibt. Dazu gehört auch die Rücknahme allzu detaillierter und spezialisierter Anweisungen. Kleiner, einfacher, kostenbewusster, motivierter, weniger abgehoben vom Umfeld - kurz: besser - , so könnte man sich „Regieren und Verwalten" in Deutschland vorstellen. Im Übrigen hat Macht immer nur ein Zentrum; das haben nicht nur die Umzugsgegner, sondern auch die handelnden Politiker vergessen. Dass sich die Bundesrepublik noch immer den aus den Ausgleichspolitiken für Bonn ergebenden „Doppelhut" zweier „Hauptstädte" leistet, ist ein weiterer Beleg dafür, dass sich - jenseits aller Beteuerungen - besondere Interessen selbstbedienend durchzusetzen vermögen.

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" Traditionell ist das Verhältnis von Politik und Verwaltung in doppelter Weise durch das Prinzip der Gewaltenteilung geprägt. Zum einen geht es um das Verhältnis von Legislative und Exekutive, zum anderen um die Spannungen zwischen Politik und Verwaltung innerhalb der Exekutive, die im Übrigen als Einheit begriffen wird. Dem traditionellen Selbst Verständnis zufolge ist ein erheblicher Teil dieser Spannung binnenadministrativ zu lösen. Das kann aber nur eingeschränkt gelingen. Die Ministerialbürokratie muss Politik vorbereiten, ist damit externen Einflüssen ausgesetzt, soll politische Reaktionen antizipieren. Sie wird damit zwangsläufig selbst „politisiert". Ganz ähnlich liegt es in den größeren Städten (vgl. bereits RR. Grauhan, 1970; J.J.Hesse, 1972, 1976 und 1990/91; H.-G. Wehling, 1994). Hier wie dort entwickelt sich neben dem klassischen der „politische Bürokrat" (Β. Steinkemper, 1974) oder der „Grenzgänger zwischen Politik und Verwaltung" (G.Banner, 1982, S. 2 6 f f , hier S. 37). Die empirische Analyse führt damit zu einem Ergebnis, das von den überlieferten Vorstellungen, auch der (herrschaftsorientierten) Bürokratietheorie Max Webers, beträchtlich abweicht. Nach der Überlieferung sollte es im Binnenbereich der Exekutive eine klare Aufgabenteilung zwischen der führenden und Impulse gebenden Politik und der vollziehenden und gehorchenden Verwaltung geben, verbunden mit einer ebenso klaren Rollenunterscheidung zwischen dem Politiker und dem Beamten, für die Weber deshalb auch zwei sich widersprechende ethische Leitbilder entwarf. Geraten überlieferte Vorstellungen und empirischer Sachverhalt in Widerstreit, kann man an den ersteren festhalten oder aber sie kritisch überprüfen. Hält man an ihnen fest, führt das zu der Frage, ob nicht eine dominierende Politik die Verwaltung übermäßig politisiert und sie damit ihrer spezifischen Fähigkeit beraubt, objektiv, unparteiisch, fachlich tüchtig und gleichzeitig „gehorsam" zu entscheiden. Umgekehrt wird gefragt, ob nicht 333

V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik längst die Verwaltung dominiert und damit Politik mehr und mehr bürokratisiert. Weber, der in Zusammenhang mit der wachsenden Bürokratisierung den Verlust individueller Spielräume befürchtete, hat diesen Aspekt besonders betont: „Wie kann angesichts der steigenden Unentbehrlichkeit und der dadurch bedingten steigenden Machtstellung des uns hier interessierenden staatlichen Beamtentums irgendwelche Gewähr dafür geboten werden, dass Mächte vorhanden sind, welche die ungeheure Übermacht dieser an Bedeutung stets wachsenden Schicht in Schranken halten und sie wirksam kontrollieren? Wie wird Demokratie auch nur in diesem beschränkten Sinne überhaupt möglich sein?" (M. Weber, 1964, S. 1061). Dieser Rückgriff auf Weber (zu einer eher untypischen Interpretation W. Hennis, 1987) ist schon deshalb erforderlich, weil ihm die Verfassungssituation entspricht. Die Verfassung unterscheidet ganz traditionell zwischen der Politik, ihren Richtlinien, ihrem Führungsauftrag, der Verantwortlichkeit von Politikern und der vollziehenden Verwaltung. Man kann deshalb nicht einfach auf neue Leitbilder ausweichen, sondern kann allenfalls den Interpretationsrahmen wie folgt erweitern: Die Funktionstrennung kennzeichnet das Verfassungsverständnis, die Funktionsvermittlung die sog. Verfassungswirklichkeit. Allerdings bleiben Politik und Verwaltung unterschiedlich strukturiert und stehen zueinander in einem Komplementärverhältnis (H. D. Jarass, 1975, S. 120). Beide stellen Organisationen dar, in denen kollektives Handeln strukturiert und durch Machtbeziehungen stabilisiert wird - Michel Crozier und Erhard Friedberg (1979) haben das eingehend und überzeugend entwickelt. Mit Blick auf jenes Komplementärverhältnis erbringt Politik für die Verwaltung Leistungen, welche unentbehrlich sind und deshalb ggf. durch Ersatzleistungen (der Verwaltung) substituiert werden, so wie umgekehrt Verwaltung für die Politik unentbehrliche Leistungen erbringt, die notfalls ersatzweise von der Politik erbracht werden (indem sie etwa private Vollzugseinrichtungen schafft oder auf Gremien außerhalb der Verwaltung ausweicht, um dieser ihren Willen aufzuzwingen). Dieses Komplementärverhältnis gilt es zu analysieren, um dann ermitteln und ggf. bewerten zu können, inwieweit Bürokratie politisiert und/oder inwieweit Politik bürokratisiert wird. Theoretisch - mithin nicht im Sinne eines Vorwurfs oder einer Verurteilung - bedeutet beides, dass systembedingte Handlungsrationalitäten von einem anderen System adaptiert werden und in ihm anders wirken als im Ursprungssystem. Die Unterscheidung zwischen Politik und Bürokratie setzt also unterschiedliche Handlungsrationalitäten und unterschiedliche Formen der Einschränkung von Rationalität voraus (vgl. M. Crozier/E. Friedberg, 1979, S. 187ff.; J. G. March/J. P. Olsen, 1976). Vereinfacht: Solange Politik und Bürokratie wenigstens bedingt unterschieden sind, kommt es in ihnen auch zu unterschiedlichen Prozessen der Güterabwägung.

3.1. Die Macht der Verwaltung In der politischen Auseinandersetzung wendet man sich gern gegen die Vorstellung von der Macht der Verwaltung, um deren dienende Funktion zu betonen. So schafft man aber Probleme nicht aus der Welt. Bei diesen Problemen geht es allerdings auch nicht um Loyalitätsfragen; dass Verwaltungsmitarbeiter in aller Regel tun, was man ihnen aufträgt, ist zu unterstellen. Die Macht der Verwaltung bezeichnet etwas anderes: Wie ausgeführt, arbeitet nur ein geringer Teil des öffentlichen Dienstes in einer Verwaltung im engeren Sinne, in bürokratischen Funktionen also. Die Ausübung solcher Funktionen ist zunächst allgemein unbeliebt, weil man sie zumeist anonym wahrnimmt und weil sie unsichtbar sind. Das führt zu merkwürdig widersprüchlichen Vorurteilen. Der Verwaltung als Bürokratie wird sowohl Herrschsucht als auch Mangel an Entscheidungsfreudigkeit, sowohl ausgeprägter Formalismus als auch Versagen und Verschleppung, sowohl Korruption als auch mangelndes Ver334

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" ständnis für Sonderfälle vorgeworfen. Immer bildet die Wurzel solcher Missverständnisse die Macht einer als solche nicht greifbaren Verwaltung, mit der man dann aber doch die gesamte öffentliche Verwaltung, den gesamten öffentlichen Dienst, die Beamtenschaft identifiziert (vgl. ζ. Β. M. Lipphardt, 1994). Aufgrund der Funktion der Verwaltung als Transmissionsriemen zwischen grundsätzlichen Entscheidungen und deren Ausführung sowie aufgrund der Fähigkeit, mittels dieser Funktion auch der eigentlichen Ausführung ein Verwaltungsgepräge - im Sinne von Merkmalen der formalen, bürokratisch gesteuerten Organisation (über den Unterschied zwischen Bürokratie und Organisation vgl. noch immer R. Mayntz, 1968) - zu geben, erscheint es nicht abwegig, wenn der verbreitete Sprachgebrauch die Verwaltung mit dem gleichsetzt, was sie verwaltet, und wenn sich die allgemeinen Vorurteile gegen ein unüberschaubares Gefüge von Vorschriften, Regeln und Verhaltensanforderungen gegen die Verwaltung richten. Suchen Verwaltungsangehörige das abzuwehren und behaupten sie, Verwaltung vollziehe nur, was anderenorts beschlossen ist, bleibt das umgekehrt bloß Schutzbehauptung, die die Macht der Verwaltung übersieht. Ein Transmissionsriemen kann einseitig Energie übertragen. Im sozialen Kontext gibt es das aber nicht. Schul- oder Forstpolitik geht nicht aus einsamen Beschlüssen der verantwortlichen Politiker hervor, sie wird vielmehr maßgeblich durch die jeweilige Verwaltung vorbereitet. Man sammelt dort praktische Erfahrungen, wertet sie aus, reichert sie durch eigene Überzeugungen an, behauptet Machbarkeit oder Durchführbarkeit und gibt das Ergebnis weiter. Die Verwaltungsspitze bereitet daraufhin Gesetzentwürfe oder Richtlinien vor; erst dann kommt es zum politischen Beschluss. Er bedeutet oft nur noch ein formales Erfordernis. Vereinfacht: Eine funktionierende Verwaltung bemüht sich stets darum, in einer ihr selbst genehmen Weise geführt zu werden. Sofern sich die Verwaltungsspitze also nicht eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt, kann das rasch in eine verwaltungseigene Führung umschlagen. Dann wendet man Regeln an, für die man die politische Führung als verantwortlich erklärt - die Entlastungsfunktion der Spitze - , obgleich man sie selbst herbeiführt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass praktisch wie theoretisch die Diskussion über das Verhältnis von Politik und Sachverstand nahezu mit der über das Verhältnis von Politik und Verwaltung zusammenfällt. Allerdings erscheint unter dem Aspekt des Demokratiegebots das Verhältnis von Politik und Verwaltung von vornherein brisanter. Entsprechende Fragen stellen sich auch in unmittelbarer, täglicher Praxis, während man die Beratung der Politik zwar praktiziert, das bislang aber vielfach eher zufällig tut und kaum in die denkbaren Problemfelder gerät, solange sich Regierung und Parteien die ihnen genehmen Berater aussuchen. Dennoch macht die wissenschaftliche Diskussion jene Brisanz nur selten sichtbar; man begnügt sich meist entgegen jedem analytischen Befund mit der Rekapitulation des Grundmodells der repräsentativen Demokratie. Ihm zufolge verläuft ein Willensbildungsprozess, an dem der auftraggebende Wähler über seine Repräsentanten mitwirkt und der zu Entscheidungen führt, die anschließend von der Verwaltung ohne Ansehen der Person verwirklicht werden. Wäre dies so, sähe sich die Verwaltung zum einen von unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten des Bürgers oder von Gruppen, zum anderen aber auch von jeder politischen Verantwortlichkeit entlastet. Im Rahmen dieses Denkmodells kann man unbefangen von einer durchgängigen Einheit der Exekutive oder von dem Gegenteil, nämlich einer klaren Unterscheidung zwischen der Sphäre der Politik und derjenigen der Verwaltung, ausgehen. Weder das eine noch das andere öffnet den Blick auf die reale Macht der Verwaltung. Eher tut das Niklas Luhmann, wenn er folgende Unterscheidung zwischen politischer Führung und Verwaltung trifft: „Unser heutiges politisches System trennt Politik und Verwaltung im Sinne einer funktionalen Diffe335

V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik renzierung von Strukturen oder Prozessen (was intensiven Kommunikationsaustausch nicht hindert, vielmehr geradezu erforderlich macht). Die Verwaltung kann damit von politischen Funktionen weitgehend entlastet werden und wird dafür politischer Beeinflussung ausgesetzt, der gegenüber sie ihre spezifische Funktion des sachlich-richtigen Entscheidens verteidigt" (1966, S. 49; 1970, 1981 und 1984). Man unterscheidet auf diese Weise funktional und bindet durch Kommunikation zusammen, verbleibt aber in einem nach außen geschlossenen System und erwartet von der Verwaltung nicht, dass sie sich übermäßig zum Bürger hin öffnet, weil damit der Bürger doch nur überfordert würde und weil diesem das „liebgewordene Negativurteil über die Verwaltung" das Hinnehmen bindender Entscheidungen erleichtere. Zudem geriete die Verwaltung in ein Dilemma: „Entweder sucht sie durch Beteiligung, Darstellung usw. Konsens für ohnehin feststehende Entscheidungen; dann wird sie als unredlich und manipulierend verschrien, oder sie sucht in dem erreichbaren Konsens erst ihre Entscheidungsgrundlage; dann verstößt sie gegen Grundsätze der Gleichheit und der Rationalität und überlastet sich selbst mit unübersehbaren Informationsbedürfnissen. Angesichts dieser Lage dürfte es richtig sein, die Verwaltung von solchen Überforderungen an ihrer Grenze zum Publikum zu entlasten und dieses Problem soweit irgend möglich auf die Politik abzuwälzen. Dies wäre auch der einzige Grund, aus dem sich heute noch die Beibehaltung besonderer politischer Systeme auf der Ebene der Kommunalverwaltungen und der Länderverwaltungen rechtfertigen lässt" (ebd., S. 50). Auch ohne das theoretisch hier weiter zu explizieren: Die Unterscheidung zwischen politischer Sphäre und Sphäre der Verwaltung gelingt nicht, weil sich beide Sphären in weiten Randzonen durchdringen und im bürokratischen Kern die politische Verwaltung steht. Die Macht der Verwaltung ergibt sich nicht aus ihrer Eigenständigkeit und Unterscheidbarkeit gäbe es beides, ließen sich auch die Führungsprobleme zureichend lösen - , sondern eben aus der Kommunikation zwischen jenen beiden Sphären, aus ihrer gegenseitigen Überlagerung, wobei der Verwaltung die größere Kontinuität und der politischen Führung das formale Übergewicht zukommt. Was sich daraus ergibt, fallt unterschiedlich aus und verweist auf die Führungsbegabung des Ministers wie das politische Geschick der Spitzenbürokratie. Bei jeder längerfristigen Politik- und Entscheidungsvorbereitung droht aber das Gewicht der Verwaltung zu wachsen; im Planungsprozess setzt sich in der Regel durch, wer das Geschäft kontinuierlich betreibt. Die Verwaltung - immer in jenem engeren Kern - interveniert heute nicht mehr nur fallweise, sie wird zur zentralen Planungs- und Steuerungsinstanz. In dem Maße, in dem der hier gemeinte Kern der Verwaltung nicht transparent arbeitet und seine Beziehungen zur politischen Führung nicht so weit offenliegen, dass Kontrolle möglich ist, haben wir es also nicht nur mit Macht, sondern auch mit weithin unkontrollierter Macht zu tun (zu den Möglichkeiten und Institutionen der Verwaltungskontrolle vgl. G. Püttner, 1996/97). 3.2. Organisationsgewalt und Haushaltshoheit Die öffentliche Verwaltung entwickelt aufgrund ihrer vertikalen wie horizontalen Ausdifferenzierung einen erheblichen Organisationsbedarf. Sie soll sich zudem - ein wichtiger Grundsatz Webers - die erforderlichen Mittel nicht selbst beschaffen. Organisation und Haushalt stellen somit Führungsmittel dar. Beide bewegen sich im Rahmen einer mehrhundertjährigen Tradition, nachdem spätestens die aufgeklärte Monarchie des Absolutismus eine Basis für die Etataufstellung und -bewirtschaftung sowie für die Organisation der Verwaltung schuf. Aus ihr ergab sich im 19. Jahrhundert das Institut der Organisationsgewalt (vgl. zunächst E. W. Böckenförde, 1964), die nach der 1837 veröffentlichten Ansicht R. Mau336

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" renbrechers das Recht beinhaltete: „1. die Staatsbehörden anzuordnen und die sonstigen notwendigen und nützlichen Einrichtungen im Staat zu treffen; 2. über deren Wirkungskreis Instruktionen zu erlassen, sowie 3. die Formen ihrer G e s c h ä f t s f ü h r u n g zu bestimmen" (S. 324). W ä h r e n d es mit Blick auf die Etatgestaltung vom 19. J a h r h u n d e r t an stets eine klare Mitwirkung des Parlaments gab, sprach m a n die Organisationsgewalt meist allein der Regierung zu. Zwar ergaben sich Einschränkungen dieser Gewalt etwa durch die k o m m u nale Selbstverwaltung u n d föderalstaatliche Konstruktionen, in der H a u p t s a c h e aber galt und gilt die Vorstellung: „ D a durch die Organisation der Verwaltungsbehörden in den Rechtszustand der U n t e r t a n e n nicht eingegriffen, sondern nur die Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Staatsorgane berührt wird, so sind Organisationsveränderungen grundsätzlich im Wege der Verordnung [...] möglich" (G. Meyer, 1899, S. 516). Der juristische Begriff der Organisationsgewalt bezieht sich damit auf eine F u n k t i o n , die als „Hilfstätigkeit der Gesetzesvollziehung" erscheint. D a s verengt allerdings das Blickfeld und wird weder der fundamentalen, also der auch konstituierenden Bedeutung jener Gewalt, noch ihrer Anwendungsbreite gerecht. Wo immer es um die Erledigung öffentlicher Aufgaben geht, findet sich Organisationsgewalt; der „ganze Bereich der öffentlichen Organisation von Berufsgruppen (Anwalts-, Ä r z t e k a m m e r n , usf.) und Sozialbereichen (öffentliche Versicherungsträger)" tritt hinzu. 6 Formal lässt sich zwischen der äußeren und der inneren Verwaltungsorganisation unterscheiden. Zur ersteren gehört die Einrichtung oder Aufhebung einzelner Behörden oder ganzer Behördenzweige, die Aufgabenverteilung und das sich d a r a u s ergebende Recht, Zuständigkeitsstreitigkeiten zu schlichten (vgl. E. Rasch, 1967, S. 95ff., sowie die entsprechenden Abschnitte in W. Thieme, 1995 und K.-H. Mattern, 1994"). Nach innen geht es u m die Festlegung der Konstruktionsprinzipien, also der funktionalen Organisation, der Vertretungsregelung, des Zeichnungsrechts, der Aufgabenverteilung insofern, als jeweils zu fragen ist, in welchem U m f a n g der einzelne Behördenleiter bis hin zum Minister an solche Strukturvorgaben allgemeiner Art gebunden ist oder o b ihm Freiräume verbleiben. Sachlich handelt es sich um ein äußerst vielschichtiges Aufgabengebiet, so etwa um die territoriale Gliederung, um das Nebeneinander von allgemeiner und besonderer Verwaltung, um die Frage nach der zweckmäßigen G r ö ß e n o r d n u n g einzelner Behörden, um die Rationalität der Aufsichtsstruktur, um den Einsatz des vorhandenen Personals, um berechenbare Zuständigkeitsverteilung hier und um bewegliche Reaktionen auf unterschiedlichen Arbeitsanfall dort. „In der Frage nach der Struktur und der Funktionsweise einer Organisation treffen sich die Interessen des Praktikers mit denen des Soziologen, auch wenn beide diese Frage nicht ganz in der gleichen Absicht stellen. Der Praktiker möchte jene Z u s a m m e n h ä n g e aufdecken, die zwischen der Zielverwirklichung einer Organisation und ihren übrigen Merkmalen bestehen. Aus den Gesetzmäßigkeiten, die der Soziologe dabei findet, könnte dann jedoch der Praktiker seine Regeln ableiten" (R. Mayntz, 1963, S. 136).

6 An Gesamtdarstellungen zur Verwaltungsorganisation in historischer Perspektive besteht kein Mangel; vgl. neben den in der Einführung genannten Werken und den breiten Ubersichten bei E. Forsthoff, 1961 und 1967, u.a. F. Härtung, 1959, C. F. Menger, 1983 und T. Ellwein, 1987, 1993 und 1997 sowie die bei B. Becker, 1989 und G. F. Schuppen, 2000, aufgeführten Nachweise. Die Differenzierungen zur Verwaltungsorganisation von 1815 bis 1870, während des Kaiserreiches, in der Zeit der Weimarer Republik und für die Zeit von 1933 bis 1945 erlauben einen breiten Nachvollzug. Mit Blick auf die Behördenorganisation ist eher auf die Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von K. G. A. Jeserich u. a., 1983fT. zu verweisen.

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik Selbst wenn dies mit Blick auf die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnisse zu optimistisch formuliert sein dürfte, besteht kein Zweifel, dass es Organisationsprinzipien gibt, die sich mit jahrzehntelangen Erfahrungen verbinden. Ihnen zufolge werden Aufgaben verteilt, Informationsströme gesichert, wird funktional zwischen Leitung, Ausführung und Kontrolle unterschieden. Gleichwohl gibt es keine „optimale" Organisation. Immer wird zwischen mehreren Zweckmäßigkeitsprinzipien gewählt - nicht selten aufgrund politischer Auswahlkriterien. Dabei werden bei Auseinandersetzungen zwischen Verwaltungsvertretern und Politikern die ersten so lange als möglich behaupten, es ginge um eine sachgebotene Entscheidung. Vor diesem Hintergrund wird es notwendig, mit Blick auf die Organisationsprinzipien, wie sie Verwaltungs- und Betriebswirtschaftslehre (vgl. Handwörterbuch der Organisation, 1992), Organisationssoziologie, Verwaltungswissenschaft oder auch die Verwaltungspraxis selbst entwickeln, Maßstäbe dafür festzulegen, wann die politische Führung von solchen Prinzipien abweichen darf oder ihren eigenen Prinzipien folgen muss, und welcher Bewegungsspielraum ihr dabei verbleibt. Diese Aufgabe stellt sich gegenüber einer Verwaltungsrealität, in der man sich oft für ein „zweckrationales" Konzept entscheidet und die dann erfolgende Beeinträchtigung des Konzepts einer Politik anlastet, die angesichts vorhandener Widerstände oder aus wenig zweckrationalen Motiven eben nur bedingt dem folgt, was als tatsächlich oder vermeintlich „objektiv" vorgeschlagen wurde. Zweckmäßigkeitsfragen lassen sich für soziale Organisationen kaum je eindeutig beantworten. Dennoch wird die Zweckmäßigkeitsbehauptung ständig vorgetragen. Deshalb gerät eine eher politikwissenschaftliche Betrachtungsweise in eine eigentümliche Beweissituation. Im Blick auf Führungsmethoden und auf die Arbeit an der Organisation handelt es sich stets um äußerst komplexe Sachverhalte, selten oder nie um eindeutige Maßstäbe und immer um das Problem, jeweils definieren zu müssen, was als politisch zu qualifizieren ist. Das wiederum kann nicht abstrakt geschehen; es muss die historische Situation berücksichtigt werden, wobei man, was leicht festzustellen ist, schnell ins vermeintlich Diffuse gerät, jedenfalls in Widerstreit mit der praxisfernen, aber theoretisch fundierten Organisationsanalyse der Soziologie. An Material fehlt es der Politikwissenschaft dagegen nicht. Zahllose Beispiele bietet allein die territoriale Verwaltungsreform, auch in den neuen Bundesländern (vgl. A. Frenzel, 1995). Kommt es bei ihr zu einer merkwürdigen Grenzziehung für neue Landkreise, nur um eine bestimmte Mehrheit zu erhalten oder herzustellen, dann handelt es sich um unsachliche Politik. Berücksichtigt man dagegen in einer Region starke Widerstände in der Bevölkerung, kann das durchaus rational sein, selbst wenn an anderer Stelle nur deshalb etwas gegen den vorhandenen Widerstand der Bevölkerung geschieht, weil sich dieser Widerstand nicht laut genug äußert. Amtsleiter, Minister, Mehrheiten müssen um gewisse Toleranzen wissen, jenseits derer man beginnt, einen guten Zweck zu gefährden. Das gilt noch im Detail: Bemerkt ein neuer Minister, dass ein Abteilungsleiter seinen Intentionen spürbaren Widerstand entgegensetzt, dann kann er den Beamten in den einstweiligen Ruhestand schicken, ihm eine weniger wichtige Abteilung geben oder aber mit einem anderen Minister einen Personalaustausch vereinbaren. Es gibt schlechterdings keine verbindlichen Maßstäbe dafür, wann man das eine und wann das andere tun soll. Niemand kann es aber einem Minister verwehren, das Ministerium intern umzuorganisieren, nur um einen derartigen Beamten zu neutralisieren, ohne ihn dabei zu entlassen. Geht es um die Organisation der gesamten Regierung, gibt es gleichfalls eine Fülle von Zweckmäßigkeitserwägungen, darüber hinaus aber auch die Notwendigkeit (für den Bundeskanzler), personelle Gegebenheiten zu berücksichtigen. Verwaltungsorganisation hat demnach immer mit dem vorhandenen Bestand zu tun, mit Erfahrungsprinzipien und Zweckmäßigkeitsüberlegungen unterschiedlichster Art, die sich keinesfalls alle auf vordergründige Verwaltungsrationalität zu beziehen brauchen - neben der 338

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" Effektivität der Verwaltung muss etwa immer auch ihr Integrationswert berücksichtigt werden (vgl. F. Wagener, 1969, der u.a. auf R. Smend, 1923, und F. Ronneberger, 1957, Bezug nimmt). Lässt sich auf diese Weise deskriptiv der Handlungsspielraum einer Regierung erfassen, der noch anderen Erwägungen als denen rationaler Organisation Raum gibt, dann verweist das zugleich auf die Schwierigkeiten und Widerstände, denen sich die Organisationsgewalt ausgesetzt sieht. Zwischen der Organisationsgewalt und der Haushaltsgestaltung besteht ein enger Zusammenhang. Ahistorisch betrachtet, ließe sich sagen, die Regierung organisiert sich ihren Vollzugsapparat und stattet ihn mit den erforderlichen Mitteln aus, so dass die grundlegende Organisation durch die in alle Einzelheiten gehende Mittelausstattung spezifiziert wird. Tatsächlich liegt es natürlich so, dass ein großer Teil realisierter Organisationsgewalt ausschließlich oder überwiegend von den Vorarbeiten der Verwaltung selbst abhängt und dass ganz ähnlich der Haushalt allenfalls zum Teil ein Führungsinstrument ist - zu einem anderen Teil führt sich mit ihm die Verwaltung selbst. Zwar müsste der Haushalt als ein wesentliches Führungsmittel greifen, da er für die einzelnen Verwaltungszweige die Personalund die zugehörige Amtsausstattung ebenso festlegt wie die zur Zielerreichung gedachten Mittel. Wie die Regierung unter Nutzung der Organisationsgewalt das Behördennebeneinander um Reibungsflächen vermindern kann, müsste sie mit Hilfe des Haushaltes ihre eigene Politik transparent machen, Schwerpunkte bilden und jeweils für bestimmte Fristen überschaubare Verhältnisse schaffen können. Dies alles leistet der Haushalt aber nur bedingt. Folgende Einschränkungen sind mitzudenken. Zum ersten wächst der Anteil solcher Ausgaben, für die entweder eine gesetzliche oder eine andere Verpflichtung besteht. Was derart festgeschrieben ist, muss fortgeschrieben werden; ein nicht unerheblicher Teil der sogenannten Haushaltspolitik besteht aus reiner Rechenarbeit, die sinnvollerweise in den Ministerien vorgenommen wird. Zum zweiten sind die öffentlichen Haushalte nicht nur ihrem Volumen nach, sondern auch als Planungsunterlage immer mehr in die Breite gegangen. Damit fehlt ihnen die Transparenz, die Haushaltsklarheit. Das gilt nicht für die kleinen und für die nachgeordneten Behörden, denen man in der Regel spitz errechnete Beträge zuweist und die man hinsichtlich jeder Nachbewilligung von ministerieller Mitwirkung abhängig macht. Die Spitzenbürokratie bewahrt sich dagegen einen erheblichen Spielraum - in den nach außen wirkenden Sachmittelansätzen (Fondsbewirtschaftung) wie in den nach innen wirkenden Ansätzen für die Amtsausstattung (etwa für die Reisekosten, für die Gerätebeschaffung oder für Verfügungsstellen). Zwar wird angesichts der konjunkturpolitischen Funktion des Haushaltes und mit Blick auf finanzielle Prioritäten niemand die Regierung für machtlos erklären. Die Instrumente der mittelfristigen Finanzplanung müssten sofort als Gegenbeweis gelten, insofern hier für das einzelne Ministerium eine klare Orientierung besteht und man nur aufgrund umständlicher politischer Verhandlungen vom Planrahmen abweichen kann. Dennoch bleibt innerhalb dieses Rahmens ein erheblicher Spielraum, den die politische Führung nicht durchdringt. Dies lässt sich erklären. Eine vernünftige Organisation der Verwaltung und der einzelnen Behörden bedeutet vorweggenommene Koordination. Das gilt in anderer Weise auch für den Haushaltsplan. Als Instrument der Frühkoordination müsste er dazu beitragen, dass Maßnahmen aufeinander abgestimmt und verfügbare Kapazitäten flexibel gehalten werden. Von einem gewissen Umfang an lässt sich eine solche Koordination aber nur noch durch eine zentrale Stelle, also durch den Finanzminister, leisten. Dies könnte rasch zu dessen Diktat führen. Deshalb bleibt Manches offen - die Spitzenbürokratie behält Bewegungsspielraum. Ihn muss man akzeptieren, weil es zur Verwaltung, nicht zur Politik gehört, aus einem Verfügungstopf der einen Behörde noch zusätzliche Reisekosten zuzuweisen und der anderen 339

V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik nicht, hier eine überplanmäßige Ausgabe zu gestatten und dort nicht. Wollte man um einer Vorstellung von politischer Führung der Verwaltung willen diese so eng als möglich „anbinden" - an das Gesetz, an jede einzelne Haushaltsbestimmung - , müsste man den in jedem Fall erforderlichen Bewegungsspielraum politisch ausfüllen. Damit wäre der Minister überfordert, er bräuchte einen zweiten Stab und es entstünde lediglich neue Verwaltung. Im Ergebnis verbleibt eine erhebliche Gestaltungsmacht der Spitzenbürokratie - sowohl bei der Vorbereitung des Haushaltes wie bei seinem Vollzug. Die Politik kann im Haushaltsplan Prioritäten festlegen und man kann dies in einem allgemeineren Sinne als Anweisung an die Verwaltung betrachten; ein unmittelbar wirksames Führungsinstrument ergibt sich jedoch nur bedingt - der Haushalt lässt sich im Kleinen wie im Großen so flexibel handhaben, dass er nur in spezifischen Bezügen bindet, ansonsten aber als Rahmen wirkt. Das gilt auch angesichts von Haushaltseinschränkungen. Durch sie ändert sich nur etwas an der Leistungs-, nichts aber an der Führungsstruktur. Insgesamt ist die Organisationsgewalt somit als ein grundlegendes Führungsinstrument zu sehen, das aber nur sparsam einzusetzen ist, weil Veränderungen Unruhe mit sich bringen. Die regelmäßige Arbeit an der Organisation (Organisationsentwicklung) muss dagegen zumeist verwaltungsintern erfolgen. Die Organisationsreferenten nutzen das einschlägige Instrumentarium meist so kunstvoll und langfristig, dass sich das politische Plazet nahezu von selbst ergibt. Auch den Haushaltsplan sollte man ergänzend dazu eher als Handlungsrahmen verstehen und sich von den Haushaltsreferenten nicht zu einer anderen Betrachtungsweise bewegen lassen - gerade sie operieren amtsintern oft mit Schutzbehauptungen, um die eigene Macht je nach Bedarf im rechten Licht erscheinen zu lassen oder zu verhüllen. In dem einen wie dem anderen Fall ergeben sich umfangreiche Vollzugsaufgaben Organisationsgewalt und Bestimmung des Haushaltsrahmens dürfen aber als Möglichkeiten heteronomer Verwaltungsführung nicht überschätzt werden. 3.3. Aufsicht und Kontrolle Nachdem von den eher grundlegenden, den kompetenz- und mittelzuweisenden Aufgaben der Verwaltungsführung die Rede war, ist im Anschluss an den Überblick über die Regierungsfunktionen ein Blick auf das tägliche Geschäft der Leitung einer großen Verwaltung zu werfen. Die politische Führung muss, so wurde erörtert, gegenüber dem Apparat die eigene Information sichern, sie muss gewährleisten, dass ihre Intentionen neben den allgemeinen, früher durch Gesetz oder anders definierten Aufgaben verlässlich erfüllt werden. Die klassischen bürokratischen Organisationsmuster - das hierarchische Prinzip wie das Prinzip geregelter Kompetenzverteilung - dienten ausschließlich diesem Ziel; sie galten und gelten als die Vorbedingung der Ministerverantwortlichkeit. Nur wenn der Minister qua Organisation sicher sein kann, dass alles „den Regeln entsprechend" vor sich geht, kann er auch die Verantwortung (früher gegenüber dem Monarchen, später gegenüber dem Parlament und heute in der Regel gegenüber dem Regierungschef) tragen. Es erscheint heute fast müßig festzustellen, dass die beiden grundlegenden Prinzipien nicht mehr im traditionellen Verständnis greifen. Beim hierarchischen Prinzip lässt sich das schon quantitativ erklären: Die heute als klassisch geltende Ministerialorganisation des 19. Jahrhunderts kannte einen Direktor des Ministeriums (daher Ministerialdirektor) und eine kleinere Zahl von Vortragenden Räten (Referenten). Zur hierarchischen Position des Ministers - in den Behörden war dies ähnlich - gehörte es, dass er mit allen Zuständigen regelmäßig persönlich Kontakt hatte. Heute können Ministerien überkomplexe Gebilde sein. Dem Minister stehen bis zu 15 Abteilungsleiter gegenüber, die er zwar alle kennt, mit 340

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" denen er aber nicht mehr regelmäßig dienstlich zusammenkommen kann. Diese Ministerialdirektoren oder -dirigenten beaufsichtigen als Abteilungsleiter zum Teil mehrere Unterabteilungen und zahlreiche Referate. Das Grundprinzip der Hierarchie, nach dem der jeweilige Vorgesetzte die Tätigkeit der ihm unmittelbar Untergebenen übersehen kann, ist vielfach durchbrochen, die Aufsichtsfunktion gefährdet. Auch hinsichtlicher der Zuständigkeitsverteilung soll der quantitative Hinweis zunächst genügen. Je mehr Zuständigkeiten es gibt, desto mehr Querverbindungen entstehen und desto schwieriger wird eine klare Verteilung. Tatsächlich lassen sich in jedem Bundesministerium erhebliche Zuständigkeitsüberschneidungen und -Unklarheiten feststellen, und nicht überall verfügt der Organisationsreferent über ausreichenden Einfluss, um korrigierend einzugreifen. Das eine wie das andere bewirkt, dass man in der Praxis sehr genau zwischen der formalen, der halbformalen und der informellen Ministerial- und damit Führungsorganisation unterscheiden muss. Formal bleibt es beim Dienstweg. Jeder Mitarbeiter hat einen direkten Vorgesetzten, jedermann kennt seine Stufe innerhalb der Hierarchie. Geht es formal zu, gibt man die Dinge auf dem Dienstweg nach oben und hält sich peinlich an die Regeln, wie sie die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien festlegt - einschließlich noch des Hinweises, welche Bleistiftfarbe zu welcher Hierarchiestufe gehört. Umgekehrt vollziehen sich die Dinge genauso, auch der Minister hält den Dienstweg ein. Das alles ist umständlich und nicht immer effektiv. Deshalb entwickelt sich eine halbformale Struktur. Man weiß oder manche wissen, dass man als Hilfsreferent der Abteilung II mit einem Unterabteilungsleiter der Abteilung III ohne Einschaltung der beiderseitigen Abteilungsleiter kommunizieren kann, dass man die politische Leitung des Hauses auch direkt informieren darf, indem man sich an den persönlichen Referenten oder einen Mitarbeiter im Ministerbüro wendet, und dass man durch Herstellung und Weitergabe einer Photokopie einen Vorgang beschleunigen kann. Der informellen Struktur schließlich sind überhaupt keine Grenzen gesetzt, weil sie nicht förmlich existiert, sondern nur mehr oder weniger erfolgreich praktiziert wird. Wer in einem großen Ministerium die Organisationsstrukturen samt ihrer „Schleichwege" und den an Schaltstellen zu berücksichtigenden Persönlichkeitsmerkmalen genau kennt, kann auch unabhängig von seiner formalen Position Einfluss ausüben (dazu nach wie vor grundlegend N. Luhmann, 1964, und R Mayntz, 1968). Das wiederum bedeutet für den Minister, dass er sein Haus in höchst unterschiedlicher Weise leiten oder führen kann (vgl. auch R. Fisch, 1996/97 mit weiteren Hinweisen). Formal sind seine Mittel eindeutig: Bestimmte Entscheidungen sind ihm vorbehalten und weitere kann er sich vorbehalten, so dass er als letzte Instanz im Hause selbst fungiert; zudem kann er Weisungen erteilen, Wünsche äußern, Anregungen geben und er kann dies spontan tun oder nach entsprechenden Vorbereitungsgesprächen, er kann es schriftlich oder mündlich tun und schließlich auch generell oder auf den Einzelfall bezogen. Kurz: Wie in Zusammenhang mit dem Amt des Bundespräsidenten ausgeführt, findet sich ein Minister als Politiker in einem bestimmten Handlungsrahmen, innerhalb dessen er zwar einige formale Erfordernisse befriedigen muss, im Übrigen aber seinen persönlichen Führungsstil entwickeln kann beginnend bei der Zusammenarbeit mit den Staatssekretären. Ob einsame Beschlüsse oder Entscheidungen in der Abteilungsleiterkonferenz, ob schriftliche Festlegungen oder mündliche Direktiven - immer stellt sich nur die Frage, ob die Führungsorganisation und ggf. auch das Gedächtnis des Ministers ausreichen, um hinterher festzustellen, ob man die Initiative auch befolgt. Führung in solchem Verständnis gehört zu den Regierungsfunktionen. Wegen des Rollenunterschiedes zwischen dem Politiker und dem Verwaltungsangehörigen, von dem hier ausgegangen wird, sind andere Funktionen des Ministers nicht der Verwal-

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik tung zuzuordnen. Indessen lässt sich differenzieren. Der Minister führt nicht in allem und jedem, vielmehr setzt er Akzente und persönliche Schwerpunkte. Auch die übrigen Aufgaben des Ministeriums müssen aber wahrgenommen werden, dem Minister fallt hier die Aufsichtspflicht zu. Die Aufsicht erscheint damit unter zwei ganz unterschiedlichen Aspekten. Zum einen geht es um die Aufsicht darüber, dass gemäß den eigenen Intentionen gehandelt wird, und zum anderen um die allgemeine dienstliche, rechtliche und fachliche Aufsicht. Letztere beinhaltet, dass der Minister die Verantwortung für das verläßliche Handeln der ihm unterstellten Behörden trägt, wobei sein Haus weitgehend Aufsichtsfunktionen „nach unten" und „nach außen" ausübt und er selbst wiederum sein Haus beaufsichtigen muss. Auf Einzelheiten ist hier nicht einzugehen. Es mag der Hinweis genügen, dass Information die Voraussetzung wirksamer Aufsicht ist. Wird etwa jeder Eingang penibel registriert, lässt sich feststellen, wer die Erledigung vergessen oder verzögert hat. Benennt die Registratur einen Zuständigen, ist er zu greifen. Die formale Ordnung der Verwaltung dient fast in jeder Einzelheit auch der besseren Beaufsichtigung, und man nimmt um ihretwillen die damit verbundenen Mängel in Kauf. Dies gilt wohl auch im Verhältnis zur Bürgerschaft. Der Bürger muss an der Rechtsgebundenheit und Formalisierung des ihn betreffenden Teils der Verwaltungstätigkeit interessiert sein, weil nur dies ihm die Chance erfolgreicher Beschwerde oder Abwehr eröffnet. Wenn er sich nicht betroffen fühlt, interessiert er sich mehr für eine sachgemäße, preisgünstige, erfolgreiche Verwaltungstätigkeit und wird etwa öffentliche Wirtschaftsbetriebe nie der Verwaltung zurechnen. Eine andere Unterscheidung kann der Politiker treffen: Verwaltung wird um so interessanter, je weniger sie sich durch Gesetz und formale Vorschriften festlegen lässt. Da die Renten durch Gesetz festlegt werden, bildet die Modalität der Rentenauszahlung kaum mehr eine Machtfrage; stellt man dagegen im Haushalt Straßenbaumittel bereit, ohne diese im Einzelnen zuzuteilen, wächst den für den Vollzug Verantwortlichen Macht zu. Daraus ergeben sich auch Rückschlüsse auf den Unterschied zwischen „freier und gebundener Verwaltungstätigkeit" (vgl. dazu E. Forsthoff, 1973, und H. H. Rupp, 1965), auf Ermessensspielräume, auf Probleme der Gesetzesanwendung und der Gesetzesinterpretation. Die Aufsichtspflicht des Ministers, unterstützt durch eine entsprechende Amtsausstattung - der persönliche Stab etwa dient durchaus auch der Aufsicht - , unterliegt einschränkenden Bedingungen. Sie ergeben sich zum Teil aus dem institutionellen Gefüge. So endet die Macht des Bundesministers bereits vor der Landesverwaltung, deren Spitzen sich wiederum nur bedingt den Kommunalbereich erschließen können. Zwar bleiben auch gegenüber den Kommunen Aufsicht und Weisung, aber doch deutlich anders als innerhalb eines Amtsgefüges. Ahnliches gilt für die Aufsichtsrechte von Bundesministerien gegenüber den Ländern, zumal in der Regel die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen. 7 Aber auch was verbleibt, lässt sich nicht von einer Person samt Stab leisten. Die Qualität der formalen Ordnung sichert das Aufsichtsrecht des Ministers, ordnet aber auch sein Tun. Dadurch wird es berechen- und umgehbar. Die Umgehbarkeit ergibt sich allerdings nicht aus der institutionellen Struktur, sondern ist Folge der anfallenden Quantitäten. Angesichts solcher Überlegungen wird der Unterschied zwischen den Ministerien, in denen die politi-

7 Generell ist hier zu unterscheiden zwischen Kontrollen des Bundes im Hinblick auf die Landesverwaltung (Bundesaufsicht), Kontrollen des Landes im Hinblick auf die kommunalen Gebietskörperschaften als Selbstverwaltungskörperschaften (Kommunalaufsicht) und den Kontrollen des Bundes oder des Landes im Hinblick auf dezentralisierte Verwaltungsträger (Staatsaufsicht).

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3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" sehe Verwaltung dominiert, und „normalen" Behörden, in denen das gesamte Tun stärker unter Rechts- oder Fachgeboten steht, deutlich. Politische Verwaltung bedeutet Führungshilfe. Sie übt die Aufsicht über den nachgeordneten Bereich aus und entlastet insoweit den Minister, und sie bestimmt wie die Politik selbst das Handlungsfeld, wählt die Handlungsalternativen und die Handlungsmittel aus, prägt damit die Beziehungen zur jeweiligen Klientel, übt sich in der Auseinandersetzung um Haushaltsbestandteile und um Zeitbudgets und entscheidet mit all dem über Erfolg oder Misserfolg eines Ministers. Mit gutem Recht steht deshalb meist die Ministerialbürokratie im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses, gleichgültig ob Einstellungsmuster erfasst (vgl. unter vielen T. EllweinIR. Zoll, 1973; B. Steinkemper, 1974; R. Putnam, 1975; H.-U. Derlien, 1990) oder Verhaltensweisen und Entscheidungsprozesse analysiert werden, in denen (je nachdem) die Bürokratie den Minister oder der Minister die Bürokratie dominiert. An und in der Ministerialbürokratie wird aber nur das Kernproblem der politischen Verwaltung sichtbar: Sie ist angesichts der weiten Aufgabengebiete, für welche die politische Führung zuständig ist, nicht nur als Arbeitsstab unentbehrlich, sie bestimmt vielmehr auch die Art und Weise, wie das Aufgabengebiet wahrgenommen wird. Kein Minister kann sich ihrer Sichtweise entziehen. Er kann allenfalls Akzente setzen und sich zusätzliche Informationen verschaffen. Er kann sich auch mit einem zuverlässigen persönlichen Stab umgeben und damit seine eigene Arbeitskapazität entsprechend erweitern, etwa um zu prüfen, ob man ihn „objektiv" unterrichtet, ihm ein „ungeschminktes" Bild der zu bewältigenden Wirklichkeit vermittelt, oder ob Gewohnheiten, Interessen, politische Präferenzen und auch eigene Klientelbeziehungen der leitenden Verwaltungsangehörigen das Bild prägen, das seinen Entscheidungen zugrunde liegt. Viele der damit angedeuteten Probleme lassen sich durch einen souveränen Führungsstil vermindern. Große Teile der Aufgaben eines Ministeriums erfordern auch keine sonderliche politische Aufmerksamkeit. Jeder Minister muss sich auf einige Teilbereiche konzentrieren. Im Kern kann er aber der Situation nicht ausweichen, dass er Führungsverantwortung für die Tätigkeit eines großen Personals übernehmen soll, ohne diese Tätigkeit mehr als überblicksweise zu kennen. Die Aufsichtsrec/ite stehen in keinem sinnvollen Verhältnis zu den Aufsichtsmöglichkeiten. Umso wichtiger wird das Vertrauensverhältnis zwischen der politischen Leitung und den Mitarbeitern im Verwaltungsbereich. Wichtig bleiben aber auch die Kontrollmechanismen, die wenigstens nachträglich verdeutlichen, ob weisungsgemäß und nach den Intentionen der Leitung gehandelt worden ist oder ob es nachweisbaren Ungehorsam oder wenigstens Abweichungen von der festgelegten Linie gegeben hat. Weil die Aufsichtsmöglichkeiten begrenzt sind, spielt neben der Aufsicht die Kontrolle eine herausragende Rolle. Vereinfacht kann man zwischen externer und interner Kontrolle unterscheiden. Extern tritt zunächst der Bürger als Kontrolleur auf. Er hat grundsätzlich keinen einklagbaren Rechtsanspruch auf eine bestimmte Kontrollmaßnahme der Verwaltung, wohl aber einen Anspruch auf die Einhaltung gewisser Pflichten; dabei ist zwischen formlosen Rechtsbehelfen (der Gegendarstellung, der Aufsichtsbeschwerde und der Dienstaufsichtsbeschwerde) und förmlichen Rechtsbehelfen zu unterscheiden. Bei letzteren differenziert man zwischen dem Widerspruch oder dem Einspruch nach Spezialgesetzen (etwa im Steuerrecht). Der Widerspruch hat vor allem Rechtsschutzwirkungen, weshalb er an sich nur noch verwaltungsrechtliche Dimensionen aufweist. Darüber hinaus hat man in einigen europäischen Staaten eine weitgehende Offenlegung des Verwaltungshandelns eingeführt. Der Bürger hat dort an jeder Station des ihn betreffenden Verwaltungsaktes das Recht, diesen einzusehen. Gegenüber solchen Bestrebungen, zu denen etwa auch die Forderung nach Einführung eines Ombudsmannes gehört (vgl. U. KempflH. Uppendahl, 1986; im internatio-

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik nalen Vergleich G. E. Caiden, 1983; J. J. Hesse/Th. A. J. Toonen, 1997), macht sich in Deutschland das Gewicht der genannten Tradition bemerkbar. Akteneinsicht wird nur beschränkt gewährt. Wirksamer mögen wirtschaftliche Maßnahmen sein. So muss die Verwaltung Aufträge ausschreiben, um Öffentlichkeit herzustellen. Viele Beispiele belegen allerdings, dass interessierte Kleingruppen dies zu unterlaufen vermögen. Die Kontrolle durch den Bürger ist also kein „Allheilmittel"; viele Bürger verlassen sich eher auf persönliche Beziehungen als auf ihre Rechte oder die Wirkung eines Bürgerbeauftragten. Allerdings ist es für den Einzelnen auch außerordentlich schwer, sich gegen ein geschlossenes System zu wehren, als das ihm die Verwaltung noch immer gegenübertritt. Dass er sich wehrt, setzt die Rechtsordnung aber als Kontrollelement voraus. Die Kontrollmöglichkeiten des Bürgers finden sich im Wesentlichen durch die Verwaltungsgerichtsordnung geregelt. Sie bringt das alte Beschwerde- und Einspruchswesen zum Teil als Vorverfahren in den Verwaltungsrechtsweg ein. Ohne besondere Formvorschriften beachten zu müssen, soll ein Bürger, der sich von der Verwaltung nicht ordnungsgemäß behandelt fühlt, Widerspruch einlegen. Die Behörde kann selbst abhelfen, wenn sie den Widerspruch für begründet hält, anderenfalls entscheidet die Dienstaufsicht. Inwieweit von solchen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird, lässt sich kaum feststellen (vgl. bereits A. Görlitz, 1970). Immerhin geht der Widerspruch dem Verwaltungsgerichtsverfahren voraus, so dass sich aus der Zahl der Verwaltungsrechtsfälle Schlüsse ziehen lassen. Die Verwaltungsgerichte bilden in jedem Fall einen erheblichen Kontrollfaktor. In dem Maße, in dem die Zahl der anhängigen Verfahren wächst, nimmt allerdings auch die Kritik zu. Eine andere Kontrollmöglichkeit ergibt sich aus dem genannten Recht der formlosen Beschwerde und der Dienstaufsichtsbeschwerde, für das es an klaren Regelungen zwar fehlt, das aber existiert. Mit der Dienstaufsichtsbeschwerde kann man sich über einen Beamten wegen dessen persönlichen Verhaltens beschweren, wobei das Verhalten auch Dinge wie die Bearbeitungsfrist mit einschließt. So wichtig dies alles sein mag - am wichtigsten davon fraglos die hier nicht erwähnte, aber an anderer Stelle bereits angesprochene Kontrollfunktion der Massenmedien und die zahlreichen Bürgerinitiativen - , so wenig lässt sich bezweifeln, dass die wirksame Verwaltungskontrolle intern erfolgt. Dabei steht im Vordergrund die Rechnungsprüfung. Sie entgleitet, wie dargestellt, als Kontrollinstrument dem Parlament, nicht aber der Verwaltung. Zumindest die nachgeordneten Behörden werden zureichend erfasst, soweit es sich eben um die Mittelbewirtschaftung handelt. Dabei steht die Vorschrifteneinhaltung im Vordergrund; Wirtschaftlichkeits- und Zweckmäßigkeitsfragen treten meist zurück. Dass in erster Linie Finanzielles geprüft wird, folgt einer langen deutschen Tradition, innerhalb derer sich ständische und bürgerliche Beteiligung fast ausschließlich auf Ressourcenfragen richteten und man es lange als politische Kunst ansah, den Staat „kurz zu halten". Weitaus weniger effektiv sind der Natur der Sache nach das Berichtswesen, die Prüfung von Vollzugsmeldungen, die Auswertung von Amtsstatistiken, eine Erfolgskontrolle (vgl. G. Zavelberg, 1993; H. Czasche, 1996/97). Die finanzielle Kontrolle findet keine gleichwertige Analogie in anderen Maßnahmen; das Verwaltungssystem ruht stärker auf seinem Vorschriftengefüge und auf der Einbindung des einzelnen Mitarbeiters in das System. Die auf die Mitarbeiter bezogenen Gratifikationen und Sanktionen bilden daher das wohl entscheidende Steuerungsmittel. Aus dem Blickwinkel des Ministers lässt sich zusammenfassen, dass ihm zur verwaltungsinternen Kontrolle Zeit und Möglichkeiten fehlen; diese Kontrolle findet als Kontrolle der Spitzenbürokratie über die nachgeordneten Behörden statt. Anders liegt es mit der Aufsicht; auch diese Funktion wird überwiegend innerhalb der Verwaltungshierarchie selbst wahrgenommen, ein gewichtiger Teil entfällt jedoch auf den Minister. Er fungiert hier als Sach-

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3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" waiter der politischen Führung, zumal er auch Adressat der anfallenden Parlamentskontrolle ist. Unstrittig bleibt: Angesichts der faktischen Verwaltungsmacht greift externe Kontrolle meist zu kurz, während die verwaltungsinterne nur bedingt zur Verfügung der politischen Führung steht. Daraus folgt, dass trotz der hochformalisierten Ordnung Verantwortlichkeit oft nicht greifbar wird - nicht die des Ministers, weil man ihn überfordern würde, und nicht die des Zuständigen, weil das System zwar hoch formalisiert, damit aber noch nicht transparent ist. Ein Beispiel: In § 35 der genannten Gemeinsamen Geschäftsordnung heißt es: „Wer zeichnet, übernimmt damit die Verantwortung für den sachlichen Inhalt des Entwurfs. Die Mitzeichnenden sind für den sachlichen Inhalt nur soweit verantwortlich, wie es ihr Arbeitsgebiet berührt [...]". Das legt die formale Verantwortung des federführenden Referats fest, begründet aber auch Mitverantwortung, die der Referent je nach eigener Veranlagung eher umgehen oder umfassend suchen kann. Von einer gewissen Zahl der Beteiligten an ergibt sich eine unübersichtliche Situation und kommt die nächsthöhere Ebene ins Spiel. So versucht man, die Verantwortlichkeit zu klären, stößt dabei aber ständig auf Schwierigkeiten. Sie vermehren sich, weil der Verantwortliche meist kein Zeichnungsrecht besitzt, Innen- und Außenverantwortung sich mithin unterscheiden. Die Eigentümlichkeit dieser Einordnung von Verantwortung in die Hierarchie besteht darin, dass im Innenverhältnis Verantwortung meist nur Zuständigkeit bedeutet. Ein sachverständiger Referent kann als Zuständiger etwas vorschlagen, sein Vorgesetzter kann von diesem Vorschlag - ohne den gleichen Sachverstand - abweichen, der nächste Vorgesetzte kann wählen. Zwar wird man meist die Zuständigkeit des Referenten beachten, wenn es um eindeutig ihn angehende Angelegenheiten geht; an dieser Eindeutigkeit fehlt es aber oft aus den angegebenen Gründen. So ergibt sich insgesamt ein verwirrendes Bild, nach dem der informelle Weg neben dem formalen Bedeutung erlangt und Persönlichkeitsmerkmale von Beamten eine Rolle spielen. Referenten können die Mitzuständigkeit bei der Neigung, sich abzusichern, zur Absurdität treiben; organisatorische finden sich durch persönliche Fehlleistungen ergänzt. Das erklärt dann auch die Vorwürfe gegen die Bürokratie. Man spricht nicht ohne Grund von der Anonymität und Langwierigkeit von Verfahren, gleichgültig, ob sie systembedingt oder von Beamten verursacht sind, die „Sand ins Getriebe" streuen, um doch noch ihre Vorstellungen durchzusetzen. Feststellbar scheint auch, dass nach außen nicht zu vertretende Verantwortung in Wahrheit keine ist und dass das System den Beamten nicht sonderlich anhält, den Geschäftsgang zu beschleunigen. Von innen betrachtet gibt es mithin ein Zuviel an Kontrolle, eher ein Befördern von Subalternität und Absicherungshaltung. Das führt zu einem merkwürdigen Grundwiderspruch zwischen interner und externer Kontrolle. Er löst sich freilich rasch auf, wenn man ihn auf die Macht der Verwaltung hin interpretiert. Sie kann durchaus bewirken, dass die öffentliche Verwaltung - der Sonderfall der Kommunalverwaltung sei hier ausgeklammert - sich der von außen kommenden Kontrolle weitgehend entzieht, sich jedoch durch konsequente interne Kontrolle ihr Personal verfügbar hält. Inwieweit dies der anstaltlichen Verwaltungstradition folgt oder sich mit den Bedürfnissen einer formalen Organisation nahezu zwangsläufig verbindet, sei hier nicht entschieden. Im Ergebnis ist der politischen Führung die Kontrolle wohl entglitten, während die Aufsichtsfunktion sich als eher unklar erweist und nur selten mit einer entsprechenden Amtsausstattung verbunden ist. Stellt man sich Aufsicht hierarchisch gegliedert vor, fallen die meisten Aufsichtsvorgänge verwaltungsintern an. Die politische Führung müsste nur einen kleinen, allerdings gewichtigen Teil der Aufsicht bewältigen. Dass sie dazu im Stande ist, erscheint jedoch zweifelhaft. Terminpläne in Ministerbüros, nach denen abgefragt wird, ob

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik Beauftragte Weisungen und Anregungen ausgeführt haben, sind schwer vorstellbar. Minister müssen hoffen, dass ihre Mitarbeiter loyal und pflichtgetreu tätig sind. Die unmittelbare Abhängigkeit von den Mitarbeitern ist somit unverkennbar. Daran haben auch neuere Informations- und Kommunikationstechniken bislang wenig verändert. 3.4. Personalführung Das Recht, Mitarbeiter einzustellen, zu versetzen, ggf. zu entlassen, vor allem aber zu befördern, erweist sich danach als ein äußerst wichtiges Führungsmittel. Es begründet noch immer Abhängigkeit, auch wenn sich deren soziale Voraussetzungen angesichts zunehmender Alternativen, eines deutlichen Anstiegs der Nebentätigkeit oder mitverdienender Ehefrauen aufzulösen beginnen. Bislang jedoch bedeutet die Beförderung etwas für den Beamten Grundlegendes. Von diesem Ansatz her lassen sich Überlegungen zum Ernennungs- und Beförderungsrecht der politischen Führung und zu den Einschränkungen wie Ausweitungen dieses Rechtes entwickeln; sie sind unter zwei Aspekten zusammenzufassen. Unter dem ersten Aspekt geht es um die Abhängigkeit, in die das System Verwaltung seine Mitarbeiter setzt und in der es sie hält (vgl. N. Luhmann, 1964 und 1971, hier bes. S. 203ff.; T. Ellwein/R. Zoll, 1973; H. Bosetzky/P. Heinrich, 19853; A. Kieserling, 1994). Der Beamte tritt in ein besonderes Dienstverhältnis ein. Aus diesem Dienstverhältnis leiten sich eigene Vorschriften ab, die Anweisungen für das Verhalten inner- wie außerhalb des Dienstes enthalten. Sie formulieren darüber hinaus strenge Laufbahnvorschriften, von denen man nur in genau geregelten Ausnahmeverfahren abweichen kann; so wird man nur bei Vorliegen der geforderten Einstellungsvoraussetzungen Beamter, eine Beförderung ist von entsprechenden Beurteilungen (vgl. zu diesem komplexen Thema unter vielen E. Gaugier u.a., 1979; H. Kübler, 19804) abhängig. Da Spitzenbürokratie und Minister über Ernennungen und Beförderungen weitgehend souverän entscheiden und das Mitwirkungsrecht des Kabinetts bei höheren Beamten sich lediglich als Formsache darstellt, erklärt sich, wie aus dem besonderen Dienst- eine Art von Gewaltverhältnis entsteht (vgl. W. Pippke, 1975). Es rückt die öffentliche Verwaltung in die Nähe der Privatwirtschaft und macht trotz der stärkeren Verrechtlichung des Dienstverhältnisses den Schutz und die Mitarbeit von Personalräten - analog den Betriebsräten, jedoch mit eingeschränkter Zuständigkeit - erforderlich (zur Entstehung des Personalvertretungsgesetzes vgl. O. Stammer, 1965; zur allgemeinen Problematik z.B. W. Leisner, 1970). Der Schutz richtet sich dabei vorwiegend auf Grenzsituationen, selten auf den täglichen Arbeitsablauf. Dessen Organisation zu bestimmen, die Geschäfte zu verteilen und den gesamten Geschäftsgang zu regeln, ist Sache des jeweiligen Fachund/oder Dienstvorgesetzten als Vertreter des Dienstherrn. An den Dienstherrn fühlt sich der Beamte um so mehr gebunden, je weniger er im Gegensatz zum Arbeitnehmer in der Wirtschaft seinen Arbeitsplatz wechseln kann. Ihm bleibt nur der Austritt, was jedoch die Schmälerung wohlerworbener Rechte bedeutet und vielfach nicht ernstlich erwogen werden kann, zumal die öffentliche Hand für viele Berufssparten über ein Arbeitgebermonopol verfügt. Unter der Tradition des Berufsbeamtentums gilt der Austritt deshalb auch als so selten, dass die Dienstherren ihn als Abwehrmaßnahme nicht wirklich einzukalkulieren brauchen - Ausnahmen gibt es meist nur dort, wo der Staat wie bei den Steuerbeamten eine Ausbildung offeriert, die man auch außerhalb des öffentlichen Dienstes gut honoriert findet. Der Abhängigkeit des Bediensteten entspricht eine Steuerungskraft dessen, der Personalhoheit ausübt. Bei der Einstellung wenig greifbar (sofern die Einstellungsbedingungen auf eine eindeutige Ausbildung als Voraussetzung verweisen), bestimmt die damit verbundene 346

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" „Macht" den Weg des Bediensteten, sobald und solange er auf Beförderung angewiesen ist, sie erwartet oder erhofft. Deshalb erscheint es für das Gesamtsystem des öffentlichen Dienstes wesentlich, dass es in Bund, Ländern und Gemeinden, in besonderen Körperschaften des öffentlichen Rechts und in Wirtschaftsunternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit unterschiedliche Dienstherren gibt. Ungebrochen durch solche Besonderheiten des Institutionengefüges wirkt sich aber das der Abhängigkeit entsprechende Misstrauen aus. Die Formulare, auf denen Reisekosten abgerechnet werden, die bis ins letzte Detail gehenden Bestimmungen immer dann, wenn es um persönliche Erstattung für Auslagen der Beamten geht, bezeugen ebenso wie viele Dienstvorschriften, dass die Vorgesetzten den Beamten nicht in Versuchung bringen wollen und ihm oft wenig gesunden Menschenverstand zutrauen. Im Übrigen ergeben sich aus der Systemzugehörigkeit die Verschwiegenheitspflicht, die Zurückhaltung in der Kritik an Vorgesetzten und ihren Maßnahmen, die Beratungs- und die Gehorsamspflicht, soweit der Beamte nicht ausdrücklich nur an das Gesetz gebunden ist. Weisungen können nur auf dem Dienstweg ergehen und nicht zu Straftaten auffordern. Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit von Anordnungen muss der Beamte aussprechen; reagiert der unmittelbar Vorgesetzte darauf nicht, werden sie dem nächsthöheren Vorgesetzten mitgeteilt; bestätigt dieser die Anordnung, muss der Beamte sie vollziehen und ist insoweit von eigener Verantwortlichkeit freigestellt - Straftaten immer ausgenommen. Persönliche Verantwortung „für die Rechtmäßigkeit seiner dienstlichen Handlungen" trägt der Beamte nur nach innen; der Staat, der nach außen die Haftung übernimmt, kann den Beamten bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit in Regress nehmen. Die Abhängigkeit des Beamten findet sich traditionell durch ein System von Gratifikationen erträglich gemacht. Es zeichnete sich früher durch ein hohes Sozialprestige, eine fast beispiellose soziale Sicherung und ein relativ geringes Einkommen aus. Im Rahmen allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen minderte sich jedoch das Sozialprestige der Beamten und wuchs das Einkommen bis hin zur vollen Vergleichbarkeit. Der Gratifikationswert sozialer Sicherung nahm angesichts des allgemeinen Sicherungssystems zwar etwas ab, gewinnt aber in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit neue Bedeutung. Auch davon unabhängig bleiben jedoch bis heute vielfältige Besonderheiten - vor allem hinsichtlich der Versorgung im Krankheits- oder im Invaliditätsfall und der Versorgung der Witwen und Waisen, von der Höhe der Pension selbst ganz abgesehen - , um den öffentlichen Dienst relevanter Nachwuchssorgen zu entheben. Nur einen bestimmten Bewerbertyp schrecken das Laufbahnrecht, die Beförderungsmodalitäten und das durch beides mitbestimmte Betriebsklima ab. Die Abhängigkeit einzuschränken, stehen den Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes zwei Wege offen. Der eine führt zur Gründung von Gewerkschaften (vgl. T. Ellwein, 1980; B. Keller, 1982). Hier stehen sich in der Hauptsache die im Deutschen Beamtenbund (DBB) zusammengeschlossenen Beamtenvereinigungen und die dem D G B angehörenden Einzelgewerkschaften, voran die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) bzw. heute die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver. di) gegenüber, die ersteren Sachwalter des Berufsbeamtentums (vgl. z. B. A. Krause, 1987), die letzteren erklärte Anhänger eines einheitlichen Dienstrechts. Den Gewerkschaften geht es, abgesehen von solchen Strukturfragen, zu denen auch das Streikrecht gehört, um Besoldungsverbesserungen, um Erleichterungen der Beförderung, um bessere Arbeitsbedingungen, vereinfacht: um Verminderung der sich aus dem Abhängigkeitsverhältnis ergebenden Folgen. Unter einem zweiten Aspekt geht es um die Unabhängigkeit des öffentlichen Dienstes. Die hier nur kurz geschilderte Abhängigkeit, wobei auf psychologische Kategorien aus guten Gründen verzichtet wird, hat selbstverständlich auch eine Kehrseite. Die Einbindung erfolgt 347

V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik nicht willkürlich, sondern im Rahmen einer vielleicht nicht mehr transparenten, aber bedingt rationalen Ordnung. Das bedeutet, trotz aller auch persönlichen Abhängigkeit von geschäftszuweisenden und beurteilenden Vorgesetzten handelt es sich um ein berechenbares System. In ihm lässt sich manövrieren. Man kann den Verhaltenserwartungen entsprechen, ohne sich wirklich so zu verhalten. Das System fördert aufgrund seines hohen Formalisierungsgrades zudem weder Selbständigkeit noch Initiative. Es verzichtet aber auch auf überhöhte Anforderungen; man kann, wenn man will, in ihm bequem leben. Der Leistungsdruck fallt geringer aus als oft außerhalb des öffentlichen Dienstes; auch das kann zu Unabhängigkeit führen, wenn der einzelne Mitarbeiter es zu nutzen weiß. Von Unabhängigkeit soll hier jedoch in anderer Weise die Rede sein. Die öffentliche Verwaltung als ein formales System muss sich ihr Personal abhängig halten, wenn sie als Ganzes unabhängig sein will. Je stärker die Einbindung des Personals, desto geringer die unkontrollierbaren Einflüsse von außen; je stärker die Formalisierung der Verhaltenserwartung und damit auch des Verhaltens selbst, desto größer die Berechenbarkeit, also die Führbarkeit des Systems. Angesichts der historischen Entwicklung kann man davon ausgehen, dass ursprünglich genau diese Absonderung gewollt wurde, ideologisch verwurzelt im Nebeneinander von Staat und Gesellschaft und in der eindeutigen Zuordnung der Verwaltung wie des öffentlichen Dienstes zum Staat. Insofern trat neben das System von Abhängigkeit und die sie ausgleichende Gratifikation von vornherein noch ein besonderes Element, eine spezifische Dienstgesinnung, ein eigener Beamtenethos, eine besondere Inpflichtnahme, das eigentümliche Dienst- und Treueverhältnis. Unter den politisch-sozialen Bedingungen des späten 19. Jahrhunderts entstanden, verstärkte sich der Charakter des Berufsbeamtentums als Gesinnungsberuf, als nach 1918 die sozialen Besonderheiten allmählich entfielen und man sich nicht den neuen politischen und sozialen Bedingungen, der Verfassung und ihren Grundwerten zuwandte, sondern einer Idee und damit der Möglichkeit, über die eigene Bindung frei zu entscheiden. In den 1920er Jahren interpretierten die Wortführer einer Mehrheit der Beamten - dazu legitimiert oder nicht - die besondere Staatsorientierung nicht mehr wie früher durch den persönlichen Bezug auf den Monarchen, sondern mit Hilfe eines doppelten Politikbegriffs·. Politik als Wahrnehmung des Allgemeinwohls und Politik als Interessendurchsetzung, um Beamtentum und Verwaltung dem ersteren, Parteien und Interessenverbände dem letzteren zuzuordnen. „Wer das Allgemeinwohl den Interessen einzelner voranstellen soll, muss von jeder Partei, Klasse oder Kaste unabhängig sein. Die Unabhängigkeit der deutschen Beamten, die allein Gewähr für rein sachliche Erfüllung der Dienstpflichten bietet, erfordert die Erhaltung des Berufsbeamtentums auf öffentlich-rechtlicher Grundlage [...]" (Bundesleitung des DBB, 1968, S. II/99f.). Auch nach 1945 setzte sich eine solche Denkweise wieder durch, obgleich sich nun neben den politisch-sozialen Rahmenbedingungen auch die Besonderheiten des öffentlichen Dienstes veränderten, es vor allem inzwischen viel mehr Arbeitnehmer als Beamte gab und es immer schwerer wurde, die den Beamten nach Art. 33 Abs. 4 GG vorbehaltene Ausübung von Hoheitsrechten angesichts gleichartiger Tätigkeiten von Angestellten zu rechtfertigen, oder aber zu begründen, welche hoheitlichen Funktionen Lehrer, Ärzte oder auch Gefängnispfarrer wahrnehmen, für die man ganz selbstverständlich den Beamtenstatus bereithält (vgl. Studienkommission, 1973). Das angesprochene Denken verfehlt ähnlich wie eine zu starke Konzentration auf den jeweiligen Zuständigkeitsbereich häufig die Realität. Beides wird - neben anderen in der Bürokratie verbreiteten Einstellungsmustern - zum Problem der politischen Führung. Sie muss immer wieder sicherstellen, dass sie die Breite des tatsächlichen Entscheidungsfeldes übersieht, Alternativen berücksichtigt und die Folgen einer Entscheidung bedenkt. In der 348

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" Hauptsache muss sich politische Führung aber damit auseinandersetzen, dass bürokratisches Denken und Entscheiden oft einer Tradition verbunden ist, die durch den Glauben an die einzig richtige Entscheidung geprägt ist. Gelegentlich handelt es sich auch nur um Trägheit, wenn eine einzige Lösung präferiert und damit vermieden wird, unter verschiedenen Lösungen eine Wahl zu treffen, mit der sich möglichst viele Vor- und möglichst wenige Nachteile verbinden. Idealtypisch muss sich jedenfalls „gute" Politik die Entscheidungsalternativen möglichst lange offen halten, während Verwaltung auf Entscheidung drängt und der bürokratische Prozess eine frühzeitig gefällte Entscheidung häufig nur absichert. Im Wechselspiel zwischen den Rollen der politischen Führung und den Rollen der politikberatenden und politikvorbereitenden, damit zwangsläufig auch politisch denkenden Ministerialbiirokratie wird man damit nicht auf präzise Rollenzuweisungen oder brauchbare Typologien stoßen. Viele Beamte antizipieren das Verhalten politischer Rollenträger so geschickt, dass man nicht mehr nachprüfen kann, ob es sich um Politik dieser Beamten oder um die der zustimmenden Politiker gehandelt hat. Andere Beamte verhalten sich intransingent, weichen vom einmal eingenommenen Standpunkt nicht mehr ab und werden ggf. ihrer „aufrechten Gesinnung" wegen ebenso geschätzt wie allmählich aus dem Arbeitsprozess eliminiert, weil ihr Verhalten eben doch stört. Wieder andere kommen schon deshalb mit dem Minister gut aus, weil dieser bürokratisch denkt und damit dem von ihm geführten Haus sehr nahe steht. Die vorhandenen empirischen Untersuchungen erlauben inzwischen durchaus Typologien von Rollenausprägungen und Verhaltensweisen. Konstitutionell aber ist vor allem bedeutsam, dass seit vielen Jahrzehnten die meisten politischen Gremien ihrer Größe nach vergleichsweise „stabil" bleiben, während man der Bürokratie das erforderliche Wachstum gewährt. Damit wurde rein zahlenmäßig die Verwaltung immer größer, ihr Übergewicht immer deutlicher; Abschwächungen dieses Prozesses waren meist nur „konjunkturell" bedingt. Das bildet den Hintergrund, vor dem sich das Phänomen der Àmterpatronage entwickelt hat - hier verstanden als der Versuch der politischen Führung und der sie tragenden Führungsgruppen (Einflusseliten), das vorhandene und verfassungsmäßig gewollte Führungsinstrumentarium auf dem Wege einer Durchdringung der Verwaltung mit Gesinnungsfreunden zu ergänzen (Literaturangaben bei H. H. v. Arnim, 1980 und 1993, a. A. auf dem Hövel, 1996). Anders formuliert: Angesichts der realen oder potentiellen Unabhängigkeit der Verwaltung gegenüber der Politik und angesichts einer deutlichen Schwäche der traditionellen Führungsinstrumente bedeutet Àmterpatronage den Ausweg, Verwaltung nicht mehr oder nur noch eingeschränkt wirklich zu führen, sie sich vielmehr verfügbar zu halten. Patronage tritt dabei in einer Reihe von Erscheinungsformen zutage. Zu einem dient sie etwa der Belohnung von verdienten Parteifreunden. Eine Partei, die Posten zu vergeben hat, kann damit Anhänger gewinnen, anderen ihre Stärke zeigen. Solcher Wohltätigkeitspatronage entspricht auf andere Weise die Abwehrpatronage: Ein Assessor wird nicht endgültig in den Schuldienst übernommen, weil er, obwohl Katholik, evangelisch getraut ist; ein Inspektor wird nicht befördert, weil er einer Partei angehört, die sich in dem betreffenden Bereich in der Minderheit befindet. Wohltätigkeitspatronage verweist auf Stärke der Wohltäter. Abwehrpatronage signalisiert Ähnliches, zugleich sichert sie politische Herrschaft über die Verwaltung oder nutzt die Verwaltung, um Herrschaft im weiteren Umfeld auszuüben. Dies alles ist weder neu noch schön und auch nicht mit den Intentionen des Grundgesetzes zu vereinbaren. Dennoch verändert es das Verhältnis von Politik und Verwaltung nicht nennenswert. Zum ernstlichen Problem wird dagegen Herrschaftspatronage. Sie bedeutet von der Verwaltung her gesehen ein Unterlaufen der gültigen Regeln, von den „Patronen" her gesehen 349

V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik meist ein Misstrauen gegenüber der Verwaltung oder das schlichte Bedürfnis, im Arbeitsalltag gelegentlich auf das unkonventionelle Zusammensein mit Gleichgesinnten ausweichen zu können. Vielfach beweist sie aber auch nur, dass eine Trennung von Politik und Verwaltung nicht wirklich gelingt. Herrschaftspatronage üben i.w.S. etwa Verbände und Parteien aus, wenn sie ihren Einfluss dazu nutzen, Gefolgsleute in der Verwaltung zu platzieren. Der Minister wiederum kann Beamte mit der gleichen Parteizugehörigkeit bevorzugen, weil er ganz einfach weiß, dass sich bei ihnen eine Gemeinsamkeit des Denkens voraussetzen und im Verwaltungsalltag umsetzen lässt - was in der Folge ganz legitim, aber auch höchst illegitim sein mag. Der (neue) Minister kann sich zudem in der Lage sehen, wenigstens einige Vertraute ernennen zu müssen, weil das Ministerium in toto eine etwas einseitige Ausrichtung zeigt, also erst führbar gemacht werden muss. Solche unterschiedlichen Patronagemotive umreißen die Schwierigkeit und die Unerquicklichkeit des Themas. Herrschaftspatronage ist unerfreulich. Dass ein der SPD angehörender Ministerialrat in Bonn bis 1966 keine nennenswerten Beförderungschancen hatte oder dass es umgekehrt einem CSU-Mitglied im höheren Dienst der Stadt München lange ebenso erging, lässt sich weder hinwegdiskutieren noch gar rechtfertigen. Dass die Wohltätigkeitspatronage bei der SPD im allgemeinen ungenierter ausfallt als bei der CDU, ist nicht näher auszuführen. Die SPD misst meist an der Parteizugehörigkeit allein, während es bei der C D U auch die Konfessions- oder Verbandszugehörigkeit oder die Mitgliedschaft in einer studentischen Verbindung sein können, die das sentire cum gewährleisten. Dass es weiter Minister gibt, die darauf verzichten, eine eigene Personalpolitik zu betreiben und so trotz eines Mehrheitswechsels die Personalplanung ihres Vorgängers weiterführen, ist ebenfalls bekannt - wie wenig die Opposition dem damaligen Verteidigungsminister Schmidt (1970) ein solches Verhalten honorierte, ist nachzulesen. Zum Schluss bleibt wohl nur die deutliche Differenzierung: Wer Gehilfe der politischen Führung ist, muss sich entweder nach dem Vorbild des britischen Civil Service jeglicher eigenen politischen Tätigkeit enthalten oder man muss ihn - in leitender Position - selbst „politisieren", also ggf. auch kündbar halten. Dazu bietet sich das Institut des politischen Beamten an (im Bund vor allem Staatssekretäre und Ministerialdirektoren), der ohne Angabe von Gründen in den einstweiligen Ruhestand geschickt werden kann - in Bonn hat man davon nach 1969 und 1982 sehr großzügig Gebrauch gemacht. Verzichtet man auf solche Regelungen, bleibt es bei der stillen Politisierung (vgl. Materialband, VII/13). Andererseits wirken die bürokratischen Sozialisationsmechanismen oft stärker als die politischen. Auch für den politisch eingeschleusten Parteigänger findet man, wenn er sich einfügt, meist einen Platz. Die „Selbstheilungskräfte" der öffentlichen Verwaltung überwinden nicht selten die von außen wirkenden Einflussfaktoren. Das gilt wohl auch in den Grenzfallen extrem langer Herrschaft einer Partei, wie etwa in Bayern oder in Nordrhein-Westfalen. Hier wird die politikberatende Bürokratie zwar noch stärker als anderswo den Willen der politischen Führung antizipieren; sie trägt aber zugleich dafür Sorge, dass ihre Verhaltensmuster unangetastet bleiben. Politische Herrschaftspatronage hätte, wenn diese Vermutung zutrifft, zwar erhebliche Wirkungen; als politisches Führungsinstrument müsste man sie aber vergleichsweise niedrig einordnen (ähnlich U. Lohmar, 1978, a. A. W. Leisner, 1979).8

8 Unter den Diskussionen zu Verbesserung der Personalführung kam zwischenzeitlich den Gutachten der genannten Bulling-Kommission eine erhöhte Aufmerksamkeit zu; vgl. hierzu die Zwischenbilanzen bei L. Menz u.a., 1987, T. Ellwein, 1987 und J. J. Hesse, 1987. Zum heutigen Stand der Diskussion J. J. Hesse, 1998-2002.

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3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" 3.5. Verwaltung und politische Führung Die Stabilität, ja die Lebensfähigkeit des Gemeinwesens hängt entscheidend davon ab, von wem und auf welche Weise über öffentliche Aufgaben entschieden wird und wie diese letztlich durchgeführt werden. Die Durchführung stellt dabei keinen voll determinierten, in jeder Hinsicht vom Leistungswillen abhängigen Vorgang dar; mit ihr verbindet sich Macht (erneut M. Crozier/E. Friedberg, 1979). Solche Macht wächst im konstitutionellen Gefüge eher der Regierung zu, was zahlreiche Beobachter als einen Machtgewinn der Exekutive auf Kosten des Parlaments interpretierten. Die Realität erweist sich indessen als vielschichtiger. Sie lässt angesichts des Wechsels der politischen Führung und der Kontinuität der Verwaltung die Vermutung zu, der große und immer noch wachsende Apparat der Administration sei durchaus in der Lage, sich selbst zu führen, Politik also entweder überflüssig zu machen oder doch zumindest zu unterlaufen. Eine derartige Vermutung sieht sich bestärkt, wenn behauptet wird, die Entwicklung des politisch-sozialen Systems unterliege Sachzwängen, angesichts derer Politik zum bloßen Vollzug sachverständiger Erkenntnis werde oder allenfalls kurzfristige Problemlösungen bereitstelle. Vor einem solchen Problemhorizont geht es zunächst darum, ob die unstreitig vorhandene Macht der Verwaltung ausreichend kontrolliert erscheint und damit die zu Beginn dieses Abschnittes angesprochene funktionale Unterscheidung von Politik und Verwaltung wirksam wird. Zu dieser „Bändigung" der Verwaltung trägt das politische System zunächst durch seine eigene Binnendifferenzierung bei. Die Verwaltung bildet nur funktional eine Einheit, als anzuleitende Großorganisation stellt sie dagegen ein polyzentrisches Gebilde dar, in dem unterschiedliche Einflusssphären miteinander konkurrieren. Ein solches Gebilde entsteht, indem sich Organisationsgewalt und Personalhoheit auf Bund, Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie auf eine Fülle öffentlicher Körperschaften verteilen, die einzelnen Verwaltungsleiter somit in ganz unterschiedlichen parlamentarisch-politischen Bezügen stehen. Zum anderen wurde ausgeführt, dass Verwaltung auch unabhängig von dieser Organisation und den durch sie bedingten rivalisierenden und sich oft ausgleichenden Einflüssen nichts weniger als einheitlich ist. Nur ein kleiner Teil von ihr rechnet im engeren Sinne zur Bürokratie, den größeren bildet die dienstleistende und wirtschaftende Verwaltung, deren Mitarbeiter zwar bürokratisch-hierarchisch angeleitet, mehr aber den Sachanforderungen spezieller Fachgebiete ausgesetzt sind, woraus sich unterschiedliche Beziehungen zur politischen Führung und auch zum Bürger ergeben. Die Ausdifferenzierung der Verwaltungsfunktionen verändert zwangsläufig die Qualität der Verwaltungsführung. Tradierte Instrumente der Ministerverantwortlichkeit, der Gesetzesbindung, der Rechtskontrolle, der hierarchischen Struktur oder der strengen Kompetenzzuweisung verlieren schon im engeren Verwaltungsbereich an Wirkung, wenn es nicht nur auf den Vollzug von Entscheidungen, sondern oft mehr auf deren Entstehen in der Verwaltung selbst ankommt. Auch wo es sich lediglich um Vollzug handelt, wächst Selbständigkeit, weil sich die komplexeren Funktionen nicht mehr so wie früher formelhaft erfassen und in Weisungen einbinden lassen (so schon R. Mayntz, 1983). In dem einen Fall sieht sich die der politischen Sphäre zugeordnete Verwaltungsführung auf Mitarbeit angewiesen, im anderen steht sie einem größeren Maß von Selbständigkeit gegenüber. Den dritten Fall bildet der Dienstleistungsbereich, in dem sich Führung weitgehend auf das Schaffen von Voraussetzungen beschränkt sieht, damit anschließend sachgemäß gearbeitet werden kann. Mit den zu schaffenden Voraussetzungen verbindet sich zwar erhebliche politische Gestaltung, doch geht es eben um die Voraussetzungen und nicht um den Vollzug, um eine qualifizierte Organisation der Lehrerausbildung, nicht um die Kontrolle des Lehrers, die mit den klassischen

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik Methoden kaum zu gewährleisten ist. Da das für immer weitere Bereiche gilt, werden Aus-, Fort- und Weiterbildung auch zu einem drängenden Problem. Als man sich weniger differenzierten Verwaltungsfunktionen konfrontiert sah, konnte man sich hinsichtlich der Bändigung der Verwaltungsmacht, zu verstehen als Einbindung der Verwaltung in das verfassungsmäßige System, damit begnügen, die Autonomie der nur an den Monarchen gebundenen Verwaltung durch die Gesetzesbindung aufzuheben und sie durch die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit und die bürgerliche Rechtskontrolle zu sichern. Verwaltung erschien mithin gebändigt, soweit sie etwa im Sinne des Art. 20 Abs. 3 G G an „Recht und Gesetz gebunden" war. Eine solche Gesetzesbindung schließt Rechtsverstöße natürlich nicht aus, bezieht aber deren Korrektur ins System ein. Soweit in diesem Sinne Rechtmäßigkeit (vgl. C. H. Ule, 1965) als Kriterium greift, kann man wohl unbedenklich feststellen, dass die deutsche Verwaltung zumeist rechtmäßig arbeitet. Die notwendigen Einschränkungen ergeben sich aber nicht aus der großen Zahl der Verwaltungsgerichtsprozesse. Darin kommt lediglich zum Ausdruck, dass sich zum einen mit der Zahl der Verwaltungsakte objektiv auch die der fehlerhaften vergrößert, und dass zum anderen immer häufiger Auslegungsschwierigkeiten auftreten. Sehr wohl drängen sich dagegen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dann auf, wenn man an den Umfang des Gesetz- und Verordnungswesens, an dessen Bestandswirkung und an die zahllosen Verweisungen innerhalb des gesamten Rechts denkt, was alles von der Verwaltung zum größten Teil nur mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen und zu einem (hoffentlich) geringen Teil überhaupt nicht nachvollzogen werden kann. Im Maße der Unfähigkeit der Verwaltung, dem sich rasch ändernden Gesetzesbestand zu entsprechen, und im Maße der Notwendigkeit, Vorschriften ggf. auch „beiseitezuschieben" - etwa dann, wenn „unbürokratisch" gehandelt werden soll - , muss es zu Zweifeln an der (durchgängigen) Rechtmäßigkeit der Verwaltung kommen. Das Gesetz als politisches Führungsinstrument taugt dann offenbar nur noch bedingt. Die Veränderungshäufigkeit im Rechtsbestand bringt allerdings auf ihre Weise auch zum Ausdruck, dass das Prinzip der Rechtmäßigkeit der Verwaltung überhaupt nur eingeschränkt gelten kann. Man wird sich jedenfalls heute kaum noch der Einsicht verschließen, „dass der Durchnormierung der Verwaltung natürliche Grenzen gesetzt sind, dass die Verwaltung, um ihre Aufgaben erfüllen zu können, eines Spielraums bedarf, dass sie kein bloßer Subsumtionsapparat sein kann, dass eine unvermeidliche Spannung, ja eine Art ,Antagonie zwischen Recht und Verwaltung' herrscht" (IV Mallmann, 1974, S. 179). Jene Einsicht betrifft die planende und gestaltende Verwaltung - die politische Verwaltung - und Teile der Ordnungsverwaltung, vor allem aber auch die Dienstleistungsverwaltung, der das Gesetz allenfalls einen Rahmen vorgibt. Auch muss man auf die verfassungstheoretisch problematische Entwicklung hinweisen, dass die öffentliche Hand das Prinzip der Rechtmäßigkeit außer Kraft setzt, wenn sie immer häufiger in den Bereich der Organisationsnormen des privaten Rechts ausweicht und öffentliche Funktionen von Aktiengesellschaften im Besitz der öffentlichen Hand wahrnehmen lässt, sie damit aber der öffentlichen Kontrolle entzieht. Zudem gibt es bedenkliche Entwicklungen insofern, als man versucht, für den Staat als Fiskus vergleichbare Rechte zu beanspruchen wie für eine Privatperson. Dem Art. 20 G G entspricht man aber nur, wenn die gesamte vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz gebunden ist. Obgleich das Prinzip der Rechtmäßigkeit alles andere als gering einzuschätzen ist und sich aus ihm grundlegende Konstruktionselemente der Verwaltung ergeben, soll hier das Kriterium der Zweckmäßigkeit in den Vordergrund rücken und mit seiner Hilfe Verwaltung - im Anschluss an den vorangehenden Abschnitt - unter dem Aspekt ihrer Führbarkeit betrachtet werden. Hier geht es um die Frage: Ist nach dem relativen Bedeutungsverlust der 352

3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" klassischen Führungsinstrumente (eben des Gesetzes, der Ministerverantwortlichkeit, der Mittelzuweisung und der Rechtskontrolle) die Verwaltung noch f ü h r b a r in dem Sinne, dass die F ü h r u n g s f u n k t i o n unstreitig aus der politischen Sphäre heraus wahrgenommen wird und wahrgenommen werden kann? Eine solche Frage könnte auf Führungstechniken im engeren Sinne abzielen. D a s aber ist hier nicht beabsichtigt. Selbstverständlich nimmt die öffentliche Verwaltung an der allgemeinen technischen Entwicklung teil oder setzt sich mit den neuen Kommunikationstechniken auseinander und diskutiert damit verbundene Management-Probleme innerhalb der allgemeinen Modernisierungsdiskussion, eine Teildebatte, in der es gelegentlich durchaus eruptiv zugeht. F ü r den hier angesprochenen Z u s a m m e n h a n g soll das aber als Spezialfrage gelten, die angesichts des bisherigen Übergewichts der juristischen Sichtweise die Verwaltungswissenschaft zu einer stärkeren A n w e n d u n g empirischer Verfahren veranlasst hat. Im R a h m e n dieser Einschränkungen gilt es zunächst festzuhalten, dass sich Verwaltung selbstverständlich selbst führen, das heißt ihren Programmbedarf befriedigen kann. Die Verwaltung bildet zunächst ein selbstgenügsames System und erledigt als solches die zunächst zugewiesenen Aufgaben, sammelt und verarbeitet dabei Erfahrungen, revidiert nach ihnen den Aufgabenvollzug, erweitert vorsichtig den abgesteckten Aufgabenkreis, greift aber auch weit über ihn hinaus, indem sie Vorschläge f ü r neue Aufgaben macht, auf die ministerielle F ü h r u n g einwirkt, Gesetzentwürfe erarbeitet, sie mit den relevanten Akteuren der Willensbildung abstimmt und so Entscheidungen den Weg b a h n t . Dies alles lässt sich k a u m kritisieren. M a n k a n n nicht von der Ministerialbürokratie Überlegungen zu künftigen M a ß n a h men verlangen und ihr gleichzeitig verbieten, sich dabei selbst zu engagieren. M a n kann einer Straßenbaubehörde nicht einen Planungsauftrag erteilen und sich d a n n verwundern, wenn sie f ü r ihren Plan k ä m p f t . Die Funktionen der politischen, insbesondere der vorbereitenden, planenden und gestaltenden Verwaltung geben der gesamten Verwaltung politisches Gewicht. Unterscheidet m a n dabei zwischen den verschiedenen Arten der Verwaltung, lässt sich einwenden, dass gemessen am Verwaltungsganzen lediglich eine kleine K e r n g r u p p e mit der politischen Führung um solche Führungsaufgaben konkurriert. Dieser Einwand trifft zu. Es bleibt jedoch zu bedenken, in welchem M a ß e jener Kern Verwaltungsinformationen und -erfahrungen auf sich zieht, sich so f ü r jedes Geschäft des Weiterentwickelns, des Verbesserns, der Innovation unentbehrlich macht und selbstverständlich auch die K o m m u n i k a tionsbahnen zwischen Vollzug und Vollzugserfahrung hier und Auswertung und Weiterentwicklung dort, zwischen Programmerfüllung und Programmaufstellung besetzt. In dieser Selbstverständlichkeit liegt das Problem. Unbestimmter angesprochen: Im Prozess der politischen Willensbildung gibt es eine Linie, die m a n nicht überschreiten sollte. Diesseits der Linie bleibt die Verwaltung vermöge der F u n k t i o n e n politischer Verwaltung und des eigenen Führungskerns ein mitbestimmender Faktor im Prozess der politischen Willensbildung, mittels dessen Verwaltungserfahrung und -hilfe den Entscheidungsinstanzen verfügbar werden. Jenseits der Linie gibt die Verwaltung durch ihren Führungskern selbst den Ausschlag und lenkt den Prozess der politischen Willensbildung, befindet vor allem darüber, was möglich ist und was nicht. Diesseits der Linie erhalten Verwaltungserfahrungen ihren angemessenen Platz und gilt Verwaltung als Subsystem, das man im Bedarfsfall mit verändern kann. Jenseits der Linie herrscht das gegebene Verwaltungssystem, lässt sich nicht in Frage stellen und setzt insoweit aus sich selbst, was künftig zu geschehen hat. Diesseits der Linie findet sich der moderne Staat mit seinen unzähligen Verwaltungsaufgaben, um derentwillen eine große Verwaltung unter einer starken politischen Führung notwendig ist. Jenseits der Linie wird der m o d e r n e Staat zum bereits angesprochenen Verwaltungsstaat, in dem die gegebene Verwaltung das Gesetz des Handelns bestimmt und sich Verwaltung im Wesentlichen selbst

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V. Verwaltung und Vollzug: die Umsetzung der Politik führt. Dieses Gesetz des Handelns wird aber - und das kann auch positiv gesehen werden eher an der Erhaltung des Vorhandenen als an seiner Veränderung orientiert sein. Die Verwaltung als eigenständiger, selbst zwecksetzender Machtfaktor wird sich des eigenen Entscheidungsstiles bedienen, der ihrem Ordnungsdenken folgt und die langfristigen Regelungen bevorzugt, unter die sich Einzelfälle subsumieren lassen. Selbstverständlich geht Politik nicht in Verwaltung auf. Ob die Politik die Beziehungen zu einem anderen Land verbessert und damit wirtschaftliche Möglichkeiten zu eröffnen sucht, ob sie auf die Zentralbank Einfluss nimmt, die zwar unabhängig, aber auch beratbar ist, ob sie in einem Schnellverfahren Investitionen steuerlich begünstigt oder einem notleidenden Unternehmen hilft - es gibt zahllose politische Entscheidungen, bei denen die Verantwortlichen von ihren Beamten beraten werden, für die aber die Existenz der Verwaltung nicht entscheidend ist. Das heute vielbeklagte Bürokratieproblem besteht deshalb auch nicht in der Ubiquität von Bürokratie, sondern in dem wachsenden Umfang derjenigen Bereiche, in denen öffentliche Aufgaben durch politische Entscheidung fixiert und administrativ verfestigt werden. Hier steht man vor einer qualitativ neuen Situation. Beschließt der Gesetzgeber die Einführung eines Kindergeldes und nennt Behörden, welche die Berechtigung zum Kindergeldempfang zu ermitteln und dann das jeweilige Kindergeld auszuzahlen haben, ist ein Prozess in Gang gesetzt, der seine eigene Gewährleistung in sich trägt. Je mehr öffentliche Aufgaben und Leistungen administrativ erzeugt und von der Gesamtorganisation öffentliche Verwaltung adaptiert werden, desto größer die durch die Apparatisierung und Bürokratisierung verursachte Gewährleistungsgarantie und desto geringer der Spielraum für neue, andere, aufgabenerweiternde, aufgabenverändernde oder gar aufgabenabbauende Politik. Im Nebeneinander von politischer und administrativer Strukturiertheit der öffentlichen Hand darf man sich deshalb nicht nur auf die Rollenunterschiede und auf die jeweiligen Handlungsbedingungen konzentrieren. Beide Strukturen verfestigen, wenn auch in ganz unterschiedlicher Intensität. Nicht die Herrschsucht der Verwaltung wird zum Problem, sondern ihre Existenz. Sie erweist sich als die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Politik bereitwillig ihre Aufgabengebiete erweitert, ganz abgesehen davon, dass veraltete meist auch politisch entschiedene Bereiche sind. Zugleich ergibt sich aus jener Existenz ein ständiger Führungsbedarf, der entweder die Politik übermäßig in Anspruch nimmt oder von der Verwaltung auf die ihr eigene Weise befriedigt wird. Lässt man Verwaltung hier gewähren, finden sich die für den Fortgang der Dinge nötigen Ideen im Gegebenen, setzen sich die eigenen Prinzipien durch, wächst die Distanz zur Bevölkerung. Viele der beklagten Bürokratisierungsphänomene sind Phänomene einer sich selbst überlassenen Bürokratie. In der Hauptsache wird aber die nicht geführte Verwaltung in Versuchung geraten, selbst zum Zweck zu werden - wie jede formale Organisation, die man daran nicht hindert. Politische Führung muss deshalb die Verwaltung vor einer Isolierung im politisch-sozialen System bewahren, ihr zugleich Impulse geben, ihre Reform anregen. Vor allem aber müsste sie über die Existenz und den Umfang der Verwaltung reflektieren. Ähnlich wie die politische Verwaltung die übrige Verwaltung eng mit der politischen Sphäre verbindet, sollte die politische Führung der Verwaltung diese mit dem gesamten politischen System und mit den in ihm wirksamen Kommunikationskreisläufen verbinden. Geschieht dies nicht, wächst Verwaltung weiter und wird selbst zum politischen System. Mit den Worten Niklas Luhmanns (1971, S. 75 f.): „Je schärfer der Prozess der Reduktion von Komplexität nach Politik und Verwaltung getrennt und unter verschiedene Selektionskriterien gesetzt wird, desto wichtiger werden die Rollen und Prozesse der Übersetzung von einer Sphäre in die andere. Diese Transmission erfolgt überall dort, wo Politiker Stellen des Verwaltungssystems besetzen, in denen über das Symbol verbindliche Entscheidung' verfügt

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3. Verwaltungsführung als „knappe Ressource" werden kann, also namentlich in Parlamenten und in höheren Regierungsämtern. Sie geschieht durch politische Planung und Programmierung der Verwaltung. Pläne und Programme sind der .output' der politischen Prozesse und der ,input' des Verwaltungssystems von Seiten der Politik. Für die Aufrechterhaltung der Innendifferenzierung des politischen Systems, der Trennung von Politik und Verwaltung, ist es wesentlich, dass die Kommunikation zwischen beiden Bereichen in ihrem Schwerpunkt auf dieser Ebene der Generalisierung liegt und nicht konkreter wird, dass, mit anderen Worten, nicht zu viele Einzelfälle ein Politikum werden [...] Die Politik setzt in ihrer Beziehung zur Verwaltung Entscheidungsprämissen. Sie entscheidet, wenn sie plant und programmiert, über Entscheidungen, aber sie trifft diese Entscheidung nicht".

Ist die Verwaltung für die Politik (noch) führbar? Stellt sich die Regierung in Wahrheit schon als Funktion der Verwaltung dar? Optimieren beide Teile ihre Strukturen oder gleichen sie sich nur an? Solche Fragen zu stellen, heißt nicht, sie zu beantworten. Sie dienen zunächst methodischen Zwecken. Immerhin: Problematisiert man das Verhältnis zwischen politischer Führung und Verwaltung, zeigt sich, wie unterschiedlich die Doppelfunktion des Ministers akzentuiert werden kann. Insofern gibt es zwangsläufig Konkurrenz: Die verwaltungsinterne Führungsgruppe wird sich gegen entschiedene politische Führung vielleicht nicht sträuben, sie wird aber versuchen, sich das verantwortliche Mitglied der politischen Führung zu integrieren. Dieses Mitglied wiederum verfügt über zahlreiche förmlich zugestandene und informell mögliche Führungsmittel; eine unzweifelhafte, sich von selbst verstehende Position nimmt es nicht ein, weil niemand weiß, wieweit man als „Führender auf Zeit" gehen darf und was man hinnehmen sollte. Tatsächlich definieren Verfassung und Recht die Position des politischen Verwaltungsleiters nicht zureichend. So verbleibt ein Spielraum, den die Verwaltung zu nutzen vermag. Das einleitend angesprochene Komplementaritätsverhältnis variiert schon deshalb, weil die politische Leitung den Programmbedarf allein nicht befriedigen und die verwaltungsinterne Führung die erforderliche Koordination nicht leisten kann. In diesem Verhältnis verfügt allerdings die Verwaltung über die langfristig bessere Position. Nur besonders qualifizierte Minister vermögen dies zu neutralisieren (zu einer umsetzungsorientierten Diskussion vgl. T. Ellwein/J. J. Hesse, 1997).

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Die Funktionen von Recht und Rechtsprechung stehen im Zentrum des die einzelnen Elemente des Regierungssystems abschließenden Kapitels. Nach den vorangegangenen Ausführungen braucht dabei nicht mehr betont zu werden, dass Rechtsetzung und Rechtsanwendung immer auch Herrschaftsausübung bedeuten. Der Justiz kommt zwar zunächst eine dienende Funktion zu; sie findet das Recht vor, das sie anzuwenden und durchzusetzen hat, vollzieht also den Willen anderer. Darüber hinaus aber entwickelt sie das Recht auch selbständig fort. Die daraus folgende ambivalente Stellung der „dritten Gewalt" im Verfassungsgefüge bedarf der Diskussion.

1. Die Rechtsordnung: Grundlagen 1.1. Positives und überpositives Recht Im modernen Staat ist „Recht" in aller Regel gesetztes Recht. Geschriebene Rechtsnormen und Vereinbarungen bestimmen das Bild. Das Gewohnheitsrecht tritt nur ergänzend hinzu. Sein meist örtlicher Einfluss schwindet, während sich das gesetzte Recht erweitert. Am geltenden Recht wird ständig gearbeitet. Das verweist auf die zunehmende Komplizierung der rechtlich geordneten Lebensbereiche und auch darauf, dass viele politische und gestaltende Entscheidungen der Form des Gesetzes bedürfen, formal mithin zur Rechtsordnung gehören und ihren Regeln unterliegen. Erst damit gewinnt das Gewaltenteilungsprinzip seinen Sinn: Parlament und Regierung sollen die Rechtsordnung weiterentwickeln, während die Verwaltung den Gesetzesbefehl verwirklichen und die Gerichte gewährleisten sollen, dass sich alle Beteiligten an das geltende Recht halten. Der Realität entspricht das Prinzip aber nur bedingt, weil die Verwaltung nicht bloß Gesetze vollzieht und die politische Führung nicht nur an der Rechtsordnung arbeitet. Der Hinweis auf den darin angelegten Widerspruch macht sichtbar, dass man das staatliche Handeln nicht ausschließlich auf die Rechtsordnung projizieren kann. Noch weniger ist diese Rechtsordnung als statisches Gebilde zu betrachten. Das Recht ist der Politik vor- und aufgegeben: Politik muss (rechtsphilosophische und rechtssoziologische Erwägungen hier zunächst ausgeklammert) das herrschende oder doch vorhandene Rechtsbewusstsein respektieren, sie muss aber zugleich die Rechtsordnung weiterentwickeln. Wer ein differenziertes Bild von der Rechtsordnung gewinnen will, steht wieder vor der Schwierigkeit, dass überlieferte Begriffe nur wenig dazu beitragen, die Wirklichkeit zugänglich zu machen (vgl. zum Folgenden: R. Wiethölter, 1968; R. Zippelius, 19743 und 199913; J. Baumann, 19898; K. Engisch, 19979; IV. Hoffmann-Riem, 2001; K. F. Röhl, 2001 2 ; J. Ipsen, 2002 5 ). Das wiederum verbindet sich mit der tatsächlichen wie der wissenschaftlichen Entwicklung. Wissenschaftlich ist bis zum 18. Jahrhundert von einer klaren Unterscheidung auszugehen; zur „Politik" gehören danach alle Staatswissenschaften einschließlich des späteren öffentlichen Rechts, während die Jurisprudenz sich vor allem dem Zivil- und Strafrecht zuwendet und sich, mit Blick auf das öffentliche Recht, vor allem für das Prozessrecht interessiert (vgl. H. Maier, 19842; W. Hoffmann-Riem, 2001, S. 83ff). Mit der Durchsetzung der Rechtsstaatsidee ändert sich das. Dieser Idee zufolge bedeutet Freiheit, nicht mehr Personen, sondern nur noch Gesetzen gehorchen zu müssen. So entwickelt sich der Rechts- und

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1. Die Rechtsordnung: Grundlagen Gesetzesstaat mit der Konsequenz, dass man um der eigenen Freiheit willen an der Gesetzgebung beteiligt und dass alles staatliche Handeln auf das Gesetz bezogen und damit justitiabel sein sollte. Erst unter der Ägide dieses Rechtsstaates setzt sich der Jurist als der zunächst am besten für den Staatsdienst Ausgebildete durch. Gleichzeitig löst sich zugunsten eines „positivistischen Trennungsdenkens" die alte Einheit der Staatswissenschaften auf (vgl. hierzu auch J. J. Hesse, 1987, sowie T. EllweinU. J. Hesse, 1990). Das öffentliche Recht gerät in die Obhut der Rechtswissenschaft, die ältere Trennung von Recht und Politik geht verloren. Man gewöhnt sich daran, die Politik primär unter dem Aspekt der vorhandenen oder zu schaffenden Rechtsnormen zu sehen, was die Unterscheidung zwischen der aktiven, dynamischen Politik und der Rechtsordnung als auf früheren Entscheidungen beruhender statischer Ordnung nahelegt. In welchem Maß das Recht Funktion der Politik (und damit auch verfügbar) ist, gerät eher in Vergessenheit. Zusammen mit der (älteren) Politik als Lehre treten gleichzeitig philosophische und ethische Aspekte in den Hintergrund. Die Einzeldisziplinen öffnen sich dem Positivismus, wobei der Rechtspositivismus vor allem die Behandlung des öffentlichen Rechts (vgl. T. Ellwein, 1954) prägt. Das erbringt eine klärende Ordnung aufgrund plausibler Systematiken, begrenzt freilich auch das Recht auf das, was im Gesetz steht, lässt also die Frage nach den Maßstäben und so auch diese selbst verkümmern, wiewohl man ohne solche Maßstäbe auf die Dauer dem geltenden Recht nicht gegenübertreten kann. Abgesehen von der möglichen Pervertierung einer solcher Denkweise, die sich jedem Gesetz gegenüber unkritisch verhalten und damit auch Gesetzesgläubigkeit bedeuten kann, erwies sich diese Entwicklung als äußerst folgenreich. Das Postulat des Gesetzesstaates wurde in einer Zeit erhoben, in der die Tätigkeit des Gemeinwesens prinzipiell als begrenzt gesehen wurde. Nur deshalb sprach man sich in Deutschland - die angelsächsische Tradition verläuft anders und ungleich weniger begrifflich-systematisch fassbar - für einen Gesetzesbegriff aus, demzufolge das Gesetz generell und vor allem dann notwendig sein solle, wenn es um Eingriffe in Freiheit und Eigentum des Bürgers ging (dazu programmatisch C. Schmitt, 1928; allgemeiner H. Krüger, 19662). Diesem Programm stand allerdings schon die erste industrielle Revolution im Wege; die sozialen und technischen Wandlungsvorgänge nach 1880 vermehrten die Staatstätigkeit erst recht. Konnte man vorher rechtsetzende Tätigkeit vorwiegend im Bereich des Zivil-, des Wirtschafts- und des Strafrechts beobachten (darüber hinaus in der Steuer-, in der Wehr- und in der Haushaltsgesetzgebung), so machen später diese Gesetze nur noch einen kleinen Teil der gesamten legislativen Tätigkeit aus. Heute trifft deshalb weder die Freiheits- und Eigentumsformel zu, noch gilt grundsätzlich der generelle Charakter. Zwar finden sich noch immer zahlreiche Gesetze, die einen bestimmten Lebensbereich grundlegend ordnen. Zahlenmäßig haben aber die meisten Gesetze die Aufgabe, Konkretes zu bewirken, vor allem: politische Programme umzusetzen, also steuernd auf das gesellschaftliche Zusammenleben einzuwirken. Ernst Forsthoff sprach deshalb von den Maßnahmegesetzen als actio im Gegensatz zum klassischen Gesetz als constitutio. Nach wie vor gehört aber jedes Gesetz wie auch jede Rechtsverordnung in den Bereich des geltenden Rechts, ist also Teil der Rechtsordnung. Diese, bestehend zu einem kleineren Teil aus dem Zivil-, dem Strafrecht und zu einem weit größeren aus dem sog. öffentlichen Recht, ist unüberschaubar geworden und schon deswegen für den Bürger kaum mehr mit „Recht" zu identifizieren. Es ist eine allgemeingültige Erfahrung, dass das Recht zwar in eine bestimmte Form gebracht und mit der Macht verbunden werden muss, dass dies allein aber nicht genügt, ihm Anerkennung zu verschaffen. Auch der deutsche Rechtspositivismus hat nicht auf eine metajuristische Basis verzichtet. Seine eigentümliche Denkweise war nur möglich, weil es in jenen 357

VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Zeiten eine ausgeprägte Staatsmetaphysik gab, die das ausschließlich an den Staat gebundene Recht überhöhte. Die führenden Vertreter des Rechtspositivismus glaubten nicht an Entartungsmöglichkeiten des Staates. Sie sahen daher auch keine prinzipielle Notwendigkeit, dem Einzelnen unverletzbare Rechte zuzusprechen. Es hieß: „Der Grundsatz der Unverletzlichkeit gilt nur für Zivilrechte, insbesondere Vermögensrechte, und auch hier nur als gesetzgeberisches Prinzip, nicht als formelle Schranke der staatlichen Tätigkeit. Öffentliche Rechte dagegen unterliegen unbedingt der Aufhebung und Umgestaltung im Wege der Gesetzgebung" (G. Meyer, 1899, S. 32). Mit den Erfahrungen heutiger Generationen wäre das nicht mehr zu vereinbaren. „Für die in der Bundesrepublik geltende Rechtsordnung ist davon auszugehen, dass die Rechtsnorm den Bewertungsmaßstab für den durch sie geordneten Lebensbereich stets der im Gewissen des abendländischen Menschen lebendigen Gerechtigkeitsidee entnimmt. Dabei darf allerdings nicht jede isolierte Einzelvorschrift als Rechtsnorm verstanden werden. Die Rechtsnorm erschließt sich vielmehr erst aus der Betrachtung zusammengehöriger Bestimmungen des materiellen und des Verfahrensrechts, also einem Inbegriff von Sollenssätzen, die in ihrer Gesamtheit einen Lebensbereich ordnen" (so bereits C. F. Mengerl H. Wehrhan, 1957, S. 5). Die im individuellen Gewissen verwurzelte Gerechtigkeitsidee verweist auf ein Vorstaatliches, das durch das Grundgesetz etwa mit dem Begriff freiheitlichdemokratische Grundordnung angesprochen wird, insofern dieser Ordnung - so das Bundesverfassungsgericht - die Vorstellung zugrunde liegt, „dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt" (BVerfGE 2, 1 (12)). Dementsprechend konnte dann auch in einer frühen Untersuchung der Rechtsprechung in der Bundesrepublik behauptet werden, sie habe „ein klares und grundsätzlich kompromissloses Bekenntnis zu einem unmittelbar geltenden und verpflichtenden Recht überpositiver Natur" abgelegt (A. Langner, 1959, S. 213). Das Bundesverfassungsgericht selbst hat nie unmittelbar naturrechtliche Maßstäbe angewandt. Es erkennt mit Rücksicht auf die kontroverse Naturrechtsdiskussion überhaupt nur „fundamentale Rechtsgrundsätze" an, die außer Streit stehen und in eigentlich allen denkbaren Fällen im Grundgesetz bereits normiert sein dürften („das Grundgesetz als positiviertes Naturrecht"). Alle anderen Naturrechtsätze würden den Richter vor erhebliche Erkenntnisprobleme stellen (BVerfGE 10, 59 (81)). Damit öffnet sich ein Problemkomplex, der an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt, ja nicht einmal zureichend eingegrenzt werden kann. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie müssen ausgeklammert bleiben; nur die folgende Verkürzung erscheint erlaubt: Vernünftigerweise muss jede Rechtsordnung zwei Kriterien entsprechen, dem der Gerechtigkeit und dem der Rechtssicherheit. Beide Kriterien lassen sich dem Streit nicht entziehen und können sich auch zueinander widerstreitend verhalten. In diesem Sinne stellt sich jede historischkonkrete Rechtsordnung einerseits als etwas Vorläufiges dar (verbesserungsbedürftig nach Maßgabe größerer Gerechtigkeit), andererseits als etwas Stabiles, das in sich genügend Bestandsgarantien enthält, um Rechtssicherheit auch dann noch zu gewähren, wenn Recht geändert wird. Idealtypisch lässt sich dabei unterscheiden zwischen dem überpositiven Recht, das Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht, und dem positiven Recht, das in aller Vorläufigkeit, Widersprüchlichkeit und Ungerechtigkeit wenigstens ein Mindestmaß an Ordnung und Rechtssicherheit gewährleistet („klassisch" zur Rechtsphilosophie G. Radbruch, 19323, Studienausgabe 1999). Unterscheidet man so, was dem empirischen Befund sicher nicht entspricht, dann überlässt man es zuletzt dem Einzelnen, ob er das ihn betreffende konkrete Recht als zumutbar 358

1. Die Rechtsordnung: Grundlagen empfindet oder nicht. Im letzteren Falle müsste er Widerstand leisten. Die Stärkung der Naturrechtsidee nach 1945 bezieht sich konkret auf solchen Widerstand, was natürlich voraussetzt, dass nur in extremen Ausnahmelagen konkretes Recht als unzumutbar erscheinen darf. Lebenspraktisch wirkt sich jene idealtypische Unterscheidung so aus, dass jedermann der konkreten Rechtsordnung mit seinen Vorstellungen vom Recht gegenübertreten kann. Die Rechtsordnung unterliegt einer Kritik, die den Pluralismus der Wertvorstellungen widerspiegelt. Dieser Pluralismus ist zwar in aller Munde, wird aber nur ungern ertragen. Gerade diejenigen, die in besonderer Weise von einem konkret greifbaren Naturrecht ausgehen, wollen sich des positiven Rechts bemächtigen, mithin den nahezu zwangsläufigen Widerstreit zwischen überpositivem und positivem Recht aufheben und ihr eigenes Gewissen zum Herrn über andere machen. Jene Unterscheidung verdeutlicht deshalb, dass und in welchem Ausmaß es die Rechtsordnung mit Macht zu tun hat, dass sie dieser Macht bedarf, um wirken zu können, und dass sie gleichzeitig diese Macht stabilisiert. Aus ganz anderen Gründen muss man fragen, ob man vom „Recht" ausschließlich in Bezug auf das staatliche, also positive Recht oder auch in Bezug auf das überpositive Recht und die Rechtsidee sprechen soll, ob es mithin nicht auch eine gesellschaftliche Rechtsordnung gibt, die die „in der Gesellschaft lebendigen Vorstellungen rechtlicher Gebote und Inhalte" umfasst. „Unter Rechtsordnung wird man dann - ohne dass hier ein erschöpfender Begriff gebildet werden soll - die das Zusammenleben im Gemeinwesen grundlegend regelnden Vorstellungen zu begreifen haben, die als staatliche Rechtsordnung staatlich gesetzt oder doch von den Gerichten und anderen Staatsorganen praktiziert werden, als gesellschaftliche Rechtsordnung dagegen ganz allgemein oder doch weithin im Bewusstsein der Gesellschaft lebendig sind" (E. Schmidhäuser, 1964, S. 12; zur Frage der Rechtsordnung vgl. auch R. Lippold, 2000). Eine solche Unterscheidung erlaubt auch einen eher empirischen Zugriff. „Je unmittelbarer der einzelne betroffen ist und je mehr es um das Verhältnis von einzelnem zu einzelnem in seiner täglich erlebten Anschaulichkeit geht, desto schärfer werden die Umrisse dieser Ordnung selbst schon in der Gesellschaft erlebt, desto stärker werden die in Frage stehenden Pflichten empfunden. Je mehr es dagegen um das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft im ganzen und zum Staate geht, desto offener bleibt die vom einzelnen erlebbare Pflicht: eine vernünftige Staatsführung zu unterstützen, den angemessenen Teil zum allgemeinen Wohle beizutragen, vernünftig bemessene Steuern zu entrichten usw." {ebd., S. 13). Rechtssoziologisch lässt sich das dahingehend weiterführen, dass sich die staatliche Rechtsordnung in erster Linie an die Staatsorgane wendet und nur ein Teil von ihr, der insoweit die gesellschaftliche Rechtsordnung überlagert, auch unmittelbar den Bürger anspricht und von diesem wahrgenommen wird. Das verweist dann auch auf einige Kernprobleme moderner Rechtsgestaltung, die es mit dem Verhältnis von staatlichem, d. h. gesetztem Recht und den übrigen Normen und Konventionen, die in der Gesellschaft verbreitet sind, zu tun haben und etwa zu folgenden Fragen führen: Was kann der Gesetzgeber mit Aussicht auf Erfolg als Recht setzen, wenn er sich nicht ausschließlich auf die staatliche Macht zur Durchsetzung des Rechts verlässt? Auf welchen Gebieten und in welcher Weise dringen gesellschaftliche Vorstellungen in den Gesetzgebungsprozess ein? Welche Macht ist dem Staat zuzubilligen, damit er das von ihm gesetzte Recht auch dann durchsetzen kann, wenn es entweder den verbreiteten Vorstellungen widerspricht oder aber in keinem Zusammenhang mit diesen Vorstellungen steht, also gesellschaftlich einfach hingenommen wird oder überhaupt unbekannt bleibt? Die konkrete Rechtsordnung, so lässt sich dies zusammenfassen, muss im Vergleich zu den übrigen gesellschaftlichen Konventionen zumutbar sein, weil sie in der Regel nur nach Maßgabe gesellschaftlicher Unterstützung durchsetzbar ist und von ihrer Durchsetzbarkeit wie359

VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel derum die Rechtssicherheit abhängt. Tatsächlich wendet sich aber nur ein kleiner Teil der staatlichen Rechtsordnung wirklich an alle Bürger. Damit kommt es zu einem Nebeneinander von greifbarem und anonymem, von erlebtem, weil selbst zu handhabendem, und willkürlich wirkendem Recht, das nur von Spezialisten durchschaut und dann oft „trickreich" genutzt wird. Dass man „sein" Recht in der Regel nur mit Hilfe eines Rechtskundigen erlangen kann und es ähnlich wie bei den Ärzten bessere und schlechtere Rechtskundige gibt, zugleich auch die Rechtsprechung nicht (mehr) berechenbar ist, stellt sich als das eigentlich praktische Problem dar, das nur mit einiger Verzerrung das Nebeneinander von überpositivem und positivem Recht widerspiegelt. Hält man an der Unterscheidung von staatlicher und gesellschaftlicher Rechtsordnung fest, kann man wohl nur folgern, dass „gute Politik" in der staatlichen Rechtsordnung nach Möglichkeit die in der Gesellschaft verankerten Rechtsvorstellungen berücksichtigen oder diese Vorstellungen verbessern sollte. Gesetzgebung folgt demnach, wenn sie Rücksicht auf die lebendige Rechtsordnung nimmt, kaum absoluten Prinzipien. Sie relativiert vieles; die „Rechtsidee" schimmert bestenfalls durch. Rechtspolitisch werden solche unterschiedlichen Auffassungen vor allem im Bereich von Ehe, Familie, Partnerschaft, Geburt und dem sogenannten Elternrecht - „sogenannt", weil es oft für die Eltern erkämpft wurde, um es dann für Gruppen in Anspruch zu nehmen (vgl. im Übrigen F. Ossenbühl, 1981) - virulent, wobei sich zeigt, dass es an einem inhaltlich wirklich tragenden Konsens über die „ Grundwerte" fehlt. In der Gesetzgebungspraxis kam und kommt das neben den Veränderungen des Scheidungsrechts vor allem in den Diskussionen um eine Ehe gleichgeschlechtlicher Lebenspartner zum Ausdruck. Darüber hinaus wird die Grundwertediskussion auch im Zusammenhang mit den erweiterten Möglichkeiten der modernen Medizin, etwa der künstlichen Befruchtung oder dem Einsatz der Gentechnik sowie den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Anwendung geführt (C. Starck, 2002). Die Unterscheidung zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Rechtsordnung ist trotz ihrer Ungenauigkeit - man stellt etwas präzise Definierbares neben etwas nur schwer und nur näherungsweise zu Ermittelndes, nachdem immer umstritten bleibt, was „das" Rechtsbewusstsein eigentlich besagt - auch deshalb hilfreich, weil sie davor bewahrt, das Gesetz nur in seiner Eigenschaft als Teil der Rechtsordnung zu sehen. Es ist aber zugleich ein Instrument politischer Führung. Nur durch Bundesgesetz kann die Länderverwaltung in Anspruch genommen werden, nur mittels Gesetz ist die kommunale Selbstverwaltung in das staatliche Handeln zu integrieren, nur Gesetze können das Verhalten von Gruppen regeln und Geoder Verbote gegenüber Unternehmen oder Bürgern aussprechen. Das (staatlich gesetzte) Recht erschöpft sich nicht (mehr) in den althergebrachten Funktionen der Sicherung von Frieden und Ordnung. Seine sozialen Funktionen lassen sich mit Manfred Rehbinder (19893) vielmehr wie folgt beschreiben: „Recht festigt den sozialen Zusammenhang der Rechtsgemeinschaft 1. durch Bereinigen von Konflikten (Reaktionsfunktion), 2. durch Verhaltenssteuerung (Ordnungsfunktion), 3. durch Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft (Verfassungsfunktion), 4. durch Gestaltung der Lebensbedingungen (Planungsfunktion) und 5. durch Rechtspflege (Überwachungsfunktion)" (vgl. auch A. Görlitz, 1976, und später zahlreiche Rechtssoziologen). Erst vor diesem umfassenden Hintergrund wird die gegenwärtige Diskussion über die Leistungsfähigkeit des Gesetzes als Führungs- und Steuerungsinstrument verständlich. Sie läuft im Ergebnis auf die Frage hinaus, ob angesichts der sog. Gesetzesflut und der mit ihr verbundenen rechtstechnischen Probleme nicht von einer übermäßigen Nutzung des Instruments gesprochen werden muss, die dann zu Abnutzungserscheinungen führt (vgl. hierzu vor allem die Berichte der Kommission für Gesetzesund Verwaltungsvereinfachung Nordrhein-Westfalen, 1983, 1986, 1990, sowie zu einer erwei-

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1. Die Rechtsordnung: Grundlagen terten Analyse D. Grimm, 19942; zur Problematik des Rechts als eines Instruments politischer Steuerung vgl. S. Lange/D. Braun, 2000, W. Hoffmann-Riem, 2001, S. 52ff.). Solche Abnutzungen stellen sich vor allem in drei Richtungen. Dem Gesetzesbefehl fehlt die „Treffgenauigkeit" in der Verwaltung, in der immer mehr gesetzliche Anweisungen entweder „versickern" oder nur mit großen Verzögerungen befolgt werden; die Rechtsordnung wird immer unübersichtlicher, weil sie in eine Unzahl von Spezialgebieten zerfallt, zwischen denen oft nur mühsam und rechtstechnisch problematisch die erforderlichen Bezüge herzustellen sind; die Beziehungen zwischen der Rechtspflege und den Gesetzesanwendern werden aufgrund der Ausdifferenzierung der Rechtsordnung immer problematischer und führen zu einem Kreislauf, in dem die Ausdifferenzierung zu vermehrter Rechtsprechung und die vermehrte Rechtsprechung zu neuer Ausdifferenzierung führt. Wie durch ein Brennglas werden diese Probleme an einem einzigen Sachverhalt sichtbar, dem nämlich, dass seit einigen Jahren die „Gesetzesflut" längst nicht mehr durch die Ausweitung der Staatstätigkeit bedingt ist, sondern durch die geringe Bestandswirkung von Gesetzen. Die schon fast absurde Häufigkeit von Gesetzesänderungen folgt dabei rechtsstaatlichen Geboten, die sich wiederum auf die Ziele der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zurückführen.lassen. Sie mindert aber auch die Rechtssicherheit in einem Maße, das bisher wenig diskutiert wurde. Anders ausgedrückt: Die übermäßige Nutzung der Funktionen des staatlich gesetzten Rechts für die Ordnung und Regulierung der Gesellschaft gefährdet sowohl das Gesetz als Regelungsinstrument als auch als Bestandteil der Rechtsordnung. „Ordnung" ist ohne ein bestimmtes Maß an Beständigkeit aber nicht erfahrbar.

1.2. Zur Struktur der Rechtsordnung Die Rechtsordnung, unübersehbar und nach Inhalten wie jeweiliger Gewichtigkeit höchst differenziert, bildet theoretisch eine Einheit. Der Rechtspositivismus hat dies sogar zum Denkgesetz erhoben: ,,[V]on jedem Normensystem wird gefordert, dass es auf jedwede gestellte Frage eine und nur eine Antwort in Bereitschaft hält. Das gilt auch dann, wenn ein Normensystem Rechtsquellen verschiedener Art umschließt. Solange die einzelnen Rechtsquellen nicht die gleichen Tatbestände erfassen, wird das Einheitspostulat der Gesamtrechtsordnung überhaupt nicht berührt; anders, wenn zwei Rechtsnormen miteinander kollidieren: das zur Rechtsanwendung berufene Staatsorgan kann nur eine Norm seiner Entscheidung zugrunde legen; es muss wissen, welcher Norm es im Kollisionsfall den Vorzug zu geben hat, welcher normative Befehl den höheren Rang beanspruchen darf. Diese Frage zu lösen ist Aufgabe der Lehre von der Rangordnung der Rechtsquellen" (G. Anschiitzl R. Thoma, 1932, S. 313). Hier gibt es traditionell wenig Probleme, sofern ranggleiches Recht miteinander kollidiert. Man greift dann auf bewährte Grundsätze zurück, denen zufolge etwa die jüngere Norm vor der älteren rangiert oder die speziellere vor der allgemeinen. „Kollisionen von Normen verschiedener Rechtsquellengruppen werden nach dem allgemeinen Satz entschieden: Lex superior derogat legi inferiori" {ebd., S. 314). Diesen Satz anzuwenden, erlaubt das einheitsstaatliche Rechtssystem stets ohne Schwierigkeit. Kollisionen zwischen Prinzipien, insbesondere Verfassungsprinzipien, werden mit Hilfe von Abwägungen durch Herstellung praktischer Konkordanz gelöst (vgl. hierzu vor allem Konrad Hesse). Auch die Rangordnung: Verfassung, Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung muss unstrittig sein. Im Bundesstaat auf der Basis des Grundsatzes „Bundesrecht bricht Landesrecht" (Art. 31 GG) und der verfassungsmäßigen Realität des Nebeneinanders von Bundes- und Landesrecht fällt die Festlegung der Rangordnung erheblich schwerer. Da hier jedoch nicht der juristischen Rechts-

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel quellenlehre gefolgt wird, sondern einer eher politischen Betrachtungsweise, soll ein einziger Aspekt besonders hervorgehoben werden: jene Hemmnisse, die gestaltenden oder ändernden Eingriffen in die Rechtsordnung durch diese selbst oder durch die ihr zugrunde liegenden Prinzipien bereitet werden. Für die Bundesrepublik ergibt das eine vergleichsweise deutliche Rangfolge. An der Spitze stehen die Grundrechte (Art. 1-19 GG) und solche Verfassungssätze, die im Grundsatz jeglicher Änderung entzogen sind (Art. 1 und 20 GG). Die Prinzipien der Art. 1 und 20 werden durch den Art. 79 Abs. 3 GG (die sog. Ewigkeitsklausel) geschützt. Darin heißt es: „Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Zusammen bilden die drei Artikel damit den sog. Verfassungskern. Durch den Hinweis auf Art. 1 sind die Grundrechte als Gesamtheit einbezogen (vgl. hierzu die benannten Verfassungskommentare), durch den Hinweis auf Art. 20 gilt die Bundesrepublik unabdingbar als demokratischer und sozialer Bundesstaat, in dem die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, sie von besonderen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird und in dem diese Organe an Verfassung, Gesetz und Recht gebunden sind. Den Grundrechten kommt somit in der Verfassung eine herausgehobene Stellung zu, auch wenn sie insgesamt nicht völlig der Interpretation des Gesetzgebers entzogen sind. Konkret bedeutet dies, dass entsprechend Art. 79 Abs. 3 GG nur Art. 1 und 20 GG ausdrücklich geschützt sind, während im Übrigen die Grundrechte ggf. korrigiert werden dürfen - allerdings unter erschwerten Bedingungen und unter Einhaltung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, den Art. 19 GG einführt, indem er festlegt, durch ein Gesetz (und damit auch durch ein verfassungsänderndes Gesetz) dürfe in keinem Fall ein Grundrecht „in seinem Wesensgehalt" angetastet werden. Die Sonderstellung insbesondere des Art. 1 GG im Katalog der Grundrechte leitet sich aus der Aufgabenstellung dieses Artikels im Rahmen des Gemeinwesens ab. Es hat die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, weshalb „die nachfolgenden Grundrechte f...] Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" binden. Was anschließend konkretisiert wird, spiegelt unterschiedliche historische Erfahrungen wider, wenngleich das Anknüpfen an die Menschenrechtsvorstellungen des Frühliberalismus unverkennbar ist. Von daher lässt sich zwischen Abwehrrechten (negativen Statusrechten), die die private Sphäre gegen staatliche Eingriffe schützen, Teilnahmerechten (aktiven Statusrechten), die die politische Teilnahme gewährleisten, und Anspruchsrechten (positiven Statusrechten) unterscheiden, die Ansprüche etwa im Sinne des Sozialstaates begründen können - letztere finden sich im Gegensatz zu den ersteren allerdings wenig konkretisiert (vgl. dazu T. Schilling, 1994; die entsprechenden Beiträge in J. Isensee/P. Kirchhof 1987ff.;I. v. Münch/P. Kunig, 20005). Eine systematische Betrachtung der Grundrechte kann sich weiter an der Unterscheidung zwischen (allgemeinen) Menschenrechten und Bürgerrechten orientieren oder auch daran, dass manche Grundrechte von vornherein gelten - die Glaubensfreiheit etwa - , während andere eine Weisung an den Gesetzgeber enthalten, die diesen entweder an etwas hindern soll (Gewährleistung des Eigentums) oder zu etwas verpflichtet (Schutz der Familie). Nicht deckungsgleich mit dieser Unterscheidung, aber in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen, ist die klassische Differenzierung zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten. Erstere gestehen die Freiheit zu, etwas zu tun oder nicht tun zu müssen - ζ. B. die Vereinigungsfreiheit, das Verbot der Zwangsarbeit - , letztere garantieren die Gleichbehandlung der Einzelnen - so etwa durch den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz. 362

1. Die Rechtsordnung: Grundlagen Die Grundrechte prägen stärker als ihr Pendant in der Weimarer Verfassung die politische Realität. Zwar verfügen sie nicht über jene Bedeutung und Klarheit, die ihnen gelegentlich zugesprochen wird, sie haben aber - nicht zuletzt dank der Grundrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und dessen großzügiger Auslegung etwa des Gleichheitsgrundsatzes ihren festen Platz in der Verfassungsordnung. Das schließt grundlegende Streitfragen nicht aus, wie sie im Zusammenhang mit dem Verfassungsauftrag des Grundgesetzes schon angesprochen wurden oder wie sie im Nebeneinander von Art. 14 und 15 G G ohnehin deutlich sind - wenngleich man hier wohl sagen kann, dass der Verfassungsgeber einen Rahmen gezogen hat, innerhalb dessen beides möglich ist: ein unbedingt privatwirtschaftliches System und ein Wirtschaftssystem, in dem „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel" vergesellschaftet sind, ohne dass die dafür gezahlte Entschädigung wieder zum Erwerb anderer Produktionsmittel verwendet werden kann. Mit den Grundrechten verbindet sich also keine volle Klarheit; sie verweisen aber eindeutig auf in die Verfassungsordnung einbezogene Wertvorstellungen. Das Grundgesetz erkennt damit eine über- und außerstaatliche Wertordnung an, ohne dass der Verfassungstext klärt, welche konkrete, weltanschaulich bestimmte Wertordnung das sein soll. 1949 verzeichnete man daher auch erhebliche Vorbehalte der katholischen Kirche. Aus jener Anerkennung ergibt sich der Zusammenhang mit dem überpositiven Recht und der (ungeschriebenen) gesellschaftlichen Rechtsordnung. Der Bezug zwischen der positiven staatlichen Rechtsordnung und der überpositiven Rechtsidee muss, wie ausgeführt, durch die in der Gesellschaft vorhandenen Vorstellungen von Recht und Sittlichkeit hergestellt werden. Je weniger einheitlich solche Vorstellungen sind, desto schwieriger wird der Auftrag des Gesetzgebers, wenn er mit seinen Entscheidungen Fragen von weltanschaulichem Charakter berührt. Er wird deshalb schwierig, weil an dieser Stelle das Recht der Mehrheit beschränkt sein muss, es allerdings auch kein weltanschaulich fundiertes Gestaltungsrecht der Minderheit geben kann. Die Grundrechte beenden deshalb den Streit um die Verbindlichkeit der eigenen Ordnung nicht; an ihnen lässt sich aber verdeutlichen, dass es zugemutet werden kann, in einer staatlichen Ordnung mitsamt ihren Normen zu leben, die nur zu einem Teil den Normvorstellungen genügen, unter denen eine Mehrheit zu leben wünscht. Wo immer Regelungsbedürftiges weltanschaulich umstritten ist, findet sich der Gesetzgeber gut beraten, wenn er sich mit dem Minimalkonsens begnügt, anstatt das Gewissen der einen über das der anderen zu stellen. Aus dieser Notwendigkeit sollte man sich auch nicht durch den Hinweis auf die christliche Tradition heraus zu stehlen suchen: In unserer Überlieferung muss man Freiheit und Würde des Menschen wie auch seine Bestimmung und Bindung sicher überwiegend im Sinne des Christentums als Geschichtsgestalt zu unterscheiden also vom christlichen Glauben - interpretieren. Dennoch enthält das Grundgesetz gerade diese Interpretationen nicht; es bekennt sich allenfalls zu „objektiven Prinzipien" (Κ. Hesse, 199520, S. 93ff.), dies aber in einer Form, die für jedermann zumutbar bleibt. Formal steht dann das übrige Verfassungsrecht des Bundes an zweiter Stelle in der obigen Rangfolge, da man es nur unter einigen genau festgelegten Voraussetzungen ändern kann. Das verweist wieder auf ein umfangreiches Problem. Jede geschriebene Verfassung ist daraufhin zu befragen, ob sie sich als unabänderlich versteht und sich deshalb möglicherweise der Entwicklung in den Weg stellt, ob sie Änderungen nur unter Einhaltung eines komplizierten Weges erlaubt, oder ob sie vergleichsweise einfach verändert werden kann. Dabei muss zwischen der geregelten Verfassungsänderung und dem ständigen (allmählichen) Verfassungswandel unterschieden werden (vgl. vor allem H. Heller, 1934, S. 249ff.; H. Krüger, 19662, S. 150ff. und S. 483ff.; B.-O. Bryde, 1982; G.-J. Glaeßner u.a., 2001). 363

VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel In Deutschland beschreitet das Grundgesetz gegenüber den früheren Verfassungen einen Weg, auf dem Verfassungsänderungen möglich, aber nicht ohne weiteres durchführbar sind. Art. 79 GG verlangt zwar keine besonderen Formalitäten, wohl aber die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Dies bedeutet politisch, dass entweder die Mehrheit sehr groß oder die Minderheit, wenn sie über mehr als ein Drittel der Mandate verfügt, beteiligt sein muss. In der Bundesrepublik war das erstere von 1953 an so lange der Fall, bis die wichtigsten Grundgesetzänderungen im Zusammenhang mit der Wiederaufrüstung durchgeführt waren; seit 1957 ist für Änderungen die Zustimmung der Opposition erforderlich. Die Länderverfassungen sind z.T. schwieriger zu ändern. In Bayern ist nach Art. 75 Abs. 2 der dortigen Verfassung eine Zweidrittelmehrheit im Landtag erforderlich, außerdem muss ein Volksentscheid erfolgen. Verfassungsänderungen sind deshalb auch selten; die vergleichbaren Bestimmungen der hessischen Verfassung (Art. 123 Abs. 2) sind nur 1950 einmal erprobt worden. Einen anderen Weg beschreitet die Verfassung Nordrhein-Westfalens, nach deren Art. 69 eine Zweidrittelmehrheit der Landtagsmitglieder die Verfassung ändern darf, Landtagsmehrheit oder Regierung aber einen Volksentscheid herbeiführen können, wenn jene qualifizierte Mehrheit im Landtag nicht gegeben ist. Insgesamt kam es in den Ländern aber nur in wenigen Fällen zu Verfassungsänderungen, während man das Grundgesetz vielfach änderte und ergänzte (zwischen 1949 und 1997 wurde das GG insgesamt 175 Mal geändert, wobei 45 Änderungen die Neueinfügung eines Artikels betrafen; P. Schindler, 1999, S. 2961; s. Materialband, Uli). Zum Verfassungsrecht zählt auch das Landesverfassungsrecht. Es rangiert in der Normenhierarchie jedoch erst an dritter Stelle, weil es in einigen Bereichen durch Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht") unwirksam geworden ist oder sich zumindest nach den Prinzipien des Grundgesetzes richten muss. Alle übrigen Teile der staatlichen Rechtsordnung erscheinen im Vergleich zu den ersten drei Normengruppen als zur Disposition des Gesetzgebers stehend; allerdings trügt der Schein. Als vierte Gruppe ist das weitgehend dieser Disposition entzogene Völkerrecht zu nennen, soweit es durch die Transformationsklausel des Grundgesetzes oder durch eigene Gesetze innerstaatliches Recht geworden ist. Sobald dieser Zustand erreicht ist, lassen sich Abänderungen nur noch gemeinsam mit den Gesetzgebern anderer Länder vornehmen. Das auf internationalen Verträgen beruhende innerstaatliche Recht ist so gesehen für den nationalen Gesetzgeber u.U. weniger verfügbar als das Verfassungsrecht. Dies gilt auch für das Europarecht, wobei es klar vom Völkerrecht unterschieden werden muss. Es bildet inzwischen eine eigenständige Rechtsordnung mit einer autonomen Gemeinschaftsgewalt, die zunächst einmal unabhängig von den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Geltung beansprucht. Im Gegensatz zum Völkerrecht, das durch Ratifizierung erst in das jeweilige nationale Recht „eingeordnet" wird, gilt für die europäische Rechtsordnung, die durch die schrittweise, freiwillige Übertragung von Hoheitsrechten von den Mitgliedstaaten auf die EU entstanden ist und sich in diesem Sinne noch fortentwickelt, das Prinzip des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts, wie es vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung festgelegt wurde: „Aus alledem folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll" (EuGHE 64, 1251 (1251)). Die föderative Struktur der Bundesrepublik bedingt dann eine fünfte Gruppe von Normen innerhalb der gesamten Rechtsordnung. Sie besteht aus den zustimmungspflichtigen Gesetzen (Zustimmungsgesetze), die als Bundesgesetz zustande kommen und dementsprechend auch nur geändert werden können, wenn

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1. Die Rechtsordnung: Grundlagen der Bundesrat seine Zustimmung erteilt. Die sechste Gruppe wird durch die nicht-zustimmungspflichtigen Bundesgesetze (Einspruchsgesetze) gebildet, die dann zustande kommen, wenn der Bundesrat keinen Einspruch erhebt. Beide Arten von Bundesgesetzen haben gemäß der innerstaatlichen Rangordnung Vorrang vor den Landesgesetzen. Die siebte Gruppe besteht aus Verträgen und Abkommen zwischen den Ländern oder zwischen Ländern und Bund oder auch zwischen verschiedenen Staatsorganen. Formal gesehen ist auch noch von einer achten Gruppe zu sprechen, die diejenigen Landesgesetze umfasst, die durch Bundesgesetze eingeschränkt oder aufgehoben werden können. Die neunte Gruppe würde dann endlich von den Rechtsverordnungen gebildet, zu deren Erlass die Regierungen bzw. Ministerien im Gesetz ermächtigt werden, wobei die Ermächtigung sich auch auf etwa notwendige Veränderungen bezieht. Schließlich wäre das Gewohnheitsrecht zu erwähnen, das nirgendwo kodifiziert ist, dennoch aber Bedeutung hat. Zum Gewohnheitsrecht gehören nicht nur die rechtliche Übung, wie sie etwa in der Wegenutzung oder im gemeinsamen Grundstücksgebrauch Platz greift, sondern in gewissem Umfang auch das Richterrecht, die Verwaltungspraxis und die Behördenübung, die alle neben dem gesetzten Recht eine Rolle spielen. Notwendigerweise entzieht sich das Gewohnheitsrecht einer derartig abgestuften Einteilung, da es sich u. U. nur schwer verändern lässt. Das Gesetzesrecht im engeren Sinne, das die oben genannten Gruppen fünf, sechs und acht umfasst, versucht man vorwiegend zu systematisieren, indem man zwischen öffentlichem und Zivilrecht unterscheidet. Unterscheidungsmerkmal ist dabei, dass es sich bei Zivilrecht um die Regelung von Rechtsbeziehungen zwischen Gleichberechtigten handelt, während im öffentlichen Recht hoheitliche Gesichtspunkte oder doch solche der Über- und Unterordnung eine Rolle spielen. Dieser Unterscheidung entziehen sich die ungemein rasch angewachsenen Bereiche des Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrechts. Auch andere Unterscheidungen, so etwa die zwischen Staats- und Verwaltungsrecht, sind durch die Entwicklung begrifflich problematisch geworden. Gelegentlich muss man deshalb auf entsprechende Unterscheidungen verzichten und sich hilfsweise damit begnügen, die Rechtsnormen, die einigermaßen deutlich gesonderte Lebensbereiche ordnen, für sich zu betrachten. Entsprechend findet sich etwa ein allgemeines Strafrecht und das besondere Verkehrs- oder Wirtschaftsstrafrecht. Wesentliche der Ordnung bedürftige Lebensgebiete sind - jeweils im engeren Sinne - das Zivilrecht, das Handelsrecht, das Arbeitsrecht, das Recht der sozialen Sicherung, das Wirtschaftsrecht, das Staatskirchenrecht und der im Einzelnen nicht mehr sinnvoll aufzugliedernde Bereich dessen, was man früher zum Verwaltungsrecht und zum Staatsrecht zählte. In diesem Bereich ist auf größere Gebiete, wie etwa das Steuerrecht, und auf eine Fülle von Einzelregelungen, wie etwa das Presserecht, zu verweisen. Dabei wurde bereits im Zusammenhang mit der Gesetzgebung ausgeführt, dass von Fall zu Fall zu fragen ist, ob ein solcher Bereich in besonderem Maße politischen Einflüssen unterliegt oder von Gruppeninteressen beeinflusst wird. An dieser Stelle wird wieder deutlich, dass jene Rangordnung nur einen ersten Zugang zur Realität eröffnet. Formal sind alle Gesetze gleich. Faktisch aber gibt es große Unterschiede zwischen ihnen und damit auch ganz unterschiedliche Formen der parlamentarischen Beratung, die wiederum von der Stärke der Gruppeneinflüsse abhängig sind. Eine Tendenz, die die Struktur der Rechtsordnung in zunehmendem Maße verändert und mitprägt, stellt die „Europäisierung" des deutschen Rechts dar, also die „fortschreitende(r) Beeinflussung, Wandlung und Überformung eines Rechtsgebiets durch die Rechtsmassen europäischen Rechts und das in ihnen wirksame Rechtsdenken (E. Schmidt-Aßmann, 1993, S. 513; vgl. zur Europäisierung des Rechts u.a.: H.-W. Rengeling, 1996; K. F. Kreuzer, 1997; J. Schwarze, 1998; 1 Schwarze/P.-C. Müller-Graff 2000; A. v. Bogdandy, 2001). Der ständig

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel wachsende Umfang des europäischen „Normenkörpers", des acquis communautaire, aber auch die Tatsache, dass sich im Zuge der europäischen Integration neue Konzepte der Normierung herausbilden, bilden in mehrfacher Hinsicht eine beträchtliche Herausforderung für die deutsche wie für die Rechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten der EU. So sind mit der Europäisierung nicht nur Einflüsse des nationalen Rechts auf das Gemeinschaftsrecht verbunden, sondern auch wechselseitige Einflüsse der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten untereinander sowie das Einwirken des Gemeinschaftsrechts auf die einzelnen nationalen Ordnungen. Betroffen ist dabei in erster Linie das nationale Verwaltungsrecht, doch gerät auch das Verfassungsrecht mehr und mehr in einen Prozess des Wandels. Sowohl mit Blick auf das Verfassungs- wie das Verwaltungsrecht wird in erster Linie eine Tendenz voranschreitender Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen konstatiert (K.-E. Hain, 2002, S. 148 ff.). Insbesondere das Verwaltungsrecht unterliegt einer länderübergreifenden Konvergenzbewegung, die als „Prozeduralisierung" beschrieben wird ( W. HoffmannRiem, 2000, S. 104ff.); entgegen der an der Aufstellung materieller Grundsätze ausgerichteten deutschen Rechtstradition findet sich im Bereich des Verwaltungsrechts danach eine stärkere Orientierung am Verfahren und der Organisation. Wurde dem Umstand der Europäisierung in der rechtspolitischen Diskussion zunächst nur zögerlich Rechnung getragen, gehören die Auseinandersetzung mit dem und die Anwendung des Europarechts für Juristen inzwischen „zum alltäglichen Routinegeschäft". Den mannigfachen Einwirkungen des Europarechts in das deutsche Recht wird dabei nicht nur im Rahmen der juristischen Ausbildung Raum gegeben, auch die Forschung hat sich entsprechend orientiert. Neben der zunehmenden Überlagerung und Durchdringung des nationalen durch das europäische und das Völkerrecht muss besonderes Augenmerk auch auf die untergesetzlichen Normen und ihr Zustandekommen gerichtet werden. Traditionell bestehen sie in der Hauptsache aus Verwaltungsvorschriften, die im Rechtsstaat zunächst wenig interessieren, weil sie nur verwaltungsintern gelten, also den Bürger nicht unmittelbar betreffen. Dies hat sich beträchtlich verändert. Verwaltungsvorschriften umfassen (so etwa H. Maurer, 200214, S. 583 ff.) a) die Organisations- und Dienstvorschriften, b) gesetzesauslegende, c) ermessenslenkende und d) - rechtsstaatlich unerwünscht - gesetzesvertretende Anordnungen innerhalb der Verwaltung, die alle auch nach außen wirken, wenn etwa durch Dienstvorschriften für die Gewerbeaufsicht die Häufigkeit oder die Art besonderer Anlässe von Betriebsrevisionen festgelegt oder der im Gesetz eingeräumte Ermessensspielraum eingeschränkt wird. Neben den Verwaltungsvorschriften i.e.S. muss man die zahlreichen Normen sehen, die in der Verwaltung wie Vorschriften wirken und von denen viele von der Verwaltung in ihrem Außenverhältnis angewandt oder doch berücksichtigt werden. Als Beispiel seien DIN-Normen oder Technische Regeln genannt, die häufig über Rechts- oder Verwaltungsverordnungen in das staatliche Vorschriftengefüge transportiert werden, es vielfach auch nur ergänzen, ohne dass zureichend geklärt ist, wie solche Normen zustande kommen; im technischen Bereich sind dann oft Fach- oder Interessenverbände zuständig, oder es werden Ausschüsse gebildet, an denen der Staat beteiligt ist, auf deren Zusammensetzung er aber keinen Einfluss hat. Die Rechtsordnung, von deren Abnutzungserscheinungen die Rede war, umfasst so auch Normen, an deren Zustandekommen der Gesetzgeber nicht beteiligt ist, ein Aspekt, auf den lediglich hinzuweisen ist. Anzusprechen ist hingegen das Problem, das sich aus der Fülle der unterrechtlichen Vorschriften ergibt. Die „Fülle" kann man sich schon daran vergegenwärtigen, dass auf eine Zeile des Einkommensteuergesetzes zwischen 40 und 70 Zeilen unterrechtliche Vorschriften und von der Verwaltung zu berücksichtigende Gerichtsurteile entfallen. Diese Vorschriftenmenge kann dazu dienen, „das Recht" sehr kritisch zu betrachten, 366

2. Die Rechtsprechung: Justiz als Gewährleistung das Mängel aufweisen muss, wenn sein Vollzug derartig umfangreiche Regelungen erfordert. Die Kritik kann dann rechtstechnischer Natur sein (mangelhafte Gesetzgebung), sie kann prinzipiell ausfallen (Übermaß an Einzelfallgerechtigkeit und Berücksichtigung von Gruppenwünschen zu Lasten klarer und Rechtssicherheit gewährleistender Regelungen), sie kann sich den Bedürfnissen der rechtsanwendenden Berufe zuwenden (Juristen sind weniger an Rechtsvereinfachung interessiert als andere und Steuerberater tragen notorisch zur Komplizierung des Steuerrechts bei), und sie kann schließlich vor allem die Vollzugspraxis ins Auge fassen (dazu umfassend Th. Ellwein, 1989). Rechtsstaat und Rechtsordnung existieren auch in dem Maße, in dem im Verwaltungsalltag Vorschriften gelten. Je mehr Vorschriften es sind, desto mehr von ihnen sind in ihrer Geltung bedroht. Der dies bewirkende soziale Vorgang ist denkbar einfach zu erklären. Bei einem konkreten Verwaltungsvorgang sind eine Fülle von Vorschriften zu beachten. Da dies zeitraubend ist, wird das Maß der Vorschriftenbeachtung zum einen durch die Arbeitsnormen festgelegt (etwa: Bearbeitung einer bestimmten Zahl von Einkommensteuererklärungen in einem bestimmten Zeitraum) und zum anderen durch die das gesamte Vorschriftengefüge ordnende Hierarchie. Sie entspricht aber keinesfalls der geschilderten Hierarchie der Rechtsordnung. Am Arbeitsplatz gelten vielmehr auch andere Kriterien (unangenehme Erfahrungen mit dem Publikum, die Häufigkeit gerichtlicher Nachprüfungen, die beschleunigte Erledigung durch routinemäßiges Vereinfachen, u.a.m.). Damit entwickelt sich im Verwaltungsalltag ein eigener Standard der Rechtsanwendung, den man wohl vollzugspraktisch in vieler Hinsicht als „Leistung" ansehen muss. Die Verwaltung macht etwas möglich, was der Vorschriftengeber zwar will, aber eigentlich verhindert. Die wachsende Kompliziertheit des Vorschriftengefüges geht deshalb mit einem sich vergrößernden Spielraum der Verwaltung in der Vorschriftenhandhabung einher.

2. Die Rechtsprechung: Justiz als Gewährleistung 2.1. Die Organisation der Rechtsprechung Im Vergleich zu anderen Ländern erscheint die deutsche Justiz außerordentlich spezialisiert und organisatorisch zersplittert (vgl. Materialband, VIII/1). Zwar ordnete man nach der Trennung von Justiz und Verwaltung im 19. Jahrhundert der ersteren die gesamte Gerichtsbarkeit zu, doch betraf das nur die Zivil- und Strafrechtsprechung. Als es sich später als notwendig erwies, auch das staatliche Handeln einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit zu unterwerfen, richtete man eine eigene Verwaltungsgerichtsbarkeit ein (vgl. zu diesem Vorgang noch immer unübertroffen H. Heffter, 19692) und unterstellte sie nicht dem Justiz-, sondern dem Innenministerium. Dieser Ausgliederung folgte die der Finanz-, Arbeits- und Sozialgerichte sowie der für die Beamten zuständigen Disziplinargerichte. Nach 1945 stellte man auch die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eigene Füße (vgl. E. R. Huber, 1957 ff.). Die im Gewaltenteilungsschema als „dritte Gewalt" apostrophierte Rechtsprechung entbehrt mithin einer gemeinsamen Organisation. Die Verfassungen enthalten nur einige grundlegende Vorschriften. Im Übrigen kennt die Praxis unterschiedliche, nicht immer deutlich gegeneinander abgrenzbare Zuständigkeitsbereiche und eine Vielzahl von prozessualen Vorschriften. Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, das Bundesarbeitsgericht in Erfurt und das Bundessozialgericht in Kassel, das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig und der Bundesfinanzhof in München bilden die Spitzen unterschiedlicher Gerichtszweige.

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Vor Ort ist zunächst auf die ordentliche Gerichtsbarkeit zu verweisen (vgl. Materialband, VIII/3-5). Ihre Basis bilden die Amtsgerichte, deren Gerichtssprengel ursprünglich meist mit dem untersten staatlichen Verwaltungsbezirk übereinstimmten. Dies führte zu einem beträchtlichen Gefälle zwischen den Amtsgerichten in den Großstädten und denen in den eher ländlichen Räumen, ein Tatbestand, der immer wieder Forderungen nach einer die Territorialreform ergänzenden Reform auch der Gerichtsorganisation zutage treten ließ. Als zweite Instanz über den Amtsgerichten und als erste Instanz für einen großen Teil der Zivilund Strafrechtsfalle fungieren dann die Landgerichte. Zwischen ihnen und dem Bundesgerichtshof stehen schließlich 24 Oberlandesgerichte und das Bayerische Oberste Landesgericht. Die besonderen Gerichtszweige sind weniger umfassend ausgebaut, verfügen aber meist über drei Instanzen. Dies gilt für 123 Arbeits- und 19 Landesarbeitsgerichte, 69 Sozialund 16 Landessozialgerichte sowie 52 Verwaltungs- und 16 Oberverwaltungsgerichte. Lediglich die Finanzgerichtsbarkeit verfügt nur über zwei Instanzen. Weitere Sonderfälle sind hier ohne Interesse (Zahlenangaben jeweils für 2000). In den genannten Gerichten sind 20.880 Richter (2000; Angaben: Statistisches Bundesamt, 2002) hauptamtlich tätig. Die meisten von ihnen sind der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuzuordnen, die kleinste Gruppe bilden die Richter an den Finanzgerichten - von der Verfassungsgerichtsbarkeit abgesehen, die in den Ländern keine hauptamtlichen Richter kennt. Im Vergleich dazu kommt man in den Vereinigten Staaten mit etwa einem Drittel der hauptamtlichen Richter aus, obgleich die Bevölkerungszahl wesentlich größer ist. Dabei ist allerdings hinzuzufügen, dass in Deutschland das Institut des nebenamtlichen und meist nur streitschlichtenden Friedensrichters weithin unbekannt ist und die Amtsgerichte zudem mit Aufgaben belastet sind, die nicht eigentlich zur Rechtsprechung gehören (Führung des Grundbuchs etwa). Auch beteiligt man in der Strafgerichtsbarkeit zwar ehrenamtliche Richter - in den Schöffen- und Schwurgerichten - und setzen die Arbeits- und Sozialgerichte Laienbeisitzer ein, es dominieren aber die hauptamtlichen, juristisch vorgebildeten Richter. Auf der Ebene des Amtsgerichtes oder in kleineren Schöffengerichten judizieren sie allein oder als der einzige Jurist, während auf den anderen Stufen der Gerichtsorganisation entsprechend personalintensive Kammern oder Senate tätig sind. Allein in den obersten Gerichten finden sich heute knapp 500 Richter. Der Instanzenweg gehört historisch zur ordentlichen Gerichtsbarkeit. Hier ergibt sich die Möglichkeit, auf dem Wege der Berufung die Überprüfung eines Urteils bei der zweiten Instanz herbeizuführen und auf dem Wege der Revision formelle oder materielle Mängel eines Urteils von einer höheren Instanz feststellen zu lassen. Die Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichtes ist nur beim Landgericht möglich und führt bei Strafsachen hier ggf. zu einer neuen Verhandlung; Ziel der Revision ist die Aufhebung des Urteils und damit ein neues Verfahren. Das System ist auf die anderen Gerichtsbarkeiten zu übertragen. Da es als ein Merkmal des Rechtsstaates gilt, gegen ein Urteil Rechtsmittel einlegen zu können, werden die sich damit verbindenden oft langen Fristen meist in Kauf genommen. Organisation und Verfahrensweisen der deutschen Justiz wurzeln weithin im 19. Jahrhundert. Das erfordert zum einen ständige Anpassungsleistungen, zum anderen unterliegt die Justiz selbst gewichtiger, oft fundamentaler Kritik. Beides bewirkt, dass die Justiz wohl nicht immer mit jenem Vertrauen rechnen kann, das ihr in anderen westlichen Demokratien entgegengebracht wird. Immerhin ist eine seit vielen Jahren andauernde Reformdiskussion, die nach dem Regierungswechsel 1998 erstmals in das Projekt einer Justizreform mündete, bemüht, entsprechenden Problemen zu begegnen. Ansatzpunkte sind eine Reihe materieller Bedenken und struktureller Schwierigkeiten im deutschen Justizwesen (zur „Modernisierung von Recht und Justiz" vgl. u. a. W. Hoffmann-Riem, 2001). 368

2. Die Rechtsprechung: Justiz als Gewährleistung Materiell geht es um die Anpassung des Rechts an veränderte gesellschaftliche Bedingungen. Im Zivilrecht sind dies in erster Linie zunehmende internationale und hier insbesondere europäische Einflüsse, die in das deutsche zivilrechtliche System hineinwirken (vgl. O. Sandrock, 1996). Das gilt etwa für die Legitimation der Rechtsfortbildung, die Berücksichtigung internationaler Konventionen und die Anpassung des Rechts an die Richtlinien der Europäischen Union. Insbesondere mit Blick auf den letztgenannten Aspekt trat im Zuge der angesprochenen Justizreform zum 1. Januar 2002 ein Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts in Kraft, das die Umsetzung verschiedener EG-Richtlinien zur Vereinheitlichung des nationalen Schuldrechts mit dessen Neugestaltung verbindet. So regelt das Gesetz das Verjährungsrecht neu (Einführung einer einheitlichen Grundverjährung von drei Jahren) und reformiert das Rücktrittsrecht (Aufhebung der Alternativität von Rücktritt oder Schadensersatz zugunsten des Geschädigten), das Leistungsstörungsrecht, das Kaufrecht sowie das Werkvertragsrecht. Außerdem wurden verschiedene europäische Regelungen zum Verbraucherschutz in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) integriert und das BGB mit Überschriften versehen, die die Handhabung des über 100 Jahre alten Gesetzeswerks im modernen Rechtsverkehr vereinfachen sollen. Von der allmählichen materiellen Anpassung des deutschen Zivilrechts an die technische Fortentwicklung, insbesondere im Geschäftsverkehr, und an die geänderten internationalen und europäischen Rahmenbedingungen zeugen neben der Schuldrechtsänderung noch weitere Gesetze, die im Rahmen der Justizreform verabschiedet wurden und ebenfalls Anfang 2002 in Kraft traten. Zu nennen sind: das Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze, das die Umstellung auf den Euro als offizielles Zahlungsmittel berücksichtigt; das Gesetz zur Verbesserung des zivilrechtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung; das Gesetz über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr; oder auch das Vertragsgesetz und Begleitgesetz zu dem Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption. Inwieweit diese und weitere Gesetze tatsächlich zur Modernisierung des deutschen Justizwesen in materieller Hinsicht beitragen werden, muss sich erst noch erweisen. Allerdings wird die Tatsache, dass langjährige Reformdiskussionen letztlich zu einem Ergebnis geführt haben, bei aller Kritik als positives Signal gewertet. Auch im Strafrecht ist Bewegung erkennbar. Hier ging und geht es darum, den Veränderungen in der gesellschaftlichen Wertordnung zu folgen. Die nach wie vor erkennbare Kritik konzentriert sich auf die Strafrahmen, die ihre Wurzeln in der Gründerzeit des Kaiserreichs haben. Vor dem Hintergrund von Industrialisierung und sozialer Frage wurden Angriffe auf Eigentum und Vermögen deutlich strenger geahndet als die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit, so dass lange Zeit bei einem Zusammentreffen von Vergewaltigung und Beraubung eines Opfers die höhere Strafe aus dem Eigentumsdelikt verhängt wurde. In einem ersten Anlauf zur Strafrechtsreform suchte die konservative Regierungskoalition mit einem im Juni 1997 in den Bundestag eingebrach ten Gesetzentwurf diesen Missstand zu beseitigen, wobei eine Harmonisierung des Strafrahmens vorgeschlagen wurde. Daran anschließend wird seit 1998 über weitergehende Reformen des Strafrechts debattiert. Eine noch von der Regierung Kohl im Januar 1998 eingesetzte Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems, unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundesjustizministers Edzard Schmidt-Jortzig, legte im März 2000 einen entsprechenden Bericht vor. Darin ging es u. a. um Fragen der Entkriminalisierung von Kleinstdelikten (wie „Schwarzfahren" oder Ladendiebstahl), der Einführung „moderner" Sanktionsinstrumente (wie gemeinnütziger

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Arbeit oder dem elektronisch überwachten Hausarrest) sowie der Bemessung individueller Schuld und der Stärkung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Insbesondere letzteren Punkt griff die rot-grüne Bundesregierung im Rahmen ihrer Überlegungen zur Justizreform auf. So werden durch das 1999 in Kraft getretene Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs die Grundsätze der Wiedergutmachung und der Entschädigung des Opfers einer Straftat stärker gewichtet als bisher und dem staatlichen Sühneanspruch, je nach Schwere der Tat, übergeordnet. In die gleiche Richtung, den Ausgleich zwischen Täter und Opfer, weist auch der im Juni 2002 von der Regierung in den Bundestag eingebrachte Gesetzentwurf zur Reform des Sanktionsrechts, der die Vorschläge der genannten Strafrechtskommission aufgreift und u. a. eine bessere Berücksichtigung der Opferinteressen im Rahmen des Geldstrafensystems anstrebt. Daneben sollen den Gerichten größere Gestaltungsmöglichkeiten bei der Sanktionierung kleinerer und mittlerer Kriminalität eingeräumt werden, wovon sich die Regierungskoalition nicht nur eine Entlastung des Strafvollzugs, sondern auch die Verbesserung der sozialen Wiedereingliederung von Straftätern verspricht. Trotz der eingeleiteten Reformschritte werden mit Blick auf den Strafprozess nach wie vor besondere Mängel beklagt. Für die Analyse des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland ist dies insofern bedeutsam, als über den Strafprozess wesentliche Vorstellungen vom Gerichtswesen in die Öffentlichkeit dringen. In diesem Zusammenhang erscheinen vor allem die Verfahren bei schweren Straftaten fragwürdig. Während bei einem kleinen Diebstahl der Verurteilte ggf. Berufung einlegen kann, findet sich im Fall der Anklage wegen eines schweren Verbrechens lediglich eine Tatsacheninstanz, gegen deren Urteil Revision nur mit der Behauptung eingelegt werden kann, „dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist" (§ 337 StPO). Gegenüber unzureichenden Tatsachenfeststellungen bietet das aber wenig Schutz, wie sich an zahlreichen Justizskandalen belegen lässt. Auch bevorzugt der Strafprozess im Vorverfahren zunächst die Polizei und dann den Staatsanwalt - bei äußerst schwacher Stellung des Verteidigers. Staatsanwälte lassen sich zudem ggf. politisch beeinflussen. Im Hauptverfahren erscheint darüber hinaus die Stellung des Gerichtsvorsitzenden unklar. Während nach angelsächsischem Recht Staats- und Rechtsanwalt das Verfahren gestalten und der Richter nur dessen Regeln gewährleistet, führt der deutsche Vorsitzende Richter den Prozess, muss bereits im Eröffnungsbeschluss „hinreichenden" Verdacht äußern und später maßgeblich das Urteil bestimmen und begründen. Die mit der kleinen Strafprozessreform von 1965 eingetretenen Veränderungen brachten hier zwar Verbesserungen, weil die Rechte des Beschuldigten und seines Verteidigers erweitert und die Möglichkeiten, Untersuchungshaft zu verhängen, eingeschränkt wurden, zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt; grundlegend wirkte sich das allerdings nicht aus. Neuerungen im Strafprozessrecht, die sich im Zuge der deutschen Vereinigung in erster Linie um Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren bemühten, verschärften die Situation weiter (vgl. K. Bernsmann, 1994). Es bleibt nach wie vor das Erbe der obrigkeitsstaatlichen Tradition sichtbar, vor allem in der zu engen Verknüpfung von Staatsanwaltschaft und Gericht. An den Widerständen gegen die Reform des Strafvollzugs, an den Schwierigkeiten der sozialen Wiedereingliederung Vorbestrafter, an der nervösen und vielfach emotional bestimmten Diskussion über die angebliche Zunahme oder gar das Überhandnehmen von Kriminalität wie umgekehrt an der nur zögerlichen Hinwendung der Rechtswissenschaft zur Rechtssoziologie und zur Rechtstatsachenforschung lassen sich unschwer weitere Problemfelder ausmachen, die sich mit obrigkeitsstaatlichen Überlieferungen und noch immer erkennbaren Unsicherheiten gegenüber der Rechtsordnung und ihrer Handhabung verbinden. Das wirkt sich auch auf die Tätigkeit der Richter aus. Immerhin haben es die Justizminister 370

2. Die Rechtsprechung: Justiz als Gewährleistung jetzt zunehmend mit „aufmüpfigen Richtern" zu tun, zumal der benannte Wertewandel auch hier eine größere Rolle spielt und eine erweiterte Unabhängigkeit eingefordert wird. Auch strukturelle Probleme des Justizwesens sind Gegenstand der seit 1999 eingeleiteten Justizreform. Dabei konnte man sich auf die Ergebnisse einer Reihe von Studien stützen, die von 1988 bis 1994 unter dem Titel „Strukturanalyse des Rechts (SAR)" im Auftrag des Bundesjustizministeriums durchgeführt wurden (vgl. S. Leutheusser-Schnarrenberger, 1995) und auf allen Rechtsgebieten eine zunehmende Belastung durch steigenden Geschäftsanfall und längere Verfahren belegten. Hatten Änderungen der Verfahrensordnungen seit 1994 zunächst kaum den gewünschten Erfolg, sucht man seither längerfristig wirksame Entlastungsmöglichkeiten, die entweder bei der Nachfrage nach der knappen Ressource Rechtsschutz oder bei einer Leistungssteigerung im Angebot des Rechtsschutzes ansetzen könnten. Die strukturellen Neuregelungen des Justizwesens, die bislang im Rahmen der Justizreform in Kraft getreten sind, bringen die Hoffnung auf eine Entlastung der Justiz von beiden Seiten her zum Ausdruck, doch muss die Frage gestellt werden, inwieweit sie tatsächlich einen konstruktiven Beitrag zur Erreichung eines der zentralen Ziele der Justizrefom, der Effizienzsteigerung, leisten ( IV Hoffmann-Riem, 2001, S. 229 f.). Da auf Seiten des Angebots eine Kapazitätssteigerung durch eine Aufstockung des Justizpersonals angesichts der Haushaltslage nicht in Erwägung gezogen werden kann, muss verstärkt über eine zeitgemäße Aufbau- und Ablauforganisation des Justizwesens nachgedacht werden (vgl. Materialband, VIII/6). Einen Schritt hin zu einer solchen Modernisierung erhofft man sich von dem am 2002 in Kraft getretenen Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte, mit dem die Präsidialverfassung der Gerichte reformiert wird. Das Gesetz, das die Gerichtsorganisation insgesamt demokratischer gestalten soll, hebt die bisher gültige Bestimmung auf, wonach die Hälfte der Mitglieder eines Präsidiums bei den Land- und Oberlandesgerichten sowie beim Bundesgerichtshof Vorsitzende Richter sein müssen. Dasselbe gilt für die Kollegialgerichte der anderen Gerichtszweige. Außerdem entscheiden über die Geschäftsverteilung innerhalb eines Spruchkörpers künftig nicht mehr nur die Vorsitzenden Richter allein, sondern alle Richter. Wurde diese Neuregelung von Beobachtern begrüßt, wird das Gesetz insgesamt als „halbherzig" kritisiert (Κ. F. Piorreck, 2001). Insbesondere ist es einmal mehr nicht gelungen, den seit 1879 bestehenden Gerichtsaufbau, der wiederholt Gegenstand von (bisher stets gescheiterten) Reformbemühungen war, zu modernisieren und die seit langem geforderte Dreigliedrigkeit einzuführen. Diese hatte in der D D R bereits seit 1952 Bestand und war im Zuge der Vereinigung zugunsten des noch aus der Kaiserzeit stammenden Systems der Bundesrepublik aufgegeben worden. Die Chance, durch eine Strukturreform organisatorische Straffung und mehr Bürgernähe zu erreichen, scheint allerdings nicht nur mit Blick auf den Gerichtsaufbau vergeben, sondern auch durch die Tatsache, dass Richter nach wie vor gemäß § 21 e Abs. 6 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) gegen den Willen des Präsidiums für Aufgaben der Justizverwaltung ganz oder teilweise freigestellt werden können. Dies verstärke die Macht der Justizverwaltung gegenüber den Gerichten, entziehe letzteren notwendige Kapazitäten und ordne die strukturelle Reform des Gerichtswesen letztlich der Verwaltungsmodernisierung und dem dabei geltenden Primat der Kosteneinsparung unter (ebd). In Bezug auf die Ablauforganisation der Justiz hat sich dagegen schon seit 1994 eine positive Entwicklung ergeben. Dies gilt für die Einrichtung von sog. Service-Einheiten, die ausschließlich einem Richter zugeordnet werden und alle im Laufe des Verfahrens anfallenden Geschäftsstellen-Tätigkeiten übernehmen, sowie für die Unterstützung dieser Einheiten durch eine integrierte EDV. Auf der Nachfrageseite erhofft man sich von den ebenfalls 2002 in Kraft getretenen Gesetzen zur Reform des Zivilprozesses und zur Förderung der außergerichtlichen Streit-

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel beilegung Impulse zur Entlastung der Justiz. Auch hier konnte bei der Ausgestaltung der konkreten gesetzlichen Maßnahmen auf die bereits benannten SAR-Studien zurückgegriffen werden, die schon Ende der 1980er Jahre auf Entlastungsmöglichkeiten durch eine Erweiterung der außergerichtlichen Streitbeilegung verwiesen. Das entsprechende Gesetz schafft für die Länder die Möglichkeit zur Einführung eines obligatorischen außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahrens. Sie können danach Regelungen beschließen, aufgrund derer in einem Bundesland für Zivilklagen bis zu einem bestimmten Streitwert dem Prozess ein Schlichtungsverfahren vorgeschaltet werden muss. Als weiterer Baustein der Justizreform wird zudem die Neuordnung des Zivilprozesses gesehen. So soll entsprechend den gesetzlichen Neuregelungen durch eine Ausweitung der gütlichen Streitbeilegung die Eingangsinstanz gestärkt werden. Außerdem wird der Zugang zu den Berufungs- und Revisionsgerichten neu geregelt. Hinter dieser Maßnahme, die einerseits streitwertabhängige Zugangschranken abbauen soll und mit der andererseits die Berufung strikt auf die Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils beschränkt wird, steht die Erwartung, die Entscheidungen der ersten Instanz würden künftig eher akzeptiert und weniger Rechtsmittel dagegen eingelegt. Dazu soll im Übrigen auch die Ausweitung der Aufklärungs- und Vorlagepflichten der Streitparteien beitragen. Noch ist nicht absehbar, wie sich die Reformen konkret auswirken werden. Zahlreiche Beobachter äußern sich skeptisch. So haben nicht nur weite Teile der Richterschaft Reformvorschläge, die Justiz „bürgernäher" zu gestalten (H. Däubler-Gmelin, 2002), als diesem Zweck nicht dienlich abgelehnt. Auch der Deutsche Anwaltverein äußerte sich in einer ersten Stellungnahme zum Gesetzentwurf kritisch. Darin wurden zwar die Änderungen des erstinstanzlichen Verfahrens sowie einzelne Vorschläge zur Neuregelung der Berufungsinstanz begrüßt, die grundlegende Umstrukturierung dieser Instanz und andere Teile der Reform, wie etwa die geplante Zusammenlegung der Berufungs- und der Beschwerdezuständigkeit bei den Oberlandesgerichten, jedoch abgelehnt (Deutscher Anwaltverein, 1999).

2.2. Die Rechtsprechung im Regierungssystem Nach Art. 92 des Grundgesetzes ist die rechtsprechende Gewalt (vgl. K.-A. Bettermann, 1988) den Richtern anvertraut. In Zusammenhang mit Art. 20 GG stellt sich dies als Fundamentalsatz der Verfassung dar, der jeder Verfassungsänderung entzogen sein sollte und den Anspruch des Bürgers begründet, dass eine für ihn verbindliche Rechtsprechung nur durch einen ordnungsgemäß bestellten Richter erfolgt. Damit geht das Grundgesetz in seinem IX. Abschnitt „Die Rechtsprechung" erheblich über die Weimarer Verfassung hinaus und versucht, „die Organisation der gesamten Gerichtsbarkeit in den Grundzügen verfassungsrechtlich zu bestimmen und gleichzeitig in einigen grundrechtsartigen Normen das Verhältnis des einzelnen zur rechtsprechenden Gewalt zu regeln. In der Literatur hieß es mit Bezug auf diese Entwicklung, das Grundgesetz erhebe die Gerichtsverfassung in organisatorischer Hinsicht wie überhaupt den sachlichen Bereich der rechtsprechenden Gewalt in die Verfassungsrechtssphäre und gewähre so zugleich die Einheit und Einheitlichkeit der Rechtspflege" (Η. v. Mangoldt, 1957, S. 491). Im Vordergrund der Bemühungen des Verfassungsgebers steht dabei - der historischen Erfahrung folgend - die Unabhängigkeit der Justiz. Sie wird durch die klare Kompetenzzuweisung des Art. 92 GG und durch die in Art. 97 gewährleistete Unabhängigkeit der Richter begründet (vgl. u.a. D. Simon, 1975; G. Barbey, 1989). Trotz vieler Einwände lässt sich die Unabhängigkeit der deutschen Justiz nicht wirklich bezweifeln. Man hat auch nur selten ernstlich versucht, sie anzutasten. Die Unabhängigkeit richtet sich auf die Justiz als Institution, auf die Rechtspflege als umfassende und auf die

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2. Die Rechtsprechung: Justiz als Gewährleistung Rechtsprechung als jeweils konkrete Aufgabe. Die letztere bedeutet „Gesetzesanwendung zur Entscheidung eines Rechtsstreites, d. h. eines Streites um geltend gemachtes und bestrittenes Recht oder einer Strafsache in einem gesetzlich geregelten Verfahren durch ein am Streit unbeteiligtes und unabhängiges Staatsorgan" (H. v. Mangoldt, 1957, S. 492). In die Unabhängigkeit schließt Art. 92 G G alle Gerichte ein. Niemand kann mehr wie früher die Verwaltungsgerichtsbarkeit als Teil der Verwaltung betrachten. Das Grundgesetz unterstreicht die Position der Rechtsprechung dadurch, dass gleich nach der grundlegenden Kompetenzzuweisung in Art. 93 von den Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts und im Art. 94 von dessen Organisation die Rede ist. Art. 95 sah ursprünglich ein Oberstes Bundesgericht vor; später kam es durch Verfassungsänderung zur Anerkennung des tatsächlichen Zustandes. Man deklarierte Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht usw. als „oberste Gerichtshöfe" und plante zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung nur noch einen Gemeinsamen Senat. 1 Diese Verfassungsänderung war rechtspolitisch sicher sinnvoll; formal bewies sie, wie leicht auch in grundlegenden Fragen vom ursprünglichen Willen des Verfassungsgebers abgewichen werden kann. Das gilt auch für Art. 96, der gemeinsam mit Art. 95 revidiert wurde. Unverändert blieb der grundlegende Art. 97 GG. Ihm zufolge sind Richter nur an das Gesetz gebunden, können nur mit ihrem Einverständnis versetzt und nur bei Einhaltung eines komplizierten Verfahrens des Amtes enthoben werden. Diese Vorschrift findet sich in Art. 98 G G noch ergänzt, der außerdem dem Bund das Recht der Rahmengesetzgebung auch für die Richter zuweist (Art. 98 Abs. 3 mit späterer Einfügung des Hinweises auf Art. 74 a Abs. 4 GG). Den allgemeinen Artikeln folgen dann zwei konkrete Kompetenzzuweisungen. So ermöglicht es Art. 99 G G den Ländern, den obersten Bundesgerichten landesrechtliche Funktionen zu übertragen, während Art. 100 G G die Grundlage für das sog. Normenkontrollverfahren darstellt und es den Gerichten erlaubt, das Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung der Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz anzurufen. Schließlich enthält das Grundgesetz an dieser Stelle noch vier Artikel mit grundrechtsähnlichen Vorschriften: nach Art. 101 sind Ausnahmegerichte unzulässig; nach Artikel 102 ist die Todesstrafe abgeschafft; nach Art. 103 hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör, und niemand kann wegen einer Tat zweimal oder aufgrund eines Strafgesetzes bestraft werden, das erst nach der Tat erlassen wurde (sog. Rückwirkungsverbot). Art. 104 formuliert die Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug. Er legt fest, dass Verhaftungen nur aufgrund eines Gesetzes und einer richterlichen Entscheidung erfolgen und die Polizei eine Festnahme nur befristet durchführen darf, wobei der Festgenommene spätestens am nächsten Tag dem Richter vorzuführen ist. In den Art. 92-104 GG, denen Bestimmungen in den Landesverfassungen entsprechen, kommt zum Ausdruck, dass man die Gewaltenteilung jedenfalls institutionell anstrebt. Die rechtsprechende Gewalt ist allein den Richtern anvertraut. Einige wenige von ihnen, die Bundesverfassungsrichter, rücken dabei zwangsläufig in das durch die Beziehungen der obersten Staatsorgane gegebene Spannungsfeld ein. Das bringt erneut zum Ausdruck, dass die „dritte Gewalt" eigenständig sein soll, aber auch politische Funktionen wahrnimmt. Sie

1 Der Gemeinsame Senat dient der Lösung von Streitigkeiten, wenn diese unterschiedlichen Rechtsgebieten zuzuordnen sind. U m einen Widerspruch zwischen den mit diesen Gebieten jeweils befassten Gerichten auszuschließen, wurden 1968 der Gemeinsame wie der Große Senat gebildet. Die Besetzung wechselt je nach Fall. Zu den Präsidenten der fünf Obersten Gerichtshöfe als ständigen Mitgliedern kommen jeweils der Vorsitzende und ein weiterer Richter der am Streit beteiligten Senate. Der Gemeinsame Senat entscheidet mit der Mehrheit der Stimmen seiner jeweiligen Mitglieder.

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel ergeben sich letztlich daraus, dass der Rechtsstaat eine sich ständig vermehrende richterliche Tätigkeit erforderlich macht. Das Problemfeld, um das es sich hier handelt, lässt sich in Kürze so umreißen: Die überkommene Auffassung vom Rechtsstaat führte in Deutschland zum Gesetzgebungsstaat. Man glaubte im 19. Jahrhundert, mit Hilfe eines einschränkend formulierten Gesetzesbegriffes die Ordnung des Gemeinwesens so ausgestalten zu können, dass die individuelle Freiheit bewahrt bleibt und dennoch die notwendigen, als begrenzt verstandenen gemeinsamen Aufgaben erfüllt werden. Die Verwaltung sollte dabei auf den Gesetzesvollzug beschränkt sein. Die oberste politische Führung klammerte man bei einem solchem Denken aus. Verbunden mit dem allgemeinen sozialen und technischen Wandel veränderte sich dann jedoch der Charakter des Staates. Man hielt zwar daran fest, ihn als Gesetzesstaat zu denken, geriet damit aber in die Zwangslage, entweder dem Gesetzgeber Entscheidungen auch sehr konkreter Art vorzubehalten oder aber trotz der Gesetzesbindung der Verwaltung einen zunehmend größeren Spielraum einzuräumen. Die „Gesetzesflut" und die „Flucht in die Generalklauseln" bezeichnen Auswege aus dieser Zwangslage. Schon 1952 klagte Hans Peters, jedem Verwaltungsfachmann sei bewusst, „dass die Überzahl der Gesetze den Gesetzgeber zur Oberflächlichkeit, den Rechtsanwender zu ständigen Konflikten mit dem gesetzten Recht und den Bürger zu Mißachtung der Gesetze" führe (Lq/brei-Festschrift, S. 33). Der einschlägige Erfahrungshorizont hat sich seither erweitert, die zugrundeliegende Problemstellung ist geblieben. Einen weiteren Ausweg aus jener Zwangslage bietet scheinbar der Justizstaat, also der Versuch, der „ Verrechtlichung" die „Justitialisierung" (vgl. dazu R. Voigt, 1986; A. Görlitz/R. Voigt, 1985) folgen zu lassen. Die Justiz soll - neben dem Parlament - die Verwaltung kontrollieren; über die Justiz wird dem Bürger die Möglichkeit gegeben, das Verwaltungshandeln überprüfen zu lassen. Kontrolle äußert sich aber nicht nur darin, dass im konkreten Fall entschieden wird, die Verwaltung habe das Recht unzutreffend angewandt. Häufig geht das Gericht einen Schritt weiter und legt fest, wie die „richtige" Rechtsanwendung auszusehen hätte. Das wirkt dann wie eine Verwaltungsvorschrift; im Falle des Steuerrechts ist sogar ausdrücklich festgelegt, dass im Bundessteuerblatt veröffentlichte Entscheidungen des Bundesfinanzhofes von der Steuerverwaltung zu berücksichtigen sind. Sieht man von der Länge der Prozessdauer einmal ab, handelt es sich hier um ein besonders schnelles Verfahren der Vorschriftenproduktion - die übrigen Steuervorschriften bedürfen des Gesetzes oder der Abstimmung zwischen Bund und Ländern, die in der zeitaufwendigen Beteiligung des Bundesrates nach Art. 108 G G gipfelt. Auf diese Weise demonstrieren vor allem die Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit den Machtzuwachs der Justiz. Sie kontrolliert Rechtssetzung und -anwendung; ihre Urteile werden von der Verwaltung antizipiert und wirken in vielen Fällen unmittelbar wie Vorschriften (vgl. C. Gusy, 1985). Der Machtzuwachs folgt aus einer politischen Entwicklung, innerhalb derer dem Parlament der unmittelbare Zugriff auf die Verwaltung lange Zeit vorenthalten blieb. Für den Bürger bedeutete es einen gewissen Ausgleich, dass er „sein Recht" vor unabhängigen Gerichten suchen konnte. Praktisch bezog sich das im 19. Jahrhundert auf Akte der Eingriffsverwaltung. Man behielt die Justizkontrolle aber bei, als zunehmend neben die Eingriffe die Leistungen des Staates an den Bürger traten und damit soziale Ansprüche ebenso einklagbar wurden wie Maßnahmen im Leistungsbereich unter richterliche Kontrolle gerieten. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit entscheidet über den Streit beim Zustandekommen wie beim Vollzug von Bebauungsplänen, aber auch über die Zulassung zum städtischen Kindergarten oder über das Zustandekommen einer Schulnote, die für die Versetzung wichtig ist. Den Umfang der richterlichen Zuständigkeit macht etwa ein Blick auf die Geschäftsvertei-

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3. Das Bundesverfassungsgericht als Stabilitätsgarant lung im Bundesverwaltungsgericht deutlich. Die Justiz ist auf diese Weise inzwischen an nahezu allen öffentlichen Großprojekten beteiligt, an Flughafenbauten, an größeren Straßenbauvorhaben, an zahlreichen Projekten des Umweltschutzes. Auf der Basis der „ Wesentlichkeitstheorie" wird gleichzeitig auch die Beteiligung des Parlaments eingefordert, zumindest bei grundlegenden Entscheidungen, die man früher als reine Exekutiventscheidung betrachtete. Spricht man deshalb mit guten Gründen von einem Machtzuwachs der Justiz, ist dies dahingehend zu ergänzen, dass die Justiz zwar mit ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Verwaltung zum Teil an die Stelle des Parlaments getreten ist, diese Kontrollfunktion aber einen neuen Zwiespalt heraufbeschwört und nur zum Teil greift. Der neue Zwiespalt wurde bereits angesprochen: Auch wenn das prinzipielle Handeln staatlicher Organe in die Rechtsordnung einbezogen sein muss, lässt sich doch nicht sinnvoll jeder konkrete Verwaltungsakt einer rechtlichen Prüfung unterziehen. In vielen Urteilen wird man deshalb auf Kriterien zurückgreifen, die aus dem betreffenden Lebensbereich, nicht aus der Rechtsordnung stammen. Diese Kriterien erhalten dann der Verwaltung gegenüber Gewicht - neben die formalen Bestandteile der Rechtsordnung, wie Verfassung, Gesetz oder Rechtsverordnung, treten zunehmend auch Gerichtsurteile, die nicht nur der Interpretation des normierten Rechts dienen, sondern es auch ergänzen. Vereinfacht: Der Machtzuwachs der Justiz erfordert eine Ausdehnung der richterlichen Zuständigkeit, die diese dann wiederum unglaubwürdig machen kann. Umgekehrt muss man sehen, dass die richterliche Kontrolle eben nur einen Teil der relevanten Tätigkeiten erfasst, vor allem dasjenige Verwaltungshandeln, das sich zum Schluss in einem individuellen Verwaltungsakt nach außen äußert und dort einen bestimmten Bürger trifft. Dieser erhält die Aktivlegitimation zur Klage; die Masse der Verwaltungstätigkeit bleibt hingegen von richterlicher Uberprüfung frei. Auf solche Weise vermehrt die Justitiabilität des staatlichen Handelns die Chance, sich individuell gegen den Staat und seine Organe zu wehren, ohne unbedingt in eine Kontrolle der Staatsorgane zu münden, die den Kontrollverlust des Parlaments auszugleichen vermag. Allerdings vollzog sich hier allmählich ein Wandel - sichtbar vor allem im Planungsrecht - , der vom eher individualistischen Ansatz zu einer auch abstrakten Planungen gegenüber wirkenden Rechtsprechung und zur Beteiligung neuer Kategorien von Betroffenen führt (vgl. u.a. W. Brohm, 1982, S. Iff.; H. Hill, 1989; R. Pitschas, 1990). Im Übrigen trägt auch im Bereich der Rechtsprechung die „Harmonisierung" der europäischen Rechtsordnungen zu einer allmählichen Veränderung im Verhältnis zwischen Justiz und Verwaltung bei. So rücken, vor dem Hintergrund der verstärkten Verfahrensorientierung beim Erlass von Verwaltungsvorschriften und der Bewertung ihrer Anwendung im Verwaltungsprozess, Fragen der korrekten Verfahrensanwendung in den Vordergrund gegenüber Fragen der detailgenauen Beachtung materiell-rechtlicher Vorgaben ( W. Hoffmann-Riem, 2001, S. 104ff.)

3. Das Bundesverfassungsgericht als Stabilitätsgarant „Die verfassungsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichtes ist eine andere als die der oberen Bundesgerichte. Es ist als Gericht zugleich ein oberstes Verfassungsorgan" (BVerfGE 7, 1 (14)). Diesen Status, den sich das Gericht in der Denkschrift vom 27. Juni 1952, dem sog. Status-Bericht, zuschrieb, wird damit begründet, dass allein die Verfassungsgerichtsbarkeit es mit einer besonderen Art von Rechtsstreitigkeiten, den „politischen" Rechtsstreitigkeiten, zu tun hat. Unter politischen Rechtsstreitigkeiten werden dabei solche

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Streitigkeiten verstanden, bei denen über politisches Recht gestritten und das Politische selbst anhand der bestehenden Normen zum Gegenstand der richterlichen Beurteilung gemacht wird. Dies verdeutlicht das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, das es in einem kurzen historischen Rückblick, dann unter Berücksichtigung aktuellerer innerstaatlicher Entwicklungstendenzen und schließlich mit Blick auf die künftige Rolle des Gerichts vor dem Hintergrund der europäischen Integration zu erläutern gilt. 3.1. Entstehung und Auftrag Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation über die konstitutionelle Monarchie und die Weimarer Republik bis hin zur Bundesrepublik Deutschland ist durch unterschiedliche Formen gerichtsförmiger Verfahren zur Durchsetzung von Rechten gegen politische Herrschaft geprägt (vgl. G. Roellecke, 1987; K. Schlaich/S. Korioth, 20015; P. Badura, 2001). Während das alte Reich als drei Säulen der Verfassungsgerichtsbarkeit personengebundene politische Rechte, gerichtsförmige Entscheidungen bei Streitigkeiten zwischen Trägern politischer Mandate und die Unterscheidung zwischen einfachem Recht und Reichsgrundgesetzen entwickelte, suchte die Paulskirchenverfassung von 1849 der Gerichtsbarkeit des Reiches nur solche Streitigkeiten zuzuweisen, die sich aus der Reichsverfassung ergaben. Sie betrachtete das Reich dabei einerseits als einen Bund selbständiger Staaten mit eigener Gerichtsbarkeit, andererseits als einen Staat mit eigenen Angehörigen, denen Grundrechte gegen das Reich zustanden. Entsprechend erklärte sie das Reichsgericht für zuständig, sowohl über Streitigkeiten auf der politischen Ebene des Reiches als auch über Grundrechtsklagen deutscher Staatsbürger zu entscheiden. Der Zuständigkeitskatalog des Reichsgerichtes ähnelte dabei dem des Bundesverfassungsgerichtes, mit der allerdings wichtigen Ausnahme, dass die Paulskirchenverfassung keine Normenkontrolle kannte. Die Zuständigkeiten, welche die Weimarer Verfassung dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich zuwies, waren dann um die Grundrechtsklage (Verfassungsbeschwerde) verkürzt. Für die moderne Verfassungsgerichtsbarkeit lassen sich unterschiedliche Formen denken. Es kann höchst wirksam sein, wenn man, wie etwa in den USA, den Gerichten nur einräumt, ein als verfassungswidrig betrachtetes Gesetz nicht anwenden zu müssen. Das setzt aber eine einheitliche Gerichtsbarkeit voraus. Da es sie in Deutschland nicht gab, musste man hier eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit institutionalisieren. Sie dient „der rechtsstaatlichen Kontrolle der Handhabung der Staatsgewalt gegen Außenstehende" (R. Thoma, zit. nach H. v. Mangoldt, 1957, S. 504). 1871 sah man eine solche Notwendigkeit noch nicht. Sie wäre mit dem implizierten monarchischen Prinzip auch schwer zu vereinbaren gewesen. Die Weimarer Reichsverfassung ordnete in Art. 108 ein 1921 erlassenes Gesetz an, demzufolge der Staatsgerichtshof „beim Reichsgericht" bestand und überwiegend für Anklagen zuständig sein sollte, die durch den Reichstag gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler oder einen Reichsminister erhoben würden. Die Richter sollten jeweils gewählt werden. Der Staatsgerichtshof in dieser Form erlangte aber wenig Bedeutung (s. auch H. Wendenburg, 1984). Nach 1945 bestand auch deshalb - Konsens darüber, dass man die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Verfassung verankern und vor Eingriffen durch einfache Gesetze bewahren müsse. In diesem Sinne bauten zunächst die Landesverfassungsgeber unter verschiedenen Bezeichnungen Staatsgerichtshöfe in die Verfassungen ein, übertrugen ihnen die Kontrolle der „inneren Staatswillensbildung" und regelten grundsätzlich die Zusammensetzung der Gerichte. Der Zuständigkeitskatalog kann dabei in der Regel noch erweitert werden. Entscheidungen über 376

3. Das Bundesverfassungsgericht als Stabilitätsgarant Verfassungsstreitigkeiten genießen der Sache nach Gesetzesrang, was in einigen Verfassungen ausdrücklich erwähnt wird. Der den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates vorausgehende Herrenchiemseer Entwurf für das Grundgesetz widmete dem Bundesverfassungsgericht einen eigenen Abschnitt und führte ihn mit dem Passus ein: „Das Bundesverfassungsgericht ist das Oberste Bundesgericht oder eines der obersten Bundesgerichte. Es ist zuständig für Fragen des Bundesstaatsrechts." Dazu wurde erläutert, das Gericht müsse über eine klare und im Vergleich zur Weimarer Zeit erweiterte Zuständigkeit verfügen, während man nicht entschied, ob es selbständig sein müsse oder von Fall zu Fall gebildet werden könne. Auch im Parlamentarischen Rat wurde diese Frage erst nach längeren Diskussionen beantwortet, wobei argumentiert wurde, man wolle die Autorität des Obersten Bundesgerichtes, das man dann später verwarf, nicht mit ins Politische hineinreichenden Entscheidungen belasten. Die hier erkennbare Unsicherheit führte dann wohl auch dazu, dass man die Regelung entscheidender Fragen dem Bundesgesetzgeber überließ (vgl. H. Simon, 1983, S. 1261ff.). Das Bundesverfassungsgericht (vgl. K. Schlaich/S. Korioth, 2001 5 ; J. Limbach, 2001) ist als unabhängiger Gerichtshof des Bundes (§ 1 BVerfGG) Teil der rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 GG). Dabei wird das Gericht im Grundgesetz als erstes der die rechtsprechende Gewalt ausübenden Gerichte benannt. Art. 93 und 100 G G bestimmen die Hauptkompetenzen des Gerichtes und verweisen auf Bundesgesetze, die weitere Kompetenzen begründen können. Primär sind vier Kompetenzbereiche aufgeführt. Im Bereich der Organstreitigkeiten hat das Gericht über die Grundgesetzauslegung zu urteilen, wenn „Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind", strittig werden. Durch den letzten Halbsatz wird der Kreis der Antragsberechtigten sehr groß, wenngleich es sich hier immer um Organe, etwa um eine Fraktion, einen Ausschuss oder den Parlamentspräsidenten handeln muss. Im Bereich der abstrakten Normenkontrolle entscheidet das Gericht auf Antrag, ob Landes- oder Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht vereinbar ist. Als Antragsteller sind die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages genannt. Nachprüfbar ist jede Norm, nicht nur ein Gesetz, die beschlossen und insofern rechtsförmig ist. Hinzuzudenken ist in diesem Zusammenhang das bereits erwähnte Normenkontrollverfahren des Art. 100 GG, wonach ein Gericht ein Gesetz, „auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt" und an dessen Verfassungsmäßigkeit es zweifelt, dem Bundesverfassungsgericht vorlegen muss (konkrete Normenkontrolle). Hierunter fallen nur förmliche Gesetze, die nach Beschluss des Grundgesetzes verabschiedet wurden. Die vor 1949 gültigen Gesetze muss jedes Gericht selbst auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüfen, ebenso wie jedes Gericht in der Regel die Vereinbarkeit von Rechtsverordnungen mit den Gesetzen prüfen kann. Den dritten Entscheidungsbereich des Bundesverfassungsgerichtes bilden die Meinungsverschiedenheiten über die Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder. Dieser Bereich wird etwas pauschal ergänzt durch andere „öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist". Schließlich wird in Art. 93 auf Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichtes hingewiesen, die durch andere Grundgesetzartikel (etwa Art. 18, 21, 41, 61, 84, 98, 99, 100, 126) und durch Gesetze begründet sind. Zu nennen ist hier vor allem die Verfassungsbeschwerde. Sie macht mit Blick auf die Verfahrenszahlen den bei weitem bedeutendsten Teil der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus (vgl. Materialband, VIII/8). Eine Verfassungsbeschwerde kann nach Art. 93 Abs. 1 S. 4 a G G „von jedermann mit der

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Behauptung erhoben werden [...], durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein". Zwar wird dieses sog. „Jedermannsrecht" in extenso von den Bürgern in Anspruch genommen, doch ist das erfolgreiche Anstrengen einer Verfassungsbeschwerde voraussetzungsvoll. So bedarf die Beschwerde der Annahme zur Entscheidung - sie ist dann anzunehmen, wenn ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt - und ist in der Regel erst zulässig, wenn der Beschwerdeführer die sonst zuständigen Gerichte erfolglos angerufen hat. Von der „Höhe" dieser scheinbar einfach zu überwindenden Hürden zeugt die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der zwischen 1951 und 2001 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Verfassungsbeschwerden (insgesamt 136.622) nicht zur Entscheidung angenommen wurden und lediglich 2,5 Prozent davon letztlich erfolgreich waren. Die Verfassungsbeschwerde steht nicht nur dem einfachen Bürger zu, sondern auch den Gemeinden und Gemeindeverbänden, sofern sie ihr Recht auf Selbstverwaltung nach Art. 28 G G verletzt sehen und eine entsprechende Beschwerde nicht bei dem jeweils zuständigen Landesverfassungsgericht geführt werden kann. Diese Bestimmung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Gemeinden formal Teil der Länder sind, jedoch in ihrem Selbstverwaltungsrecht durch die Gesetzgebung des Bundes berührt werden können. Zu Organisation und Verfahren des Gerichtes äußert sich das Grundgesetz kaum. Art. 94 begnügt sich mit dem Hinweis, dass die Richter am Bundesverfassungsgericht je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt werden; ein Teil sollte sich aus Bundesrichtern rekrutieren. Im Übrigen wird in Art. 94 Abs. 2 G G auf ein Bundesgesetz verwiesen. Als der Artikel um die Verfassungsbeschwerde ergänzt wurde, fügte man in Abs. 2 einen Passus ein, nach dem bei Verfassungsbeschwerden im Gesetz die Erschöpfung des Rechtsweges zur Voraussetzung gemacht und ein besonderes Annahmeverfahren eingeführt werden dürfe. Das entsprach der Erfahrung mit zahllosen Verfassungsbeschwerden. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz kam 1951 zustande, wurde dann mehrmals geändert und gilt derzeit in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.8.1993 (vgl. Materialband, VIII/7). Dem Gesetz zufolge besteht das Gericht aus zwei Senaten mit je acht Richtern, von denen je drei wenigstens drei Jahre an einem anderen obersten Gerichtshof des Bundes tätig gewesen sein müssen. Die Richter am Bundesverfassungsgericht werden dabei für jeweils zwölf Jahre gewählt; Wiederwahl ist unzulässig. Alle Nebentätigkeiten sind mit der Ausnahme einer Rechtslehrertätigkeit an Hochschulen verboten. Die erforderliche Wahl muss im Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit erfolgen. Im Bundestag findet eine indirekte Wahl statt; zwölf im Höchstzahlverfahren gewählte Bundestagsabgeordnete bilden einen Wahlmännerausschuss\ innerhalb des Ausschusses sind acht Stimmen für eine Wahl erforderlich. In beiden Wahlgremien muss man sich mithin arrangieren. Gelingt dies nicht, sieht § 7a des Gesetzes ein Vorschlagsrecht des Bundesverfassungsgerichtes vor. Im Übrigen gibt es keine Vorschläge; das Bundesjustizministerium führt aber zwei Listen, die die Namen aller wählbaren Bundesrichter und anderer Personen enthalten, die von einer Fraktion oder von der Regierung benannt sind. Den Präsidenten des Gerichtes und seinen Stellvertreter wählen Bundestag und Bundesrat im Wechsel. Darüber hinaus regelt das Gesetz, in Ausführung der vom Grundgesetz geschaffenen Kompetenzen, in § 13 die Zuständigkeit des Gerichtes und in § 14 die Aufgabenverteilung zwischen den beiden Senaten, die gemeinhin als „Grundrechtssenat" (Erster Senat) und als „Staatsrechtssenat" (Zweiter Senat) bezeichnet werden. Dabei ergaben sich wiederholt Anderungsnotwendigkeiten, weil man den Arbeitsanfall zunächst falsch einschätzte. § 15 regelt den Vorsitz in den Senaten und die Beschlussfähigkeit sowie besondere Mehrheitsanforderungen. Teil II des Gesetzes enthält die allgemeinen, Teil III die besonderen Verfah378

3. Das Bundesverfassungsgericht als Stabilitätsgarant rensvorschriften. Abgesehen von einem Hinweis auf das Gerichtsverfassungsgesetz in § 17 geht man offenkundig von der Notwendigkeit aus, das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eigens zu regeln, was - so in Teil III - unterschiedliche Regelungen für einzelne Rechtsmaterien ermöglicht. Das gilt vor allem für die bereits angesprochene Verfassungsbeschwerde. Gemäß § 90 kann jedermann „mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, Art. 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen Rechte verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erheben", sofern - so Absatz 2 - der vorgesehene Rechtsweg erschöpft ist oder das Gericht eine begründete Ausnahme macht. Wegen des enormen Anfalls an Verfassungsbeschwerden schaltet dann § 93b des Gesetzes einen aus drei Mitgliedern zusammengesetzten Richterausschuss zur Vorprüfung ein. Diese sog. „Kammer" entscheidet einstimmig über Annahme bzw. Ablehnung einer Verfassungsbeschwerde (§ 93d BVerfGG). Dies Verfahren wird allerdings kritisch gesehen; dies gilt vor allem für fehlende Begründungen.

3.2. Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik „Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger unabhängiger Gerichtshof des Bundes" (§ 1 BVerfGG). Selbständigkeit bedeutet dabei nicht materielle Unabhängigkeit. Das Bundesverfassungsgericht, zunächst bei Bundesregierung und Bundestagsmehrheit alles andere als beliebt, musste lange Zeit unter äußerst ungünstigen Bedingungen arbeiten. Erst nach geraumer Zeit konnte es einen angemessenen Neubau beziehen, seine hervorragende Bibliothek erschließen und die Zahl der zugeteilten juristisch vorgebildeten Hilfskräfte erhöhen. Die Unbeliebtheit erklärte sich daraus, dass man kurz nach Arbeitsaufnahme des Gerichtes von roten und schwarzen Senaten sprach und versuchte, aus der bisherigen Tätigkeit der Richter und aus der Herkunft der Personalvorschläge Schlüsse zu ziehen. Bald aber „normalisierten" sich die Wahrnehmungen. So sehen sich Regierung und Mehrheit durch das Gericht in ihrer Machtausübung gehindert, während sich der Opposition mit der Möglichkeit, das Gericht anzurufen, eine zusätzliche Chance eröffnet. Verliert die Opposition einen Prozess, bedeutet das nur eine Bestätigung der parlamentarischen Niederlage. Verliert dagegen die Mehrheit, handelt es sich um eine nachträgliche Umwandlung des parlamentarischen Erfolges. Angesichts solcher Interpretationsmuster ist die überparteiliche Autorität des Gerichtes von Bedeutung. Dazu bedarf es richterlicher Zurückhaltung (judicial self-restraint). Diesem Gebot will sich das Bundesverfassungsgericht auch immer wieder selbst beugen, verletzt es aber möglicherweise schon dadurch, dass es § 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, demzufolge Entscheidungen des Gerichtes in bestimmten Fällen Gesetzeskraft haben, unnötigerweise auch auf die Entscheidungsgründe ausdehnt. Auch die Gewohnheit, oft weitschweifig auf frühere Entscheidungen zurückzugreifen und diesen dadurch neue Geltung zu geben, lässt wenig von jener Zurückhaltung spüren. Umgekehrt fallt der Nachweis nicht schwer, dass das Bundesverfassungsgericht seine Beurteilungskriterien überprüft und verändert (Judicial activism) (vgl. zunächst W. Billing, 1975, S. 157, dann u.a. C. Landfried, 1984; G. Roellecke, 1987; J. Limbach, 2001; R. Sturm/H. Pehle, 2001, S. 101). Seine Autorität schafft sich das Gericht durch solide und im Zweifel zurückhaltende Urteile und Urteilsbegründungen. Ob es dazu personell fähig ist, bestimmen die Politiker, die die Richter ins Amt bringen. Dass es dabei nicht ohne politisches Kalkül zugeht, versteht sich von selbst und unterliegt kritischer Aufmerksamkeit. Dennoch gelang es immer wieder, das Gericht hervorragend zu besetzen und ihm Präsidenten zu geben, die seine Autorität zu wahren und zu mehren verstanden. Rein quantitativ hat das Bundesver379

VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel fassungsgericht seit seinem Bestehen bis Ende 2002 mehr als 139.000 Verfahren entschieden, wobei nach den Verfassungsbeschwerden (knapp 136.000) konkrete Normenkontrollen (3.358) und Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern (1.980) dominierten (vgl. Materialband, VIII/8). Angesichts dieser Zahlen kann nicht verwundern, dass derzeit einmal mehr die Entlastung des Bundesverfassungsgerichts gefordert wird. Nach entsprechenden Novellen bereits in den Jahren 1956, 1963, 1970 und 1993 sowie einer internen Umorganisation bei der Bildung der „Kammern" im Jahre 2000 gilt es nach wie vor, Konsequenzen aus jener Überlastung des Gerichtes zu ziehen, die von Böckenförde schon vor längerer Zeit als „drohender Kollaps" bezeichnet wurde. Dabei stand und steht vor allem die Verfassungsbeschwerde im Vordergrund, da nach der letzten verfügbaren Statistik von etwa 4.700 neuen Verfahren knapp 4.500 Verfassungsbeschwerden waren (Zahlen für 2002; Angaben: Bundesverfassungsgericht). Hatte man sich bei den meisten Entlastungsversuchen seit Gründung des Gerichts auf die Annahmeverfahren konzentriert („Dreier-Ausschuss", „Kammern" u. ä.) jüngstes Beispiel ist hier die benannte Umstrukturierung, durch die seit Beginn des Jahres 2000 im Zweiten Senat nicht mehr, wie im Ersten Senat, drei, sondern nunmehr vier Kammern aus je drei Richtern zur Vorauswahl der anzunehmenden Verfahren gebildet werden - , so versuchte man nach der bisher letzten Neufassung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes 1993 in der Reform weiterzugehen. Zu diesem Zweck setzte das Bundesjustizministerium 1996 eine Sachverständigenkommission („Entlastungskommission") ein, der neben zwei amtierenden Richtern des Verfassungsgerichts auch Beamte des Bundes und der Länder angehörten. Im Mittelpunkt des Reformauftrags der Kommission stand das Ziel, die „Flut" der an das Gericht herangetragenen Verfassungsbeschwerden zu reduzieren. Unter den Anregungen, die in diesem Zusammenhang diskutiert wurden und von der rechtlich und politisch nicht realistischen Abschaffung der Verfassungsbeschwerde bis hin zum erweiterten Einbezug der obersten Fachgerichte der Länder sowie des jeweiligen obersten Bundesgerichtes reichten, wurde insbesondere der von Juristen immer wieder eingebrachte Vorschlag einer zum amerikanischen Supreme Court analogen Regelung diskutiert. Danach sollte über die Annahme von Verfassungsbeschwerden künftig durch die Senate selbst und nicht durch die Kammern entschieden werden, wobei konkret geplant war, die jeweilige Verfassungsbeschwerde einem Richter aus einem der beiden Senate zur Vorprüfung zuzuleiten und daran anschließend den gesamten Senat über Annahme oder Ablehnung der Beschwerde entscheiden zu lassen. Durch dieses Verfahren glaubte man eine Kapazitätsentlastung des Gerichts dadurch zu erreichen, dass das aufwendigere Kammerverfahren umgangen wird. Obwohl die Entlastungskommission diese sog. freie Annahme in ihrem im Januar 1998 vorgelegten Abschlussbericht ausdrücklich empfahl (E. Benda, 1998, S. 9 f.) und das Bundesverfassungsgericht das Verfahren im Sommer 1998 zwei Monate lang erfolgreich testete, wurde der Reformvorschlag bislang nicht in die Tat umgesetzt. Bedenken lassen sich vordringlich aus der Tatsache begründen, dass mit Einführung des freien Annahmeverfahrens der Verlust des Rechtsanspruchs auf Prüfung der Verfassungsbeschwerde verbunden wäre. Die Beschwerdeführer unterlägen damit mehr oder weniger einem „Willkür-Verdikt" der Senate. Zwei weitere Reformvorschläge, die von der Kommission geprüft, jedoch letztendlich verworfen wurden, verbinden sich mit der Anregung, die Länderverfassungsgerichte und die Fachgerichte stärker in die Erledigung von Verfassungsbeschwerden „einzuspannen" bzw. einen „ Verfassungsanwalt" einzurichten, der nach dem Muster des Europäischen Gerichtshofs ein beim Verfassungsgericht anzusiedelndes neues Organ wäre und die Aufgabe hätte, gemeinsam mit einem Verfassungsrichter über die Annahme von Verfassungsbeschwerden zu entscheiden. Ersterer Vorschlag wurde mit der Begründung abgelehnt, eine Einbeziehung

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3. Das Bundesverfassungsgericht als Stabilitätsgarant der Ländergerichte könne die Einheitlichkeit der Verfassungsrechtsprechung gefährden; zudem sei es zweifelhaft, ob die aus nebenamtlichen Richtern bestehenden Landesverfassungsgerichte über genügend Arbeitskapazität verfügten, um tatsächlich eine Entlastung des Bundesverfassungsgerichts herbeiführen zu können. Letzterer Vorschlag wurde verworfen, weil die Entlastungskommission befürchtete, dass die Einrichtung eines neuen Organs letztlich nicht dazu beitragen könne, die Menge der Verfassungsbeschwerden zu reduzieren, sondern sie im Gegenteil eher erhöhen würde {ebd., S. 15ff.). Insgesamt verweist die Diskussion, verbunden mit der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht bisher in seiner Arbeit und Organisation nicht grundsätzlich umstrukturiert wurde, auf den begrenzten Raum für Reformen bei diesem obersten Bundesorgan. Im Übrigen bewirkt die umfangreiche Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts eine erweiterte Bestandsgarantie, die insofern nicht unwichtig ist, als immer wieder Gruppen versuchen, entweder ihren Einfluss auf das Gericht zu mehren oder aber den Einfluss des Gerichtes zu vermindern. Die daraus zumindest potentiell resultierenden Gefährdungen verweisen auf ein grundsätzliches Problem der Verfassungsrechtsprechung. In Kürze: Die deutschen Verfassungsgerichte sollen die Verfassung schützen. Sie sollen „durch Richterspruch mit letzter Verbindlichkeit einerseits die Verfassungsordnung auslegen, entfalten und bewahren, andererseits die Existenzgrundlagen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verteidigen. Ihr Material ist das Verfassungsrecht und damit politisches Recht. Im Verfassungsrecht wird das Politische selbst unmittelbar normiert: Es wird die staatliche Macht unter den obersten Trägern verteilt und begrenzt und die Grundentscheidung darüber getroffen, nach welchen letztmaßgeblichen Wertgesichtspunkten und Ordnungsprinzipien sich das Gemeinschaftsleben gestalten sollte" (J. Wintrich - als Präsident des Gerichtes - 1956, S. 200 f.). Dem Hüter der Verfassung stellte man die Aufgabe, verfassungswidrige Parteien zu verbieten, Bundeskanzler daran zu hindern, eine regierungseigene Fernsehanstalt einzurichten, Konkordatsstreitigkeiten zu schlichten, Gruppenrepräsentationen in Hochschulen zu prüfen, eine Neufassung des § 218 StGB zu diskutieren oder auch Grundverträge auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hin zu überprüfen. Später ging es dann um die Mitbestimmung, die Kriegsdienstverweigerung, die Gültigkeit des Radikalenerlasses, aber auch um die Pflichten der Bundesregierung nach der Entführung von Hanns-Martin Schleyer. Heute sind es Fragen des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern, der Parteienfinanzierung, der Familienbesteuerung, der Rechtschreibreform, wiederum des Parteienverbots, des Verbots von „Schockwerbung" oder das Tragen eines Kopftuchs durch eine muslimische Lehrerin im Schulunterricht, die das Verfassungsgericht beschäftigen. Dass mit solchen Entscheidungen nicht nur Grenzen gezogen werden, die die politischen Organe bei ihren Entscheidungen zu beachten haben, sondern dass es auch gelegentlich um unmittelbare Gestaltung, um Macht also geht, ist offensichtlich. Angesichts dieser Macht erweist sich die Frage danach, ob das Gericht im Bereich der Rechtsauslegung oder in dem politischer Gestaltung tätig sei, fast als Scheinfrage. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts äußerte Hegel die Befürchtung, dass die Rechtspflege aus ihrer Natur tritt, „wenn Staatsgewalt ihr Gegenstand werden soll, weil hiermit sie, die wesentlich nur ein Teil des Staates ist, über das Ganze gesetzt würde". Otwin Massing berief sich darauf mit seiner Frage, ob das Recht in der Verfassungsrechtsprechung nicht zum Korrelat der Macht würde, ob es sich nicht doch „um die Artikulation eines im Rahmen des Grundgesetzes zwar operierenden, in der Konsequenz aber möglicherweise darüber hinausdrängenden, dezidierten politischen Gestaltungswillens, der sich justizförmiger Verfahren nur als Vorwand bedient", handele (1967, S. 211). Auch das Gericht selbst stellt die Frage immer wieder, beantwortet sie aber - erinnert sei nur an G. Leibholz und J. Wintrich einerseits

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VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel sowie E. Benda und R. Herzog andererseits - eindeutig: Man will lediglich Recht sprechen (so G. Leibholz 19673). Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen Streitigkeiten, die nach dem Recht entschieden werden, und solchen, in denen es um das Recht selbst geht, nie präzise zu vollziehen und wurde zu allen Zeiten das Recht auch durch die Richter fortentwickelt, ohne dass man deshalb in der Demokratie ein Ausschalten des Souveräns befürchten musste. Deshalb hat es wenig Sinn, die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts an einer Dichotomie von Recht und Politik zu orientieren. Weder handelt es sich bei diesem Gericht um eine Körperschaft, „die Recht und nur Recht sprechen" kann (G. Leibholz) - zu politischen Überlegungen ist sie vielmehr geradezu angehalten - , noch geht es nur um politische Entscheidungen im Gewände der Rechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht ist nach den Worten A. Grossers auch deshalb „die originellste und interessanteste Instanz" in der Bundesrepublik Deutschland (1960, S. 115; ähnlich die Einschätzungen bei angelsächsischen Beobachtern, so D. Kommers, 1976; N. Johnson, 1982; vgl. außerdem K. SchlaichlS. Korioth, 20015), weil man das Gericht bewusst stärker in einer sicher nie präzise zu bestimmenden Mitte zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung ansiedelte und ihm damit auch abverlangte, die Konsequenzen des eigenen Eingriffs in die Rechtsordnung vorauszudenken, zumal es zu einer „verfassungsjuristische(n) Überlagerung des politischen Prozesses" (/. Ebsen, 1985, S. 11) kommt. Sie kann zu Einwirkungen auf Entscheidungen des Gesetzgebers führen, die von einem möglichen oder erwartbaren verfassungsgerichtlichen Prozess ausgehen - C. Landfried untersuchte das am Beispiel des Mitbestimmungsgesetzes, des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung und des Problems der Extremisten im öffentlichen Dienst (1984). Im Übrigen lässt sich an vielen Beispielen verdeutlichen, dass das Gericht judiziert, dabei aber „politisch" gedacht hat: etwa im Konkordatsprozess, in dem man der Bundesregierung die Peinlichkeit ersparte, das Reichskonkordat von 1933 für ungültig zu erklären, dennoch aber aufgrund der veränderten Verfassungslage das Land Niedersachsen gegenüber dem Konkordat freistellte; im Prozess um die Wahlkreiseinteilung, in dem man darauf verzichtete, eine Bundestagswahl rückwirkend für verfassungswidrig zu erklären, aber den Gesetzgeber zwang, für die nächste Wahl die Wahlkreiseinteilung, die die Mehrheit begünstigte, zu ändern; im damals kaum verständlichen Verbot der Parteienfinanzierung, bei dem das Gericht selbst die Hintertür der Wahlkampffinanzierung öffnete; oder schließlich gleich zu Beginn der Arbeiten des Bundesverfassungsgerichtes im „Kampf um den Wehrbeitrag" (so der Titel einer von F. A. v. d. Heydte herausgegebenen Dokumentation), als man durch den Beschluss, ein Gutachten für den Bundespräsidenten binde beide Senate, die Bundesregierung daran hinderte, ihre Vorlagen so abzufassen, dass sie zum wehrfreudigeren Senat gelangten. Politische Entscheidungen können dabei immer auch parteinehmende Entscheidungen sein. So überwog in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre der Eindruck, die Mehrheit der Richter nehme gegen die sozial-liberale Koalition Stellung. Hier meinten Beobachter, das bis in die Sprache hinein verfolgen zu können. „Das Gericht ist an dem Verdacht nicht unschuldig, es sei seit dem Regierungsantritt der sozial-liberalen Koalition wesentlich oppositionsfreundlicher geworden als je während der zwei Regierungsjahrzehnte von CDUKanzlern. Zwar rechtfertigt sich der Verdacht nicht allein aus der vergleichsweise großen Zahl der gegen die sozial-liberalen Regierungen ergangenen Entscheidungen; auch lassen sich diese Entscheidungen nicht alle für falsch oder doch schlecht begründet erklären. Sie sind jedoch insgesamt durch eine eifernde, bisweilen gegenüber dem Unterlegenen beinahe feindselig wirkende Argumentation gekennzeichnet. Zu Zeiten Adenauers, der dem Gericht wiederholt seine Missachtung, ja Verachtung bekundet hatte, war der Karlsruher Umgangston mit den Bonner Verfassungsorganen zurückhaltender" {DIE ZEIT vom 24.2.1978).

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3. Das Bundesverfassungsgericht als Stabilitätsgarant Haben zwischenzeitlich eine Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu einer erweiterten Diskussion um dessen Rolle und Funktion geführt, so ist der Vorwurf, das Gericht verstoße mit seinen Entscheidungen gegen das Rechtsgefühl der Mehrheit der Bürger, der vor allem im Zusammenhang mit den 1995 ergangenen „Kruzifix-" und „Soldaten sind Mörder "-Urteilen geäußert wurde (FAZ vom 8.11.1995), inzwischen deutlich relativiert. Im Mittelpunkt der benannten Urteile standen einerseits die Frage der Bekenntnis- und andererseits der Meinungsfreiheit. So gaben die Verfassungsrichter des Ersten Senats mit ihrer Entscheidung vom 16. Mai 1995 einem Kläger Recht, der das Anbringen von Kreuzen in den Unterrichtsräumen staatlicher Schulen als Verstoß gegen die in Art. 4 Abs. 1 GG festgelegte Religionsfreiheit wertete. Und in der sogenannten „Soldaten sind Mörder-Verhandlung, die vom gleichen Senat im November 1995 geführt wurde, gaben die Richter der Verfassungsbeschwerde eines wegen Beleidigung Verurteilten statt. Sie hoben die Verurteilung, die aufgrund der Tatsache ergangen war, dass der Mann an seinem Privatwagen einen Aufkleber mitgeführt hatte, auf dem das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder" abgedruckt war, mit der Begründung auf, es liege keine im Sinne von Diffamierung strafbare „Schmähkritik" vor, da der Verurteilte nicht eine bestimmte Person kritisiert, sondern mit dem Aufkleber Kritik in der Sache geübt, also lediglich seine Meinung geäußert habe. Unstrittig erscheint heute, dass das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebung behindern und zugleich anregen kann. Niemand wird leugnen, dass das Letztere vor allem für die Rechtsprechung in Grundrechtsfragen gilt, mit der das Gericht mehr als der Gesetzgeber die Konsequenzen aus Art. 1 Abs. 3 G G zog. Niemand wird auch behaupten, dass sich alle gesetzesaufhebenden Beschlüsse des Gerichtes stringent aus dem Grundgesetz ableiten lassen; es bleibt ein Interpretationsspielraum und damit die Möglichkeit begründeter wie unbegründeter Urteilsschelte - vermehrt noch durch die erst später eingeführte Regelung, dass die Minderheit des urteilenden Senats dem Urteil abweichende Voten beifügen kann. Es erscheint aber auch sicher, dass sich das Gericht dem juristischen wie dem praktischen Diskurs nicht entzieht, dabei eine „Tendenz zur Bevorzugung mittlerer Linien" entwickelt, zum Konsens beiträgt und die Verfassung „offen" hält. 3.3. Das Bundesverfassungsgericht im Prozess der europäischen Integration Der Vorwurf mangelnden politischen Verständnisses und eines unangemessenen Eingriffs des Bundesverfassungsgerichts in den politischen Prozess wurde auch im Kontext der Rechtsprechung zur europäischen Integration, insbesondere im Zusammenhang mit dem „Maastricht"-Urteil von 1993, formuliert (C. Tomuschat, 1993). In der Tat stellt sich der Integrationsprozess und, soweit es um dessen höchstrichterliche Begleitung und Überprüfung geht, die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) seit geraumer Zeit als eine Herausforderung für das Bundesverfassungsgericht und dessen Rolle als Hüter der Verfassung dar. Im Mittelpunkt der Debatte stand und steht die Frage der Sicherung eines wirksamen Grundrechtsschutzes. Die konkrete Möglichkeit einer Kollision europäischer mit den in den nationalstaatlichen (Grund)Rechtsordnungen festgelegten Normen wurde den „nationalen Grundrechtshütern" erstmals 1963 bewusst. Damals entschied der Europäische Gerichtshof, dass das Gemeinschaftsrecht nicht nur an die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften adressiert sei, sondern sich daraus unmittelbare Rechte und Pflichten für den in der Gemeinschaft lebenden Einzelnen ergäben. Ist dieser Grundsatz des sog. „direct effect" heute weithin, auch vom Bundesverfassungsgericht, anerkannt, so wurde er doch „als der .Urknall' für das Entstehen der Gemeinschaft als einer Rechtsgemeinschaft" be383

VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel zeichnet (J. Limbach, 2001, S. 81). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts machte in der Folgezeit deutlich, dass sich die deutschen Verfassungsrichter schwer darin taten, ihrem Auftrag als Hüter der Verfassung gerecht zu werden und gleichzeitig die Herausbildung eines eigenständigen, der Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs unterliegenden europäischen Rechtsraums anzuerkennen. Die Schwierigkeit liegt in der Tatsache begründet, dass der politische Wille zur Integration, wie er seit 1993 ausdrücklich in Art. 23 GG festgehalten wird, schon seit Beginn des Integrationsprozesses die Notwendigkeit implizierte, das Gemeinschaftsrecht als ein dem nationalen Recht, und hier auch den Verfassungen, vorrangiges Recht zu billigen, auch wenn ein solcher Vorrang des Gemeinschaftsrechts nach wie vor nicht Bestandteil desselben ist, sondern politisches Postulat bleibt. Wie schwer es dem Bundesverfassungsgericht bis heute fallt, sich mit diesem Postulat in der konkreten Wahrnehmung seiner Aufgaben zu arrangieren, dokumentiert sich an einer Reihe von Entscheidungen seit Mitte der 1970er Jahre. Zunächst wurde das Verhältnis von deutschem und europäischem Recht als ein Verhältnis der Gleichordnung interpretiert. So entschied das Bundesverfassungsgericht in seinem „Solange /"-Beschluss 1974, beide Rechtskreise stünden „unabhängig voneinander und nebeneinander in Geltung" (BVerfGE 37, 271 (278)), das Gemeinschaftsrecht sei bei seiner Anwendung durch deutsche Behörden und Gerichte am Maßstab des Grundgesetzes zu überprüfen, „solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen vom Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist" (BVerfGE 37, 271 (285)). Entwickelte der Europäische Gerichtshof in der Folgezeit, sowohl mit Blick auf die im europäischen Vertragswerk festgehaltenen „vier Freiheiten" als auch auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sowie die nationalen Grundrechtsordnungen, einen „europäischen Grundrechtsbestand", so ging das Bundesverfassungsgericht im Oktober 1986 im sog. „Solange //"-Beschluss positiv auf diese Entwicklung ein. In dem einstimmigen Beschluss hielten die Verfassungsrichter unter anderem fest, das Bundesverfassungsgericht werde sein Recht auf Überprüfung des Gemeinschaftsrechts am Grundgesetz nicht mehr ausüben, „solange die EG, insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, einen wirksamen Schutz der Grundrechte generell gewährleisten" (BVerfGE 73, 339 (340)). Diese Entscheidung schien eine Wende in der Haltung des Verfassungsgerichts zum Europäischen Gerichtshof einzuleiten, da dieser nunmehr als gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 GG anerkannt wurde. Allerdings stellte der damalige Richter am Bundesverfassungsgericht und Berichterstatter für europarechtliche Fragen, Paul Kirchhof, klar, dass der „Solange ΙΓ'Beschluss lediglich als ein temporärer Rückzug des Bundesverfassungsgerichts von seinem grundsätzlich fortbestehenden Prüfauftrag gewertet werden dürfe (P. Kirchhof, 1989, S. 454). In der Tat kehrte das Bundesverfassungsgericht mit seinem umstrittenen „ Maastricht" Urteil vom 12. Oktober 1993 zur Ausübung seines Prüfungsrechts zurück. Dabei bot weniger der Inhalt des Urteils Anlass zu massiver Kritik - das Gericht erklärte den Vertrag von Maastricht als vereinbar mit dem Grundgesetz - als vielmehr die Tatsache, dass der Richterspruch auf der Grundlage einer individuellen Verfassungsbeschwerde ergangen war und die Ausführungen in der Urteilsbegründung sowohl den Gesetzgeber als auch die Bundesregierung in ihrem europapolitischen Handeln unter den Druck eines möglichen Verstoßes gegen das Grundgesetz brachten. Da die Grundlage des „Maastricht"-Urteils nicht, wie im Falle der beiden „Solange"-Beschlüsse, ein dem Verfassungsgericht von einem anderen Gericht vorzulegendes Ersuchen um Normenkontrolle war, sondern eben eine individuelle Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz des Bundestages zum Maastricht-

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4. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat - eine kontinuierliche Herausforderung Vertrag, wurde kritisiert, dass das Bundesverfassungsgericht hiermit dem Einzelnen die Möglichkeit eröffnet habe, aufgrund individueller Unzufriedenheit über den Prozess der europäischen Integration eine Verfassungsklage anzustrengen, die nicht mehr länger des Nachweises der persönlichen Betroffenheit von einem Akt der öffentlichen Gewalt bedurfte (C. Tomuschat, 1993, S. 489). Darüber hinaus wurde die in der Urteilsbegründung dargelegte Interpretation der Verträge über die Europäische Union und die Europäische Gemeinschaft zum Anlass heftiger Kritik am „Maastricht"-Urteil genommen. Mit seiner verfassungskonformen Auslegung ignoriere das Gericht die in Art. 308 des EG-Vertrages festgeschriebene Möglichkeit eines Tätigwerdens der Gemeinschaft für den Fall, dass dies im Rahmen des Gemeinsamen Marktes erforderlich erscheint. So hieß es im „Maastricht"-Urteil: „Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen" (BVerfGE 89, 155 (156)). Dies verweist nicht nur auf erneute Infragestellung des Postulats eines Vorrangs des Gemeinschaftsrechts; die Bundesregierung gerät in ihrer Europapolitik vielmehr auch insofern unter Druck, als sie durch Zustimmung zu einem auf der Grundlage des Art. 308 EG-Vertrag im Ministerrat zu verabschiedenden Gemeinschaftsrechtsakt der letztgültigen Überprüfung dieses Rechtsaktes durch das Bundesverfassungsgericht notwendigerweise vorgreift. Dieser Anspruch des Bundesverfassungsgerichts wurde im Maastricht-Urteil allerdings insofern relativiert, als die Verfassungsrichter das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof als ein „Kooperationsverhältnis" charakterisierten. In seinem „Bananenmarkt"-Beschluss vom Juni 2000 bekräftigte das Bundesverfassungsgericht seinen Willen zur Zusammenarbeit, indem es explizit den „Solange //"-Beschluss bestätigte. Ob sich aufgrund dieses Urteils tatsächlich ein Verhältnis der Zusammenarbeit beider Gerichte ergibt, muss sich erst in der Praxis erweisen. So wird zu Recht kritisiert, dass die Bananenmarktentscheidung die Vorrangstellung des Europäischen Gerichtshofs im Hinblick auf den Grundrechtsschutz lediglich auf Basis einer verfassungsprozessualen Begründung anerkannt hat, nicht aber auf Basis einer materiell-inhaltlichen Argumentation (K. Odendahl, 2001, S. 285 f.). Die genannten Entscheidungen verweisen auf die für das Bundesverfassungsgericht bestehende Schwierigkeit, seinem Auftrag als Hüter der Verfassung vor dem Hintergrund einer sich zunehmend europäisierenden Rechtsordnung gerecht zu werden. Auch eine verbesserte Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass das nach wie vor bestehende Defizit an demokratischer Legitimation des Gemeinschaftsrechts die Gefahr eines Unterlaufens des Grundgesetzes durch europäische Rechtsetzung birgt. Ein wirksamer Grundrechtsschutz innerhalb des gesamteuropäischen Rechtsraums scheint allerdings in Sicht. So hat der Europäische Konvent die im Jahr 2000 verabschiedete Grundrechtecharta der EU in seinen Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrages aufgenommen.

4. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat - eine kontinuierliche Herausforderung Das Grundgesetz enthielt ursprünglich zwei Hinweise auf die „freiheitlich-demokratische Grundordnung". In den Art. 18 und 21 schuf man Abwehrmöglichkeiten gegen den Missbrauch des Parteienprivilegs und der Grundrechte. Damit sollte angegeben werden, was nach dem Grundgesetz im Sinne der „streitbaren Demokratie" zu schützen sei (vgl. u.a. E. Denninger, 1983). Auf welche Art Staat die Grundordnung abstellte, wurde in den Art. 20 und 28 näher benannt. Die Bundesrepublik ist demzufolge „ein demokratischer und sozialer 385

VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Bundesstaat", in dem auch die Länder an die Grundsätze „des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes" gebunden sind. „Rechtsstaat und Sozialstaat" (vgl. E. Forsthoff, 1968) bezeichnen dabei programmatische Elemente, die sich zwar ergänzen sollen, nach ihrem Entstehungsgrund aber in deutlichem Widerstreit zueinander stehen. Rechtsstaat meint ursprünglich den in seinen Aufgaben zuletzt auf die Verwirklichung des Rechts begrenzten Staat, in dem sich die Beziehungen zwischen staatlicher Gewalt und der Bürgerschaft rechtlich regeln lassen. Im Sozialstaat soll dagegen der Staat mehr oder weniger bestimmte Wertvorstellungen aktiv verwirklichen. Der Staat findet sich hier nicht begrenzt, sondern umfassend beauftragt. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Grundrechte. Als Abwehr- oder Ausgrenzungsnormen sollen sie das „Feld des gesellschaftlichen Individualverhaltens" rechts- und damit staatsfrei halten. Sind sie dagegen programmatischen Charakters und will man sie „anwendbar" machen, muss man sie als „Werte" verstehen. „Ihr Vollzug wird sich (dann) in Wertungen darstellen müssen. Er wird sich daher nicht in logisch nachvollziehbaren Prozeduren der Rechtsanwendung abspielen, sondern in Wertungen, welche nur aus der Mentalität der Werter begreiflich sind. Damit wird die Rechtssprechung zum eigentlichen Herren einer nicht mehr freien, sondern wertgebundenen oder besser wertungsgebundenen Gesellschaft" (E. Forsthoff, 1964, S. 221). Mit Blick auf die Möglichkeit und Realität des Rechtsstaates geht es mithin zum einen um praktische Probleme, etwa der Gesetzgebungsintensität, der Unklarheit von Gesetzen, der unzureichenden Gerichtsorganisation oder der den Laien benachteiligenden Prozessordnungen. Zum anderen drängen sich Auslegungsprobleme auf. „Rechtsstaat" ist, dies wurde bereits ausgeführt, ein historisch gewachsener Begriff. Sein Bedeutungsgehalt unterliegt Veränderungen. Das Grundgesetz fordert auch nicht den Rechtsstaat schlechthin, sondern einen sozialen Rechtsstaat. Es will also einen Ausgleich - genauer, der Verfassungsgeber sah keinen unaufhebbaren Widerspruch zwischen den auf Staatsbegrenzung und Rechtssicherheit drängenden rechtsstaatlichen Elementen (der bürgerlichen Gesellschaft) und den zu Wertungen und Aktionen führenden Elementen des Sozialstaates. Dass es später zu anderen Verfassungsauslegungen kam, steht auf einem anderen Blatt. Ein Grundbegriff der Verfassung muss in seiner Entwicklung verstanden werden. Der Rechtsstaat gehört dabei zur Rechtskultur, zur „politischen Kultur" Deutschlands, ein Begriff, der sich (trotz vielfältiger Versuche) kaum in andere Sprachen übersetzen oder in andere Kulturkreise übertragen lässt. Das ergibt sich zunächst schon sprachlich aufgrund des Nebeneinanders von Recht und Gesetz, vor allem aber auch aufgrund der historischen Tatsache, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Rechtsstaat gegen den aufgeklärten Wohlfahrtsstaat gestellt wurde. Der Wohlfahrtsstaat war Verwaltungsstaat, in der Sprache jener Zeit also „Polizeistaat". Ihn sollte - etwa im Verständnis Robert von Mohls (1832) - der Rechtsstaat ablösen (vgl. E. Angermann, 1962; M. Stolleis, 1992). Materiell meinte man damit, den Staat auf wenige Zuständigkeiten reduzieren zu können oder realistischer (von Mohl), sein Handeln eng an das Subsidiaritätsprinzip zu binden. Formal ging es um Verfahrensweisen des Staates, um die gesicherte Mitwirkung des Bürgers, um ein Verständnis von Freiheit, nach dem man frei ist, wenn man nur Gesetzen gehorcht, an deren Zustandekommen man beteiligt ist. Dass materiell wie formal noch als Spezifikum der deutschen Aufklärung eine Vorstellung von einem dem Staat überzuordnenden Recht hinzukam, erklärt, warum später die Formalisierung des Rechtsstaatsbegriffes (als Rechtsstaat lässt der Staat das von ihm gesetzte Recht gegen sich gelten) vielfach als Rückschritt, als Vorbereitung eines maßstablosen Positivismus verstanden wurde. Fraglos überwog aber auch noch in dieser Periode der Formalisierung der Abwehrgedanke. Der Rechtsstaatsbegriff sagt etwas darüber aus, dass Liberalis-

386

4. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat - eine kontinuierliche Herausforderung mus und Bürgertum sich in Deutschland nie des Staates bemächtigt, keine parlamentarische Mehrheitsherrschaft etabliert, sondern sich mit ihm arrangiert und Staat und Gesellschaft voneinander abgegrenzt haben. Dass sich das in einer Demokratie nicht nachvollziehen lässt, wurde bereits angesprochen (vgl. auch Th. Ellwein, 1954). Der „soziale Rechtsstaat" des Grundgesetzes ist mit Blick auf das rechtsstaatliche Element im Gesetz selbst hinreichend, die soziale Komponente hingegen weniger eindeutig konkretisiert. Man spricht deshalb auch vom „ Verfassungsauftrag" und bemüht sich um eine weitergehende Konkretisierung des Sozialstaates. Dass man sich aber auch hinsichtlich des rechtsstaatlichen Elementes mit dem Grundgesetz selbst nicht begnügt, wurde schon erwähnt. Der verbreitete Bezug auf ein mehr oder weniger greifbares Natur- oder überpositives Recht, beides zuletzt nur dem individuellen Gewissen verpflichtet, kann aber zu einer Moralisierung der Verfassungsdiskussion führen und so tendenziell den Rechtsstaat gefährden. Beschwört man zu häufig das überpositive Recht, mag das die Rechtsprechung aufwerten, wertet aber den Gesetzgeber ab, diskreditiert sein auf den Minimalkonsens zielendes Bemühen. Die Spannung zwischen Gerechtigkeitsvorstellung und pluralistisch unterschiedlichen Zugängen zu ihr auf der einen sowie einer funktionierenden Rechtswirklichkeit auf der anderen Seite muss jedoch in jedem Rechtsstaat ertragen werden. Dazu gehört auch die Bereitschaft zum Verzicht darauf, sein Gewissen zum Herren über andere zu machen. Vor diesem Hintergrund lässt sich nur mit großer Vorsicht explizieren, was über die formale Ordnung hinaus einen Rechtsstaat ausmacht (vgl. dazu K. Hesse, 199520, S. 74fF.), und dann beurteilen, ob dem die Rechtswirklichkeit in der Bundesrepublik genügt. Dass Verstöße gegen das Recht oder Versuche einzelner, das Recht zu unterlaufen oder es in ihrem Sinne zu ändern, zur täglichen Realität gehören, versteht sich dabei von selbst. Der Rechtsstaat bewährt sich, solange die Diskussion darüber möglich ist und Ergebnisse zeitigt. In einem solchen inhaltlichen Sinne soll der Rechtsstaat zunächst als Staat „unter dem Recht" verstanden werden. Er sollte „zugleich im Recht (stehen) und durch das Recht legitimiert" werden, weil sich die „politische Gemeinschaft, die im Staat sich organisiert, zu einer echten Rechtsgemeinschaft erweitert hat. Eine solche Kongruenz von Staats- und Rechtsgemeinschaft setzt voraus, dass Eigenständigkeit und Eigenwert des Rechtes von der politischen Gemeinschaft respektiert werden" (G. Leibholz, 19672, S. 168). Nun ist „Recht" keine ein für allemal bestehende, für jedermann fassbare und auf alle Zeiten auf einen bestimmten Rechtsraum beschränkte Größe. „Recht" ereignet sich vielmehr immer wieder neu, muss erkannt, formuliert und verwirklicht werden. Dies alles ist aber auf die Rechtsgemeinschaft zu beziehen, es genügt nicht, dass Experten ihre Kenntnisse als Rechtsätze formulieren. Lebt die Bevölkerung der Bundesrepublik in diesem Sinne in einer Rechtsgemeinschaft? Bei Beantwortung dieser Frage erweist sich die erstgenannte Kategorie als zu unbestimmt, um angesichts der Staatspraxis zu helfen. Das Grundgesetz selbst gibt nur eine programmatische Antwort, indem es in Art. 1 betont, der Staat sei um des Menschen willen da. Damit ist das Recht zunächst auf die unveräußerlichen Menschenrechte bezogen, die sich ihrerseits aus der Würde des Menschen ableiten. In der Würde und damit zugleich in der freien Entfaltung der Persönlichkeit, also der der individuellen Freiheit im Rahmen des Zusammenlebens der Menschen, liegen die Anknüpfungspunkte an das überpositive Recht. Sie lassen sich zum Teil aus den formulierten Grundrechten ablesen, ohne dort inhaltlich präzisiert zu sein. Jede Präzision ist, wie ausgeführt, zugleich Interpretation; jede Interpretation ist zwangsläufig einseitig und damit entwicklungsbedürftig (vgl. auch J. Limbach, 2001, S. 85). Die in diesem Zusammenhang seit den 1970er Jahren mannigfach formulierte Kritik am Bundesverfassungsgericht, es verwechsle als oberster Interpret der Grundrechte in der 387

VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Bundesrepublik den aus überpositivem Recht folgenden Auftrag des Art. 1 des Grundgesetzes zum Schutz der Würde des Menschen mit dem Auftrag, „das .Menschenbild des Grundgesetzes' zu wahren" (H. Ridder, 1975, S. 231 f.), trägt heute nicht mehr. So hat sich das Gericht, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der europäischen Integration, in der Bewältigung seiner Aufgabe der Auseinandersetzung mit anderen nationalen Rechtsordnungen, aber auch mit internationalen Normen, gestellt und damit die Herausforderung angenommen, nicht nur zu einer Erweiterung des Grundrechtsschutzes in Deutschland beizutragen, sondern auch die deutsche Rechtsordnung auf ihre Übereinstimmung mit grundlegenden Rechtsprinzipien hin zu überprüfen - wie sie etwa in der Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) formuliert wurden. Wenn die obersten Gerichte in Entscheidungen das überpositive Recht heranziehen, setzen sie sich der Kritik anderer Auffassungen und Denkrichtungen aus. Das ist in Kauf zu nehmen, nur im „dialektischen" Fortschreiten des Gesprächs ist der Weg zur Wahrheit begehbar. In den Bemühungen zur Konkretisierung des Prinzips der Gleichheit wird das besonders deutlich. Diese Gleichheit meinte ursprünglich die Gleichheit der politischen Mitbestimmung, selbst wenn sie letztlich nur im Wahlrecht konstituiert ist, sowie die sozialstaatliche Gleichheit im Sinne der Gerechtigkeit für alle, die zwar weit weniger bestimmbar, dennoch aber kategorial hilfreich ist. Zum zweiten gehört zur inhaltlichen Dimension des Rechtsstaates die Kontrollierbarkeit des staatlichen Handelns. Wo mit Erfolg für eine politische Entscheidung rechtliche Legitimität beansprucht wird, ohne dass es zureichende Kontrollmöglichkeiten gibt, existiert kein Rechtsstaat. Die Konsequenzen aus dieser Einsicht beeinflussen die formalen Strukturelemente des Rechtsstaates. Aber auch inhaltlich kann politische Führung nur kontrolliert werden, wo Öffentlichkeit und Rationalität des Handelns gegeben sind. Über die Öffentlichkeit in Deutschland ist das Notwendige gesagt. Hinsichtlich der geforderten Rationalität gilt, dass zwar niemand das Irrationale aus der Politik ausschalten kann, dennoch aber immer wieder das Postulat nach rationaler Begründung - im Gegensatz etwa zur Berufung auf das Gewissen - erhoben werden muss, weil nur eine solche Begründung für andere nachvollziehbar und die Nachvollziehbarkeit Voraussetzung einer sinnvollen Kontrolle ist. Zur Rationalität tragen auch bestimmte Anforderungen an den Gesetzgeber bei. Gesetze etwa sollen bestimmt und eindeutig sein, weil sonst die Rechtssicherheit gefährdet ist und der Anwender einen zu großen Spielraum erhält. Gesetze sollen weiter nicht in die Vergangenheit zurückwirken, der Verordnungsgeber soll präzise ermächtigt werden, die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist zu beachten (vgl. E. Stein, 20021S). Zusammenfassend ergibt sich somit, dass (trotz der an anderer Stelle diskutierten Forderung nach Ausweitung plebiszitärer Elemente in den Verfassungen) die Öffentlichkeit des politischen Handelns in der Bundesrepublik meist gegeben ist, sie aber häufig nicht genutzt wird. Auch ist von einem durchaus erkennbaren Bemühen um rationale Begründungen politischer Entscheidungen auszugehen; Versuchen, undiskutierbare Gewissensprinzipien zum eigentlichen Motiv für die Gesetzgebung zu machen, lässt sich begegnen. Im Übrigen ist eine prinzipielle Bewertung dieses Maßstabes erschwert; die Situation des jeweiligen Einzelfalls ist ganz offensichtlich zu berücksichtigen. Zum dritten schließlich ist der Rechtsstaat inhaltlich auf die Idee der Gerechtigkeit bezogen. Mit ihr kann eine Richtung bezeichnet werden, in die sich Politik jeweils bewegen sollte, allerdings kein erreichbares Ziel. Das gilt zunächst theoretisch, weil Ideale eben als Bilder der Realität gegenüberstehen, aber es gilt auch praktisch, weil man sich hinsichtlich der Ausformulierung von Idealen meist nicht einigen kann, vielmehr auch hier von einer Pluralität von Sichtweisen auszugehen ist. Dennoch gehören die Forderungen, der Staat 388

4. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat - eine kontinuierliche Herausforderung solle unter dem Recht stehen und zugleich der Gerechtigkeit dienen, eng zusammen. Verstehen wir diese Gerechtigkeit vor dem Hintergrund der gleichfalls geforderten Rationalität, dann erhält sie zwangsläufig eine stärkere begriffliche Präzisierung. Staat unter dem Recht,

Öffentlichkeit

und Rationalität

des staatlichen

Handelns,

Gerech-

tigkeit als Aufgabe, das bleibt j e für sich blass, hat in seinem Bezug zueinander jedoch greifbare Wirkungen. Natürlich ergeben sich solche Wirkungen erst, w o Politik motiviert und mit H i l f e jener Kategorien oder aufgrund der mit ihnen verbundenen Voraussetzungen kontrolliert wird. In diesem Sinne ist die Bundesrepublik

zweifellos Rechtsstaat,

obgleich sie der

deutschen Tradition verhaftet bleibt, der zu Folge der inhaltliche Rechtsstaatsbegriff eng mit der liberalen Überlieferung und dem Schutz der individuellen Freiheit verbunden ist. Deshalb tritt der abwehrende Charakter einem gewissen Widerstreit mit dem

dieses Begriffes immer wieder hervor und steht in

Sozialstaatspostulat.

Ungleich eindeutiger scheint es zunächst mit der Frage danach zu stehen, ob der Rechtsstaat der Form nach verwirklicht

ist. Z u den formalen Anforderungen an den Rechtsstaat

gehört zuerst die nach Rechtssicherheit

im Sinne von Rechtsgewissheit. Rechtssicherheit ist

ein äußerliches, nicht ein inhaltliches Merkmal des Rechtsstaates, weil sie F o r m und Gültigkeit des Rechts meint und dabei durchaus im Widerstreit mit der gedachten materiellen Gerechtigkeit stehen kann. Rechtssicherheit besteht, wenn jedermann wissen kann, was als Recht gilt und wer befugt ist, neues Recht zu setzen. Das Letztere regeln Grundgesetz und Landesverfassungen eindeutig. Das Erstere gewährleisten einerseits die Öffentlichkeit der Gesetzgebung, andererseits Instanzen, die in Zweifelsfällen entscheiden - bis hin zu dem Zweifel darüber, ob ein beschlossenes Gesetz mit der Verfassung vereinbar ist. D i e Rechtssicherheit ist außerdem durch einen wirksamen Rechtsschutz ergänzt, so dass die Rechtshandhabung am geltenden Recht gemessen und bei Fehlern korrigiert werden kann. Auch wird man sagen, dass die Rechtssicherheit insofern gewährleistet ist, als die formale Qualität der Rechtsordnung außer Zweifel steht. A u f einige Grenzen der Rechtssicherheit wurde allerdings bereits verwiesen. Sie ergeben sich vor allem aus der mit der Gesetzesproduktion verbundenen Regelungsdichte und den angesprochenen Mängeln, die der Zersplitterung der Gerichtsorganisation folgen. Kritischer ist zu vermerken, dass angesichts der Fülle staatlicher Aufgaben deren faktische Rechtsbindung

o f t nur durch sehr weitreichende Deutungen möglich wird. Das setzt

ein erhebliches Vertrauen in die innere Schlüssigkeit des geltenden Rechts voraus, wenn nicht neben die eindeutigen Rechtsregeln eine Fülle möglicherweise widersprüchlicher Deutungsversuche treten soll. Andererseits ist einzuräumen, dass die umfangreiche öffentliche Tätigkeit o f t nur an das Recht gebunden werden kann, indem man auf dessen Grundprinzipien zurückgreift. Damit aber wird auch Rechtssicherheit gefährdet. D e m lässt sich wiederum nur durch großzügigen Rechtsschutz

begegnen. Wenn aber insgesamt die rechtliche

Regelungsintensität zunimmt, muss auch die „Rechtsfremdheit" der Bevölkerung wachsen. Rechtssicherheit und großzügiger Rechtsschutz sind dann für weite Kreise nicht eben erlebte Praxis. Der Anteil des Rechts am erfahrenen sozialen N o r m e n g e f ü g e geht zurück. Schon deshalb bleiben die Rechtsbereinigung, die Rechtsvereinfachung, das einheitliche Prozessrecht oder die sprachliche Überprüfung von Gesetzen wichtige Aufgaben, selbst wenn sie an der beklagten Anonymität des Rechts nichts grundsätzlich zu ändern vermögen. In der Hauptsache Rechtsstaat.

verwirklichen

die in Art. 20 GG genannten Organisationsprinzipien

den

N a c h ihnen geht die Staatsgewalt v o m Volke aus und wird in Wahlen und

Abstimmungen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. In diesem Zusammenhang ist die „Einbindung" der

389

VI. Recht und Rechtsprechung: der Rechtsstaat im Wandel Organe wesentlich; die Gesetzgebung muss sich an die Verfassung halten, Exekutive und Justiz sind an Gesetz und Recht gebunden. Diese Bindung muss erzwingbar sein, wobei es in der Hauptsache darum geht, ob eine von Legislative und Exekutive unabhängige Justiz deren Handeln auf die Übereinstimmung mit Verfassung, Recht und Gesetz überprüfen kann und ob sich entsprechende Urteile auch durchsetzen lassen. Damit geht es im Rechtsstaatsprogramm nicht um die Gewaltenteilung, weshalb auch die zahlreichen Nachweise, dass es in Wahrheit keine Gewaltenteilung gebe, ins Leere stoßen. Nicht die formale Gewaltenteilung, sondern die Funktionsunterscheidung und die unterschiedliche Bindung der jeweiligen Funktionen sind von Bedeutung (vgl. H. Krüger, 19662; K. Hesse, 199520; E. Benda u.a., 1983; E.-W. Böckenförde, 1997). Erscheinen sie gewährleistet, genügt dies auch dem formalen Ansatz des Rechtsstaates. Eine Einschränkung ergibt sich allerdings daraus, dass Art. 20 GG zwar die Volkssouveränität verankert, es aber außerhalb der Wahl nur wenige plebiszitäre Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes gibt. Der Parteienstaat kann deshalb den Rechtsstaat bedrohen. Das allerdings setzt die schrankenlose Macht einer Partei und die Denaturierung der Justiz voraus, Voraussetzungen, die in der Bundesrepublik nicht gegeben sind und nach den Erfahrungen sowohl im nationalsozialistischen Deutschland wie in der DDR wohl auch künftig als ausgeschlossen gelten dürfen. Auch eine andere Gefahr, durch die innere Dialektik von Volkssouveränität und Rechtsstaat bedingt, droht in der Bundesrepublik kaum, weil die Volkssouveränität im Grundgesetz und im Verfassungsleben nicht unmittelbar oder plebiszitär zum Ausdruck kommt. Volkssouveränität reduziert sich auf das Recht der Parlamentsmehrheit, repräsentativ für das Ganze die eigenen Auffassungen als Recht zu setzen. Soweit der Rechtsstaat formal über die Gewaltenteilung eine unterschiedliche Bindung der staatlichen Funktionen erreichen will, die Machtbalance und Machtkontrolle bewirkt, ist also das rechtsstaatliche Programm des Grundgesetzes erfüllt. Diese Bindung wirkt, der Gesetzgeber kann etwa im Rahmen der Verfassung souverän Gesetze beschließen. Wird er hingegen beim Haushaltsbeschluss exekutiv tätig, gelten ihm gegenüber die gleichen rechtlichen Bedingungen wie gegenüber der Exekutive; gegen bestehende Rechte kann der Haushaltsbeschluss nicht verstoßen. Nur in einer Hinsicht ist auf eine Einschränkung hinzuweisen. Der rechtsstaatlichen Bindung der Staatstätigkeit sind dort Grenzen gesetzt, wo für einen Teil des Verwaltungshandelns keine unmittelbare Rechtsbindung besteht und eine andere Legitimationsbasis etwa über neue Verantwortlichkeits- und Aufsichtsregeln noch nicht gegeben ist. Das verweist aber nur darauf, dass der Rechtsstaat nicht nur durch die Versuchung bedroht ist, Macht zu missbrauchen, sondern auch durch die Erweiterung der Staatsaufgaben und durch die sich damit verbindende zunehmende Komplexität, die sich immer wieder dem Öffentlichkeits- und vor allem auch dem Rationalitätsgebot zu entziehen droht. Jede prinzipielle Erörterung des Rechtsstaates zielt auf eine Praxis, in der dieser Rechtsstaat stets gefährdet erscheint. Die Prinzipien bewähren sich, wenn sie eine Analyse und Bewertung der Praxis erlauben, auch wenn dabei nur selten Konsens zu erzielen ist. In die Beurteilung von Praxis fließen immer positions- und situationsspezifische Kategorien ein. Wer sich in einer subjektiv wie objektiv stärkeren Position befindet, verfügt meist auch über größere Chancen, seine Sicht rechtsstaatlicher Erfordernisse einzubringen und durchzusetzen. Deshalb wächst die Bedrohung des Rechtsstaates in dem Maße, in dem die Prinzipien der Demokratie die des Rechtsstaates nicht mehr zu schützen imstande sind, Macht also nicht zureichend kontrolliert wird. Der Rechtsstaat bleibt deshalb kontinuierlich bedroht, durch Rechtsverletzungen Mächtiger oder auch durch übermäßiges und illiberales Nutzen rechtlich (noch) zulässiger Möglichkeiten. Eine andere Form der Bedrohung verbindet sich mit terroristischen und extre390

4. Die Bundesrepublik als Rechtsstaat - eine kontinuierliche Herausforderung mistischen Aktivitäten. Die Bedrohung ist dabei entscheidend davon abhängig, inwieweit es das erklärte Ziel entsprechender Gruppen ist, den Rechtsstaat „vorzuführen", ihn dadurch zu schwächen, dass die Gewaltpotentiale des Staates in den Vordergrund treten (müssen) und der mühselige und zeitraubende Weg zur Gewährleistung des Rechtsstaates auch und gerade im Bereich der Verbrechensbekämpfung diskreditiert wird. Schließlich ist auch hier auf jene Konsequenzen zu verweisen, die sich mit dem fortlaufenden Europäisierungsprozess verbinden (vgl. hierzu bereits J. J. HesselN. Johnson, 1996). Der bisher weitgehend auf den nationalen Raum beschränkte Rechtsstaat wird in diesem Zusammenhang gleich in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt.

391

VII. Gefährdete Stabilität: das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung Als 1999 das 50-jährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gefeiert wurde, fiel das Fazit nahezu aller Kommentatoren positiv aus. Im Vergleich etwa zur Paulskirchenverfassung vor 150 und zur Weimarer Verfassung vor 80 Jahren hatte sich das Grundgesetz, dem die innere Souveränität der Bundesrepublik zu danken ist, zweifellos bewährt. Auch erwies sich das politische System seit 1949 als stabil und erbrachte ohne nachhaltige Systemkrisen jene Leistungen, die es innerhalb der europäischen Nationalstaaten zwischenzeitlich gar als „Modell" erscheinen ließ. Friedenssicherung, Prosperität und Stabilität gewährleisteten eine breite Akzeptanz und Legitimation, auch und gerade nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Sie machten die Bundesrepublik Deutschland, im historischen Kontext wie aus der Sicht der europäischen Nachbarn, zu einem erfolgreichen demokratischen Staat. Gleichwohl fiel schon zum damaligen Zeitpunkt auf, dass die deutsche Diskussion durch öffentliche Selbstzweifel, Zukunftsängste und einen im Vergleich geringen Nationalstolz geprägt war. Mag dies mit Blick auf die deutsche Geschichte verständlich erscheinen, wird darin doch eine Grundhaltung erkennbar, die die Bewältigung von Alltags- und Übergangsproblemen erschwert. So veränderte sich bereits 1989, als man auf 40 Jahre Grundgesetz zurückblickte und auch dabei dessen stabilitätssichernde und machtteilende Wirkung hervorhob, die positive Grundhaltung rasch. Nach den auf den Vereinigungsprozess folgenden euphorischen Monaten machte sich eine Ernüchterung breit, in der sich enttäuschte Erwartungen, untypische Probleme und zögerliches politisches Verhalten zu einer bis dahin unbekannten Kritik verbanden. Die offensichtlichen Schwierigkeiten, der „äußeren" auch die „innere" Vereinigung folgen zu lassen, gesamtstaatliche Solidaritäten auszubilden und unvermeidliche Übergangsprobleme auch als solche zu akzeptieren, schufen ein Klima, das stabil geglaubte Elemente des politischen Systems zu beeinträchtigen begann. Plötzlich war nicht mehr von imponierenden Integrationsleistungen und beispiellosen rechts- wie sozialstaatlichen Sicherungen die Rede, es dominierten vielmehr pessimistische Einschätzungen, die die Bundesrepublik Deutschland als ein krisengeprägtes Gemeinwesen erscheinen ließen. Die dreifache Herausforderung, denen sich das Land heute durch Vereinigung, zunehmende Europäisierung und einen weltweit ablaufenden, als Globalisierung überhöhten ökonomischen Strukturwandel ausgesetzt sieht, droht das Land zu überfordern. Angesichts der Schwierigkeiten, notwendigste Strukturreformen konsensfahig zu machen, wird inzwischen gar von einem „Verfall" einstmals gepriesener institutioneller Kontexte gesprochen, sieht man das deutsche politische System als nur noch begrenzt wettbewerbsfähig an. Deutliche Leistungseinbußen, eine abnehmende politische Akzeptanz und Verwerfungen im Parteienstaat gelten vielen als Symptome des Niedergangs. Was 1989 als beispielhaft dargestellt wurde und auch noch 1999 positive Würdigungen erfuhr, droht sich jetzt in das Gegenteil zu verkehren. Trotz im internationalen Vergleich akzeptabler Strukturmerkmale und in vielen Aufgabenfeldern überzeugender Leistungen scheint die Bundesrepublik zurückzufallen, ihre Staatlichkeit gefährdet, sie selbst ein Opfer ihres Erfolgs.

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1. Die Veränderungen der staatlichen Rolle und Funktion

1. Die Veränderungen der staatlichen Rolle und Funktion Und doch: Der deutsche Staat steht in einer durchaus guten Tradition. Sie ermöglichte noch 1919 den Übergang von der Monarchie in die Republik und war - obwohl sie 1933 den Weg vom Rechtsstaat in den Unrechtsstaat nicht zu verhindern vermochte - 1945 doch noch so greifbar, dass man in Teilen an sie anknüpfen konnte, als zunächst in Gemeinden und Kreisen und etwas später in den Ländern das öffentliche Leben wieder seinen Anfang nahm. Sieht man von dem ab, was dann in der D D R geschah, hat die Entwicklung in der alten Bundesrepublik auf der einen Seite zu einer Bestätigung und Ausweitung positiver Staatstraditionen beigetragen. Dies gilt etwa für das in der Verfassung angelegte System von checks and balances zwischen den wesentlichen politischen Organen, für die Machtteilung zwischen den Gliedstaaten, für die Schaffung politisch unabhängiger Einrichtungen wie der Bundesbank und des Bundesverfassungsgerichts, die korporatistische Willensbildung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (unter Einschluss der verfassungsrechtlichen Absicherung der Tarifautonomie) sowie für zahlreiche rechts- und sozialstaatliche Sicherungen. Auf der anderen Seite kam es aber auch zu einem deutlichen Qualitätsverlust von Staat und Verwaltung. So ergab sich eine Dominanz der politischen Willensbildung in Bonn, die weit über das vom Grundgesetz geforderte Maß hinausging; ein Auswuchern der Verwaltung, die heute kaum mehr bezahlbar erscheint; eine Verflechtung zwischen den gebietskörperschaftlichen Ebenen, die Forderungen nach politischer Rationalität und aktiver bürgerschaftlicher Beteiligung entgegenstand; eine Spezialisierung, die übergreifende Problemlösungen erschwerte; eine Politisierung öffentlicher Einrichtungen - mit entsprechenden Einbußen an rechtsstaatlicher Qualität; sowie schließlich ein deutlich sichtbares Unvermögen, die Frage danach, wie viel Staat wir brauchen, auch wirklich zu stellen und sie handlungsleitend zu beantworten. Fasst man den heutigen Stand der staatswissenschaftlichen wie staatspraktischen Diskussion zusammen, ergibt sich mit Blick auf die Herausforderungen an das Regierungssystem zunächst ein weitgehender Konsens: Danach gelten der Wohlfahrts- und Sozialstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Grund des inzwischen wesentlich ausdifferenzierteren Parteienwettbewerbs, des ökonomischen Strukturwandels, der offensichtlichen sozialen Kosten und eines überholten staatlichen Paradigmas (Staat als omnipotente autonome Steuerungsinstanz einer Gesellschaft) als eine eher historische Zwischenphase. So haben sich die Staatsfunktionen zunehmend vom Leistungs- zum Steuerungs- und Ordnungsstaat verschoben - im Sinne der Organisation gesellschaftlicher Interaktions-, Produktions- und Entscheidungsprozesse. Dabei verlagern sich die Leistungsfunktionen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf dezentrale politisch-administrative Ebenen, die das Leistungsangebot den sich differenzierenden Ansprüchen präziser anzupassen vermögen, die Nachfrage wirksamer in die Angebotsgestaltung einbeziehen können und besser als zentralstaatliche Einrichtungen in der Lage sind, die erforderlichen Akzeptanz- und Konsensbildungsprozesse zu gestalten. Die Autonomie des Staates, obwohl faktisch nie gegeben, wenngleich von den Handlungsträgern subjektiv so empfunden, wird immer weiter zu Gunsten kooperativer Strukturen zwischen Staat und gesellschaftlichen Handlungsträgern aufgelöst; die Aufgaben des Staates konzentrieren sich danach auf die Wahrnehmung von Führungsfunktionen: Kooperation, Koordination und Moderation rücken in den Vordergrund. Der Kooperationsbedarf entspringt hier durchaus staatlichen Eigeninteressen: zur Sicherung der finanziellen Voraussetzungen seines Handelns, zur Abdeckung öffentlicher Aufgaben, zur Verhinderung von Legitimationsverlusten und zur Verbesserung des Politikvollzugs. Die gesellschaftliche Komplexität, die unübersehbare Optionenmehrung individueller Interessendurch-

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VII. Das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung Setzung oder auch die Unsicherheit über Wirkungsverläufe gesellschaftlicher Großentscheidungen erhöhen ständig die individuellen Risiken. Der Staat tritt dabei immer häufiger in die Rolle des „Großversicherers", der allerdings nicht nachträglich Schäden beseitigen, sondern sie präventiv verhindern soll. Das setzt vorausschauende Planung, Risikokalkulation und neue Verfahren der Entscheidungsvorbereitung voraus, die ohne gesellschaftliche Übereinstimmung wiederum nicht konsensfahig werden. Letztere wird - bei zunehmender gesellschaftlicher Desintegration, dezentraler Steuerung und gruppengebundenen „Weltbildern" - aber immer mehr zum „knappen Gut". Die Konsensbildungskosten wachsen progressiv, weil jeweils problembezogene Übereinstimmungen hergestellt werden müssen, ein differenzierter Grundkonsens also fehlt. Aufgabe des Staates wird es dann, die Kosten der Konsensbildung zu senken, sei es durch neue Organisationsformen im Bereich der Willensbildung und Entscheidung, sei es durch Erneuerung eines solchen differenzierten Konsenses. Während man gegen Ende des 20. Jahrhunderts versuchte, dem mit vergleichsweise idealtypischen Vorstellungen gesamthafter Politikbearbeitung zu begegnen (und dabei an institutionellen wie politischen Widerständen scheiterte), entstanden zwischenzeitlich Gegenpositionen, die stärker auf eine Selbststeuerung sozialer Systeme setzten, sei es über den Markt (Entstaatlichung, Privatisierung, Deregulierung), sei es über kleine soziale Netzwerke (Dezentralisierung, genossenschaftliche Selbsthilfe), sei es (im Weg höherer Rationalität der gesellschaftlichen Handlungsträger) über Selbstdisziplinierungen im „wohlverstandenen Eigeninteresse" (etwa durch Anspruchsreduktion, Selbstkontrolle von Gruppen oder „diskursiven Konsens"). Diese Positionen gingen jedoch meist von einem insofern illusionären Gesellschafts- und Politikverständnis aus, als sie gesellschaftliche Rationalitätssteigerung empfahlen, ohne die damit wachsenden Kosten der Konsensfindung zu berücksichtigen; integrierte Aufgabenplanung durch einen Abbau politisch-administrativer Arbeitsteilung anstrebten, ohne die informatorischen und konsensbezogenen Vorteile der Arbeitsteilung in Rechnung zu stellen; dezentralisierte Selbststeuerung propagierten, ohne zu erkennen, dass ausdifferenzierte Gesellschaften und pluralistisch-fragmentierte Institutionensysteme einen wachsenden Kollektivbedarf an Steuerung, Planung und Konsensbildung erzeugen. Heute kommt es daher verstärkt zu pragmatischen Ansätzen, die politikfeldbezogen vorgehen, aber versuchen, die einer „rationalen" Politikbearbeitung entgegenstehenden Widerstände (aus vertikal wie horizontal verflochtenen institutionalisierten Zuständigkeiten, der Heterogenität und Vielfalt privater wie öffentlicher Entscheidungsträger oder aus materiellen Verteilungskonflikten über Ressourcen, Kompetenzen und andere Handlungsvorteile) konstruktiv aufzugreifen und zu nutzen. Staatliche Politik ist dabei primär als Führungsaufgabe zu verstehen, der drei „strategische" Funktionen zuzuordnen sind: •

eine Orientierungsfunktion zur Bestimmung und Definition von Problemen, zur Festlegung von „Fluchtlinien" des Handelns und zur Präzisierung der erwarteten (und nachprüfbaren) Handlungsergebnisse; • eine Organisationsfunktion, die sicherstellen muss, dass alle wichtigen Handlungsträger für ein Politikfeld mobilisiert und zu gemeinsamer Handlung zusammengeführt werden (der Staat/die öffentliche Hand kann immer weniger alle Probleme einer Gesellschaft an sich ziehen und aus eigener Kraft zu lösen versuchen, da die Problemfelder nur zu einem kleinen Teil von Variablen gebildet werden, auf die der Staat direkt Einfluss nehmen kann; darüber hinaus verfügen Private über ein zunehmend wachsendes Störpotenzial, das sie - auch ungewollt, etwa durch egoistisches Verhalten - gegen den Staat einsetzen);

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1. Die Veränderungen der staatlichen Rolle und Funktion •

eine Vermittlungsfunktion, die zur Aufgabe hat, Konsens und Akzeptanz für gemeinsame Handlungswege zu schaffen und die verschiedenen Handlungsträger zu motivieren.

Die Orientierungsfunktion geht davon aus, dass die Arbeitsteilung der Gesellschaft und die Erkenntnis, dass in komplexen Kontexten Entscheidungen/Handlungen lange Wirkungsketten auslösen, deren Ergebnisse häufig Folgeprobleme schaffen, den Staat immer mehr in Steuerungsfunktionen gedrängt haben, die eine Vielzahl von Adressaten beeinflussen müssen. Orientierung geben heißt dann: Probleme frühzeitig aufzugreifen und zu benennen, Optionen für die Problembearbeitung zu schaffen, Ziele und Leitlinien für Problemlösungen zu bezeichnen und Handlungen daraufhin abzuschätzen, welche gewollten und ungewollten Folgewirkungen sie haben („Aktivitätsfolgenabschätzung": Umweltverträglichkeitsprüfung, Technologiefolgenabschätzung, Sozialverträglichkeitsprüfung, Raumverträglichkeitsprüfung). Orientierung ist aber nicht nur handlungsstrategisch zu verstehen, sondern wirkt auch auf die Grundwerte einer Gesellschaft ein, die letztlich den Möglichkeitsrahmen des Handelns mitbestimmen, aber auch - wie im Fall von Solidarität - die Voraussetzung für kollektives Handeln darstellen. Die Organisationsfunktion stellt gleichsam das materielle Korrelat zur Orientierungsfunktion dar. Sie unterscheidet die Organisation von Interaktionsprozessen zur Konsensfindung und Akzeptanzgewinnung sowie die Organisation der Kompetenz- und Ressourcenbereitstellung, um kollektives Handeln materiell erst zu ermöglichen. Die interaktionsbezogene Organisationsfunktion kann dabei politische Handlungssysteme zum Gegenstand haben (etwa konzertierte Aktionen oder Regionalkonferenzen) oder aber ordnungspolitische Regelungen schaffen, die - wie Marktordnungen - das Handeln Dritter strukturell gestalten. Die Vermittlungsfunktion schließlich verweist darauf, dass kollektives Handeln nicht nur initiiert, sondern auch motiviert und moderiert werden muss, zumal der Staat immer stärker auf die Mitwirkung von Privaten und nichtstaatlichen Organisationen angewiesen ist, denen gegenüber Gebote/Verbote häufig wirkungslos bleiben, weil sie von den Adressaten unterlaufen bzw. von den ausführenden Behörden nicht adäquat umgesetzt werden. Vermittlung besteht dann nicht nur in der Verkündung von Zielen, Programmen oder in der Gewinnung von Kooperationspartnern, es geht vielmehr auch um den Einbezug derer, die an der kollektiven Aktion beteiligt sind - und dies bereits bei der Entwicklung und Planung von Zielen und Maßnahmen. Die Aufgabe ist also sowohl intern (bezogen auf die öffentliche Handlungsträger) als auch extern (bezogen auf nichtstaatliche Handlungsträger) zu verwirklichen. Sie kann umgesetzt werden über Beratungsleistungen, Überzeugungsarbeit, Tauschhandlungen und Verhandlungsprozesse. Die Wahrnehmung der Vermittlungsfunktion geht dabei häufig über den Informationsaustausch hinaus, meist handelt es sich auch um einen Prozess politischer Konfliktregelung, der wiederum Rückwirkungen auf die Organisationsfunktion haben kann. Die Wahrnehmung aller drei genannten Funktionen, die den Staat zumindest auch als „kooperativen" Staat ausweisen, könnte dazu beitragen, Probleme früher aufzugreifen und damit den Staat wieder zum „Herren des Verfahrens", in freilich verändertem Verständnis, zu machen. Dies bezieht sich sowohl auf den Zeitpunkt der Problembearbeitung, deren zieladäquate und ressourcenschonende Gestaltung sowie schließlich auch auf die Schnelligkeit, die Treffsicherheit und die Dauerhaftigkeit von Problemlösungen (hierzu erstmals J. J. Hesse, 1987). Die Entscheidung für die „öffentliche Hand", den Staat (in seinen unterschiedlichsten Erscheindungsformen) ist also nach alldem selbstverständlich. Sie erklärt allerdings noch nicht, welcher Staat gemeint ist und was man ihm im Einzelnen abfordern sollte. So gilt es, den 395

VII. Das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung angesprochenen Wandel und die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, der zunehmenden „Entgrenzung" einstmals selbstverständlicher Gewissheiten zu folgen (territorial wie sektoral) und dabei normativen wie funktionalen Herausforderungen zu begegnen. Was man dabei vom Staat, seiner Verfassung und der in ihrem Rahmen geschaffenen Ordnung erwarten kann, ist, dass sie so stabil und dauerhaft wie möglich und so flexibel wie nötig sind. Der von manchen beklagte Verfassungswandel gehört so in Wahrheit zur Normalität moderner Staatlichkeit.

2. Institutionelle und personelle Voraussetzungen Sucht man solcherart vorbereitet den Zustand von Staat und Politik nach über 50 Jahren Grundgesetz zu umreißen, kann es nicht nur darum gehen, über die Stabilität des Gemeinwesens Auskunft zu geben und potentielle Gefährdungen generalisierend einzuschätzen. Es gilt vielmehr auch, Form und Funktion der deutschen Staatlichkeit konkret, und das heißt hier am Beispiel der obersten Bundesorgane, zu überprüfen, vor allem mit Blick auf jenen Anpassungs- und Reformbedarf, der als „staatliche Modernisierung" die Diskussion beherrscht. Mit Blick auf den Bundespräsidenten ergeben sich zunächst erfreuliche Kontinuitäten. Wie aufgezeigt, befindet sich das Staatsoberhaupt vom Kompetenzrahmen her in einer vergleichsweise „schwachen" Position. Sie erklärt sich aus den Erfahrungen der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, nach denen man das Organ des Präsidenten zwar beibehielt, seine Funktionen aber, soweit es eben ging, reduzierte, ergänzt um einen Verzicht auf eine unmittelbare Volkswahl. Zudem machte man die Bundesregierung weitgehend unabhängig vom Vertrauen des Präsidenten und räumte diesem lediglich im Fall ausgeprägten Organstreites gestaltende Möglichkeiten ein. Gleichwohl - oder vielleicht gerade deshalb - hat sich das Amt bewährt, verzeichnete die Bundesrepublik im Zeitablauf eindrucksvolle Persönlichkeiten. Auch für den amtierenden Bundespräsidenten, Johannes Rau, gilt, dass er zunächst die Einheit des Staates repräsentiert und nach außen gewährleistet, und dass er sicherstellt, dass Kompetenzstreitigkeiten nicht zu Rechtsunsicherheit führen. Auch macht er deutlich, dass personelle und materielle Entscheidungen für alle gelten, Mehrheitsentscheidungen wie Minderheitenschutz gewährleistet sind. Dies geschieht weniger durch die Unterzeichnung von Gesetzen und Verträgen, als vielmehr aufgrund einer eher indirekten Präsenz, die ihr Gewicht nicht über repräsentative Funktionen, auch nicht im „Darstellen" des Staates und der Nutzung „symbolischer" Politik erschöpft, sondern Moderations- und Koordinationsprozesse in das Zentrum der im eigentlichen Sinne politischen Aktivitäten stellt. Der Bundespräsident ist dabei weniger „Hüter der Verfassung" als das Bundesverfassungsgericht, weil er Entscheidungen verzögern, nicht aber selbst herbeiführen kann. Wohl aber fungiert er als „Hüter der Politik", wobei - erneut - nicht materielle Kompetenzen, sondern eher immaterielle Formen des politischen „Einmischens" und des „Erteilens von Ratschlägen" im Vordergrund stehen. Der Bundespräsident hat mithin keine gestaltende oder leitende, sondern eine eher „pflegende" Aufgabe. Deren Wahrnehmung kann nicht in belehrender Weise geschehen, sondern nur durch den ständigen Versuch, den politischen Alltag zu transzendieren. Die Mittel hierzu sind öffentliche „Auftritte", „Berliner Reden" und die eher „stillen" Formen des Zusammenführens unterschiedlicher Interessen. Dass inzwischen auch ein gewisses „Einklagen" politisch nicht wirklich offen geführter Diskussionen zum Selbstverständnis des Bundespräsidenten gehört, verbindet sich mit den Namen Roman Herzogs und jetzt Johannes Raus. Während Herzog jenen bekannt gewordenen „Ruck" for-

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2. Institutionelle und personelle Voraussetzungen derte, um die erkennbare Immobilität des politischen Systems aufzulösen, hat Rau mit seiner klugen Entscheidung in der Zuwanderungsfrage neue Maßstäbe gesetzt. Hier verbindet sich die Abwehr unzumutbarer Forderungen an das Staatsoberhaupt mit konstruktiven Hinweisen auf eine verfassungspolitische Debatte, ohne die sich negative Routinen im politischen System der Bundesrepublik herausbilden könnten. Auch Johannes Rau hat sich mithin um den „Stil" der Republik verdient gemacht, die fast lähmende Metapher des „Versöhnen statt Spalten" überwunden. Dies sind Signale, dass und wie auch ein Bundespräsident in diesem Amt „wachsen" kann, er sich den veränderten Rahmenbedingungen der deutschen wie der europäischen Politik anzupassen vermag. Gleichzeitig wird eindrucksvoll dokumentiert, dass Politik eben nicht auf Entscheiden, Fortentwickeln und Gestalten zu reduzieren ist. Zu ihr gehören auch und gerade der Ausgleich, nicht nur von Interessen, auch nicht nur im Sinne eines Aushandelns von Kompromissen, sondern durchaus im Sinne persönlicher Vermittlung zwischen Gruppen. Mit Blick auf das Parlament, den Bundestag, ist unübersehbar, dass auch die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie der Pflicht zur kontinuierlichen Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen unterliegen. So können die routinehaften Verlautbarungen der Parlamentspressestelle nicht mehr verdecken, dass Fragen einer Parlamentsreform dringlich geworden sind. Dies gilt gleichermaßen für die Größe der Parlamente (jetzt vor allem der Landtage), die Verfahren der Parlamentsberatung, das Verhältnis von Parlament und Öffentlichkeit sowie für die Beziehungen zwischen Bundestag und Europäischem Parlament. Auch erscheint es jenseits immer wiederkehrender Diskussionen sinnvoll, nicht nur nach den Formen und Prozeduren zu fragen, innerhalb derer die Volksvertretung agiert, sondern auch inhaltliche Aspekte einzubeziehen. Nach den Erfahrungen von mehr als fünf Jahrzehnten geht es dabei vor allem um die Führungsaufgaben des Parlaments. Und hier werden Zweifel deutlich. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde im Wesentlichen von der Exekutive getragen. Das Parlament hat den beschrittenen Weg dann zwar nach vollzogen, nicht aber in seinen Konsequenzen näher diskutiert. Dies erfolgte erst im Zuge von Nachfolgeentscheidungen, so etwa der Hauptstadtfrage, mit dem noch immer unsäglichen Ergebnis, dass die Volksvertreter den nach einer eindrucksvollen Debatte gefassten Beschluss zugunsten Berlins zunächst nicht oder doch nur zögerlich umsetzten. Schon hier zeigten sich Elemente einer „Selbstentmachtung", die den Bedeutungsverlust des Parlaments und sein sinkendes Ansehen bei der Bevölkerung erklären könnten. Solange es den Volksvertretern nicht gelingt, die zentralen Lebensfragen der Nation öffentlichkeitswirksam zu diskutieren, notwendige Entscheidungen in einem angemessenen Zeitraum zu treffen und auf deren Vollzug zu drängen, werden Fragen nach der Wirkungsweise und der Funktionsfähigkeit des Parlaments verbleiben. Das häufig beklagte Fehlen einer intakten politischen Öffentlichkeit beginnt hier, die Selbstdarstellung des Parlaments hat unmittelbare Konsequenzen für vorangehende und nachfolgende Prozesse der politischen Willensbildung. Hinzu kommt, dass die bisherigen Ansätze einer parlamentarischen Selbstreform nicht eben überzeugten, das Abtreten originärer parlamentarischer Kompetenz an die inzwischen zahlreichen „Kommissionen" weitere Vorbehalte weckt. Auch die Arbeit Gemeinsamer Verfassungskommissionen von Bundestag und Bundesrat vermochte hieran wenig zu ändern. So war schon die Besetzung der Kommissionen meist von Anfang an strittig, zumal sich die Abgeordneten weiterhin der Fraktionsdisziplin ausgesetzt sahen und nicht in ausreichendem Maße von ihrem freien Mandat Gebrauch machten. Eine Öffnung, die auch die inzwischen deutliche Kritik an der Willensbildung in den Parteien berücksichtigt hätte, erfolgte nicht. Zudem wurde zentralen Zukunftsaufgaben meist keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt. So erklärt sich, dass immer wiederkehrende Themenstellungen auf die politische

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VII. Das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung Agenda treten, ohne dass das Parlament dem nachgefolgt wäre, wird eine unabweisbare Föderalismusreform seit Jahren verschleppt, spielt das Parlament im Rahmen der Europäisierungsdiskussion eine beklagenswert inaktive, einzelne Verfahrensschritte nur nachvollziehende Rolle. Hinzu kommt, dass die amtierenden Kanzler zunehmend „am Parlament vorbei" Entscheidungen nicht nur vorbereiten, sondern auch fallen. Die erfolgreichen Bemühungen von Bundeskanzler Schröder, seine erste Steuer- und Rentenreform sowie Teile der Neuregelung des Finanzausgleichs durch den „Erkauf von Mehrheiten konsensfahig zu machen, sind noch in Erinnerung. Wer parlamentarische Gremien derart missachtet, trägt zum Bedeutungsverlust des Parlaments bei, so wie die Parlamentarier sich den Vorwurf der „Selbstentmachtung" dann zu eigen machen müssen, wenn ein Widerstand gegen das Wachstum „außerparlamentarischer" Verfahren nicht erkennbar ist. Die Mischung aus mangelndem Mut, Arroganz und dem schlichten Unwillen, Fehlentwicklungen zu begegnen (und eine ohnehin begrenzte Reformpolitik zu verwirklichen), wächst sich zu einem Krebsübel des deutschen Parlamentarismus aus. Auch die Hoffnungen, dass nach dem Einzug in den umgebauten Reichstag eine selbstkritische Bestandsaufnahme zu veränderten Verhaltensmustern führen könnte, trogen. Dabei ging und geht es nicht um größere strukturelle Veränderungen, wohl aber um die interne Arbeitsweise des Parlaments und um das Verhältnis zur Öffentlichkeit. Zwar sind die Volksvertreter in Berlin wesentlich nachdrücklicher mit den Alltagsproblemen der Republik konfrontiert als dies in Bonn je der Fall war, doch haben sich die Beteiligten an die alltäglichen Probleme einer Weltstadt inzwischen gewöhnt. Der deutsche Parlamentarismus spielt sich wie in Bonn auf etwa einem Quadratkilometer in „Mitte" ab, bestaunt von zahlreichen Touristen und seitens der Berliner mit gelassener Höflichkeit beobachtet. Selbst historische Bezüge haben keine „Neubesinnung" bewirkt. So erinnerte der Einzug des Parlaments in den Reichstag an eine bedenkenswerte Vergangenheit, aber auch an respektable Erprobungen der Demokratie. So ist daran zu erinnern, dass das Parlament zunächst - im Kaiserreich am monarchischen System scheiterte und in der Weimarer Republik den Gedanken der parlamentarischen Demokratie mit bitteren Auseinandersetzungen belastete, bis es schließlich die Kraft verlor, seiner Entmachtung entgegen zu treten. Auch fand hier, im Reichstag, das Ringen um die Parlamentarisierung des Kaiserreichs statt, das jeder Erinnerung wert ist. Selbst der erste Versuch zur Bildung eines demokratischen Systems fand im Reichstag eine respektable Stütze. Der Bundestag betrat also mit dem Einzug den Boden einer Kontinuität, die durchaus besser ist als ihr Ruf (H. Rudolph). Allerdings dürfte auch unstrittig sein, dass der Bundestag in Bonn für die deutsche parlamentarische Demokratie von ganz anderem Gewicht wurde. Ihre Wiederherstellung, die zu einem guten Teil eine Neubegründung war, geht auch auf ihn zurück. Er hat dieser Regierungsform eine über 50-jährige Geschichte der Bewährung und Festigung verschafft. So gewann der Bundestag - was seinen Vorgängern misslang - die Deutschen für die parlamentarische Demokratie und gab er diesem schwierigen Regierungssystem ein unerwartetes Maß an Funktionsfähigkeit und Stabilität. In der Folgezeit hat es sich auch gegenüber zahlreichen anti-parlamentarischen Anfechtungen behauptet, die zunächst den Schatten der Vergangenheit folgten und schließlich in Protestbewegungen der 1960er und in den sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre ihre Form fanden. Sie alle misslangen oder wurden über ihre Protagonisten politisch-parlamentarisch integriert. In der Bilanz sollte deshalb über interne Funktionsverbesserungen und nach außen gerichtete Aufgaben des Bundestages nachgedacht werden. Zwar hat das „Arbeitsparlament" unbezweifelbar positive Routinen gebildet, ohne damit freilich eine Gewichtsverschiebung zugunsten der Exekutive, den Parteien, den Interessenverbänden und den Medien verhindern zu 398

2. Institutionelle und personelle Voraussetzungen können. Ein zunehmend deutlich werdender Bedeutungsverlust gegenüber europäischen Organen und Einrichtungen tritt hinzu. All dem wäre entgegenzuwirken, vor allem über ein verbessertes Verhältnis zum Souverän, dem Volk. Ein „Forum der Nation" ist der deutsche Bundestag gewiss noch nicht - oder nicht mehr. Die dafür wohl ursächliche Selbstisolierung der Volksvertretung wäre zu durchbrechen. Allerdings setzt dies auch voraus, dass der Bürger sich nicht weiter von der parlamentarischen Demokratie abwendet, sondern in ihr seine Rolle findet. Wie immer sind Funktionsveränderungen Ausfluss unterschiedlicher Verhaltensweisen der Beteiligten. Eine Selbstbesinnung erscheint von daher angezeigt. Vielleicht ist sie sogar dringlich, um der Selbstgenügsamkeit des Parlaments entgegenzuwirken. Fällt es dem Parlament schwer, aus seinen Routinen auszubrechen und den massiv veränderten Rahmenbedingungen der Politik zu folgen, gilt Ähnliches mit Blick auf die Exekutive, also Regierung und Verwaltung. Auch die Regierung übernimmt im Parlament nur begrenzt Führungsfunktionen und hält sich, wie die Volksvertretung, deutlich zurück, sobald es um Strukturfragen, notwendige institutionelle Veränderungen oder die Überprüfung des tradierten Aufgabenbestandes geht. Das wiederum führt häufig zu skeptischen Einschätzungen des Regierungshandelns, die darauf abstellen, dass die Regierung im Sinne eines wirklichen „regere" weder strukturell noch inhaltlich auf die Bewältigung von Zukunftsfragen eingerichtet erscheint. Auch wurde mit Recht darauf verwiesen, dass der institutionelle Zuschnitt der Bundesregierung schwerfällig und überorganisiert, der der Landesregierungen gar völlig überdimensioniert sei. Die Kritik richtet sich dabei auf die Zahl der Ministerien, eine „Aufblähung" der Ebene der Staatssekretäre und schließlich auf unzeitgemäße Abteilungs- und Referatsstrukturen, die einer deutlichen Unterscheidung zwischen politischen Führungsaufgaben und dem Vollzug politischen Willens im Wege stünden. In der Tat macht ein Blick auf den Zuschnitt von Bundes- und Landesministerien deutlich, dass Koalitionserwägungen, parteipolitischen Rücksichtnahmen und Verteilungspolitiken meist ein übergroßes Gewicht eingeräumt wird. Auch für die eingesetzten Verfahren und für das Personal im öffentlichen Dienst sind Vorbehalte angezeigt. Die seit Jahren geforderte „Modernisierung der Staatsorganisation" erweist sich von daher als überfällig. Dass die jeweilige politische Führung, auf Bundesebene also der Kanzler und auf Landesebene die Ministerpräsidenten, von entsprechenden Kritiken nicht auszunehmen ist, versteht sich von selbst. So müsste der Bundeskanzler sehr viel deutlicher machen, wie die erkennbaren Entwicklungs- und Verteilungsprobleme auch längerfristig zu überwinden sind, was Politik dabei überhaupt vermag und welche politischen Prioritäten er zu setzen bereit ist. Dass mit Blick auf notwendige Strukturreformen im Wirtschafts-, Sozial- oder Bildungsbereich nicht ohne Opposition gehandelt werden kann, ist bekannt, ohne dass die politische Führung dies in aller Deutlichkeit ausdrückt - obwohl sich damit Entlastungsmöglichkeiten verbinden. Hinzu kommen Versäumnisse, der Bürgerschaft und den Vertretern von Wirtschaft und Verbänden im Osten wie Westen des Landes ihre Mitverantwortung für die Entwicklung bewusst zu machen. Weil derlei fehlt, verzögerte sich der Vereinigungsprozess, blieb die Standortdiskussion letztlich ohne größere Folgen und wird erst heute erkennbar, dass und wie sehr die deutsche Politik der Innovation bedarf. Wohin Politik aber führt, die folgenlos redet und sich auf Ankündigungen beschränkt, sollte erinnerlich sein. Wirtschaftliche Abstiegsängste und Parteien- wie Politikverdrossenheit sind nur durch konzeptionelle Deutlichkeit, politischen Mut oder doch wenigstens durch ein entsprechendes Bemühen zu überwinden. In Berlin wird sich erweisen müssen, inwieweit das deutsche Regierungssystem handlungsund reformfähig ist, oder ob Kritiken, die von einem Steuerungsverzicht und einer latenten 399

VII. Das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung Handlungsunfähigkeit staatlicher Einrichtungen sprechen, Recht behalten könnten. Allerdings wäre es wichtig, kritische Haltungen dabei nicht zu überziehen und sich von entsprechenden Schuldzuweisungen nicht auszunehmen. Natürlich bleibt richtig, dass hochdifferenzierte, fragmentierte, polyzentrische politische Systeme nur begrenzt von außen zu steuern sind, sich entsprechende „Pathologien" finden. Nur hieße es, den Staat der Bundesrepublik (und seine Teilsysteme) gröblich zu unterschätzen, wollte man ihm lediglich die Rolle des schwerfälligen, weil bürokratisch vermittelt agierenden Systems zuschreiben. Allerdings muss Lernfähigkeit erhalten, politischer Wille bewiesen und die Anpassungsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen durch eine kontinuierliche „Staatspflege" (und Verwaltungspolitik) gewährleistet werden. Gefordert sind deshalb eine konsequente Überprüfung staatlicher Routinen, die Anpassung der jeweiligen institutionellen Konfiguration sowie der Zwang zu einer instrumenteilen wie materiellen Umorientierung. Dass die Vertreter von Politik und Verwaltung dies erkennen, ist unbestritten, nur fehlt es an Mut, hieraus auch Konsequenzen zu ziehen. Immerhin kommt es jetzt zu deutlicheren Positionierungen (etwa in der Agenda 2010), wird das Handeln im Bereich der Leistungsverwaltung durch kooperative, die Zielgruppen einbeziehende Verhaltensweisen ergänzt, gewinnt die „Auslagerung" von Problemen im Wege der Deregulierung und Privatisierung an Bedeutung. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die stabile institutionelle Ausgangssituation und die bis 1989 auch nicht wirklich in Frage gestellte politische Leistungsfähigkeit durch routinehaftes Verhalten beeinträchtigt wurden. So greifen einzelne Politiken nur noch begrenzt, gefährdet eine gewisse, sich auch dem Erfolg verdankende Starrheit und Sattheit die Stabilität, bedürfen neue und z.T. durchaus existenzbedrohende Probleme veränderter Lösungswege. Deshalb auch sind Forderungen nach zukunftsorientierter, den Generationenvertrag berücksichtigender Führung Legion, wobei durch Europäisierungsprozesse auf der einen und Regionalisierungsforderungen auf der anderen Seite zusätzlicher Handlungsdruck erzeugt wird. Bedenkt man darüber hinaus, dass sich mit der Wiederentdeckung des Marktes und der Selbststeuerung sowie den sich damit verbindenden Reformpolitiken eine auch produktive Verunsicherung des staatlichen Handelns verbindet, eröffnet sich Modernisierungsansätzen ein vergleichsweise weites Feld. Hier muss sich erweisen, ob das Regierungssystem und seine Vertreter konzeptionell und durchaus auch ethisch-moralisch gerüstet sind, Zukunftsentscheidungen zu treffen, Partikularinteressen auszugleichen und unterschiedlichsten Problemen gerecht zu werden. Gelänge es schließlich, wechselseitige Schuldzuweisungen zu vermeiden, den Konsensbedarf einzuschränken und die Gemeinwohlorientierung des staatlichen Handelns wieder stärker in Erinnerung zu rufen, wäre Wesentliches erreicht. Auch würde es so möglich, die erkennbaren Probleme solidarischer als bisher aufzunehmen und das Regierungssystem in seinem Bekenntnis zum Sozialstaat erneut zu legitimieren. Der Bundesrat, die Länderkammer, stand unter den obersten Bundesorganen in den vergangenen Jahren am häufigsten in der Diskussion. Dies erklärt sich weniger aus dem verspäteten Umzug in das Preußische Herrenhaus, als vielmehr aus einem weit verbreiteten Unbehagen an jenen Verßechtungsprozessen, die den heutigen Föderalismus prägen. 1989 als Stabilitätsgarant und machtteilender Faktor im politischen System der Bundesrepublik gewürdigt, erweist er sich heute als überprüfungsbedürftig. Ob Steuerreform oder Rechtschreibung, Modernisierung der Hochschulen oder Justizpolitik, Entwicklung der Europäischen Union oder Zuwanderung: Fast immer stellen sich Fragen zur bundesstaatlichen Ordnung und den sich damit verbindenden Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen. Folgt man den Kritiken, hat es die Politik hier nahezu exemplarisch versäumt, ihre eigenen Arbeitsgrundlagen zu sichern. Allerdings geht es dabei nicht um ein modisches „constitutional engineering" (das das Grundgesetz ohnehin ausschließt), sondern - falls Anglizismen

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2. Institutionelle und personelle Voraussetzungen denn sein müssen - um ein „institutionalgardening", also auch hier um eine Staatspflege, ein sensibles Umgehen mit dem schutzwürdigen Verfassungsbestand und den zentralen politischen Einrichtungen. Die Kritik setzt an der gegenwärtigen Erscheinungsform des Föderalismus an und sucht dessen unbezweifelbare Vorzüge gegen Missbrauch zu schützen. Sieht man von den Vorgängen um das Zuwanderungsgesetz einmal ab, sind vor allem der Abbau überbordender Verflechtungsprozesse, ein Überdenken des Aufgabenzuschnitts zwischen Bund und Ländern sowie die Rolle dezentraler Gebietskörperschaften im Rahmen der europäischen Politik zu nennen. Geht man schließlich davon aus, dass politische Führung in der Bundesrepublik zu einem knappen Gut zu werden droht und die parteipolitische „Aufladung" des Bundesrats den Föderalismus gleichsam konjunkturabhängig macht, bleibt zu fragen, ob jenseits einer erwartbar folgenlosen Diskussion um eine Länderneugliederung Handlungspotenziale erkennbar sind. Die Politik sieht sie vor allem im Rahmen des Finanzausgleichs, erliegt aber in der Diskussion um dessen Neuordnung nicht selten den eigenen Routinen und ergänzt die bekannten Bund-Länder-Kontroversen lediglich um neue LänderLänder-Konflikte, etwa zwischen Gebern und Nehmern oder auch zwischen Ost und West. Dagegen ist an den „Rändern" öffentlicher Tätigkeit, nicht selten angestoßen durch Verbände und die Privatwirtschaft, Bewegung erkennbar. Dabei sind kooperative Formen der Aufgabenerledigung Legion, kommt es zu vielfältigen funktionalen Grenzüberschreitungen, verliert die Ausrichtung an Territorialeinheiten an Bedeutung. Hieran anzusetzen, einen „neuen" oder doch zumindest veränderten Föderalismus punktuell „einzuüben", könnte lohnen. Die Diskussion etwa um die Neuordnung der Landesrundfunkanstalten, der Sozialversicherungsträger, der Landesarbeitsämter oder auch der Technischen Überwachungsvereine sind Indikatoren für einen sich beschleunigenden Wandel. Hier geht es weder um eine bloße Rückführung der Zahl dezentraler Einrichtungen noch um einen oftmals befürchteten „Zentralitätsschub". Die Erwägungen zielen vielmehr darauf ab, gemeinsam sach- wie kostengerechte Leistungen zu erbringen - ohne Verlagerung auf die Bundesebene. Die Reorganisation der Landeszentralbanken bildet ein gutes Beispiel dafür, wie ökonomische Zwänge, politische Einsicht und öffentlicher Druck sich zu sinnvollen Reformen ergänzen können. Es wäre zu wünschen, dass dem im Rahmen einer den Namen verdienender „Föderalismusreform" entsprochen wird. Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass die damit verbundenen Verteilungsprobleme sich erneut als zu gewichtig erweisen und es bei marginalen Veränderungen, etwa im Bereich der Gemeinschaftsaufgaben, verbleiben könnte. Sollte dies der Fall sein, wird man die Organisation der bundesstaatlichen Willensbildung stärker als bisher zum Gegenstand einer Strukturreform machen müssen, sollte die Anpassung an den Europäisierungsprozess sie nicht ohnehin erzwingen. Im Übrigen müsste sich herumgesprochen haben, dass der verschärfte weltweite Wettbewerb auch für die nationalstaatlichen Regierungs- und Verwaltungssysteme gilt. Dabei könnte helfen, dass im europaweiten Vergleich Konvergenzprozesse erkennbar werden: Während die klassischen unitarischen Nationalstaaten, wie etwa Frankreich, Großbritannien oder auch Italien Regionalisierungsprozesse eingeleitet haben, stehen die föderalstaatlichen Systeme vor einer moderaten Re-Zentralisierung. Diese ist Reaktion auf unbestreitbare Funktionsdefizite und versucht, das gesamtstaatliche Handeln zu verbessern, ohne auf die Vorteile der Dezentralität verzichten zu müssen. Dass dabei das Spannungsverhältnis zwischen sozialstaatlicher Einheitlichkeit und bundesstaatlicher Vielfalt (also den Leitbildern der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" im Sinne eines Ausgleichs regionaler Unterschiede und des „Wettbewerbs der Regionen" mit dem Ziel eines effizienten Einsatzes öffentlicher Mittel und bürgernaher staatlicher Aufgabenwahrnehmung) zu diskutieren ist, versteht sich von selbst. „ Weniger Einheitlichkeit und mehr Vielfalt" - das wäre eine Formel, auf die die

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VII. Das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung Föderalismusdiskussion in der Bundesrepublik zu bringen ist. Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit gehören zusammen. Mit Blick auf die europapolitische Rolle der Länder schließlich wird es darauf ankommen, dem Subsidiaritätsprinzip eine auch operative Bedeutung zu geben. Zwar ist das Prinzip als grundlegende Entscheidung für eine konsequente Arbeitsteilung zwischen den politischen Ebenen unbestritten, doch haben sich die bisherigen Versuche zu seiner praktischen Ausgestaltung als wenig wirksam erwiesen. Auch der EU-Ausschuss der Regionen, jene Interessenvertretung sub-nationaler Einrichtungen, die das Institutionengeflecht der Europäischen Union seit Maastricht ergänzt, blieb in dieser Frage bislang ohne Wirkung. Es zeigt sich immer deutlicher, dass Länder- und Regionalinteressen stark differieren und unterschiedliche Betroffenheiten einen Konsens erschweren. Sowohl für die Gemeinsame Agrarpolitik als auch für die Reform der Strukturfonds gilt, dass die jeweilige Ausgangssituation unterschiedliche Politiken mit sich bringt, die nicht als positiver Wettbewerb missverstanden werden sollten. Es käme vielmehr darauf an, die divergenten Positionen der Länder und Regionen offen anzusprechen und in einen umfassenden Diskussionsprozess nicht nur mit dem Bund und den europäischen Einrichtungen, sondern auch mit den europäischen Partnerregionen einzutreten. Die Unterschätzung der ablaufenden „Europäisierung" droht die Länder sonst weiter zu benachteiligen, trotz der Neufassung des Art. 23 GG. Auch von daher bietet es sich an, über Schwerpunktsetzungen, Prioritäten und arbeitsteilige Prozesse bei der europapolitischen Willensbildung und Entscheidung nachzudenken. Dies schließt ein erweitertes Solidaritätsverständnis zwischen den Ländern ein. Auch für sie stellt sich mithin ein Modernisierungsbedarf, der durch die ermunternden Signale des „Konvents zur Zukunft der Europäischen Union" Aufschub erfahren sollte. Das einzige oberste Bundesorgan, das an seinem alten Standort verblieb, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, ist inzwischen als hochpolitisiert einzuschätzen, weil es sich in der Geschichte der Bundesrepublik eingebürgert hat, politisch kontroverse Entscheidungen dem Gericht zu übertragen. So kann es nicht verwundern, dass es zwischenzeitlich von zahlreichen durchaus auch parteipolitisch motivierten Querelen und einer ungewöhnlich intensiven Auseinandersetzung um einzelne, aus der Sicht vor allem der Medien umstrittene Urteile heimgesucht wurde. Während das Schnüren parteipolitscher „Pakete" schon häufiger den Auswahlprozess neu hinzutretender Verfassungsrichter bestimmte, erwiesen sich entsprechende Blockaden bei der Besetzung auch anderer Spitzenpositionen im Justizbereich als beschämend. Das Wort vom „Geschacher" erscheint in diesem Zusammenhang nicht unberechtigt; es beschreibt einen Prozess, in dem sich die Führungseliten der politischen Parteien nicht scheuen, notwendige personalpolitische Kontinuitäten zu unterlaufen. Dass dies zu einem Ansehensverlust für die in Frage stehende Institution führen kann, ist offensichtlich. Hinzu kommt, dass sich der Prozess fortlaufender Politisierung natürlich auch nach innen verlagert. Die öffentlichkeitswirksamen „Verkündigungen", das aufgrund ungezügelter Medienpräsenz gelegentlich divenähnliche Verhalten einzelner Richter sowie schließlich das bemerkenswerte Selbstbewusstsein, sich als einzig wirklich stabiles Verfassungsorgan zu verstehen, deuten in diese Richtung. Allerdings blieben solche Entwicklungen bislang ohne nachhaltige negative Konsequenzen: Trotz kontroverser Besetzungen des Bundesverfassungsgerichts gelang es letztlich immer, ihm so sachkompetente Vertreter zuzuführen, dass es nach dem Bundespräsidenten das wohl angesehenste Verfassungsorgan sein dürfte. In der Zusammenfassung erweist sich, dass die institutionellen Voraussetzungen für eine positive Fortentwicklung des deutschen Regierungssystems cum grano salis gegeben sind. Allerdings werden Verwerfungen und Übergangsprobleme erkennbar, die Anpassungsbedarf und Strukturreformen erkennen lassen. Dass dabei nicht mit „sprunghaften" Entwicklungen 402

3. „Europäisierung" als entscheidende Herausforderung zu rechnen ist, ergibt sich aus dem im Grundgesetz angelegten System der Gewaltenteilung das auch in krisenhaften Diskussionen nicht zur Disposition gestellt werden sollte. Freilich ist gleichermaßen richtig, dass der Verweis auf „evolutionäre Entwicklungen" in der gegenwärtigen Situation nicht mehr ausreichen dürfte. Es bedarf vielmehr wesentlich nachdrücklicherer Bemühungen, in Schlüsselbereichen Reformen mehrheits- und konsensfähig zu machen, und sei es um den Preis einer zeitlich begrenzten Großen Koalition. Gewohnt, etwa über den Vermittlungsausschuss und informelle Entscheidungsprozesse Minimallösungen anzustreben, steht die gegenwärtig amtierende Politikergeneration vor allem mit Blick auf den „politischen Willen" in der Kritik. In ihr dokumentiert sich das Unbehagen einer breiten Öffentlichkeit, bündeln sich Erwartungen, die die Funktionsträger offensichtlich überfordern, werden Standards formuliert, die sich allerdings auch in anderen gesellschaftlichen Gruppen so nicht oder doch nur zum Teil finden. Während Vertreter der Privatwirtschaft ein „Versagen der Politik" geißeln, innerhalb ihres eigenen Bereichs aber mit deutlichen Kompetenzvorbehalten zu kämpfen haben, und Gewerkschafter um das raison d'être ihrer Organisationen fürchten, sind auch die „Mittler" in Wissenschaft, Kultur und Medien nicht frei von wohlfeiler Kritik. Sie alle werden sich fragen lassen müssen, ob sie sich in ihrem je eigenen Bereich als veränderungsfähig und innovativ erwiesen haben oder ob nicht auch hier jenes Beharrungsvermögen und Denken in Besitzständen erkennbar wird, das für die gesamte Elite der Bundesrepublik Deutschland gilt.

3. „Europäisierung" als entscheidende Herausforderung Kann die Anpassung des Regierungssystems und nicht zuletzt der bundesstaatlichen Ordnung als ein Indikator für die Modernisierungsfähigkeit der deutschen Politik dienen, stellt die Umsetzung und Beeinflussung des fortlaufenden Europäisierungsprozesses die andere große Herausforderung der deutschen Politik dar. Hier wird es vor allem darauf ankommen, die positiven, gleichwohl aber unspezifischen Beiträge der Bundesrepublik durch ein aktiveres, zielorientierteres und das „nationale Interesse" deutlicher machendes Engagement zu ersetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Geschwindigkeit des Europäisierungsprozesses trotz der Einführung einer gemeinsamen Währung und des Entwurfs einer Europäischen Verfassung verlangsamt hat, Verteilungskämpfe an die Stelle eines breiten Konsenses zu treten beginnen. Solange die wohlfahrtssteigernde Funktion der Gemeinschaft im Vordergrund stand, man Entwicklungsziele formulierte und Zuwächse - wie im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion - verteilen konnte, waren do ut ¿/es-Politiken an der Tagesordnung. Jetzt tritt die Verteilung von Souveränitätsrechten, Kompetenzen, Mehrheiten und damit Macht an die Stelle der ökonomischen Dynamik. Damit steigt die Konfliktintensität und sinkt die Bereitschaft zu gemeinschaftlichem Handeln. Ungleichgewichte und Ungleichzeitigkeiten erschweren die Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion um eine auch Politische Union. Während einige darin ein deutliches Primat des Ökonomischen zu Lasten des Politischen sehen und davon sprechen, dass die Politische Union zugunsten der Wirtschafts- und Währungsunion „geopfert" würde, glauben zurückhaltendere Beobachter, dass es Sinn machen könnte, gerade auf den „Integrationsmotor" Wirtschaft zu setzen und die unzureichenden Energien darauf zu konzentrieren. Aus dieser Sicht wäre es ratsam, zu konsolidieren: ohnehin kontroverse Themen erst dann aufzugreifen, wenn im Vollzug der Wirtschafts- und Währungsunion Tatsachen geschaffen sind, die auch der politisch-institutionellen Absicherung bedürfen. Allerdings wird dabei verkannt, dass die benannten Politiken miteinander verbunden sind, eine gleichsam schritt-

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VII. Das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung weise „Abarbeitung" problematisch bleiben muss. Vor allem die Innen- und Justizpolitik Europas lässt sich kaum noch isoliert sehen. Sie ist schon lange nicht mehr nur Teilstück einer im Zweifel vernachlässigbaren Politischen Union. Es geht vielmehr um die Absicherung der mit dem Binnenmarkt verbundenen Grundfreiheiten, um die Gewährleistung der politischen Stabilität in Mitglied- wie Beitrittstaaten sowie um die Wiedergewinnung bürgerschaftlichen Vertrauens. Verschärfend kommt hinzu, dass das kritischer werdende Publikum die Union auch als rechts- und sozialstaatliche Veranstaltung sieht, also jene Sicherungsleistungen einfordert, an die es sich im nationalstaatlichen Kontext gewöhnt hat. Die Notwendigkeit, hier wenigstens Mindeststandards zu gewährleisten, gewinnt vor dem Hintergrund der Erweiterung um ökonomisch, sozial und rechtsstaatlich disparate Neumitglieder an Gewicht. Nach dieser Einschätzung haben sich zahlreiche neuere „Gipfel", etwa die von Amsterdam und Nizza (samt der nachfolgenden Vertragswerke), als enttäuschend und desillusionierend erwiesen. Selten dürfte dem Publikum deutlicher geworden sein, wie sehr wirtschaftliche Interessen den Integrationsprozess prägen und wie weit man noch von einem Europa entfernt ist, das demokratisch ausreichend legitimiert ist und rechts- wie sozialstaatliche Sicherheiten bietet. Die Erwartungen an die Arbeiten des „Konvents zur Zukunft der Europäischen Union" waren entsprechend hoch. Im Frühjahr 2002 eingesetzt, legte der Konvent im Juli 2003 seine Empfehlungen vor. Sie wurden zusammengefasst in einem „Verfassungsentwurf, der anstrebt, das erkennbare „patchwork" der Verträge zu überwinden und die instrumentelle Vielfalt der Europäischen Union zu vereinfachen. Allerdings blieb das, was letztlich vorgelegt wurde, hinter den Erwartungen zurück, beschränkten sich die Empfehlungen auf eine Ordnungsleistung. Besonders mit Blick auf den institutionellen Zuschnitt der Organe sowie auf die Kompetenzordnung im Rahmen der Europäischen Union wurden Kompromisse erarbeitet, deren Geltungskraft überschaubar ist. So wurde einmal mehr deutlich, dass trotz des unübersehbaren Desasters im Rahmen des Irak-Konflikts nationalstaatliche Interessen noch immer die Agenda dominieren - und dies nicht nur in der Außen- und Sicherheitspolitik. Was jetzt den „Rahmen" zur Fortentwicklung der Europäischen Union darstellt, sucht unterschiedlichen Interessenlagen gerecht zu werden. Auch wurde mit dem Inkrafttreten zahlreicher Bestimmungen erst in den Jahren 2009/2012 eine zeitliche Verschiebung notwendig, um konsensual vorzugehen. Natürlich ist es vorteilhaft, jetzt über einen Verfassungsvertrag zu verfügen, der u. a. die europäischen Grundrechte einklagbar macht, die Grundzüge einer Kompetenzordnung dokumentiert und über ein Subsidiaritätsprotokoll subnationalen Interessen, wie denen der Länder, entgegen kommt. Nur: Noch immer wird erkennbar, dass und wie stark sich Europa weigert, aus den Erfahrungen der Nationalstaaten zu lernen, ein „learning by doing" an die Stelle eines notwendigen „learning from experience" setzt. Trotz vielfacher Staatstraditionen, unterschiedlicher Rechtskulturen und divergenter Verfassungsverständnisse fehlt der Europäischen Union bis jetzt Kohärenz. Hinzu kommt, dass die Reformbemühungen meist auf der Ebene des Allgemeinen verbleiben, es an operativer Konkretisierung fehlt. Eine nachhaltige „Professionalisierung Europas" ist mithin unwahrscheinlich. Sie müsste, demokratietheoretisch geprägt und angeleitet, auch für die einzelnen Politiken jene Konkretion aufweisen, derer es im Alltag bedarf. Es verbleiben mithin Arbeitsaufträge an die Beteiligten, ja an die nachfolgende Generation, dem unumkehrbar gewordenen europäischen Einigungswerk jene Form und Funktion zu geben, die ihm zustehen. Im Übrigen sollte auch deutlich geworden sein, dass von einem „Ende der Nationalstaaten" sicher nicht die Rede sein kann. Zwar ist mit Blick auf die Veränderungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sicher richtig, dass auch sie in ihren rechtlichen

404

4. Erwartbare Entwicklung Voraussetzungen, institutionellen Ausprägungen und fast allen Politiken einer deutlichen Europäisierung unterliegen, doch bleibt nicht nur in historischer Sicht darauf zu verweisen, dass Bürgerrechte ihre moderne Ausprägung immer im Nationalstaat gewonnen haben und auch nicht abzusehen ist, dass sich dies nachhaltig verändern sollte. So weist Ralf Dahrendorf zu Recht darauf hin, dass es kein Zufall ist, wenn Länder, in denen moderne Bürgerrechte sich erst spät durchgesetzt haben, meist auch verspätete Nationen waren, während die ersten Nationen zugleich Vorreiter der Bürgerrechte wurden. Der moderne Nationalstaat stellt im Kern die Form dar, in der das nicht-feudale, auch anti-feudale Bürgertum seinen Platz finden konnte. Das Bürgertum brauchte die Nation, um Recht und Verfassung an die Stelle von überlieferten Bindungen und Gottesgnadentum zu setzen. Insoweit ist der Nationalstaat Quelle des Fortschritts auf dem Weg zu einer allgemeinen, das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Dies schließt nicht aus, dass dem Nationalstaat von Anfang an ein Janusgesicht beigegeben wurde. Er hat einerseits alte Standesgrenzen überwunden und andererseits durchaus neue Grenzen geschaffen. Noch heute schließt der Nationalstaat ebenso sehr aus wie ein. Doch bleibt auch unübersehbar, dass das Bündnis von Liberalismus und Nationalismus nicht nur während der revolutionären Jahrzehnte von 1789 bis 1849 eine Kraft der Emanzipation bildete. Bis heute hat niemand eine effektivere Garantie des Rechtsstaates, seiner Verfassung der kontrollierten Macht, seiner verlässlichen Verfahrensregeln und regelmäßigen Entscheidungskontrollen gefunden. Nicht der geringste Vorzug des Nationalstaates war es zudem, dass er es erlaubte, die Idee der Bürgerrechte zu verallgemeinern. Nicht von ungefähr daher auch der Versuch, in den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas den Nationalstaat wiederzubeleben und ihn als Rechts- und Sozialstaat auszuweisen. Empfiehlt sich gegenüber immer wiederkehrenden Thesen von einer Auflösung des Nationalstaates also eine gewisse Zurückhaltung, ist nicht zu übersehen, dass der Prozess der Europäisierung in allen Lebens- und Arbeitsbereichen voranschreitet. Dies macht es verständlich, die Erarbeitung einer Verfassung zu forcieren, die dem Integrationsprozess „Rahmen und Programm" bieten sollte. Allerdings wird dabei auch deutlich, wie unterschiedlich die Reaktionen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten ausfallen. Während man in Deutschland bereit war, die Verfassungsdiskussion nachdrücklich voran zu treiben, ist die Zurückhaltung in Großbritannien, Spanien und zahlreichen kleineren EU-Mitgliedstaaten unübersehbar. Auch überforderte man wohl die Beitrittskandidaten Mittel- und Osteuropas, nötigte man ihnen Verzichte ab, die ihre Bemühungen um eine Stabilisierung des politischen wie wirtschaftlichen Systems konterkarieren könnten.

4. Erwartbare Entwicklungen Stehen Staat und Politik angesichts der dreifachen Herausforderung von Vereinigung, Europäisierung und Modernisierung somit vor beträchtlichen Anpassungsproblemen, ergeben sich auch mit Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung Irritationen. Während im Westen Deutschlands die Entwicklung des Sozialstaats ein Anspruchsdenken befördert hat, das Gewöhnungen und Entsolidarisierungsprozesse mit sich brachte, ist im Osten des Landes noch immer ein Forderungsverhalten erkennbar, das durch Nachholbedürfnisse nicht mehr ausreichend zu erklären ist. So zählt es zu den Kennzeichen einer kritischen Öffentlichkeit, dass sie schnell bereit ist, Übergangsprobleme zu gleichsam existenzbedrohenden „Krisen" zu erklären, die dafür Verantwortlichen primär im öffentlichen Bereich zu suchen und sich selbst von jenen Anpassungsleistungen auszunehmen, die man anderen gesellschaftlichen 405

VII. Das deutsche Regierungssystem zwischen Vereinigung und Europäisierung Gruppen abverlangt. Der Schock im Westen Deutschlands, nach jahrzehntelanger Gewöhnung an eindrucksvolle Wachstumsraten und ein im internationalen Vergleich ungewöhnliches Wohlstandsniveau jetzt auch Einbußen und Opfer hinnehmen zu müssen, hat das gesellschaftliche Klima beeinträchtigt, während sich im Osten des Landes wenig von der Geduld zeigt, die man braucht, um ein dem Westen vergleichbares Niveau zu erreichen. Dies führt zu Reaktionen, die die Stabilität des Gemeinwesens beeinträchtigen, erhöht die Gefahr von Polarisierungen und führt extremen Positionen gelegentlich eine unverhoffte Aufmerksamkeit zu; der inzwischen zu verzeichnende auch internationale Ansehensverlust tritt hinzu. Dass damit eine weitgehende Verunsicherung der deutschen Gesellschaft, ein deutlicher Vertrauensentzug gegenüber Staat und Politik und in Teilen auch delegitimatorische Prozesse verbunden sind (etwa durch die wachsende Zahl der NichtWähler), verweist nicht zuletzt darauf, dass die öffentlichen Einrichtungen und die in ihnen handelnden Akteure die Aufgabe der kontinuierlichen Erneuerung vernachlässigt haben. So kam es zu selbstgefälligen Haltungen von Bundes- wie Landesregierungen, richteten sich die Parteien in ihrer den Staat nicht nur tragenden, sondern ihn in Teilen durchaus usurpierenden Rolle ein, wurde es versäumt, die Verwaltung und den öffentlichen Dienst neuzeitlichen Anforderungen anzupassen; schließlich blieben auch die in zahlreichen Skandalen zum Ausdruck kommenden Warnsignale überhört, wurde die sinkende ökonomische Leistungskraft als Übergangsproblem verstanden und befand man sich mit Blick auf Europa in der Rolle des konzeptionslos Zustimmenden. All dies mag erklären, warum sich nun Kompetenzprobleme unerwarteten Ausmaßes stellen. Sie wiederum führen zu wechselseitigen Projektionen, die sich aufaddieren und funktionalen Erwägungen, die auf einer nüchternen Einschätzung der Probleme gründen, nicht eben Priorität einräumen. So geht es gelegentlich gegen jeden und alle: die Verfassungsorgane, die Vertreter des politischen Prozesses, das Management, die Verbandsvertreter, die Hochschullehrer. Dabei ist bemerkenswert, wie wenig Selbstkritisches die Diskussion prägt und wie deutlich die Abwehr dominiert. Darf man hinzufügen, dass dies Reaktionen verwöhnter Eliten sind, die es nicht mehr gewohnt sind, Kritik zu ertragen oder sie gar in verändertes Verhalten umzusetzen? Nicht der Staat ist dabei das Problem, sondern die in ihm Handelnden. So erweist sich das Gemeinwesen als in weiten Teilen überfordert, Ansprüchen ausgesetzt, die überdacht werden sollten. Sich dessen bewusst zu werden, die strukturellen Vorteile von Staat und Gesellschaft in Erinnerung zu rufen und damit zu einer pragmatischen Einschätzung der gegenwärtigen Übergangsprobleme beizutragen, wäre einige Anstrengungen wert. Dabei ist auch deutlich zu machen, dass die Potenziale für ein selbstbewusstes und aktives Handeln innerhalb der deutschen Gesellschaft nicht versiegt, die gelegentlich erkennbaren larmoyanten Haltungen kein nationales Charakteristikum geworden sind. Treten zum Überdruss und zur Flucht in das Private eine gewisse Reformmüdigkeit, eine sinkende Professionalität der öffentlichen Einrichtungen und eine abnehmende politische Beteiligung, droht schließlich die Vernachlässigung der eigenen Handlungsgrundlagen. Deshalb geht es vor allem darum, Staat und Politik auf das zu konzentrieren (und in Teilen auch zurückzuführen), was notwendig und machbar ist. Die durch Vereinigung und Europäisierung veränderte Ausgangssituation eröffnet hier ungewöhnliche Handlungsmöglichkeiten und verstärkt den Zwang, sich der eigenen Grundlagen zu vergewissern, den Aufgabenbestand zu überprüfen und politische Einrichtungen wie Verfahren den neuen Gegebenheiten anzupassen. Folgt man dem nicht, droht das politische System der Bundesrepublik im internationalen Vergleich weiter zurückzufallen, könnten alternative Formen des gesellschaftlichen Miteinanders an Bedeutung gewinnen. Sie würden am Verlust gesellschaftlicher

406

4. Erwartbare Entwicklung Solidarität, immer deutlicher werdenden Egoismen und wachsenden Verteilungskämpfen ansetzen. Die „Gefahrdung" des in sich stabilen Regierungssystems droht also auf unterschiedlichen Ebenen.

407

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands1 A. Deutschland 1945 bis 1949 1945 08.05.45

Bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte.

23.05.45

Mit der Verhaftung der Regierung Dönitz in Flensburg durch die Engländer endet jede deutsche Zentralgewalt.

05.06.45

Die Alliierten übernehmen die „oberste Regierungsgewalt" in Deutschland. Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen. Berlin wird in Sektoren aufgeteilt.

10.06.45

Die Sowjetische Militäradministration erlaubt die Gründung antifaschistischer Parteien und freier Gewerkschaften in der SBZ.

11.06.45 bis 05.07.45

Gründung von KPD, SPD, C D U und L D P D in Berlin und Köln.

01.07.45 bis 04.07.45

Die von den britischen und amerikanischen Truppen geräumten Gebiete (Sachsen, Thüringen, Mecklenburg) werden von sowjetischen Truppen besetzt; Einrücken der Westalliierten in den Berliner Westsektoren.

09.07.45

Die Sowjetische Militäradministration verfügt die Bildung von fünf Ländern in der SBZ.

14.07.45

Gründung des Blocks der antifaschistischen Parteien (KPD, SPD, CDU, LDPD) in der SBZ.

17.07.45 bis 02.08.45

Drei-Mächte-Konferenz von Potsdam. USA, UdSSR und Großbritannien einigen sich auf wirtschaftliche und politische Grundsätze zur Behandlung Deutschlands. Rat der Außenminister soll friedensvertragliche Regelung vorbereiten.

08.08.45

Londoner Vier-Mächte-Abkommen über die Strafverfolgung der Hauptkriegsverbrecher. Einsetzung des Internationalen Militärgerichtshofes.

27.08.45 bis 12.12.45

Zulassung von Parteien in den Westzonen, zunächst auf Kreisebene, später auf Länderebene.

30.08.45

Erste Sitzung des Alliierten Kontrollrates in Berlin; die französische Kommission übernimmt die Verwaltung des abgetrennten Saargebietes.

03.09.45 bis 11.09.45

Verordnungen der Verwaltungen der SBZ zur Durchführung einer Bodenreform: Grundbesitz über 100 ha wird enteignet.

10.09.45 bis 02.10.45

Erste Konferenz des Rates der Außenminister der Vier-Mächte in London.

19.09.45

Bildung der Länder Bayern, Württemberg-Baden und Groß-Hessen durch die amerikanische Militärregierung (am 23.01.47 Bremen als Enklave).

25.09.45

Demontage von Industriewerken in den Westzonen beginnt.

14.10.45

Der Alliierte Kontrollrat beschlagnahmt den I.G. Farben-Konzern.

1 Die Chronik endet am 30.06.2003. Alle deutschlandpolitischen Aktivitäten der beiden deutschen Staaten, sofern es sich nicht um explizite Initiativen der DDR handelt, sind aus Gründen der Übersichtlichkeit unter Bundesrepublik Deutschland aufgeführt.

409

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 18.10.45

In Berlin beginnt der Internationale Militärgerichtshof mit dem Prozess gegen 24 deutsche Hauptkriegsverbrecher (ab 20.11.45 in Nürnberg).

20.11.45

Der Alliierte Kontrollrat einigt sich auf die Ausweisung von 6,5 Mio. Deutschen aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen.

20.12.45 bis 21.12.45

Gemeinsame Konferenz des ZK der KPD und des Zentralausschusses der SPD zur Beratung der Vereinigung beider Parteien. Kurt Schumacher wendet sich gegen Verschmelzung.

22.12.45 und 26.12.45

Die britischen und französischen Administrationen geben die entschädigungslose Enteignung des Kohlebergbaus und die Beschlagnahme der Saargruben bekannt.

1946 20.01.46 und 27.01.46

Erste Kommunalwahlen in Gemeinden bis 20.000 Einwohner in der amerikanisehen Besatzungszone.

22.01.46

Konrad Adenauer wird zum Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone gewählt.

09.02.46 bis 11.02.46

Gründung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) in Berlin.

26.02.46 und 27.02.46

Sozialdemokratische Delegiertenkonferenz lehnt Verschmelzung von SPD und KPD für die US-Zone ab.

28.02.46 bis 01.03.46

Die Länderchefs der britischen und amerikanischen Zone treffen sich zum erstenmal in Bremen (Bremer Konferenz).

05.03.46

Die amerikanische Militärverwaltung überläßt per Gesetz die Entnazifizierung deutschen Instanzen.

07.03.46

Gründung der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Vorsitzender wird Erich Honecker.

01.04.46

Die deutschen Gerichte einschließlich der Oberlandesgerichte werden wiedereröffnet.

21.04.46 bis 22.04.46

Auf dem Gründungsparteitag der SED Zusammenschluss von SPD und KPD in der sowjetisch besetzten Zone.

25.04.46 bis 16.05.46

Dritte Konferenz des Rates der Außenminister in Paris. Vorschlag der USA über den Zusammenschluss der Besatzungszonen.

09.05.46 bis 11.05.46

Auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD in Hannover wird Kurt Schumacher zum Vorsitzenden gewählt.

30.06.46

Wahlen zu den verfassunggebenden Landesversammlungen in den Ländern der US-Zone.

18.07.46

Die Provinzen Nordrhein und Westfalen werden zu einem Land zusammengelegt.

28.07.46

Lediglich die Briten stimmen dem am 20.07.46 gemachten amerikanischen Vorschlag zum wirtschaftlichen Zusammenschlussschluss aller vier Besatzungszonen zu.

23.08.46

Die Provinz Schleswig-Holstein in der britischen Zone erhält auf Weisung der Administration Landesstatus.

410

Α. Deutschland 1945 bis 1949 30.08.46

Das Land Rheinland-Pfalz wird auf Anordnung der französischen Militärregierung gebildet.

05.09.46 bis 11.09.46

Britisch-amerikanische Vereinbarung über den Zusammenschlussschluss beider Zonen.

15.09.46

In der britischen und der französischen Zone finden die ersten Kommunalwahlen statt.

01.10.46

Verkündung der Urteile im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.

04.10.46 bis 05.10.46

Zweite Bremer Konferenz der deutschen Ministerpräsidenten, die jedoch auf die Vertreter der amerikanischen und der britischen Zone beschränkt bleibt. Vor Schläge an den Kontrollrat zur Bildung eines „Deutschen Länderrates" und eines „Deutschen Volksrates" aus Vertretern der Landtage.

20.10.46

Wahlen zu den Land- und Kreistagen der SBZ (SED 47,5%, C D U 24,6%, L D P D 24,5%) sowie Groß-Berlins (SPD 48,7%, C D U 22,9%, SED 19,8%, L D P D 9,3%).

01.11.46

In der britischen Zone wird durch Vereinigung von Braunschweig, Oldenburg, Hannover und Schaumburg-Lippe das Land Niedersachsen gebildet.

07.11.46 bis 08.11.46

Erste Konferenz deutscher Gewerkschaftsorganisationen aus allen vier Zonen.

24.11.46

Landtagswahl und Volksabstimmung über die Verfassung in Württemberg-Baden.

01.12.46

Landtagswahlen sowie Volksabstimmungen über die Verfassungen in Bayern und Groß-Hessen.

02.12.46

Im Washingtoner Abkommen beschließen die USA und Großbritannien die Zusammenlegung ihrer beiden Besatzungszonen.

22.12.46

Das Saarland wird in das französische Wirtschaftsgebiet einbezogen, die Landesgrenze wird Zollgrenze.

1947 01.01.47

Das Bizonen-Abkommen tritt in Kraft.

01.02.47 bis 03.02.47

Der Zonenausschuß der C D U in der britischen Zone verabschiedet das „Ahlener Programm".

25.02.47

Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 wird das Land Preußen formell aufgelöst.

20.04.47

Landtagswahlen in der britischen Zone.

22.04.47 bis 25.04.47

In Bielefeld findet der Gründungskongreß des D G B in der britischen Zone statt, auf dem Hans Böckler zum Vorsitzenden gewählt wird.

18.05.47

In der französischen Zone (mit Ausnahme des Saarlandes) finden Landtagswahlen und eine Volksabstimmung über die Verfassung statt.

30.05.47

Die Sowjetische Militäradministration verstaatlicht den Bergbau in der SBZ.

06.06.47 bis 09.06.47

Münchner Konferenz der Ministerpräsidenten aller deutschen Länder. Die Teilnehmer aus der SBZ reisen bereits vor Beginn wieder ab.

10.06.47

Einrichtung des Wirtschaftsrates der Bizone und Schaffung einer Zentralverwaltung für diese in Frankfurt.

411

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 27.06.47 bis 22.09.47

Erste A/ari'Aa//-Plan-Konferenz in Paris. 16 europäische Staaten gründen (unter Einbeziehung der Westzonen) das Komitee für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (CEEC). Die Sowjetunion lehnt die Teilnahme für sich und die anderen osteuropäischen Staaten ab.

05.10.47

Wahlen zum Landtag sowie zur verfassunggebenden Versammlung im Saarland.

08.11.47

Die saarländische Verfassung wird verabschiedet. Sie sieht den wirtschaftlichen Anschlussschluss an Frankreich sowie die politische Autonomie des Landes vor.

27.11.47

Im „Berliner Abkommen" wird eine Ausweitung von Volumen und Struktur des Handels zwischen Bizone und SBZ vereinbart.

06.12.47 bis 07.12.47

Auf Initiative der SED tritt in Berlin der „Deutsche Volkskongreß" zusammen, an dem auch Delegierte aus den Westzonen teilnehmen. Die C D U der SBZ lehnt eine Teilnahme ab, was am 20.12.47 zur Absetzung ihrer Vorsitzenden Kaiser und Lemmer durch die Sowjetische Militäradministration führt.

19.12.47

Der US-Kongress verabschiedet ein Gesetz über wirtschaftliche Zusammenarbeit als Grundlage für die Durchführung des Marshall-Plans.

1948 03.01.48

Einführung der französischen Währung im Saarland.

03.02.48

Wie schon im Januar kommt es wegen schlechter Ernährungslage in der Bizone zum Streik von etwa drei Millionen Arbeitnehmern.

05.02.48

Die deutsche Bizonenverwaltung wird neu geordnet: Verdoppelung der Mitglieder des Wirtschaftsrates, Errichtung eines Länderrats aus Vertretern der Länderregierungen. Gründung der Bank deutscher Länder.

23.02.48 bis 06.03.48

Auf der Sechs-Mächte-Konferenz in London empfehlen die drei Westalliierten und die Benelux-Staaten die Schaffung eines bundesstaatlichen Systems in Westdeutschland und dessen Einbeziehung in den Marshall-Plan.

02.03.48

Der Wirtschaftsrat der Bizone wählt ein neues Exekutivorgan, das mit ministeriellen Befugnissen ausgestattet ist. Ludwig Erhard wird Direktor der Wirtschaftsverwaltung.

09.03.48

Die am 14.06.47 gegründete Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) übernimmt die zentrale Lenkung und Leitung der Wirtschaft in der SBZ.

20.03.48

Aus Protest gegen die Empfehlungen der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz und die Gründung der (gegen die Politik der UdSSR gerichteten) „West-Union" verlässt der sowjetische Militärgouverneur Sokolowski den Alliierten Kontrollrat.

20.04.48 bis 02.06.48

Die zweite Phase der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz beschließt die Ermächtigung der westdeutschen Ministerpräsidenten zur Einberufung einer „Verfassunggebenden Versammlung".

20.06.48 bis 21.06.48

Währungsreform in den Westzonen. Einführung der D-Mark und Aufhebung von Preisbindung und Bewirtschaftung eines großen Teils der Waren.

21.06.48

Annahme des Zweijahrplans durch die DWK.

24.06.48

Die bereits ab 01.04.48 begonnenen Blockademaßnahmen der Sowjetischen Militäradministration gegen die Berliner Westsektoren werden als Reaktion auf die Währungsreform in den Westsektoren zu einer vollständigen Blockade der

412

Α. Deutschland 1945 bis 1949 Land- und Seewege für Personen- und Gütertransporte ausgeweitet. Die USA und Großbritannien reagieren am 26.06.48 mit einer großangelegten Luftbrücke und versorgen die Stadt durch Flugzeuge mit Lebensmitteln und Gütern. 24.06.48 bis 28.06.48

Währungsreform in der SBZ.

01.07.48

In Frankfurt werden die Empfehlungen der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz den westdeutschen Ministerpräsidenten übergeben („Frankfurter Dokumente"). Nach mehreren Konferenzen kommt es am 26.07.48 zu einer Einigung zwischen Ministerpräsidenten und Militärgouverneuren.

01.08.48

Die Bizone wird durch den Einschluss der französischen Besatzungszone zur Trizone erweitert.

05.08.48

Der Landtag von Nordrhein-Westfalen nimmt ein Gesetz über die Sozialisierung der Kohlewirtschaft an, das die englische Militärregierung einen Tag später suspendiert.

10.08.48 bis 23.08.48

Verfassungskonvent in Herrenchiemsee zur vorbereitenden Beratung des Grundgesetzes.

15.08.48 bis 30.08.48

Wahl der Delegierten für den Parlamentarischen Rat in den Landtagen.

01.09.48

Konstituierung des Parlamentarischen Rates in Bonn. Auflösung des Zonenbeirates in der britischen, des Länderrates in der amerikanischen Zone.

15.09.48

Wahl Konrad Adenauers zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates. Einsetzung eines Hauptausschusses unter dem Vorsitz von Carlo Schmid.

20.11.48

Neun Millionen Arbeitnehmer beteiligen sich an einem Generalstreik gegen steigende Preise und für eine demokratische Struktur der Wirtschaft, den die Gewerkschaften der Bizone ausgerufen haben.

21.11.48

Memorandum der Westalliierten bezüglich der Forderung nach einer föderativen Struktur des westdeutschen Staates an den Parlamentarischen Rat.

26.11.48

Die Betriebsräte in der SBZ werden den Betriebsgewerkschaftsleitungen angeschlossen und damit aufgelöst.

30.11.48

Die SED-Stadtverordneten Berlins bilden einen eigenen Magistrat Ost-Berlins. Die Spaltung Berlins ist vollzogen.

11.12.48 bis 12.12.48

Die liberalen Parteien der Westzonen schließen sich in Heppenheim zur F D P unter Führung von Theodor Heuss zusammen.

21.12.48

Die Drei-Mächte-Kommandatur in West-Berlin konstituiert sich.

1949 24.01.49

Gemeinsamer Ausschuss aus Vertretern des Parlamentarischen Rates und der Ministerpräsidenten wird konstituiert, der politische und Verwaltungsaufgaben bis zur Bildung der ersten Bundesregierung in Westdeutschland koordiniert.

25.01.49 bis 28.01.49

1. Parteikonferenz der SED. Die SED erkennt die Sowjetunion als Vorbild an.

08.03.49 bis 10.03.49

Der Parlamentarische Rat verhandelt mit den alliierten Verbindungsoffizieren über den Entwurf des Grundgesetzes.

413

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 19.03.49

Der Deutsche Volksrat billigt die Verfassung für eine „Deutsche Demokratische Republik".

04.04.49

Gründung der NATO durch die drei Westmächte, die Benelux-Staaten, Dänemark, Norwegen, Island, Italien, Kanada und Portugal.

09.04.49

Der Frankfurter Wirtschaftsrat stellt durch die Einführung des Tarifvertragsgesetzes die Tarifautonomie wieder her.

25.04.49

Einigung zwischen den Militärgouverneuren und Delegierten des Parlamentarischen Rates über den Entwurf des Grundgesetzes.

04.05.49

Einigung der Westalliierten mit der Sowjetunion in New York, am 12.05.49 die Blockade gegen West-Berlin aufzuheben (Jessup-Malik-Abkommen).

B. Deutsche Demokratische Republik 1949 bis 1990 1949 15.05.49 bis 16.05.49

Wahlen für den 3. Deutschen Volkskongress auf Einheitslisten. Wahlbeteiligung 95,2 Prozent, davon 66,1 Prozent für die Kandidaten.

29.05.49 bis 03.06.49

Der 3. Deutsche Volkskongress nimmt die Verfassung an.

07.10.49

Gründung der Deutschen Demokratischen Republik und Inkraftsetzung der Verfassung.

10.10.49

Übertragung der Verwaltungsfunktionen an die Provisorische Regierung der DDR. Die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) tritt an Stelle der Sowjetischen Militäradministration.

11.10.49

Wilhelm Pieck wird erster Präsident der DDR.

12.10.49

Die Volkskammer bestätigt die aus Vertretern von SED, LDP, CDU, NDP und DBD bestehende Provisorische Regierung der DDR unter Ministerpräsident Otto Grotewohl.

15.10.49

Zwischen der DDR und der UdSSR werden diplomatische Vertreter ausgetauscht. Die DDR wird in den folgenden Monaten von Bulgarien, der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Rumänien, China, Albanien und Nordkorea anerkannt.

1950 08.02.50

Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit.

06.07.50

Polen und die DDR erklären die Oder-Neiße-Linie zur endgültigen deutschpolnischen Grenze. Der Bundestag legt dagegen am 13.07.50 Einspruch ein.

25.07.50

Die erste Tagung des ZK der SED wählt Walter Ulbricht zum Generalsekretär der Partei.

29.09.50

Aufnahme der DDR in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW).

15.10.50

Bei Wahlen zu Volkskammer, Landtagen, Kreistagen und Gemeindevertretungen nach Einheitslisten betragen die Ja-Stimmen 99,7 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 87,4 Prozent.

414

Β. Deutsche Demokratische Republik 1949 bis 1990 1951 27.09.51

Die D D R und die UdSSR schließen ein Handelsabkommen und ein Abkommen über technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit. Es folgen weitere langfristige Handelsabkommen mit anderen osteuropäischen Volksdemokratien.

01.11.51

Die Volkskammer verabschiedet das Gesetz über den Fünfjahresplan 1951 bis 1955 und über die Deutsche Notenbank.

1952 16.01.52

Die D D R verweigert einer UN-Kommission, die die Voraussetzungen für gesamtdeutsche Wahlen untersuchen sollte, die Einreise.

28.06.52

Die Regierung ordnet eine Erhöhung der Löhne und Gehälter für Facharbeiter und Angehörige der Intelligenz an.

09.07.52 bis 12.07.52

Die 2. Parteikonferenz der SED beschließt die „planmäßige Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der D D R " . Das Präsidium des Nationalrats der Nationalen Front sowie der Hauptvorstand der C D U begrüßen diesen Beschluss am 22.07.52.

23.07.52

Per Gesetz werden die fünf Länder der D D R aufgelöst und die Verwaltung in 14 Bezirke neugegliedert.

1953 28.05.53

Die Sowjetische Kontrollkommission in Deutschland wird aufgelöst. Wladimir Semjonow wird Hoher Kommissar der Sowjetunion in Deutschland.

28.05.53

Der Ministerrat beschließt die Erhöhung der Arbeitsnormen um 10 Prozent.

16.06.53

Streik Berliner Bauarbeiter sowie Proteste gegen die beschlossene Normerhöhung.

17.06.53

Volksaufstand in Ost-Berlin und der gesamten D D R , der von der sowjetischen Armee niedergeschlagen wird. Der Ausnahmezustand gilt bis zum 11.07.53.

21.06.53

Auf der 14. Tagung des ZK der SED wird der Volksaufstand als ein vom Westen initiierter „konterrevolutionärer faschistischer Putsch" dargestellt.

1954 01.01.54

Die Sowjetunion verzichtet auf weitere Reparationen aus der D D R .

25.03.54

Erklärung der Sowjetregierung über die Anerkennung der Souveränität der DDR.

17.10.54

Bei den Volkskammerwahlen stimmen 99,5 Prozent für die Einheitsliste.

1955 11.05.55 bis 14.05.55

Der Warschauer Pakt wird geschlossen. Die Teilnehmerstaaten (UdSSR, Albanien, Bulgarien, D D R , Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und Ungarn) einigen sich auf die Errichtung eines Vereinten Oberkommandos ihrer Streitkräfte.

415

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 18.08.55

Der Ministerrat beschließt eine Verordnung über die Bildung von Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH).

20.09.55

Nach Regierungsverhandlungen in Moskau wird die „volle Souveränität" der DDR bestätigt. Das Amt des sowjetischen Hohen Kommissars wird abgeschafft und ein Beistandspakt abgeschlossen.

1956 18.01.56

Die Volkskammer beschließt die Schaffung der Nationalen Volksarmee sowie des Ministeriums für Nationale Verteidigung.

17.07.56

Die UdSSR und die DDR treffen eine Vereinbarung über die Herabsetzung der Unterhaltskosten für die sowjetischen Streitkräfte in Deutschland um 50 Prozent sowie die Gewährung eines langfristigen Kredits an die DDR.

1957 15.10.57

Die DDR und Jugoslawien nehmen diplomatische Beziehungen auf.

16.10.57 bis 19.10.57

Das 33. ZK-Plenum der SED beschließt die vorrangige Entwicklung der Grundstofflndustrie sowie die verstärkte Kollektivierung der Landwirtschaft.

1958 28.05.58

Die Volkskammer beschließt die Abschaffung der Rationierung und die Einführung einheitlicher Preise für alle Lebensmittel sowie Erhöhungen von Löhnen, Gehältern und Renten.

07.07.58

Die UdSSR beschließt, ab 01.01.59 auf Stationierungskosten für ihre in der DDR stationierten Truppen zu verzichten.

10.07.58 bis 16.07.58

Der V. Parteitag der SED verkündet den Übergang zur „Vollendung des Sozialismus" und beschließt, den Lebensstandard der Bundesrepublik bis 1961 zu überholen.

1959 03.06.59

Die Volkskammer beschließt das Gesetz über die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG).

01.10.59

Die Volkskammer beschließt das Gesetz über den Siebenjahresplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft.

1960 10.02.60

Die Volkskammer beschließt die Bildung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Vorsitzender ist Walter Ulbricht.

07.09.60

Der Staatspräsident der DDR, Wilhelm Pieck, stirbt. Am 12.09.60 wird der Staatsrat als kollektives Leitungsorgan gebildet und Ulbricht zum Vorsitzenden ernannt.

08.09.60

Genehmigungspflicht für Einreisen von Bundesbürgern nach Ost-Berlin.

416

Β. Deutsche Demokratische Republik 1949 bis 1990 1961 16.03.61 bis 19.03.61

Das 12. ZK-Plenum der SED berät über den Ausweg aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der D D R .

12.04.61

Die Volkskammer beschließt das Gesetzbuch der Arbeit, das sämtliche arbeitsrechtlichen Vorschriften zusammenfasst.

30.05.61

Die D D R erhält von der UdSSR einen Kredit über 2 Milliarden Mark sowie technische Ausrüstung und Lebensmittel.

03.07.61 bis 04.07.61

Das 13. ZK-Plenum der SED empfiehlt die Bildung einer Staatlichen Plankommission und eines Volkswirtschaftsrates.

1962 24.01.62

Die Volkskammer verabschiedet das Gesetz zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht.

03.10.62 bis 05.10.62

Das 17. ZK-Plenum der SED berät und verabschiedet den Entwurf eines neuen Parteiprogramms. Er wird am 23.11.62 veröffentlicht.

1963 12.01.63

Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der D D R und Kuba.

15.01.63

Der VI. Parteitag der SED verabschiedet das erste Parteiprogramm sowie ein neues Parteistatut.

24.06.63 bis 25.06.63

Wirtschaftskonferenz des Z K der SED sowie des Ministerrates über die „Richtlinie für das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖSPL).

15.07.63

Die Richtlinie des Staatsrates über das Neue Ökonomische System bildet die Grundlage für eine Wirtschaftsreform.

1964 01.04.64

Die erste Etappe der Industriepreisreform tritt in Kraft.

12.06.64

Unterzeichnung des Vertrages über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der D D R und der UdSSR in Moskau.

01.09.64

Die Volkskammer beschließt ein Gesetz über die Nichtverjährung von Naziund Kriegsverbrechen.

24.09.64

N a c h d e m T o d v o n Otto Grotewohl

w i r d Willi Stoph v o n d e r V o l k s k a m m e r z u m

Vorsitzenden des Ministerrates gewählt. 25.11.64

Die DDR-Regierung führt ab 01.12.64 den Zwangsumtausch von DM-Beträgen in Ostmark für Reisende aus West-Berlin, der Bundesrepublik und allen nichtsozialistischen Ländern fest.

1965 25.02.65

Die Volkskammer verabschiedet das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem und das Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft.

417

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 15.12.65 bis 18.12.65

Das 11. ZK-Plenum der SED beschließt die zweite Etappe des „Neuen Ökonomischen Systems".

22.12.65

Der Ministerrat beschließt die Auflösung des Volkswirtschaftsrates sowie die Errichtung von neun neuen Industrie-Ministerien.

1966 28.02.66

Der Staatsrat beantragt die Mitgliedschaft der DDR bei den Vereinten Nationen. Der Antrag wird jedoch wegen eines Einspruchs der Westmächte nicht behandelt.

23.11.66

Die Volkskammer beschließt die zweite Änderung und Ergänzung des Arbeitsgesetzbuches.

1967 20.02.67

Die Volkskammer verabschiedet das „Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR".

15.03.67

Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der DDR und Polen. Es kommt im Lauf des Jahres zu ähnlichen Verträgen mit der CSSR (17.03.67), Ungarn (18.05.67) und Bulgarien (07.09.67).

17.04.67 bis 22.04.67

Der VII. Parteitag der SED proklamiert das „entwickelte System des Sozialismus" und das „ökonomische System des Sozialismus" als zweite Etappe der Wirtschaftsreform.

1968 12.01.68

Die Volkskammer beschließt ein neues Strafgesetzbuch sowie eine neue Strafprozessordnung.

06.04.68

94,5 Prozent Zustimmung bei Volksabstimmung über die Annahme der neuen „sozialistischen Verfassung" der DDR.

11.06.68

Für Transitreisen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik führt die DDR Pass- und Visapflicht ein.

20.08.68

Truppen der NVA beteiligen sich am Einmarsch in die CSSR. Das ZK der SED rechtfertigt dies in einem „Aufruf an alle Bürger der DDR".

1969 08.05.69

Kambodscha nimmt als erstes nicht-kommunistisches Land volle diplomatische Beziehungen zur DDR auf.

29.09.69

Die DDR unterzeichnet den Atomwaffensperrvertrag.

17.12.69

Die Volkskammer beauftragt Staats- und Ministerrat, Maßnahmen zu ergreifen, um mit der Bundesrepublik völkerrechtlich gesicherte Beziehungen auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz zu unterhalten.

1970 19.01.70

418

Ulbricht nennt die völkerrechtliche Anerkennung der DDR als Voraussetzung für Gewaltverzichtserklärungen zwischen beiden deutschen Staaten.

Β. Deutsche Demokratische Republik 1949 bis 1990 20.05.70

Die D D R und Algerien vereinbaren die Aufnahme diplomatischer Beziehungen.

09.12.70 bis 11.12.70

Das 14. ZK-Plenum der SED beschließt einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. Resultat ist eine Rezentralisierung der Entscheidungen und eine Verstärkung der staatlichen Lenkung.

1971 16.03.71

Die D D R und Chile nehmen diplomatische Beziehungen auf.

03.05.71

Walter Ulbricht tritt vom Amt des Ersten Sekretärs des Z K der SED zurück. Erich Honecker wird zu seinem Nachfolger gewählt.

1972 01.01.72

Pass- und Visapflicht im Reiseverkehr zwischen D D R und Polen entfallen (am 15.01.72 ebenso im Verkehr mit der CSSR).

27.04.72

Das 5. ZK-Plenum der SED beschließt sozialpolitische Maßnahmen, u. a. die Erhöhung der Mindestrenten sowie partielle Mietpreissenkungen für Neubauwohnungen.

06.09.72

Finnland und die D D R nehmen diplomatische Beziehungen auf.

08.10.72

Die D D R und Indien nehmen diplomatische Beziehungen auf.

07.12.72 bis 28.12.72

Die D D R nimmt zu 20 weiteren Staaten (u.a. Österreich, Schweiz, Schweden) diplomatische Beziehungen auf. Nun erkennen 58 Staaten die D D R an.

1973 05.01.73 bis 22.01.73

13 weitere Staaten (darunter Spanien, Italien und die Niederlande) nehmen diplomatische Beziehungen zur D D R auf.

09.02.73

Großbritannien und Frankreich nehmen diplomatische Beziehungen zur D D R auf.

05.03.73 bis 07.03.73

Korrespondenten von A R D und Z D F sowie mehrerer Zeitungen aus der Bundesrepublik werden in der D D R akkreditiert.

08.03.73

Die D D R lehnt Wiedergutmachungszahlungen an Israel in jeder Form ab.

01.08.73

Der Staatsratsvorsitzende der D D R , 80 Jahren.

02.10.73

Das 10. ZK-Plenum der SED beschließt personelle Veränderungen in der Parteiführung und die Vorlage eines Wohnungsbauprogramms 1976 bis 1990.

03.10.73

Die Volkskammer wählt Willi Stoph zum neuen Staatsratsvorsitzenden und Horst Sindermann zum neuen Vorsitzenden des Ministerrates.

Walter

Ulbricht,

stirbt im Alter von

1974 30.04.74

Beschlüsse von Politbüro, Ministerrat und F D G B über weitere sozialpolitische Maßnahmen, u.a. die Erhöhung des jährlichen Mindesturlaubs.

04.09.74

Die D D R und die USA nehmen diplomatische Beziehungen auf.

419

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 12.12.74

Unterzeichnung des Abkommens über die Fortführung des zinslosen Überziehungskredits („Swing") im innerdeutschen Handel für den Zeitraum 1976 bis 1981.

1975 19.06.75

Die Volkskammer verabschiedet ein neues Zivilgesetzbuch, das das BGB ablöst. Es tritt am 01.01.76 in Kraft.

07.10.75

In Moskau wird ein neuer „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" zwischen der DDR und der UdSSR unterzeichnet.

16.12.75

Der in der DDR akkreditierte SPIEGEL-Korrespondent wird wegen „grober Verleumdung" der DDR ausgewiesen.

1976 01.04.76

Inkrafttreten eines Beschlusses, der die Befugnisse des Staatsrates zugunsten des Ministerrates einschränkt.

23.04.76

Der „Palast der Republik" wird in Ost-Berlin eröffnet. Er wird Sitz der Volkskammer.

18.05.76 bis 22.05.76

Der IX. Parteitag der SED beschließt ein neues Parteiprogramm sowie ein neues Parteistatut. Erich Honecker erhält den Titel „Generalsekretär".

27.05.76

ZK der SED, Ministerrat und Vorstand des FDGB beschließen neue sozialpolitische Maßnahmen, u.a. Erhöhungen der Mindestlöhne und -renten sowie Maßnahmen zur Förderung berufstätiger Mütter.

24.06.76

Die Volkskammer beschließt die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre und die Herabsetzung des aktiven und passiven Wahlrechts auf 18 Jahre.

29.10.76

Die Volkskammer wählt Erich Honecker zum Vorsitzenden des Staatrates und des Nationalen Verteidigungsrates, Willi Stoph zum Vorsitzenden des Ministerrates und Horst Sindermann zum Vorsitzenden der Volkskammer.

17.11.76

Während einer Konzertreise durch die Bundesrepublik wird der Liedermacher Wolf Biermann von der DDR ausgebürgert.

22.12.76

Dem ARD-Korrespondenten in der DDR wird von den Behörden die Akkreditierung entzogen.

1977 16.06.77

Die Volkskammer beschließt ein neues Arbeitsgesetzbuch der DDR.

07.10.77

Tumulte auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz fordern drei Todesopfer, darunter zwei Volkspolizisten.

1978 10.01.78

Das DDR-Außenministerium verfügt die Schließung des SPIEGEL-Büros in Ost-Berlin.

15.01.78 bis 16.01.78

Die DDR verweigert mehreren CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten die Einreise nach Ost-Berlin.

420

Β. Deutsche Demokratische Republik 1949 bis 1990 16.06.78

Der Staatssekretär für Kirchenfragen der D D R , Kurt Seigewasser, würdigt die Leistungen der Kirche für das Gesundheits- und Sozialwesen in der D D R .

13.10.78

Die Volkskammer verabschiedet ein neues Gesetz über die Landesverteidigung.

1979 14.04.79

Die D D R schränkt die Bewegungsfreiheit westlicher Journalisten ein. Interviews und Reportagen werden genehmigungspflichtig, Reisen außerhalb OstBerlins meldepflichtig.

14.05.79

Der Korrespondent des Z D F wird aus der D D R ausgewiesen.

28.06.79

Die Volkskammer beschließt das 3. Strafrechtsänderungsgesetz, das u.a. Verschärfungen des politischen Strafrechts beinhaltet.

28.09.79

Das Z K der SED, der Ministerrat und der F D G B beschließen eine Erhöhung der Renten und eine Erweiterung der Sozialleistungen zum 01.12.79.

11.10.79 bis 14.12.79

Bei einer Amnestie aus Anlass des 30. Jahrestages der D D R werden knapp 22.000 Strafgefangene vorzeitig entlassen, unter ihnen Regimekritiker, die in die Bundesrepublik ausreisen.

1980 01.01.80

Die D D R wird für zwei Jahre nichtständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat.

30.01.80

Der für Februar/März vorgesehene Besuch von Bundeskanzler Schmidt in der D D R wird auf Wunsch der D D R verschoben.

03.07.80

Die Volkskammer beschließt das Gesetz zum Schutz des Kulturgutes der D D R .

22.08.80

Bundeskanzler Schmidt sagt das für Ende August geplante Treffen mit Honecker wegen der Entwicklungen in Polen ab.

13.10.80

In Gera hält Erich Honecker eine Rede, in der er Maximalforderungen für eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten aufstellt.

30.10.80

DDR-Bewohner benötigen ab sofort zu Besuchen in Polen eine Einladung ihrer polnischen Gastgeber; ebenso Polen, die die D D R besuchen wollen.

1981 11.04.81 bis 16.04.81

Der X. Parteitag der SED faßt Beschlüsse zur Modernisierung der Wirtschaft durch „Intensivierung" sowie zur Förderung der Mikroelektronik.

28.08.81

Generalsekretär Honecker führt Gespräche mit Repräsentanten der Kirchen in der D D R .

1982 14.02.82

Friedensforum in der Kreuzkirche in Dresden mit ca. 5000 meist jugendlichen Teilnehmern.

02.12.82

Der Staatsminister beim Bundeskanzler, Philipp Jenninger (CDU) und D D R Außenminister Fischer vereinbaren die Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein Kulturabkommen.

421

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 1983 18.04.83

Politbüromitglied Günter Mittag konferiert in Bonn mit führenden Vertretern von CDU, FDP und SPD sowie Repräsentanten der bundesdeutschen Industrie über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden deutschen Staaten.

28.04.83

Erich Honecker sagt seinen vorgesehenen offiziellen Besuch in der Bundesrepublik ab.

01.09.83

Die Volkspolizei löst in Ost-Berlin „Mahnwachen" der DDR-Friedensbewegung auf.

28.09.83

Die DDR beginnt mit dem Abbau von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze. Erich Honecker kündigt am 05.10.83 in einem Interview ihren vollständigen Abbau an.

1984 06.04.84

35 DDR-Bürger, die sich fünf Wochen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag aufgehalten haben, kehren nach Zusicherung baldiger Ausreise in die DDR zurück.

17.05.84

Das ZK der SED, der Ministerrat und der FDGB-Vorstand beschließen Rentenerhöhungen sowie Verbesserungen der sozialpolitischen Leistungen für Familien mit drei und mehr Kindern.

05.07.84

55 DDR-Bürger, die sich mehrere Wochen lang in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin aufgehalten haben, um ihre Ausreise zu erzwingen, verlassen diese, nachdem ihnen eine wohlwollende Prüfung ihrer Anträge zugesichert wurde.

25.07.84

Die Bundesregierung bürgt für einen 950-Millionen-DM-Kredit an die DDR. Im Gegenzug senkt die DDR den Mindestumtauschsatz für Rentner.

04.09.84

Erich Honecker sagt seinen für Ende September geplanten offiziellen Besuch in der Bundesrepublik ab.

30.11.84

Die DDR hat den Abbau von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze beendet.

1985 15.01.85

Die letzten der insgesamt 168 DDR-Bürger, die sich seit 02.10.84 in der Prager Botschaft der Bundesrepublik aufgehalten haben, kehren in die DDR zurück, nachdem ihnen Straffreiheit und die Bearbeitung ihrer Ausreiseanträge zugesichert worden ist.

25.06.85 bis 27.06.85

Die 40. Tagung des RGW in Warschau schlägt die Aufnahme von Beziehungen zwischen dem RGW und der EG vor.

01.12.85

Erneute Rentenerhöhungen für Alters- und Invalidenrentner beschlossen.

1986 23.04.86

422

Das ZK der SED, der Ministerrat und der FDGB-Vorstand veröffentlichen einen Beschluss zur weiteren Verbesserung sozialpolitischer Leistungen für Familien mit Kindern und junge Ehepaare.

Β. Deutsche Demokratische Republik 1949 bis 1990 26.06.86

Ein Appell der unabhängigen Friedens- und Ökologiebewegung fordert eine Änderung der Energie-, Wirtschafts- und Informationspolitik der D D R .

01.09.86

Erich Honecker empfängt eine Delegation der „Friedensbewegung der D D R " .

18.09.86

Die D D R verschärft nach Protesten der Bundesregierung die Transitbestimmungen, um die Zahl der über Ost-Berlin in die Bundesrepublik einreisenden Asylbewerber einzudämmen.

1987 05.02.87

Der Leiter der „Hauptverwaltung Aufklärung" im Ministerium für Staatssicherheit, Markus Wolf, scheidet auf eigenen Wunsch aus dem aktiven Dienst aus.

01.04.87 bis 02.04.87

Politbüromitglied Günter Mittag führt in Bonn Gespräche mit Bundeskanzler Kohl, Wirtschaftsminister Bangemann, dem bayerischen Ministerpräsidenten Strauß und SPD-Oppositionsführer Vogel.

08.04.87

In einem Interview distanziert sich SED-Chefideologe Kurt Hager von den Reformplänen des KPdSU-Generalsekretärs Gorbatschow.

07.06.87

In Ost-Berlin kommt es in der Nähe des Brandenburger Tores zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Jugendlichen, die ein Rockkonzert am Reichstag hatten verfolgen wollen. Am 09.06.87 demonstrieren 3.000 Menschen Unter den Linden für den Abriss der Mauer.

17.07.87

Der Staatsrat der D D R beschließt mit sofortiger Wirkung die Abschaffung der Todesstrafe.

12.10.87

Bei einer Amnestie anläßlich des 38. Jahrestages der D D R werden über 24.000 Strafgefangene vorzeitig entlassen.

25.11.87

Der Staatssicherheitsdienst und die Staatsanwaltschaft durchsuchen die Räume der Ost-Berliner Zionsgemeinde und beschlagnahmen Material der „Umweltbibliothek". Mehrere Mitglieder unabhängiger Friedens- und Umweltgruppen werden festgenommen.

1988 17.01.88

Am 69. Todestag von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verhaftet der Staatssicherheitsdienst etwa 120 Mitglieder von Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die sich mit eigenen Spruchbändern der offiziellen Demonstration angeschlossen haben. Etwa 50 von ihnen werden in die Bundesrepublik abgeschoben.

03.03.88

Zehn Jahre nach der ersten Spitzenbegegnung kommt es zu einem erneuten Treffen zwischen dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der D D R , Werner Leich.

15.08.88

Die D D R und die Kommission der E G nehmen diplomatische Beziehungen auf.

18.11.88

Die deutsche Ausgabe der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik" wird in der D D R verboten. 423

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 1989 11.01.89

20 ausreisewillige DDR-Bürger verlassen die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, nachdem ihnen Straffreiheit und Überprüfung ihrer Ausreiseanträge zugesichert worden sind.

12.03.89

In Leipzig demonstrieren 600 Ausreisewillige.

01.04.89

Die neue Reiseverordnung der DDR tritt in Kraft und erweitert den Kreis der Antragsberechtigten für Westreisen sowie die Reisemöglichkeiten.

07.05.89

Nach den Kommunalwahlen in der DDR mit angeblicher Zustimmung von 98,85 Prozent für die Einheitsliste erheben Opposition und Kirche den Vorwurf der Wahlfälschung.

08.06.89

Die DDR-Volkskammer unterstützt in einer einstimmig angenommenen Erklärung das Massaker vom 04.06.89 auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens.

19.08.89

661 DDR-Bürger flüchten anlässlich des „Paneuropäischen Picknicks" von Ungarn in den Westen.

02.09.89

Mehr als 3.500 ausreisewillige DDR-Bürger befinden sich in ungarischen Auffanglagern.

21.09.89

Das DDR-Innenministerium lehnt den Antrag des am 11.09.89 gegründeten „Neuen Forum" auf Zulassung als politische Vereinigung ab.

02.10.89

Die Volkspolizei in Leipzig beendet mit Gewalt die mit 20.000 Teilnehmern bisher größte Demonstration für Demokratie in der DDR.

06.10.89

Die DDR begeht mit Festveranstaltungen den 40. Jahrestag ihrer Gründung. Bei Demonstrationen werden über 1.000 Bürger festgenommen. Am selben Tag wird die „Sozialdemokratische Partei der DDR" (SDP) gegründet.

09.10.89

70.000 Menschen demonstrieren in Leipzig für die demokratische Erneuerung des Landes. Die Sicherheitskräfte halten sich erstmals zurück.

18.10.89

Beim 9. ZK-Plenum der SED wird Erich Honecker „auf eigenen Wunsch" von allen Amtern entbunden. Egon Krenz wird neuer Generalsekretär der SED und am 24.10.89 von der Volkskammer zum neuen Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates gewählt.

04.11.89

Eine Million Menschen demonstrieren in Ost-Berlin für Demokratie in der DDR.

07.11.89

Ministerpräsident Willi Stoph und die gesamte DDR-Regierung treten zurück.

13.11.89

Hans Modrow (SED) wird neuer DDR-Ministerpräsident. Er plädiert in seiner Regierungserklärung am 17.11.89 für eine weitreichende Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten.

01.12.89

Die Volkskammer streicht den Führungsanspruch der SED aus der DDR-Verfassung.

03.12.89

SED-Politbüro und Zentralkomitee treten geschlossen zurück. Erich Honecker und andere führende Parteimitglieder werden aus der SED ausgeschlossen.

07.12.89

In Ost-Berlin findet die erste Sitzung des „Runden Tisches" statt. Er beschließt die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und Volkskammerwahlen für Mai 1990.

424

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 15.12.89 bis 16.12.89

Auf dem Sonderparteitag der Ost-CDU wird Lothar de Maizière zum Vorsitzenden gewählt.

1990 15.01.90

In Leipzig demonstrieren 150.000 Menschen für die Wiedervereinigung. In OstBerlin stürmen Demonstranten die Zentrale des Staatssicherheitsdienstes.

20.01.90

In Leipzig wird die „Deutsche Soziale Union" (DSU) gegründet. Pfarrer HansWilhelm Ebeling wird ihr erster Vorsitzender.

25.01.90

Die DDR-Regierung beschließt die volle Gewerbefreiheit für Handwerks-, Handels- und Dienstleistungsbetriebe sowie eine Verordnung über die Gründung von „joint ventures".

28.01.90

Der „Runde Tisch" einigt sich mit Ministerpräsident Modrow auf den Eintritt von Oppositionsgruppen in eine „Regierung der nationalen Verantwortung". Am 05.02.90 werden acht oppositionelle Politiker von der Volkskammer als Minister ohne Geschäftsbereich in den Ministerrat gewählt.

12.03.90

Der „Runde Tisch" lehnt auf seiner letzten Sitzung die Übernahme des Grundgesetzes für die D D R ab.

18.03.90

Bei den Wahlen zur Volkskammer erzielt die konservative „Allianz für Deutschland" (CDU, DSU, DA) mit 48,2 Prozent einen deutlichen Sieg. Die SPD erhält 21,8 Prozent, die PDS 16,3 Prozent. Am 12.04.90 wird Lothar de Maizière (CDU) von der Volkskammer zum Ministerpräsidenten gewählt. Er steht einer Regierung aus CDU, DSU, DA, BFD, DFP, F D P und SPD vor.

19.08.90

Die SPD verlässt die Koalition, wodurch Ministerpräsident de Maizière die Regierungsmehrheit verliert.

22.08.90

Die Volkskammer beschließt nach langer Debatte den Beitritt zur Bundesrepublik nach Art. 23 G G zum 03.10.90.

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 1949 08.05.49

Der Parlamentarische Rat nimmt in dritter Lesung das Grundgesetz an.

18.05.49 bis 20.05.49

Die Landtage aller westdeutschen Länder (mit Ausnahme Bayerns) billigen das Grundgesetz.

23.05.49

Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Verkündung durch den Parlamentarischen Rat in Bonn tritt das Grundgesetz in Kraft.

14.08.49

Wahlen zum Ersten Bundestag (CDU/CSU 31%, SPD 29,2%, F D P 11,9%, K P D 5,7%, B P 4 , 2 % , D P 4 % ) .

12.09.49

Theodor Heuss wird von der Bundesversammlung zum ersten Bundespräsidenten gewählt.

15.09.49

Konrad Adenauer wird vom Bundestag zum ersten Bundeskanzler gewählt. Er stellt am 20.09.49 sein Kabinett vor, das auf einer Koalition von CDU/CSU, F D P und DP beruht.

425

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 21.09.49

Das Besatzungsstatut tritt in Kraft. Die drei Hohen Kommissare Poncet, Robertson und McCloy treten ihr Amt an.

28.09.49

Abwertung der DM um 20,7 Prozent gegenüber dem Dollar.

14.10.49

Gründungskongress des DGB.

21.10.49

Konrad Adenauer begründet in seiner Regierungserklärung den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik.

03.11.49

Entscheidung des Bundestages für Bonn als Sitz der Bundesorgane.

1950 01.02.50

Mehr als 2 Mio. Arbeitslose in der Bundesrepublik.

16.03.50

Churchill spricht sich als erster führender westlicher Politiker für einen deutschen Verteidigungsbeitrag aus.

21.03.50 bis 22.03.50

Der Deutsche Beamtenbund (DBB) wird gegründet.

28.03.50

Verabschiedung des Gesetzes über den sozialen Wohnungsbau durch den Bundestag.

31.03.50

Der Europarat lädt die Bundesrepublik und das Saarland zum Beitritt als assoziierte Mitglieder ein.

09.05.50

Der Plan des französischen Außenministers Schuman zur Bildung einer westeuropäischen Montan-Union (Schuman-Plan) wird in Paris und Bonn bekanntgegeben.

01.06.50

Das Gesetz der Alliierten Hohen Kommission zur Verhinderung einer deutschen Wiederaufrüstung tritt in Kraft.

08.07.50

Die Bundesrepublik wird assoziiertes Mitglied des Europarates.

04.08.50

West-Berlin erhält eine Verfassung als Land der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung alliierter Vorbehaltsrechte.

20.10.50 bis 22.10.50

Auf dem ersten gesamtdeutschen Parteitag der CDU in Goslar wird Konrad Adenauer zum Vorsitzenden gewählt.

1951 15.03.51

Wiedererrichtung des Auswärtigen Amtes und Übernahme des Außenressorts durch Bundeskanzler Adenauer.

10.04.51

Der Bundestag verabschiedet das Gesetz über die paritätische Mitbestimmung im Montanbereich und am 21.05.51 das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer.

18.04.51

Unterzeichnung des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in Paris.

20.09.51

Das Interzonenhandelsabkommen wird in Berlin unterzeichnet.

28.09.51

In Karlsruhe konstituiert sich das Bundesverfassungsgericht.

16.11.51

Die Bundesregierung beantragt beim Bundesverfassungsgericht das Verbot von SRP und KPD.

426

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 09.12.51

Die Bevölkerung Badens, Württemberg-Badens und Württemberg-Hohenzollerns entscheidet sich mit den erforderlichen Mehrheiten für die Bildung eines Südweststaates, die am 25.04.52 vollzogen wird.

1952 11.01.52

Ratifizierung des EGKS-Vertrages im Bundestag.

11.01.52

Ein neues Tarifvertragsgesetz kommt Forderungen der Gewerkschaften weitgehend entgegen (keine Friedenspflicht).

01.03.52

Rückgabe der Insel Helgoland unter deutsche Verwaltung.

10.03.52

Die U d S S R bietet in der „Stalin-Note" die Wiedervereinigung Deutschlands bei Neutralität an. Die Westmächte beharren in ihrer Antwort am 25.03.52 auf der D u r c h f ü h r u n g freier gesamtdeutscher Wahlen als Voraussetzung für Verhandlungen über einen Friedensvertrag.

01.05.52

Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.

26.05.52

Unterzeichnung des „Vertrags über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei M ä c h t e n " (Deutschlandvertrag) und der Zusatzverträge in Bonn.

27.05.52

Unterzeichnung des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in Paris.

19.07.52

Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes durch den Bundestag.

01.08.52

Wiederaufnahme der am 23.04.52 abgebrochenen deutsch-französischen Saargespräche.

02.08.52

Die Bundesrepublik tritt dem Internationalen Währungsfonds (IWF) bei.

01.09.52

Das Lastenausgleichsgesetz tritt in K r a f t .

10.09.52

Unterzeichnung des Wiedergutmachungsabkommens zwischen der Bundesrepublik u n d Israel.

19.09.52 bis 20.09.52

Eine Volkskammerabordnung wird von Bundestagspräsident Ehlers empfangen.

24.09.52 bis 28.09.52

Die SPD wählt auf ihrem Parteitag Erich Ollenhauer zum Nachfolger des am 20.08.52 verstorbenen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher.

23.10.52

Das Bundesverfassungsgericht verbietet die Sozialistische Reichspartei (SRP).

05.12.52

Der Bundestag stimmt den Westverträgen in zweiter Lesung zu.

1953 07.01.53

Die Außenhandelsbilanz 1952 schließt erstmals mit Überschüssen ab.

27.02.53

Unterzeichnung des L o n d o n e r Schuldenabkommens über die Regelung der deutschen Auslandsschulden zwischen der Bundesrepublik und 19 weiteren Staaten.

19.03.53

Verabschiedung der Ratifikationsgesetze für die Westverträge durch den Bundestag in dritter Lesung.

427

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 25.03.53

Der Bundestag verabschiedet das Bundesvertriebenengesetz, das die wirtschaftliche und soziale Eingliederung von Vertriebenen und Flüchtlingen regelt.

25.06.53

Der Bundestag verabschiedet das Wahlgesetz mit bundesweiter Fünfprozentklausel.

15.07.53

Die Westalliierten schlagen eine Vier-Mächte-Konferenz über Deutschland vor.

04.08.53

Der Bundestag erklärt den 17. Juni per Gesetz zum „Tag der deutschen Einheit".

06.09.53

Die Wahlen zum Zweiten Bundestag führen am 20.10.53 zur Bildung der zweiten Regierung Adenauer, die getragen wird von einer Koalition aus CDU/CSU, FDP, DP und BHE.

1954 25.01.54 bis 18.02.54

In Berlin tagt die Außenministerkonferenz der Vier Mächte zu Deutschland.

26.02.54

Der Bundestag billigt die „erste Wehrergänzung" des Grundgesetzes gegen die Stimmen der SPD.

05.03.54 bis 07.03.54

Auf dem Bundesparteitag der FDP wird Thomas Dehler zum Vorsitzenden gewählt.

17.07.54

Theodor Heuss wird von der Bundesversammlung erneut zum Bundespräsidenten gewählt.

30.08.54

Die französische Nationalversammlung lehnt den EVG-Vertrag ab.

28.09.54 bis 03.10.54

Die Londoner Neun-Mächte-Konferenz einigt sich in der „Londoner Akte" auf eine Neuregelung der Westintegration der Bundesrepublik nach dem Scheitern des EVG-Vertrages.

19.10.54 bis 23.10.54

Unterzeichnung der Pariser Verträge über den künftigen souveränen Status der Bundesrepublik, die Regelung der Saarfrage und den Beitritt zu den Militärbündnissen NATO und WEU.

24.12.54

Die französische Nationalversammlung billigt das französisch-deutsche Saarabkommen.

1955 25.01.55

Das Präsidium des Obersten Sowjet erklärt den Kriegszustand mit Deutschland für beendet.

17.02.55

„Düsseldorfer Abkommen" der Kultusminister der Länder zur Vereinheitlichung des Schulwesens.

27.02.55

Der Bundestag ratifiziert die Pariser Verträge.

01.05.55

Die deutschen diplomatischen Vertretungen in Washington, Paris und London werden in Botschaften umgewandelt.

05.05.55

Die Pariser Verträge treten in Kraft.

09.05.55

Die Bundesrepublik wird in die NATO aufgenommen.

428

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 01.06.55 bis 03.06.55

Auf der Konferenz von Messina setzen die Außenminister der Montanunion die Arbeit zur Bildung eines Gemeinsamen Marktes und einer Europäischen Atomgemeinschaft in Gang.

06.06.55

Heinrich von Brentano (CDU) wird Außenminister, Theodor Blank (CDU) wird Verteidigungsminister.

17.07.55 bis 23.07.55

Die Deutschland-Konferenz der Regierungschefs der vier Siegermächte in Genf endet ohne Resultate.

05.09.55

Das Landwirtschaftsgesetz verpflichtet die Bundesregierung zu einem jährlichen Bericht mit Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Landwirtschaft („Grüner Plan").

22.09.55 bis 23.09.55

Der Bundestag billigt die Ergebnisse der Moskauer Verhandlungen der Bundesregierung, die zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten führen.

22.09.55

In einer Note der Bundesregierung an die Westmächte wird erstmals die „Hallsrem-Doktrin" formuliert.

23.10.55

67,7 Prozent der Bevölkerung des Saarlandes lehnen das Saarstatut und damit die Europäisierung der Saar und den wirtschaftlichen Anschluss an Frankreich ab.

15.12.55

Das Finanzverfassungsgesetz wird vom Bundestag verabschiedet.

20.12.55

Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Italien über die Beschäftigung italienischer Arbeitnehmer.

1956 31.01.56

Der saarländische Landtag beschließt in einer Grundsatzerklärung die Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik.

06.03.56

Der Bundestag verabschiedet die „zweite Wehrergänzung" des Grundgesetzes und das Soldatengesetz.

04.06.56

Im Luxemburger Abkommen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik wird die Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik vereinbart (politisch zum 01.01.57, wirtschaftlich zum 01.01.60).

07.07.56

Der Bundestag verabschiedet das Wehrpflichtgesetz. Damit werden die allgemeine Wehrpflicht sowie das Recht auf Wehrdienstverweigerung eingeführt.

25.07.56

Das „Bremer Abkommen" zwischen IG Metall und Gesamtmetall führt die 5-Tage-Woche im Metallbereich ein.

17.08.56

Das Bundesverfassungsgericht verbietet die K P D mitsamt ihren Hilfs- und Nachfolgeorganisationen.

27.10.56

Unterzeichnung der Saarverträge, die am 14.12.56 vom Bundestag verabschiedet werden.

1957 01.01.57

Das Saarland wird 11. Bundesland der Bundesrepublik.

21.01.57

Der Bundestag verabschiedet mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD die Rentenreform, die die bruttolohnbezogene, dynamische Rente einführt.

429

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 25.03.57

In Rom werden die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft unterzeichnet.

18.06.57

Das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Bereich des bürgerlichen Rechts wird verkündet.

04.07.57

Der Bundestag verabschiedet das Kartellgesetz.

05.07.57

Der Bundestag verabschiedet das Ratifizierungsgesetz zu den EWG- und EURATOM-Verträgen.

26.07.57

Das Bundesbank-Gesetz begründet die Bundesbank als Nachfolgerin der Bank deutscher Länder.

15.09.57

Bei den Wahlen zum Dritten Bundestag erringt die CDU/CSU mit 50,2 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen. Es kommt am 29.10.57 zur Bildung einer Regierung aus CDU/CSU und DP.

01.10.57

Die Bundesrepublik wird Mitglied der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO).

03.10.57

Nach dem Tod von Otto Suhr wird Willy Brandt (SPD) zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt.

19.10.57

Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der DDR und Jugoslawien wendet die Bundesrepublik erstmals die „Hallstein-Doktrin" an und bricht die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien ab.

16.12.57 bis 19.12.57

Die Konferenz der Regierungschefs der NATO-Staaten beschließt u.a. die Lagerung von Mittelstreckenraketen und Atomsprengköpfen in Europa.

1958 01.01.58

Die Römischen Verträge über EWG und EURATOM treten in Kraft.

20.03.58

Debatte im Bundestag über Atombewaffnung und Deutschlandfrage. Entschließung zur Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen im Rahmen der NATO. In der Folge heftige öffentliche Auseinandersetzungen hierüber.

19.05.58 bis 23.05.58

Der Bundesparteitag der SPD bejaht die Landesverteidigung, lehnt aber Wehrpflicht und Atomwaffen ab.

30.07.58

Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung wird eine eigenständige Bundesbehörde.

30.09.58

Tiefster Stand der Arbeitslosigkeit seit der Währungsreform (1,7 Prozent).

27.11.58

Mit dem ChruschtschowAJ\ûm?Axim beginnt die zweite Berlin-Krise.

29.12.58

Das Europäische Währungsabkommen tritt in Kraft und löst die Europäische Zahlungsunion (EZU) ab. Zehn westeuropäische Währungen sind nun frei konvertibel.

1959 10.01.59

430

Die Sowjetunion fordert in Noten an die Bundesrepublik, die DDR und alle am Krieg gegen Deutschland beteiligten Staaten die Einberufung einer Friedenskonferenz.

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 14.02.59

Der Deutsche Ausschuss für Erziehungs- und Bildungswesen legt den „Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens" vor.

24.03.59

Mit der Ausgabe von Preußag-Aktien beginnt die Privatisierung von Teilen des Bundesvermögens.

07.04.59

Bundeskanzler Konrad Adenauer wird zum Kandidaten der C D U / C S U für das A m t des Bundespräsidenten nominiert. A m 05.06.59 verzichtet er auf die Kandidatur. Neuer Kandidat wird Bundesernährungsminister Heinrich Liibke (CDU).

11.05.59 bis 20.06.59

Deutschlandkonferenz der Außenminister der Vier Mächte in Genf, bei der die Bundesrepublik und die D D R als Beobachter teilnehmen.

01.07.59

Die Bundesversammlung wählt Heinrich präsidenten.

10.08.59

Der DGB-Vorsitzende Richter kündigt als nächstes Ziel der Gewerkschaften die Fünf-Tage-Woche mit vierzigstündiger Arbeitszeit an.

13.11.59 bis 15.11.59

Die S P D verabschiedet ihr „Godesberger Programm". Es dokumentiert ihre programmatische Abkehr von marxistischen Ideen und die Entwicklung zur „Volkspartei".

03.12.59

Der Grundgesetzänderung zur Atomgesetzgebung folgt am 18.12.59 die Verabschiedung des „Atomgesetzes" zur friedlichen N u t z u n g der Kernenergie.

28.12.59

In Köln wird das Bundesverwaltungsamt als Bundesbehörde errichtet.

Lübke

( C D U ) zum neuen Bundes-

1960 13.01.60

Die Bundesregierung verabschiedet den Notstandsgesetzentwurf, der eine langanhaltende öffentliche Debatte auslöst.

28.01.60

Auf dem FDP-Parteitag wird Erich Mende gewählt.

29.03.60

Die Anwerbung von Gastarbeitern wird mit Spanien und Griechenland vereinbart.

03.05.60

Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer erklärt seinen Rücktritt.

29.06.60

Der Bundestag billigt die Privatisierung des Volkswagenwerks.

30.06.60

In einer außenpolitischen Grundsatzrede vor dem Bundestag akzeptiert Herbert Wehner für die SPD die Westintegration und rückt vom Deutschland-Plan der SPD vom März 1959 ab.

08.07.60

Die I G Metall erreicht die Vereinbarung eines Drei-Stufen-Plans zur schrittweisen Einführung der 40-Stunden-Woche in der Metallindustrie bis 1965.

09.08.60

Der Bundestag verabschiedet das Jugendarbeitsschutzgesetz.

30.09.60

Die Bundesregierung kündigt wegen Beschränkungen im innerdeutschen Reiseverkehr das Interzonen-Handelsabkommen.

21.11.60 bis 25.11.60

Auf dem SPD-Parteitag wird Willy Brandt als Kanzlerkandidat nominiert.

29.12.60

Die Bundesregierung beschließt, 01.01.61 wieder in K r a f t zu setzen.

das

zum neuen Bundesvorsitzenden

Interzonen-Handelsabkommen

zum

431

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 1961 28.02.61

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die am 25.07.60 von Bundeskanzler Adenauer gegründete „Deutschland-Fernseh-GmbH" für verfassungswidrig.

06.03.61

Die D-Mark wird gegenüber dem US-Dollar um 4,75 Prozent aufgewertet (1$ = 4 DM).

18.03.61

Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß wird zum Vorsitzenden der CSU gewählt.

15.04.61

BHE und DP fusionieren zur Gesamtdeutschen Partei. Die Fusion wird jedoch am 30.10.61 wieder rückgängig gemacht.

28.04.61

Durch das Außenwirtschaftsgesetz wird die staatliche Devisenkontrolle außer Kraft gesetzt.

31.05.61

Der Bundestag verabschiedet Gesetze zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer (312 DM-Gesetz).

06.06.61

Unterzeichnung des Staatsvertrages über das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF).

30.06.61

Verkündung des Bundessozialhilfegesetzes, das das bisherige Fürsorgerecht ablöst.

13.08.61

Bau der Mauer zwischen Ost- und West-Berlin. Hermetische Abriegelung der Sektorengrenzen.

17.09.61

Bei den Wahlen zum Vierten Bundestag verliert die CDU/CSU die absolute Mehrheit. Am 02.11.61 kommt es zur Bildung einer Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Adenauer.

30.10.61

Vereinbarung mit der Türkei über die Anwerbung von Gastarbeitern.

1962 17.04.62

Die Außenministerkonferenz der EWG-Staaten kann sich in Paris nicht über den französischen Plan zur Bildung einer Europäischen Politischen Union einigen.

26.10.62

Beginn der „SPIEGEL-Affäre". Verhaftung des Herausgebers Rudolf Augstein und mehrerer Redakteure.

31.10.62

Der zweite Entwurf des Notstandsgesetzes scheitert im Bundestag an den Gegenstimmen der SPD.

07.11.62

Beginn einer sich mit Unterbrechungen über drei Tage erstreckenden Bundestagsdebatte über die „SPIEGEL-Affäre".

19.11.62

Die der FDP angehörenden Bundesminister verlassen aus Protest gegen das Verhalten von Bundesverteidigungsminister Strauß das Bundeskabinett.

27.11.62

Die CDU/CSU-Bundesminister stellen ihre Ämter zur Verfügung. In Bonn finden Verhandlungen über eine Große Koalition statt. Strauß verzichtet auf ein neuerliches Ministeramt.

13.12.62

Ein neues Kabinett Adenauer, beruhend auf einer Koalition aus CDU/CSU und FDP, wird vorgestellt; der Kanzler erklärt sich bereit, ein Jahr später zurückzutreten.

432

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 18.12.62

Die Bundesregierung verfügt ein Exportverbot für Stahlröhren in die Sowjetunion.

1963 14.01.63

Die Bundesregierung bricht die diplomatischen Beziehungen zu Kuba ab, weil die kubanische Regierung die D D R anerkennt.

22.01.63

Unterzeichnung des Vertrages über deutsch-französische (Elysée-Vertrag) in Paris.

07.03.63

Unterzeichnung des deutsch-polnischen Handelsabkommens sowie eines Vertrages zur Errichtung einer deutschen Handelsvertretung in Warschau.

23.04.63

Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard wird gegen den Widerstand Adenauers von der CDU/CSU-Fraktion zum Kanzlerkandidaten nominiert.

Zusammenarbeit

16.05.63

Ratifizierung des Elysée-Vertrages durch den Bundestag.

26.06.63

Der Bundestag verabschiedet einstimmig ein Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dieser konstituiert sich am 16.02.64.

15.07.63

Egon Bahr (SPD) entwickelt in Tutzing sein ostpolitisches Konzept vom „Wandel durch Annäherung".

29.07.63

Verkündung des sozialen Wohn- und Mietrechts. Abbau von Wohnungszwangswirtschaft und Mietpreisbindung.

15.10.63

Konrad Adenauer tritt vom Amt des Bundeskanzlers zurück.

16.10.63

Ludwig Erhard (CDU) wird vom Bundestag zum Bundeskanzler gewählt und setzt die Koalition mit der F D P fort.

09.11.63

Das deutsch-ungarische Handelsabkommen, ein Vertrag zur Errichtung beiderseitiger Handelsvertretungen, wird geschlossen.

17.12.63

Das erste Passierscheinabkommen zwischen dem Senat von West-Berlin und der DDR-Regierung ermöglicht Verwandtenbesuche innerhalb Berlins.

1964 15.02.64 bis 16.02.64

Nach dem Tode Erich Ollenhauers wird Willy Brandt auf einem außerordentliehen Parteitag zum Vorsitzenden der SPD gewählt.

06.03.64

Abschluss eines deutsch-bulgarischen Handelsabkommens. Errichtung beiderseitiger Handelsvertretungen.

07.03.64

Der Bundestag verabschiedet das Bundeskindergeld-Gesetz.

17.03.64

Vereinbarung über die Anwerbung von Gastarbeitern mit Portugal.

19.03.64

Die Regierungschefs der Länder beschließen die Gründung neuer Universitäten in Bochum, Bremen, Konstanz und Regensburg sowie einer Technischen Hochschule in Dortmund.

20.03.64

Die „Troeger-Kommission" Finanzreform ausarbeiten.

04.06.64

Bund-Länder-Verwaltungsabkommen zur Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie zur gemeinsamen Finanzierung wissenschaftlicher Hochschulen.

wird eingesetzt und soll einen Vorschlag für eine

433

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 01.07.64

Heinrich Liibke wird von der Bundesversammlung erneut zum Bundespräsidenten gewählt.

19.09.64

Die Zahl der Gastarbeiter übersteigt erstmals die Millionengrenze.

28.11.64

In Hannover wird die Nationaldemokratische Partei (NPD) gegründet.

1965 25.03.65

Der Bundestag verlängert die Verjährungsfrist von nationalsozialistischen Verbrechen.

08.04.65

Das Raumordnungsgesetz verpflichtet zu Naturschutz und sieht den Ausbau von Erholungsgebieten vor.

12.05.65

Die Bundesrepublik und Israel nehmen diplomatische Beziehungen auf. Das führt zum Abbruch der diplomatischem Beziehungen zur Bundesrepublik durch die meisten arabischen Staaten.

15.07.65

Vertreter von Bund und Ländern unterzeichnen das Abkommen über die Gründung des Bildungsrates, der Aufgaben der Bildungsplanung übernimmt und den Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen ablöst.

19.09.65

Die Wahlen zum 5. Bundestag führen am 20.10.65 zur Bildung einer Koalitionsregierung aus CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Erhard.

15.10.65

Der Rat der EKD veröffentlicht seine Vertriebenen-Denkschrift, die zum Umdenken in der Ostpolitik auffordert.

21.12.65

Konrad Adenauer verkündet den Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den CDU-Vorsitz.

1966 29.01.66

Der Luxemburger Kompromiss über Mehrheitsentscheidungen legt die EWGKrise bei. Frankreich, das seit 01.07.65 die Ratssitzungen boykottiert hatte, nimmt wieder an ihnen teil.

09.02.66

Das „ Troeger-Gutachten" wird vorgelegt. Sein Leitgedanke ist der „kooperative Föderalismus".

07.03.66

Austritt Frankreichs aus der militärischen NATO-Integration.

21.03.66 bis 23.03.66

Der Bundesparteitag der CDU wählt Ludwig Erhard zum Vorsitzenden und Konrad Adenauer zum Ehrenvorsitzenden.

25.03.66

Die Bundesregierung sendet die sog. „Friedensnote" an alle Regierungen der Welt, mit denen sie diplomatische Beziehungen unterhält, sowie an alle osteuropäischen und arabischen Staaten.

26.05.66

SPD und SED vereinbaren einen Redneraustausch, der jedoch am 29.06.66 von der SED abgesagt wird.

19.07.66

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Finanzierung der Parteien aus dem Bundeshaushalt für unzulässig. Es plädiert für eine proportionierte Rückerstattung von Wahlkampfkosten.

27.10.66

Nach vorangegangenen Streitigkeiten in der Bonner Koalition über die Finanzierung des Bundeshaushaltes 1967 erklärt sich eine Mehrheit der FDP-Fraktion gegen die Koalition. Die Bundesminister der FDP treten zurück.

434

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 10.11.66

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion benennt den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kiesinger als Kanzlerkandidaten und bildet eine Kommission für Koalitionsverhandlungen.

27.11.66

CDU/CSU und SPD einigen sich auf die Bildung einer Großen Koalition.

01.12.66

Kurt Georg Kiesinger (CDU) wird zum Bundeskanzler gewählt und tritt an die Spitze einer Großen Koalition aus C D U / C S U und SPD.

1967 01.01.67

Einführung der 40-Stunden-Woche in der Metallindustrie.

31.01.67

Die Bundesrepublik und Rumänien nehmen diplomatische Beziehungen auf. Damit wird die Hallstein-Doktrin de facto aufgegeben.

14.02.67

Erstes Zusammentreten von Vertretern von Staat, Tarifparteien und Wissenschaft zur „Konzertierten Aktion".

14.03.67

Nach dem Tod von Fritz Erler wird Helmut SPD-Bundestagsfraktion gewählt.

26.04.67

Der Bundestag verabschiedet das Mehrwertsteuergesetz.

09.05.67

Offizielle Änderung der NATO-Verteidigungsstrategie von „Massiver Vergeltung" zu „flexible response".

10.05.67

Der Bundestag verabschiedet das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" (Stabilitätsgesetz). Es tritt am 14.06.67 in Kraft und nennt Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Wirtschaftswachstum und Preisstabilität („magisches Viereck") als Ziele der staatlichen Wirtschaftspolitik.

22.05.67 bis 23.05.67

Auf dem Parteitag der C D U wird Kurt Georg Kiesinger zum Vorsitzenden gewählt.

02.06.67

Bei Protestdemonstrationen gegen den Schah-Besuch in West-Berlin wird der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen.

28.06.67

Verabschiedung des Parteiengesetzes, das Grundsätze für Aufgaben, Aufbau, Willensbildung und Finanzierung der Parteien festlegt.

Schmidt zum Vorsitzenden der

01.07.67

Die Exekutiven von EGKS, EWG und E U R A T O M werden fusioniert.

03.08.67

Vertrag zur Einrichtung von Handelsvertretungen zwischen der Bundesrepublik und der CSSR.

08.09.67

Der Bundestag billigt die Mittelfristige Finanzplanung 1967 bis 1971 und ein Konjunkturprogramm.

08.11.67

Das Bundeskabinett verabschiedet den „Leber-Plan", der die Verlagerung des Schwerlastverkehrs von der Straße auf die Schiene vorsieht.

1968 01.01.68

In der Bundesrepublik wird die Mehrwertsteuer eingeführt.

30.01.68

Walter Scheel wird auf dem Bundesparteitag der F D P als Nachfolger von Erich Mende zum Vorsitzenden gewählt.

435

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 11.03.68

Bundeskanzler Kiesinger gibt vor dem Bundestag den ersten Bericht zur Lage der Nation ab.

26.03.68

Bundesinnenminister Lücke (CDU) tritt wegen Verschiebung der Wahlrechtsreform (Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts) zurück. Sein Nachfolger wird Ernst Benda (CDU).

03.04.68

Das Gesetz zur Anpassung und Gesundung des deutschen Steinkohlebergbaus wird vom Bundestag verabschiedet.

10.04.68

Die Kultusministerkonferenz beschließt Grundsätze für die strukturelle Neuordnung des Hochschulwesens.

11.04.68

Nach einem Attentat, bei dem SDS-Führer Rudi Dutschke schwer verletzt wird, kommt es zu Unruhen in der gesamten Bundesrepublik.

30.04.68

Der Bundestag hält eine Sondersitzung zum Thema Studentenunruhen ab.

29.05.68

Der Bundestag verabschiedet die Reform des politischen Strafrechts.

30.05.68

Der Bundestag beschließt die Annahme der Notstandsgesetze und die erforderliche Grundgesetzänderung. Sie tritt am 28.06.68 in Kraft. Die Alliierten verzichten auf ihre Vorbehaltsrechte gemäß § 5 des Deutschlandvertrages.

12.07.68

Die Bundesrepublik und die UdSSR veröffentlichen einen zweijährigen Notenwechsel über einen Gewaltverzicht.

26.09.68

Bekanntgabe der Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP).

19.11.68

Die Bundesregierung beschließt, trotz ausländischen Drucks, die D-Mark nicht aufzuwerten. Am 28.11.68 beschließt der Bundestag ein Absicherungsgesetz, das durch steuerliche Maßnahmen den Import fördern und den Export drosseln soll.

1969 17.02.69

Das erste Verteidigungsweißbuch wird veröffentlicht.

05.03.69

Gustav Heinemann wird auf der Bundesversammlung von einer Koalition aus SPD und FDP zum Bundespräsidenten gewählt.

27.03.69

Die Länder schließen einen Staatsvertrag über Reformgrundsätze der wissenschaftlichen Hochschulen sowie über die Vereinheitlichung des Ordnungsrechts an den Hochschulen ab.

12.04.69 bis 13.04.69

Gründungsparteitag der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) in Essen.

09.05.69

Verabschiedung der Gesetze zur Strafrechtsreform im Bundestag (Liberalisierung des Strafrechts).

12.05.69

Verkündung der Grundgesetzänderungen zur Finanzreform, die die Steuerverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden neu regeln und die „Gemeinschaftsaufgaben" einführen.

13.05.69

Der Bundestag verabschiedet das Arbeitsförderungsgesetz (AFG), das die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik regelt.

14.05.69

Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag, durch das die unehelich geborenen Kinder den ehelichen gleichgestellt werden.

436

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 12.06.69

Der Bundestag verabschiedet das Lohnfortzahlungsgesetz, das ab 01.01.70 die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten im Krankheitsfall vorsieht (Lohnfortzahlung für sechs Wochen).

14.08.69

Verkündung des Berufsbildungsgesetzes, das die Berufsausbildung bundeseinheitlich regelt.

28.09.69

Die Wahlen zum 6. Bundestag führen zur Bildung einer Koalition aus SPD und FDP. Am 21.10.69 wird Willy Brandt (SPD) zum Bundeskanzler gewählt.

29.09.69

Die Bundesbank stellt auf Wunsch der Bundesregierung die Interventionen an den Devisenmärkten ein, was die Freigabe des Wechselkurses der D-Mark bedeutet. Der Kurs des US-Dollars sinkt bis zum 24.10.69 auf 3,70 D M . Am 27.10.69 beschließt die Bundesregierung einen neuen Wechselkurs von 3,66 D M , was insgesamt eine Aufwertung der Mark von 9,3 Prozent bedeutet.

28.10.69

In seiner Regierungserklärung stellt Bundeskanzler Brandt aktive Friedenssicherung und innere Reformen in den Vordergrund.

28.11.69

Die Bundesrepublik unterzeichnet den Atomwaffensperrvertrag.

1970 14.01.70

Zweiter Bericht zur Lage der Nation wird zur Darlegung der künftigen Deutschlandpolitik benutzt.

30.01.70 bis 18.02.70

Der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Egon Bahr, führt in Moskau Gespräche mit Außenminister Gromyko.

18.03.70

Mit der Ertí/uéfe-Kommission für auswärtige Kulturpolitik wird erstmals eine Enquête-Kommission eingesetzt.

19.03.70

Bundeskanzler Brandt trifft in Erfurt mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der D D R , Willi Stoph, zusammen.

26.03.70

Beginn der Verhandlungen zum Vier-Mächte-Abkommen über Berlin.

20.04.70

Erster Sozialbericht der Bundesregierung.

22.05.70

Inkrafttreten des 3. Strafrechtsreformgesetzes. Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechts.

04.06.70

Verabschiedung des neuen Vermögensbildungsgesetzes (624 DM-Gesetz).

25.06.70

Bund und Länder beschließen die Errichtung einer Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung.

11.08.70 bis 13.08.70

Bundeskanzler Brandt besucht die Sowjetunion. Unterzeichnung des deutschsowjetischen Vertrages in Moskau.

02.10.70

Einsetzung einer Sachverständigenkommission zur Neugliederung des Bundesgebietes durch den Bundesinnenminister.

04.11.70

Der Bundestag beschließt das Krankenversicherungsänderungsgesetz, was den Beitritt oder Verbleib solcher Arbeitnehmer in der gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht, deren Einkommen die Versicherungspflichtgrenze übersteigt.

19.11.70

Erstes Außenministertreffen im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) in München.

437

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 01.12.70

Städtebaubericht der Bundesregierung. Resultat: ca. 1 Mio. abbruchreife Wohnungen und ca. 800.000 Haushalte in barackenähnlichen Unterkünften.

07.12.70

Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages in Warschau.

1971 18.03.71

Erstes Gesetz zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern.

24.03.71

Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt zur „Politik der inneren Reformen" im Bundestag.

22.04.71

Viertes Strafrechtsänderungsgesetz.

09.05.71

Die Bundesregierung beschließt ein konjunkturpolitisches Stabilitätsprogramm, um dem Preisauftrieb und der konjunkturellen Überhitzung entgegenzutreten.

13.05.71

Bundesfinanzminister Alex Möller tritt wegen Differenzen über die Haushaltslage zurück. Der bisherige Bundeswirtschaftsminister Schiller übernimmt zusätzlich das Finanzressort.

29.06.71

Der erste Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wird beschlossen, der 59 Prozent der Fläche der Bundesrepublik als Fördergebiet ausweist.

19.07.71

Der Bundestag verabschiedet das Städtebauförderungsgesetz, das u.a. den Kommunen mehr Eingriffsrechte für Sanierungsmaßnahmen gibt.

01.09.71

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) tritt in Kraft, das die materielle Chancengleichheit im Bildungswesen erreichen soll.

03.09.71

Die Botschafter der vier Siegermächte unterzeichnen in Berlin das Vier-MächteAbkommen über Berlin.

04.10.71 bis 05.10.71

Der 19. Bundesparteitag der CDU wählt Rainer Barzel als Nachfolger von Kurt Georg Kiesinger zum CDU-Bundesvorsitzenden.

10.11.71

Der Bundestag beschließt ein neues Betriebsverfassungsgesetz (tritt am 19.01.72 in Kraft).

10.12.71

Bundeskanzler Willy Brandt wird der Friedensnobelpreis verliehen.

17.12.71

Das Abkommen über den Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin wird in Bonn unterzeichnet. Es tritt am 03.06.72 in Kraft.

1972 28.01.72

Die Regierungschefs von Bund und Ländern verabschieden in einer Konferenz den sog. „Radikalenerlass".

27.04.72

Das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt (Gegenkandidat: Rainer Barzel, CDU) erreicht überraschend nicht die erforderliche Mehrheit. Es war möglich geworden, nachdem seit Februar 1972 mehrere Abgeordnete aus Protest gegen die Ostpolitik zur CDU/CSU übergetreten waren und die Regierung somit ihre Mehrheit im Bundestag verloren hatte. Gleichzeitig verliert die sozial-liberale Koalition nach den Landtagswahlen am 23.04.72 in Baden-Württemberg auch die Mehrheit im Bundesrat.

438

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 17.05.72

Der Bundestag billigt bei weitgehender Enthaltung der CDU/CSU den Moskauer und den Warschauer Vertrag.

26.05.72

Unterzeichnung des deutsch-deutschen Verkehrsvertrages.

03.06.72

Die „Ostverträge" und das Berlin-Abkommen treten in Kraft.

15.06.72

In Ost-Berlin werden die Verhandlungen über den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag aufgenommen.

07.07.72

21.09.72

22.09.72

Meinungsverschiedenheiten über Devisenkontrollen führen zum Rücktritt von Bundeswirtschafts- und -finanzminister Karl Schiller. Sein Nachfolger wird der bisherige Verteidigungsminister Helmut Schmidt. Der Bundestag verabschiedet einstimmig das Rentenreformgesetz, das die flexible Altersgrenze einführt, die Mindestrenten anhebt und die Rentenversicherung für Selbständige öffnet. Die vom Bundeskanzler am 20.09.72 gestellte Vertrauensfrage wird im Bundestag erwartungsgemäß abgelehnt, nachdem die Kabinettsmitglieder der Abstimmung fernbleiben; der Bundestag wird aufgelöst.

19.10.72 bis 20.10.72

Die erste Gipfelkonferenz der erweiterten Europäischen Gemeinschaft in Paris bekundet ihren Willen, bis 1980 eine Europäische Union zu errichten.

19.11.72

Bei den vorgezogenen Wahlen zum 7. Bundestag wird die SPD erstmals stärkste Partei. Erneuerung der sozial-liberalen Koalition.

21.12.72

Der Grundlagenvertrag zur Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der D D R wird unterzeichnet.

1973 01.01.73

Die Erweiterung der EG um Dänemark, Großbritannien und Irland auf neun Mitglieder tritt in Kraft.

12.02.73

Die Bundesregierung verfügt die Schließung der Devisenmärkte, nachdem die Bundesbank innerhalb einer Woche 5,8 Mrd. Dollar zur Stützung der amerikanischen Währung aufgenommen hat.

17.02.73

Die Bundesregierung beschließt ein Stabilitätsprogramm zur Dämpfung der überhitzten Konjunktur, u.a. eine Erhöhung der Mineralölsteuer und die Aufnahme einer Stabilitätsanleihe. Am 09.05.73 folgt ein weiteres Stabilitätsprogramm.

19.03.73

Die D-Mark wird um 3 Prozent aufgewertet und die Bundesrepublik, Frankreich, Dänemark und die Benelux-Staaten geben gemeinsam den Dollar-Kurs frei {Block-Floating). Norwegen und Schweden schließen sich an.

09.05.73

Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Barzel tritt wegen der von seiner Fraktion beabsichtigten Ablehnung des Beitritts zu den Vereinten Nationen zurück. Am 17.05.73 wird Karl Carstens zu seinem Nachfolger gewählt.

19.05.73

Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Abkommens über die Entwicklung der wirtschaftlichen, industriellen und technischen Zusammenarbeit.

28.05.73

Die bayerische Staatsregierung ruft das Bundesverfassungsgericht wegen des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages an.

12.06.73

Die CDU wählt auf einem Sonderparteitag Helmut Kohl zu ihrem Bundesvorsitzenden. Generalsekretär wird Kurt Biedenkopf.

439

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 15.06.73

Verabschiedung des Bildungsgesamtplans durch die Bund-Länder-Kommission.

29.06.73

Die Bundesregierung beschließt eine weitere Aufwertung der D-Mark um 5,5 Prozent.

01.07.73

Durch Gesetz tritt der zivile Ersatzdienst gleichberechtigt neben den Wehrdienst.

03.07.73

Beginn der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

31.07.73

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass der am 21.06.73 in Kraft getretene deutsch-deutsche Grundlagenvertrag mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

30.08.73

Durch spontane Streiks von über 50.000 Metallern werden Teuerungszulagen durchgesetzt.

17.10.73

Die arabischen Ölexportländer beschließen, Ölexporte in westliche Staaten einzuschränken, solange diese eine israelfreundliche Politik verfolgen.

09.11.73

Der Bundestag verabschiedet aus Anlaß der Ölkrise ein Energiesicherungsgesetz. Am 19.11.73 verordnet das Bundeswirtschaftsministerium Kfz-Fahrverbote für die nächsten vier Sonntage und Geschwindigkeitsbeschränkungen für sechs Monate.

23.11.73

Anwerbestop für ausländische Gastarbeiter, deren Zahl inzwischen 2,6 Millionen beträgt.

11.12.73

In Prag wird der deutsch-tschechoslowakische Vertrag unterzeichnet. Zwischen beiden Ländern werden diplomatische Beziehungen aufgenommen. Am 21.12.73 nimmt die Bundesrepublik zudem diplomatische Beziehungen mit Bulgarien und Ungarn auf.

19.12.73

Aufhebung einzelner Maßnahmen aus dem Stabilitätsprogramm. Die Zahl der Arbeitslosen übersteigt die Millionengrenze.

1974 09.01.74

Das Rahmenprogramm Energieforschung der Bundesregierung wird beschlossen.

18.01.74

Der Bundestag verabschiedet das Bundes-Immissionsschutz-Gesetz.

13.02.74

Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst werden um 11 Prozent erhöht. Während der Tarifverhandlungen war es vom 11.02.74 bis 13.02.74 zum Streik gekommen.

22.03.74

Der Bundestag verabschiedet das Gesetz zur Herabsetzung des Volljährigkeitsalters von 21 auf 18 Jahre.

25.03.74

Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen übergibt das Umweltgutachten 1974.

04.04.74

Bildung der Monopolkommission zur Beobachtung von Unternehmenskonzentration.

26.04.74

Der Bundestag beschließt die Reform des Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches und entscheidet sich für die Fristenlösung.

02.05.74

Eröffnung der „Ständigen Vertretungen" der beiden deutschen Staaten in Bonn und Ost-Berlin.

440

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 06.05.74

Bundeskanzler Brandt erklärt im Zusammenhang mit der Spionageafiare Guillaume seinen Rücktritt.

15.05.74

Die Bundesversammlung wählt Walter Scheel (FDP) als Nachfolger Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten.

16.05.74

Der Bundestag wählt Helmut Schmidt (SPD) zum Bundeskanzler.

19.06.74

Der Bundestag verabschiedet ein Gesetz über die Errichtung eines Umweltbundesamtes in West-Berlin.

25.09.74

Die Bundesregierung beschließt ein Sonderprogramm von 950 Millionen D M zur regionalen und lokalen Abstützung der Beschäftigung.

30.09.74 bis 02.10.74

Der FDP-Bundesparteitag wählt Hans-Dietrich den.

10.11.74

Terroristen der „Bewegung 2. Juni" ermorden den Präsidenten des Berliner Kammergerichtes, Günter von Drenkmann.

12.12.74

Die Bundesregierung beschließt ein Konjunkturprogramm zur Förderung der Investitionstätigkeit und zur Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt in Höhe von 1,7 Milliarden D M .

Genscher zum Parteivorsitzen-

1975 27.01.75

Der Vorsitzende der Berliner CDU, Peter Lorenz, wird von Terroristen der „Bewegung 2. Juni" entführt. Er wird sechs Tage später freigelassen, nachdem die Bundesregierung die Forderungen der Entführer erfüllt hat.

18.02.75

Kernkraftgegner besetzen das Baugelände des geplanten Kernkraftwerks Wyhl in der Nähe des Kaiserstuhls.

25.02.75

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Fristenlösung des Paragraphen 218 für verfassungswidrig.

24.04.75

Deutsche Terroristen überfallen die deutsche Botschaft in Stockholm. Die Bundesregierung lehnt die Erfüllung ihrer Forderungen ab.

21.05.75

In Stuttgart-Stammheim beginnt vor dem Oberlandesgericht der „Baader-Meinhof-Prozess".

02.06.75

Der zweite Stufenplan zur Stärkung der beruflichen Bildung wird verabschiedet.

19.06.75

Der CDU-Bundesvorsitzende und rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl wird zum Kanzlerkandidaten der Union nominiert.

01.08.75

Die KSZE endet nach zweijährigen Verhandlungen mit der Unterzeichnung einer „Schlussakte".

27.08.75

Die Bundesregierung beschließt ein Bauinvestitionsprogramm mit einem Volumen von 5,75 Milliarden D M .

05.11.75

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Steuerfreiheit der Grunddiäten von Abgeordneten für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz.

11.11.75 bis 15.11.75

Die SPD verabschiedet auf dem Mannheimer Parteitag den „Orientierungsrahmen'85".

11.12.75

Der Bundestag verabschiedet das neue Ehe- und Familienrecht, das bei Scheidung das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt.

441

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 12.12.75

Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes.

18.12.75

Der Bundestag verabschiedet das Haushaltsstrukturgesetz.

19.12.75

Die Bundesrepublik und die DDR schließen Vereinbarungen über den Ausbau der Transitstrecken ab.

1976 01.01.76

Mit über 5 Prozent erreicht die Arbeitslosenquote einen neuen Höchststand.

14.01.76

Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Alfred Kübel (SPD) wird im niedersächsischen Landtag trotz nomineller Mehrheit von SPD und F D P Ernst Albrecht (CDU) zum neuen Ministerpräsidenten gewählt.

12.02.76

Der Bundestag verabschiedet ein neues Gesetz zum Paragraphen 218, das dem Indikationsmodell folgt.

16.03.76

Das Strafvollzugsgesetz reformiert den Strafvollzug, u.a. durch verstärkte Resozialisierungsmöglichkeiten.

18.03.76

Der Bundestag verabschiedet das neue Mitbestimmungsgesetz für Großunternehmen ab 2.000 Beschäftigte.

30.03.76

Die Bundesrepublik und die D D R unterzeichnen ein Post- und Fernmeldeabkommen.

09.05.76

Ulrike Meinhof begeht im Gefängnis Selbstmord.

31.05.76

Die Zahl der Arbeitslosen sinkt seit Ende 1974 erstmals wieder unter die Millionengrenze.

22.07.76

Verabschiedung des Energieeinsparungsgesetzes.

23.08.76

Durch eine Grundgesetzänderung wird der Verfassungsauftrag zur Länderneugliederung in eine Kann-Bestimmung umgewandelt.

03.10.76

Bei den Wahlen zum 8. Bundestag erleiden SPD und F D P Verluste, können jedoch ihre Koalition fortsetzen. Am 15.12.76 wird Helmut Schmidt (SPD) erneut zum Bundeskanzler gewählt.

13.11.76

In Brokdorf protestieren ca. 20.000 Bürger gegen den Bau eines Kernkraftwerkes. Es kommt zu Ausschreitungen.

19.11.76

Die CSU-Bundestagsabgeordneten beschließen in Kreuth die Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Am 12.12.76 einigen sich beide Parteien auf eine Fortsetzung der Fraktionsgemeinschaft.

02.12.76

Übergabe des Schlussberichts der Enquête-Kommission „Verfassungsreform".

20.12.76

Verabschiedung des Bundesnaturschutzgesetzes.

1977 19.01.77

F D P und CDU bilden in Niedersachsen eine Koalition unter Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU).

27.01.77

Verkündung des Bundesdatenschutzgesetzes.

01.03.77

Im Saarland wird eine Koalitionsregierung aus F D P und CDU unter Ministerpräsident Röder (CDU) gebildet.

442

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 23.03.77

Die Bundesregierung beschließt ein „Programm für Zukunftsinvestitionen" in Höhe von 16 Milliarden D M für vier Jahre.

07.04.77

Generalbundesanwalt Siegfried Buback und sein Fahrer werden in Karlsruhe von Terroristen ermordet.

13.05.77

Der Bundestag verabschiedet das Rentensanierungsgesetz und das Krankenkostendämpfungsgesetz.

16.06.77

Der Bundestag verabschiedet das Steueränderungsgesetz, das die Mehrwertsteuer erhöht sowie Steuererleichterungen und Verbesserungen beim Kindergeld einführt.

01.07.77

Der D G B erklärt seinen Austritt aus der Konzertierten Aktion als Reaktion auf die Verfassungsbeschwerde der Arbeitgeberverbände gegen das Mitbestimmungsgesetz.

30.07.77

Terroristen ermorden den Vorstandvorsitzenden der Dresdner Bank, Jürgen Ponto.

05.09.77

Hanns Martin Schleyer, Präsident der Arbeitgeberverbände und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, wird von Terroristen entführt. Vier Begleiter werden ermordet.

14.09.77

Die Bundesregierung beschließt Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung (u.a. Steuerentlastungen und Verbesserung der Abschreibungsmöglichkeiten).

04.10.77

Beginn der ersten KSZE-Folgekonferenz in Belgrad.

18.10.77

Eine Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes stürmt in Mogadischu ein am 13.10.77 von Terroristen entführtes Lufthansa-Flugzeug („Landshut") und befreit alle Geiseln. Am selben Tag begehen die zu lebenslanger Haft verurteilten Terroristen Baader, Ensslin und Raspe in Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Am 19.10.77 wird Hanns Martin Schleyer in Mülhausen (Frankreich) ermordet aufgefunden.

10.11.77

Gewerkschaftsdemonstration in Dortmund für die Kernkraft.

15.11.77 bis 19.11.77

Der SPD-Parteitag in Hannover entscheidet sich für den Vorrang von Kohle vor der Kernenergie.

1978 16.02.78

Der Bundestag verabschiedet mit knapper Mehrheit das zweite Anti-Terror-Gesetz.

23.02.78

Die Bundesregierung legt ihren Bericht über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems vor.

14.03.78

Ein eskalierender Streik in der Druckindustrie führt zu Aussperrungen, die es wenig später auch in der baden-württembergischen Metallindustrie gibt. Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Abschaffung der Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer für unzulässig.

13.04.78 13.07.78 28.07.78

Unter der Führung des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Gruhl wird in Bonn die Umweltschutzpartei „Grüne Aktion Zukunft" gegründet. Die Bundesregierung beschließt aufgrund der Entscheidungen des Bonner Weltwirtschaftsgipfels Maßnahmen zur Stärkung der Nachfrage und zur Verbesserung des Wirtschaftswachstums.

443

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 23.10.78

Die CDU verabschiedet auf ihrem Bundesparteitag in Ludwigshafen ihr erstes Grundsatzprogramm.

16.11.78

Abschluss von Verhandlungen zwischen Bundesrepublik und DDR über Verkehrsfragen und Zahlungsverkehr.

28.11.78

Die IG Metall beginnt die ersten Streiks in der Stahlindustrie seit 50 Jahren zur Durchsetzung einer fünfprozentigen Lohnerhöhung und der stufenweisen Einführung der 35-Stunden-Woche.

05.12.78

Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit liegt 1978 erstmals seit 1974 wieder unter der Millionen-Grenze.

05.12.78

Der Europäische Rat beschließt auf seiner Tagung in Brüssel die Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS).

17.12.78

Die Organisation erdölfördernder Staaten (OPEC) leitet mit einer massiven Preiserhöhung den zweiten Ölpreisschock ein.

1979 10.01.79

Ende des Arbeitskampfes in der nordrhein-westfälischen Stahlindustrie. Der IG Metall gelingt der „Einstieg in die 35-Stunden-Woche" nicht.

17.01.79

Die Bundesregierung beschließt bezüglich der Überprüfung der Verfassungstreue von Bewerbern für den öffentlichen Dienst die Prüfung von Einzelfällen anstelle der Regelanfrage.

01.03.79

Das Bundesverfassungsgericht erklärt das Mitbestimmungsgesetz für verfassungskonform.

29.03.79

Der Bundestag setzt die Enquête-Kommission ein.

31.03.79

Demonstration von rund 40.000 Kernkraftgegnern gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben (Niedersachsen).

10.05.79

Der Bundestag verabschiedet mehrere familienpolitische Gesetze (u.a. Reform des elterlichen Sorgerechts und Erweiterung des Mutterschutzes).

16.05.79

Der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht (CDU) lehnt den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben als politisch nicht durchsetzbar ab. Es soll nur ein Zwischenlager für Brennelemente errichtet werden.

23.05.79

Die Bundesversammlung wählt Karl Carstens (CDU) zum Bundespräsidenten.

07.06.79 bis 10.06.79

Das Europäische Parlament wird in den EG-Staaten erstmals direkt gewählt.

02.07.79

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nominiert den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) zum Kanzlerkandidaten der Union.

03.07.79

Angesichts der noch ungesühnten Verbrechen aus der NS-Zeit hebt der Bundestag die Verjährbarkeit von Mord und Völkermord auf.

24.07.79

Das Bundesverfassungsgericht erklärt Parteispenden für nur begrenzt steuerlich absetzbar.

05.09.79

Unterzeichnung eines auf sechs Jahre befristeten Energieabkommens zwischen der Bundesrepublik und der DDR, das gegenseitige Lieferungen festlegt.

444

„Zukünftige Kernenergiepolitik"

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 07.10.79

Bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen gelingt den Grünen zum ersten Mal der Einzug in ein Landesparlament.

14.10.79

100.000 Bürger demonstrieren in Bonn gegen Kernenergie.

12.12.79

Die NATO-Außen- und Verteidigungsminister fassen den „NATO-Doppelbeschluss" über Mittelstreckenraketen in Europa.

27.12.79

Die Sowjetunion interveniert militärisch in Afghanistan. Als Reaktion setzen die USA das Ratifizierungsverfahren des SALT-II-Abkommens aus.

1980 12.01.80 bis 13.01.80

Gründungskongress der „Grünen" in Karlsruhe.

20.02.80

Die Bundesregierung beschließt das „Steuerentlastungsgesetz 1981", das bis 1982 Steuererleichterungen und Leistungsverbesserungen von 17,5 Milliarden D M vorsieht.

21.03.80 bis 23.03.80

Die „Grünen" verabschieden auf einem Bundesparteitag ihr Bundesprogramm.

30.04.80

Rahmenvereinbarung zwischen der Bundesrepublik und der D D R über den Ausbau der Verkehrswege.

06.05.80

Anlässlich einer öffentlichen Gelöbnisfeier der Bundeswehr kommt es in Bremen zu schweren Krawallen.

15.05.80

Das Nationale Olympische Komitee der Bundesrepublik beschließt auf Wunsch der Bundesregierung den Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau.

02.07.80

Der Bundestag beschließt ein Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens.

05.10.80

Bei den Wahlen zum 9. Bundestag kommt es zu Verlusten der C D U / C S U und zu Gewinnen der FDP. Die sozial-liberale Koalition wird fortgesetzt und wählt am 05.11.80 Helmut Schmidt (SPD) erneut zum Bundeskanzler.

21.12.80

Bei einer Demonstration gegen das geplante Kernkraftwerk in Brokdorf kommt es zu schweren Ausschreitungen.

24.12.80 bis 25.12.80

In Berlin-Kreuzberg kommt es wegen Hausbesetzungen zu heftigen Straßenschlachten zwischen Demonstranten und der Polizei.

1981 01.01.81

Griechenland wird zehntes Mitglied der EG.

02.02.81

Der Hamburger SPD-Landesparteitag lehnt den Weiterbau des Kernkraftwerkes Brokdorf ab.

18.02.81

Der Verteidigungsausschuss des Bundestages konstituiert sich als Untersuchungsausschuss zur Uberprüfung der Finanz-Afïare um das Kampfflugzeug Tornado.

28.02.81

Massendemonstrationen gegen den Bau des Kernkraftwerkes in Brokdorf.

12.03.81 bis 14.03.81

Der D G B verabschiedet auf seinem Bundeskongress ein neues Grundsatzprogramm.

445

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 11.05.81

Terroristen ermorden den hessischen Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry (FDP).

16.05.81 bis 17.05.81

Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) verknüpft auf Wahlveranstaltungen sein politisches Schicksal mit der Zustimmung seiner Partei zum NATO-Doppelbeschluss.

21.05.81

Neue gesetzliche Regelungen sichern die paritätische Mitbestimmung von Unternehmen, deren Montan-Umsatzanteil unter die Hälfte sinkt.

29.05.81 bis 31.05.81

Der Vorsitzende der FDP, Bundesaußenminister Genscher, droht auf dem Bundesparteitag mit seinem Rücktritt, falls sich die FDP gegen den NATODoppelbeschluss ausspricht.

11.06.81

Das Berliner Abgeordnetenhaus wählt Richard von Weizsäcker (CDU) zum neuen Regierenden Bürgermeister. Er steht einem CDU-Minderheitensenat vor.

20.08.81

„Wende-Brief des FDP-Vorsitzenden Genscher an die Mitglieder seiner Partei.

03.09.81

Das Bundeskabinett einigt sich nach einer Koalitionskrise auf neue Sparbeschlüsse und Steuermehrbelastungen im Haushalt 1982 („Operation '82").

13.09.81 bis 14.09.81

Beim Besuch des US-Außenministers Haig kommt es in West-Berlin zu schweren Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen die amerikanische Politik.

21.09.81

Bei Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und Polizei in West-Berlin kommt ein Demonstrant ums Leben.

10.10.81

In Bonn demonstrieren etwa 300.000 Menschen gegen atomare Rüstung und den NATO-Doppelbeschluss.

28.10.81

Die Bundesregierung beschließt weitere Einsparungen in Höhe von 8 Milliarden DM zur Schließung der Finanzlücke im Bundeshaushalt 1982.

07.11.81

DGB-Demonstration in Stuttgart gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung.

15.11.81

An der geplanten Startbahn West des Frankfurter Flughafens kommt es zu schweren Ausschreitungen.

11.12.81 bis 13.12.81

Bundeskanzler Schmidt besucht die DDR und führt Gespräche mit Generalsekretär Honecker am Werbellinsee. Am letzten Tag des Besuchs wird in Polen das Kriegsrecht verhängt.

1982 30.01.82

Erneut schwere Auseinandersetzungen an der künftigen Startbahn West in Frankfurt mit 140 Verletzten.

05.02.82

In namentlicher Abstimmung sprechen alle Bundestagsabgeordneten von SPD und FDP dem Bundeskanzler ihr Vertrauen aus.

08.02.82

Der SPIEGEL berichtet über einen Skandal bei der gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat".

25.02.82

Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen Bonner Politiker wegen des Verdachtes der Begünstigung des Flick-Konzerns und der Entgegennahme von Bestechungsgeldern werden bekannt.

446

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 29.03.82

Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung stellt ihre Arbeit ein.

19.04.82 bis 23.04.82

Der SPD-Bundesparteitag in München übt Kritik am Koalitionspartner F D P und fordert eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik.

27.04.82

Der Hamburger Senat beschließt, sich zunächst weiter am Kernkraftwerk Brokdorf zu beteiligen.

10.06.82

Anlässlich des NATO-Gipfels in Bonn kommt es zu einer Friedensdemonstration mit etwa 500.000 Teilnehmern gegen die NATO-Nachrüstung.

17.06.82

Die hessische F D P beschließt für die bevorstehende Landtagswahl eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU.

18.06.82

Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und der D D R , den „5wwg"-Kredit bis zum 01.01.85 schrittweise auf 600 Millionen D M zurückzuführen.

18.06.82

Die D D R garantiert Straffreiheit für „Republikflüchtlinge", die vor 1980 das Land verlassen haben.

30.06.82

Die Koalition in Bonn erzielt nach langen Auseinandersetzungen Einigkeit über die Eckwerte des Bundeshaushalts 1983.

31.08.82

Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff (FDP) erklärt in einem Interview, der hessische Wähler entscheide, was er von einem Wechsel der F D P in eine andere Koalition halte.

09.09.82

Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff legt dem Bundeskanzler ein Konzept für eine Neuorientierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor.

17.09.82

Bundeskanzler Schmidt (SPD) kündigt in einer Erklärung vor dem Bundestag die sozial-liberale Koalition und gibt den Rücktritt der vier FDP-Minister bekannt. Er bildet ein SPD-Minderheitskabinett.

29.09.82

FDP-Generalsekretär Günter Verheugen tritt aus Protest gegen den Kurs der Parteiführung zurück.

01.10.82

Ein konstruktives Misstrauensvotum im Bundestag stürzt Bundeskanzler Schmidt (SPD) und wählt Helmut Kohl (CDU) mit den Stimmen von CDU/ CSU und F D P zu seinem Nachfolger.

30.10.82

Bei einer DGB-Demonstration protestieren etwa 150.000 Arbeitnehmer gegen Arbeitslosigkeit und soziale Demontage.

17.12.82

Bundeskanzler Kohl (CDU) verliert verabredungsgemäß bei der Abstimmung über die von ihm gestellte Vertrauensfrage. Der Bundestag wird aufgelöst und Neuwahlen werden ausgeschrieben.

1983 01.01.83

Von der neuen Bundesregierung beschlossene Gesetzesänderungen treten in Kraft und führen zu Einsparungen im Bereich der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie zur Kürzung des Kindergeldes.

07.01.83

Bundespräsident Carstens löst den Bundestag auf.

21.01.83

Hans-Jochen Vogel wird auf einem außerordentlichen Parteitag der SPD zum Kanzlerkandidaten der Partei gewählt.

16.02.83

Das Bundesverfassungsgericht lehnt die Beschwerde von Bundestagsabgeordneten gegen die Vorgehensweise bei der Auflösung des Bundestages ab. 447

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 03.03.83

Mit 2,53 Millionen hat die Arbeitslosenzahl im Februar ihren Nachkriegshöchststand erreicht.

06.03.83

Bei den vorgezogenen Wahlen zum 10. Bundestag ziehen die „Grünen" zum ersten Mal in das Parlament ein. Es kommt zur Fortsetzung der christlich-liberalen Koalition, die am 29.03.83 Helmut Kohl (CDU) erneut zum Bundeskanzler wählt.

08.03.83

Die SPD-Bundestagsfraktion wählt Hans-Jochen Vogel als Nachfolger von Herbert Wehner zu ihrem Vorsitzenden.

13.04.83

Das Bundesverfassungsgericht erlässt eine Einstweilige Verfügung gegen die am 27.04.83 geplante Volkszählung.

19.05.83

Der Bundestag setzt einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Klärung der „Flick-Affäre" ein.

29.06.83

Die Bundesregierung übernimmt die Bürgschaft für einen Kredit über eine Milliarde DM, den die DDR bei westdeutschen Banken aufnehmen will. Franz Josef Strauß spielte bei der Vermittlung eine wichtige Rolle und wird dafür von Teilen seiner eigenen Partei kritisiert.

01.09.83

In Mutlangen finden Demonstrationen gegen die Stationierung von Pershing-IIRaketen durch die US-Streitkräfte statt.

22.10.83

Die „Aktionswoche" der Friedensbewegung gegen die NATO-Nachrüstung endet mit einer 108 km langen Menschenkette zwischen Ulm und Stuttgart. In Bonn demonstrieren etwa eine Million Menschen.

27.11.83

Die Bundestagsabgeordneten Handlos und Voigt treten aus der CSU aus und gründen die rechtsradikale Partei „Die Republikaner".

01.12.83

Der Bundestag verabschiedet das Gesetz zur Neuregelung der Parteienfinanzierung.

15.12.83

Das Bundesverfassungsgericht verwirft das Volkszählungsgesetz.

1984 17.01.84 bis 19.01.84

In Stockholm wird die Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa eröffnet.

22.03.84

Die Bundesregierung billigt das „Programm Umweltforschung und Umwelttechnologie 1984 bis 1987", das Förderungen im Umfang von 2 Milliarden DM vorsieht.

04.04.84

Der Vorstand der IG Druck und Papier ruft zu Streiks für den Einstieg in die 35-Stunden-Woche auf.

05.04.84

In Bayern wird (erstmals in der Bundesrepublik) der Umweltschutz in die Verfassung aufgenommen. Das Saarland folgt am 25.01.85.

15.04.84

Bei der Inbetriebnahme der Startbahn West des Frankfurter Flughafens kommt es zu schweren Krawallen.

14.05.84

In der baden-württembergischen Metallindustrie kommt es wegen der 35-Stunden-Woche zum Streik.

23.05.84

Die Bundesversammlung wählt Richard von Weizsäcker (CDU) mit großer Mehrheit zum sechsten Bundespräsidenten.

448

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 16.06.84

Die Regierungskoalition zieht nach heftiger Kritik in der Öffentlichkeit ihren „Gesetzentwurf zur Strafbefreiung für Steuervergehen bei Parteispenden" zurück.

17.06.84

Bei der zweiten Direktwahl ziehen die „Grünen" in das Europäische Parlament ein, während die F D P ausscheidet.

26.06.84

Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff (FDP) tritt kurz vor der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn im Zusammenhang mit der Parteispendenaffäre von seinem Amt zurück. Sein Nachfolger wird Martin Bangemann (FDP).

01.07.84

Nach einem Schlichtungsverfahren wird in der Metallindustrie als Regelarbeitszeit die 38,5-Stunden-Woche vereinbart.

06.07.84

Nach einem 13-wöchigen Arbeitskampf übernimmt die Druckindustrie den Tarifkompromiss der Metallindustrie.

18.09.84

Die Bundesregierung beschließt, dass ab 1989 alle Neuwagen mit einem Katalysator ausgerüstet werden müssen. Sie stößt mit diesem Vorhaben jedoch auf erhebliche Widerstände in der EG.

16.10.84

Die Bundesregierung legt den Waldschadensbericht vor, der einen Anstieg der geschädigten Bäume von 34 Prozent auf 50 Prozent ausweist.

25.10.84

Bundestagspräsident Rainer Barzel (CDU) tritt aufgrund seiner Verwicklung in die Flick-Affäre zurück. Sein Nachfolger wird Philipp Jenninger (CDU).

1985 18.01.85

Im westlichen Ruhrgebiet wird Smog-Alarm der Stufe III ausgelöst.

01.02.85

Der Vorstandsvorsitzende der Motoren- und Turbinenunion, Ernst mann, wird von Terroristen ermordet.

04.02.85

Die Arbeitslosenzahl in der Bundesrepublik erreicht mit 2,61 Millionen den höchsten Stand seit 1948.

23.02.85

Der FDP-Bundesparteitag wählt Martin Bangemann als Nachfolger von HansDietrich Genscher zum Vorsitzenden.

19.04.85

Der Bundestag verabschiedet nach heftigen Kontroversen das Beschäftigungsförderungsgesetz, das befristete Arbeitsverträge zulässt.

08.05.85

Bundespräsident Richard von Weizsäcker hält zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges vor Bundestag und Bundesrat eine vielbeachtete Rede.

21.06.85

Der Bundestag beschließt die Anrechnung von Erziehungszeiten bei der Rentenberechnung und andere Maßnahmen.

25.06.85

Das Saarland hebt als erstes Bundesland den sog. Radikalenerlass von 1972 auf.

28.06.85

Der Bundestag verschärft das Demonstrationsstrafrecht („Vermummungsverbot").

05.07.85

Die Bundesrepublik und die D D R treffen neue Vereinbarungen über den innerdeutschen Handel 1986 bis 1990. Der „Swing" wird auf 850 Millionen D M festgesetzt.

08.08.85 und 15.08.85

Bei Bombenanschlägen auf Einrichtungen des US-Militärs in Frankfurt und Mönchengladbach werden zwei Menschen getötet und mehrere verletzt.

Zimmer-

449

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 16.09.85

Der SPD-Parteivorstand nominiert den nordrhein-westfálischen Ministerpräsidenten Johannes Rau zum Kanzlerkandidaten.

02.10.85

Die Bundesregierung beschließt einen Gesetzesentwurf, nach dem der Grundwehrdienst von Juli 1989 an auf 18 Monate verlängert werden soll.

12.10.85

Erste Großdemonstration gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage von Wackersdorf in München.

16.10.85

In Hessen kommt es nach mehrwöchigen Verhandlungen erstmals zu einer Koalition zwischen der SPD und den „Grünen" unter Ministerpräsident Holger Börner (SPD). Joschka Fischer (Die Grünen) wird hessischer Minister für Umwelt und Energie.

14.11.85

Der Bundestag verabschiedet ein Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub.

1986 07.01.86

Das von Kernkraftgegnern besetzte Gelände der geplanten Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf wird von 2.000 Polizeibeamten geräumt.

14.01.86

Das Bundesverfassungsgericht erklärt den Ausschluss der „Grünen" von den Beratungen des Geheimdienstetats im Bundestag für verfassungskonform.

20.03.86

Der Bundestag verabschiedet die Änderung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz. Zuvor hatte der DGB mehrere Demonstrationen gegen die geplante Änderung veranstaltet.

26.04.86

Die Reaktorkatastrophe im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl führt auch in der Bundesrepublik zu erhöhten Strahlenwerten.

06.05.86

Die Bundesrepublik und die DDR unterzeichnen nach 12jährigen Verhandlungen ein Kulturabkommen, das die Zusammenarbeit auf den Gebieten Kultur, Kunst, Bildung und Wissenschaft regelt.

17.05.86 bis 19.05.86

Bei Ausschreitungen auf dem Baugelände der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf werden über 300 Menschen verletzt.

03.06.86

Ein Bundesumweltministerium wird neu eingerichtet und Walter Wallmann (CDU) erster Bundesumweltminister.

07.06.86

In Brokdorf und Wackersdorf kommt es zu Demonstrationen und Ausschreitungen.

18.06.86

Der Bundestag verabschiedet das neue Abfallbeseitigungsgesetz.

09.07.86

Der Siemens-Manager Karl-Heinz Beckurts wird von Terroristen ermordet.

14.07.86

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass das Gesetz zur Parteienfinanzierung geändert werden muss. 100.000 DM sind die Höchstgrenze für steuerlich abzugsfähige Parteispenden.

25.08.86

Die SPD spricht sich auf ihrem Nürnberger Bundesparteitag für den stufenweisen Ausstieg aus der Kernenergie aus.

19.09.86

Die erste innerdeutsche Städtepartnerschaft zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt wird vereinbart und tritt am 06.10.86 in Kraft.

10.10.86

Der Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Gerold von Braunmühl, wird in Bonn von Terroristen ermordet.

450

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 16.10.86

Die Bundesrepublik wird für zwei Jahre zum nichtständigen Mitglied im U N Sicherheitsrat gewählt.

04.11.86

Das Bundesverfassungsgericht erklärt Teile des niedersächsischen Landesrundfunkgesetzes für verfassungswidrig und stellt N o r m e n f ü r die Zulassung privater Anbieter auf.

11.11.86

D a s Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen grundsätzlich strafbar sind.

1987 25.01.87

Die Wahlen zum 11. Bundestag bringen starke Verluste für die C D U / C S U . Dennoch kommt es zu einer Fortsetzung der christlich-liberalen Koalition. Bundeskanzler Helmut Kohl ( C D U ) wird am 11.03.87 in seinem A m t bestätigt.

09.02.87

Die rot-grüne Koalition in Hessen zerbricht an Streitigkeiten über die H a n a u e r Nuklearbetriebe. Ministerpräsident Börner (SPD) tritt zurück.

16.02.87

Im Parteispendenprozess werden Eberhard von Brauchitsch, Otto Graf Lambsdorff und Hans Friderichs wegen Steuerhinterziehung zu hohen Geldstrafen verurteilt.

23.03.87

Rücktritt von Willy Brandt als SPD-Vorsitzender. Auf einem Sonderparteitag am 14.06.87 wird Hans-Jochen Vogel zu seinem Nachfolger gewählt. Brandt wird Ehrenvorsitzender auf Lebenszeit.

27.08.87

SPD und S E D veröffentlichen in Bonn und Ost-Berlin ein gemeinsames Diskussionspapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit".

07.09.87 bis 11.09.87

Beim Besuch des Vorsitzenden des Staatsrates der D D R und Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, in der Bundesrepublik werden mehrere Abkommen zwischen beiden Staaten unterzeichnet.

25.09.87

Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel ( C D U ) tritt zurück, nachdem ihm die Bespitzelung seines Gegenkandidaten Björn Engholm (SPD) im Landtagswahlkampf vorgeworfen worden ist. A m 11.10.87 wird Barschel tot in einem Genfer Hotel aufgefunden.

02.11.87

Bei einer nichtgenehmigten Demonstration an der Startbahn West des Frankfurter Flughafens werden zwei Polizisten erschossen.

08.12.87 bis 10.12.87

In Washington schließen die U S A und die U d S S R den Vertrag über die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag).

1988

24.02.88

In Bonn findet eine Konferenz mit Vertretern des Bundes, der Landesregierung sowie von Gewerkschafts- und Wirtschaftsverbänden statt, die über Strukturm a ß n a h m e n im von Stahl- und Kohlekrise betroffenen Ruhrgebiet berät.

18.05.88

Rupert Scholz ( C D U ) wird neuer Bundesverteidigungsminister. Sein Vorgänger, Manfred Wörner ( C D U ) , übernimmt ab 01.07.88 das A m t des NATO-Generalsekretärs.

23.06.88

Der Bundestag verabschiedet das Steuerreformgesetz. U m die Befreiung des Flugbenzins f ü r Privatflieger von der Mineralölsteuer kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen.

451

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 30.08.88 bis 02.09.88

Die SPD entscheidet sich auf ihrem Bundesparteitag in Münster für die Einführung einer „Geschlechterquote".

14.09.88

Die Bundesrepublik und die DDR unterzeichnen eine Neuregelung im Transitverkehr, die die Transitpauschale von 525 auf 860 Millionen DM pro Jahr erhöht.

03.10.88

Tod des CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß. Theo Waigel wird neuer CSU-Vorsitzender, Max Streibl bayerischer Ministerpräsident.

08.10.88

Die FDP wählt Otto Graf Lambsdorff zu ihrem Bundesvorsitzenden.

11.11.88

Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) tritt nach heftiger Kritik an einer von ihm gehaltenen Rede zurück. Zu seiner Nachfolgerin wird am 25.11.88 Rita Süßmuth (CDU) gewählt.

25.11.88

Der Bundestag verabschiedet das umstrittene Gesetz zur Gesundheitsreform, das die gesetzlichen Krankenversicherungen um jährlich 14 Milliarden DM entlasten soll.

1989

01.01.89

Die Gesetze zur Gesundheitsreform und zur Quellensteuer treten in Kraft.

29.01.89

Nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus kommt es zur Bildung eines rot-grünen Senates unter Walter Momper (SPD).

14.02.89

Als erstes Bundesland beschließt Schleswig-Holstein das kommunale Wahlrecht für Ausländer. Hamburg schließt sich diesem Schritt an. Die Bundesregierung kündigt dagegen eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an.

08.03.89

Bundespräsident Richard von Weizsäcker begnadigt die ehemalige RAF-Terroristin Angelika Speitel zum 30.06.90.

29.03.89

Die SPD-Grundwertekommission kritisiert die SED und fordert sie auf, beim gesellschaftlichen Dialog die Grundsätze des gemeinsamen Streitpapiers aus dem Jahr 1987 zu beachten.

13.04.89

Bundeskanzler Kohl kündigt eine Kabinettsumbildung an. Neuer Finanzminister wird Theo Waigel (CSU), neuer Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU), neuer Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU).

21.04.89

Der Bundestag verabschiedet eine Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts und die befristete Einführung der Kronzeugenregelung.

23.05.89

Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) wird von der Bundesversammlung mit 86,2 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtszeit gewählt.

16.06.89

Der Bundestag hebt das zu Jahresbeginn in Kraft getretene Gesetz zur Quellensteuer zum 30.06.89 auf.

08.08.89 und 13.08.89

Die Ständige Vertretung in Ost-Berlin und die Bonner Botschaft in Budapest werden geschlossen, da mehrere Hundert DDR-Bürger von dort aus ihre Ausreise erzwingen wollen.

12.10.89

Das Bundesverfassungsgericht erlässt eine Einstweilige Anordnung gegen das kommunale Ausländerwahlrecht.

09.11.89

Die DDR-Führung gibt die Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik und zu West-Berlin bekannt.

452

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 30.11.89

Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, wird von Terroristen bei einem Bombenanschlag ermordet.

19.12.89

Bundeskanzler Helmut Kohl besucht Dresden und führt Gespräche mit Ministerpräsident Modrow.

1990 07.02.90

Bundeskanzler Kohl schlägt der D D R sofortige Verhandlungen über eine Wirtschafts- und Währungsunion vor.

10.02.90

Bundeskanzler Kohl erhält bei einem Gespräch mit dem sowjetischen Staatsund Parteichef Gorbatschow in Moskau die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit.

08.03.90

Der Bundestag gibt eine Garantieerklärung für die polnische Westgrenze ab.

19.03.90

Die SPD nominiert Oskar Lafontaine zum Kanzlerkandidaten.

20.03.90

Die Bundesregierung beschließt, zum 01.07.90 das Notaufnahmeverfahren für Übersiedler aus der D D R abzuschaffen, um die Massenabwanderung aus der D D R zu stoppen.

02.05.90

Die beiden deutschen Regierungen vereinbaren die Umtauschkurse für die Währungsunion. Dabei werden alle laufenden Zahlungen 1:1 umgestellt, Sparguthaben und Bargeld nach Alter gestaffelt umgetauscht.

05.05.90

In Bonn wird die „Zwei-plus-Vier-Konferenz" zwischen den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges und den beiden deutschen Staaten eröffnet.

16.05.90

Bund und Länder einigen sich auf die Gründung des Fonds „Deutsche Einheit", der zur Unterstützung der D D R mit 115 Milliarden D M ausgestattet wird.

18.05.90

In Bonn wird der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der D D R unterzeichnet.

18.06.90

Die Führungsgremien von CDU, SPD und F D P beschließen, sich im Herbst mit ihren Schwesterparteien in der D D R zu vereinigen.

01.07.90

Die Wirtschafts- und Währungsunion tritt in Kraft. Die D D R gibt die Hoheit über die Finanz- und Geldpolitik an die Bundesrepublik ab, die den Staatshaushalt der D D R bezuschusst und Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung in der D D R subventioniert.

31.08.90

In Ost-Berlin wird der Einigungsvertrag unterzeichnet.

12.09.90

In Moskau wird der „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" unterzeichnet. Die Alliierten verzichten zum 03.10.90 auf ihre Hoheitsrechte.

29.09.90

Das Bundesverfassungsgericht lehnt das auf Gesamtdeutschland übertragene Wahlgesetz als verfassungswidrig ab. Es fordert die Anwendung der Fünf-Prozent-Klausel in nach West- und Ostdeutschland getrennten Wahlgebieten.

03.10.90

Um Mitternacht tritt die D D R der Bundesrepublik bei. Berlin wird neue Hauptstadt der Bundesrepublik.

14.10.90

Die ersten Landtagswahlen in den fünf neuen Bundesländern führen zu Regierungsbildungen unter Führung der C D U in vier Ländern und der SPD in einem Land.

453

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 31.10.90

Das Bundesverfassungsgericht erklärt das Kommunalwahlrecht für Ausländer in Hamburg und Schleswig-Holstein für verfassungswidrig.

09.11.90

Die Bundesrepublik und die Sowjetunion unterzeichnen einen „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit".

02.12.90

Die Wahlen zum 12. Bundestag führen zur Erneuerung der christlich-liberalen Koalition. Am 17.01.91 wird Helmut Kohl (CDU) erneut in seinem Amt bestätigt.

1991 13.01.91

Der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) tritt wegen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe, er habe Politik, Wirtschaftsinteressen und persönliche Vorteile unzulässig vermischt, zurück. Am 22.01.91 wird Erwin Teufel (CDU) zu seinem Nachfolger gewählt.

17.01.91

Beginn des Golfkrieges zur Befreiung des vom Irak besetzten Kuwait. In den folgenden Tagen kommt es in verschiedenen Städten zu friedlichen Demonstrationen gegen den Krieg.

24.01.91

Das Berliner Abgeordnetenhaus wählt Eberhard Diepgen (CDU) zum ersten Regierenden Bürgermeister von ganz Berlin. Er steht einer Koalition aus CDU und SPD vor.

20.02.91 bis 27.02.91

In den neuen Bundesländern kommt es zu Demonstrationen von mehreren zehntausend Arbeitnehmern für den Erhalt von Industriestandorten und für höhere Löhne.

21.03.91

Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) gibt das Aus für den „Schnellen Brutreaktor" in Kalkar bekannt.

01.04.91

Der Präsident der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, wird in Düsseldorf von Terroristen ermordet.

21.04.91

Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz führen zu einer Koalition aus SPD und FDP unter Ministerpräsident Rudolf Scharping (SPD). Die SPD gewinnt damit die Mehrheit im Bundesrat.

24.04.91

Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass die im Einigungsvertrag vorgesehene „Warteschleifen-Regelung" für etwa 100.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst der DDR verfassungsgemäß ist.

28.05.91 bis 01.06.91

Der SPD-Bundesparteitag wählt den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Björn Engholm als Nachfolger von Hans-Jochen Vogel zum Vorsitzenden.

17.06.91

Die Bundesrepublik und Polen unterzeichnen einen Vertrag über gute Nachbarschaft, der die Anerkennung der gemeinsamen Grenze garantiert und engere Zusammenarbeit vorsieht.

20.06.91

Der Bundestag beschließt die Verlegung des Sitzes von Bundesregierung und Bundestag binnen spätestens zwölf Jahren von Bonn nach Berlin.

27.06.91

Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet den Gesetzgeber, bis spätestens 01.01.93 für eine effektivere Besteuerung von privaten Zinseinkünften zu sorgen.

17.07.91

Treuhandanstalt, Landesregierungen, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften einigen sich auf eine Rahmenvereinbarung zur Gründung von Beschäfti-

454

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 gungsgesellschaften zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. 31.07.91

Die Arbeitslosenzahl in den neuen Bundesländern steigt im Juli erstmals über eine Million (Quote: 12,1 Prozent).

17.09.91 bis 23.09.91

Bei Angriffen von Rechtsradikalen auf ein Ausländerwohnheim im sächsischen Hoyerswerda werden mehrere Ausländer und Asylbewerber verletzt. Dies führt zu einer Verschärfung der politischen Debatte um eine Neuregelung des Asylrechts.

07.10.91

In Prag wird der „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit" zwischen der Bundesrepublik und der C S F R paraphiert.

12.11.91

Hans-Ulrich Klose wird als Nachfolger von Hans-Jochen den der SPD-Bundestagsfraktion gewählt.

25.11.91

Wolfgang Schäuble wird zum Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag gewählt. Er tritt die Nachfolge von Alfred Dregger an. Neuer Bundesinnenminister wird Rudolf Seiters (CDU).

09.12.91 bis 10.12.91

In Maastricht einigen sich die Regierungschefs der EG-Staaten auf einen Vertragsentwurf zur Europäischen Union.

11.12.91

In Bremen kommt es nach den Bürgerschaftswahlen zur Bildung einer Koalition aus SPD, F D P und „Grünen" unter Bürgermeister Klaus Wedemeier, der ersten „Ampelkoalition" in den westlichen Bundesländern.

18.12.91

Das Abkommen über freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und Ungarn wird in Bonn paraphiert.

19.12.91

Nach einer weiteren Verschärfung der Geldpolitik durch die Bundesbank erreichen die Leitzinsen in der Bundesrepublik Rekordhöhe.

Vogel zum Vorsitzen-

1992 16.01.92

Die von Bundestag und Bundesrat eingesetzte Gemeinsame Verfassungskommission nach Art. 5 des Einigungsvertrages konstituiert sich in Bonn. Den Vorsitz führen der Bundestagsabgeordnete Rupert Scholz (CDU) und der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD).

06.02.92

Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Antall unterzeichnen in Budapest einen „Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa". Kohl erklärt, die Bundesrepublik werde für eine baldige Aufnahme Ungarns in die Europäischen Gemeinschaften eintreten.

07.02.92

In Maastricht unterzeichnen die Außen- und Finanzminister der zwölf Mitgliedstaaten den „Vertrag über die Europäische Union" in seiner endgültigen Form.

27.02.92

In Prag unterzeichnen Bundeskanzler Kohl und Präsident Havel einen „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit" zwischen der Bundesrepublik und der CSFR.

16.03.92

In Mecklenburg-Vorpommern tritt Ministerpräsident Alfred Gomolka (CDU) zurück, nachdem ihm seine Fraktion zwei Tage zuvor das Misstrauen ausgesprochen hatte. Drei Tage später wählt der Landtag Bernd Seite (CDU) zum neuen Ministerpräsidenten. 455

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 17.03.92

Der Bundestag setzt eine Enquête-Kommissiori zur „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" ein. Den Vorsitz übernimmt der CDU-Bundestagsabgeordnete und letzte DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann.

05.04.92

Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein verlieren die Regierungsparteien jeweils stark, rechtsradikale Parteien (Republikaner bzw. DVU) werden drittstärkste Kraft. In Schleswig-Holstein kann die SPD alleine weiterregieren, in Baden-Württemberg kommt es zur Bildung einer großen Koalition.

14.04.92

In Brandenburg verabschiedet der Landtag die erste ostdeutsche Landesverfassung. Sie enthält einen Katalog individueller Grundrechte und Staatsziele, der über den Grundrechtsteil des Grundgesetzes hinausgeht. Die Verfassung wird am 14.06.92 in einem Referendum mit einer Mehrheit von 92,8 Prozent angenommen.

24.04.92

Am ersten Streik im Öffentlichen Dienst seit 18 Jahren beteiligen sich rund 215.000 Beschäftigte. Erst nach elftägigem Arbeitskampf kommt es zu einer Einigung.

27.04.92

Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) kündigt seinen Rücktritt zum 18.05.92 an. Sein Nachfolger wird der bisherige Justizminister Klaus Kinkel (FDP).

01.07.92

Das Asylverfahrens-Neuregelungsgesetz tritt in Kraft, das angesichts der zunehmenden Zahl von Asylbewerbern die Verfahren beschleunigen soll.

29.07.92

Der ehemalige DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker wird von den russischen Behörden per Flugzeug von Moskau nach Deutschland überstellt. Bei seiner Ankunft wird er in Untersuchungshaft genommen. Am 12.11.92 beginnt der Prozess gegen ihn und fünf weitere Mitglieder der ehemaligen DDR-Führung.

23.08.92

Eine neue Welle von ausländerfeindlicher Gewalt beginnt mit Angriffen auf eine Asylbewerber-Aufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen. Sie gipfelt am 23.11.92 in einem Brandanschlag in Mölln, der drei Tote fordert. Als Reaktion gibt es in den daraufïolgenden Wochen in mehreren Großstädten Demonstrationen und Lichterketten gegen Fremdenfeindlichkeit.

16.09.92

Nach großen Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten scheiden das britische Pfund und die italienische Lira aus dem Europäischen Währungssystem aus.

02.12.92

Der Bundestag ratifiziert mit 543 gegen 17 Stimmen bei acht Enthaltungen den Vertrag von Maastricht. In diesem Zusammenhang wird das Grundgesetz geändert, um die Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat bei der Ausführung des Vertrages zu regeln (Art. 23 n.F).

09.12.92

Der Bundestag billigt mit 457 zu 54 Stimmen bei 21 Enthaltungen das nach langwierigen Verhandlungen zustande gekommene Gesundheitsstrukturgesetz zur Reform des Krankenversicherungssystems. Durch Leistungseinschränkungen und Kostenerhöhungen sowie weitere Sparmaßnahmen sollen die Kosten der medizinischen Versorgung im Jahr 1993 um 10,7 Mrd. DM gesenkt werden.

456

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 1993 13.01.93

Der inhaftierte frühere DDR-Staatsratsvorsitzende Honecker wird aus der Haft entlassen und kann zu seiner Familie nach Chile ausreisen, nachdem das Verfahren gegen ihn aus Gesundheitsgründen eingestellt worden ist. Er stirbt am 29.05.94 in Santiago.

17.01.93

Auf gleichzeitig stattfindenden Parteitagen entscheiden sich die Partei der Grünen und die ostdeutsche Bürgerbewegung Bündnis 90 für den Zusammenschluss zur Partei „Bündnis 90/Die Grünen". Nachdem dieser von den Mitgliedern beider Parteien in Urabstimmungen gebilligt worden ist, wird die Fusion auf dem Vereinigungsparteitag in Leipzig (14. bis 16.05.93) vollzogen.

19.01.93

Nach dem Rücktritt von Bundespostminister Schwarz-Schilling (CDU) (aus Protest gegen die Jugoslawien-Politik der Bundesregierung) und Bundeswirtschaftsminister Möllemann (FDP) (wegen der „Briefbogenaffare") kommt es zu einer größeren Kabinettsumbildung. Neuer Wirtschaftsminister wird Günter Rexrodt (FDP), neuer Postminister Wolfgang Bötsch (CSU). Neuer Landwirtschaftsminister wird Jochen Borchert (CDU), neuer Forschungsminister Matthias ÌVissmann (CDU).

13.03.93

Die Regierungen von Bund und Ländern sowie die Spitzen der großen Parteien einigen sich auf ein „Föderales Konsolidierungsprogramm", das die Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" sowie die Neuordnung der Finanzausstattung der einzelnen Haushaltsebenen beinhaltet. Es kommt zu Steuererhöhungen (u. a. Solidaritätszuschlag) und einer Neuordnung des Finanzausgleichs.

02.04.93

Die FDP-Bundestagsfraktion reicht (nach vorheriger Absprache mit dem Koalitionspartner) Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen eine mit Mehrheit im Kabinett beschlossene Teilnahme von Offizieren der Bundeswehr an der militärischen Durchsetzung des Flugverbotes über Bosnien im Rahmen der NATO ein. Sie hält zunächst eine Änderung des Grundgesetzes für nötig. Die Fraktion der SPD schließt sich der Klage an.

20.04.93

Die Bundesregierung beschließt, dass Deutschland sich an einer friedenssichernden Operation der U N O in Somalia mit 1.600 Soldaten beteiligt.

03.05.93

Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident, Vorsitzende und Kanzlerkandidat der SPD, Björn Engholm, erklärt seinen Rücktritt von allen diesen Amtern. Grund sind unvollständige Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages zur „Barschel-Affäre". Den kommissarischen Parteivorsitz übernimmt sein Stellvertreter Johannes Rau.

04.05.93

Wegen verfassungswidrigen Vorgehens bei der Kandidatenaufstellung bei der C D U annulliert das hamburgische Verfassungsgericht das Ergebnis der Wahlen zum Landesparlament vom 02.06.91. Der Senat wird verpflichtet, Neuwahlen auszuschreiben.

19.05.93

Im schleswig-holsteinischen Landtag wird mit der bisherigen Finanzministerin Heide Simonis (SPD) als erste Frau an die Spitze eines Bundeslandes gewählt. Sie ist Nachfolgerin des zurückgetretenen Björn Engholm (SPD).

26.05.93

Der Bundestag schränkt mit einer Grundgesetzänderung durch Einfügung eines Art. 16a sowie Gesetzesänderungen das Asylrecht ein. Die Entscheidung beruht auf einem breiten Kompromiss zwischen CDU/CSU, F D P und SPD (521 gegen 132 Stimmen).

457

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 28.05.93

Edmund Stoiber (CSU) wird als Nachfolger des wegen einer Affäre zurückgetretenen Max Streibl (CSU) zum bayerischen Ministerpräsidenten gewählt.

28.05.93

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die nach einem fraktionsübergreifenden Gruppenantrag vom Bundestag beschlossene Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs in entscheidenden Punkten für verfassungswidrig. Gegen die Regelung hatten Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU sowie das Land Bayern geklagt.

25.06.93

Ein Sonderparteitag der SPD in Essen wählt den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping zum neuen Vorsitzenden. Dieser hatte sich am 13.06.93 bei einer Mitgliederbefragung mit 40,3 Prozent der Stimmen gegen seine Mitbewerber Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durchgesetzt.

02.08.93

Nach anhaltenden spekulativen Spannungen auf den Finanzmärkten beschließen die Finanzminister und Notenbankpräsidenten der Europäischen Gemeinschaft eine zeitweise Ausweitung der Bandbreiten im EWS von 2,25 Prozent auf 15 Prozent.

02.09.93

Die Bundesregierung beantragt beim Bundesverfassungsgericht das Verbot der rechtsextremistischen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP). Der Bundesrat schließt sich diesem Schritt an.

12.10.93

Die Verfassungsbeschwerden mehrerer Bürger gegen den Vertrag von Maastricht vom Februar 1992 werden vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen.

28.10.93

Die Gemeinsame Verfassungskommission verabschiedet ihren Abschlussbericht, in dem sie eine Reihe von punktuellen Änderungen am Grundgesetz empfiehlt.

01.11.93

Der Vertrag von Maastricht, der die Europäische Union begründet, tritt in Kraft, nachdem die Bundesrepublik Deutschland als letztes Mitgliedsland die Ratifikationsurkunde hinterlegt hat.

26.11.93

Das Bundesinnenministerium ordnet das Verbot der Kurdischen Arbeiterpartei P K K und weiterer 35 Teilorganisationen an, da diese die innere Sicherheit und die öffentliche Ordnung gefährdeten.

15.12.93

Nach den Bürgerschaftswahlen vom 19.09.93 kommt es in Hamburg zur Bildung einer Koalition aus der zuvor alleinregierenden SPD und der Statt Partei.

1994 01.01.94

Die nach jahrelangen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern zustande gekommene Bahnreform tritt in Kraft. Bundesbahn und Reichsbahn werden vereinigt und als Deutsche Bahn AG privatisiert. Der Bund bleibt Mehrheitseigner.

31.01.94

Die Zahl der Arbeitslosen überschreitet zum ersten Mal seit Kriegsende die 4-Millionen-Marke. Die Arbeitslosenquote beträgt 8,8 Prozent im Westen und 17,0 Prozent im Osten.

01.03.94

In Brüssel schließen Schweden, Finnland und Österreich die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union erfolgreich ab. Die Verhandlungen mit Norwegen dauern wegen Meinungsverschiedenheiten über Fischereirechte bis zum 16.03.94.

09.03.94

Der „Ausschuss der Regionen", der durch den Vertrag von Maastricht geschaffen wurde, konstituiert sich in Brüssel.

458

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 23.05.94

In Berlin wählt die Bundesversammlung im dritten Wahlgang Roman Herzog (CDU) als Nachfolger von Richard von Weizsäcker mit 696 Stimmen zum Bundespräsidenten. Auf den Kandidaten der SPD, Johannes Rau, entfielen 605 Stimmen.

12.06.94

Bei der Wahl zum Europäischen Parlament erhalten CDU/CSU 38,8 Prozent, SPD 32,2 Prozent und Bündnis 90/Grüne 10,1 Prozent der Stimmen. Die F D P scheitert an der Fünf-Prozent-Klausel.

22.06.94

Auf einem Sonderparteitag in Halle nominiert die SPD den Parteivorsitzenden und rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping mit 407 von 502 Stimmen zum Kanzlerkandidaten.

26.06.94

In Sachsen-Anhalt führt die Landtagswahl wegen des Scheiterns der F D P zur bundesweit ersten rot-grünen Minderheitsregierung, die von Fall zu Fall auf die Tolerierung durch die PDS angewiesen ist.

06.07.94

Der Bundestag billigt mit den Stimmen von Koalition und SPD die Grundgesetzänderungen zur zweiten Postreform, mit der Telekom, Postdienst und Postbank zum 01.01.95 in Aktiengesellschaften umgewandelt werden. Der Bund soll noch einige Jahre Hauptaktionär bleiben.

12.07.94

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen außerhalb des Bundesgebietes im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit für zulässig. Voraussetzung sei jedoch die vorherige konstitutive Zustimmung des Bundestages zu diesem Einsatz. Der Deutsche Bundestag stimmt am 22.07.94 auf einer Sondersitzung rückwirkend dem Bundeswehreinsatz in der Adria und der Beteiligung an den Awacs-Missionen mit 424 gegen 48 Stimmen bei 16 Enthaltungen zu.

31.08.94

In Berlin verabschieden Bundeskanzler Kohl und Präsident Jelzin die letzten russischen Truppen aus Deutschland.

08.09.94

Unter Teilnahme des französischen Staatspräsidenten Mitterrand, des britischen Premierministers Major und des US-amerikanischen Außenministers Christopher werden mit einem großen Zapfenstreich am Brandenburger Tor die letzten Truppenkontingente Frankreichs, Großbritanniens und der USA aus Berlin verabschiedet.

23.09.94

Der Bundesrat billigt die am 06.09.94 nach langwierigen Verhandlungen vom Bundestag beschlossenen Grundgesetzänderungen. Als Ergebnis der Gemeinsamen Verfassungskommission werden der Umweltschutz, das Verbot der Benachteiligung Behinderter und die verbesserte Gleichstellung von Mann und Frau in das Grundgesetz eingefügt. Zudem werden die Gesetzgebungskompetenzen der Länder gestärkt. Für die Einfügung plebiszitärer Elemente und sozialer Staatsziele finden sich nicht die erforderlichen Mehrheiten.

16.10.94

Bei den Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag wird die christlich-liberale Koalition trotz Verlusten knapp bestätigt. Bündnis 90/Grüne und PDS ziehen ebenfalls in das Parlament ein, letztere durch den Gewinn von vier Direktmandaten.

10.11.94

Bündnis 90/Die Grünen stellen bei der Wahl des Bundestagspräsidiums mit Antje Vollmer zum ersten Mal eine Vizepräsidentin.

15.11.94

Der Bundestag wählt Helmut Kohl (CDU) mit 338 Stimmen knapp erneut zum Bundeskanzler. Die Koalition verfügt über 341 Stimmen.

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Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 07.12.94

Das Bundesverfassungsgericht erklärt den von allen Stromverbrauchern erhobenen „Kohlepfennig" für verfassungswidrig. Die Förderung des deutschen Steinkohlebergbaus müsse aus Steuermitteln finanziert werden.

31.12.94

Die 1990 gegründete Treuhandanstalt wird aufgelöst. Sie hat rund 15.000 Unternehmen in Ostdeutschland privatisiert, kommunalisiert oder stillgelegt. Mehrere neugeschaffene Institutionen wie die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben oder die Treuhandliegenschaftsgesellschaft übernehmen die verbleibenden Aufgaben.

1995 01.01.95

Das von Bundestag und Bundesrat im April 1994 beschlossene Pflege-Versicherungsgesetz schafft einen neuen Zweig der Sozialversicherung zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Seine Leistungen treten stufenweise in Kraft. Zur Kompensation der Arbeitgeberkosten sollen die Bundesländer je einen Feiertag streichen.

01.01.95

Finnland, Österreich und Schweden werden Vollmitglieder der Europäischen Union. Die norwegische Bevölkerung hatte am 28.11.94 den Beitritt des Landes mit 52,3 Prozent der Stimmen abgelehnt.

24.02.95

Der Bundesinnenminister verbietet die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP), da sie der NSDAP wesensverwandt sei. Am 17.11.94 hatte das Bundesverfassungsgericht der FAP den Status einer Partei abgesprochen und sich hinsichtlich des von der Bundesregierung gestellten Verbotsantrages für nicht zuständig erklärt.

27.04.95

Vertragsunterzeichnung über den Zusammenschluss der Bundesländer Berlin und Brandenburg durch den Regierenden Bürgermeister Diepgen (CDU) und Ministerpräsident Stolpe (SPD) im Jagdschloss Glienicke. Nachdem beide Landtage mit Zweidrittelmehrheit zugestimmt haben, scheitert der Fusionsplan am 05.05.96 in einer Volksabstimmung.

29.06.95

Der Bundestag stimmt in namentlicher Abstimmung mit 486 gegen 145 Stimmen bei 21 Enthaltungen einem interfraktionellen Entwurf des Abtreibungsrechts zu, der sich am Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1993 orientiert.

30.06.95

Der Bundestag billigt mit 386 gegen 258 Stimmen den Beschluss des Bundeskabinetts über die Entsendung von Luftwaffen- und Marineeinheiten im Rahmen der Friedenstruppen der UNO im ehemaligen Jugoslawien.

10.08.95

Das Bundesverfassungsgericht erklärt eine Vorschrift der bayerischen Schulordnung zur Anbringung eines Kruzifixes in jedem Klassenzimmer staatlicher Pflichtschulen für verfassungswidrig, da sie mit der grundgesetzlich garantierten Glaubensfreiheit unvereinbar sei. Kirchen, Laienorganisationen und die Unionsparteien organisieren Protestdemonstrationen und kritisieren das Urteil auf das Schärfste.

21.09.95

Der Bundestag beschließt mit 506 von 651 Stimmen eine Änderung des Grundgesetzes, welche die automatische Ankopplung der Abgeordnetendiäten an die Richterbesoldung ermöglichen soll. FDP, Bündnis 90/Grüne und PDS lehnen die Vorlage ab. Am 13.10.95 findet der Gesetzesentwurf im Bundesrat keine Mehrheit und scheitert.

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C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 26.09.95

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bezeichnet in einem Urteil den „Radikalenerlass" der Bundesregierung aus dem Jahr 1972 als Verstoß gegen die Menschenrechte.

14.11.95 bis 17.11.95

Auf dem Parteitag der S P D in Mannheim unterliegt der Vorsitzende Rudolf Scharping in einer K a m p f a b s t i m m u n g mit 190 zu 321 Stimmen dem saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine. Scharping bleibt nach einer Vertrauensabstimmung Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.

06.12.95

Der Bundestag beschließt mit 543 gegen 107 Stimmen bei sechs Enthaltungen die Beteiligung eines 4.000 M a n n starken Bundeswehrkontingents an einer von der N A T O geführten internationalen Friedenstruppe für Bosnien-Herzegowina.

1996 23.01.96

Vertreter von Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften treffen sich im Kanzleramt, um über die gesamtwirtschaftliche Lage in Deutschland und die Möglichkeiten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu beraten. In einem einvernehmlich beschlossenen Grundsatzpapier „Bündnis f ü r Arbeit und zur Standortsicherung" setzt m a n sich das Ziel, die Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahr 2000 um die Hälfte zu reduzieren. A m 30.01.96 beschließt die Bundesregierung als ersten Schritt ein 50-Punkte-Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze.

23.01.96

Karlsruher Abkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf kommunaler und regionaler Ebene zwischen Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Luxemburg wird unterzeichnet. D a s D o k u m e n t sieht die Förderung einer direkten Kooperation von grenznahen Gemeinden, Landkreisen, Regionen, Departements und K a n t o n e n vor sowie die Möglichkeit, unter Verzicht auf Rückfrage bei der jeweiligen Zentralregierung rechtsverbindliche Vereinbarungen zur bi- oder multilateralen Zusammenarbeit zu treffen.

24.03.96

Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein m u ß die S P D Verluste hinnehmen, während F D P und G r ü n e Gewinne verbuchen. In Baden-Württemberg, wo den Republikanern zum ersten Mal der Wiedereinzug in ein Parlament gelingt, löst eine christlich-liberale Regierung die Große Koalition ab.

25.03.96

Der Veterinärausschuss der E U beschließt ein totales Exportverbot für britische Rinder und Rindfleischprodukte, nachdem Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen der Rinderseuche BSE und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit nicht mehr ausschließen. In der Folge kommt es zu einer heftigen politischen Konfrontation zwischen Großbritannien und den anderen EU-Staaten.

29.03.96 bis 30.03.96

Beim EU-Gipfel in Turin wird die Regierungskonferenz zur Revision des Unionsvertrages eröffnet.

19.04.96

25.04.96

Mit der erneuten Senkung der Leitzinsen durch die Bundesbank auf 2,5 Prozent (Diskont) bzw. 4,5 Prozent (Lombard) erreicht der Diskontsatz den niedrigsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik. Nach dem Scheitern der Verhandlungen f ü r ein „Bündnis für Arbeit" verabschiedet das Bundeskabinett ein „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung", das Einsparungen in den Budgets von Bund, Ländern und Sozialkassen in H ö h e von 75 M r d . D M vorsieht. Dies soll v.a. durch Einschnitte bei den

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Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands Sozialleistungen (Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; Anhebung des Rentenalters etc.) erreicht werden. Das Sparpaket stößt auf heftigen Widerstand der Gewerkschaften. 14.05.96

Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die Regelungen des neuen Asylrechts in ihren wesentlichen Punkten als verfassungskonform.

21.06.96 bis 23.06.96

Auf dem EU-Gipfel in Florenz kommt es zu einer Einigung im BSE-Streit und einer Beendigung der Blockadepolitik der britischen Regierung. Diese hatte aus Protest gegen das Exportverbot für britische Rinder und Rindfleisch seit dem 23.05.96 alle Einstimmigkeit erfordernden Beschlüsse des Ministerrats blockiert.

13.09.96

Der Bundestag beschließt gegen die Stimmen der Opposition die vier nicht zustimmungspflichtigen Gesetze zum „Sparpaket". Die vom Bundesrat erzwungenen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss hatten zuvor zu keiner Einigung geführt. Das Sparpaket beinhaltet u.a. Gesetze zur Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, zur Lockerung des Kündigungsschutzes und zur Heraufsetzung des Rentenalters auf 65 Jahre.

27.09.96

Der Bundesrat beschließt auf Antrag Bayerns und Bremens mit den Stimmen von 13 der 16 Länder, zusammen mit Bundestag und Regierung um die Jahrtausendwende in die Hauptstadt Berlin umzuziehen. Damit wurde die Entscheidung aus dem Jahr 1991, die einen Verbleib in Bonn vorgesehen hatte, revidiert.

18.12.96

Die Koalitionsparteien einigen sich darauf, den Solidaritätszuschlag zum 01.01.98 um zwei Prozentpunkte auf 5,5 Prozent zu senken. Die Herabsetzung des Zuschlags auf Lohn-, Einkommens-, und Körperschaftssteuer erfolgt auf Druck der Liberalen. Diese hatten im Herbst 1996 mit ihrer Forderung nach einer früheren Senkung des Solidaritätszuschlages die Regierungskoalition an den Rand des Scheiterns getrieben.

1997 21.01.97

Bundeskanzler Helmut Kohl und der Ministerpräsident der Tschechischen Republik, Väclav Klaus, unterzeichnen in Prag die deutsch-tschechische Aussöhnungserklärung. Deutschland bekennt sich darin zu seiner Verantwortung für die Besetzung der Tschechoslowakei und die während dieser Zeit begangenen Kriegsverbrechen; die Tschechische Republik bedauert die Vertreibung der Deutschen und das dadurch verursachte Leid. Der Deutsche Bundestag stimmt der Erklärung am 30.01.97 zu. Nach mehrtägiger kontroverser Debatte findet die Erklärung am 14.02.97 auch die Zustimmung der Abgeordnetenkammer des Tschechischen Parlaments.

03.02.97

„Initiative zur trilateralen militärpolitischen und militärischen Zusammenarbeit" zwischen der Bundesrepublik, Polen und Frankreich in Warschau von den Verteidigungsministern Volker Rühe (Deutschland), Charles Millón (Frankreich) und Stanislaw Dobrzanski (Polen) unterzeichnet. Vorgesehen sind unter anderem jährlich stattfindende gemeinsame Übungen von Angehörigen der Teilstreitkräfte.

24.02.97

Die Partei- und Fraktionsführungen von CDU/CSU, FDP und SPD nehmen Verhandlungen über die geplante „Große Steuerreform" auf.

06.03.97

Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, verkündet die Arbeitslosenzahlen für Februar, die mit 4,7 Millionen einen neuen Höchststand

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C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 für die Bundesrepublik bedeuten. Am selben Tag durchbricht der Deutsche Aktien-Index erstmals die 3.400-Punkte-Marke. 13.03.97

Nach tagelangen Protesten von Bergarbeitern einigen sich die Bundesregierung, die IG Bergbau sowie die Länder Nordrhein-Westfalen und Saarland auf einen geringeren Abbau der Kohlesubventionen als ursprünglich vorgesehen.

20.03.97

Der Bundestag verabschiedet das umstrittene zweite Teilgesetz zur Gesundheitsreform. Das Gesetz sieht deutlich höhere Selbstbeteiligungen der Patienten für Medikamente, Klinikaufenthalte und Fahrdienste vor.

10.04.97

Das Berliner Kammergericht macht in einem Urteil die iranische Staatsspitze als Auftraggeber für die Ermordung kurdischer Exilpolitiker im Berliner Restaurant „Mykonos" verantwortlich. Vor der deutschen Botschaft in Teheran kommt es zu Demonstrationen. Die EU-Staaten setzen den „kritischen Dialog" mit Teheran aus und berufen ihre Botschafter aus dem Iran ab.

23.04.97

Die Gespräche zwischen der Koalition und der SPD über einen Kompromiss bei der Reform der Sozialversicherungssysteme scheitern.

15.05.97

Nach einer Prognose des „Arbeitskreises Steuerschätzung" werden 1997 Bund, Länder und Gemeinden 18 Milliarden D M weniger Steuereinnahmen erzielen als angenommen. 9,1 Milliarden davon entfallen auf den Bund. Zum Ausgleich der Mindereinnahmen denkt Finanzminister Theo Waigel neben Grundstücksund Beteiligungsverkäufen an die Höherbewertung der Goldreserven der Bundesbank. Nach einer offenen Kontroverse mit Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer zieht die Bundesregierung eine geplante Gesetzesänderung zur Neubewertung der Goldreserven zurück.

16.06.97 bis 17.06.97

Der Europäische Rat tagt in Amsterdam, ohne das Vorhaben, die Institutionen und Politiken der Europäischen Union für die anstehende Vertiefung und Erweiterung grundlegend zu reformieren, verwirklichen zu können. Der Stabilitätspakt zur Vorbereitung der Europäischen Währungsunion wird verabschie det.

29.07.97

Die Verhandlungen zwischen Koalition und SPD über die „Große Steuerreform" scheitern.

21.11. bis 22.11.97

Auf einer Sondersitzung des Europäischen Rates zu Beschäftigungsfragen in Luxemburg begrüßen die Staats- und Regierungschefs die beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU-Mitgliedstaaten für 1998.

11.12.97

Der Bundestag beschließt die Anhebung der Mehrwertsteuer auf 16 Prozent zum 01.04.1998. Damit wird eine Erhöhung des Beitrags zur Rentenversicherung von 20,3 auf 21 Prozent verhindert; die zusätzlichen Einnahmen aus der Mehrwertsteueranpassung fließen in vollem Umfang als Bundeszuschuss in die gesetzliche Rentenversicherung.

22.12.97

Die Verteidigungsminister von Deutschland (Volker Rühe), Großbritannien (George Robertson), Italien (Benjamino Andreatta) und Spanien (Eduardo Serra) unterzeichnen eine Regierungsvereinbarung zur Serienfertigung des „Eurofighter 2000" in Gemeinschaftsproduktion. Geplant ist die Produktion von 620 Maschinen unter der Ägide einer von den vier Staaten gegründeten Organisation.

463

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 1998 16.01.98

Der Bundestag stimmt einer Änderung des Art. 13 GG zu, die die gesetzliche Grundlage für die akustische Überwachung von Räumen und Gebäuden zur Verfolgung schwerer Straftaten bildet. Damit wird der Weg frei für das Gesetz zur Regelung des sog. „Großen Lauschangriffs", das am 05.03.98 vom Bundestag verabschiedet wird.

28.01. bis 29.01.98

Das am 17.01.98 vom französischen Verteidigungsminister Alain Richard und seinem russischen Amtskollegen Igor Sergejew in Paris unterzeichnete Abkommen über eine militärische Kooperation der beiden Staaten wird anlässlich eines Besuchs von Sergejew in Bonn auf Deutschland ausgeweitet.

05.02.98

Neuer Rekordstand der Arbeitslosigkeit. Die Zahl der erwerbslosen Personen in Deutschland steigt im Januar um 301.600 auf 4,823 Millionen und damit auf den höchsten Stand seit Gründung der Bundesrepublik. In rund 200 Städten Deutschlands demonstrieren erwerbslose Bürger, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen.

21.02.98

Die Präsidenten Frankreichs (Jacques Chirac) und Polens (Aleksander Kwasniewski) treffen sich in Posen mit Bundeskanzler Helmut Kohl zum ersten Gipfeltreffen des sog. „Weimarer Dreiecks".

05.03.98

Der Bundestag ratifiziert mit großer Mehrheit den „Vertrag von Amsterdam". Während die Unionsparteien, die FDP und die SPD das erneuerte europäische Vertragswerk geschlossen unterstützen, enthalten sich die Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen; die Mitglieder der PDS-Gruppe lehnen den Vertrag ab. Die bayerische Landesregierung, die die Bundestagsabgeordneten der CSU erfolglos zu einem negativen Votum aufgefordert hatte, kündig Widerstand gegen den Vertrag im Bundesrat an.

26.03.98

Mit 555 gegen 37 Stimmen bei 30 Enthaltungen stimmt der Deutsche Bundestag für die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns in die NATO.

06.04.98

Das russische Verfassungsgericht verpflichtet den russischen Staatspräsidenten Jelzin zur Unterzeichnung eines Restitutionsgesetzes der Duma, mit dem deutsche Kulturgüter, die die Sowjetmacht während des Zweiten Weltkrieges an sich genommen hatte, zu russischem Staatseigentum erklärt werden. Jelzin kündigt daraufhin an, erneut Rechtsmittel gegen das sog. „Beutekunst-Gesetz" einzulegen.

20.04.98

28 Jahre nach ihrer Gründung teilt die Rote Armee Fraktion (RAF) den Behörden und der Öffentlichkeit ihre Selbstauflösung mit. Die linksterroristische RAF, die insbesondere im sog. „Deutschen Herbst" 1977 in Erscheinung getreten war, wird für insgesamt 30 Morde verantwortlich gemacht.

23.04.98

Mit deutlicher Mehrheit (575 zu 35 Stimmen bei fünf Enthaltungen) beschließt der Bundestag die Einführung des Euro.

06.05. bis 07.05.98

Die Wirtschaftsminister Deutschlands und Frankreichs kündigen anlässlich der deutsch-französischen Konsultationen in Avignon die Schaffung der informellen „Euro-11-Gruppe" aus Vertretern der elf Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) an.

27.05.98

Nachdem der für das Amt des Bundespräsidenten vorgesehene nordrhein-westfälische Ministerpräsident, Johannes Rau (SPD), am 16.03.98 zurückgetreten war, wird Wolfgang Clement zu dessen Nachfolger gewählt.

464

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 30.06.98

In Frankfurt am Main wird die Europäische Zentralbank (EZB) gegründet. Der Niederländer Wim Duisenberg wird zum ersten EZB-Präsidenten ernannt und Jean-Claude Trichet, der Chef der französischen Notenbank, zu seinem Stellvertreter bestimmt.

27.09.98

Aus der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag geht die SPD als stärkste Partei hervor. Damit endet nicht nur die 16jährige Oppositionszeit der Sozialdemokraten, sondern auch die „Ära Kohl". Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik kommt es so auf Bundesebene zu einem Machtwechsel infolge von Wahlen. Am 27.10.98 wählt der neue Bundestag Gerhard Schröder zum Bundeskanzler. Zum Bundestagspräsident wird einen Tag zuvor Wolfgang Thierse (SPD) bestimmt.

16.10.98

Mit großer Mehrheit stimmt der Bundestag in einer Sondersitzung dem Antrag der scheidenden Bundesregierung auf eine Beteiligung deutscher Soldaten an einem möglichen NATO-Einsatz in Kosovo zu.

04.12. bis 18.12.98

Teile der Steuerreform werden im Bundestag verabschiedet (Erhöhung des Kindergeldes, Senkung des Eingangssteuersatzes, lOOprozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Senkung der Beitragssatzung zur Rentenversicherung ab April 1999). Der Bundesrat billigt das erste Gesetzespaket der neuen Bundesregierung.

1999 01.01.99

Deutschland übernimmt den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Elf Mitgliedstaaten der EU führen den Euro als gemeinsames Zahlungsmittel ein (Dänemark, Griechenland, Großbritannien und Schweden beteiligen sich nicht an der Wirtschafts- und Währungsunion). Die neue Währung wird bis 31.12.2001 nur im bargeldlosen Zahlungsverkehr parallel zu den jeweiligen Landeswährungen verwendet.

14.01.99

Die Koalition einigt sich auf einen Kompromiss zum Ausstieg aus der Kernenergie. Danach soll die atomare Wiederaufbereitung schrittweise auslaufen und die Reaktorabfälle direkt bei den 19 deutschen Kernkraftwerken zwischengelagert werden.

16.01.99

Auf dem Parteitag der CSU in München wird der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. Er löst damit Theo Waigel ab.

19.01.99

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet zugunsten einer größeren Steuerentlastung für Familien. Damit kommen auf den Bund geschätzte Mehrausgaben in Höhe von 20 Milliarden D M zu.

07.02.99

Die C D U geht aus den Landtagswahlen in Hessen als Siegerin hervor. Am 07.04.99 wird Roland Koch (CDU) vom hessischen Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt.

25.02.99

Der Bundestag beschließt die Teilnahme von 6.000 deutschen Soldaten an einer von der NATO geführten internationalen Friedenstruppe in Kosovo. Außerdem soll ein solches Kontingent für mögliche Militäroperationen des Bündnisses im Rahmen einer Notfalltruppe bereitgestellt werden.

03.03.99

Der Bundestag beschließt mit knapper Mehrheit die Einführung der ersten Stufe der sog. „Ökosteuer" zum 01.04.99. Mit den erwarteten Einnahmen von

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Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 8,4 Milliarden DM soll die geplante Senkung des Rentenversicherungsbeitrags um 0,8 Prozent auf 19,5 Prozent finanziert werden. 04.03.99

Der Bundestag beschließt das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 sowie die Neufassung der 630-DM-Regelung, um mehr Steuergerechtigkeit und eine Entlastung von Arbeitnehmern und Familien im Umfang von 20 Milliarden DM zu erreichen. Am 19.03.99 passiert das Gesetz mit den Stimmen der bereits abgewählten hessischen Regierung den Bundesrat, was auf harsche Kritik der Opposition im Bundestag stößt.

11.03.99

Oskar Lafontaine tritt als SPD-Vorsitzender und Bundesminister für Finanzen zurück wegen des „schlechten Mannschaftsspiels" innerhalb des Kabinetts. Zum neuen Bundesfinanzminister wird der scheidende hessische Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) ernannt, zum SPD-Bundesvorsitzenden wird Bundeskanzler Schröder gewählt.

15.03.99

Die EU-Kommission unter Präsident Jacques Sanier tritt geschlossen zurück, nachdem der Ausschuss unabhängiger Sachverständiger über Anschuldigungen betreffend Betrug, Missmanagement und Nepotismus seinen ersten Bericht vorgelegt hat. Darin werden u.a. die Kontakte des deutschen Kommissars für Telekommunikation und Industrielle Angelegenheiten, Martin Bangemann, zu dem spanischen Telekommunikationskonzern Telefònica kritisch bewertet.

24.03. bis 25.03.99

Auf der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin wird eine Gesamteinigung über den Finanzplan der Europäischen Union für die Jahre 2000 bis 2006, die „Agenda 2000", erzielt und damit der Grundstein zur Finanzierung der EU-Osterweiterung gelegt. Dem ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi wird das Amt des neu zu bestimmenden Präsidenten der EUKommission angetragen.

01.05.99

Der Vertrag von Amsterdam tritt in Kraft. Mit der Hinterlegungen der Instrumente zur Ratifizierung in Brüssel hatte Deutschland die Neufassung des europäischen Vertragswerks bereits am 07.05.98 anerkannt.

05.05.99

Das Europaparlament bestätigt in Straßburg den früheren italienischen Ministerpräsidenten Prodi mit großer Mehrheit als neuen Präsidenten der EU-Kommission.

07.05.99

Nach einer Kompromissregelung zwischen rot-grüner Koalition und FDP verabschiedet der Bundestag das neue Staatsbürgerrecht.

23.05.99

Johannes Rau (SPD) wird von der Bundesversammlung zum neuen Bundespräsidenten gewählt. Am 01.07.99 finden die Vereidigung und die Amtseinführung statt.

03.06. bis 04.06.99

Der in Köln tagende Europäische Rat nimmt den Europäischen Beschäftigungspakt an, in dem die EU-Mitgliedstaaten sich zu einer Koordination ihrer nationalstaatlichen Beschäftigungspolitiken bekennen. Der Rat definiert den Auftrag für eine erneute Regierungskonferenz, auf der das europäische Vertragswerk wiederum überarbeitet werden soll, und beschließt, eine EU-Charta der Grundrechte erarbeiten zu lassen.

10.06. bis 13.06.99

Die Wahl zum 5. Europäischen Parlament, zu der 298 Millionen Bürger in den 15 Mitgliedstaaten der EU aufgerufen sind, endet mit einem Sieg der konservativen und christdemokratischen Parteien. Diese lösen die Sozialdemokraten als stärkste Gruppe im EP ab. Die Wahlbeteiligung ist mit 49,9 Prozent extrem niedrig (1994: 56,8 Prozent).

466

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 06.07.99

Beim dritten Spitzengespräch des Bündnisses f ü r Arbeit befassen sich die Vertreter aus Wirtschaft, Gewerkschaften und der Regierung vor allem mit den Themen Lehrstellen, Steuer- und Arbeitszeitpolitik sowie Erwerbschancen von Geringqualifizierten. Die Wirtschaft sagt zu, das Lehrstellenangebot über den erwarteten Zusatzbedarf hinaus um weitere 10.000 Plätze zu erhöhen. Im Gegenzug zeigen sich die Gewerkschaften bereit, in den Bündnisgesprächen auch auf die Tarifpolitik einzugehen.

04.11.99

Der Bundestag verabschiedet mit 325 zu 241 Stimmen das Gesetz zur Gesundheitsreform, das eine Beibehaltung des Versorgungsniveaus bei dauerhaft stabilen Pflichtversicherungsbeiträgen durch den effizienten und zielorientierten Einsatz der Mittel sicherstellen soll.

04.11. bis 29.11.99

Im Z u s a m m e n h a n g mit der Parteispendenaffäre der C D U verweigert Helmut Kohl Angaben zu den N a m e n der Spender. Die Staatsanwaltschaft Bonn kündigt d a r a u f h i n die Einleitung von Ermittlungen gegen den Ex-Bundeskanzler und CDU-Ehrenvorsitzenden an. A m 22.11.99 setzt der Bundestag auf Beschluss der rot-grünen Mehrheit einen Untersuchungsausschuss zur Parteispendenaffare ein.

11.11.99

Nach einer Klage der Bundesländer Hessen, Baden-Württemberg und Bayern gegen das Finanzausgleichsgesetz aus dem Jahr 1993 entscheidet das Bundesverfassungsgericht, dass der Länderfinanzausgleich neu geregelt werden muss. D e m Gesetzgeber wird auferlegt, bis Ende 2002 die bisherigen Bestimmungen einer grundlegenden U b e r p r ü f u n g zu unterziehen.

10.12. bis 11.12.99

Auf dem EU-Ratsgipfel in Helsinki beschließen die Staats- und Regierungschefs die A u f n a h m e von Beitrittsverhandlungen mit fünf weiteren mittel- und osteuropäischen Staaten (Slowakei, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien) sowie Zypern und verleihen der Türkei den Status eines EU-Beitrittskandidaten (allerdings noch ohne Verhandlungen).

17.12.99

Die Bundesregierung sowie Vertreter der deutschen Wirtschaft einigen sich mit der US-Regierung und den Anwälten von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern über die Zahlung einer Entschädigung in H ö h e von 10 Milliarden D M . Zuvor waren bereits mehrere Entschädigungsangebote abgelehnt worden.

2000 09.01.00

D a s Bündnis f ü r Arbeit wird fortgesetzt. Die Teilnehmer einigen sich auf ein Kompromisspapier mit grundlegenden Elementen künftiger Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik.

11.01.00

Der Europäische Gerichtshof entscheidet, dass Frauen in der Bundeswehr auch Dienst an der Waffen tun dürfen (bis dato war lediglich eine Beschäftigung im Sanitätsbereich und im Musikkorps möglich). Damit gibt der Gerichtshof einer deutschen Soldatin Recht, die sich in ihrer Klage auf den Grundsatz der Gleichstellung der Geschlechter berufen hatte.

13.01. bis 14.01.00

Die C D U räumt ein, Schwarzgeldkonten in Liechtenstein und der Schweiz geführt zu haben. Der ehemalige Bundesinnenminister und Ex-Landesvorsitzende der C D U in Hessen, Manfred Kanther, übernimmt die Verantwortung. Dagegen weist der hessische Ministerpräsident Koch, obwohl er von der Existenz der Schwarzgeldkonten gewusst habe, die Rücktrittsforderungen der Opposition wie des Koalitionspartners F D P zurück.

467

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 18.04.00

Im Frühjahrsgutachten der fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute wird ein kräftiger Aufschwung prognostiziert.

09.04. bis 11.04.00

Der 13. Bundesparteitag der CDU wählt Angela Merkel zur neuen Vorsitzenden der Union. Im Zuge der Spendenaffäre war der Altbundeskanzler am 18.01.00 vom Amt des Ehrenparteivorsitzenden der CDU zurückgetreten; Bundestagspräsident Thierse (SPD) hatte die Partei am 15.02.00 zur Zahlung von 41,3 Millionen DM verpflichtet; Wolfgang Schäuble war am 16.02.00 vom Vorsitz der CDU sowie vom Amt des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden zurückgetreten.

31.05.00

Nach der Kanzlerinitiative zur Anwerbung ausländischer Computerspezialisten vom 23.03.00 verabschiedet das Kabinett die „Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hochqualifizierte Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie". Die sog. „Green-Card"-Regelung sieht u.a. die Anwerbung von maximal 20.000 außereuropäischen IT-Fachkräften vor.

14.06.00

Die Bundesregierung beschließt den Ausstieg aus der Kernenergieerzeugung. Zudem billigt das Kabinett die Pläne von Verteidigungsminister Rudolf Scharping zur Bundeswehrreform, wonach die Bundeswehr auf 277.000 Soldaten verkleinert und der Wehrdienst auf neun Monate verkürzt, die Zahl der Wehrpflichtigen von 135.000 auf 77.000 gesenkt und die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten von 190.000 auf 200.000 erhöht werden soll, um so die internationale Einsatzbereitschaft und -fähigkeit der Streitkräfte zu erhöhen.

20.06.00

Auf dem Gipfel des Europäischen Rates im portugiesischen Santa Maria da Feira erklären die Staats- und Regierungschefs ihre Bereitschaft, Griechenland zu Beginn des Jahres 2001 als zwölftes Land in die Europäische Wirtschaftsund Währungsunion aufzunehmen.

06.07.00

Der Bundestag stimmt mit 312 zu 279 Stimmen dem Steuersenkungsgesetz zu. Eine der wichtigsten Änderungen betrifft die Senkung des Spitzensteuersatzes.

06.07.00

Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, gibt die neuesten Arbeitsmarktdaten bekannt. Im Juni liegt die Zahl der Arbeitslosen bei 3,724 Millionen (9,1 Prozent); damit ist der niedrigste Stand der Arbeitslosigkeit seit 1995 erreicht.

09.08.00

Die Innenminister von Bund und Ländern erklären, bis zum Herbst einen gemeinsamen Verbotsantrag gegen die rechtsradikale Nationaldemokratische Partei (NPD) beim Bundesverfassungsgericht einbringen zu wollen.

17.08.00

Bei der Versteigerung der sog. UMTS-Lizenzen zum Einsatz einer neuen Mobilfunktechnik wird ein Erlös von 98,8 Milliarden DM erzielt. Bundesfinanzminister Hans Eichel kündigt an, den Betrag für den Abbau der Staatsschulden zu verwenden.

Okt. 00

Nach Anschlägen auf jüdische Einrichtungen kommt es in mehreren Städten zu Protestkundgebungen gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Am 26.10.00 spricht sich der Bundesrat für ein Verbot der NPD aus. Der Verbotsantrag der Innenminister wird in der Sitzung am 08.12.00 auch vom Bundestag unterstützt.

14.10. bis 15.10.00

Nachdem der PDS-Vorsitzende Lothar Bisky und der Vorsitzende der PDSBundestagsfraktion, Gregor Gysi, im April ihren Rückzug aus führenden Parteiämtern angekündigt haben, wählt die SED-Nachfolgepartei Gabi Zimmer auf dem siebten PDS-Parteitag in Cottbus zur neuen Vorsitzenden; Fraktionschef ist seit dem 02.10.00 Roland Claus.

468

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 15.11.00

Das Kabinett beschließt die Senkung des Rentenbeitrags zum 01.01.01 von 19,3 auf 19,1 Prozent und verabschiedet den Entwurf von Arbeitsminister Walter Riester (SPD) zur Rentenreform. Mit der sog. „Riester-Rente" soll eine nach dem Kapitaldeckungsverfahren organisierte, private Altervorsorge mit bis zu 20 Milliarden DM jährlich vom Staat gefördert werden.

24.11. bis 26.11.00

In Deutschland wird der erste Fall von Rinderwahn (BSE) im Landkreis Rendsburg-Eckernförde bestätigt. 160 Rinder werden getötet. Als erste Reaktion verabschiedet der Bundestag am 30.11.00 ein Eilgesetz zum vollständigen Verbot der Fütterung von Tiermehl, das als Quelle von Krankheitserregern gilt.

07.12. bis 11.12.00

Auf dem Gipfel des Europäischen Rates in Nizza einigen sich die Staats- und Regierungschefs über eine Reform der Europäischen Verträge, durch die die institutionellen Rahmenbedingungen für die Osterweiterung der EU geschaffen werden sollen. Außerdem wird die von Rat, Europäischem Parlament und Kommission gemeinsam verkündete EU-Grundrechtscharta begrüßt.

2001 03.01. bis 10.01.01

Gesundheitsministerin Andrea Fischer (B 90/Grüne) und Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD) treten nach einem Streit um die BSE-Politik der Bundesregierung zurück. Als Nachfolgerinnen werden Ulla Schmidt (SPD, Gesundheit) und Renate Künast (B 90/Grüne, Landwirtschaft und Verbraucherschutz) ernannt.

26.01.01

Der Bundestag verabschiedet mit der Mehrheit der Koalition den umstrittenen Teil der Rentenreform, in dem die staatlich geförderte, private Altersvorsorge geregelt wird.

06.02.01

Im Januar übersteigt die Zahl der Arbeitslosen wieder die 4 Millionen-Grenze; sie liegt bei 4,093 Millionen.

19.03.01

Nach dreijährigen Verhandlungen schließen sich die Gewerkschaften ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr), DAG (Deutsche Angestelltengewerkschaft), HBV (Handel, Banken und Versicherungen), DPG (Deutsche Postgewerkschaft) und IG Medien auf einem Gründungskongress in Berlin zur neuen „Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft", „ver.di", zusammen. Ver.di ist damit die größte Einzelgewerkschaft der Welt.

03.04.01

Mit einem Urteil zur Pflegeversicherung stärkt das Bundesverfassungsgericht die Familien. Eltern sollen nach dem Willen der Verfassungsrichter ab dem Jahr 2005 geringere Beiträge in die gesetzliche Pflegeversicherung einzahlen als kinderlose Paare.

10.04.01

In ihrem Frühjahrsgutachten korrigieren die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute die Wachstumsprognose für 2001 unter der Begründung einer sich abschwächenden Konjunktur um 0,6 Prozentpunkte nach unten.

18.04.01

Die PDS entschuldigt sich für die 1946 erfolgte Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der sowjetisch besetzten Zone.

04.05. bis 06.05.01

Auf dem FDP-Parteitag in Düsseldorf wird Guido Westerwelle als Nachfolger von Wolfgang Gerhardt zum neuen Parteivorsitzenden gewählt.

06.06. bis 16.06.01

In Berlin kommt es nach koalitionsinternen Meinungsverschiedenheiten und aufgrund der Finanzkrise der Hauptstadt zum Bruch der großen Koalition. Der

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Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands Regierende Bürgermeister, Eberhard Diepgen (CDU), wird durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Sein Nachfolger, Klaus Wowereit (SPD), bildet einen neuen Senat aus Vertretern von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. 11.06.01

Mit einer Grundsatzvereinbarung zwischen der Bundesregierung und Vertretern der Atomkraftwerksbetreiber wird der Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergieerzeugung besiegelt. Demnach sollen die 19 deutschen Atomkraftwerke im Verlauf einer 20jährigen Restlaufzeit nach und nach vom Netz genommen werden.

22.06.01

Der Bundestag verabschiedet das neue Betriebsverfassungsgesetz, mit dem u.a. die Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung zugunsten der Arbeitnehmer ausgeweitet werden.

23.06. bis 29.06.01

Die Bundesregierung und die Regierungen der Länder einigen sich auf eine Neuregelung des Länderfinanzausgleichs und des Solidarpakts II, dessen Fortsetzung über das Jahr 2005 zugesichert wird. Die neuen Länder sollen für die Verbesserung ihrer Infrastruktur und die Wirtschaftsförderung noch weitere 15 Jahre lang insgesamt 306 Milliarden DM erhalten; ab 2020 entfällt die Sonderhilfe für den Osten. Mit der Einigung wird dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entsprochen, das Bund und Länder im November 1999 zur Reform des Ausgleichsmechanismus aufgefordert hatte.

04.07. bis 07.07.01

Die von der Bundesregierung eingesetzte Zuwanderungskommission unter der Leitung der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) legt ihren Abschlussbericht vor. Darin wird Deutschland als Einwanderungsland bezeichnet und eine kontrollierte Einwanderung von 50.000 ausländischen Fachkräften im Laufe der kommenden Jahre vorgeschlagen.

11.09.01

Islamisch-fundamentalistische Terroristen stürzen sich mit gekaperten Passagiermaschinen in das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington. Bei den Terroranschlägen werden über 3.000 Menschen getötet. Die Täter werden als Mitglieder des weltweit operierenden Terrornetzwerks AlQuaida identifiziert, die zur Planung ihrer Anschläge u.a. eine Wohnung in Hamburg genutzt hatten.

04.10.01

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Zulässigkeit der Anträge von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung auf ein Verbot der rechtsradikalen NPD und kündigt an, eine mündliche Verhandlung über ein mögliches Parteienverbot anzusetzen.

11.10.01

Beginn der amerikanischen Militäroperationen in Afghanistan, das als Ausgangspunkt für Terrorismus und Rückzugsgebiet der Mitglieder des Terrornetzwerks Al-Quaida gilt. Am 19.09.01 wurde bereits vom Kabinett das erste AntiTerror-Paket beschlossen. Das Sicherheitspaket tritt in zwei Stufen am 08.12.01 und am 01.01.02 in Kraft.

18.10.01

Der Bundestag stimmt mit deutlicher Mehrheit dem Vertrag von Nizza zu.

21.10.01

Aus den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus geht die SPD mit 29,7 Prozent Stimmenanteil als Siegerin hervor. Im Ostteil der Stadt wird die PDS stärkste politische Kraft. Beide Parteien gehen im Januar 2002 eine rot-rote Koalition ein.

16.11.01

Der Bundestag beschließt den Einsatz der Bundeswehr im Ausland zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Bundeskanzler Schröder verknüpft die Abstimmung des Parlaments mit der Vertrauensfrage; er setzt sich knapp mit 336 Stimmen durch. Von dem Beschluss, der zunächst für ein Jahr gilt, sind

470

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 3.900 Berufs- und Zeitsoldaten der Bundeswehr betroffen. Am 22.12.01 billigt der Bundestag die auf zunächst sechs Monate beschränkte Entsendung von 1.200 Angehörigen der Bundeswehr nach Afghanistan. Sie nehmen dort im Rahmen der „Internationalen Schutztruppe für Afghanistan" (ISAF) am AntiTerror-Kampf teil. 19.11. bis 22.11.01

Auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg wird Gerhard Schröder als Parteivorsitzender bestätigt. Die Bundesregierung erhält Zustimmung zu ihrem außenund sicherheitspolitischen Kurs.

04.12.01

Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin stellt die Ergebnisse der im Auftrag der OECD erstellten internationalen Schulleistungsstudie PISA (Programme for International Student Assessment) vor. Deutschland schneidet international schlecht ab, es rangiert je nach verglichenem Leistungsbereich auf den Plätzen 19 bis 25. Politiker aller Parteien konstatieren einen „Bildungsnotstand". Die Kultusministerkonferenz (KMK) fasst am 07.12.01 „Sofortbeschlüsse", in denen eine bessere Integration ausländischer Schüler, eine verstärkte Förderung leistungsschwacher Kinder sowie Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für Lehrer angekündigt werden.

14.12. bis 15.12.01

Auf dem Gipfel des Europäischen Rates im belgischen Laeken verabschieden die Staats- und Regierungschefs eine „Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union". Es soll ein Konvent einberufen werden, der die nächste Regierungskonferenz der EU vorbereiten und den Entwurf für eine europäische Verfassung ausarbeiten soll. Außerdem beschließt der Rat, die Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten vor Ende 2002 abzuschließen, damit diese als neue EU-Mitglieder 2004 an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen können.

2002 01.01.02

In 12 der 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird drei Jahre nach Inkrafttreten der EWWU mit der Ausgabe von Münzen und Scheinen der neuen Gemeinschaftswährung „Euro" begonnen. Der Euro ersetzt nach einer mehrwöchigen Übergangsfrist endgültig die jeweilige Landeswährung und gilt künftig für die finanziellen Transaktionen von mehr als 300 Millionen Menschen.

01.01.02

Mit dem Altersvermögensgesetz zur Einführung der kapitalgedeckten Zusatzrente und dem neuen Hinterbliebenenrecht treten zwei Kernstücke der Rentenreform in Kraft. Außerdem tritt das sog. „Job-Aqtiv-Gesetz" in Kraft, durch das die Bundesregierung auf eine wirksamere Arbeitsvermittlung hofft.

22.01.02

Das Bundesverfassungsgericht setzt die Verhandlung zum Verbot der rechtsradikalen N P D vorläufig aus, nachdem bekannt wird, dass mehrere im Verbotsantrag der Bundesregierung genannte NPD-Führungskräfte, die das Gericht als Zeugen vorladen wollte, als Informanten für den Verfassungsschutz tätig waren.

30.01.02

Mit deutlicher Mehrheit billigt der Bundestag unter strengen Auflagen den Import embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken.

22.02.02

Nach der Aufdeckung geschönter Zahlen über die geleisteten Arbeitsvermittlungen der Bundesanstalt für Arbeit (BA) durch den Bundesrechnungshof legt Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD) ein arbeitsmarktpolitisches Sofortprogramm vor, das eine grundlegende Reform der BA vorsieht. An die Spitze der BA wird der bisherige rheinland-pfälzische Sozialminister Florian Gerster (SPD) berufen, der Bernhard Jagoda ablöst. Das Sofortprogramm tritt am

471

Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands 23.03.02 in Kraft. Außerdem wird eine unabhängige 15-köpfige Sachverständigenkommission unter dem Vorsitz des VW-Personalvorstandes Peter Hartz eingesetzt („Har/z-Kommission"), die Vorschläge zur Reform der Arbeitsvermittlung erarbeiten soll. 22.02.02

Bundeskanzler Schröder sagt einen Besuch in Tschechien ab, nachdem der tschechische Ministerpräsident Zeman in einem im Januar erschienen Zeitungsartikel die Sudetendeutschen als „fünfte Kolonne Hitlers" bezeichnet, ihre Vertreibung 1945 als gerecht erklärt und die sog. „Benes-Dekrete" als rechtens bewertet hat.

28.02.02

In Brüssel nimmt der „Konvent zur Zukunft der Europäischen Union" unter der Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing seine Arbeit auf. Das Gremium, dem 105 Vertreter von Regierungen, nationalen Parlamenten, des Europaparlaments sowie der Europäischen Kommission angehören, soll den Entwurf einer europäischen Verfassung vorbereiten.

22.03.02

Nachdem der Bundestag am 01.03.02 mit den Stimmen der rot-grünen Koalition das „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern" („Zuwanderungsgesetz") verabschiedet hatte, kommt es bei der Abstimmung im Bundesrat zum Eklat. Bundesratspräsident Klaus Wowereit (SPD) wertet das nach dem Grundgesetz nicht vorgesehene uneinheitliche Votum Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe (SPD) stimmt zu, während Innenminister Schönbohm (CDU) ablehnt - als Zustimmung des Bundeslandes. Die unionsgeführten Bundesländer kündigen daraufhin eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht an.

21.04.02

Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt erringt die CDU 48 der 115 Sitze. Sie geht eine Koalition mit der FDP ein und löst damit die (von der PDS-tolerierte) SPD-Minderheitsregierung ab. Neuer Ministerpräsident wird Wolfgang Böhmer (CDU).

17.05.02

Der Bundestag spricht sich für die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz aus.

23.05.02

Angesichts der desolaten Haushaltssituation der deutschen Kommunen setzt die Bundesregierung eine „Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen" ein.

18.07.02

Der Bundeskanzler entlässt Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping aufgrund ungeklärter Honorarzahlungen des PR-Beraters Moritz Hunzinger. Scharping war bereits zuvor durch umstrittene öffentliche Auftritte in die Kritik geraten. Der bisherige SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Peter Struck, wird am 25.07.02 als Scharpings Nachfolger vereidigt.

16.08.02

Die Bundesregierung stellt den Abschlussbericht der „Hartz-Kommission" zur Reform der Arbeitsvermittlung vor. Kernpunkte sind die Umwandlung der 181 Arbeitsämter in „Job-Center", die künftig auch erwerbsfähige Sozialhilfeempfanger betreuen sollen, die Einrichtung von sog. „Personalserviceagenturen" zur kurzfristigen Vermittlung Arbeitssuchender in Zeitarbeit, die Anhebung der Grenze der Sozialversicherungspauschale für „Mini-Jobs" in privaten Haushalten auf 500 Euro, die steuerliche Förderung sog. „Ich-AGs" zur Begrenzung der Schwarzarbeit, die Verschärfung der Zumutbarkeits- und Sanktionsregelungen für Arbeitslose und die Ausgabe festverzinslicher Wertpapiere durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau („Job-Floater"), mit denen privates Kapital zur Schaffung von Arbeitsplätzen mobilisiert werden soll. Kanzler Schröder kündigt an, die Bundesregierung werde die Vorschläge „eins-zu-eins" umsetzen.

472

C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 Aug. 02

Das „Jahrhunderthochwasser" der Elbe und zahlreicher Nebenflüsse verursacht in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg Schäden in Höhe von etwa 15 Milliarden Euro.

25.08.02

Erstes „TV-Duell" zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem Herausforderer von der Union, Edmund Stoiber (CSU). Schröder lehnt eine Beteiligung Deutschlands an einem möglichen Präventivschlag gegen den Irak ab.

22.09.02

Bei den Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag erzielen SPD und CDU/CSU einen identischen Stimmenanteil von 38,5 Prozent. Durch den Gewinn von vier Überhangmandaten wird die SPD stärkste Fraktion im neuen Bundestag. Der Bundestag wählt Gerhard Schröder erneut zum Bundeskanzler; dieser setzt die Koalition mit den gestärkt aus den Wahlen hervorgegangenen Grünen fort.

21.11.02

Die Bundesregierung setzt eine „Reformkommission für nachhaltige Finanzierung und Weiterentwicklung der Sozialversicherung" („/JürH/vKommission") ein.

18.12.02

Das Bundesverfassungsgericht erklärt das Zuwanderungsgesetz für nichtig. In dem Urteil wird erklärt, das Zuwanderungsgesetz habe bei der Abstimmung im Bundesrat am 22.03.02 nicht die erforderliche Mehrheit erhalten, da die uneinheitliche Stimmabgabe des Bundeslandes Brandenburg nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und das Votum Brandenburgs daher als ungültig zu werten sei.

2003 01.01.03

Die dritte und letzte Stufe der „Ökosteuer" tritt in Kraft. Außerdem müssen Arbeitnehmer die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge sowie gestiegene Beiträge der meisten gesetzlichen Krankenkassen hinnehmen.

01.01.03

Deutschland wird für zwei Jahre nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

08.01.03

Durch einen Kompromiss zwischen den Arbeitgebervertretern von Bund, Ländern und Gemeinden und der Dienstleistungsgewerkschaft vendi wird ein Streik im öffentlichen Dienst abgewendet. Trotz des desolaten Zustande der öffentlichen Kassen, insbesondere auf kommunaler Ebene, wird eine Lohnerhöhung über 4,4 Prozent bei einer Laufzeit von 26 Monaten für Angestellte und Arbeiter vereinbart. Der Berliner Senat erklärt kurz vor der Einigung seinen Austritt aus dem Tarifverbund der kommunalen Arbeitgeber. Weitere Bundesländer und Kommunen erwägen nach dem Tarifabschluss, dem Beispiel Berlins zu folgen.

21.01.03

Die Bundesregierung beschließt, 20 Angehörige der Bundeswehr zur Unterstützung der UN-Waffeninspektionen in den Irak zu entsenden, die auf Grundlage der Resolution 1441 des Sicherheitsrates seit Mitte September 2002 durchgeführt werden. Die Inspekteure suchen nach Massenvernichtungswaffen, deren mögliche Existenz die USA zum Anlass für Kriegsdrohungen gegen das Regime des irakischen Diktators Saddam Hussein nehmen.

22.01.03

Anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages („Elysée-Vertrag") treffen sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der französischen Nationalversammlung in Versailles zu einer gemeinsamen Sitzung. Bundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac bekräftigen in ihren Reden den Willen der beiden Länder zu einer engeren

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Chronik der politischen Nachkriegsentwicklung Deutschlands Zusammenarbeit und sprechen sich gegen einen Militärschlag gegen den Irak aus. Der Bundeskanzler erklärt, Deutschland werde im Falle einer Resolution im Sicherheitsrat zur Frage eines Krieges gegen den Irak mit „Nein" stimmen. 01.02.03

Der Vertrag von Nizza tritt in Kraft. Die irische Bevölkerung hatte dem reformierten europäischen Vertragswerk in einem zweiten Referendum am 19.10.02 zugestimmt und damit die Blockade des Ratifizierungsprozesses beendet.

02.02.03

Die Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen gewinnt die CDU mit großer Mehrheit. Am 04.03. wählt der niedersächsische Landtag Christian Wulff zum neuen Ministerpräsidenten, in Hessen wird Roland Koch am 07.04. für weitere fünf Jahre als Regierungschef wiedergewählt.

10.02.03

Deutschland und die Niederlande übernehmen für sechs Monate die Führung der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF in Afghanistan.

10.03.03

Mit knapper Mehrheit stimmt Malta bei einem Referendum für den Beitritt des Landes in die EU.

11.03.03

Mit der Vereidigung von zunächst 18 Richtern wird in Den Haag der Internationale Strafgerichtshof eröffnet. Das Gericht kann weltweit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord ahnden, sofern der Staat des Tatorts oder das Herkunftsland des Täters Mitglied des Tribunals sind. Auch wird Den Haag nur dann tätig werden, wenn nationale Gerichte nicht willens oder nicht in der Lage sind, die Verbrechen zu verfolgen.

14.03.03

Bundeskanzler Gerhard Schröder legt mit der „Agenda 2010" ein umfassendes Programm zur Reform des Arbeitsmarktes, zum Umbau der Sozialsysteme und für wirtschaftliches Wachstum vor. Es wird beim SPD-Parteitag am 01.06.2003 mit 90 Prozent der Stimmen angenommen.

18.03.03

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellt das NPD-Verbotsverfahren ein.

20.03.03

Nach Ablauf des Ultimatums an die irakische Führung, beginnen die USA den Krieg gegen den Irak. Am 10.04.03 bricht das Regime Saddam Husseins nach nur drei Wochen zusammen.

23.03.03

Die Bevölkerung Sloweniens stimmt in einem Doppel-Referendum für den Beitritt ihres Landes zur EU sowie zur NATO.

26.03.03

Die Außenminister von sieben osteuropäischen Staaten unterzeichnen in Brüssel die Protokolle für einen NATO-Beitritt. Die Aufnahme von Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Rumänien, Bulgarien und der Slowakei wurde auf dem NATO-Gipfel in Prag im November 2002 beschlossen und soll im Mai 2004 in Kraft treten.

03.04.03

Der Staatenbund Serbien-Montenegro wird als 45. Mitglied in den Europarat aufgenommen. Bis auf Belarus und Monaco sind damit alle europäischen Staaten Mitglied im Europarat.

10.05. bis 11.05.03

In Litauen spricht sich in einem Referendum eine große Mehrheit der Bürger für einen Beitritt des Landes in die EU aus.

16.05.03

Bei seinem Besuch in Berlin trifft sich US-Außenminister Powell zu Gesprächen mit Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer. Die Aufhebung der Sanktionen im Irak, die Fortsetzung des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus und Deutschlands Beitrag bei der Sicherung des Friedens in Afghanistan stehen im Mittelpunkt der Gespräche.

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C. Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2003 16.05 bis 17.05.03

In der Slowakei spricht sich eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bei einem Referendum für den Beitritt des Landes in die EU aus.

19.05.03

Treffen der EU-Verteidigungsminister in Brüssel. Bundesverteidigungsminister Peter Struck konkretisiert den Beitrag Deutschlands für eine gemeinsame schnelle EU-Eingreiftruppe. Bis Jahresende soll das insgesamt 60.000 Soldaten umfassende Kontingent einsatzbereit sein. Insgesamt werden von den Mitgliedstaaten rund 100.000 Soldaten bereitgestellt, von denen 60.000 für ein Jahr permanent weltweit einsatzfähig sein sollen.

19.05.03 bis 20.05.03

Bei einem informellen Treffen im spanischen Jerez de la Frontera vereinbaren die Innenminister der fünf großen Staaten der Europäischen Union, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien, eine engere Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung.

20.05.03

Der Jahresbericht 2002 „Rechtsextremismus im Internet" wird von Jugendschutz.net veröffentlicht. Er verweist auf einen Anstieg rechtsextremistischer Aktivitäten im Internet und eine nahezu Verdreifachung der Zahl der von deutschen Rechtsextremisten betriebenen Homepages innerhalb von drei Jahren.

25.05.03

Bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen gewinnt die SPD unter Führung ihres Spitzenkandidaten Henning Scherf mit 42,3 Prozent der Stimmen, auf den Koalitionspartner C D U entfallen 29,9 Prozent.

01.06. bis 02.06.03

G8-Treffen der Staats- und Regierungschefs im französischen Evian.

05.06.03

Der frühere FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann beim Fallschirmspringen.

07.06. bis 08.06.03

In Polen stimmen 77,5 Prozent der Wähler bei einem Referendum für den Beitritt des Landes in die EU.

13.06. bis 14.06.03

In der Tschechischen Republik sprechen sich 77,3 Prozent der Wähler bei einem Referendum für einen Beitritt des Landes in die EU aus.

19.06. bis 21.06.03

Anlässlich des Europäischen Rates in Thessaloniki (Griechenland) übergibt Valéry Giscard d'Estaing den Staats- und Regierungschefs den vom EU-Konvent erarbeiteten Entwurf einer Europäischen Verfassung.

29.06.03

Die IG Metall bricht den im Mai begonnenen Streik zur Einführung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie aufgrund mangelnder Unterstützung in der Öffentlichkeit und unter den Belegschaften ab. Dies ist der erste Streik seit 1954, den eine Gewerkschaft ergebnislos beendet. In der Folge kommt es zu scharfer Kritik an dem IG Metall-Verhandlungsführer Diivel und dem stellvertretenden Gewerkschaftsvorsitzenden Peters.

stirbt durch einen Absturz

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Abkürzungen AfK = AöR = APuZ = BVerfGE = CMLR = DÖV = DVBl. = DVP = ELJ = EuR = £HZW =

Λ4Ζ = HdSW = JCMS = JöR = JZ = NJW = NVwZ = PVS =

sz = VerwArch VVDStRL wib = ZEuS = ZfP = ZParl ZRP = ZSE =

Archiv für Kommunalwissenschaften. Archiv des öffentlichen Rechts. Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Common Market Law Review. Die Öffentliche Verwaltung. Deutsche Verwaltungsblätter. Deutsche Verwaltungspraxis. European Law Journal. Europarecht. Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Stuttgart 1956ÍF. Journal of Common Market Studies. Jahrbuch des öffentlichen Rechts. Tübingen (N.F. 1952ff.). Juristenzeitschrift. Neue Juristische Wochenschrift. Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht. Politische Vierteljahresschrift. Süddeutsche Zeitung. = Verwaltungsarchiv = Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer. Berlin, jährlich. Parlamentskorrespondenz, woche im bundestag, hrsg. vom Presse- und Informationszentrum des Dt. Bundestages. Zeitschrift für europarechtliche Studien. Zeitschrift für Politik. Zeitschrift für Parlamentsfragen. Zeitschrift für Rechtspolitik. Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften.

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Personenregister Ohne Berücksichtigung der Literaturhinweise A Achternberg, N. 249 Adenauer, K. 13f., 53, 64, 139, 144, 192, 213 281 f., 285fF., 302f. Albrecht, E. 182 Β Bahro, R. 22 Baker, J. A. 28 Barschel, U. 19 Barzel, R. 277, 287 Bausch, H. 147 Benda, E. 123 f., 382 Biermann, W. 22 Bisky, L. 203 Bismarck, O. von 107, 127, 152, 289 Blair, T. 197 Blüm, N. 195 Brandt, W. 17, 64, 176, 179, 192, 196, 277, 283 Bulmahn, E. 47 Burke, E. 257 C Campbell, A. 213 Carstens, K. 301 Churchill, W. 52 Clement, W. 40, 147, 273, 288 D Dawendorf, R. 413 Däubler-Gmelin, H. 223 E Ehard, J. G. 290 Ehmke, H. 286 Eichel, H. 43, 67 Ellwein, T. 125 Erhard, L. 154,283,286,302 Eschenburg, T. 154,238,285,304 F Fischer,! 66, 199, 222 f., 270 Flick, W. 240 ForsthofT, E. 75, 124, 127, 155, 309, 357 Friedberg, E. 334 Friedrich, C. J. 121 Friedrich Wilhelm 1. von Preußen 126 G Gabriel, S. 43 Genscher, H.-D.

28, 54, 200

Gerlach, M. 24 Giddens, A. 197 Giscard d'Estaing, V. 54, 58 Goppel, A. 295 Gorbatschow, M. 23, 25, 27 Grosser, A. 140 Gysi, G. 24, 223 H Habermas,! 127 Hartz, P. 30,41,252,273,287 Heffter, H. 74 Hegel, G. F. W. 121,126 Heigert, H. 18 Heinemann, G. 305 Hennis, W. 127, 214, 229, 232 Herzog, R. 63, 305f„ 382, 396f. Heuss, T. 290,301,303,305 Heydte, F. A. von der 382 Hintze, O. 70 Honecker, E. 22 ff. Huntington, S. 50 I Isensee, J.

130

K Kaase, M. 215 Kiesinger, K. G. 217, 283, 286 Kirchhof, P. 384 Kirchheimer, O. 175 Klingemann, H.-D. 215 Kohi, H. 18, 24f., 27ff., 65, 101, 188, 195, 198, 200, 217, 234, 272, 277 f., 283, 287, 295 f., 301 Krenz, E. 24 Krüger, H. 121 Kuhn, F. 191 L Laband, P. 318 Lafontaine, O. 30, 196f., 202, 270, 287 Lambsdorff, O. Graf 200 Leibholz, G. 381 Lengsfeld, V. 257 Lörcher, C. 279 Lübbe, H. 136 Lübke, H. 301,304 Luhmann, N. 127, 335, 354

567

Personenregister M Maiziere, L. de 24f. Massing, O. 381 Mende, E. 257 Menzel, W. 290 Merkel, A. 188, 195 Merz, F. 195 Mitterrand, F. 28 Modrow, H. 24f. Mohl, R. von 386 Möllemann, J. 190, 201, 222 f. Monnet, J. 54 Montesquieu, C. Baron de 317 Müller, P. 195 Müntefering, F. 288 Ν Noelle-Neumann, E. Nowottny, F. 147

148, 214f.

Ρ Palmer, C. 146 Pieck, W. 20 Preuß, H. 75 Prodi, R. 63 R Rau, J. 185,217, 297, 306, 396f. Reagan, R. 18 Rehbinder, M. 360 Renger, A. 259 Roth,C. 191 Rudolph, H. 398 Rürup, B. 252 S Santer, J. 63 Scharping, R. 65, 196 Schächter, M. 147 Schäuble, W. 195 Scheel, W. 287, 305 Scheuner, U. 123 Schewardnadse, E. 28 Schiller, K. 287 Schily, O. 257 Schleyer, H.-M. 381 Schmidt, H. 17, 54, 179, 217, 277, 283, 287, 350 Schmidt, U. 273, 288 Schmidt-Jortzig, E. 369

568

Schmitt, C. 225 Schmitter, P. C. 156 Schönbohm, J. 297, 298 Schröder, G. 30f., 40, 43, 65, 98, 164, 187, 196f., 223, 232, 279, 287f., 296, 298, 398 Schuman, R. 53 Simonis, H. 43, 147 Sindermann, H. Smend, R. 126 Solbes, P. 42 Stalin, J. 21 Starke, H. 257 Steinbrück, P. 43, 147 Stern, K. 77 Stoiber, E. 30, 146, 196f., 223 Stolpe, M. 297f. Stoltenberg, G. 295 Strauß, F. J. 146, 182, 186, 189, 194, 197, 240, 287, 295 Streibl, M. 197 Struck, P. 66 Süßmuth, R. 195 Τ Teufel, E. 42,116 Thatcher, M. 18,28 Thierse, W. 252 Troeger, H. 102 U Ulbricht, W.

22

W Wagner, L. 259 Waigel, T. 197 Weber, M. 312, 316, 333 Weber, W. 154 Weizsäcker, R. von 65, 305 Westerwelle, G. 201 Wienand, K. 259 W i n t r i c h , ! 381 Wolff, Κ. 47 Wowereit, Κ. 297 Ζ Ziel, Α. 297 Zimmer, G. 203 Zoglmann, S. 257

Sachregister A Abgeordnete(n) 247, 252ff., 256 - diäten, bezüge 251,259 - freiheit 258 - recht 251 Agenda 2010 3 1 , 4 0 , 4 3 , 9 2 , 1 9 7 Amtsgericht 368 Ämterpatronage 349 Arbeitgebervereinigungen 160 Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) 41 Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands ( A R D ) 144 Arbeitsgerichtsbarkeit 166 Arbeitslosengeld 4 1 , 4 3 , 9 2 Arbeitslosenhilfe 4 1 , 4 3 , 9 2 Arbeitslosigkeit 18, 29, 35f., 40 Arbeitsmarktpolitik 41 Arbeitsmarktreform 41, 89 Arbeitsmarkt, zweiter 41 Arbeitsparlament 247,398 Arbeitsteilung 320 Asylrecht 33 Aufgaben - des Bundes 98 ff. - der Länder 97 - kommunale 77, 83f., 91 - öffentliche 77, 319, 327 - staatliche 88 - Vermischung 84, 100, 108 - Verteilung 73, 97 ff. Ausschüsse 232 f., 244 Außenpolitik 13, 16, 19, 48, 64, 199 Außerparlamentarische Opposition (APO) Auswärtiger Ausschuss 232, 237

186

Β Bauernverband 164 Beamte 233,259 - Berufsbeamtentum 11,248 Beauftragter der Bundesregierung f ü r Kultur und Medien (Kulturstaatsminister) 97 Berufspolitiker 260,276 Bevölkerungsstruktur 33 Bildung(s) 17,38 - system 46 - wesen 45 f. Bund 1,11,225 Bund-Länder-Kommission f ü r Bildungsplanung (BLK) 98

Bund und Länder 30, 46f., 71, 78, 97ff., 108, 139, 144, 226, 280,310, 326, 377 Bundesanstalt f ü r A r b e i t ( B A ) 41,311 Bundesarbeitsgericht 165,367 Bundesfinanzhof 367 Bundesgerichtshof 367 Bundesgesetz 365 Bundeskanzler 30, 40, 244, 270, 282 ff., 300, 399 Bundeskanzleramt (vgl. auch Regierung) 275, 284 Bundesländer 27, 31, 36, 42, 104 ff., 194 Bundesminister, Bundesministerien (vgl. auch Minister, Ministerien) 269, 399 Bundesorgan 295 Bundespräsident 234, 277, 298, 300ff., 396f. Bundespräsidialamt 275 Bundesrat 27,43, 109, 231, 234, 288ff., 400f. Bundesrechnungshof 245 Bundesregierung (vgl. auch Regierung) 29 f., 231, 243, 265 ff., 277, 399 Bundessozialgericht 367 Bundesstaat 9 7 f f , 119, 225ff. Bundestag(s) 18, 27, 2 2 5 f f , 231, 2 3 6 f f , 246ff„ 264, 277, 397 ff. - wähl 29f., 41, 206, 208, 211 ff., 287 Bundestreue 110 Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) 164 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) 160,164 Bundesverfassungsgericht 3 3 , 4 3 , 4 6 , 85, 1 0 5 f f , 145, 173, 182, 228, 263, 297, 358, 363, 367, 375ÍT., 377f., 380, 402f. Bundesversammlung 300 Bundesverwaltungsgericht 367 Bundeswehr 6 5 , 3 1 0 Bündnis für Arbeit 166 Bündnis 90/Die G r ü n e n 177, 190, 198ff, 222 Bürgerbeauftragte 240 Bürgerinitiative 159 Bürgerkommune 95 Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit 324 Bürgerrecht 362 Bürgerversicherung 44 Bürokratie 19, 94, 290, 315, 3 1 9 f f , 353 C Catch all-Partei 175 Christlich Demokratische Union ( C D U )

16,

569

Sachregister 19ff., 24, 29f., 33, 43, 175f„ 181 f., 186, 188, 195 f., 221 Christlich Soziale Union (CSU) 16, 25, 29 f., 33, 43, 175, 177, 181 f., 186, 189, 197f„ 221 D Daseinsvorsorge 75, 86, 153 Datenschutzbeauftragter 240 Demokratie 5, 120, 125ff., 319 - innerverbandliche 161 - parlamentarische 397 ff. - plebiszitäre 128 - partizipatorische 4 - repräsentative 125 ff. - unmittelbare 128 Demographie 33 Deregulierung 19,40 Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) 325 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 11, 13, 15, 20fT., 78 Deutsche Einheit 25 ff. Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 46 Deutsche Gemeindeordnung (DGO) 76 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 186 Deutsche Soziale Union (DSU) 25 Deutscher Bauernverband (vgl. auch Bauernverband) (DVB) 164 Deutscher Beamtenbund (DBB) 160, 325, 347 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) 14, 160, 163,219 Deutscher Landkreistag (DLT) 159 Deutscher Städtetag (DST) 95, 159 Deutscher Städte- und Gemeindebund 159 Dezentralisierung 19,41, 82, 94 Dienst, öffentlicher 19, 42, 204, 254, 332, 347 Dienstleistung(s) 312 - sektor 36 - Verwaltung 313 Dienstrecht, öffentliches 322, 325 Direktmandat 223,262 Direktwahl 208,255 Dritte(r) - Ebene 295 - Sektor 159 - Weg 197 E Einigungsvertrag 25,27 Einspruchsgesetz 365 Enquête-Kommission 82, 119, 132, 232, 240, 250 Entnazifizierung 12

570

Entwicklungspolitik 67 f. Euro 62 Europarecht 56,364 Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) 53 ff. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 53 ff. Europäische Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) 53, 388 Europäische Union (EU) 29, 35, 37, 39 f., 43, 48, 50, 52ff., 66, 114, 132, 226, 232, 235, 252, 299 -AmsterdamerVertrag 55 ff, 62 - Ausschuss der Regionen (AdR) 95, 115,402 - Außenpolitik 50 - Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 50 - Grundrechtecharta 63 - Kommission(en) 40,42, 59, 63 - Maastrichter Vertrag 55,61 - Parlament 56 ff. - Rat 58 ff. - Regional- und Strukturpolitik 37 - Stabilitätskriterien 41 f. -Verfassung 55ff., 63, 404f. -Verfassungskonvent 55ff., 116, 404 - Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 50, 53 ff. - Vertrag von Nizza 55 f., 116 - Wettbewerbsrecht 86 - Wirtschafs- und Währungsunion (WWU) 55ff, 61 f., 403 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 39f„ 53ff, 115 Europäische Zentralbank 62 Europäischer Gerichtshof 56, 60 f. Europäisierung 48, 66, 83, 89, 95, 111, 115ff., 129, 168,235, 299, 365, 403 ff. Exekutive 109,265ff. F Fernsehen (vgl. auch Medien) 143 ff. Finanz(en) 80,243 - ausgleich 77, 102, 104ff, 113f., 401 - planung 245 - reform 102 - Verfassung 78, 97ff., 101 Flächentarifvertrag 40 Föderalismus 11, 13,46, 48, 97ffi, 119, 290, 400 ff. - kompetitiver 117 - kooperativer 14, 19, 100, Ulf., 321 - „neuer" 113 - reform, Bundesstaatsreform 46,114

Sachregister Fraktionen), (s) 230,234,237,252ff., 256ÍF., 264ff. - disziplin 257 - gemeinschaft 261 - geschäftsführer 264 - Vorsitzender 264 - vorstand 263f. Freie Demokratische Partei ( F D P ) 18, 25, 33, 175, 177, 187, 189, 200,222 Freiheit 362 Frieden, sozialer 16 Führung, politische 229, 236ff„ 265, 268, 341, 345, 349, 351 ff., 360, 399 Funktionalreform 324 Fünf-Prozent-Hürde 206,223 G Gebietreform (vgl. auch Territorialreform) 32, 324 Gemeinde(n) 11, 31 f., 73ff., 159, 226, 309, 311, 323, 327, 330 finanzreform 78,92 - Ordnung, Verfassung 76 Gemeinschaftsaufgabe(n) (vgl. auch Bund, Länder) 97 f., 100 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien 231 Gemeinsamer Ausschuss 248 Gemeinwesen 4 , 3 1 Gemeinwohl 121, 155 Gerechtigkeit 358, 388 Gerichtsbarkeit ordentliche 368 Geschäftsordnung der Bundesregierung 283 Gesetz(e), (s) 228 ff, 356 - bindung 352 - initiative 227 ff. - Staat 357 - verkündung 234 - vorbehält 228 - zustimmungspflichtige 291 Gesetzgebung(s) 9 8 f f , 2 2 7 f f , 290, 301 - ausschließliche 98 ff. - konkurrierende 98 ff - prozess 229 Gesetzliche Krankenversicherung ( G K V ) 43 Gesundheit(s) - politik 22 - wesen 37 Gewaltenteilung 14, 299, 317, 333, 356, 373 Gewerbesteuer 78 Gewerkschaft(en) 40, 160, 166ff, 347 - Erziehung und Wissenschaft ( G E W ) 48 - Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) 167, 325, 347

Gewohnheitsrecht 356,365 Gleichheit 362 Gleichstellung 2 2 , 3 7 Globalisierung 51 Godesberger Programm 175,185 Governance 67 Grundgesetz 3, 11, 33, 77, 118ff, 232, 290, 392 Grundlagenvertrag 17 G r u n d o r d n u n g , freiheitlich-demokratische 258, 385 Grundrecht 362f„ 383 Grünen, die, s. Bündnis 90/Die G r ü n e n H Handwerksordnung 40 Hare-Niemeyer-Verfahren 208 Haushalt(e), (s) 243 ff, 339 - ausschuss 244 ff. - hoheit 336 - kontrolle 243, 245 - öffentliche 29, 41 f. - politik 81 Herrenchiemseer Verfassungskonvent Hochschul - rahmengesetz 46 - wesen 45

13, 377

Hoheits- und Fiskalverwaltung, s. Verwaltung I Ich-AG 41 Immunität 238,252 Indemnität 238 Industriegesellschaft 32 Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) Informationstechnologien, s. Medien Integration, europäische 5 2 f f , 383 Interessen 152 ff. - gruppen 152 ff. - partei 174 - verband/verbände, Vereinigung 152 ff. - Vermittlung 154 Internationalisierung 150 Interpellationsrecht 239 J Jalta-Erklärung 76 Job-Center 89 Justiz 367 ff, 372, 374

167

Κ Kabinett(s) 231, 269, 273, 275 - prinzip 285

571

Sachregister Kandidatenaufstellung 206ff., 296 Kanzler, s. Bundeskanzler - demokratie 282 - mehrheit 279 - prinzip 285 Kapitalismus 14 Katholizismus, politischer 169 Kirche 23,159,311 - katholische 219 Koalition(s) 30 - ausschuss 281 f. - Große 198 - sozialliberale 16 - Vereinbarungen 281 f. Kommunale Selbstverwaltung 11, 74, 76, 88 ff., 119, 226 Kommunalaufsicht 342 Kommunalverfassung(srecht) 92,226 Kommunen (vgl. auch Gemeinden) 73 ff. Kommunikation 135ff., 151 Kommunismus 14 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 20, 186

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 49 Konflikte, regionale 48 Konkordanzdemokratie 192 Konkurrenzdemokratie 156, 192 Konnexitätsprinzip 92, 100 Kontrolle 236f., 241 Konzertierte Aktion 166 Kopfpauschale 44 Korporatismus 157f.,288 - Meso- 159 Körperschaften des öffentlichen Rechts 311 Kumulieren 206 Kulturhoheit der Länder 97 Kulturpolitik 19, 22, 68, 90 Kultusministerkonferenz (KMK) 46, 47 L Länder, Land(es) 1, 12, 42, 97ff., 225, 240, 290, 309, 322, 330 - Finanzausgleich 36 - gericht 368 - kompetenzen 235 - ministerien 273,294 - neugliederung 32, 112 - parlamente (vgl. auch Landtage) 108, 247 - rechnungshöfe 245 - regierung(en) 42, 109 - Verfassungen

280, 284, 376

- verfassungsrecht

572

364

Landtag(e), (s) 20, 235, 280 - wählen 206, 212, 296 Legitimation 406 Legislaturperiode 234 Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDP) 20 f., 24 Lobby 32, 154 Lohnnebenkosten 39 f. M Maastricht-Urteil 383 Maastrichter Vertrag (vgl. auch Europäische Union) 29 Mandat(e) 206, 256 ff. - direktes 257 f. - freies 257 f. - imperatives 257 f. Marktwirtschaft, soziale 14, 26, 188 Marshall-Plan, European Recovery Program (ERP) 53,76 Massenintegrationspartei 174 Maßstäbegesetz 107 Mauer, Berliner 21, 24 Medien 3, 135, 139ff., 220, 252 - angebot 140ff., 149ff. - Anstalten, öffentlich-rechtliche 139 - Fernsehen 143 ff. - gesellschaft 136 - landschaft 139ff., 150ff. - Massen- 135 ff. - neue 151 - politik 138 ff., 149ff. - Print- 139 ff. - Rundfunk 143 ff. Mehrheit(s) 5, 242, 296 - wähl 206 Menschenrechte 361 Migration 52 Minderheit(en) 5,241 - schütz 3,238 Ministerialbürokratie 267,333 Minister, Ministerien (vgl. auch Bundesminister, Bundesministerien) 244, 269ff., 273f., 341, 355, 399 - besoldung 276 - präsident 108, 280, 290 - Präsidentenkonferenz

46

- rat 58 - Verantwortlichkeit 274, 340, 352 Mischfinanzierung 37, 46, 103 Misstrauensvotum 279 - konstruktives 18,277,280,300 Mittelstand 39

Sachregister Ν Nationaldemokratische Partei Deutschlands ( N P D ) 186 Nationalsozialismus 154 Naturrecht 259 Neokorporatismus 155 Neue Soziale Bewegungen 17 Neues Steuerungsmodell 94, 333 Nordatlantische Verteidigungsorganisation (NATO) 2 8 , 4 9 , 6 5 - Partnerschaft für den Frieden Normenkontrolle 46 - abstrakte 377 - konkrete 377 Normensystem 361 Notstandsverfassung 16

49

O Oberlandesgericht 368 Obrigkeitsstaat 318 Öffentlichkeit 3, 243, 246ff., 414 Öko-Steuer 30,40, 44 O m b u d s m a n n 343 Opposition 229, 237 f. Ordnungsverwaltung 313 Organisation(s) 1,314 - gewalt 267, 270, 274, 336 - Verwaltung (vgl. auch Verwaltung) 314 Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in E u r o p a (OSZE) 49 Organisation f ü r wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ( O E C D ) 4 0 , 4 7 , 53, 98 Ostpolitik 16f., 64 Ostverträge 176 Ρ Parlament(s) (vgl. auch Bundestag) 225ff., 236ff., 246ff., 256, 301 - aufgaben, funktionen 226ff., 236 - ausschüsse 240 - Minderheitenschutz 238 - Petitionen, Petitionsrecht 239 - reform 2 4 6 f f , 250 - und Öffentlichkeit 2 4 6 f f , 398 Parlamentarischer Rat 12 Parlamentarismus 169, 225, 246, 249, 398 Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) 24, 177, 191,201,222 Partei(en) 3, 17, 135, 153, 168ff., 2 0 4 f f , 252, 256 - apparat 181 - bindung 258 - demokratie 170 finanzierung 19, 182ff, 193ÍT.

- gesetz 173ff, 1 8 2 f f , 210 - mitglied 178f„ 193, 209 - monopol 171 - organisation 12, 1 7 5 f f , 204 - programme 175 ff, 185 ff. - Rechts-Links-Schema 186, 193 - spenden 184 f. - Staat 280 - system 19, 24, 169, 187, 191 ff, 198, 222 - Verdrossenheit 174 - Wettbewerb 47 Partizipation 18, 118ff, 1 2 5 f f , 161 Paulskirchenverfassung 392 Personal 94, 309 - f ü h r u n g 346,350 - hoheit 347 - politisches 205 ff. - Service-Agen turen (PSA) 41 Petition(s) 240 - ausschuss 240 PISA-Studie 4 8 , 9 8 Pluralismus, Pluralismustheorie 154 Presse, s. Medien Politikverflechtung 98, 1 0 7 f f , 299 Politische Kultur 403 Potsdamer Konferenz 76 Presse 137ff, 220 - amt 285 - freiheit 137 pressure group 154 Privatisierung 19, 44, 86, 93 R Rahmengesetzgebung 98 ff. R a u m o r d n u n g 17, 32, 87, 100 Rechnungsprüfung 344 Recht(s) 356 ff. - bindung 389 - gemeinschaft 402 - mäßigkeit der Verwaltung 352 - n o r m 356 - öffentliches 365 - Ordnung 3 1 3 , 3 5 6 f f , 361 ff, 375 - politik 360 - positives 356ff. - positivismus 357 - quelle 361 - Sicherheit 358,389 - sprechung 3 5 6 f f , 3 6 7 f f , 372ff. - Staat 5, 11, 72, 120, 123ff., 3 5 6 f f , 374, 385f., 389 - überpositives 356 ff. - Verordnung 365

573

Sachregister Redeparlament 247 Regierung(s) (vgl. auch Bundesregierung) 225ff., 229, 301, 365 ff. - bildung 236, 276fT., 281, 300 - chef 264, 270 - funktionen 265 ff. - mehrheit 237 - reform 326 - system 1,316ff. - Wechsel 278 Regionalplanung 324 Regionalpolitik 32 Reichskanzler 289 Reichsrat 289 Reichstag 289 Reichsverfassung 289 Rentenreform 15,44 Rentenversicherung 4 Repräsentation(s) 118ff, 125ff., 174, 225, 254 - mittelbare 120 - unmittelbare 120 Ressortprinzip 269,285 Richtlinienkompetenz 269,282f. Riester-Rente 30, 40, 44 Runder Tisch 24 f. Rundfunk (vgl. auch Medien) 143 ff. - anstalten 139, 144 - staatsvertrag 145 ff. S Schengener Abkommen 33, 62 Schlanker Staat 329 Sektor, öffentlicher 19, 329 Selbstverwaltung, s. Kommunale Selbstverwaltung September, 11., 2001 50,65 Sicherheit(s) - P o l i t i k 48 f., 64, 66 - system 49 Sicherung(s) - soziale 43 - systeme 40,43 Solidarität 405 ff. Solidarpakt 37, 107 Sozial - hilfe 15,41,43,89 - politik 19, 22, 89, 92, 197 - Staat 31, 34, 123 ff, 153, 318, 386, 389 - staatsprinzip 11 - struktur(en) 34, 37 ff. - Versicherungen

30, 39, 309

Sozialdemokratie 169 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 18ff., 22, 24, 30f., 40, 175, 185, 188, 196f., 224

574

Sozialismus 13 f., 22 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 20ff, 201 Spitzenverbände, kommunale 91 Staat(s) 2, 6, 11, 69ff, 126, 129ff, 204, 226 - aktivierender 330 - angehörigkeit 70 - aufgaben 327 ff. - aufsieht 342 - gebiet 69 - gewalt 69 - minister 275 - rechtslehre - reform 326 - tradition 133, 393 - versagen 130 - Verschuldung

- volk

29

69

- Wissenschaften

2, 9, 70, 356

- ziele, zweck 72, 121 Staatssekretäre 275 - Parlamentarische 271 Staat und Gesellschaft 126 ff. Stabilität 392 ff. Stadt 81 ff., 154 - Staat

246, 281, 310

- Stadt-Umland-Problematik 32, 81 - Verstädterung 74 Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) 109 Steuer - politik 43 - reform 41, 400 f. - verbünd 102 Strafrecht 356,369f. Strukurreform 400 f. Strukturwandel 3 Subsidiarität 77, 108, 116, 386 Τ Tarif - autonomie 165 - partner 26, 39 Territorialreform 32,80 Terrorismus, Terror 17, 50 U Überhangmandate 208,224 Umwelt - p o l i t i k 19,90,199 - probleme 52 Untersuchungsausschuss (vgl. auch Parlament und Bundestag) 240 ff.

Sachregister

V Verbände, Verband(s) 3, 135, 152ff., 171, 219, 231,276 - Staat 152 ff. Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) 167, 347 Vereinigung (vgl. auch Wiedervereinigung) 11, 19, 28,31, 111, 130 Verfassung(s) 24, 119, 129 ff. - änderungen 363 - gerichtsbarkeit 376 - kern 362 - kommission 131 f. - konsens 123 - konvent, s. EU-Verfassungskonvent - organ 293 - recht 280, 297, 363 -reform 78,82,119,131 - wandel 396 Verhältniswahl 206 - system 206 Vermittlungsausschuss 234,292 Verteidigung(s) - auschuss 249 - politik 49 Vertrauensfrage 278,301 Verwaltung(s) 1, 12, 71, 107, 2 0 8 f f , 290, 3 3 4 f f , 399 f. - a u f b a u 309 ff. - föderalismus 98, 107ff., 298 - f ü h r u n g 333 ff, 351, 365 - gerichte 318,344 - gerichtsbarkeit 367 - geschichte 317 - kontrolle 344 -öffentliche 11,308,314,319 - organisation 79, 317, 337 f. - personal 312 - p o l i t i k 317, 319 ff. - politische 314, 343 - recht 365 - reform 20,42, 322, 326 - Staat 308, 353 - system 309 ff. - Vereinfachung 324 - verfahren 312 - Vorschriften 230, 366 - wirtschaftende 313 - Wissenschaft 308, 338 Volk(s) 131 - entscheid 32 - kammer 20, 25

- partei(en) (vgl. auch Parteien) -Souveränität 119,174,390 - Vertretung 226,249 Völkerrecht 364

174f., 188

W Wahl(en) 30, 205, 225 - beteiligung 211 - Bundestagswahl 2002 22Iff. - entscheidung 213 - ergebnis 2 1 1 , 2 2 1 , 2 2 4 - gesetz 210, 223 - kämpf 216Π". - kampfstrategie 216ff. - kreis, kreiseinteilung 208, 256 - recht 2 0 5 , 2 0 8 , 2 1 1 - system 206 - verhalten 211 f. Wähler 2 0 5 , 2 2 5 , 2 5 5 - initiativen 219 Warschauer Pakt 19, 2 1 , 4 9 Wechselwähler 176,224 Wehrbeauftragter 240 Weimarer Verfassung 20, 289, 304 Welthandelsorganisation (WTO) 51 Westeuropäische Union ( W E U ) 50, 53 ff, 65 Westintegration 13 Wettbewerbsfähigkeit 40, 330 Wiedervereinigung 1, 13, 18, 2 4 f f , 29, 39, 224, 400,405 Willensbildung, politische 2 ff, 74, 80, 118 ff, 135fr., 168, 172, 397f. Wirtschaft(s) - politik 19,22,40,53,89,200 - struktur 34, 39 Wirtschafts- und Währungsunion (vgl. auch Europäische Union) 29, 403 Wohlfahrtsstaat 40, 130 Wohlfahrtsverband 311 Ζ Zeitschriften und Zeitungen, s. Medien Zentralismus, demokratischer 2 1 , 7 8 Zentrale Vergabestelle f ü r Studienplätze (ZVS) 46 Zentralverband des deutschen Handwerks 40 Zivilrecht 356, 365, 369 Zustimmungsgesetz 228, 364 Zuwanderungsgesetz (vgl. auch Migration) 34, 405 Zwei-plus-Vier-Vertrag 11, 26, 28 Zweites Deutsches Fernsehen ( Z D F ) 144

575

Joachim Jens Hesse/Thomas Ellwein Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Band 2: Materialien

Joachim Jens Hesse/Thomas Ellwein

Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Band 2: Materialien 9., vollständig neu bearbeitete Auflage

w DE

G_ RECHT

De Gruyter Recht und Politik · Berlin 2004

Das Werk ist von der 1. bis zur 8. Auflage erschienen im Westdeutschen Verlag, Opladen/Wiesbaden.

θ G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

I S B N 3-89949-112-2 (Br.) I S B N 3-89949-113-0 (Geb.) Bibliografische

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Inhalt Einführung I.

Völkerrechtliche Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland

1/1 1/2

Text der Militärischen Kapitulationsurkunde vom 8. Mai 1945 Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands durch die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der USA, der UdSSR und die Provisorische Regierung Frankreichs vom 5. Juni 1945 - Auszüge Erklärungen der Alliierten vom 5. Juni 1945 Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 - Auszüge Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Deutschlandvertrag) in der geänderten Fassung vom 23. Oktober 1954 Europäische Integration als Richtlinie deutscher Politik Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit vom 22. Januar 1963 . Zum Grundlagenvertrag a.) Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Dezember 1972 b.) Brief der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zur deutschen Einheit an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Dezember 1972 c.) Zusatzprotokoll zum Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 - Auszüge Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (Einigungsvertrag) Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 („2 + 4-Vertrag") Erklärung zur Aussetzung der Wirksamkeit der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten, abgegeben von den Außenministern Frankreichs, der Sowjetunion, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten am 1. Oktober 1990 in New York Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. August 1970 (Moskauer Vertrag) a.) Text des Vertrags b.) Brief zur deutschen Einheit

1/3 1/4 1/5

1/6 1/7 1/8

1/9 1/10

1/11

1/12 1/13

1/14

1

3

4 4 6

14 18 20

23

25

26 28

36

54 78

82

83 85

V

Inhalt I/l 5

1/16

1/17

1/18

Vertrag über die gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 9. November 1990 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 (Warschauer Vertrag) Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November 1990 Deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung vom 21. Januar 1997

II.

Verfassungsrechtliche Dokumente

II/l II/2 II/3

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Bisherige Änderungen des Grundgesetzes Synopse der Bestimmungen des Grundgesetzes und der von der Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und Bundesrates empfohlenen Änderungen Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Verfassung des Freistaates Sachsen Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches - Auszüge

II/4 II/5 II/6 II/7

III.

Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung

III/l III/2

Ministerpräsidentenkonferenz und Fachministerkonferenzen Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland a.) Geschäftsordnung b.) Richtlinien für die Einsetzung und Arbeitsweise von Gremien der Kultusministerkonferenz - Auszüge c.) Das KMK-Verfahren in Angelegenheiten der Europäischen Union . . . d.) Organisationsschema der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern über die Errichtung eines Wissenschaftsrates Satzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Länderfinanzausgleich a.) Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 1992 - Auszüge . . . b.) Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999 - Auszüge Das Prinzip der „Bundestreue" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - Auszug aus einem Urteilsspruch Staatsvertrag der Länder Berlin und Brandenburg über die Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes (Neugliederungs-Vertrag) - Auszüge

III/3 III/4 III/5

IH/6 III/7

VI

85

92

94 95

99 141

145 154 174 179 197

205

206 209 212 215 216 218 223 227 233 234

Inhalt IV.

Politische Willensbildung im Parteien- und Verbändestaat

IV/1 IV/2

Zur Auslegung des Artikels 21 Absatz 2 G G 239 Zur Auslegung des Artikels 21 Absatz 1 G G a.) Auszüge aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14.7.1986 241 b.) Auszüge aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.4.1992 . . 244 Bericht der Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfmanzierung 2001 - Zusammenstellung der Empfehlungen der Kommission . 251 Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz) 259 Zur Programmatik der Parteien a.) Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands 277 b.) Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union 289 c.) Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands . . 294 d.) Wiesbadener Grundsätze - Für die liberale Bürgergesellschaft. Beschlossen vom 48. Bundesparteitag der F.D.P. 305 e.) Politische Grundsätze der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 312 f.) Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus 321 Organisationsstatut der SPD 326 Einnahmen der Bundesparteien a.) Gesamteinnahmen der im Bundestag vertretenen Parteien (1968-2001) 342 b.) Finanzierung der Bundestagsparteien nach Einnahmearten (1992-2001) 343 Satzung der Konrad-Adenauer-Stiftung 344 Satzung der Friedrich-Ebert-Stiftung 345 Organisationsplan der Friedrich-Ebert-Stiftung 346 Staatsfinanzierung der parteinahen Stiftungen aus dem Bundeshaushalt (1965-2001) 349 Mitgliedsverbände der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 350 Mitgliedsverbände des Bundesverbandes der Deutschen Industrie 352 Mitgliedsverbände des Bundesverbandes der Freien Berufe 355 Satzung des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) e.V. 357 Gewerkschaftsmitglieder a.) Deutscher Gewerkschaftsbund 366 b.) Deutsche Angestelltengewerkschaft 367 c.) Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschlands 367 d.) Deutscher Beamtenbund (Bund der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes) 367 Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes 368 Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) 374 Satzung des Bundes für Umwelt und Naturschutz e.V. (BUND) 378 Liste der beim Deutschen Bundestag registrierten Verbände 388 Kirchliches Leben a.) Katholische Kirche 392 b.) Evangelische Kirche 393

IV/3 IV/4 IV/5

IV/6 IV/7

IV/8 IV/9 IV/10 IV/11 IV/12 IV/13 IV/14 IV/15 IV/16

IV/17 IV/18 IV/19 IV/20 IV/21

VII

Inhalt IV/22

Kirchensteuern und Kirchengeld a.) Katholische Kirche b.) Evangelische Kirche

V.

Wahlen und Wähler

V/1 V/2 V/3

Bundeswahlgesetz Sitzverteilung nach d'Hondt und Hare-Niemeyer Wahlen zum Deutschen Bundestag a.) Ergebnisse der Wahlen zum Bundestag 1949-1987 b.) Ergebnisse der Wahlen zum Bundestag 1990-2002 (Gesamtdeutsche Wahlen) c.) Sitzverteilung im Bundestag auf Grund der Wahlergebnisse 1949-1987 d.) Sitzverteilung im Deutschen Bundestag auf Grund der Wahlergebnisse 1990-2002 (Gesamtdeutsche Wahlen) Ergebnis der Volkskammerwahlen in der D D R vom 18. März 1990 Bayerisches Gesetz über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz) Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen Sitze der Parteien in den Länderparlamenten Ratsmitglieder nach Parteien in Gemeinden mit 10000 und mehr Einwohnern Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland a.) 1979-1989 b.) 1994-1999

V/4 V/5 V/6 V/7 V/8 V/9

VI.

Die Parlamente - Aufgaben und Organisation

VI/1 VI/2

VI/6 VI/7 VI/8 VI/9 VI/10 VI/11 VI/12

Altersgliederung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages Berufsstruktur der Mitglieder des Deutschen Bundestages (11 -14. Wahlperiode) Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Geschäftsordnung der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 1989 zur Rechtsstellung eines fraktionslosen Abgeordneten des Deutschen Bundestages („Wüppesahl-Urteil") - Leitsätze Die ständigen Ausschüsse des Bundestages in der 15. Wahlperiode Vom Deutschen Bundestag eingesetzte Untersuchungsausschüsse Vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquête-Kommissionen Tätigkeiten des Deutschen Bundestages und des Bundesrates Geschäftsordnung des Bundesrates Die Ausschüsse des Bundesrates Stimmengewichtung der Länder im Bundesrat gemäß Art. 51 Abs. 2 G G . .

VII.

Regieren und Verwalten

VII/1 VII/2

Die Geschäftsordnung der Bundesregierung Inhaltsübersicht der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien

VI/3 VI/4 VI/5

VIII

394 395

396 404 406 409 411 413 415 416 422 424 425

426 428

430 432 434 458

467 469 470 472 474 476 492 493

494 501

Inhalt VII/3 VII/4 VII/5 VII/6 VII/7 VII/8 VII/9 VII/10 VII/11 VII/12 VII/13

VII/14 VII/15 VII/16

VII/17 VII/18

VII/19 VII/20 VII/21 VII/22

Organisationsstruktur der Bundesfinanzverwaltung und geplante Reformen Organisationsplan des Bundeskanzleramtes Organisationsplan des Bundesministeriums für Bildung und Forschung . . . Das System der Staatsorgane der D D R Nordrhein-westfälisches Gesetz über die Organisation der Landesverwaltung (Landesorganisationsgesetz) Organisationsplan der Landesregierung Baden-Württemberg Aufbau der Landesbehörden in Baden-Württemberg Die hamburgische Landesverwaltung Organisationsplan der Thüringer Staatskanzlei Behörden im Geschäftsbereich des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren Zur Stellung Politischer Beamter a.) Artikel 31 Beamtenrechtsrahmengesetz b.) Artikel 36 Bundesbeamtengesetz c.) Von Artikel 36 BBG betroffene Politische Beamte beim Bund und bei den Ländern Gesetz zur Gleichstellung von Frau und Mann im öffentlichen Dienst des Landes Bremen Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zum Bremer Landesgleichstellungsgesetz vom 17. Oktober 1995 - Auszug Leitfaden Aufgabenanalyse. Empfehlungen der Stabsstelle Verwaltungsstruktur, Information und Kommunikation im Innenministerium BadenWürttemberg - Auszüge Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz) Gemeindeverfassungen a.) Magistratsverfassung b.) Duale Rat-Bürgermeister-Verfassung unter einer Spitze c.) Duale Rat-Bürgermeister-Verfassung unter zwei Spitzen Gliederung der Selbstverwaltung mit den Behörden der allgemeinen Aufsicht im Land Baden-Württemberg Verwaltungsgliederungsplan der Stadt Köln Dezernatsverteilungsplan der Stadt Erfurt Gesamtzuweisungen des Landes Nordrhein-Westfalen an die Gemeinden und Gemeindeverbände im Haushaltsjahr 2002

VIII.

Die Bundesrepublik als Rechtsstaat

VIII/1 VIII/2 VIII/3 VIII/4 VIII/5 VIII/6 VIII/7 VIII/8 VIII/9

Übersicht über den Gerichtsaufbau in der Bundesrepublik Deutschland . . . Rechtsvorschriften des Bundes Gerichte der Länder Richter und Richterinnen im Bundes- und Landesdienst Staatsanwälte/-anwältinnen, Rechtsanwälte/-anwältinnen, Notare/Notarinnen Gesetze zur Entlastung der Rechtspflege Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Geschäftsabwicklung beim Bundesverfassungsgericht Tätigkeit der Landesverfassungsgerichte

505 506 508 510 512 519 521 525 526 528 529 529 530 532 537

539 547 550 551 552 553 554 556 557

558 560 562 563 564 565 568 575 576 IX

Inhalt IX.

Daten zur Staatstätigkeit

IX/1

Personal der öffentlichen Haushalte nach Beschäftigungsbereichen (1950-2001) Personal der öffentlichen Haushalte: Vollzeitbeschäftigte der Gebietskörperschaften nach Aufgabenbereichen (1950-2000) Personal der öffentlichen Haushalte nach Laufbahngruppen Personalausgaben der öffentlichen Haushalte nach Arten und Aufgabenbereichen (1999) Die Bundesausgaben nach Aufgabenbereichen in den Haushaltsjahren 1952 bis 2006 Rechnungsmäßige Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Haushalte (1998/1999) a.) Ausgaben und Einnahmen nach Körperschaftsgruppen und Arten . . . . b.) Ausgaben nach Körperschaftsgruppen und Aufgabenbereichen Ausgaben der öffentlichen Haushalte nach Ländern in ausgewählten Aufgabenbereichen (1999) Investitionsausgaben der öffentlichen Haushalte nach Arten und Aufgabenbereichen (1999) Die Ausgaben des Bundeshaushalts und ihre Finanzierung (1950-2006) . . . Kassenmäßige Steuereinnahmen 2001 Die Steuereinnahmen des Bundes in den Haushaltsjahren 1950 bis 2003 Schulden der öffentlichen Haushalte Rechnungsmäßige Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Haushalte (1950-2001) a.) Entwicklung der Ausgaben und Einnahmen nach ausgewählten Arten . . b.) Entwicklung der Ausgaben nach ausgewählten Aufgabenbereichen . . . Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (Haushaltsgrundsätzegesetz) Leistungen des Bundes für Ostdeutschland Nennkapital und buchmäßige Eigenvermögen der Unternehmen, an denen der Bund und seine Sondervermögen unmittelbar beteiligt sind Beteiligungen des Bundes Entwicklung der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes (1970-2000) Stand der Privatisierung von Treuhandunternehmen bis zur Auflösung der Treuhandgesellschaft am 31.12.1994

IX/2 IX/3 IX/4 IX/5 IX/6

IX/7 IX/8 IX/9 IX/10 IX/11 IX/12 IX/13

IX/14 IX/15 IX/16 IX/17 IX/18 IX/19

X.

Die Bundesrepublik im internationalen Staatensystem

X/1

Texte des Vertrages über die Europäische Union (EUV) und der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EGV) in der Fassung des Vertrages von Nizza (2001) a.) Vertrag über die Europäische Union (EUV) - Auszüge b.) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EGV) Auszüge Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Auszüge

X/2

X

578 580 588 590 596

606 612 618 628 632 639 646 652

654 658 661 670 672 673 678 680

682 698 718

Inhalt X/3 X/4 X/5 X/6 X/7 X/8 X/9 X/10 Χ/11

XJ12 XJ13 X/14

Die Einsetzung des „EU-Verfassungskonvents". Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union (Dezember 2001) Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 zum Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 („Maastricht-Urteil") Auszug Leistungen der Bundesrepublik Deutschland zum Haushalt der Europäischen Gemeinschaften (1968-2001) Nordatlantikvertrag Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Auslandseinsatz der Bundeswehr vom 12. Juli 1994 - Auszug Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation Charta der Vereinten Nationen Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975 - Auszüge Budapester Treffen der Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE vom 6. Dezember 1994 - Auszüge a.) Gipfelerklärung von Budapest b.) Beschlüsse von Budapest Deutsches Personal bei internationalen Organisationen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland an Entwicklungsländer und multilaterale Stellen Entwicklungshilfeleistungen der Länder

726 734 736 737 741 742 747 760 769 774 777 778 780

XI

Einführung

Der seit der 7. Auflage den Textband zum „Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland" ergänzende Materialband umfasst Quellen, Dokumente und Informationen, die für die Entwicklung und die Beurteilung des deutschen Regierungssystems von zentraler Bedeutung sind. Während der Textband den Gliederungsprinzipien der Vorgängerauflagen im Wesentlichen folgt und auf entsprechende Unterlagen im Materialband verweist, ist dieser auch eigenständig zu nutzen, zumal die systematische Aufbereitung der wichtigsten Dokumente nicht nur den Nachvollzug der Argumentation, sondern vor allem auch eine schnelle und zuverlässige Information ermöglichen sollte. Die zahlreichen Zuschriften, die mich bezüglich der Zweiteilung des unhandlich werdenden Gesamtwerks erreichten, deuten darauf hin, dass sich die entsprechenden Erwartungen erfüllt haben. Die Eigenständigkeit des Materialbandes (als Ergänzungs-, Informations- und Nachschlagewerk) ergibt sich auch daraus, dass einzelne Dokumente und weitere aufbereitete Primärmaterialien zu Schwerpunkten zusammengefasst sind: I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.

Völkerrechtliche Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrechtliche Dokumente Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung Politische Willensbildung im Parteien- und Verbändestaat Wahlen und Wähler Das Parlament - Aufgaben und Organisation Regieren und Verwalten Die Bundesrepublik als Rechtsstaat Daten zur Staatstätigkeit Die Bundesrepublik im internationalen Staatensystem

Die Auswahl der Materialien erfolgte zum einen mit Blick auf die Ausgestaltung des deutschen Regierungssystems, verbindet sich zum zweiten mit historischen oder aktuellen Besonderheiten und nimmt schließlich Bezug auf politische, rechtliche, ökonomische und soziokulturelle Rahmenbedingungen, die zum weiteren Verständnis des Regierungssystems und seiner Wirkungsweise wichtig sind. Die gleichzeitig erweiterte wie vertiefte Dokumentation sucht vor allem den im Zuge des deutschen Vereinigungs- wie des europäischen Integrationsprozesses geschaffenen Handlungsvoraussetzungen zu entsprechen. Hinzu tritt eine nachdrücklichere Berücksichtigung der Stellung und Funktion der Bundesrepublik im Kontext internationaler Beziehungen. So stehen in den folgenden Kapiteln neben dem Text der militärischen Kapitulationsurkunde vom 8. Mai 1945 Auszüge aus dem Grundgesetz und den Landesverfassungen, treten zur Übersicht über organisatorische Voraussetzungen in Parteien, Verbänden oder Kirchen Informationen zur Wirtschafts- und Sozialstruktur, werden Auszüge aus Parteiprogrammen und Zusammenfassungen von Wahlergebnissen durch Aussagen zur Haushaltsfinanzierung oder zum Engagement der Bundesrepublik im Rahmen der Europäischen Union ergänzt. Dabei musste angesichts des Umfanges potentiell einzubeziehender Dokumente und Daten

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Einführung notwendigerweise ausgewählt werden - nicht zuletzt in der Hoffnung, dass der Leser aufgrund der detaillierten Quellenverweise bei weitergehendem Informationsbedarf auf Primärunterlagen zurückgreift. Formal werden die aufgenommenen Dokumente und Vertragswerke in ihrer ursprünglichen Fassung wiedergegeben. Die sich damit verbindende „Authentizität" mag auf den jeweiligen historischen Kontext verweisen, vielleicht aber auch auf spezifische Entwicklungsprozesse - etwa den von der Potsdamer Konferenz über den Deutschland- und den Grundlagenvertrag bis hin zum Einigungsvertrag und zu den Vertragswerken von Maastricht, Amsterdam und Nizza. Zudem verweisen die Aussagen zur Entwicklung des Verfassungsrahmens, der föderalstaatlichen Aufgabenteilung und der Willensbildung in Parteien und Verbänden auf einzelne Stufen beim Ausbau des Regierungssystems; dessen Leistungsfähigkeit wird wiederum in zahlreichen Statistiken dokumentiert. Dass sich mit diesen Prozessen auch Anpassungs- und Reformbedarf verbinden, machen nicht nur Auszüge aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts oder aus Aufgabenkatalogen von Reformkommissionen deutlich. Es sei dankbar vermerkt, dass eine Reihe von Mitarbeitern bei der Auswahl der Dokumente behilflich waren. Ein besonderer Dank gilt Alexander Somoza, Dr. Florian Grotz und Doris Müller-Ziem, ohne deren Mithilfe dieser Materialband nicht hätte rechtzeitig erscheinen können. Schließlich danke ich den Lesern, die bis heute ohne Ausnahme die zweibändige Ausgabe des „Regierungssystems" begrüßten und zahlreiche Anregungen für die Weiterentwicklung des Materialbandes übermittelten. Berlin und Garz, im Herbst 2003

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Joachim Jens Hesse

I. Völkerrechtliche Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland

1/1 Text der Militärischen Kapitulationsurkunde vom 8. Mai 1945 1. Wir, die hier Unterzeichneten, die wir im Auftrage des Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht handeln, übergeben hiermit bedingungslos dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte und gleichzeitig dem Oberkommando der Roten Armee alle gegenwärtig unter deutschem Befehl stehenden Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft. 2. Das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht wird unverzüglich allen deutschen Land-, See- und Luftstreitkräften und allen unter deutschem Befehl stehenden Streitkräften den Befehl geben, die Kampfhandlungen um 23.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit am 8. Mai 1945 einzustellen, in den Stellungen zu verbleiben, die sie in diesem Zeitpunkt innehaben, und sich vollständig zu entwaffnen, indem sie ihre Waffen und Ausrüstungen den örtlichen alliierten Befehlshabern oder den von den Vertretern der obersten alliierten Militärführungen bestimmten Offizieren übergeben. Kein Schiff, Seefahrzeug oder Flugzeug irgendwelcher Art darf zerstört werden, noch dürfen Schiffsrümpfe, maschinelle Einrichtungen oder Geräte, Maschinen irgendwelcher Art, Waffen, Apparaturen und alle technischen Mittel zur Fortsetzung des Krieges im allgemeinen beschädigt werden. 3.

Das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht wird unverzüglich den zuständigen Befehlshabern alle von dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee erlassenen zusätzlichen Befehle weitergeben und deren Durchführung sicherstellen. 4. Diese Kapitulationserklärung stellt kein Präjudiz für an ihre Stelle tretende allgemeine Kapitulationsbestimmungen dar, die durch die Vereinten Nationen oder in deren Namen festgesetzt werden und Deutschland und die Deutsche Wehrmacht als Ganzes betreffen werden. 5. Im Falle, daß das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht oder irgendwelche unter seinem Befehl stehenden Streitkräfte es versäumen sollten, sich gemäß den Bestimmungen dieser Kapitulationserklärung zu verhalten, werden der Oberste Befehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte und das Oberkommando der Roten Armee alle diejenigen Straf- und andere Maßnahmen ergreifen, die sie als zweckmäßig erachten. 6. Diese Erklärung ist in englischer, russischer und deutscher Sprache aufgesetzt. Allein maßgebend sind die englische und die russische Fassung. Unterzeichnet zu Berlin, am 8. Mai 1945 gez. v. Friedeburg, gez. Keitel, gez. StumpfF Für das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht... Quelle: Europa-Archiv, 1946, S. 212f.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen

1/2 Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands durch die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der USA, der UdSSR und die Provisorische Regierung der Französischen Republik vom 5. Juni 1945 - Auszüge Die deutschen Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft sind vollständig geschlagen und haben bedingungslos kapituliert, und Deutschland, das für den Krieg verantwortlich ist, ist nicht mehr fähig, sich dem Willen der siegreichen Mächte zu widersetzen. Dadurch ist die bedingungslose Kapitulation Deutschlands erfolgt, und Deutschland unterwirft sich allen Forderungen, die ihm jetzt oder später auferlegt werden. Es gibt in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde, die fähig wäre, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Landes und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte zu übernehmen. Unter diesen Umständen ist es notwendig, unbeschadet späterer Beschlüsse, die hinsichtlich Deutschlands getroffen werden mögen, Vorkehrungen für die Einstellung weiterer Feindseligkeiten seitens der deutschen Streitkräfte, für die Aufrechterhaltung der Ordnung in Deutschland und für die Verwaltung des Landes zu treffen und die sofortigen Forderungen zu verkünden, denen Deutschland nachzukommen verpflichtet ist. Die Vertreter der obersten Kommandobehörden des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Provisorische Regierung der Französischen Republik übernehmen hiermit die oberste Regierungsgewalt in Deutschland, einschließlich aller Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden. Die Übernahme der besagten Regierungsgewalt und Befugnisse zu den vorstehend genannten Zwecken bewirkt nicht die Annektierung Deutschlands. Die Regierungen des Vereinigten Königsreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Provisorische Regierung der Französischen Republik werden später die Grenzen Deutschlands oder irgendeines Teiles Deutschlands und die rechtliche Stellung Deutschlands oder irgendeines Gebietes, das gegenwärtig einen Teil deutschen Gebietes bildet, festlegen. (...) Quelle: Europa-Archiv, 1946, S. 213ff.

1/3 Erklärungen der Alliierten vom 5. Juni 1945 (Berlin) Feststellung seitens der Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sowie der provisorischen Regierung der Französischen Republik über Beratung mit den Regierungen anderer Vereinter Nationen.

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3. Erklärungen der Alliierten Durch den die Niederlage Deutschlands betreffenden Beschluß, der in Berlin am 5. Juni 1945 veröffentlicht worden ist, haben die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sowie die provisorische Regierung der Französischen Republik die oberste Gewalt über Deutschland übernommen. Die Regierungen der vier Mächte verkünden hiermit, daß es ihre Absicht ist, sich mit den Regierungen anderer Vereinter Nationen gelegentlich der Ausübung dieser Gewalt zu beraten. Feststellung seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sowie der provisorischen Regierung der Französischen Republik über die Besatzungszonen in Deutschland 1. Deutschland wird innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31.12.1937 bestanden, für Besatzungszwecke in vier Zonen aufgeteilt, von denen eine jeder der vier Mächte wie folgt zugeteilt wird: eine östliche Zone der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken; eine nordwestliche Zone dem Vereinigten Königreich; eine südwestliche Zone den Vereinigten Staaten von Amerika; eine westliche Zone Frankreich. Die Besatzungstruppen jeder Zone unterstehen einem von der verantwortlichen Macht bestimmten Oberbefehlshaber. Jede der vier Mächte darf nach ihrem Ermessen in die unter dem Befehl ihres Oberbefehlshabers stehenden Besatzungstruppen Hilfsverbände aus den Streitkräften irgendeiner anderen alliierten Macht, welche an den militärischen Operationen gegen Deutschland aktiv beteiligt war, aufnehmen. 2. Das Gebiet von Groß-Berlin wird von Truppen einer jeden der vier Mächte besetzt. Zwecks gemeinsamer Leitung der Verwaltung dieses Gebietes wird eine interalliierte Behörde (russisch: Komendatura) errichtet, welche aus vier von den entsprechenden Oberbefehlshabern ernannten Kommandanten besteht. Feststellung seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sowie der provisorischen Regierung der Französischen Republik über das Kontrollverfahren in Deutschland. 1. Während der Zeit, in der Deutschland die sich aus der bedingungslosen Kapitulation ergebenden grundlegenden Forderungen erfüllt, wird in Deutschland die oberste Gewalt von den Oberbefehlshabern Großbritanniens, der Vereinigten Staaten, Sowjetrußlands und Frankreichs auf Anweisung ihrer Regierungen ausgeübt, von jedem in seiner eigenen Besatzungszone und gemeinsam in allen Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten. Die vier Oberbefehlshaber bilden zusammen den Kontrollrat. Jeder Oberbefehlshaber wird von einem politischen Berater unterstützt. 2. Der Kontrollrat, dessen Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen, trägt für eine angemessene Einheitlichkeit des Vorgehens der einzelnen Oberbefehlshaber in ihren entsprechenden Besatzungszonen Sorge und trifft im gegenseitigen Einvernehmen Entscheidungen über alle Deutschland als Ganzes betreffenden wesentlichen Fragen. 3. Unter dem Kontrollrat sind ein ständiger Koordinationsausschuß, der sich aus je einem Vertreter der vier Oberbefehlshaber zusammensetzt, und ein Kontrollstab tätig, der aus folgenden Abteilungen besteht (wobei auf Grund praktischer Erfahrung vorgenommene Änderungen zulässig sind): Heer, Marine, Luft, Transport, Politik, Wirtschaft, Finanzen, Reparationen und Wiedererstattung, Innere Angelegenheiten und Nachrichtenwesen, Rechtswesen, Kriegsgefangene und Zwangsverschleppte, Arbeitseinsatz . . . 5

I. Völkerrechtliche Grundlagen 4. Die Funktionen des Koordinationsausschusses sowie des Kontrollstabes bestehen in der Beratung des Kontrollrates, der Ausführung seiner Beschlüsse und deren Weiterleitung an die entsprechenden deutschen Behörden sowie in der Überwachung und Kontrolle der laufenden Tätigkeit dieser Behörden. 5. Die Verbindung zu den anderen hauptsächlich interessierten Regierungen der Vereinten Nationen wird durch Ernennung von Militärmissionen (denen auch Zivilpersonen angehören können) beim Kontrollrat seitens dieser Regierungen hergestellt. Diese Missionen haben zu den die Kontrolle ausübenden Dienststellen auf dem entsprechenden Dienstweg Zutritt. 6. Organisationen der Vereinten Nationen, sofern sie von dem Kontrollrat zur Betätigung in Deutschland zugelassen werden, sind dem alliierten Kontrollapparat untergeordnet und ihm gegenüber verantwortlich. 7. Die Verwaltung des Gebietes von Groß-Berlin wird von einer Interalliierten Behörde geleitet, die unter der Leitung des Kontrollrates arbeitet und aus vier Kommandanten besteht, deren jeder abwechselnd als Hauptkommandant fungiert. Sie werden von einem Stab von Sachbearbeitern unterstützt, der die Tätigkeit der örtlichen deutschen Behörden überwacht und kontrolliert. 8. Die oben dargelegte Regelung gilt für die der deutschen Kapitulation folgende Besatzungszeit, innerhalb welcher Deutschland die sich aus der bedingungslosen Kapitulation ergebenden grundlegenden Forderungen erfüllt. Eine Regelung für die darauffolgende Zeit wird Gegenstand einer Sondervereinbarung bilden. Quelle: Europa-Archiv, 1946, S. 215.

1/4 Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 - Auszüge I. Am 17. Juli 1945 trafen sich der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Harry S. Truman, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Generalissimus J. W. Stalin, und der Premierminister Großbritanniens, Winston S. Churchill, sowie Herr Clement R. Attlee auf der von den drei Mächten beschickten Berliner Konferenz. Sie wurden begleitet von den Außenministern der drei Regierungen, W. M. Molotow, Herrn D. F. Byrnes und Herrn A. Eden, den Stabschefs und anderen Beratern.

II. Die Einrichtung eines Rates der Außenminister

1. Es ist ein Rat zu errichten, bestehend aus den Außenministern des Vereinigten Königreiches, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Chinas, Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika. 6

4. Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam 2. (I) Der Rat tagt normalerweise in London, wo der ständige Sitz des Vereinigten Sekretariats sein wird, das durch den Rat zu schaffen ist. Jeder Außenminister wird durch einen Stellvertreter von hohem Rang begleitet werden, welcher gegebenenfalls bevollmächtigt ist, während seiner, des Außenministers, Abwesenheit die Arbeit weiterzuführen, sowie von einem kleinen Stab technischer Mitarbeiter. 3. (I) Als eine vordringliche und wichtige Aufgabe des Rates wird ihm aufgetragen, Friedensverträge für Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland aufzusetzen, um sie den Vereinten Nationen vorzulegen, und Vorschläge zur Regelung der ungelösten territorialen Fragen, die in Verbindung mit der Beendigung des Krieges in Europa entstehen, auszuarbeiten. Der Rat wird zur Vorbereitung einer friedlichen Regelung für Deutschland benutzt werden, damit das entsprechende Dokument durch die für diesen Zweck geeignete Regierung Deutschlands angenommen werden kann, nachdem eine solche Regierung gebildet sein wird. (III) Andere Angelegenheiten werden von Zeit zu Zeit dem Rat übertragen werden nach Übereinkunft zwischen den Regierungen, die seine Mitglieder sind. 4. (I) Wenn der Rat eine Frage erörtern wird, an der unmittelbar ein Staat interessiert ist, der in ihm nicht vertreten ist, so muß dieser Staat eingeladen werden, seine Vertreter zur Teilnahme an der Beratung und Prüfung dieser Frage zu entsenden. (II)... Der Entschließung der Konferenz entsprechend, schickte jede der drei Regierungen gleichlautende Einladungen an die Regierungen von China und Frankreich, diesen Text anzunehmen und sich ihnen zur Errichtung des Rates anzuschließen. Die Konferenz überprüfte auch die Situation der Europäischen Konsultativen Kommission im Sinne der Übereinkunft über die Errichtung des Rates der Außenminister. Mit Genugtuung wurde festgestellt, daß die Kommission erfolgreich ihre Hauptaufgaben bewältigt hat, indem sie die Vorschläge betreffend die bedingungslose Kapitulation, die Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs und das internationale Kontrollsystem in diesen Ländern vorlegte. Es wurde für richtig befunden, daß die speziellen Fragen, die die gegenseitige Angleichung der Politik der Alliierten hinsichtlich der Kontrolle über Deutschland und Osterreich betreffen, in Zukunft der Zuständigkeit des Kontrollrats in Berlin und der Alliierten Kommission in Wien unterliegen sollen. Demgemäß ist man darüber einig geworden, die Auflösung der Europäischen Konsultativen Kommission zu empfehlen. III. Deutschland

Politische und wirtschaftliche Grundsätze, deren man sich bei der Behandlung Deutschlands in der Anfangsperiode der Kontrolle bedienen muß: A) Politische Grundsätze 1. Entsprechend der Übereinkunft über das Kontrollsystem in Deutschland wird die höchste Regierungsgewalt in Deutschland durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs, der Union der Sozialisti7

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sehen Sowjetrepubliken und der Französischen Republik nach den Weisungen ihrer entsprechenden Regierungen ausgeübt, und zwar von jedem in seiner Besatzungszone sowie gemeinsam in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Kontrollrates in den Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen. Soweit dieses praktisch durchführbar ist, muß die Behandlung der deutschen Bevölkerung in ganz Deutschland gleich sein. Die Ziele der Besetzung Deutschlands, durch welche der Kontrollrat sich leiten lassen soll, sind: (I) Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands und die Ausschaltung der gesamten deutschen Industrie, welche für eine Kriegsproduktion benutzt werden kann, oder deren Überwachung. Zu diesem Zweck: a) werden alle Land-, See- und Luftstreitkräfte Deutschlands, SS, SA, SD und Gestapo mit allen ihren Organisationen, Stäben und Ämtern, einschließlich des Generalstabes, des Offizierkorps, der Reservisten, der Kriegsschulen, der Kriegervereine und aller anderen militärischen und halbmilitärischen Organisationen zusammen mit ihren Verbänden und Unterorganisationen, die den Interessen der Erhaltung der militärischen Tradition dienen, völlig und endgültig aufgelöst, um damit für immer der Wiedergeburt oder Wiederaufrichtung des deutschen Militarismus und Nazismus vorzubeugen; b) müssen sich alle Waffen, Munition und Kriegsgeräte und alle Spezialmittel zu deren Herstellung in der Gewalt der Alliierten befinden oder vernichtet werden. Der Unterhaltung und Herstellung aller Flugzeuge und aller Waffen, Ausrüstung und Kriegsgeräte wird vorgebeugt werden. (II) Das deutsche Volk muß überzeugt werden, daß es eine totale militärische Niederlage erlitten hat und daß es sich nicht der Verantwortung entziehen kann für das, was es selbst dadurch auf sich geladen hat, daß seine eigene mitleidlose Kriegführung und der fanatische Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Elend unvermeidlich gemacht haben. (III) Die Nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen Gliederungen und Unterorganisationen ist zu vernichten; alle nationalsozialistischen Ämter sind aufzulösen; es sind Sicherheiten dafür zu schaffen, daß sie in keiner Form wiederauferstehen können; jeder nazistischen und militärischen Betätigung und Propaganda ist vorzubeugen. (IV) Die endgültige Umgestaltung des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage und eine eventuelle friedliche Mitarbeit Deutschlands am internationalen Leben sind vorzubereiten. Alle nazistischen Gesetze, welche die Grundlagen für das Hitlerregime geliefert haben oder eine Diskriminierung auf Grund der Rasse, Religion oder politischer Überzeugung, müssen abgeschafft werden. Keine solche Diskriminierung, weder eine rechtliche noch eine administrative oder irgendeiner anderen Art, wird geduldet werden. Kriegsverbrecher und alle diejenigen, die an der Planung oder Verwirklichung nazistischer Maßnahmen, die Greuel oder Kriegsverbrechen nach sich zogen oder als Ergebnis hatten, teilgenommen haben, sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben. Nazistische Parteiführer, einflußreiche Nazianhänger und die Leiter der nazistischen Ämter und Organisationen und alle anderen Personen, die für die Besetzung und ihre Ziele gefährlich sind, sind zu verhaften und zu internieren. Alle Mitglieder der nazistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, und alle anderen Personen, die den alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, sind aus den öffentlichen oder halböffentlichen Ämtern und von den verant-

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wortlichen Posten in wichtigen Privatunternehmungen zu entfernen. Diese Personen müssen durch Personen ersetzt werden, welche nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fähig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in Deutschland mitzuwirken. Das Erziehungswesen in Deutschland muß so überwacht werden, daß die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht wird. Das Gerichtswesen wird entsprechend den Grundsätzen der Demokratie und der Gerechtigkeit auf der Grundlage der Gesetzlichkeit und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Rasse, der Nationalität und der Religion reorganisiert werden. Die Verwaltung Deutschlands muß in Richtung auf eine Dezentralisierung der politischen Struktur und der Entwicklung einer örtlichen Selbstverwaltung durchgeführt werden. Zu diesem Zwecke: (I) Die lokale Selbstverwaltung wird in ganz Deutschland nach demokratischen Grundsätzen, und zwar durch Wahlausschüsse (Räte), so schnell wie es mit der Wahrung der militärischen Sicherheit und den Zielen der militärischen Besatzung vereinbar ist, wiederhergestellt. (II) In ganz Deutschland sind alle demokratischen politischen Parteien zu erlauben und zu fördern mit der Einräumung des Rechtes, Versammlungen einzuberufen und öffentliche Diskussionen durchzuführen. (III) Der Grundsatz der Wahlvertretung soll in die Gemeinde-, Kreis-, Provinzial- und Landesverwaltungen, so schnell wie es durch die erfolgreiche Anwendung dieser Grundsätze in der örtlichen Selbstverwaltung gerechtfertigt werden kann, eingeführt werden. (IV) Bis auf weiteres wird keine zentrale deutsche Regierung errichtet werden. Jedoch werden einige wichtige zentrale deutsche Verwaltungsabteilungen errichtet werden, an deren Spitze Staatssekretäre stehen, und zwar auf den Gebieten des Finanzwesens, des Außenhandels und der Industrie. Diese Abteilungen werden unter der Leitung des Kontrollrates tätig sein. Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit zur Erhaltung der militärischen Sicherheit wird die Freiheit der Rede, der Presse und der Religion gewährt. Die religiösen Einrichtungen sollen respektiert werden. Die Schaffung freier Gewerkschaften, gleichfalls unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Erhaltung der militärischen Sicherheit, wird gestattet werden.

B) Wirtschaftliche Grundsätze 11. Mit dem Ziele der Vernichtung des deutschen Kriegspotentials ist die Produktion von Waffen, Kriegsausrüstung und Kriegsmitteln, ebenso die Herstellung aller Typen von Flugzeugen und Seeschiffen zu verbieten und zu unterbinden. Die Herstellung von Metallen und Chemikalien, der Maschinenbau und die Herstellung anderer Gegenstände, die unmittelbar für die Kriegswirtschaft notwendig sind, ist streng zu überwachen und zu beschränken, entsprechend dem genehmigten Stand der friedlichen Nachkriegsbedürfnisse Deutschlands, um die in dem Punkt 15 angeführten Ziele zu befriedigen. Die Produktionskapazität, entbehrlich für die Industrie, welche erlaubt sein wird, ist entsprechend dem Reparationsplan, empfohlen durch die interalliierte Reparationskommission und bestätigt durch die beteiligten Regierungen, entweder zu entfernen oder, falls sie nicht entfernt werden kann, zu vernichten.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen 12. In praktisch kürzester Frist ist das deutsche Wirtschaftsleben zu dezentralisieren mit dem Ziel der Vernichtung der bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft, dargestellt insbesondere durch Kartelle, Syndikate, Trusts und andere Monopolvereinigungen. 13. Bei der Organisation des deutschen Wirtschaftslebens ist das Hauptgewicht auf die Entwicklung der Landwirtschaft und der Friedensindustrie für den inneren Bedarf (Verbrauch) zu legen. 14. Während der Besatzungszeit ist Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten. Mit diesem Ziel sind gemeinsame Richtlinien aufzustellen hinsichtlich: a) der Erzeugung und der Verteilung der Produkte der Bergbau- und der verarbeitenden Industrie; b) der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und der Fischerei; c) der Löhne, Preise und der Rationierung; d) des Import- und Exportprogramms für Deutschland als Ganzes; e) der Währung und des Bankwesens, der zentralen Besteuerung und der Zölle; f) der Reparationen und der Beseitigung des militärischen Industriepotentials; g) des Transport- und Verkehrswesens. Bei der Durchführung dieser Richtlinien sind gegebenenfalls die verschiedenen örtlichen Bedingungen zu berücksichtigen. 15. Es ist eine alliierte Kontrolle über das deutsche Wirtschaftsleben zu errichten, jedoch nur in den Grenzen, die notwendig sind: a) zur Erfüllung des Programms der industriellen Abrüstung und Entmilitarisierung, der Reparationen und der erlaubten Aus- und Einfuhr; b) zur Sicherung der Warenproduktion und der Dienstleistungen, die zur Befriedigung der Bedürfnisse der Besatzungsstreitkräfte und der verpflanzten Personen in Deutschland notwendig sind und die wesentlich sind für die Erhaltung eines mittleren Lebensstandards in Deutschland, der den mittleren Lebensstandard der europäischen Länder nicht übersteigt (europäische Länder in diesem Sinne sind alle europäischen Länder mit Ausnahme des Vereinigten Königreiches und der Sowjetunion); c) zur Sicherung - in der Reihenfolge, die der Kontrollrat festsetzt - einer gleichmäßigen Verteilung der wesentlichsten Waren unter den verschiedenen Zonen, um ein ausgeglichenes Wirtschaftsleben in ganz Deutschland zu schaffen und die Einfuhrnotwendigkeiten einzuschränken; d) zur Überwachung der deutschen Industrie und aller wirtschaftlichen und finanziellen internationalen Abkommen einschließlich der Aus- und Einfuhr mit dem Ziel der Unterbindung einer Entwicklung des Kriegspotentials Deutschlands und der Erreichung der anderen genannten Aufgaben; e) zur Überwachung aller deutschen öffentlichen oder privaten wissenschaftlichen Forschungs- oder Versuchsanstalten, Laboratorien usw., die mit einer Wirtschaftstätigkeit verbunden sind. 16. Zur Einführung und Unterstützung der wirtschaftlichen Kontrolle, die durch den Kontrollrat errichtet worden ist, ist ein deutscher Verwaltungsapparat zu schaffen. Den deutschen Behörden ist nahezulegen, in möglichst vollem Umfange die Verwaltung dieses Apparates zu fördern und zu übernehmen. So ist dem deutschen Volk klarzumachen, daß die Verantwortung für diese Verwaltung und deren Versagen auf ihm ruhen wird. Jede deutsche Verwaltung, die dem Ziel der Besatzung nicht entsprechen wird, wird verboten werden. 17. Es sind unverzüglich Maßnahmen zu treffen zur: a) Durchführung der notwendigen Instandsetzungen des Verkehrswesens;

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4. Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam b) Hebung der Kohlenerzeugung; c) weitestmöglichen Vergrößerung der landwirtschaftlichen Produktion und d) Durchführung einer beschleunigten Instandsetzung der Wohnungen und der wichtigsten öffentlichen Einrichtungen. 18. Der Kontrollrat hat entsprechende Schritte zur Verwirklichung der Kontrolle und der Verfügung über alle deutschen Guthaben im Auslande zu übernehmen, welche noch nicht unter die Kontrolle der alliierten Nationen, die an dem Krieg gegen Deutschland teilgenommen haben, geraten sind. 19. Die Bezahlung der Reparationen soll dem deutschen Volk genügend Mittel belassen, um ohne eine Hilfe von außen zu existieren. Bei der Aufstellung des Haushaltsplanes Deutschlands sind die nötigen Mittel für die Einfuhr bereitzustellen, die durch den Kontrollrat in Deutschland genehmigt worden ist. Die Einnahmen aus der Ausfuhr der Erzeugnisse der laufenden Produktion und der Warenbestände dienen in erster Linie der Bezahlung dieser Einfuhr. Die hier erwähnten Bedingungen werden nicht angewandt bei den Einrichtungen und Produkten, die in den Punkten 4a und 4b der Ubereinkunft über die deutschen Reparationen erwähnt sind. IV. Reparationen aus Deutschland In Übereinstimmung mit der Entscheidung der Krim-Konferenz, wonach Deutschland gezwungen werden soll, in größtmöglichem Ausmaß für die Verluste und die Leiden, die es den Vereinten Nationen verursacht hat, und wofür das deutsche Volk der Verantwortung nicht entgehen kann, Ausgleich zu schaffen, wurde folgende Übereinkunft über Reparationen erreicht: 1. Die Reparationsansprüche der UdSSR sollen durch Entnahmen aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden. 2. Die UdSSR wird die Reparationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an den Reparationen befriedigen. 3. Die Reparationsansprüche der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreiches und der anderen zu Reparationsforderungen berechtigten Länder werden aus den westlichen Zonen und den entsprechenden deutschen Auslandsguthaben befriedigt werden. 4. In Ergänzung der Reparationen, die die UdSSR aus ihrer eigenen Besatzungszone erhält, wird die UdSSR zusätzlich aus den westlichen Zonen erhalten: a) 15% derjenigen verwendungsfähigen und vollständigen industriellen Ausrüstungen, vor allem der metallurgischen, chemischen und maschinenerzeugenden Industrien, soweit sie für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig und aus den westlichen Zonen Deutschlands zu entnehmen sind, im Austausch für einen entsprechenden Wert an Nahrungsmitteln, Kohle, Kali, Zink, Holz, Tonprodukten, Petroleumprodukten und anderen Waren, nach Vereinbarung. b) 10% derjenigen industriellen Ausrüstung, die für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig ist und aus den westlichen Zonen zu entnehmen und auf Reparationskonto an die Sowjetregierung zu übertragen ist ohne Bezahlung oder Gegenleistung irgendwelcher Art. Die Entnahmen der Ausrüstung, wie sie oben in a) und b) vorgesehen sind, sollen gleichzeitig erfolgen. 5. Der Umfang der aus den westlichen Zonen zu entnehmenden Ausrüstung, der auf Reparationskonto geht, muß spätestens innerhalb von sechs Monaten von jetzt ab bestimmt sein.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen 6. Die Entnahme der industriellen Ausrüstung soll so bald wie möglich beginnen und innerhalb von zwei Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt der in § 5 spezifizierten Bestimmung, abgeschlossen sein. Die Auslieferung der in § 4a genannten Produkte soll so schnell wie möglich beginnen, und zwar in durch Vereinbarung bedingten Teillieferungen seitens der Sowjetunion und innerhalb von fünf Jahren von dem erwähnten Datum ab erfolgen. Die Bestimmung des Umfangs und der Art der industriellen Ausrüstung, die für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig ist und der Reparation unterliegt, soll durch den Kontrollrat gemäß den Richtlinien erfolgen, die von der alliierten Kontrollmission für Reparationen, unter Beteiligung Frankreichs, festgelegt sind, wobei die endgültige Entscheidung durch den Kommandierenden der Zone getroffen wird, aus der die Ausrüstung entnommen werden soll. 7. Vor der Festlegung des Gesamtumfanges der der Entnahme unterworfenen Ausrüstung sollen Vorschußlieferungen solcher Ausrüstungen erfolgen, die als zur Auslieferung verfügbar bestimmt werden in Übereinstimmung mit dem Verfahren, das im letzten Satz des § 6 vorgesehen ist. 8. Die Sowjetregierung verzichtet auf alle Ansprüche bezüglich der Reparationen aus Anteilen an deutschen Unternehmen, die in den westlichen Besatzungszonen in Deutschland gelegen sind. Das gleiche gilt für deutsche Auslandsguthaben in allen Ländern, mit Ausnahme der weiter unten in § 9 gekennzeichneten Fälle. 9. Die Regierungen der USA und des Vereinigten Königreichs verzichten auf ihre Ansprüche im Hinblick auf Reparationen hinsichtlich der Anteile an deutschen Unternehmungen, die in der östlichen Besatzungszone in Deutschland gelegen sind. Das gleiche gilt für deutsche Auslandsguthaben in Bulgarien, Finnland, Ungarn, Rumänien und Osterreich. 10. Die Sowjetregierung erhebt keine Ansprüche auf das von den alliierten Truppen in Deutschland erbeutete Geld. V. Die deutsche Kriegs- und Handelsmarine Die Konferenz erzielte im Prinzip Einigung hinsichtlich der Maßnahmen über die Ausnutzung und die Verfügung über die ausgelieferte deutsche Flotte und die Handelsschiffe. Es wurde beschlossen, daß die drei Regierungen Sachverständige bestellen, um gemeinsam detaillierte Pläne zur Verwirklichung der vereinbarten Grundsätze auszuarbeiten. Eine weitere gemeinsame Erklärung wird von den drei Regierungen gleichzeitig zu gegebener Zeit veröffentlicht werden. VI. Stadt Königsberg und das anliegende Gebiet Die Konferenz prüfte einen Vorschlag der Sowjetregierung, daß vorbehaltlich der endgültigen Bestimmung der territorialen Fragen bei der Friedensregelung derjenige Abschnitt der Westgrenze der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, der an die Ostsee grenzt, von einem Punkt an der östlichen Küste der Danziger Bucht in östlicher Richtung nördlich von Braunsberg-Goldap und von da zu dem Schnittpunkt der Grenzen Litauens, der Polnischen Republik und Ostpreußens verlaufen soll. Die Konferenz hat grundsätzlich dem Vorschlag der Sowjetregierung hinsichtlich der endgültigen Übergabe der Stadt Königsberg und des anliegenden Gebietes an die Sowjetunion gemäß der obigen Beschreibung zugestimmt, wobei der genaue Grenzverlauf einer sachverständigen Prüfung vorbehalten bleibt. Der Präsident der USA und der britische Premierminister haben erklärt, daß sie den Vorschlag der Konferenz bei der bevorstehenden Friedensregelung unterstützen werden.

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4. Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam VII. Kriegsverbrecher Die drei Regierungen haben von dem Meinungsaustausch Kenntnis genommen, der in den letzten Wochen in London zwischen britischen, USA-, sowjetischen und französischen Vertretern mit dem Ziel stattgefunden hat, eine Vereinbarung über die Methoden des Verfahrens gegen alle Hauptkriegsverbrecher zu erzielen, deren Verbrechen nach der Moskauer Erklärung vom Oktober 1943 räumlich nicht besonders begrenzt sind. Die drei Regierungen bekräftigen ihre Absicht, diese Verbrecher einer schnellen und sicheren Gerichtsbarkeit zuzuführen. Sie hoffen, daß die Verhandlungen in London zu einer schnellen Vereinbarung führen, die diesem Zwecke dient, und sie betrachten es als eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit, daß der Prozeß gegen diese Hauptverbrecher zum frühestmöglichen Zeitpunkt beginnt. Die erste Liste der Angeklagten wird vor dem 1.9. dieses Jahres veröffentlicht werden.

IX. Polen Die Konferenz hat die Fragen, die sich auf die Polnische Provisorische Regierung der Nationalen Einheit und auf die Westgrenze Polens beziehen, der Betrachtung unterzogen. b) Bezüglich der Westgrenze Polens wurde folgendes Abkommen erzielt: In Übereinstimmung mit dem bei der Krim-Konferenz erzielten Abkommen haben die Häupter der drei Regierungen die Meinung der Polnischen Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit hinsichtlich des Territoriums im Norden und Westen geprüft, das Polen erhalten soll. Der Präsident des Nationalrates Polens und die Mitglieder der Polnischen Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit sind auf der Konferenz empfangen worden und haben ihre Auffassung in vollem Umfange dargelegt. Die Häupter der drei Regierungen bekräftigen ihre Auffassung, daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll. Die Häupter der drei Regierungen stimmen darin überein, daß bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens die früher deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, einschließlich des Teiles Ostpreußens, der nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in Übereinstimmung mit den auf dieser Konferenz erzielten Vereinbarungen gestellt wird, und einschließlich des Gebietes der früheren Freien Stadt Danzig, unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen.

XIII. Ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile Die Konferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt

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I. Völkerrechtliche Grundlagen werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll. Da der Zustrom einer großen Zahl Deutscher nach Deutschland die Lasten vergrößern würde, die bereits auf den Besatzungsbehörden ruhen, halten sie es für wünschenswert, daß der alliierte Kontrollrat in Deutschland zunächst das Problem unter besonderer Berücksichtigung der Frage einer gerechten Verteilung dieser Deutschen auf die einzelnen Besatzungszonen prüfen soll... Quelle: Europa-Archiv, 1946, S. 215 ff.

1/5 Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Deutschlandvertrag) in der geänderten Fassung vom 23. Oktober 1954 D I E BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, D I E VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA, DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH VON GROSSBRITANNIEN UND N O R D I R L A N D

und D I E FRANZÖSISCHE REPUBLIK

haben zur Festlegung der Grundlage ihres neuen Verhältnisses den folgenden Vertrag geschlossen: Artikel

1

(1) Mit dem Inkrafttreten dieses Vertrags werden die Vereinigten Staaten von Amerika, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland und die Französische Republik (in diesem Vertrag und in den Zusatzverträgen auch als »Drei Mächte« bezeichnet) das Besatzungsregime in der Bundesrepublik beenden, das Besatzungsstatut aufheben und die Alliierte Hohe Kommission sowie die Dienststellen der Landeskommissare in der Bundesrepublik auflösen. (2) Die Bundesrepublik wird demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben. Artikel

2

Im Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrages verhindert hat, behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung. Die von den Drei Mächten beibehaltenen Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf die Stationierung von Streitkräften in Deutschland und der Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte bestimmen sich nach den Artikeln 4 und 5 dieses Vertrags.

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5. Deutschlandvertrag vom 23. Oktober 1954 Artikel

3

(1) Die Bundesrepublik wird ihre Politik in Einklang mit den Prinzipien der Satzung der Vereinten Nationen und mit den im Statut des Europarates aufgestellten Zielen halten. (2) Die Bundesrepublik bekräftigt ihre Absicht, sich durch ihre Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, die zur Erreichung der gemeinsamen Ziele der freien Welt beitragen, mit der Gemeinschaft der freien Nationen völlig zu verbinden. Die Drei Mächte werden zu gegebener Zeit Anträge der Bundesrepublik unterstützen, die Mitgliedschaft in solchen Organisationen zu erlangen. (3) Bei Verhandlungen mit Staaten, mit denen die Bundesrepublik keine Beziehungen unterhält, werden die Drei Mächte die Bundesrepublik in Fragen konsultieren, die deren politische Interessen unmittelbar berühren. (4) Auf Ersuchen der Bundesregierung werden die Drei Mächte die erforderlichen Vorkehrungen treffen, die Interessen der Bundesrepublik in ihren Beziehungen zu anderen Staaten und in gewissen internationalen Organisationen oder Konferenzen zu vertreten, soweit die Bundesrepublik dazu nicht selbst in der Lage ist. Artikel

4

(1) Bis zum Inkrafttreten der Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag behalten die Drei Mächte weiterhin ihre bisher ausgeübten oder innegehabten Rechte in bezug auf die Stationierung von Streitkräften in der Bundesrepublik. Die Aufgabe dieser Streitkräfte wird die Verteidigung der freien Welt sein, zu der die Bundesrepublik und Berlin gehören. Vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 5 Absatz (2) dieses Vertrags bestimmen sich die Rechte und Pflichten dieser Streitkräfte nach dem Vertrag über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland (im folgenden als »Truppenvertrag« bezeichnet), auf den in Artikel 8 Absatz (1) dieses Vertrags Bezug genommen ist. (2) Die von den Drei Mächten bisher ausgeübten oder innegehabten und weiterhin beizubehaltenden Rechte in bezug auf die Stationierung von Streitkräften in Deutschland werden von den Bestimmungen dieses Artikels nicht berührt, soweit sie für die Ausübung der im ersten Satz des Artikels 2 dieses Vertrags genannten Rechte erforderlich sind. Die Bundesrepublik ist damit einverstanden, daß vom Inkrafttreten der Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag an Streitkräfte der gleichen Nationalität und Effektivstärke wie zur Zeit dieses Inkrafttretens in der Bundesrepublik stationiert werden dürfen. Im Hinblick auf die in Artikel 1 Absatz (2) dieses Vertrags umschriebene Rechtsstellung der Bundesrepublik und im Hinblick darauf, daß die Drei Mächte gewillt sind, ihre Rechte betreffend die Stationierung von Streitkräften in der Bundesrepublik, soweit diese betroffen ist, nur in vollem Einvernehmen mit der Bundesrepublik auszuüben, wird diese Frage in einem besonderen Vertrag geregelt. Artikel

5

(1) Für die in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte gelten bis zum Inkrafttreten der Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag die folgenden Bestimmungen: (a) Die Drei Mächte werden die Bundesregierung in allen die Stationierung dieser Streitkräfte betreffenden Fragen konsultieren, soweit es die militärische Lage erlaubt. Die Bundesrepublik wird nach Maßgabe dieses Vertrages und der Zusatzverträge im Rahmen ihres Grundgesetzes mitwirken, um diesen Streitkräften ihre Aufgabe zu erleichtern. (b) Die Drei Mächte werden nur nach vorheriger Einwilligung der Bundesrepublik Truppen eines Staates, der zur Zeit keine Kontingente stellt, als Teil ihrer Streitkräfte im Bundes15

I. Völkerrechtliche Grundlagen gebiet stationieren. Jedoch dürfen solche Kontingente im Falle eines Angriffs oder unmittelbar drohenden Angriffs ohne Einwilligung der Bundesrepublik in das Bundesgebiet gebracht werden, dürfen dagegen nach Beseitigung der Gefahr nur mit Einwilligung der Bundesrepublik dort verbleiben. (2) Die von den Drei Mächten bisher innegehabten oder ausgeübten Rechte in bezug auf den Schutz der Sicherheit von in der Bundesrepublik stationierten Streitkräften, die zeitweilig von den Drei Mächten beibehalten werden, erlöschen, sobald die zuständigen deutschen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben und dadurch in Stand gesetzt sind, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte zu treffen, einschließlich der Fähigkeit, einer ernstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen. Soweit diese Rechte weiterhin ausgeübt werden können, werden sie nur nach Konsultation mit der Bundesregierung ausgeübt werden, soweit die militärische Lage eine solche Konsultation nicht ausschließt, und wenn die Bundesregierung darin übereinstimmt, daß die Umstände die Ausübung derartiger Rechte erfordern. Im übrigen bestimmt sich der Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte nach den Vorschriften des Truppenvertrags oder den Vorschriften des Vertrags, welcher den Truppenvertrag ersetzt, und nach deutschem Recht, soweit nicht in einem anwendbaren Vertrag etwas anderes bestimmt ist. Artikel 6 (1) Die Drei Mächte werden die Bundesrepublik hinsichtlich der Ausübung ihrer Rechte in bezug auf Berlin konsultieren. (2) Die Bundesrepublik ihrerseits wird mit den Drei Mächten zusammenwirken, um es ihnen zu erleichtern, ihren Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin zu genügen. Artikel 7 (1) Die Unterzeichnerstaaten sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Sie sind weiterhin darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß. (2) Bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung werden die Unterzeichnerstaaten zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist. (3) (gestrichen) (4) Die Drei Mächte werden die Bundesrepublik in allen Angelegenheiten konsultieren, welche die Ausübung ihrer Rechte in bezug auf Deutschland als Ganzes berühren. Artikel 8 (1) a) Die Unterzeichnerstaaten haben die folgenden Zusatzverträge geschlossen: Vertrag über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland; Finanzvertrag; Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen. b) Der Vertrag über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland und das am 26. Mai 1952 in Bonn unterzeichnete Abkommen über die steuerliche Behandlung der Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der

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5. Deutschlandvertrag vom 23. Oktober 1954 durch das Protokoll vom 26. Juli 1952 abgeänderten Fassung bleiben bis zum Inkrafttreten neuer Vereinbarungen über die Rechte und Pflichten der Streitkräfte der Drei Mächte und sonstiger Staaten, die Truppen auf dem Gebiet der Bundesrepublik unterhalten, in Kraft. Die neuen Vereinbarungen werden auf der Grundlage des in London am 19. Juni 1951 zwischen den Parteien des Nordatlantikpakts über den Status ihrer Streitkräfte unterzeichneten Abkommens getroffen, ergänzt durch diejenigen Bestimmungen, die im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse in bezug auf die in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte erforderlich sind. c) Der Finanzvertrag bleibt bis zum Inkrafttreten neuer Vereinbarungen in Kraft, über die gemäß Artikel 4 Absatz (4) jenes Vertrages mit anderen Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation verhandelt wird, die Truppen im Bundesgebiet stationiert haben. (2) Während der in Artikel 6 Absatz (4) des Ersten Teils des Vertrags zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vorgesehenen Übergangszeit bleiben die in jedem Absatz erwähnten Rechte der drei Unterzeichnerstaaten erhalten. Artikel 9 (1) Es wird ein Schiedsgericht errichtet werden, das gemäß den Bestimmungen der beigefügten Satzung tätig werden wird. (2) Das Schiedsgericht ist ausschließlich zuständig für alle Streitigkeiten, die sich zwischen der Bundesrepublik und den Drei Mächten aus den Bestimmungen dieses Vertrags oder der beigefügten Satzung oder eines der Zusatzverträge ergeben und welche die Parteien nicht durch Verhandlungen oder auf eine andere zwischen allen Unterzeichnerstaaten vereinbarte Weise beizulegen vermögen, soweit sich nicht aus Absatz (3) dieses Artikels oder aus der beigefügten Satzung oder aus den Zusatzverträgen etwas anderes ergibt. (3) Streitigkeiten, welche die in Artikel 2, den ersten beiden Sätzen des Absatzes (1) des Artikels 4, dem ersten Satz des Absatzes (2) des Artikels 4 und den ersten beiden Sätzen des Absatzes (2) des Artikels 5 angeführten Rechte der Drei Mächte oder Maßnahmen auf Grund der Rechte berühren, unterliegen nicht der Gerichtsbarkeit des Schiedsgerichtes oder eines anderen Gerichtes. Artikel 10 Die Unterzeichnerstaaten überprüfen die Bestimmungen dieses Vertrags und der Zusatzverträge: a) auf Ersuchen eines von ihnen im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands oder einer unter Beteiligung oder mit Zustimmung der Staaten, die Mitglieder dieses Vertrags sind, erzielten internationalen Verständigung über Maßnahmen zur Herbeiführung der Wiedervereinigung Deutschlands oder der Bildung einer europäischen Föderation, oder b) in jeder Lage, die nach Auffassung aller Unterzeichnerstaaten aus einer Änderung grundlegenden Charakters in den zur Zeit des Inkrafttretens des Vertrags bestehenden Verhältnissen entstanden ist. In beiden Fällen werden sie in gegenseitigem Einvernehmen diesen Vertrag und die Zusatzverträge in dem Umfang ändern, der durch die grundlegende Änderung der Lage erforderlich oder ratsam geworden ist. Artikel 11 ( 1 ) (gestrichen) (2) (gestrichen) (3) Dieser Vertrag und die Zusatzverträge werden in den Archiven der Regierung der Bun-

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I. Völkerrechtliche Grundlagen desrepublik Deutschland hinterlegt; diese wird jedem Unterzeichnerstaat beglaubigte Ausfertigungen übermitteln und jeden Unterzeichnerstaat vom Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Vertrags und der Zusatzverträge in Kenntnis setzen. Zu Urkund dessen haben die unterzeichneten von ihren Regierungen gehörig beglaubigten Vertreter diesen Vertrag unterschrieben. Geschehen zu Bonn am sechsundzwanzigsten Tage des Monats Mai 1952 in deutscher, englischer und französischer Sprache, wobei alle drei Fassungen gleichermaßen authentisch sind. Für die Bundesrepublik Deutschland gezeichnet: Adenauer Für das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland gezeichnet: Anthony Eden Für die Vereinigten Staaten von Amerika gezeichnet: Dean Acheson Für die Französische Republik gezeichnet: Robert Schuman Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1955, S. 306.

1/6 Europäische Integration als Richtlinie deutscher Politik Schreiben des Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer an die Bundesminister Vom 19. Januar 1956 Die gegenwärtige außenpolitische Lage enthält außerordentliche Gefahren. Um sie abzuwenden und eine günstige Entwicklung einzuleiten, bedarf es entschlossener Maßnahmen. Dazu gehören vor allem eine klare, positive deutsche Haltung zur europäischen Integration. In dieser europäischen Integration sehen die entscheidenden Staatsmänner des Westens den Angelpunkt der Entwicklung, wie besonders meine Gespräche mit Pinay und Spaak und sehr bestimmte amerikanische politische Erklärungen gezeigt haben. Diese Auffassung ist zweifellos richtig. Wenn die Integration gelingt, können wir bei den Verhandlungen sowohl über die Sicherheit wie über die Wiedervereinigung als wesentliches neues Moment das Gewicht eines einigen Europas in die Waagschale werfen. Umgekehrt sind ernsthafte Konzessionen der Sowjetunion nicht zu erwarten, solange die Uneinigkeit Europas ihr Hoffnung gibt, diesen oder jenen Staat zu sich herüberziehen, dadurch den Zusammenhalt des Westens zu sprengen und die schrittweise Angliederung Europas an das Satellitensystem einzuleiten. 18

6. Europäische Integration als Richtlinie deutscher Politik Hinzu kommt, daß die dauerhafte Ordnung unseres Verhältnisses zu Frankreich nur auf dem Wege der europäischen Integration möglich ist. Sollte die Integration durch unser Widerstreben oder unser Zögern scheitern, so wären die Folgen unabsehbar. Daraus ergibt sich als Richtlinie unserer Politik, daß wir den Beschluß von Messina entschlossen und unverfälscht durchführen müssen. Noch stärker als bisher muß der politische Charakter dieses Beschlusses beachtet werden, der nicht allein eine technische Kooperation aus fachlichen Erwägungen, sondern eine Gemeinschaft herbeiführen soll, die (auch im Interesse der Wiedervereinigung) die gleiche Richtung des politischen Willens und Handelns sichert. Der OEEC-Rahmen genügt dafür nicht. In den Dienst dieser politischen Zielsetzung müssen alle fachlichen Erwägungen treten. Insbesondere muß für die Durchführung des Programms von Messina folgendes gelten: 1. Die Integration zunächst unter den Sechs ist mit allen in Betracht kommenden Methoden zu fördern, also sowohl auf dem Gebiet der allgemeinen (horizontalen) Integration wie bezüglich der geeigneten (vertikalen) Teilintegration. 2. Hierbei ist von vornherein nach Möglichkeit die Schaffung geeigneter gemeinsamer Institutionen anzustreben, um im Sinne der großen politischen Zielsetzung eine feste Bindung der Sechs herbeizuführen. 3. Die recht gut gelaufenen Beratungen über die Herstellung eines gemeinsamen europäischen Marktes - d. h. eines Marktes, der einem Binnenmarkt ähnlich ist - müssen mit Nachdruck zu Ende geführt werden. Dabei müssen europäische Organe mit Entscheidungsbefugnissen geschaffen werden, um das Funktionieren dieses Marktes zu sichern und gleichzeitig die politische Weiterentwicklung zu fördern. 4. Ausgehend von dem Gedanken des Gemeinsamen Marktes muß auch für den Verkehr eine echte Integration der Sechs angestrebt werden. Das gilt insbesondere von der Luftfahrt; eine grundsätzliche Ablehnung oder Verzögerung von Integrationsplänen für die Produktion, das Beschaffungswesen und die Betriebsführung auf diesem Gebiet ist politisch nicht zu verantworten. 5. Das gleiche gilt für die Energie, insbesondere die Kernenergie. Es ist eine zwingende politische Notwendigkeit, jeden Zweifel darüber zu beseitigen, daß wir nach wie vor zu unseren Erklärungen von Messina stehen, wonach eine europäische Atomgemeinschaft mit Entscheidungsbefugnissen, gemeinsamen Organen und gemeinsamen Finanz- und sonstigen Durchführungsmitteln gegründet werden soll. Die Amerikaner sehen, wie sie offiziell erklärt haben, in einer europäischen Atomgemeinschaft, die im Gegensatz zur OEEC eigene Rechte und Verantwortlichkeiten hat, ein entscheidendes Moment der politischen Entwicklung. Sie sind bereit, eine solche Atomgemeinschaft mit allem Nachdruck zu unterstützen. Andererseits läßt sich nach Auffassung der Weltöffentlichkeit die friedliche Nutzung der Atomenergie von der Möglichkeit der Herstellung von Atombomben praktisch nicht trennen. Der deutsche Versuch einer rein nationalen Atomregelung würde daher vom Ausland mit größtem Mißtrauen aufgenommen werden. Insbesondere können wir, wenngleich selbstverständlich Deutschland nicht diskriminiert werden darf und die deutsche Forschung und Industrie möglichst freien Raum erhalten müssen, eine gemeinsame europäische Bewirtschaftung einzelner Stoffe nicht ablehnen, wenn sie aus Sicherheitsgründen erforderlich ist. Ich bitte, das vorstehend Dargelegte als Richtlinien der Politik der Bundesregierung (Art. 65 GG) zu betrachten und danach zu verfahren. gez. Adenauer Quelle: Auswärtiges Amt, Die Auswärtige Politik der Bundesrepublik Deutschland, (Köln: Verlag Wirtschaft und Politik), 1972, S. 317f.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen

1/7 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit vom 22. Januar 1963 Im Anschluß an die Gemeinsame Erklärung des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland und des Präsidenten der Französischen Republik vom 22. Januar 1963 über die Organisation und die Grundsätze der Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten wurden die folgenden Bestimmungen vereinbart: I. Organisation 1. Die Staats- und Regierungschefs geben nach Bedarf die erforderlichen Weisungen und verfolgen laufend die Ausführung des im folgenden festgelegten Programms. Sie treten zu diesem Zweck zusammen, sooft es erforderlich ist und grundsätzlich mindestens zweimal jährlich. 2. Die Außenminister tragen für die Ausführung des Programms in seiner Gesamtheit Sorge. Sie treten mindestens alle drei Monate zusammen. Unbeschadet der normalen Kontakte über die Botschaften treten diejenigen leitenden Beamten der beiden Außenministerien, denen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten obliegen, allmonatlich abwechselnd in Bonn und Paris zusammen, um den Stand der vorliegenden Fragen festzustellen und die Zusammenkunft der Minister vorzubereiten. Ferner nehmen die diplomatischen Vertretungen und die Konsulate der beiden Staaten sowie ihre ständigen Vertretungen bei den internationalen Organisationen die notwendige Verbindung in den Fragen gemeinsamen Interesses auf. 3. Zwischen den zuständigen Behörden beider Staaten finden regelmäßige Zusammenkünfte auf den Gebieten der Verteidigung, der Erziehung und der Jugendfragen statt. Sie beeinträchtigen in keiner Weise die Tätigkeit der bereits bestehenden Organe - Deutsch-Französische Kulturkommission, Ständige Gruppe der Generalstäbe - , deren Tätigkeit vielmehr erweitert wird. Die Außenminister sind bei diesen Zusammenkünften vertreten, um die Gesamtkoordinierung der Zusammenarbeit zu gewährleisten. a) Der Verteidigungs- und der Armeeminister treten wenigstens einmal alle drei Monate zusammen. Ferner trifft sich der französische Erziehungsminister in den gleichen Zeitabständen mit derjenigen Persönlichkeit, die auf deutscher Seite benannt wird, um die Ausführung des Programms der Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet zu verfolgen. b) Die Generalstabschefs beider Staaten treten wenigstens einmal alle zwei Monate zusammen; im Verhinderungsfalle werden sie durch ihre verantwortlichen Vertreter ersetzt. c) Der Bundesminister für Familien- und Jugendfragen oder sein Vertreter trifft sich wenigstens einmal alle zwei Monate mit dem französischen Hohen Kommissar für Jugend und Sport. 4. In jedem der beiden Staaten wird eine interministerielle Kommission beauftragt, die Fragen der Zusammenarbeit zu verfolgen. In dieser Kommission, der Vertreter aller beteiligten Ministerien angehören, führt ein hoher Beamter des Außenministeriums den Vorsitz. Ihre Aufgabe besteht darin, das Vorgehen der beteiligten Ministerien zu koordinieren und in regelmäßigen Abständen ihrer Regierung einen Bericht über den Stand der deutsch-französi-

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7. Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit sehen Zusammenarbeit zu erstatten. Die Kommission hat ferner die Aufgabe, zweckmäßige Anregungen für die Ausführung des Programms der Zusammenarbeit und dessen etwaige Ausdehnung auf neue Gebiete zu geben. II. Programm A. Auswärtige Angelegenheiten 1. Die beiden Regierungen konsultieren sich vor jeder Entscheidung in allen wichtigen Fragen der Außenpolitik und in erster Linie in den Fragen von gemeinsamem Interesse, um so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung zu gelangen. Diese Konsultation betrifft unter anderem folgende Gegenstände: -

Fragen der Europäischen Gemeinschaften und der europäischen politischen Zusammenarbeit;

-

Ost-West-Beziehungen sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich;

-

Angelegenheiten, die in der Nordatlantikvertragsorganisation und in den verschiedenen internationalen Organisationen behandelt werden und an denen die beiden Regierungen interessiert sind, insbesondere im Europarat, in der Westeuropäischen Union, in der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in den Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen.

2. Die auf dem Gebiet des Informationswesens bereits bestehende Zusammenarbeit wird zwischen den beteiligten Dienststellen in Bonn und Paris und zwischen den Vertretungen in Drittstaaten fortgeführt und ausgebaut. 3. Hinsichtlich der Entwicklungshilfe stellen die beiden Regierungen ihre Programme einander systematisch gegenüber, um dauernd eine enge Koordinierung durchzuführen. Sie prüfen die Möglichkeit, Vorhaben gemeinsam in Angriff zu nehmen. Da sowohl auf deutscher als auch auf französischer Seite mehrere Ministerien für diese Angelegenheit zuständig sind, wird es Sache der beiden Außenministerien sein, die praktischen Grundlagen dieser Zusammenarbeit gemeinsam festzulegen. 4. Die beiden Regierungen prüfen gemeinsam die Mittel und Wege dazu, ihre Zusammenarbeit im Rahmen des Gemeinsamen Marktes in anderen wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik, zum Beispiel der Land- und Forstwirtschaftspolitik, der Energiepolitik, der Verkehrs- und Transportfragen, der industriellen Entwicklung ebenso wie der Ausfuhrkreditpolitik, zu verstärken. B. Verteidigung I. Auf diesem Gebiet werden nachstehende Ziele verfolgt: 1. Auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik bemühen sich die zuständigen Stellen beider Länder, ihre Auffassungen einander anzunähern, um zu gemeinsamen Konzeptionen zu gelangen. Es werden deutsch-französische Institute für operative Forschung errichtet. 2. Der Personalaustausch zwischen den Streitkräften wird verstärkt; er betrifft insbesondere die Lehrkräfte und Schüler der Generalstabsschulen; der Austausch kann sich auf die zeitweilige Abordnung ganzer Einheiten erstrecken. Zur Erleichterung dieses Austausches

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I. Völkerrechtliche Grundlagen werden beide Seiten um den praktischen Sprachunterricht für das in Betracht kommende Personal bemüht sein. 3. Auf dem Gebiet der Rüstung bemühen sich die beiden Regierungen, eine Gemeinschaftsarbeit vom Stadium der Ausarbeitung geeigneter Rüstungsvorhaben und der Vorbereitung der Finanzierungspläne an zu organisieren. Zu diesem Zweck untersuchen gemischte Kommissionen die in beiden Ländern hierfür betriebenen Forschungsvorhaben und nehmen eine vergleichende Prüfung vor. Sie unterbreiten den Ministern Vorschläge, die diese bei ihren dreimonatlichen Zusammenkünften prüfen und zu deren Ausführung sie die notwendigen Richtlinien geben. II. Die Regierungen prüfen die Voraussetzungen, unter denen eine deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet des zivilen Bevölkerungsschutzes hergestellt werden kann. C. Erziehungs- und Jugendfragen Auf dem Gebiet des Erziehungswesens und der Jugendfragen werden die Vorschläge, die in den französischen und deutschen Memoranden vom 19. September und 8. November 1962 enthalten sind, nach dem oben erwähnten Verfahren einer Prüfung unterzogen. 1. Auf dem Gebiet des Erziehungswesens richten sich die Bemühungen hauptsächlich auf folgende Punkte: a) Sprachunterricht Die beiden Regierungen erkennen die wesentliche Bedeutung an, die der Kenntnis der Sprache des anderen in jedem der beiden Länder für die deutsch-französische Zusammenarbeit zukommt. Zu diesem Zweck werden sie sich bemühen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl der deutschen Schüler, die Französisch lernen, und die der französischen Schüler, die Deutsch lernen, zu erhöhen. Die Bundesregierung wird in Verbindung mit den Länderregierungen, die hierfür zuständig sind, prüfen, wie es möglich ist, eine Regelung einzuführen, die es gestattet, dieses Ziel zu erreichen. Es erscheint angebracht, an allen Hochschulen in Deutschland einen für alle Studierenden zugänglichen praktischen Unterricht in der französischen Sprache und in Frankreich einen solchen in der deutschen Sprache einzurichten. b) Frage der Gleichwertigkeit der Diplome Die zuständigen Behörden beider Staaten sollen gebeten werden, beschleunigt Bestimmungen über die Gleichwertigkeit der Schulzeiten, der Prüfungen, der Hochschultitel und -diplome zu erlassen. c) Zusammenarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung Die Forschungsstellen und die wissenschaftlichen Institute bauen ihre Verbindungen untereinander aus, wobei sie mit einer gründlicheren gegenseitigen Unterrichtung beginnen; vereinbarte Forschungsprogramme werden in den Disziplinen aufgestellt, in denen sich dies als möglich erweist. 2. Der deutschen und französischen Jugend sollen alle Möglichkeiten geboten werden, um die Bande, die zwischen ihnen bestehen, enger zu gestalten und ihr Verständnis füreinander zu vertiefen. Insbesondere wird der Gruppenaustausch weiter ausgebaut. Es wird ein Austausch- und Förderungswerk der beiden Länder errichtet, an dessen Spitze ein unabhängiges Kuratorium steht. Diesem Werk wird ein deutsch-französischer Gemein-

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8. Zum Grundlagenvertrag schaftsfonds zur Verfügung gestellt, der der Begegnung und dem Austausch von Schülern, Studenten, jungen Handwerkern und jungen Arbeitern zwischen beiden Ländern dient. III. Schlußbestimmungen 1. In beiden Ländern werden die erforderlichen Anordnungen zur unverzüglichen Verwirklichung des Vorstehenden getroffen. Die Außenminister stellen bei jeder ihrer Zusammenkünfte fest, welche Fortschritte erzielt worden sind. 2. Die beiden Regierungen werden die Regierungen der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Entwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit laufend unterrichtet halten. 3. Dieser Vertrag gilt mit Ausnahme der die Verteidigung betreffenden Bestimmungen auch für das Land Berlin, sofern nicht die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Regierung der Französischen Republik innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Vertrages eine gegenteilige Erklärung abgibt. 4. Die beiden Regierungen können die Anpassungen vornehmen, die sich zur Ausführung dieses Vertrages als wünschenswert erweisen. 5. Dieser Vertrag tritt in Kraft, sobald jeder der beiden Vertragschließenden dem anderen mitgeteilt hat, daß die dazu erforderlichen innerstaatlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1963, S. 707.

1/8 Zum Grundlagenvertrag

a.) Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Dezember 1972 Die Hohen Vertragschließenden Seiten eingedenk ihrer Verantwortung für die Erhaltung des Friedens, in dem Bestreben, einen Beitrag zur Entspannung und Sicherheit in Europa zu leisten, in dem Bewußtsein, daß die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen eine grundlegende Bedingung für den Frieden sind, in der Erkenntnis, daß sich daher die beiden deutschen Staaten in ihren Beziehungen der Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten haben, ausgehend von den historischen Gegebenheiten und unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage, geleitet von dem Wunsch, zum Wohle der Menschen in den beiden deutschen Staaten die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen, sind wie folgt übereingekommen: 23

I. Völkerrechtliche Grundlagen Art. 1 Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik entwikkeln normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Art. 2 Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden sich von den Zielen und Prinzipien leiten lassen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, insbesondere der souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte und der Nichtdiskriminierung. Art. 3 Entsprechend der Charta der Vereinten Nationen werden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten. Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität. Art. 4 Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen davon aus, daß keiner der beiden Staaten den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann. Art. 5 Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden friedliche Beziehungen zwischen den europäischen Staaten fördern und zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beitragen. Sie unterstützen die Bemühungen um eine Verminderung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa, ohne daß dadurch Nachteile für die Sicherheit der Beteiligten entstehen dürfen. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden mit dem Ziel einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle der internationalen Sicherheit dienende Bemühungen um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, insbesondere auf dem Gebiet der Kernwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln, unterstützen. Art. 6 Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen von dem Grundsatz aus, daß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt. Sie respektieren die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten. Art. 7 Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung ihrer Beziehungen praktische und humanitäre Fragen zu regeln. Sie werden Abkommen schließen, um auf der Grundlage des Vertrages und zum beiderseitigen Vorteil die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, der Kultur, des Sports, des Umweltschutzes und auf anderen Gebieten zu entwickeln und zu fördern. Einzelheiten sind in dem Zusatzprotokoll geregelt. Art. 8 Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden ständige Vertretungen austauschen. Sie werden am Sitz der jeweiligen Regierung errichtet.

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8. Zum Grundlagenvertrag Die praktischen Fragen, die mit der Einrichtung der Vertretungen zusammenhängen, werden zusätzlich geregelt. Art. 9 Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik stimmen darin überein, daß durch diesen Vertrag die von ihnen früher abgeschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen und mehrseitigen internationalen Verträge und Vereinbarungen nicht berührt werden. Art. 10 Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation und tritt am Tage nach dem Austausch entsprechender Noten in Kraft. Z u URKUND DESSEN haben die Bevollmächtigten der Hohen Vertragschließenden Seiten diesen Vertrag unterzeichnet. GESCHEHEN in Berlin am 21. Dezember 1972 in zwei Urschriften in deutscher Sprache. Für die Bundesrepublik Deutschland Egon B a h r

Für die Deutsche Demokratische Republik Michael K o h l

Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1972, S. 423.

b.) Brief der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zur deutschen Einheit an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Dezember 1972 Bundesminister für besondere Aufgaben beim Bundeskanzler Bonn, den 21. Dezember 1972 An den Staatssekretär beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik Herrn Dr. Michael Kohl Berlin Sehr geehrter Herr Kohl! Im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeichnung des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik beehrt sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Mit vorzüglicher Hochachtung Bahr Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1972, S. 423.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen

c.) Zusatzprotokoll zum Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik I Zu Art. 3: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik kommen überein, eine Kommission aus Beauftragten der Regierungen beider Staaten zu bilden. Sie wird die Markierung der zwischen den beiden Staaten bestehenden Grenze überprüfen und, soweit erforderlich, erneuern oder ergänzen sowie die erforderlichen Dokumentationen über den Grenzverlauf erarbeiten. Gleichermaßen wird sie zur Regelung sonstiger mit dem Grenzverlauf im Zusammenhang stehender Probleme, zum Beispiel der Wasserwirtschaft, der Energieversorgung und der Schadensbekämpfung, beitragen. Die Kommission nimmt nach Unterzeichnung des Vertrages ihre Arbeit auf. II Zu Art. 7: 1. Der Handel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik wird auf der Grundlage der bestehenden Abkommen entwickelt. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden langfristige Vereinbarungen mit dem Ziel abschließen, eine kontinuierliche Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zu fördern, überholte Regelungen anzupassen und die Struktur des Handels zu verbessern. 2. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik bekunden ihren Willen, zum beiderseitigen Nutzen die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik zu entwickeln und die hierzu erforderlichen Verträge abzuschließen. 3. Die mit dem Vertrag vom 26. Mai 1972 begonnene Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Verkehrs wird erweitert und vertieft. 4. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihre Bereitschaft, im Interesse der Rechtsuchenden den Rechtsverkehr, insbesondere in den Bereichen des Zivil- und Strafrechts, vertraglich so einfach und zweckmäßig wie möglich zu regeln. 5. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik stimmen überein, auf der Grundlage der Satzung des Weltpostvereins und des Internationalen Fernmeldevertrages ein Post- und Fernmeldeabkommen abzuschließen. Sie werden dieses Abkommen dem Weltpostverein (UPU) und der Internationalen Fernmelde-Union (UIT) notifizieren. In dieses Abkommen werden die bestehenden Vereinbarungen und die für beide Seiten vorteilhaften Verfahren übernommen werden. 6. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihr Interesse an einer Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Sie stimmen

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8. Zum Grundlagenvertrag überein, daß in dem entsprechenden Vertrag auch der Austausch von Medikamenten sowie die Behandlung in Spezialkliniken und Kuranstalten im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten geregelt werden. 7. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik beabsichtigen, die kulturelle Zusammenarbeit zu entwickeln. Zu diesem Zweck werden sie Verhandlungen über den Abschluß von Regierungsabkommen aufnehmen. 8. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik bekräftigen ihre Bereitschaft, nach Unterzeichnung des Vertrages die zuständigen Sportorganisationen bei den Absprachen zur Förderung der Sportbeziehungen zu unterstützen. 9. Auf dem Gebiet des Umweltschutzes sollen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik Vereinbarungen geschlossen werden, um zur Abwendung von Schäden und Gefahren für die jeweils andere Seite beizutragen. 10. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden Verhandlungen mit dem Ziel führen, den gegenseitigen Bezug von Büchern, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehproduktionen zu erweitern. 11. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden im Interesse der beteiligten Menschen Verhandlungen zur Regelung des nichtkommerziellen Zahlungs- und Verrechnungsverkehrs aufnehmen. Dabei werden sie im gegenseitigen Interesse vorrangig für den kurzfristigen Abschluß von Vereinbarungen unter sozialen Gesichtspunkten Sorge tragen.

Protokollvermerk zum Vertrag Wegen der unterschiedlichen Rechtspositionen zu Vermögensfragen konnten diese durch den Vertrag nicht geregelt werden.

Vorbehalt zu Staatsangehörigkeitsfragen durch die Bundesrepublik Deutschland Die Bundesrepublik Deutschland erklärt: „Staatsangehörigkeitsfragen sind durch den Vertrag nicht geregelt worden." Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1972, S. 423.

Anmerkung: Aus Platzgründen muß auf die Wiedergabe weiterer in engem Zusammenhang mit dem Vertragswerk stehender Dokumente verzichtet werden. Es handelt sich um: -

Briefwechsel vom 21. Dezember 1972 zur Familienzusammenführung, zu Reiseerleichterungen und Verbesserungen des nichtkommerziellen Warenverkehrs Briefwechsel vom 21. Dezember 1972 zur Öffnung weiterer Grenzübergangsstellen

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I. Völkerrechtliche Grundlagen -

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Briefwechsel vom 21. Dezember 1972 mit dem Wortlaut der Noten der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu Artikel 9 des Vertrages Erklärung beider Seiten in bezug auf Berlin (West) Denkschrift zum Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik Mündliche Vereinbarung über politische Konsultationen bei Vertragsunterzeichnung Erklärung zu Protokoll über die Aufgaben der Grenzkommission durch die beiden Delegationsleiter Erläuterungen zum Briefwechsel zur Familienzusammenführung, zu Reiseerleichterungen und Verbesserung des nichtkommerziellen Warenverkehrs Anlage 1, Aufzählung der Kreise im grenznahen Bereich in der Bundesrepublik Deutschland Anlage 2, Aufzählung der Kreise im grenznahen Bereich in der Deutschen Demokratischen Republik Briefwechsel zum Post- und Fernmeldewesen Erklärung zu Protokoll über den Verwaltungsverkehr durch den Delegationsleiter der DDR Briefwechsel über Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten Erklärung zu Protokoll im Zusammenhang mit dem Briefwechsel über Arbeitsmöglichkeiten von Journalisten Erklärung beider Seiten über Ausdehnung der Vereinbarung über Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten auf Berlin (West) bei der Paraphierung

1/9 Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag Entscheidungsformel: Das Gesetz zu dem Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. Juni 1973 (Bundesgesetzbl. Teil II S. 421) ist in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar. Gründe: A.

II. 1. A m 28. Mai 1973 hat die Bayerische Staatsregierung gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G in Verbindung mit § 13 Nr. 6 und § 76 Nr. 1 BVerfGG beim Bundesverfassungsgericht beantragt festzustellen:

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9. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag Das Gesetz zu dem Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und deshalb nichtig. Für die Zulässigkeit bezieht sie sich auf die bisherige Rechtsprechung des Gerichts. Zur Begründetheit ihres Antrags trägt sie im wesentlichen vor: Der Vertrag verstoße gegen das Gebot der Wahrung der staatlichen Einheit Deutschlands. Er beruhe auf der vom Grundgesetz verworfenen Rechtsauffassung vom Untergang des Deutschen Reiches und dem Neuentstehen zweier unabhängiger Staaten auf dem Gebiet des alten Reiches... Der Vertrag verletze auch das grundgesetzliche Wiedervereinigungsgebot. Der Vertrag erkenne die D D R als (mit der BRD) gleichberechtigten, unabhängigen und selbständigen Staat an . . . Der Vertrag sei außerdem mit den Vorschriften des Grundgesetzes über Berlin unvereinbar: Die Berlinklausel des Vertragsgesetzes unterscheide sich von der üblichen Formel; sie bestimme nur, das Gesetz gelte „soweit sich die Regelungen des Vertragswerks auf das Land Berlin beziehen, auch im Lande Berlin, sofern das Land Berlin die Anwendung dieses Gesetzes feststellt". Danach würden von der Klausel nur die Erklärungen beider Seiten in bezug auf Berlin (West) e r f a ß t . . . Der Vertrag verletze schließlich die im Grundgesetz begründete Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber den Deutschen in der Deutschen Demokratischen Republik . . . Jedenfalls dürfe ein Vertrag mit der Deutschen Demokratischen Republik nur abgeschlossen werden, wenn in ihm - gewissermaßen als verfassungsrechtliches Minimum - ein Ausreiserecht für alle Deutschen aus der Deutschen Demokratischen Republik nach der Bundesrepublik Deutschland bindend vereinbart s e i . . . 2. Die Bundesregierung hat beantragt, festzustellen Das Gesetz vom 6. Juni 1973 zu dem Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Zur Begründung hat sie im wesentlichen folgendes vorgetragen: Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Prüfung völkerrechtlicher Verträge müsse zunächst verlangt werden, daß der Antrag der Bayerischen Staatsregierung schlüssig sei; dazu gehöre, daß er die maßgebenden Erwägungen der Bundesregierung und der parlamentarischen Verhandlungen zur Kenntnis nehme und belege, daß ein Verfassungsverstoß ernstlich in Betracht gezogen werden müsse. Dabei sei im Antrag bereits erkennbar zu berücksichtigen, daß bei der Überprüfung völkerrechtlicher und zwischenstaatlicher Maßnahmen ein hohes Maß an Justitiabilität und Evidenz zu fordern sei. Entspreche ein Antrag diesen unverzichtbaren Erfordernissen nicht, sei vielmehr die von der Bundesregierung und von den gesetzgebenden Körperschaften beobachtete Sorgfalt in der Wahrnehmung des Verfassungsrechts evident, so genüge ein Antrag nicht den an eine eingehende Sachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zu stellenden Anforderungen. Er sei dann offensichtlich oder mindestens eindeutig unbegründet. Er müsse insbesondere scheitern, weil die Bayerische Staatsregierung ihre rein politischen Vorstellungen als Rechtssätze in das Grundgesetz hineininterpretiere, weil sie ihre politischen Wertungen auch bei der Auslegung des Vertrags in einseitiger Weise einführe, weil sie die politische Ausgangslage gänzlich außer Betracht lasse und weil sie die mit dem Vertrag in Übereinstimmung mit den elementaren Zielen des Grundgesetzes verfolgten Absichten entgegen dem eindeutigen Inhalt dieses Vertrags leugne.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen Eine Alternative zum Vertrag gebe es nicht. Vergleiche man die Lage nach dem Inkrafttreten des Vertrags mit der Lage, die bestehen würde, wenn er nicht geschlossen worden wäre, so seien seine Vorteile evident. Der Vertrag diene praktisch dem Verfassungsziel der Friedenssicherung, er diene dem Verfassungsziel der Humanität, indem er den Menschen praktische Vorteile bringe, er halte in Übereinstimmung mit dem Grundgesetzgeber am Fortbestand Deutschlands fest, er sei gemäß den Vorstellungen des Grundgesetzgebers ein Dokument für eine Politik, die sich nicht an den Interessen der Bundesrepublik, sondern an den Belangen der ganzen Nation orientiere und er halte die deutsche Frage offen. Das Grundgesetz enthalte keine Festlegung auf die „Identitätsthese", sondern unterscheide zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Deutschland. Der Vertrag setze sich auch nicht in Widerspruch mit dem Wiedervereinigungsgebot. Denn die drei Westmächte blieben daran gebunden, den Viermächtevorbehalt auf Deutschland als Ganzes zu beziehen; der Vertrag gebe nicht die Fortexistenz Deutschlands als Rechtssubjekt auf; er vermeide die Qualifizierung der Deutschen Demokratischen Republik als Ausland; er halte fest an der Einheit der deutschen Nation und an der deutschen Staatsangehörigkeit; er enthalte auch keine völkerrechtliche Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik. Mit dem Vertrag sei das politisch Erreichbare erreicht worden. Er verbaue jedoch weder rechtlich noch praktisch die Wiedervereinigung, gleichgültig, in welcher Form sie einmal verwirklicht werden könne. Er bringe aber Verbesserungen sowohl im politischen als auch im menschlichen Bereich und begründe darüber hinaus den Anspruch auf Abkommen, die zu weiteren Verbesserungen führen könnten. Der Vertrag schließe nichts ab, regele nichts endgültig, sondern halte im Gegenteil die Situation für künftige Verbesserungen offen und schaffe die Grundlage dafür. Der Status Berlins bleibe vom Vertrag unberührt, schon deshalb, weil er durch die Viermächte-Vereinbarung fixiert sei, an der die Vertragsteile nichts zu ändern vermöchten. Eine Verpflichtung der Bundesregierung, innerhalb des Gebietes der Deutschen Demokratischen Republik für den Schutz und die Fürsorge der Deutschen, die dort ihren ständigen Aufenthalt haben, einzustehen, bestehe nach dem Grundgesetz nicht. An der Schutz- und Fürsorgebefugnis der Bundesorgane für Deutsche im Ausland ändere der Vertrag weder rechtlich noch faktisch etwas. Die Gewährung der Ausreisefreiheit für alle Deutschen aus der Deutschen Demokratischen Republik sei keine verfassungsrechtliche Voraussetzung für Vereinbarungen, die konkreten Verbesserungen in den menschlichen Beziehungen dienen sollen. 3. Dem Gericht lagen u.a. alle Protokolle über die Beratungen der gesetzgebenden Körperschaften vor, die den Vertrag betreffen, außerdem die den Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung eingeräumten Schriftsätze zu der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Urkunde über den Empfang des Briefes zur deutschen Einheit. B.

II.

2. Maßstab im Normenkontrollverfahren ist das Grundgesetz. Es verbindlich auszulegen, ist Sache des Bundesverfassungsgerichts. Auf dieser Grundlage gibt es kein Spannungsverhältnis zwischen politischer Wirklichkeit und Verfassungsordnung, das behoben werden könnte durch die Überlegung, die geltende Verfassungsordnung könne durch einen Vertrag geändert werden. Er schafft weder materielles Verfassungsrecht, noch kann er zur Auslegung des

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9. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag Grundgesetzes herangezogen werden. Es ist vielmehr umgekehrt: Ein Vertrag, der mit dem geltenden Verfassungsrecht in Widerspruch steht, kann verfassungsrechtlich nur durch eine entsprechende Verfassungsänderung mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht werden. Dies vorausgesetzt, gilt auch für die verfassungsrechtliche Prüfung eines Vertrags der Grundsatz, den das Bundesverfassungsgericht in Rücksicht auf die Verantwortung der anderen Verfassungsorgane im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes allgemein entwickelt hat: Daß unter mehreren möglichen Auslegungen die Auslegung zu wählen ist, nach der der Vertrag vor dem Grundgesetz Bestand hat (vgl. BVerfGE 4, 157 [168]). Zu den gerade in der Verbindung mit der verfassungsrechtlichen Prüfung von Verträgen bedeutsamen Auslegungsgrundsätzen gehört außerdem, daß bei der Auslegung von Verfassungsbestimmungen, die sich auf Beziehungen der Bundesrepublik mit anderen Staaten beziehen, deren schrankensetzender, also Spielraum für die politische Gestaltung lassender Charakter nicht außer Betracht bleiben darf. In dieser Begrenzung setzt das Grundgesetz jeder politischen Macht, auch im Bereich der auswärtigen Politik, rechtliche Schranken; das ist das Wesen einer rechtsstaatlichen Ordnung, wie sie das Grundgesetz konstituiert hat. Die Durchsetzung dieser Verfassungsordnung obliegt letztverbindlich dem Bundesverfassungsgericht. Der Grundsatz des judicial self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht, „Politik zu treiben", d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten ... III. Der Vertrag regelt die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Seine Beurteilung macht erforderlich, sich mit den Aussagen des Grundgesetzes über den Rechtsstatus Deutschlands auseinanderzusetzen: 1. Das Grundgesetz - nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte, noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort (BVerfGE 2, 266 [277]; 3, 288 [319 f.]; 5, 85 [126]; 6, 309 [336, 363]), besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe, selbst nicht handlungsfähig. Im Grundgesetz ist auch die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und von der gesamtdeutschen Staatsgewalt „verankert" (BVerfGE 2, 266 [277]). Verantwortung für „Deutschland als Ganzes" tragen - auch - die vier Mächte (BVerfGE 1, 351 [362 f., 367]). Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert (vgl. Carlo Schmid in der 6. Sitzung des Parlamentarischen Rates - StenBer. S. 70). Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht „Rechtsnachfolger" des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat „Deutsches Reich" - in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings „teilidentisch", so daß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht...

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I. Völkerrechtliche Grundlagen 2. Zum Wiedervereinigungsgebot und Selbstbestimmungsrecht, das im Grundgesetz enthalten ist, hat das Bundesverfassungsgericht bisher erkannt, und daran hält der Senat fest: Dem Vorspruch des Grundgesetzes kommt nicht nur politische Bedeutung zu, er hat auch rechtlichen Gehalt. Die Wiedervereinigung ist ein verfassungsrechtliches Gebot. Es muß jedoch den zu politischem Handeln berufenen Organen der Bundesrepublik überlassen bleiben zu entscheiden, welche Wege sie zur Herbeiführung der Wiedervereinigung als politisch richtig und zweckmäßig ansehen. Die Verfassungsorgane, denen im Grundgesetz auch der Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und ihrer Institutionen zur Pflicht gemacht ist, haben zu entscheiden, ob eine bestimmte, sonst verfassungsmäßige Maßnahme die Wiedervereinigung rechtlich hindern oder faktisch unmöglich machen würde und aus diesem Grunde unterbleiben müßte. Ein breiter Raum politischen Ermessens besteht hier besonders für die Gesetzgebungsorgane. Das Bundesverfassungsgericht kann dem Gesetzgeber erst entgegentreten, wenn er die Grenzen des Ermessens eindeutig überschreitet, wenn seine Maßnahme also rechtlich oder tatsächlich einer Wiedervereinigung in Freiheit offensichtlich entgegensteht (BVerfGE 5, 85 [126 ff.]; 12,45 [51 f.])... Zur politischen These vom „Alleinvertretungsanspruch" hat sich das Bundesverfassungsgericht niemals geäußert. Es hatte und hat auch jetzt keinen Anlaß zu prüfen und zu entscheiden, ob sich aus dem Grundgesetz rechtlich ein Λ/fewvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland für Gesamtdeutschland begründen läßt. 3. Der Vertrag kann so interpretiert werden, daß er mit keiner der dargelegten Aussagen des Grundgesetzes in Widerspruch gerät. Keine amtliche Äußerung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland kann dahin verstanden werden, daß sie bei der Interpretation des Vertrags diesen verfassungsrechtlichen Boden verlassen hat oder verläßt... V. Im einzelnen ist zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des Vertrags noch folgendes auszuführen: 1. Wie oben dargelegt, setzt das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes der Gestaltungsfreiheit der Staatsorgane verfassungsrechtliche Grenzen: Es darf keine Rechtsposition aus dem Grundgesetz, die der Wiedervereinigung auf der Grundlage der freien Selbstbestimmung des deutschen Volkes dienlich ist, aufgegeben werden, und es darf andererseits kein mit dem Grundgesetz unvereinbares Rechtsinstrument unter Beteiligung der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland geschaffen werden, das der Bemühung der Bundesregierung um Wiedervereinigung entgegengehalten werden kann. In diesem Zusammenhang hat der Brief der Bundesregierung zur deutschen Einheit an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik seine Bedeutung: Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 1973 steht fest, daß der wesentliche Inhalt des Briefes vor Abschluß der Verhandlungen angekündigt und der Brief der Gegenseite unmittelbar vor Unterzeichnung des Vertrags zugestellt worden ist. In ihm ist festgehalten, daß der Vertrag nicht in Widerspruch steht „zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt" . . . In der Präambel des Vertrags heißt es: „unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage". Die „nationale Frage" ist für die Bundesrepublik Deutschland konkreter das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, das auf die „Wahrung der staatlichen Einheit des deutschen Volkes" geht. Die Präam-

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9. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag bei, so gelesen, ist ein entscheidender Satz zur Auslegung des ganzen Vertrages: Er steht mit dem grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebot nicht in Widerspruch. Die Bundesregierung verliert durch den Vertrag nicht den Rechtstitel, überall im internationalen Verkehr, auch gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik, nach wie vor die staatliche Einheit des deutschen Volkes im Wege seiner freien Selbstbestimmung fordern zu können . . . 2. In Art. 3 Abs. 2 des Vertrags bekräftigen die vertragschließenden Teile „die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und in der Z u k u n f t und verpflichten sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität". Es gibt Grenzen verschiedener rechtlicher Qualität: Verwaltungsgrenzen, Demarkationsgrenzen, Grenzen von Interessensphären, eine Grenze des Geltungsbereichs des Grundgesetzes, die Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937, staatsrechtliche Grenzen und hier wiederum solche, die den Gesamtstaat einschließen, und solche, die innerhalb eines Gesamtstaates Gliedstaaten (z.B. die Länder der Bundesrepublik Deutschland) voneinander trennen. D a ß in Artikel 3 Abs. 2 eine staatsrechtliche Grenze gemeint ist, ergibt sich unzweideutig aus dem übrigen Inhalt des Vertrags (Art. 1, 2, 3 Abs. 1, 4, 6). F ü r die Frage, o b die Anerkennung der Grenze zwischen den beiden Staaten als Staatsgrenze mit dem Grundgesetz vereinbar ist, ist entscheidend die Qualifizierung als staatsrechtliche Grenze zwischen zwei Staaten, deren „Besonderheit" ist, d a ß sie auf dem F u n d a m e n t des noch existierenden Staates „Deutschland als Ganzes" existieren, d a ß es sich also um eine staatsrechtliche Grenze handelt ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verlaufen. Mit dieser Qualifizierung der Grenze ist einerseits vereinbar die Abrede, d a ß die beiden Staaten „normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung" entwickeln (Art. 1 des Vertrags), die Abrede, wonach beide Staaten sich von dem Prinzip der „souveränen Gleichheit aller Staaten", das in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist, leiten lassen (Art. 2 des Vertrags), und die Abrede, d a ß beide Staaten von dem Grundsatz ausgehen, d a ß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt und d a ß sie die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten respektieren (Art. 6 des Vertrags). Andererseits trägt diese Qualifizierung der Staatsgrenze in Art. 3 Abs. 2 des Vertrags dem Anspruch des Grundgesetzes Rechnung, d a ß die nationale Frage, das ist die Forderung nach Erreichung der staatlichen Einheit des deutschen Volkes, o f f e n b l e i b t . . . 4. Art. 23 G G bestimmt: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder ... In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in K r a f t zu setzen." D a ß diese Bestimm u n g in einem inneren Z u s a m m e n h a n g mit dem Wiedervereinigungsgebot steht, liegt auf der H a n d . Doch darauf kommt es hier nicht an. Die Bestimmung hat ihre eigene Bedeutung und gehört nach ihrem Inhalt zu den zentralen Vorschriften, die dem Grundgesetz ihr besonderes Gepräge geben. Sie besagt, d a ß sich diese Bundesrepublik Deutschland als gebietlich unvollständig versteht, d a ß sie, sobald es möglich ist und die Bereitschaft anderer Teile Deutschlands zum Beitritt vorliegt, von sich aus kraft dieser Verfassungsbestimmung das dazu Nötige zu tun verpflichtet ist und d a ß sie erst „vollständig" das ist, was sie sein will, wenn die anderen Teile Deutschlands ihr angehören. Dieses „rechtlich Offensein" gegenüber dem erstrebten Zuwachs liegt spezifisch darin, daß sie, die Bundesrepublik, rechtlich allein Herr der Entschließung über die A u f n a h m e der anderen Teile ist, sobald diese sich d a f ü r entschieden haben beizutreten. Diese Vorschrift verbietet also, daß sich die Bundesregierung vertraglich in eine Abhängigkeit begibt, nach der sie rechtlich nicht mehr allein, sondern nur noch im Einverständnis mit dem Vertragspartner die A u f n a h m e verwirklichen kann. D a s ist etwas anderes als die politische, die faktische Abhängigkeit jeder Bundesregierung, derzeit

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I. Völkerrechtliche Grundlagen Gelegenheit zur Aufnahme eines weiteren Teils Deutschlands nur zu haben, wenn die inzwischen anderweit staatlich organisierten Teile Deutschlands nach deren Verfassungsrecht die Voraussetzung für eine „Aufnahme" schaffen. Art. 23 G G ist weder durch die politische Entwicklung überholt noch sonst aus irgendeinem Grund rechtlich obsolet geworden. Er gilt unverändert fort. „Andere Teile Deutschlands" haben allerdings mittlerweile in der Deutschen Demokratischen Republik ihre Staatlichkeit gefunden. In dieser Weise organisiert, können sie ihren Willen zur Vereinigung mit der Bundesrepublik (ihren „Beitritt") nur in der Form äußern, die ihre Verfassung zuläßt. Die Voraussetzung für die Realisierung des Beitritts ist also ein staatsrechtlicher Vorgang in der Deutschen Demokratischen Republik, der einem rechtlichen Einfluß durch die Bundesrepublik nicht zugänglich ist. Das berührt jedoch nicht die beschriebene, in Art. 23 G G enthaltene Verfassungspflicht, den anderen Teilen Deutschlands den Beitritt offenzuhalten. Und daran hat auch der Vertrag nichts geändert. Anders ausgedrückt: Die im Vertrag hingenommene Abhängigkeit vom Rechtswillen der Deutschen Demokratischen Republik bei der Realisierung der Aufnahme anderer Teile Deutschlands ist nichts weiter als eine Bestätigung dessen, was ohnehin rechtens ist, nachdem andere Teile Deutschlands sich in einem Staat Deutsche Demokratische Republik organisiert haben ... 7. Aus der dargelegten besonderen Natur des Vertrags folgt, daß der Vertrag auch nicht unvereinbar ist mit der nach dem Grundgesetz der Bundesregierung aufgegebenen Pflicht, allen Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 G G Schutz und Fürsorge angedeihen zu lassen. Sie ist nach wie vor befugt, innerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes, durch alle ihre diplomatischen Vertretungen und in allen internationalen Gremien, deren Mitglied sie ist, ihre Stimme zu erheben, ihren Einfluß geltend zu machen und einzutreten für die Interessen der deutschen Nation, zum Schutz der Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 G G und Hilfe zu leisten auch jedem einzelnen von ihnen, der sich an eine Dienststelle der Bundesrepublik Deutschland wendet mit der Bitte um wirksame Unterstützung in der Verteidigung seiner Rechte, insbesondere seiner Grundrechte. Hier gibt es für die Bundesrepublik Deutschland auch künftig keinen rechtlichen Unterschied zwischen den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland und „den anderen Deutschen". Das Eigentümliche dieses Vertrags liegt gerade darin, daß er selbst als „Grundlagenvertrag" neben den Rechtsgrundlagen, die schon vorher das rechtlich besondere Verhältnis zwischen Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik begründet haben - die Rechtslage des nicht untergegangenen, aber nicht organisierten Gesamtdeutschlands und die Viermächte-Verantwortung für dieses Deutschland als Ganzes - , eine zusätzliche neue Rechtsgrundlage bildet, die die beiden Staaten in Deutschland enger als normale völkerrechtliche Verträge zwischen zwei Staaten aneinander binden. 8. Der Vertrag ändert nichts an der Rechtslage Berlins, wie sie seit je von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, den Ländern der Bundesrepublik und dem Bundesverfassungsgericht gemeinsam unter Berufung auf das Grundgesetz verteidigt worden ist. Das Grundgesetz verpflichtet auch für die Zukunft alle Verfassungsorgane in Bund und Ländern, diese Rechtsposition ohne Einschränkung geltend zu machen und dafür einzutreten. Nur in diesem Kontext dürfen die Erklärungen beider Seiten in bezug auf Berlin (West) ausgelegt und verstanden werden . . . 9. Alles, was bisher zur Auslegung des Vertragswerks ausgeführt worden ist, gilt sinngemäß auch für den Abschluß der im Zusatzprotokoll zu Artikel 7 vorgesehenen und der sonst zur

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9. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag Ausfüllung des Vertrags noch denkbaren Folgeverträge und -Vereinbarungen mit der Deutschen Demokratischen Republik. Das bedeutet beispielsweise: b) Was Fernsehen und Rundfunk angeht, die in der Programmgestaltung staatsunabhängig sind, ist klarzustellen, daß sich daran auch nach dem Vertrag nichts ändert, daß insbesondere der Vertrag keine Rechtsgrundlage dafür abgibt, durch entsprechende gesetzliche oder verwaltungsmäßige Maßnahmen Sendungen, die der Deutschen Demokratischen Republik unerwünscht sind, zu unterbinden. Was immer in der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der allgemeinen anstaltseigenen Richtlinien und im Rahmen der bestehenden Anstaltsorganisationsgesetze ausgestrahlt wird, kann nicht als mit dem Vertrag unvereinbar angesehen werden; erst recht nicht darf die Bundesrepublik Deutschland sich in eine Vereinbarung einlassen, durch die diese Freiheit der Anstalten eingeschränkt wird. . . . c) Entsprechendes gilt für das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit. Auch die Bildung von Vereinigungen, die der anderen Seite wegen ihres Programms unerwünscht sind, kann, solange sie sich an die grundgesetzliche Ordnung halten, nicht an die Zügel genommen werden, wenn der Vertragspartner ihre Ziele und Propaganda als mit dem Inhalt und Geist der Verträge unvereinbar angreift und verlangt, daß sie wegen angeblicher Einmischung in innere Verhältnisse der Deutschen Demokratischen Republik verboten werden. d) Ebensowenig darf der Vertrag dahin verstanden werden, daß er die Bundesregierung und alle übrigen Organe in Bund und Ländern von der verfassungsmäßigen Pflicht entbinde, das öffentliche Bewußtsein nicht nur für die bestehenden Gemeinsamkeiten, sondern auch dafür wachzuhalten, welche weltanschaulichen, politischen und sozialen Unterschiede zwischen der Lebens- und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und der Lebens- und Rechtsordnung der Deutschen Demokratischen Republik bestehen . . . VI. Abschließend bedarf es zur Klarstellung der Bedeutung dieser Begründung des Urteils noch folgender Bemerkungen: 1. Die vorstehende Begründung behandelt den Vertrag wie ein vom Bundesgesetzgeber erlassenes Gesetz, läßt also beiseite, daß es auch spezifische Grenzen f ü r die Kerfragsauslegung gibt. Ihnen ist Rechnung getragen durch die Überlegung: Alle Ausführungen zur verfassungskonformen Auslegung des Vertrags lassen sich zurückführen auf den einen Grunddissens, den der Vertrag selbst in der Präambel offenlegt; die Vertragschließenden sind sich einig, daß sie über die „nationale Frage" nicht einig sind; wörtlich heißt es: „unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage". Es entspricht also in diesem Fall den besonderen Regeln über die Auslegung von Verträgen, wenn das Urteil aus diesem Dissens für die Auslegung des Vertrags alle Konsequenzen zieht, die die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartner nach dem Recht des Grundgesetzes für sich in Anspruch nehmen muß. 2. Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich, daß der Vertrag als ein Vertrag, der auf Ausfüllung angelegt ist, rechtlich außerordentlich bedeutsam ist nicht nur durch seine Existenz und durch seinen Inhalt, sondern vor allem auch als Rahmen für die künftigen Folgeverträge. Alle Ausführungen der Urteilsbegründung, auch die, die sich nicht ausschließlich auf den Inhalt des Vertrags selbst beziehen, sind nötig, also im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Teil der die Entscheidung tragenden Gründe.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen 3. Die Deutsche Demokratische Republik hatte vor Inkraftsetzen des Vertrags (20. Juni 1973) volle Kenntnis von dem beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren, von der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, von der Bindung der Bundesregierung und aller Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden des Bundes und der Länder an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, kannte die rechtlichen Darlegungen der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren, die in der Substanz mit der durch dieses Urteil verbindlich gewordenen Rechtsauffassung nicht in Widerspruch stehen, und den vollen, im Bundesgesetzblatt veröffentlichten Text des Vertraggesetzes einschließlich des schon bei der Paraphierung des Vertrags angekündigten Briefes zur deutschen Einheit und war von der Bundesregierung - ohne d a ß ihr von der anderen Seite widersprochen wurde - immer wieder darauf hingewiesen worden, daß sie den Vertrag nur abschließen könne so, wie er mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Diese Umstände sind geeignet, auch in der völkerrechtlichen Auseinandersetzung, insbesondere auch gegenüber dem Vertragspartner, dem Vertrag die Auslegung zu geben, die nach dem Grundgesetz erforderlich ist. Das steht im Einklang mit einem Satz des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts, der in der Staatenpraxis Bedeutung hat, wenn es darum geht, ob ausnahmsweise ein Vertragsteil sich dem anderen gegenüber darauf berufen kann, dieser hätte erkennen können und müssen, daß dem Vertrag in einer bestimmten Auslegung das innerstaatliche Verfassungsrecht entgegensteht. Quelle: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Band 36, 1974, S. Iff.

1/10 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 - Auszüge Die Hohen Vertragschließenden Seiten dank der Tatsache, d a ß in der Deutschen Demokratischen Republik im Herbst 1989 eine friedliche und demokratische Revolution stattgefunden hat, entschlossen, in Freiheit die Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung alsbald zu vollenden, in dem gemeinsamen Willen, die Soziale Marktwirtschaft als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit sozialem Ausgleich und sozialer Absicherung und Verantwortung gegenüber der Umwelt auch in der Deutschen Demokratischen Republik einzuführen und hierdurch die Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Bevölkerung stetig zu verbessern, ausgehend von dem beiderseitigen Wunsch, durch die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion einen ersten bedeutsamen Schritt in Richtung auf die Herstellung der staatlichen Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland als Beitrag zur europäischen Einigung unter Berücksichtigung der Tatsache zu unternehmen, daß die äußeren Aspekte der Herstellung der Einheit Gegenstand der Gespräche mit den Regierungen der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, 36

10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika sind, in der Erkenntnis, daß mit der Herstellung der staatlichen Einheit die Entwicklung föderativer Strukturen in der Deutschen Demokratischen Republik einhergeht, in dem Bewußtsein, daß die Regelungen dieses Vertrags die Anwendung des Rechts der Europäischen Gemeinschaften nach Herstellung der staatlichen Einheit gewährleisten sollen sind übereingekommen, einen Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion mit den nachfolgenden Bestimmungen zu schließen: Kapitel I Grundlagen Artikel 1 Gegenstand des Vertrags (1) Die Vertragsparteien errichten eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. (2) Die Vertragsparteien bilden beginnend mit dem 1. Juli 1990 eine Währungsunion mit einem einheitlichen Währungsgebiet und der Deutschen Mark als gemeinsamer Währung. Die Deutsche Bundesbank ist die Währungs- und Notenbank dieses Währungsgebiets. Die auf Mark der Deutschen Demokratischen Republik lautenden Verbindlichkeiten und Forderungen werden nach Maßgabe dieses Vertrags auf Deutsche Mark umgestellt. (3) Grundlage der Wirtschaftsunion ist die Soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien. Sie wird insbesondere bestimmt durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen; hierdurch wird die gesetzliche Zulassung besonderer Eigentumsformen für die Beteiligung der öffentlichen Hand oder anderer Rechtsträger am Wirtschaftsverkehr nicht ausgeschlossen, soweit private Rechtsträger dadurch nicht diskriminiert werden. Sie trägt den Erfordernissen des Umweltschutzes Rechnung. (4) Die Sozialunion bildet mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eine Einheit. Sie wird insbesondere bestimmt durch eine der Sozialen Marktwirtschaft entsprechende Arbeitsrechtsordnung und ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhendes umfassendes System der sozialen Sicherung. Artikel 2 Grundsätze (1) Die Vertragsparteien bekennen sich zur freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung. Zur Gewährleistung der in diesem Vertrag oder in Ausführung dieses Vertrags begründeten Rechte garantieren sie insbesondere die Vertragsfreiheit, Gewerbe-, Niederlassungs- und Berufsfreiheit, die Freizügigkeit von Deutschen in dem gesamten Währungsgebiet, die Freiheit, zur Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, sowie nach Maßgabe der Anlage IX das Eigentum privater Investoren an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln. 37

I. Völkerrechtliche Grundlagen (2) Entgegenstehende Vorschriften der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen ihrer bisherigen sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung werden nicht mehr angewendet. Artikel 3 Rechtsgrundlagen Für die Errichtung der Währungsunion und die Währungsumstellung gelten die in der Anlage I aufgeführten vereinbarten Bestimmungen. Bis zur Errichtung der Währungsunion werden die in der Anlage II bezeichneten Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland auf den Gebieten des Währungs-, Kredit-, Geld- und Münzwesens sowie der Wirtschafts- und Sozialunion in der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft gesetzt; danach gelten sie in der jeweiligen Fassung im gesamten Währungsgebiet nach Maßgabe der Anlage II, soweit sich aus diesem Vertrag nichts anderes ergibt. Die Deutsche Bundesbank, das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen und das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen üben die ihnen nach diesem Vertrag und nach diesen Rechtsvorschriften zustehenden Befugnisse im gesamten Geltungsbereich dieses Vertrags aus. Artikel 4 Rechtsanpassung (1) Für die mit der Errichtung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion erforderliche Rechtsanpassung in der Deutschen Demokratischen Republik gelten die in Artikel 2 Absatz 1 niedergelegten Grundsätze und die im Gemeinsamen Protokoll vereinbarten Leitsätze; fortbestehendes Recht ist gemäß diesen Grund- und Leitsätzen auszulegen und anzuwenden. Die Deutsche Demokratische Republik hebt bis zur Errichtung der Währungsunion die in der Anlage III bezeichneten Vorschriften auf oder ändert sie und erläßt die in der Anlage IV bezeichneten neuen Rechtsvorschriften, soweit nicht im Vertrag oder in den Anlagen ein anderer Zeitpunkt festgelegt ist. (2) Die in der Bundesrepublik Deutschland beabsichtigten Änderungen von Rechtsvorschriften sind in der Anlage V aufgeführt. Die in der Deutschen Demokratischen Republik beabsichtigten Regelungen sind in der Anlage VI aufgeführt. (3) Bei der Übermittlung personenbezogener Informationen gelten die in der Anlage VII enthaltenen Grundsätze. Artikel 5 Amtshilfe Die Behörden der Vertragsparteien leisten sich nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts bei der Durchführung dieses Vertrags Amtshilfe. Artikel 32 bleibt unberührt. Artikel 6 Rechtsschutz (1) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen durch diesen Vertrag oder in Ausführung dieses Vertrags gewährleisteten Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg zu den 38

10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Gerichten offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. (2) Die Deutsche Demokratische Republik gewährleistet gerichtlichen Rechtsschutz einschließlich eines effektiven einstweiligen Rechtsschutzes. Soweit für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten keine besonderen Gerichte bestehen, werden Spezialspruchkörper bei den ordentlichen Gerichten eingerichtet. Die Zuständigkeit für diese Streitigkeiten wird bei bestimmten Kreis- und Bezirksgerichten konzentriert. (3) Bis zum Aufbau einer besonderen Arbeitsgerichtsbarkeit werden Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus dem Arbeitsverhältnis von neutralen Schiedsstellen entschieden, die paritätisch mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie einem neutralen Vorsitzenden zu besetzen sind. Gegen ihre Entscheidung können die staatlichen Gerichte angerufen werden. (4) Die Deutsche Demokratische Republik läßt eine freie Schiedsgerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Privatrechts zu. Artikel 7 Schiedsgericht (1) Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung dieses Vertrags einschließlich des Gemeinsamen Protokolls und der Anlagen werden durch die Regierungen der beiden Vertragsparteien im Verhandlungswege beigelegt. (2) Kann eine Streitigkeit auf diese Weise nicht beigelegt werden, so kann jede Vertragspartei die Streitigkeit einem Schiedsgericht zur Entscheidung vorlegen. Die Vorlage ist unabhängig davon zulässig, ob in der Angelegenheit gemäß Artikel 6 ein staatliches Gericht zuständig ist. (3) Das Schiedsgericht setzt sich aus einem Präsidenten und vier Mitgliedern zusammen. Innerhalb einer Frist von einem Monat nach Inkrafttreten dieses Vertrags ernennt die Regierung einer jeden Vertragspartei zwei ordentliche und zwei stellvertretende Mitglieder. Innerhalb der gleichen Frist werden der Präsident und der Stellvertreter des Präsidenten im Einvernehmen zwischen den Regierungen der beiden Vertragsparteien ernannt. Werden die in Satz 2 und 3 genannten Fristen nicht eingehalten, so werden die erforderlichen Ernennungen vom Präsidenten des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vorgenommen. (4) Die Amtszeit beträgt zwei Jahre. (5) Der Präsident und die Mitglieder des Schiedsgerichts üben ihr Amt unabhängig und frei von Weisungen aus. Vor Beginn ihrer Tätigkeit übernehmen der Präsident und die Mitglieder des Schiedsgerichts die Verpflichtung, ihre Aufgabe unabhängig und gewissenhaft zu erfüllen und das Beratungsgeheimnis zu wahren. (6) Die Bestimmungen über die Einberufung und das Verfahren des Schiedsgerichts sind in der Anlage VIII geregelt.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen Artikel 8 Gemeinsamer Regierungsausschuß Die Vertragsparteien bilden einen Gemeinsamen Regierungsausschuß. Sie werden in diesem Ausschuß Fragen der Durchführung des Vertrags erörtern und - soweit erforderlich das notwendige Einvernehmen herstellen. Zu den Aufgaben des Ausschusses gehört auch die Beilegung von Streitigkeiten gemäß Artikel 7 Absatz 1. Artikel 9 Vertragsänderungen Erscheinen Änderungen oder Ergänzungen dieses Vertrags erforderlich, um eines seiner Ziele zu verwirklichen, so werden sie zwischen den Regierungen der Vertragsparteien vereinbart. Kapitel II Bestimmungen über die Währungsunion Artikel 10 Voraussetzungen und Grundsätze (1) Durch die Errichtung einer Währungsunion zwischen den Vertragsparteien ist die Deutsche Mark Zahlungsmittel, Rechnungseinheit und Wertaufbewahrungsmittel im gesamten Währungsgebiet. Zu diesem Zweck wird die geldpolitische Verantwortung der Deutschen Bundesbank als alleiniger Emissionsbank dieser Währung auf das gesamte Währungsgebiet ausgeweitet. Das Recht zur Ausgabe von Münzen obliegt ausschließlich der Bundesrepublik Deutschland. (2) Die Nutzung der Vorteile der Währungsunion setzt einen stabilen Geldwert für die Wirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik voraus, ebenso muß die Währungsstabilität in der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet bleiben. Die Vertragsparteien wählen deshalb Umstellungsmodalitäten, die keine Inflationsimpulse im Gesamtbereich der Währungsunion entstehen lassen und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der Deutschen Demokratischen Republik stärken. (3) Die Deutsche Bundesbank regelt durch den Einsatz ihrer Instrumente in eigener Verantwortung, gemäß § 12 Bundesbankgesetz unabhängig von Weisungen der Regierungen der Vertragsparteien, den Geldumlauf und die Kreditversorgung im gesamten Währungsgebiet mit dem Ziel, die Währung zu sichern. (4) Voraussetzung für die monetäre Steuerung ist, daß die Deutsche Demokratische Republik ein marktwirtschaftliches Kreditsystem aufbaut. Dazu gehört ein nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen operierendes Geschäftsbankensystem im Wettbewerb privater, genossenschaftlicher und öffentlich-rechtlicher Banken, ein freier Geld- und Kapitalmarkt und eine nicht reglementierte Zinsbildung an den Finanzmärkten. (5) Um die in den Absätzen 1 bis 4 bezeichneten Ziele zu erreichen, vereinbaren die Vertragsparteien nach näherer Maßgabe der in der Anlage I niedergelegten Bestimmungen folgende Grundsätze für die Währungsunion:

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10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion -

Mit Wirkung vom 1. Juli 1990 wird die Deutsche Mark als Währung in der Deutschen Demokratischen Republik eingeführt. Die von der Deutschen Bundesbank ausgegebenen, auf Deutsche Mark lautenden Banknoten und die von der Bundesrepublik Deutschland ausgegebenen, auf Deutsche Mark oder Pfennig lautenden Bundesmünzen sind vom 1. Juli 1990 an alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel.

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Löhne, Gehälter, Stipendien, Renten, Mieten und Pachten sowie weitere wiederkehrende Zahlungen werden im Verhältnis 1 zu 1 umgestellt.

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Alle anderen auf Mark der Deutschen Demokratischen Republik lautenden Forderungen und Verbindlichkeiten werden grundsätzlich im Verhältnis 2 zu 1 auf Deutsche Mark umgestellt.

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Die Umstellung von auf Mark der Deutschen Demokratischen Republik lautenden Banknoten und Münzen ist nur für Personen oder Stellen mit Wohnsitz oder Sitz in der Deutschen Demokratischen Republik über Konten bei Geldinstituten in der Deutschen Demokratischen Republik möglich, auf die die umzustellenden Bargeldbeträge eingezahlt werden können.

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Guthaben bei Geldinstituten von natürlichen Personen mit Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik werden auf Antrag bis zu bestimmten Betragsgrenzen im Verhältnis 1 zu 1 umgestellt, wobei eine Differenzierung nach dem Lebensalter des Berechtigten stattfindet.

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Sonderregelungen gelten für Guthaben von Personen, deren Wohnsitz oder Sitz sich außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik befindet.

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Mißbräuchen wird entgegengewirkt.

(6) Nach einer Bestandsaufnahme des volkseigenen Vermögens und seiner Ertragsfähigkeit sowie nach seiner vorrangigen Nutzung für die Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts wird die Deutsche Demokratische Republik nach Möglichkeit vorsehen, daß den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt für den bei der Umstellung 2 zu 1 reduzierten Betrag ein verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt werden kann. (7) Die Deutsche Bundesbank übt die ihr nach diesem Vertrag und nach dem Gesetz über die Deutsche Bundesbank zustehenden Befugnisse im gesamten Währungsgebiet aus. Sie errichtet zu diesem Zweck eine Vorläufige Verwaltungsstelle in Berlin mit bis zu fünfzehn Filialen in der Deutschen Demokratischen Republik, wozu die Betriebsstellen der Staatsbank der Deutschen Demokratischen Republik genutzt werden. Kapitel III Bestimmungen über die Wirtschaftsunion Artikel 11 Wirtschaftspolitische Grundlagen (1) Die Deutsche Demokratische Republik stellt sicher, daß ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen mit der Sozialen Marktwirtschaft in Einklang stehen. Die Maßnahmen werden so getroffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig 41

I. Völkerrechtliche Grundlagen zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und zu außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen. (2) Die Deutsche Demokratische Republik schafft die Rahmenbedingungen für die Entfaltung der Marktkräfte und der Privatinitiative, u m den Strukturwandel, die Schaffung moderner Arbeitsplätze, eine breite Basis aus kleinen und mittleren Unternehmen sowie freien Berufen und den Schutz der Umwelt zu fördern. Die Unternehmensverfassung wird so gestaltet, d a ß sie auf den in Artikel 1 beschriebenen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft mit der freien Entscheidung der Unternehmen über Produkte, Mengen, Produktionsverfahren, Investitionen, Arbeitsverhältnisse, Preise und Gewinnverwendung beruht. (3) Die Deutsche Demokratische Republik richtet ihre Politik unter Beachtung ihrer gewachsenen außenwirtschaftlichen Beziehungen mit den Ländern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe schrittweise auf das Recht und die wirtschaftspolitischen Ziele der Europäischen Gemeinschaften aus. (4) Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik wird bei Entscheidungen, welche die wirtschaftspolitischen Grundsätze der Absätze 1 und 2 berühren, das Einvernehmen mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Gemeinsamen Regierungsausschusses nach Artikel 8 herstellen. Artikel 12 Innerdeutscher Handel (1) Das zwischen den Vertragsparteien vereinbarte Berliner Abkommen vom 20. September 1951 wird im Hinblick auf die Währungs- und Wirtschaftsunion angepaßt. Der dort geregelte Verrechnungsverkehr wird beendet, und der Abschlußsaldo des Swing wird ausgeglichen. Bestehende Verpflichtungen werden in Deutscher Mark abgewickelt. (2) Die Vertragsparteien stellen sicher, daß Waren, die nicht Ursprungswaren der Bundesrepublik Deutschland oder der Deutschen Demokratischen Republik sind, über die innerdeutsche Grenze in einem zollamtlich überwachten Verfahren befördert werden. (3) Die Vertragsparteien sind bestrebt, so bald wie möglich die Voraussetzungen für einen vollständigen Wegfall der Kontrollen an der innerdeutschen Grenze zu schaffen. Artikel 13 Außenwirtschaft (1) Bei der Gestaltung des freien Außen Wirtschaftsverkehrs trägt die Deutsche Demokratische Republik den Grundsätzen eines freien Welthandels, wie sie insbesondere im Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) zum Ausdruck kommen, Rechnung. Die Bundesrepublik Deutschland wird zur weiteren Integration der Wirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik in die Weltwirtschaft ihre Erfahrungen umfassend zur Verfügung stellen. (2) Die gewachsenen außenwirtschaftlichen Beziehungen der Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere bestehende vertragliche Verpflichtungen gegenüber den Ländern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, genießen Vertrauensschutz. Sie werden unter Berücksichtigung der Gegebenheiten der Währungs- und Wirtschaftsunion und der Interessen aller Beteiligten fortentwickelt sowie unter Beachtung marktwirtschaftlicher Grundsätze aus-

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10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gebaut. Soweit erforderlich, werden bestehende vertragliche Verpflichtungen von der Deutschen Demokratischen Republik im Einvernehmen mit ihren Vertragspartnern an diese Gegebenheiten angepaßt. (3) Zur Vertretung der außenwirtschaftlichen Interessen arbeiten die Vertragsparteien unter Beachtung der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften eng zusammen. Artikel 14 Strukturanpassung der Unternehmen Um die notwendige Strukturanpassung der Unternehmen in der Deutschen Demokratischen Republik zu fördern, wird die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik im Rahmen der haushaltspolitischen Möglichkeiten während einer Übergangszeit Maßnahmen ergreifen, die eine rasche strukturelle Anpassung der Unternehmen an die neuen Marktbedingungen erleichtern. Über die konkrete Ausgestaltung der Maßnahmen verständigen sich die Regierungen der Vertragsparteien. Ziel ist es, auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft die Leistungsfähigkeit der Unternehmen zu stärken und durch die Entfaltung privater Initiative eine breit gefächerte, moderne Wirtschaftsstruktur auch mit möglichst vielen kleinen und mittleren Betrieben in der Deutschen Demokratischen Republik zu erreichen, um so die Grundlage für mehr Wachstum und zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Artikel 15 Agrar- und Ernährungswirtschaft (1) Wegen der zentralen Bedeutung der Regelungen der Europäischen Gemeinschaften für die Agrar- und Ernährungswirtschaft führt die Deutsche Demokratische Republik ein Preisstutzungs- und Außenschutzsystem entsprechend dem EG-Marktordnungssystem ein, so daß sich die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise in der Deutschen Demokratischen Republik denen in der Bundesrepublik Deutschland angleichen. Die Deutsche Demokratische Republik wird keine Abschöpfungen und Erstattungen gegenüber den Europäischen Gemeinschaften einführen, soweit diese entsprechend verfahren.

Artikel 16 Umweltschutz (1) Der Schutz von Menschen, Tieren und Pflanzen, Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft sowie von Kultur- und sonstigen Sachgütern vor schädlichen Umwelteinwirkungen ist besonderes Anliegen beider Vertragsparteien. Sie lassen sich dabei von dem Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzip leiten. Sie streben die schnelle Verwirklichung einer deutschen Umweltunion an. (2) Die Deutsche Demokratische Republik trifft Regelungen, die mit Inkrafttreten dieses Vertrags sicherstellen, daß auf ihrem Gebiet für neue Anlagen und Einrichtungen die in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Sicherheits- und Umweltschutzanforderungen Voraussetzung für die Erteilung umweltrechtlicher Genehmigungen sind. Für bestehende Anlagen und Einrichtungen trifft die Deutsche Demokratische Republik Regelungen, die möglichst schnell zu entsprechenden Anforderungen führen.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen (3) Die Deutsche Demokratische Republik wird parallel zur Entwicklung des föderativen Staatsaufbaus auf Länderebene und mit dem Entstehen einer Verwaltungsgerichtsbarkeit das Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland übernehmen. (4) Bei der weiteren Gestaltung eines gemeinsamen Umweltrechts werden die Umweltanforderungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik so schnell wie möglich auf hohem Niveau angeglichen und weiterentwickelt. (5) Die Deutsche Demokratische Republik harmonisiert die Bestimmungen zur staatlichen Förderung von Umweltschutzmaßnahmen mit denen der Bundesrepublik Deutschland. Kapitel IV Bestimmungen über die Sozialunion Artikel 17 Grundsätze der Arbeitsrechtsordnung In der Deutschen Demokratischen Republik gelten Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und Kündigungsschutz entsprechend dem Recht der Bundesrepublik Deutschland; näheres ergibt sich aus dem Gemeinsamen Protokoll über die Leitsätze und den Anlagen II und III. Artikel 18 Grundsätze der Sozialversicherung (1) Die Deutsche Demokratische Republik führt ein gegliedertes System der Sozialversicherung ein, für das folgende Grundsätze gelten: 1. Die Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung werden jeweils durch Selbstverwaltungskörperschaften des öffentlichen Rechts unter der Rechtsaufsicht des Staates durchgeführt. 2. Die Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung einschließlich der Arbeitsförderung werden vor allem durch Beiträge finanziert. Die Beiträge zur Renten-, Kranken· und Arbeitslosenversicherung werden grundsätzlich je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern entsprechend den Beitragssätzen in der Bundesrepublik Deutschland und zur Unfallversicherung von den Arbeitgebern getragen. 3. Lohnersatzleistungen orientieren sich an der Höhe der versicherten Entgelte. (2) Zunächst werden die Aufgaben der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung von einem gemeinsamen Träger durchgeführt; die Einnahmen und Ausgaben werden getrennt nach den Versicherungsarten erfaßt und abgerechnet. Möglichst bis zum 1. Januar 1991 werden für die Renten-, Kranken- und Unfallversicherung eigenständige Träger gebildet. Ziel dabei ist eine Organisationsstruktur der Sozialversicherung, die der in der Bundesrepublik Deutschland entspricht.

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10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Artikel 19 Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung Die Deutsche Demokratische Republik führt ein System der Arbeitslosenversicherung einschließlich Arbeitsförderung ein, das den Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Dabei haben Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wie berufliche Bildung und Umschulung, besondere Bedeutung. Belange der Frauen und Behinderten werden berücksichtigt. In der Übergangsphase wird Besonderheiten in der Deutschen Demokratischen Republik Rechnung getragen. Die Regierungen beider Vertragsparteien werden beim Aufbau der Arbeitslosenversicherung einschließlich Arbeitsförderung eng zusammenarbeiten. Artikel 20 Rentenversicherung (1) Die Deutsche Demokratische Republik leitet alle erforderlichen Maßnahmen ein, um ihr Rentenrecht an das auf dem Grundsatz der Lohn- und Beitragsbezogenheit beruhende Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland anzugleichen. Dabei wird in einer Übergangszeit von fünf Jahren für die rentennahen Jahrgänge dem Grundsatz des Vertrauensschutzes Rechnung getragen. (2) Die Rentenversicherung verwendet die ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausschließlich zur Erfüllung der ihr obliegenden Aufgaben bei Rehabilitation, Invalidität, Alter und Tod. Die bestehenden Zusatz- und Sonderversorgungssysteme werden grundsätzlich zum 1. Juli 1990 geschlossen. Bisher erworbene Ansprüche und Anwartschaften werden in die Rentenversicherung überführt, wobei Leistungen aufgrund von Sonderregelungen mit dem Ziel überprüft werden, ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen. Die der Rentenversicherung durch die Überführung entstehenden Mehraufwendungen werden ihr aus dem Staatshaushalt erstattet.

Artikel 21 Krankenversicherung (1) Die Deutsche Demokratische Republik leitet alle erforderlichen Maßnahmen ein, um ihr Krankenversicherungsrecht an das der Bundesrepublik Deutschland anzugleichen. (2) Leistungen, die bisher nach den Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik aus der Krankenversicherung finanziert worden sind, die aber nach den Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland nicht Leistungen der Krankenversicherung sind, werden vorerst aus dem Staatshaushalt der Deutschen Demokratischen Republik finanziert. (3) Die Deutsche Demokratische Republik führt eine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ein, die den gesetzlichen Regelungen der Entgeltfortzahlung der Bundesrepublik Deutschland entspricht. (4) Die Rentner sind in der Krankenversicherung versichert. Maßgebend ist der jeweilige Beitragssatz in der Krankenversicherung. Die Krankenversicherungsbeiträge der Rentner werden von der Rentenversicherung an die Krankenversicherung pauschal abgeführt. Die Höhe des pauschal abzuführenden Betrages bestimmt sich nach dem Gesamtbetrag der Ren45

I. Völkerrechtliche Grundlagen ten vor Abzug des auf die Rentner entfallenden Anteils am Krankenversicherungsbeitrag. Das bei der Umstellung der Renten vorgesehene Nettorentenniveau bleibt davon unberührt. (5) Die Investitionen bei stationären und ambulanten Einrichtungen des Gesundheitswesens der Deutschen Demokratischen Republik werden aus Mitteln des Staatshaushalts und nicht aus Beitragsmitteln finanziert. Artikel 22 Gesundheitswesen (1) Die medizinische Betreuung und der Schutz der Gesundheit der Menschen sind besonderes Anliegen der Vertragsparteien. (2) Neben der vorläufigen Fortführung der derzeitigen Versorgungsstrukturen, die zur Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung notwendig ist, wird die Deutsche Demokratische Republik schrittweise eine Veränderung in Richtung des Versorgungsangebots der Bundesrepublik Deutschland mit privaten Leistungserbringern vornehmen, insbesondere durch Zulassung niedergelassener Ärzte, Zahnärzte und Apotheker sowie selbständig tätiger Erbringer von Heil- und Hilfsmitteln und durch Zulassung privater und frei-gemeinnütziger Krankenhausträger. (3) Zum Aufbau der erforderlichen vertraglichen, insbesondere vergütungsrechtlichen Beziehungen zwischen Trägern der Krankenversicherung und den Leistungserbringern wird die Deutsche Demokratische Republik die erforderlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen. Artikel 23 Renten der Unfallversicherung (1) Die Deutsche Demokratische Republik leitet alle erforderlichen Maßnahmen ein, um ihr Unfallversicherungsrecht an das der Bundesrepublik Deutschland anzugleichen.

Artikel 24 Sozialhilfe Die Deutsche Demokratische Republik führt ein System der Sozialhilfe ein, das dem Sozialhilfegesetz der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Artikel 25 Anschubflnanzierung Soweit in einer Übergangszeit in der Arbeitslosenversicherung der Deutschen Demokratischen Republik die Beiträge und in der Rentenversicherung der Deutschen Demokratischen Republik die Beiträge und der Staatszuschuß die Ausgaben für die Leistungen nicht voll abdecken, leistet die Bundesrepublik Deutschland an die Deutsche Demokratische Republik eine vorübergehende Anschubflnanzierung im Rahmen der nach Artikel 28 zugesagten Haushaltshilfe.

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10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Kapitel V Bestimmungen über den Staatshaushalt und die Finanzen 1. Abschnitt Staatshaushalt Artikel 26 Grundsätze für die Finanzpolitik der Deutschen Demokratischen Republik (1) Die öffentlichen Haushalte in der Deutschen Demokratischen Republik werden von der jeweiligen Gebietskörperschaft grundsätzlich in eigener Verantwortung unter Beachtung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aufgestellt. Ziel ist eine in die marktwirtschaftliche Ordnung eingepaßte Haushaltswirtschaft. Die Haushalte werden in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen. Alle Einnahmen und Ausgaben werden in den jeweiligen Haushaltsplan eingestellt. (2) Die Haushalte werden den Haushaltsstrukturen der Bundesrepublik Deutschland angepaßt. Hierzu werden, beginnend ab der Errichtung der Währungsunion mit dem Teilhaushalt 1990, aus dem Staatshaushalt insbesondere die folgenden Bereiche ausgegliedert: -

der Sozialbereich, soweit er in der Bundesrepublik Deutschland ganz oder überwiegend beitrags- oder umlagenfinanziert ist,

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die Wirtschaftsunternehmen durch Umwandlung in rechtlich und wirtschaftlich selbständige Unternehmen,

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die Verkehrsbetriebe unter rechtlicher Verselbständigung,

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die Führung der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post als Sondervermögen.

Die öffentlichen Wohnungsbaukredite werden substanzgerecht den Einzelobjekten zugeordnet. (3) Die Gebietskörperschaften in der Deutschen Demokratischen Republik unternehmen bei Aufstellung und Vollzug der Haushalte alle Anstrengungen zur Defizitbegrenzung. Dazu gehören bei den Ausgaben: -

der Abbau von Haushaltssubventionen, insbesondere kurzfristig für Industriewaren, landwirtschaftliche Produkte und Nahrungsmittel, wobei für letztere autonome Preisstützungen entsprechend den Regelungen der Europäischen Gemeinschaften zulässig sind, und schrittweise unter Berücksichtigung der allgemeinen Einkommensentwicklung in den Bereichen des Verkehrs, der Energien für private Haushalte und des Wohnungswesens,

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die nachhaltige Absenkung der Personalausgaben im öffentlichen Dienst,

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die Überprüfung aller Ausgaben einschließlich der ihnen zugrundeliegenden Rechtsvorschriften auf Notwendigkeit und Finanzierbarkeit,

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die Strukturverbesserung des Bildungswesens sowie vorbereitende Aufteilung nach föderativer Struktur (einschließlich Forschungsbereich).

Bei den Einnahmen erfordert die Defizitbegrenzung neben Maßnahmen des 2. Abschnitts dieses Kapitels die Anpassung beziehungsweise Einführung von Beiträgen und Gebühren für öffentliche Leistungen entsprechend den Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen (4) Es wird eine Bestandsaufnahme des volkseigenen Vermögens vorgenommen. Das volkseigene Vermögen ist vorrangig für die Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts in der Deutschen Demokratischen Republik zu nutzen. Artikel 27 Kreditaufnahme und Schulden (1) Die Kreditermächtigungen in den Haushalten der Gebietskörperschaften der Deutschen Demokratischen Republik werden für 1990 auf 10 Milliarden Deutsche Mark und für 1991 auf 14 Milliarden Deutsche Mark begrenzt und im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland auf die Ebenen verteilt. Für das Treuhandvermögen wird zur Vorfinanzierung zu erwartender Erlöse aus seiner Verwertung ein Kreditermächtigungsrahmen für 1990 von 7 Milliarden Deutsche Mark und für 1991 von 10 Milliarden Deutsche Mark festgelegt. Der Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland kann bei grundlegend veränderten Bedingungen eine Überschreitung der Kreditobergrenzen zulassen. (2) Die Aufnahme von Krediten und das Einräumen von Ausgleichsforderungen erfolgen im Einvernehmen zwischen dem Minister der Finanzen der Deutschen Demokratischen Republik und dem Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Gleiches gilt für die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen sowie für die Summe der in den Haushalten auszubringenden Verpflichtungsermächtigungen. (3) Nach dem Beitritt wird die aufgelaufene Verschuldung des Republikhaushalts in dem Umfang an das Treuhandvermögen übertragen, soweit sie durch die zu erwartenden künftigen Erlöse aus der Verwertung des Treuhandvermögens getilgt werden kann. Die danach verbleibende Verschuldung wird j e zur Hälfte auf den Bund und die Länder, die sich auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik neu gebildet haben, aufgeteilt. Von den Ländern und Gemeinden aufgenommene Kredite verbleiben bei diesen. Artikel 28 Finanzzuweisungen der Bundesrepublik Deutschland (1) Die Bundesrepublik Deutschland gewährt der Deutschen Demokratischen Republik zweckgebundene Finanzzuweisungen zum Haushaltsausgleich für das 2. Halbjahr 1990 von 22 Milliarden Deutsche Mark und für 1991 von 35 Milliarden Deutsche Mark. Außerdem werden gemäß Artikel 25 zu Lasten des Bundeshaushalts als Anschubfinanzierung für die Rentenversicherung 750 Millionen Deutsche Mark für das 2. Halbjahr 1990 sowie für die Arbeitslosenversicherung 2 Milliarden Deutsche Mark für das 2. Halbjahr 1990 und 3 Milliarden Deutsche Mark für 1991 gezahlt. Die Zahlungen erfolgen bedarfsgerecht. (2) Die Vertragsparteien stimmen darin überein, daß die gemäß Artikel 18 des Abkommens vom 17. Dezember 1971 über den Transitverkehr von zivilen Personen und Gütern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) zu zahlende Transitpauschale mit Inkrafttreten dieses Vertrags entfällt. Die Deutsche Demokratische Republik hebt die Vorschriften über die in diesem Abkommen sowie in dem Abkommen vom 31. Oktober 1979 über die Befreiung von Straßenfahrzeugen von Steuern und Gebühren geregelten Gebühren mit Wirkung für die beiden Vertragsparteien auf. In Abänderung der Vereinbarung vom 5. Dezember 1989 vereinbaren die Vertragsparteien, daß ab dem 1. Juli 1990 keine Einzah-

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10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion lungen in den Reise-Devisenfonds mehr geleistet werden. Über die Verwendung eines bei Einführung der Währungsunion noch vorhandenen Betrags der Gegenwertmittel aus dem Reise-Devisenfonds wird zwischen den Finanzministern der Vertragsparteien eine ergänzende Vereinbarung getroffen. Artikel 29 Übergangsregelung im öffentlichen Dienst Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik gewährleistet unter Beachtung von Artikel 2 Absatz 1 Satz 1, daß in Tarifverträgen oder sonstigen Regelungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung unter Beschränkung neuer dienstrechtlicher Vorschriften auf Übergangsregelungen die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik und die Erfordernisse der Konsolidierung des Haushalts beachtet werden. Das Bundespersonalvertretungsgesetz findet sinngemäß Anwendung. 2. Abschnitt Finanzen Artikel 30

Zölle und besondere Verbrauchsteuern

Artikel 31

Besitz- und Verkehrsteuern

Artikel 32

Informationsaustausch

Artikel 33

Konsultationsverfahren

Artikel 34

Aufbau der Finanzverwaltung

Kapitel VI SchluDbestimmungen

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I. Völkerrechtliche Grundlagen Artikel 35 Völkerrechtliche Verträge Dieser Vertrag berührt nicht die von der Bundesrepublik Deutschland oder der Deutschen Demokratischen Republik mit dritten Staaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge. Artikel 36 Überprüfung des Vertrags Die Bestimmungen dieses Vertrags werden bei grundlegender Änderung der gegebenen Umstände überprüft. Artikel 37 Berlin-Klausel Entsprechend dem Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 wird dieser Vertrag in Übereinstimmung mit den festgelegten Verfahren auf Berlin (West) ausgedehnt. Artikel 38 Inkrafttreten Dieser Vertrag einschließlich des Gemeinsamen Protokolls sowie der Anlagen I - I X tritt an dem Tag in Kraft, an dem die Regierungen der Vertragsparteien einander mitgeteilt haben, daß die erforderlichen verfassungsrechtlichen und sonstigen innerstaatlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten erfüllt sind. Geschehen in Bonn am 18. Mai 1990 in zwei Urschriften in deutscher Sprache. Für die Bundesrepublik Deutschland Theodor Waigel

Für die Deutsche Demokratische Republik Walter Romberg

Gemeinsames Protokoll über Leitsätze In Ergänzung des Vertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion haben die Hohen Vertragschließenden Seiten folgende Leitsätze vereinbart, die gemäß Artikel 4 Absatz 1 Satz 1 des Vertrags verbindlich sind: A. Generelle Leitsätze I. Allgemeines 1. Das Recht der Deutschen Demokratischen Republik wird nach den Grundsätzen einer freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung gestaltet und sich an der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft orientieren. 2. Vorschriften, die den Einzelnen oder Organe der staatlichen Gewalt einschließlich Gesetzgebung und Rechtsprechung auf die sozialistische Gesetzlichkeit, die sozialistische Staats50

10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und Gesellschaftsordnung, die Vorgaben und Ziele zentraler Leitung und Planung der Volkswirtschaft, das sozialistische Rechtsbewußtsein, die sozialistischen Anschauungen, die Anschauungen einzelner Bevölkerungsgruppen oder Parteien, die sozialistische Moral oder vergleichbare Begriffe verpflichten, werden nicht mehr angewendet. Die Rechte und Pflichten der am Rechtsverkehr Beteiligten finden ihre Schranken in den guten Sitten, dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Schutz des wirtschaftlich schwächeren Vertragsteils vor unangemessener Benachteiligung. 3. Genehmigungsvorbehalte sollen nur aus zwingenden Gründen des allgemeinen Wohls bestehen. Ihre Voraussetzungen sind eindeutig zu bestimmen. II. Wirtschaftsunion 1. Wirtschaftliche Leistungen sollen vorrangig privatwirtschaftlich und im Wettbewerb erbracht werden. 2. Die Vertragsfreiheit wird gewährleistet. In die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung darf nur so wenig wie möglich eingegriffen werden. 3. Unternehmerische Entscheidungen sind frei von Planvorgaben (z.B. im Hinblick auf Produktion, Bezüge, Lieferungen, Investitionen, Arbeitsverhältnisse, Preise und Gewinnverwendung). 4. Private Unternehmen und freie Berufe dürfen nicht schlechter behandelt werden als staatliche und genossenschaftliche Betriebe. 5. Die Preisbildung ist frei, sofern nicht aus zwingenden gesamtwirtschaftlichen Gründen Preise staatlich festgesetzt werden. 6. Die Freiheit des Erwerbs, der Verfügung und der Nutzung von Grund und Boden und sonstiger Produktionsmittel wird für wirtschaftliche Tätigkeit gewährleistet. 7. Unternehmen im unmittelbaren oder mittelbaren Staatseigentum werden nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit geführt. Sie sind so rasch wie möglich wettbewerblich zu strukturieren und soweit wie möglich in Privateigentum zu überführen. Dabei sollen insbesondere kleineren und mittleren Unternehmen Chancen eröffnet werden. 8. Für das Post- und Fernmeldewesen werden die ordnungspolitischen und organisatorischen Grundsätze des Poststrukturgesetzes der Bundesrepublik Deutschland schrittweise verwirklicht. III. Sozialunion 1. Jedermann hat das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, bestehenden Vereinigungen beizutreten, aus solchen Vereinigungen auszutreten und ihnen fernzubleiben. Ferner wird das Recht gewährleistet, sich in den Koalitionen zu betätigen. Alle Abreden, die diese Rechte einschränken, sind unwirksam. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind in ihrer Bildung, ihrer Existenz, ihrer organisatorischen Autonomie und ihrer koalitionsgemäßen Betätigung geschützt. 2. Tariffahige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen frei gebildet, gegnerfrei, auf überbetrieblicher Grundlage organisiert und unabhängig sein sowie das geltende Ta-

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I. Völkerrechtliche Grundlagen rifrecht als für sich verbindlich anerkennen; ferner müssen sie in der Lage sein, durch Ausüben von Druck auf den Tarifpartner zu einem Tarifabschluß zu kommen. 3. Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen werden nicht vom Staat, sondern durch freie Vereinbarungen von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Arbeitgebern festgelegt. 4. Rechtsvorschriften, die besondere Mitwirkungsrechte des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, von Betriebsgewerkschaftsorganisationen und betrieblichen Gewerkschaftsleitungen vorsehen, werden nicht mehr angewendet. B. Leitsätze für einzelne Rechtsgebiete I. Rechtspflege 1. Vorschriften werden nicht mehr angewendet, soweit sie die Mitwirkung von Kollektiven, gesellschaftlichen Organen, der Gewerkschaften, der Betriebe, von gesellschaftlichen Anklägern und gesellschaftlichen Verteidigern an der Rechtspflege und deren Unterrichtung über Verfahren regeln; das Recht der Gewerkschaften zur Beratung und Prozeßvertretung in Arbeitsstreitigkeiten bleibt unberührt. 2. Vorschriften werden nicht mehr angewendet, soweit sie die Zusammenarbeit der Gerichte mit den örtlichen Volksvertretungen und anderen Organen, die Berichtspflicht der Richter diesen gegenüber sowie die Gerichtskritik regeln. 3. Die Vorschriften über die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft an der Rechtspflege werden nur noch angewendet, soweit sie ihre Mitwirkung im Strafverfahren und in Familienrechts-, Kindschafts- und Entmündigungssachen betreffen. 4. Die im Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik auf die sozialistische Gesetzlichkeit sowie auf die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung bezogenen Grundsätze sowie Vorschriften, die der Verfestigung planwirtschaftlicher Strukturen dienen, einer künftigen Vereinigung beider deutscher Staaten entgegenstehen oder Grundsätzen eines freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats widersprechen, finden auf nach Inkrafttreten dieses Vertrags begangene Taten keine Anwendung. 5. Soweit Vorschriften des Strafgesetzbuchs das sozialistische Eigentum betreffen, finden sie auf Taten, die nach Inkrafttreten dieses Vertrags begangen werden, keine Anwendung; die das persönliche oder private Eigentum betreffenden Vorschriften finden nach dem Inkrafttreten dieses Vertrags auch Anwendung auf das sonstige Eigentum oder Vermögen. 6. Soweit die in der Anlage II des Vertrags genannten Regelungen straf- oder bußgeldbewehrt sind und sich diese Bewehrungsvorschriften nicht in das Sanktionensystem der Deutschen Demokratischen Republik einfügen, wird die Deutsche Demokratische Republik diese Vorschriften ihrem Recht in möglichst weitgehender Angleichung an das Recht der Bundesrepublik Deutschland anpassen. II. Wirtschaftsrecht 1. Zum Zwecke der Besicherung der Kredite werden in der Deutschen Demokratischen Republik gleichwertige Rechte, insbesondere Grundpfandrechte, wie in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen. 52

10. Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 2. In der Deutschen Demokratischen Republik werden die Voraussetzungen für einen freien Kapitalmarkt geschaffen. Hierzu gehört insbesondere die Freigabe der Zinssätze und die Zulassung von handelbaren Wertpapieren (Aktien und Schuldverschreibungen). 3. Es werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, d a ß Verwaltungsakte und sonstige Anordnungen der in Artikel 3 Satz 3 des Vertrags genannten Behörden gegenüber Personen mit Sitz oder Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik, notfalls auch mit Zwangsmitteln, durchgesetzt werden können. 4. Das bestehende Versicherungsmonopol in der Deutschen Demokratischen Republik wird abgeschafft, die Prämienkontrolle in den Versicherungszweigen, in denen die Tarife nicht zum Geschäftsplan gehören, wird beseitigt und die geltenden Rechtsvorschriften und Anordnungen über die Allgemeinen Bedingungen für Versicherungen werden aufgehoben. 5. Bestehende Hemmnisse im Zahlungsverkehr der Deutschen Demokratischen Republik werden beseitigt; seine privatrechtliche Ausgestaltung wird gefördert. 6. Der Außenwirtschaftsverkehr ist grundsätzlich frei. Beschränkungen sind nur aus zwingenden gesamtwirtschaftlichen Gründen sowie aufgrund von zwischenstaatlichen Vereinbarungen zulässig. Die Deutsche Demokratische Republik wird das Außenhandelsmonopol aufheben. 7. Zum Zwecke der Gewinnung vergleichbarer Grundlagen wird die Deutsche Demokratische Republik ihre Statistiken an die der Bundesrepublik Deutschland anpassen und in Abstimmung mit dem Statistischen Bundesamt oder der Deutschen Bundesbank Informationen nach den Maßstäben der Bundesstatistik aus folgenden Bereichen bereitstellen: Arbeitsmarkt, Preise, Produktion, Umsätze, Außenwirtschaft und Einzelhandel. III. Baurecht Die Deutsche Demokratische Republik wird zur Planungs- und Investitionssicherheit für bauliche Vorhaben baldmöglichst Rechtsgrundlagen schaffen, die dem Baugesetzbuch und dem Raumordnungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland entsprechen. IV. Arbeits- und Sozialrecht 1. Arbeitgeber in der Deutschen Demokratischen Republik können mit Arbeitnehmern aus der Bundesrepublik Deutschland, die vorübergehend in der Deutschen Demokratischen Republik beschäftigt werden, die Anwendung bundesdeutschen Arbeitsrechts vereinbaren. 2. Bei vorübergehenden Beschäftigungen von Arbeitskräften werden Befreiungen von der sich aus einer Beschäftigung ergebenden Versicherungspflicht in der Sozialversicherung ermöglicht, wenn eine Versicherung unabhängig von dieser Beschäftigung besteht. 3. Die Vorschriften der Deutschen Demokratischen Republik über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer werden innerhalb einer angemessenen Übergangszeit an das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Arbeitsschutzrecht angepaßt. 4. Die Deutsche Demokratische Republik wird bei einer Änderung der gesetzlichen Mindestkündigungsfristen für Arbeitsverhältnisse die in der Bundesrepublik Deutschland für Arbeiter und Angestellte jeweils geltenden gesetzlichen Mindestkündigungsfristen nicht überschreiten.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen

5. Die Deutsche Demokratische Republik wird für das Recht zur fristlosen Kündigung von Arbeitsverhältnissen aus wichtigem Grund eine gesetzliche Regelung schaffen, die den §§ 626, 628 des Bürgerlichen Gesetzbuches entspricht. Anlagenverzeichnis Anlage I:

Bestimmungen über die Währungsunion und über die Währungsumstellung

Anlage II:

Von der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft zu setzende Rechtsvorschriften

Anlage III:

Von der Deutschen Demokratischen Republik aufzuhebende oder zu ändernde Rechtsvorschriften

Anlage IV:

Von der Deutschen Demokratischen Republik neu zu erlassende Rechtsvorschriften

Anlage V:

Von der Bundesrepublik Deutschland zu ändernde Rechtsvorschriften

Anlage VI:

Regelungen, die in der Deutschen Demokratischen Republik im weiteren Verlauf anzustreben sind

Anlage VII: Grundsätze für die Übermittlung personenbezogener Informationen zur Durchführung des Vertrags Anlage VIII: Allgemeine Verfahrensvorschriften für das Schiedsgericht Anlage IX:

Möglichkeiten des Eigentumserwerbs privater Investoren an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln zur Förderung gewerblicher arbeitsplatzschaffender Investitionen

(Die Anlagen sind hier nicht abgedruckt.) Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 518.

1/11 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (Einigungsvertrag) Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik entschlossen, die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit als gleichberechtigtes Glied der Völkergemeinschaft in freier Selbstbestimmung zu vollenden, ausgehend von dem Wunsch der Menschen in beiden Teilen Deutschlands, gemeinsam in Frieden und Freiheit in einem rechtsstaatlich geordneten, demokratischen und sozialen Bundesstaat zu leben, in dankbarem Respekt vor denen, die auf friedliche Weise der Freiheit zum Durchbruch verholfen haben, die an der Aufgabe der Herstellung der Einheit Deutschlands unbeirrt festgehalten haben und sie vollenden, 54

11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte und eingedenk der sich aus unserer Vergangenheit ergebenden besonderen Verantwortung für eine demokratische Entwicklung in Deutschland, die der Achtung der Menschenrechte und dem Frieden verpflichtet bleibt, in dem Bestreben, durch die deutsche Einheit einen Beitrag zur Einigung Europas und zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben gewährleistet, in dem Bewußtsein, daß die Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität und Souveränität aller Staaten in Europa in ihren Grenzen eine grundlegende Bedingung für den Frieden ist sind übereingekommen, einen Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands mit den nachfolgenden Bestimmungen zu schließen: Kapitel I. Wirkung des Beitritts Art. 1 Länder. (1) Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 werden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland. Für die Bildung und die Grenzen dieser Länder untereinander sind die Bestimmungen des Verfassungsgesetzes zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik vom 22. Juli 1990 - Ländereinführungsgesetz - (GBl. I Nr. 51 S. 955) gemäß Anlage II maßgebend. (2) Die 23 Bezirke von Berlin bilden das Land Berlin. Art. 2 Hauptstadt, Tag der Deutschen Einheit. (1) Hauptstadt Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden. (2) Der 3. Oktober ist als Tag der Deutschen Einheit gesetzlicher Feiertag. Kapitel II. Grundgesetz Art. 3 Inkrafttreten des Grundgesetzes. Mit dem Wirksamwerden des Beitritts tritt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Dezember 1983 (BGBl. I S. 1481), in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie in dem Teil des Landes Berlin, in dem es bisher nicht galt, mit den sich aus Artikel 4 ergebenden Änderungen in Kraft, soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist. Art. 4 Beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wird wie folgt geändert. 1. Die Präambel wird wie folgt gefaßt: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frie55

1. Völkerrechtliche Grundlagen den der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk." 2. Artikel 23 wird aufgehoben. 3. Artikel 51 Abs. 2 des Grundgesetzes wird wie folgt gefaßt: „(2) Jedes Land hat mindestens drei Stimmen. Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern fünf, Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern sechs Stimmen." 4. Der bisherige Wortlaut des Artikels 135a wird Absatz 1. Nach Absatz 1 wird folgender Absatz angefügt: „(2) Absatz 1 findet entsprechende Anwendung auf Verbindlichkeiten der Deutschen Demokratischen Republik oder ihrer Rechtsträger sowie auf Verbindlichkeiten des Bundes oder anderer Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, die mit dem Übergang von Vermögenswerten der Deutschen Demokratischen Republik auf Bund, Länder und Gemeinden im Zusammenhang stehen, und auf Verbindlichkeiten, die auf Maßnahmen der Deutschen Demokratischen Republik oder ihrer Rechtsträger beruhen." 5. In das Grundgesetz wird folgender neuer Artikel 143 eingefügt: „Artikel 143 (1) Recht in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet kann längstens bis zum 31. Dezember 1992 von Bestimmungen dieses Grundgesetzes abweichen, soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann. Abweichungen dürfen nicht gegen Artikel 19 Abs. 2 verstoßen und müssen mit den in Artikel 79 Abs. 3 genannten Grundsätzen vereinbar sein. (2) Abweichungen von den Abschnitten II, Vili, Vili a, IX, X und XI sind längstens bis zum 31. Dezember 1995 zulässig. (3) Unabhängig von Absatz 1 und 2 haben Artikel 41 des Einigungsvertrags und Regelungen zu seiner Durchführung auch insoweit Bestand, als sie vorsehen, daß Eingriffe in das Eigentum auf dem in Artikel 3 dieses Vertrags genannten Gebiet nicht mehr rückgängig gemacht werden." 6. Artikel 146 wird wie folgt gefaßt: „Artikel 146 Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Art. 5 Künftige Verfassungsänderungen. Die Regierungen der beiden Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des Vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere

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11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 -

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in bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entsprechend dem Gemeinsamen Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990, in bezug auf die Möglichkeit einer Neugliederung für den Raum Berlin/Brandenburg abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 des Grundgesetzes durch Vereinbarung der beteiligten Länder, mit den Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung.

Art. 6 Ausnahmebestimmung. Artikel 131 des Grundgesetzes wird in dem in Artikel 3 genannten Gebiet vorerst nicht in Kraft gesetzt. Art. 7 Finanzverfassung. (1) Die Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland wird auf das in Artikel 3 genannte Gebiet erstreckt, soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist. (2) Für die Verteilung des Steueraufkommens auf den Bund sowie auf die Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) in dem in Artikel 3 genannten Gebiet gelten die Bestimmungen des Artikels 106 des Grundgesetzes mit der Maßgabe, daß 1. bis zum 31. Dezember 1994 Absatz 3 Satz 4 und Absatz 4 keine Anwendung finden; 2. bis zum 31. Dezember 1996 der Anteil der Gemeinden an dem Aufkommen der Einkommensteuer nach Artikel 106 Abs. 5 des Grundgesetzes von den Ländern an die Gemeinden nicht auf der Grundlage der Einkommensteuerleistung ihrer Einwohner, sondern nach der Einwohnerzahl der Gemeinden weitergeleitet wird; 3. bis zum 31. Dezember 1994 abweichend von Artikel 106 Abs. 7 des Grundgesetzes den Gemeinden (Gemeindeverbänden) von dem Länderanteil am Gesamtaufkommen der Gemeinschaftssteuern und dem gesamten Aufkommen der Landessteuern ein jährlicher Anteil von mindestens 20 vom Hundert sowie vom Länderanteil aus den Mitteln des Fonds „Deutsche Einheit" nach Absatz 5 Nr. 1 ein jährlicher Anteil von 40 vom Hundert zufließt. (3) Artikel 107 des Grundgesetzes gilt in dem in Artikel 3 genannten Gebiet mit der Maßgabe, daß bis zum 31. Dezember 1994 zwischen den bisherigen Ländern der Bundesrepublik Deutschland und den Ländern in dem in Artikel 3 genannten Gebiet die Regelung des Absatzes 1 Satz 4 nicht angewendet wird und ein gesamtdeutscher Länderfinanzausgleich (Artikel 107 Abs. 2 des Grundgesetzes) nicht stattfindet. Der gesamtdeutsche Länderanteil an der Umsatzsteuer wird so in einen Ost- und Westanteil aufgeteilt, daß im Ergebnis der durchschnittliche Umsatzsteueranteil pro Einwohner in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in den Jahren 1991 55 vom Hundert 1992 60 vom Hundert 1993 65 vom Hundert 1994 70 vom Hundert des durchschnittlichen Umsatzsteueranteils pro Einwohner in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland57

I. Völkerrechtliche Grundlagen Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein beträgt. Der Anteil des Landes Berlin wird vorab nach der Einwohnerzahl berechnet. Die Regelungen dieses Absatzes werden für 1993 in Ansehung der dann vorhandenen Gegebenheiten überprüft. (4) Das in Artikel 3 genannte Gebiet wird in die Regelungen der Artikel 91a, 91b und 104 a Abs. 3 und 4 des Grundgesetzes einschließlich der hierzu ergangenen Ausführungsbestimmungen nach Maßgabe dieses Vertrags mit Wirkung vom 1. Januar 1991 einbezogen. (5) Nach Herstellung der deutschen Einheit werden die jährlichen Leistungen des Fonds „Deutsche Einheit" 1. zu 85 vom Hundert als besondere Unterstützung den Ländern Brandenburg, Mecklenburg· Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie dem Land Berlin zur Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs gewährt und auf diese Länder im Verhältnis ihrer Einwohnerzahl ohne Berücksichtigung der Einwohnerzahl von Berlin (West) verteilt sowie 2. zu 15 vom Hundert zur Erfüllung zentraler öffentlicher Aufgaben auf dem Gebiet der vorgenannten Länder verwendet. (6) Bei grundlegender Veränderung der Gegebenheiten werden die Möglichkeiten weiterer Hilfe zum angemessenen Ausgleich der Finanzkraft für die Länder in dem in Artikel 3 genannten Gebiet von Bund und Ländern gemeinsam geprüft. Kapitel III. Rechtsangleichung Art. 8 Überleitung von Bundesrecht. Mit dem Wirksamwerden des Beitritts tritt in dem in Artikel 3 genannten Gebiet Bundesrecht in Kraft, soweit es nicht in seinem Geltungsanspruch auf bestimmte Länder oder Landesteile der Bundesrepublik Deutschland beschränkt ist und soweit durch diesen Vertrag, insbesondere dessen Anlage I, nichts anderes bestimmt wird. Art. 9 Fortgeltendes Recht der Deutschen Demokratischen Republik. (1) Das zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Vertrags geltende Recht der Deutschen Demokratischen Republik, das nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes Landesrecht ist, bleibt in Kraft, soweit es mit dem Grundgesetz ohne Berücksichtigung des Artikels 143, mit in dem in Artikel 3 genannten Gebiet in Kraft gesetztem Bundesrecht sowie mit dem unmittelbar geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaften vereinbar ist und soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt wird. Recht der Deutschen Demokratischen Republik, das nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes Bundesrecht ist und das nicht bundeseinheitlich geregelte Gegenstände betrifft, gilt unter den Voraussetzungen des Satzes 1 bis zu einer Regelung durch den Bundesgesetzgeber als Landesrecht fort. (2) Das in Anlage II aufgeführte Recht der Deutschen Demokratischen Republik bleibt mit den dort genannten Maßgaben in Kraft, soweit es mit dem Grundgesetz unter Berücksichtigung dieses Vertrags sowie mit dem unmittelbar geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaften vereinbar ist. (3) Nach Unterzeichnung dieses Vertrags erlassenes Recht der Deutschen Demokratischen Republik bleibt in Kraft, sofern es zwischen den Vertragsparteien vereinbart wird. Absatz 2 bleibt unberührt. 58

11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (4) Soweit nach den Absätzen 2 und 3 fortgeltendes Recht Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes betrifft, gilt es als Bundesrecht fort. Soweit es Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung oder der Rahmengesetzgebung betrifft, gilt es als Bundesrecht fort, wenn und soweit es sich auf Sachgebiete bezieht, die im übrigen Geltungsbereich des Grundgesetzes bundesrechtlich geregelt sind. (5) Das gemäß Anlage II von der Deutschen Demokratischen Republik erlassene Kirchensteuerrecht gilt in den in Artikel 1 Abs. 1 genannten Ländern als Landesrecht fort. Art. 10 Recht der Europäischen Gemeinschaften. (1) Mit dem Wirksamwerden des Beitritts gelten in dem in Artikel 3 genannten Gebiet die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften nebst Änderungen und Ergänzungen sowie die internationalen Vereinbarungen, Verträge und Beschlüsse, die in Verbindung mit diesen Verträgen in Kraft getreten sind. (2) Die auf der Grundlage der Verträge über die Europäischen Gemeinschaften ergangenen Rechtsakte gelten mit dem Wirksamwerden des Beitritts in dem in Artikel 3 genannten Gebiet, soweit nicht die zuständigen Organe der Europäischen Gemeinschaften Ausnahmeregelungen erlassen. Diese Ausnahmeregelungen sollen den verwaltungsmäßigen Bedürfnissen Rechnung tragen und der Vermeidung wirtschaftlicher Schwierigkeiten dienen. (3) Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften, deren Umsetzung oder Ausführung in die Zuständigkeit der Länder fällt, sind von diesen durch landesrechtliche Vorschriften umzusetzen oder auszuführen.

Kapitel IV. Völkerrechtliche Verträge und Vereinbarungen Art. 11 Verträge der Bundesrepublik Deutschland. Die Vertragsparteien gehen davon aus, daß völkerrechtliche Verträge und Vereinbarungen, denen die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartei angehört, einschließlich solcher Verträge, die Mitgliedschaften in internationalen Organisationen oder Institutionen begründen, ihre Gültigkeit behalten und die daraus folgenden Rechte und Verpflichtungen sich mit Ausnahme der in Anlage I genannten Verträge auch auf das in Artikel 3 genannte Gebiet beziehen. Soweit im Einzelfall Anpassungen erforderlich sind, wird sich die gesamtdeutsche Regierung mit den jeweiligen Vertragspartnern ins Benehmen setzen. Art. 12 Verträge der Deutschen Demokratischen Republik. (1) Die Vertragsparteien sind sich einig, daß die völkerrechtlichen Verträge der Deutschen Demokratischen Republik im Zuge der Herstellung der Einheit Deutschlands unter den Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes, der Interessenlage der beteiligten Staaten und der vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland sowie nach den Prinzipien einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung und unter Beachtung der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften mit den Vertragspartnern der Deutschen Demokratischen Republik zu erörtern sind, um ihre Fortgeltung, Anpassung oder ihr Erlöschen zu regeln beziehungsweise festzustellen. (2) Das vereinte Deutschland legt seine Haltung zum Übergang völkerrechtlicher Verträge der Deutschen Demokratischen Republik nach Konsultationen mit den jeweiligen Vertragspartnern und mit den Europäischen Gemeinschaften, soweit deren Zuständigkeiten berührt sind, fest.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen (3) Beabsichtigt das vereinte Deutschland, in internationale Organisationen oder sonstige mehrseitige Verträge einzutreten, denen die Deutsche Demokratische Republik, nicht aber die Bundesrepublik Deutschland angehört, so wird Einvernehmen mit den jeweiligen Vertragspartnern und mit den Europäischen Gemeinschaften, soweit deren Zuständigkeiten berührt sind, hergestellt.

Kapitel V. Öffentliche Verwaltung und Rechtspflege Art. 13 Übergang von Einrichtungen. Verwaltungsorgane und sonstige der öffentlichen Verwaltung oder Rechtspflege dienende Einrichtungen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet unterstehen der Regierung des Landes, in dem sie örtlich gelegen sind. Einrichtungen mit länderübergreifendem Wirkungskreis gehen in die gemeinsame Trägerschaft der betroffenen Länder über. Soweit Einrichtungen aus mehreren Teileinrichtungen bestehen, die ihre Aufgaben selbständig erfüllen können, unterstehen die Teileinrichtungen jeweils der Regierung des Landes, in dem sich die Teileinrichtung befindet. Die Landesregierung regelt die Überführung oder Abwicklung. §22 des Ländereinführungsgesetzes vom 22. Juli 1990 bleibt unberührt. (2) Soweit die in Absatz 1 Satz 1 genannten Einrichtungen oder Teileinrichtungen bis zum Wirksamwerden des Beitritts Aufgaben erfüllt haben, die nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes vom Bund wahrzunehmen sind, unterstehen sie den zuständigen obersten Bundesbehörden. Diese regeln die Überführung oder Abwicklung. (3) Zu den Einrichtungen nach den Absätzen 1 und 2 gehören auch 1. Einrichtungen der Kultur, der Bildung und Wissenschaft sowie des Sports, 2. Einrichtungen des Hörfunks und des Fernsehens, deren Rechtsträger die öffentliche Verwaltung ist. Art. 14 Gemeinsame Einrichtungen der Länder. (1) Einrichtungen oder Teile von Einrichtungen, die bis zum Wirksamwerden des Beitritts Aufgaben erfüllt haben, die nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes von den Ländern wahrzunehmen sind, werden bis zur endgültigen Regelung durch die in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder als gemeinsame Einrichtungen der Länder weitergeführt. Dies gilt nur, soweit die übergangsweise Weiterführung für die Erfüllung der Aufgaben der Länder unerläßlich ist. (2) Die gemeinsamen Einrichtungen der Länder unterstehen bis zur Wahl des Ministerpräsidenten der Länder den Landesbevollmächtigten. Danach unterstehen sie den Ministerpräsidenten. Diese können die Aufsicht dem zuständigen Landesminister übertragen. Art. 15 Übergangsregelungen für die Landesverwaltung. (1) Die Landessprecher in den in Artikel 1 Abs. 1 genannten Ländern und die Regierungsbevollmächtigten in den Bezirken nehmen ihre bisherigen Aufgaben vom Wirksamwerden des Beitritts bis zur Wahl der Ministerpräsidenten in der Verantwortung der Bundesregierung wahr und unterstehen deren Weisungen. Die Landessprecher leiten als Landesbevollmächtigte die Verwaltung ihre Landes und haben ein Weisungsrecht gegenüber den Bezirksverwaltungsbehörden sowie bei übertragenen Aufgaben auch gegenüber den Gemeinden und Landkreisen. Soweit in den in Artikel 1 Abs. 1 genannten Ländern bis zum Wirksamwerden des Beitritts Landesbeauftragte bestellt

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11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 worden sind, nehmen sie die in den Sätzen 1 und 2 genannten Aufgaben und Befugnisse des Landessprechers wahr. (2) Die anderen Länder und der Bund leisten Verwaltungshilfe beim Aufbau der Landesverwaltung. (3) Auf Ersuchen der Ministerpräsidenten der in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder leisten die anderen Länder und der Bund Verwaltungshilfe bei der Durchführung bestimmter Fachaufgaben, und zwar längstens bis zum 30. Juni 1991. Soweit Stellen und Angehörige der Länder und des Bundes Verwaltungshilfe bei der Durchführung von Landesaufgaben leisten, räumt der Ministerpräsident ihnen insoweit ein Weisungsrecht ein. (4) Soweit der Bund Verwaltungshilfe bei der Durchführung von Fachaufgaben leistet, stellt er auch die zur Durchführung der Fachaufgaben erforderlichen Haushaltsmittel zur Verfügung. Die eingesetzten Haushaltsmittel werden mit dem Anteil des jeweiligen Landes an den Leistungen des Fonds „Deutsche Einheit" oder an der Einfuhr-Umsatzsteuer verrechnet. Art. 16 Übergangsvorschrift bis zur Bildung einer gesamtberliner Landesregierung. Bis zur Bildung einer gesamtberliner Landesregierung nimmt der Senat von Berlin gemeinsam mit dem Magistrat die Aufgaben der gesamtberliner Landesregierung wahr. Art. 17 Rehabilitierung. Die Vertragsparteien bekräftigen ihre Absicht, daß unverzüglich eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen wird, daß alle Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind. Die Rehabilitierung dieser Opfer des SED-Unrechts-Regimes ist mit einer angemessenen Entschädigungsregelung zu verbinden. Art. 18 Fortgeltung gerichtlicher Entscheidungen. (1) Vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Entscheidungen der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik bleiben wirksam und können nach Maßgabe des gemäß Artikel 8 in Kraft gesetzten oder des gemäß Artikel 9 fortgeltenden Rechts vollstreckt werden. Nach diesem Recht richtet sich auch eine Überprüfung der Vereinbarkeit von Entscheidungen und ihrer Vollstreckung mit rechtsstaatlichen Grundsätzen. Artikel 17 bleibt unberührt. (2) Den durch ein Strafgericht der Deutschen Demokratischen Republik Verurteilten wird durch diesen Vertrag nach Maßgabe der Anlage I ein eigenes Recht eingeräumt, eine gerichtliche Kassation rechtskräftiger Entscheidungen herbeizuführen. Art. 19 Fortgeltung von Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung. Vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik bleiben wirksam. Sie können aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen dieses Vertrags unvereinbar sind. Im übrigen bleiben die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt. Art. 20 Rechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst. (1) Für die Rechtsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zum Zeitpunkt des Beitritts gelten die in Anlage I vereinbarten Übergangsregelungen. 61

I. Völkerrechtliche Grundlagen (2) Die Wahrnehmung von öffentlichen Aufgaben (hoheitsrechtliche Befugnisse im Sinne von Artikel 33 Abs. 4 des Grundgesetzes) ist sobald wie möglich Beamten zu übertragen. Das Beamtenrecht wird nach Maßgabe der in Anlage I vereinbarten Regelungen eingeführt. Artikel 92 des Grundgesetzes bleibt unberührt. (3) Das Soldatenrecht wird nach Maßgabe der in Anlage I vereinbarten Regelungen eingeführt.

Kapitel VI. Öffentliches Vermögen und Schulden Art. 21 Verwaltungsvermögen. (1) Das Vermögen der Deutschen Demokratischen Republik, das unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient (Verwaltungsvermögen), wird Bundesvermögen, sofern es nicht nach seiner Zweckbestimmung am 1. Oktober 1989 überwiegend für Verwaltungsaufgaben bestimmt war, die nach dem Grundgesetz von Ländern, Gemeinden (Gemeindeverbänden) oder sonstigen Trägern öffentlicher Verwaltung wahrzunehmen sind. Soweit Verwaltungsvermögen überwiegend für Aufgaben des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/des Amtes für Nationale Sicherheit genutzt wurde, steht es der Treuhandanstalt zu, es sei denn, daß es nach dem genannten Zeitpunkt bereits neuen sozialen oder öffentlichen Zwecken zugeführt worden ist. (2) Soweit Verwaltungsvermögen nicht Bundesvermögen gemäß Absatz 1 wird, steht es mit Wirksamwerden des Beitritts demjenigen Träger öffentlicher Verwaltung zu, der nach dem Grundgesetz für die Verwaltungsaufgabe zuständig ist. (3) Vermögenswerte, die dem Zentralstaat oder den Ländern und Gemeinden (Gemeindeverbänden) von einer anderen Körperschaft des öffentlichen Rechts unentgeltlich zur Verfügung gestellt worden sind, werden an diese Körperschaft oder ihre Rechtsnachfolgerin unentgeltlich zurückübertragen; früheres Reichsvermögen wird Bundes vermögen. (4) Soweit nach den Absätzen 1 bis 3 oder aufgrund eines Bundesgesetzes Verwaltungsvermögen Bundesvermögen wird, ist es für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben in dem in Artikel 3 genannten Gebiet zu verwenden. Dies gilt auch für die Verwendung der Erlöse aus Veräußerungen von Vermögenswerten. Art. 22 Finanzvermögen. (1) Öffentliches Vermögen von Rechtsträgern in dem in Artikel 3 genannten Gebiet einschließlich des Grundvermögens und des Vermögens in der Land- und Forstwirtschaft, das nicht unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient (Finanzvermögen), ausgenommen Vermögen der Sozialversicherung, unterliegt, soweit es nicht der Treuhandanstalt übertragen ist, oder durch Gesetz gemäß § 1 Abs. 1 Sätze 2 und 3 des Treuhandgesetzes Gemeinden, Städten oder Landkreisen übertragen wird, mit Wirksamwerden des Beitritts der Treuhandverwaltung des Bundes. Soweit Finanzvermögen überwiegend für Aufgaben des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/des Amtes für Nationale Sicherheit genutzt wurde, steht es der Treuhandanstalt zu, es sei denn, daß es nach dem 1. Oktober 1989 bereits neuen sozialen oder öffentlichen Zwecken zugeführt worden ist. Durch Bundesgesetz ist das Finanzvermögen auf den Bund und die in Artikel 1 genannten Länder so aufzuteilen, daß der Bund und die in Artikel 1 genannten Länder je die Hälfte des Vermögensgesamtwerts erhalten. An dem Länderanteil sind die Gemeinden (Gemeindeverbände) angemessen zu beteiligen. Vermögenswerte, die hiernach der Bund erhält, sind zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben in dem in Artikel 3 genannten Gebiet zu verwenden. Die Verteilung

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11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 des Länderanteils auf die einzelnen Länder soll grundsätzlich so erfolgen, daß das Verhältnis der Gesamtwerte der den einzelnen Ländern übertragenen Vermögensanteile dem Verhältnis der Bevölkerungszahlen dieser Länder mit Wirksamwerden des Beitritts ohne Berücksichtigung der Einwohnerzahl von Berlin (West) entspricht. Artikel 21 Abs. 3 ist entsprechend anzuwenden. (2) Bis zu einer gesetzlichen Regelung wird das Finanzvermögen von den bisher zuständigen Behörden verwaltet, soweit nicht der Bundesminister der Finanzen die Übernahme der Verwaltung durch Behörden der Bundesvermögensverwaltung anordnet. (3) Die in den Absätzen 1 und 2 bezeichneten Gebietskörperschaften gewähren sich untereinander auf Verlangen Auskunft über und Einsicht in Grundbücher, Grundakten und sonstige Vorgänge, die Hinweise zu Vermögenswerten enthalten, deren rechtliche und tatsächliche Zuordnung zwischen den Gebietskörperschaften ungeklärt oder streitig ist. (4) Absatz 1 gilt nicht für das zur Wohnungsversorgung genutzte volkseigene Vermögen, das sich in Rechtsträgerschaft der volkseigenen Betriebe der Wohnungswirtschaft befindet. Gleiches gilt für volkseigenes Vermögen, für das bereits konkrete Ausführungsplanungen für Objekte der Wohnungsversorgung vorliegen. Dieses Vermögen geht mit Wirksamwerden des Beitritts mit gleichzeitiger Übernahme der anteiligen Schulden in das Eigentum der Kommunen über. Die Kommunen überführen ihren Wohnungsbestand unter Berücksichtigung sozialer Belange schrittweise in eine marktwirtschaftliche Wohnungswirtschaft. Dabei soll die Privatisierung auch zur Förderung der Bildung individuellen Wohneigentums beschleunigt durchgeführt werden. Hinsichtlich des volkseigenen Wohnungsbestandes staatlicher Einrichtungen, soweit dieser nicht bereits unter Artikel 21 fällt, bleibt Absatz 1 unberührt. Art. 23 Schuldenregelung. (1) Mit dem Wirksamwerden des Beitritts wird die bis zu diesem Zeitpunkt aufgelaufene Gesamtverschuldung des Republikhaushalts der Deutschen Demokratischen Republik von einem nicht rechtsfähigen Sondervermögen des Bundes übernommen, das die Schuldendienstverpflichtungen erfüllt. Das Sondervermögen wird ermächtigt, Kredite aufzunehmen 1. zur Tilgung von Schulden des Sondervermögens, 2. zur Deckung anfallender Zins- und Kreditbeschaffungskosten, 3. zum Zweck des Ankaufs von Schuldtiteln des Sondervermögens im Wege der Marktpflege. (2) Der Bundesminister der Finanzen verwaltet das Sondervermögen. Das Sondervermögen kann unter seinem Namen im rechtsgeschäftlichen Verkehr handeln, klagen und verklagt werden. Der allgemeine Gerichtsstand des Sondervermögens ist der Sitz der Bundesregierung. Der Bund haftet für die Verbindlichkeiten des Sondervermögens. (3) Vom Tage des Wirksamwerdens des Beitritts bis zum 31. Dezember 1993 erstatten der Bund und die Treuhandanstalt jeweils die Hälfte der vom Sondervermögen erbrachten Zinsleistungen. Die Erstattung erfolgt bis zum Ersten des Monats, der dem Monat folgt, in dem das Sondervermögen die in Satz 1 genannten Leistungen erbracht hat. (4) Mit Wirkung vom 1. Januar 1994 übernehmen der Bund und die in Artikel 1 genannten Länder und die Treuhandanstalt, die beim Sondervermögen zum 31. Dezember 1993 aufgelaufene Gesamtverschuldung nach Maßgabe des Artikels 27 Abs. 3 des Vertrags vom

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I. Völkerrechtliche Grundlagen 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Die Verteilung der Schulden im einzelnen wird durch besonderes Gesetz gemäß Artikel 34 des Gesetzes vom 25. Juli 1990 zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 (BGBl. 1990 II S. 518) geregelt. Die Anteile der in Artikel 1 genannten Länder an dem von der Gesamtheit der in Artikel 1 genannten Länder zu übernehmenden Betrag werden im Verhältnis ihrer Einwohnerzahl zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts ohne Berücksichtigung der Einwohnerzahl von Berlin (West) berechnet. (5) Das Sondervermögen wird mit Ablauf des Jahres 1993 aufgelöst. (6) Die Bundesrepublik Deutschland tritt mit Wirksamwerden des Beitritts in die von der Deutschen Demokratischen Republik zu Lasten des Staatshaushalts bis zur Einigung übernommenen Bürgschaften, Garantien und Gewährleistungen ein. Die in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder und das Land Berlin für den Teil, in dem das Grundgesetz bisher nicht galt, übernehmen für die auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangenen Bürgschaften, Garantien und Gewährleistungen gesamtschuldnerisch eine Rückbürgschaft in Höhe von 50 vom Hundert. Die Schadensbeträge werden zwischen den Ländern im Verhältnis ihrer Einwohnerzahl zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts ohne Berücksichtigung der Einwohnerzahl von Berlin (West) aufgeteilt. (7) Die Beteiligung der Deutschen Demokratischen Republik an der Staatsbank Berlin kann auf die in Artikel 1 genannten Länder übertragen werden. Bis zu einer Übertragung der Beteiligung nach Satz 1 oder einer Übertragung nach Satz 3 stehen die Rechte aus der Beteiligung der Deutschen Demokratischen Republik an der Staatsbank Berlin dem Bund zu. Die Vertragsparteien werden, unbeschadet einer kartellrechtlichen Prüfung, die Möglichkeit vorsehen, daß die Staatsbank Berlin ganz oder teilweise auf ein öffentlich-rechtliches Kreditinstitut in der Bundesrepublik Deutschland oder auf andere Rechtsträger übertragen wird. Werden nicht alle Gegenstände oder Verbindlichkeiten von einer Übertragung erfaßt, ist der verbleibende Teil der Staatsbank Berlin abzuwickeln. Der Bund tritt in die Verbindlichkeiten aus der Gewährträgerhaftung der Deutschen Demokratischen Republik für die Staatsbank Berlin ein. Dies gilt nicht für Verbindlichkeiten, die nach der Übertragung der Beteiligung nach Satz 1 oder nach einer Übertragung nach Satz 3 begründet werden. Satz 5 gilt für von der Staatsbank Berlin in Abwicklung begründete neue Verbindlichkeiten entsprechend. Wird der Bund aus der Gewährträgerhaftung in Anspruch genommen, wird die Belastung in die Gesamtverschuldung des Republikhaushalts einbezogen und mit Wirksamwerden des Beitritts in das nicht rechtsfähige Sondervermögen nach Absatz 1 übernommen.

Art. 24 Abwicklung der Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland und der Bundesrepublik Deutschland. (1) Die Abwicklung des beim Wirksamwerden des Beitritts noch bestehenden Forderungen und Verbindlichkeiten, soweit sie im Rahmen des Außenhandels- und Valutamonopols oder in Wahrnehmung anderer staatlicher Aufgaben der Deutschen Demokratischen Republik bis zum 1. Juli 1990 gegenüber dem Ausland und der Bundesrepublik Deutschland begründet worden sind, erfolgt auf Weisung und unter Aufsicht des Bundesministers der Finanzen. In Umschuldungsvereinbarungen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die nach Wirksamwerden des Beitritts getroffen werden, sind auch die in Satz 1 genannten Forderungen einzubeziehen. Die betroffenen Forderungen werden durch den Bundesminister der Finanzen treuhänderisch verwaltet oder auf den Bund übertragen, soweit die Forderungen wertberichtigt werden.

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11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (2) Das Sondervermögen gemäß Artikel 23 Abs. 1 übernimmt bis zum 30. November 1993 gegenüber den mit der Abwicklung beauftragten Instituten die notwendigen Verwaltungsaufwendungen, die Zinskosten, die durch eine Differenz der Zinsaufwendungen und Zinserlöse entstehen, sowie die sonstigen Verluste, die den Instituten während der Abwicklungszeit entstehen, soweit sie durch eigene Mittel nicht ausgeglichen werden können. Nach dem 30. November 1993 übernehmen der Bund und die Treuhandanstalt die in Satz 1 genannten Aufwendungen, Kosten und den Verlustausgleich je zur Hälfte. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt. (3) Forderungen und Verbindlichkeiten, die auf die Mitgliedschaft der Deutschen Demokratischen Republik oder ihrer Einrichtungen im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe zurückgehen, können Gegenstand gesonderter Regelungen der Bundesrepublik Deutschland sein. Diese Regelungen können auch Forderungen und Verbindlichkeiten betreffen, die nach dem 30. Juni 1990 entstehen oder entstanden sind. Art. 25 Treuhandvermögen. Das Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens - Treuhandgesetz - vom 17. Juni 1990 (GBl. I Nr. 33 S. 300) gilt mit Wirksamwerden des Beitritts mit folgender Maßgabe fort: (1) Die Treuhandanstalt ist auch künftig damit beauftragt, gemäß den Bestimmungen des Treuhandgesetzes die früheren volkseigenen Betriebe wettbewerblich zu strukturieren und zu privatisieren. Sie wird rechtsfähige bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts. Die Fach- und Rechtsaufsicht obliegt dem Bundesminister der Finanzen, der die Fachaufsicht im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Wirtschaft und dem jeweils zuständigen Bundesminister wahrnimmt. Beteiligungen der Treuhandanstalt sind mittelbare Beteiligungen des Bundes. Änderungen der Satzung bedürfen der Zustimmung der Bundesregierung. (2) Die Zahl der Mitglieder des Verwaltungsrats der Treuhandanstalt wird von 16 auf 20, für den ersten Verwaltungsrat auf 23, erhöht. Anstelle der beiden aus der Mitte der Volkskammer gewählten Vertreter erhalten die in Artikel 1 genannten Länder im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt je einen Sitz. Abweichend von § 4 Abs. 2 des Treuhandgesetzes werden der Vorsitzende und die übrigen Mitglieder des Verwaltungsrats von der Bundesregierung berufen. (3) Die Vertragsparteien bekräftigen, daß das volkseigene Vermögen ausschließlich und allein zugunsten von Maßnahmen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet unabhängig von der haushaltsmäßigen Trägerschaft verwendet wird. Entsprechend sind Erlöse der Treuhandanstalt gemäß Artikel 26 Abs. 4 und Artikel 27 Abs. 3 des Vertrags vom 18. Mai 1990 zu verwenden. Im Rahmen der Strukturanpassung der Landwirtschaft können Erlöse der Treuhandanstalt im Einzelfall auch für Entschuldungsmaßnahmen zu Gunsten von landwirtschaftlichen Unternehmen verwendet werden. Zuvor sind deren eigene Vermögenswerte einzusetzen. Schulden, die auszugliedernden Betriebsteilen zuzuordnen sind, bleiben unberücksichtigt. Hilfe zur Entschuldung kann auch mit der Maßgabe gewährt werden, daß die Unternehmen die gewährten Leistungen im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten ganz oder teilweise zurückerstatten. (4) Die der Treuhandanstalt durch Artikel 27 Abs. 1 des Vertrags vom 18. Mai 1990 eingeräumte Ermächtigung zur Aufnahme von Krediten wird von insgesamt bis zu 17 Milliarden Deutsche Mark auf bis zu 25 Milliarden Deutsche Mark erhöht. Die vorgenannten Kredite sollen in der Regel bis zum 31. Dezember 1995 zurückgeführt werden. Der Bundesminister 65

I. Völkerrechtliche Grundlagen der Finanzen kann eine Verlängerung der Laufzeiten und bei grundlegend geänderten Bedingungen eine Überschreitung der Kreditobergrenzen zulassen. (5) Die Treuhandanstalt wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen Bürgschaften, Garantien und sonstige Gewährleistungen zu übernehmen. (6) Nach Maßgabe des Artikels 10 Abs. 6 des Vertrags vom 18. Mai 1990 sind Möglichkeiten vorzusehen, daß den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt für den bei der Umstellung 2:1 reduzierten Betrag ein verbrieftes Anteilrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt werden kann. (7) Bis zur Feststellung der DM-Eröffnungsbilanz sind die Zins- und Tilgungsleistungen auf Kredite, die vor dem 30. Juni 1990 aufgenommen wurden, auszusetzen. Die anfallenden Zinszahlungen sind der Deutschen Kreditbank AG und den anderen Banken durch die Treuhandanstalt zu erstatten. Art. 26 Sondervermögen Deutsche Reichsbahn. (1) Das Eigentum und alle sonstigen Vermögensrechte der Deutschen Demokratischen Republik sowie das Reichsvermögen in Berlin (West), die zum Sondervermögen Deutsche Reichsbahn im Sinne des Artikels 26 Abs. 2 des Vertrags vom 18. Mai 1990 gehören, sind mit Wirksamwerden des Beitritts als Sondervermögen Deutsche Reichsbahn Vermögen der Bundesrepublik Deutschland. Dazu gehören auch alle Vermögensrechte, die nach dem 8. Mai 1945 entweder mit Mitteln des Sondervermögens Deutsche Reichsbahn erworben oder die ihrem Betrieb oder dem ihrer Vorgängerverwaltungen gewidmet worden sind, ohne Rücksicht darauf, für welchen Rechtsträger sie erworben wurden, es sei denn, sie sind in der Folgezeit mit Zustimmung der Deutschen Reichsbahn einem anderen Zweck gewidmet worden. Vermögensrechte, die von der Deutschen Reichsbahn bis zum 31. Januar 1991 in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 4 der Verordnung über die Anmeldung vermögensrechtlicher Ansprüche vom 11. Juli 1990 (GBl. I Nr. 44 S. 718) benannt werden, gelten nicht als Vermögen, das mit Zustimmung der Deutschen Reichsbahn einem anderen Zweck gewidmet wurde. (2) Mit den Vermögensrechten gehen gleichzeitig die mit ihnen im Zusammenhang stehenden Verbindlichkeiten und Forderungen auf das Sondervermögen Deutsche Reichsbahn über. (3) Der Vorsitzer des Vorstands der Deutschen Bundesbahn und der Vorsitzer des Vorstands der Deutschen Reichsbahn sind für die Koordinierung der beiden Sondervermögen verantwortlich. Dabei haben sie auf das Ziel hinzuwirken, die beiden Bahnen technisch und organisatorisch zusammenzuführen. Art. 27 Sondervermögen Deutsche Post. (1) Das Eigentum und alle sonstigen Vermögensrechte, die zum Sondervermögen Deutsche Post gehören, werden Vermögen der Bundesrepublik Deutschland. Sie werden mit dem Sondervermögen Deutsche Bundespost vereinigt. Dabei gehen mit den Vermögensrechten gleichzeitig die mit ihnen im Zusammenhang stehenden Verbindlichkeiten und Forderungen auf das Sondervermögen Deutsche Bundespost über. Das den hoheitlichen und politischen Zwecken dienende Vermögen wird mit den entsprechenden Verbindlichkeiten und Forderungen nicht Bestandteil des Sondervermögens Deutsche Bundespost. Zum Sondervermögen Deutsche Post gehören auch alle Vermögensrechte, die am 8. Mai 1945 zum Sondervermögen Deutsche Reichspost gehörten oder die nach dem 8. Mai 1945 66

11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 entweder mit Mitteln des früheren Sondervermögens Deutsche Reichspost erworben oder die dem Betrieb der Deutschen Post gewidmet wurden, es sei denn, sie sind in der Folgezeit mit Zustimmung der Deutschen Post einem anderen Zweck gewidmet worden. Vermögensrechte, die von der Deutschen Post bis zum 31. Januar 1991 in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 4 der Verordnung über die Anmeldung vermögensrechtlicher Ansprüche vom 11. Juli 1990 benannt werden, gelten nicht als Vermögen, das mit Zustimmung der Deutschen Post einem anderen Zweck gewidmet wurde. (2) Der Bundesminister für Post und Telekommunikation regelt nach Anhörung der Unternehmen der Deutschen Bundespost abschließend die Aufteilung des Sondervermögens Deutsche Post in die Teilsondervermögen der drei Unternehmen. Der Bundesminister für Post und Telekommunikation legt nach Anhörung der drei Unternehmen der Deutschen Bundespost innerhalb einer Übergangszeit von drei Jahren fest, welche Vermögensgegenstände den hoheitlichen und politischen Zwecken dienen. Er übernimmt diese ohne Wertausgleich. Art. 28 Wirtschaftsförderung. (1) Mit Wirksamwerden des Beitritts wird das in Artikel 3 genannte Gebiet in die im Bundesgebiet bestehenden Regelungen des Bundes zur Wirtschaftsförderung unter Berücksichtigung der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften einbezogen. Während einer Übergangszeit werden dabei die besonderen Bedürfnisse der Strukturanpassung berücksichtigt. Damit wird ein wichtiger Beitrag zu einer möglichst raschen Entwicklung einer ausgewogenen Wirtschaftsstruktur unter besonderer Berücksichtigung des Mittelstands geleistet. (2) Die zuständigen Ressorts bereiten konkrete Maßnahmenprogramme zur Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums und des Strukturwandels in dem in Artikel 3 genannten Gebiet vor. Die Programme erstrecken sich auf folgende Bereiche: -

Maßnahmen der regionalen Wirtschaftsforderung unter Schaffung eines besonderen Programms zugunsten des in Artikel 3 genannten Gebiets; dabei wird ein Präferenzvorsprung zugunsten dieses Gebiets sichergestellt; - Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Gemeinden mit besonderem Schwerpunkt in der wirtschaftsnahen Infrastruktur; - Maßnahmen zur raschen Entwicklung des Mittelstandes; - Maßnahmen zur verstärkten Modernisierung und strukturellen Neuordnung der Wirtschaft auf der Grundlage von in Eigenverantwortung der Industrie erstellten Restrukturierungskonzepten (zum Beispiel Sanierungsprogramme, auch für RGW-Exportproduktion); - Entschuldung von Unternehmen nach Einzelfallprüfung. Art. 29 Außenwirtschaftsbeziehungen. (1) Die gewachsenen außenwirtschaftlichen Beziehungen der Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Ländern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, genießen Vertrauensschutz. Sie werden unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten und unter Beachtung marktwirtschaftlicher Grundsätze sowie der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften fortentwickelt und ausgebaut. Die gesamtdeutsche Regierung wird dafür Sorge tragen, daß diese Beziehungen im Rahmen der fachlichen Zuständigkeit organisatorisch angemessen geregelt werden.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen (2) Die Bundesregierung beziehungsweise die gesamtdeutsche Regierung wird sich mit den zuständigen Organen der Europäischen Gemeinschaften darüber abstimmen, welche Ausnahmeregelungen über eine Übergangszeit auf dem Gebiet des Außenhandels im Hinblick auf Absatz 1 erforderlich sind.

Kapitel VII. Arbeit, Soziales, Familie, Frauen, Gesundheitswesen und Umweltschutz Art. 30 Arbeit und Soziales. (1) Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, 1. das Arbeitsvertragsrecht sowie das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht einschließlich der Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit und den besonderen Frauenarbeitsschutz möglichst bald einheitlich neu zu kodifizieren. 2. den öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutz in Übereinstimmung mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaften und dem damit konformen Teil des Arbeitsschutzrechts der Deutschen Demokratischen Republik zeitgemäß neu zu regeln. (2) Arbeitnehmer können in dem in Artikel 3 genannten Gebiet ein Altersübergangsgeld nach Vollendung des 57. Lebensjahres für die Dauer von drei Jahren, längstens bis zum frühestmöglichen Bezug einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten. Die Höhe des Altersübergangsgeldes beträgt 65 vom Hundert des letzten durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts; für Arbeitnehmer, deren Anspruch bis zum 1. April 1991 entsteht, wird das Altersübergangsgeld für die ersten 312 Tage um einen Zuschlag von 5 Prozentpunkten erhöht. Das Altersübergangsgeld gewährt die Bundesanstalt für Arbeit in Anlehnung an die Regelungen des Arbeitslosengeldes, insbesondere der Regelung des § 105c des Arbeitsförderungsgesetzes. Die Bundesanstalt für Arbeit kann einen Antrag ablehnen, wenn feststeht, daß in der Region für die bisherige berufliche Tätigkeit des Antragstellers ein deutlicher Mangel an Arbeitskräften besteht. Das Altersübergangsgeld wird vom Bund erstattet, soweit es die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld übersteigt. Die Altersübergangsgeldregelung findet für neu entstehende Ansprüche bis zum 31. Dezember 1991 Anwendung. Der Geltungszeitraum kann um ein Jahr verlängert werden. In der Zeit vom Wirksamwerden des Vertrags bis zum 31. Dezember 1990 können Frauen Altersübergangsgeld nach Vollendung des 55. Lebensjahres für längstens fünf Jahre erhalten. (3) Der in dem in Artikel 3 genannten Gebiet in Verbindung mit dem Vertrag vom 18. Mai 1990 eingeführte Sozialzuschlag zu Leistungen der Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung wird auf Neuzugänge bis 31. Dezember 1991 begrenzt. Die Leistung wird längstens bis zum 30. Juni 1995 gezahlt. (4) Die Übertragung von Aufgaben der Sozialversicherung auf die einzelnen Träger hat so zu erfolgen, daß die Erbringung der Leistungen und deren Finanzierung sowie die personelle Wahrnehmung der Aufgaben gewährleistet wird. Die Vermögensaufteilung (Aktiva und Passiva) auf die einzelnen Träger der Sozialversicherung wird endgültig durch Gesetz festgelegt. (5) Die Einzelheiten der Überleitung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (Rentenversicherung) und der Vorschriften des Dritten Buches der Reichsversicherungsordnung (Unfallversicherung) werden in einem Bundesgesetz geregelt. Für Personen, deren Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung in der Zeit vom 1. Januar 1992 bis 30. Juni 1995 beginnt, wird

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11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 1. eine Rente grundsätzlich mindestens in der Höhe des Betrags geleistet, der sich am 30. Juni 1990 nach dem bis dahin geltenden Rentenrecht in dem in Artikel 3 genannten Gebiet ohne Berücksichtigung von Leistungen aus Zusatz- oder Sonderversorgungssystemen ergeben hätte. 2. eine Rente auch dann bewilligt, wenn am 30. Juni 1990 nach dem bis dahin geltenden Rentenrecht in dem in Artikel 3 genannten Gebiet ein Rentenanspruch bestanden hätte. Im übrigen soll die Überleitung von der Zielsetzung bestimmt sein, mit der Angleichung der Löhne und Gehälter in dem in Artikel 3 genannten Gebiet an diejenigen in den übrigen Ländern auch eine Angleichung der Renten zu verwirklichen. (6) Bei der Fortentwicklung der Berufskrankheitenverordnung ist zu prüfen, inwieweit die bisher in dem in Artikel 3 des Vertrags genannten Gebiet geltenden Regelungen berücksichtigt werden können. Art. 31 Familie und Frauen. (1) Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiterzuentwickeln. (2) Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, angesichts unterschiedlicher rechtlicher und institutioneller Ausgangssituationen bei der Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern die Rechtslage unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten. (3) Um die Weiterführung der Einrichtungen zur Tagesbetreuung von Kindern in dem in Artikel 3 genannten Gebiet zu gewährleisten, beteiligt sich der Bund für eine Übergangszeit bis zum 30. Juni 1991 an den Kosten dieser Einrichtungen. (4) Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, spätestens bis zum 31. Dezember 1992 eine Regelung zu treffen, die den Schutz vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen vor allem durch rechtlich gesicherte Ansprüche für Frauen, insbesondere auf Beratung und soziale Hilfen, besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist. Zur Verwirklichung dieser Ziele wird in dem in Artikel 3 genannten Gebiet mit finanzieller Hilfe des Bundes unverzüglich ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen verschiedener Träger aufgebaut. Die Beratungsstellen sind personell und finanziell so auszustatten, daß sie ihrer Aufgabe gerecht werden können, schwangere Frauen zu beraten und ihnen notwendige Hilfen auch über den Zeitpunkt der Geburt hinaus - zu leisten. Kommt eine Regelung in der in Satz 1 genannten Frist nicht zustande, gilt das materielle Recht in dem in Artikel 3 genannten Gebiet weiter. Art. 32 Freie gesellschaftliche Kräfte. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und die Träger der Freien Jugendhilfe leisten mit ihren Einrichtungen und Diensten einen unverzichtbaren Beitrag zur Sozialstaatlichkeit des Grundgesetzes. Der Auf- und Ausbau einer Freien Wohlfahrtspflege und einer Freien Jugendhilfe in dem in Artikel 3 genannten Gebiet wird im Rahmen der grundgesetzlichen Zuständigkeiten gefördert. Art. 33 Gesundheitswesen. (1) Es ist Aufgabe der Gesetzgeber, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das Niveau der stationären Versorgung der Bevölkerung in dem in Artikel 3 genannten Gebiet zügig und nachhaltig verbessert und der Situation im übrigen Bundesgebiet angepaßt wird.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen (2) Zur Vermeidung von Defiziten bei den Arzneimittelausgaben der Krankenversicherung in dem in Artikel 3 genannten Gebiet trifft der gesamtdeutsche Gesetzgeber eine zeitlich befristete Regelung, durch die der Herstellerabgabepreis im Sinne der Arzneimittelpreisverordnung um einen Abschlag verringert wird, der dem Abstand zwischen den beitragspflichtigen Einkommen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet und im heutigen Bundesgebiet entspricht. Art. 34 Umweltschutz. (1) Ausgehend von der in Artikel 16 des Vertrags vom 18. Mai 1990 in Verbindung mit dem Umweltrahmengesetz der Deutschen Demokratischen Republik vom 29. Juni 1990 (GBl. I Nr. 42 S. 649) begründeten deutschen Umweltunion ist es Aufgabe der Gesetzgeber, die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter Beachtung des Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzips zu schützen und die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, zumindest jedoch dem in der Bundesrepublik Deutschland erreichten Niveau zu fördern. (2) Zur Förderung des in Absatz 1 genannten Ziels sind im Rahmen der grundgesetzlichen Zuständigkeitsregelungen ökologische Sanierungs- und Entwicklungsprogramme für das in Artikel 3 genannte Gebiet aufzustellen. Vorrangig sind Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung vorzusehen. Kapitel VIII. Kultur, Bildung und Wissenschaft, Sport Art. 35 Kultur. (1) In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur - trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozeß der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab. Vorrangiges Ziel der Auswärtigen Kulturpolitik ist der Kulturaustausch auf der Grundlage partnerschaftlicher Zusammenarbeit. (2) Die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten Gebiet darf keinen Schaden nehmen. (3) Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist zu sichern, wobei Schutz und Förderung von Kultur und Kunst den neuen Ländern und Kommunen entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes obliegen. (4) Die bisher zentral geleiteten kulturellen Einrichtungen gehen in die Trägerschaft der Länder oder Kommunen über, in denen sie gelegen sind. Eine Mitfinanzierung durch den Bund wird in Ausnahmefällen, insbesondere im Land Berlin, nicht ausgeschlossen. (5) Die durch die Nachkriegsereignisse getrennten Teile der ehemaligen staatlichen preußischen Sammlungen (unter anderem Staatliche Museen, Staatsbibliotheken, Geheimes Staatsarchiv, Ibero-Amerikanisches Institut, Staatliches Institut für Musikforschung) sind in Berlin wieder zusammenzuführen. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übernimmt die vorläufige Trägerschaft. Auch für die künftige Regelung ist eine umfassende Trägerschaft für die ehemals staatlichen preußischen Sammlungen in Berlin zu finden. (6) Der Kulturfonds wird zur Förderung von Kultur, Kunst und Künstlern übergangsweise bis zum 31. Dezember 1994 in dem in Artikel 3 genannten Gebiet weitergeführt. Eine

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11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 Mitfinanzierung durch den Bund im Rahmen der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes wird nicht ausgeschlossen. Über eine Nachfolgeeinrichtung ist im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt der Länder der in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder zur Kulturstiftung der Länder zu verhandeln. (7) Zum Ausgleich der Auswirkungen der Teilung Deutschlands kann der Bund übergangsweise zur Förderung der kulturellen Infrastruktur einzelne kulturelle Maßnahmen und Einrichtungen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet mitfinanzieren. Art. 36 Rundfunk. (1) Der „Rundfunk der D D R " und der „Deutsche Fernsehfunk" werden als gemeinschaftliche staatsunabhängige, rechtsfähige Einrichtungen von den in Artikel 1 Abs. 1 genannten Ländern und dem Land Berlin für den Teil, in dem das Grundgesetz bisher nicht galt, bis spätestens 31. Dezember 1991 weitergeführt, soweit sie Aufgaben wahrnehmen, für die die Zuständigkeit der Länder gegeben ist. Die Einrichtung hat die Aufgabe, die Bevölkerung in dem in Artikel 3 genannten Gebiet nach den allgemeinen Grundsätzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit Hörfunk und Fernsehen zu versorgen. Die bisher der Deutschen Post zugehörige Studiotechnik sowie die der Produktion und der Verwaltung des Rundfunks und des Fernsehens dienenden Liegenschaften werden der Einrichtung zugeordnet. Artikel 21 gilt entsprechend. (2) Die Organe der Einrichtung sind 1. der Rundfunkbeauftragte, 2. der Rundfunkbeirat. (3) Der Rundfunkbeauftragte wird auf Vorschlag des Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik von der Volkskammer gewählt. Kommt eine Wahl durch die Volkskammer nicht zustande, wird der Rundfunkbeauftragte von den Landessprechern der in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder und dem Oberbürgermeister von Berlin mit Mehrheit gewählt. Der Rundfunkbeauftragte leitet die Einrichtung und vertritt sie gerichtlich und außergerichtlich. Er ist für die Erfüllung des Auftrags der Einrichtung im Rahmen der hierfür verfügbaren Mittel verantwortlich und hat für das Jahr 1991 unverzüglich einen in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichenen Haushaltsplan aufzustellen. (4) Dem Rundfunkbeirat gehören 18 anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als Vertreter gesellschaftlich relevanter Gruppen an. Je drei Mitglieder werden von den Landtagen der in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder und von der Stadtverordnetenversammlung von Berlin gewählt. Der Rundfunkbeirat hat in allen Programmfragen ein Beratungsrecht und bei wesentlichen Personal-, Wirtschafts- und Haushaltsfragen ein Mitwirkungsrecht. Der Rundfunkbeirat kann den Rundfunkbeauftragten mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder abberufen. Er kann mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder einen neuen Rundfunkbeauftragten wählen. (5) Die Einrichtung finanziert sich vorrangig durch die Einnahmen aus dem Rundfunkgebührenaufkommen der Rundfunkteilnehmer, die in dem in Artikel 3 genannten Gebiet wohnen. Sie ist insoweit Gläubiger der Rundfunkgebühr. Im übrigen deckt sie ihre Ausgaben durch Einnahmen aus Werbesendungen und durch sonstige Einnahmen. (6) Innerhalb des in Absatz 1 genannten Zeitraums ist die Einrichtung nach Maßgabe der föderalen Struktur des Rundfunks durch gemeinsamen Staatsvertrag der in Artikel 1 genann71

I. Völkerrechtliche Grundlagen ten Länder aufzulösen oder in Anstalten des öffentlichen Rechts einzelner oder mehrerer Länder überzuführen. Kommt ein Staatsvertrag nach Satz 1 bis zum 31. Dezember 1991 nicht zustande, so ist die Einrichtung mit Ablauf dieser Frist aufgelöst. Zu diesem Zeitpunkt bestehendes Aktiv- und Passivvermögen geht auf die in Artikel 1 genannten Länder in Anteilen über. Die Höhe der Anteile bemißt sich nach dem Verhältnis des Rundfunkgebührenaufkommens nach dem Stand vom 30. Juni 1991 in dem in Artikel 3 genannten Gebiet. Die Pflicht der Länder zur Fortführung der Rundfunkversorgung in dem in Artikel 3 genannten Gebiet bleibt hiervon unberührt. (7) Mit Inkraftsetzung des Staatsvertrags nach Absatz 6, spätestens am 31. Dezember 1991, treten die Absätze 1 bis 6 außer Kraft. Art. 37 Bildung. (1) In der Deutschen Demokratischen Republik erworbene oder staatlich anerkannte schulische, berufliche und akademische Abschlüsse oder Befähigungsnachweise gelten in dem in Artikel 3 genannten Gebiet weiter. In dem in Artikel 3 genannten Gebiet oder in den anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) abgelegte Prüfungen oder erworbene Befähigungsnachweise stehen einander gleich und verleihen die gleichen Berechtigungen, wenn sie gleichwertig sind. Die Gleichwertigkeit wird auf Antrag von der jeweils zuständigen Stelle festgestellt. Rechtliche Regelungen des Bundes und der Europäischen Gemeinschaften über die Gleichstellung von Prüfungen oder Befähigungsnachweisen sowie besondere Regelungen in diesem Vertrag haben Vorrang. Das Recht auf Führung erworbener, staatlich anerkannter oder verliehener akademischer Berufsbezeichnungen, Grade und Titel bleibt in jedem Fall unberührt. (2) Für Lehramtsprüfungen gilt das in der Kultusministerkonferenz übliche Anerkennungsverfahren. Die Kultusministerkonferenz wird entsprechende Übergangsregelungen treffen. (3) Prüfungszeugnisse nach der Systematik der Ausbildungsberufe und der Systematik der Facharbeiterberufe und Abschlußprüfungen und Gesellenprüfungen in anerkannten Ausbildungsberufen stehen einander gleich. (4) Die bei der Neugestaltung des Schulwesens in dem in Artikel 3 genannten Gebiet erforderlichen Regelungen werden von den in Artikel 1 genannten Ländern getroffen. Die notwendigen Regelungen zur Anerkennung von Abschlüssen schulrechtlicher Art werden in der Kultusministerkonferenz vereinbart. In beiden Fällen sind Basis das Hamburger Abkommen und die weiteren einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz. (5) Studenten, die vor Abschluß eines Studiums die Hochschule wechseln, werden bisher erbrachte Studien- und Prüfungsleistungen nach den Grundsätzen des § 7 der Allgemeinen Bestimmungen für Diplomprüfungsordnungen (ABD) oder im Rahmen der für die Zulassung zu Staatsprüfungen geltenden Vorschriften anerkannt. (6) Die auf Abschlußzeugnissen der Ingenieur- und Fachschulen der Deutschen Demokratischen Republik bestätigten Hochschulzugangsberechtigungen gelten gemäß Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 10. Mai 1990 und seiner Anlage B. Weitergehende Grundsätze und Verfahren für die Anerkennung von Fachschul- und Hochschulabschlüssen für darauf aufbauende Schul- und Hochschulausbildungen sind im Rahmen der Kultusministerkonferenz zu entwickeln.

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11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 Art. 38 Wissenschaft und Forschung. (1) Wissenschaft und Forschung bilden auch im vereinten Deutschland wichtige Grundlagen für Staat und Gesellschaft. Der notwendigen Erneuerung leistungsfähiger Einrichtungen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet dient eine Begutachtung von öffentlich getragenen Einrichtungen durch den Wissenschaftsrat, die bis zum 31. Dezember 1991 abgeschlossen sein wird, wobei einzelne Ergebnisse schon vorher schrittweise umgesetzt werden sollen. Die nachfolgenden Regelungen sollen diese Begutachtung ermöglichen sowie die Einpassung von Wissenschaft und Forschung in dem in Artikel 3 genannten Gebiet in die gemeinsame Forschungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland gewährleisten. (2) Mit dem Wirksamwerden des Beitritts wird die Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik als Gelehrtensozietät von den Forschungsinstituten und sonstigen Einrichtungen getrennt. Die Entscheidung, wie die Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik fortgeführt werden soll, wird landesrechtlich getroffen. Die Forschungsinstitute und sonstigen Einrichtungen bestehen zunächst bis zum 31. Dezember 1991 als Einrichtungen der Länder in dem in Artikel 3 genannten Gebiet fort, soweit sie nicht vorher aufgelöst oder umgewandelt werden. Die Übergangsfinanzierung dieser Institute und Einrichtungen wird bis zum 31. Dezember 1991 sichergestellt; die Mittel hierfür werden im Jahr 1991 vom Bund und den in Artikel 1 genannten Ländern bereitgestellt. (3) Die Arbeitsverhältnisse der bei den Forschungseinrichtungen und sonstigen Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik beschäftigten Arbeitnehmer bestehen bis zum 31. Dezember 1991 als befristete Arbeitsverhältnisse mit den Ländern fort, auf die diese Institute und Einrichtungen übergehen. Das Recht zur ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung dieser Arbeitsverhältnisse in den in Anlage I dieses Vertrags aufgeführten Tatbeständen bleibt unberührt. (4) Für die Bauakademie der Deutschen Demokratischen Republik und die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik sowie die nachgeordneten wissenschaftlichen Einrichtungen des Ministeriums für Ernährung, Land- und Forstwirtschaft gelten die Absätze 1 bis 3 sinngemäß. (5) Die Bundesregierung wird mit den Ländern Verhandlungen mit dem Ziel aufnehmen, die Bund-Länder-Vereinbarungen gemäß Artikel 91 b des Grundgesetzes so anzupassen oder neu abzuschließen, daß die Bildungsplanung und die Förderung der Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von überregionaler Bedeutung auf das in Artikel 3 genannte Gebiet erstreckt werden. (6) Die Bundesregierung strebt an, daß die in der Bundesrepublik Deutschland bewährten Methoden und Programme der Forschungsförderung so schnell wie möglich auf das gesamte Bundesgebiet angewendet werden und daß den Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Einrichtungen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet der Zugang zu laufenden Maßnahmen der Forschungsförderung ermöglicht wird. Außerdem sollen einzelne Förderungsmaßnahmen für Forschung und Entwicklung, die im Bereich der Bundesrepublik Deutschland terminlich abgeschlossen sind, für das in Artikel 3 genannte Gebiet wieder aufgenommen werden; davon sind steuerliche Maßnahmen ausgenommen. (7) Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik ist der Forschungsrat der Deutschen Demokratischen Republik aufgelöst.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen Art. 39 Sport. (1) Die in dem in Artikel 3 genannten Gebiet befindlichen Strukturen des Sports werden auf Selbstverwaltung umgestellt. Die öffentlichen Hände fördern den Sport ideell und materiell nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes. (2) Der Spitzensport und seine Entwicklung in dem in Artikel 3 genannten Gebiet wird, soweit er sich bewährt hat, weiter gefördert. Die Förderung erfolgt im Rahmen der in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Regeln und Grundsätze nach Maßgabe der öffentlichen Haushalte in dem in Artikel 3 genannten Gebiet. In diesem Rahmen werden das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig, das vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) anerkannte Dopingkontrollabor in Kreischa (bei Dresden) und die Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte (FES) in Berlin (Ost) - in der jeweils angemessenen Rechtsform - als Einrichtungen im vereinten Deutschland in erforderlichem Umfang fortgeführt oder bestehenden Einrichtungen angegliedert. (3) Für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 1992 unterstützt der Bund den Behindertensport. Kapitel IX. Übergangs- und Schlußbestimmungen Art. 40 Verträge und Vereinbarungen. (1) Die Verpflichtungen aus dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik gelten fort, soweit nicht in diesem Vertrag Abweichendes bestimmt wird oder die Vereinbarungen im Zuge der Herstellung der Einheit Deutschlands gegenstandslos werden. (2) Soweit Rechte und Pflichten aus sonstigen Verträgen und Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland oder den Bundesländern und der Deutschen Demokratischen Republik nicht im Zuge der Herstellung der Einheit Deutschlands gegenstandslos geworden sind, werden sie von den innerstaatlichen zuständigen Rechtsträgern übernommen, angepaßt oder abgewickelt. Art. 41 Regelung von Vermögensfragen. (1) Die von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik abgegebene Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni 1990 zur Regelung offener Vermögensfragen (Anlage III) ist Bestandteil dieses Vertrages. (2) Nach Maßgabe besonderer gesetzlicher Regelung findet eine Rückübertragung von Eigentumsrechten an Grundstücken oder Gebäuden nicht statt, wenn das betroffene Grundstück oder Gebäude für dringende, näher festzulegende Investitionszwecke benötigt wird, insbesondere der Errichtung einer gewerblichen Betriebsstätte dient und die Verwirklichung dieser Investitionsentscheidung volkswirtschaftlich förderungswürdig ist, vor allem Arbeitsplätze schafft oder sichert. Der Investor hat einen die wesentlichen Merkmale des Vorhabens aufzeigenden Plan vorzulegen und sich zur Durchführung des Vorhabens auf dieser Basis zu verpflichten. In dem Gesetz ist auch die Entschädigung des früheren Eigentümers zu regeln. (3) Im übrigen wird die Bundesrepublik Deutschland keine Rechtsvorschriften erlassen, die der in Absatz 1 genannten Gemeinsamen Erklärung widersprechen. Art. 42 Entsendung von Abgeordneten. (1) Vor dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik wählt die Volkskammer auf der Grundlage ihrer Zusam74

11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 mensetzung 144 Abgeordnete zur Entsendung in den 11. Deutschen Bundestag sowie eine ausreichende Anzahl von Ersatzpersonen. Entsprechende Vorschläge machen die in der Volkskammer vertretenen Fraktionen und Gruppen. (2) Die Gewählten erwerben die Mitgliedschaft im 11. Deutschen Bundestag aufgrund der Annahmeerklärung gegenüber dem Präsidenten der Volkskammer, jedoch erst mit Wirksamwerden des Beitritts. Der Präsident der Volkskammer übermittelt das Ergebnis der Wahl unter Beifügung der Annahmeerklärung unverzüglich dem Präsidenten des Deutschen Bundestages. (3) Für die Wählbarkeit und den Verlust der Mitgliedschaft im 11. Deutschen Bundestag gelten im übrigen die Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. September 1975 (BGBl. I S. 2325), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. August 1990 (BGBl. II S. 813). Scheidet ein Mitglied aus, so rückt die nächste Ersatzperson nach. Sie muß derselben Partei angehören wie das ausgeschiedene Mitglied zur Zeit seiner Wahl. Die Feststellung, wer als Ersatzperson nachrückt, trifft vor Wirksamwerden des Beitritts der Präsident der Volkskammer, danach der Präsident des Deutschen Bundestages. Art. 43 Übergangsvorschrift für den Bundesrat bis zur Bildung von Landesregierungen. Von der Bildung der in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder bis zur Wahl des Ministerpräsidenten kann der Landesbevollmächtigte an den Sitzungen des Bundesrates mit beratender Stimme teilnehmen. Art. 44 Rechtswahrung. Rechte aus diesem Vertrag zugunsten der Deutschen Demokratischen Republik oder der in Artikel 1 genannten Länder können nach Wirksamwerden des Beitritts von jedem dieser Länder geltend gemacht werden. Art. 45 Inkrafttreten des Vertrags. (1) Dieser Vertrag einschließlich des anliegenden Protokolls und der Anlagen I bis III tritt an dem Tag in Kraft, an dem die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik einander mitgeteilt haben, daß die erforderlichen innerstaatlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten erfüllt sind. (2) Der Vertrag bleibt nach Wirksamwerden des Beitritts als Bundesrecht geltendes Recht. Geschehen zu Berlin am 31. August 1990 in zwei Urschriften in deutscher Sprache. Für die Bundesrepublik Deutschland Wolfgang Schäuble

Für die Deutsche Demokratische Republik Günther Krause

Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 889.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen

Protokoll - Auszug Bei Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands wurden mit Bezug auf diesen Vertrag folgende Klarstellungen getroffen: I. Zu den Artikeln und Anlagen des Vertrags 1. Zu Artikel 1: (1) Die Grenzen des Landes Berlin werden durch das Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin vom 27. April 1920 (Pr.GS 190 S. 123) bestimmt mit der Maßgabe - daß der Protokollvermerk zu Artikel 1 der „Vereinbarung zwischen dem Senat und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. März 1988 über die Einbeziehung von weiteren Enklaven und anderen kleinen Gebieten in die Vereinbarung vom 20. Dezember 1971 über die Regelung der Fragen von Enklaven durch Gebietsaustausch" als auf alle Bezirke erstreckt gilt und im Verhältnis zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg fortwirkt; - daß alle Gebiete, in denen nach dem 7. Oktober 1949 eine Wahl zum Abgeordnetenhaus oder zur Stadtverordnetenversammlung von Berlin stattgefunden hat, Bestandteile der Bezirke von Berlin sind. (2) Die Länder Berlin und Brandenburg überprüfen und dokumentieren innerhalb eines Jahres den sich nach Absatz 1 ergebenden Grenzverlauf. 2. Zu Artikel 2 Abs. 1: Die Vertragsparteien stimmen darin überein, daß die Entscheidungen nach Satz 2 der Beschlußfassung der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes nach Wahl des ersten gesamtdeutschen Bundestages und nach Herstellung der vollen Mitwirkungsrechte der in Artikel 1 Abs. 1 dieses Vertrags genannten Länder vorbehalten bleiben. 3. Zu Artikel 2 Abs. 2: Die Vertragsparteien sind darüber einig, daß der Charakter des 3. Oktober 1990 als gesetzlicher Feiertag Handlungen nicht ausschließt, die bei Inkrafttreten des Vertrags bereits unaufhebbar festgelegt waren. 4. Zu Artikel 4 Nr. 5: Artikel 143 Absätze 1 und 2 haben nur zeitliche Bedeutung; sie sind deshalb keine Vorgabe für die künftige Gesetzgebung. 5. Zu Artikel 9 Abs. 5: Beide Vertragsparteien nehmen die Erklärung des Landes Berlin zur Kenntnis, daß das in Berlin (West) geltende Kirchensteuerrecht mit Wirkung vom 1. Januar 1991 auf den Teil Berlins erstreckt wird, in dem es bisher nicht galt. 6. Zu Artikel 13: Einrichtungen oder Teileinrichtungen, die bis zum Wirksamwerden des Beitritts Aufgaben erfüllt haben, die künftig nicht mehr von der öffentlichen Verwaltung wahrgenommen werden sollen, werden wie folgt abgewickelt: (1) Soweit ein Sachzusammenhang zu öffentlichen Aufgaben besteht, werden die Einrichtungen oder Teileinrichtungen von demjenigen abgewickelt, der Träger dieser öffentlichen

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11. Einigungsvertrag vom 31. August 1990 Aufgaben ist (Bund, Land, Länder gemeinsam). (2) in den sonstigen Fällen werden die Einrichtungen oder Teileinrichtungen vom Bund abgewickelt. In Zweifelsfállen kann von dem betroffenen Land oder vom Bund eine Stelle angerufen werden, die von Bund und Ländern gebildet wird.

17. Zu Anlage II Kapitel II Abschnitt III Nr. 2: Die Parteien haben Anspruch auf Chancengleichheit bei der Wahlvorbereitung und im Wahlwettbewerb. Geld oder geldwertes Vermögen, das den Parteien weder durch Mitgliedsbeiträge noch durch Spenden oder eine staatliche Wahlkampfkostenerstattung zugeflossen ist, insbesondere Vermögensgegenstände ehemaliger Blockparteien und der PDS in der Deutschen Demokratischen Republik, dürfen weder zur Wahlvorbereitung noch im Wahlkampf verwendet werden. Die Parteien sind verpflichtet, darüber eidesstattliche Erklärungen der Schatzmeister abzugeben und den Verzicht auf den Einsatz solcher Mittel durch Wirtschaftsprüfer zum 1. Dezember 1990 bestätigen zu lassen. Soweit sich Parteien in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Wahltag mit ehemaligen Blockparteien der Deutschen Demokratischen Republik zusammenschließen, haben sie zum Zeitpunkt ihrer Vereinigung über ihr Vermögen in der Weise Rechenschaft abzulegen, daß sie bis zum 1. November 1990 jeweils eine Schlußbilanz und eine Eröffnungsbilanz vorlegen, die den Kriterien von § 24 Abs. 4 des Parteiengesetzes entspricht. 18. Zu Anlage III: Beide Vertragsparteien stimmen darin überein, daß für die in den Sätzen 2 und 3 der Ziffer 6 geregelten Fälle auch eine Umsetzung nach Ziffer 7 der Gemeinsamen Erklärung vorgesehen werden kann. II. Protokollerklärung zum Vertrag Beide Vertragsparteien sind sich einig, daß die Festlegungen des Vertrags unbeschadet der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung noch bestehenden Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes sowie der noch ausstehenden Ergebnisse der Gespräche über die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit getroffen werden. Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 889.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen

1/12 Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 („2 + 4-Vertrag") Die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische Republik, die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika in dem Bewußtsein, daß ihre Völker seit 1945 miteinander in Frieden leben, eingedenk der jüngsten historischen Veränderungen in Europa, die es ermöglichen, die Spaltung des Kontinents zu überwinden, unter Berücksichtigung der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes und der entsprechenden Vereinbarungen und Beschlüsse der Vier Mächte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, entschlossen, in Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen, eingedenk der Prinzipien der in Helsinki unterzeichneten Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in Anerkennung, daß diese Prinzipien feste Grundlagen für den Aufbau einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in Europa geschaffen haben, entschlossen, die Sicherheitsinteressen eines jeden zu berücksichtigen, überzeugt von der Notwendigkeit, Gegensätze endgültig zu überwinden und die Zusammenarbeit in Europa fortzuentwickeln, in Bekräftigung ihrer Bereitschaft, die Sicherheit zu stärken, insbesondere durch wirksame Maßnahmen zur Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung; ihrer Bereitschaft, sich gegenseitig nicht als Gegner zu betrachten, sondern auf ein Verhältnis des Vertrauens und der Zusammenarbeit hinzuarbeiten sowie dementsprechend ihrer Bereitschaft, die Schaffung geeigneter institutioneller Vorkehrungen im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa positiv in Betracht zu ziehen, in Würdigung dessen, daß das deutsche Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, in der Überzeugung, daß die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa ist, mit dem Ziel, die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland zu vereinbaren, in Anerkennung dessen, daß dadurch und mit der Vereinigung Deutschlands als einem demokratischen und friedlichen Staat die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes ihre Bedeutung verlieren, vertreten durch ihre Außenminister, die entsprechend der Erklärung von Ottawa vom 13. Februar 1990 am 5. Mai 1990 in Bonn, am 22. Juni 1990 in Berlin, am 17. Juli 1990 in Paris unter Beteiligung des Außenministers der Republik Polen und am 12. September 1990 in Moskau zusammengetroffen sind sind wie folgt übereingekommen: Artikel 1 (1) Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen wer78

12. „2 + 4-Vertrag" vom 12. September 1990 den die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrages endgültig sein. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa. (2) Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag. (3) Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch nicht in Zukunft erheben. (4) Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik werden sicherstellen, daß die Verfassung des vereinten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind. Dies gilt dementsprechend für die Bestimmungen, die in der Präambel und in den Artikeln 23 Satz 2 und 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland niedergelegt sind. (5) Die Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Vereinigten Staaten von Amerika nehmen die entsprechenden Verpflichtungen und Erklärungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik förmlich entgegen und erklären, daß mit deren Verwirklichung der endgültige Charakter der Grenzen des vereinten Deutschland bestätigt wird. Artikel 2 Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärung, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Ubereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen. Artikel 3 (1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort. (2) Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat in vollem Einvernehmen mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik am 30. August 1990 in Wien bei den Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte in Europa folgende Erklärung abgegeben: „Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich, die Streitkräfte des vereinten Deutschland innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370000 Mann (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) zu reduzieren. Diese Reduzierung soll mit dem Inkrafttreten des ersten KSE-Vertrages beginnen. Im Rahmen dieser Gesamtobergrenze werden nicht mehr als 345 000 Mann den Land- und Luftstreitkräften angehören, die gemäß

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I. Völkerrechtliche Grundlagen vereinbartem Mandat allein Gegenstand der Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa sind. Die Bundesregierung sieht in ihrer Verpflichtung zur Reduzierung von Land- und Luftstreitkräften einen bedeutsamen deutschen Beitrag zur Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa. Sie geht davon aus, daß in Folgeverhandlungen auch die anderen Verhandlungsteilnehmer ihren Beitrag zur Festigung von Sicherheit und Stabilität in Europa, einschließlich Maßnahmen zur Begrenzung der Personalstärken, leisten werden." Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik hat sich dieser Erklärung ausdrücklich angeschlossen. (3) Die Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Vereinigten Staaten von Amerika nehmen diese Erklärungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Kenntnis. Artikel 4 (1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erklären, daß das vereinte Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in vertraglicher Form die Bedingungen und die Dauer des Aufenthalts der sowjetischen Streitkräfte auf dem Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins sowie die Abwicklung des Abzugs dieser Streitkräfte regeln werden, der bis zum Ende des Jahres 1994 im Zusammenhang mit der Verwirklichung der Verpflichtungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, auf die sich Absatz 2 des Artikels 3 dieses Vertrags bezieht, vollzogen sein wird. (2) Die Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika nehmen diese Erklärung zur Kenntnis. Artikel 5 (1) Bis zum Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins in Übereinstimmung mit Artikel 4 dieses Vertrags werden auf diesem Gebiet als Streitkräfte des vereinten Deutschland ausschließlich deutsche Verbände der Territorialverteidigung stationiert sein, die nicht in die Bündnisstrukturen integriert sind, denen deutsche Streitkräfte auf dem übrigen deutschen Territorium zugeordnet sind. Unbeschadet der Regelung in Absatz 2 dieses Artikels werden während dieses Zeitraums Streitkräfte anderer Staaten auf diesem Gebiet nicht stationiert oder irgendwelche andere militärische Tätigkeiten dort ausüben. (2) Für die Dauer des Aufenthalts sowjetischer Streitkräfte auf dem Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins werden auf deutschen Wunsch Streitkräfte der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika auf der Grundlage entsprechender vertraglicher Vereinbarungen zwischen der Regierung des vereinten Deutschland und den Regierungen der betreffenden Staaten in Berlin stationiert bleiben. Die Zahl aller nichtdeutschen in Berlin stationierten Streitkräfte und deren Ausrüstungsumfang werden nicht stärker sein als zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Vertrags. Neue Waffenkategorien werden von nichtdeutschen Streitkräften dort nicht eingeführt. Die Regierung des vereinten Deutschland wird mit den Regierungen der Staaten, die Streitkräfte in Berlin stationiert haben, Verträge zu gerech-

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12. „2 + 4-Vertrag" vom 12. September 1990 ten Bedingungen unter Berücksichtigung der zu den betreffenden Staaten bestehenden Beziehungen abschließen. (3) Nach dem Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. Darunter fallen nicht konventionelle Waffensysteme, die neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben können, die jedoch in diesem Teil Deutschlands für eine konventionelle Rolle ausgerüstet und nur dafür vorgesehen sind. Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt. Artikel 6 Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt. Artikel 7 (1) Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst. (2) Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten. Artikel 8 (1) Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation oder Annahme, die sobald wie möglich herbeigeführt werden soll. Die Ratifikation erfolgt auf deutscher Seite durch das vereinte Deutschland. Dieser Vertrag gilt daher für das vereinte Deutschland. (2) Die Ratifikations- oder Annahmeurkunden werden bei der Regierung des vereinten Deutschland hinterlegt. Diese unterrichtet die Regierungen der anderen vertragschließenden Seiten von der Hinterlegung jeder Ratifikations- oder Annahmeurkunde. Artikel 9 Dieser Vertrag tritt für das vereinte Deutschland, die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika am Tag der Hinterlegung der letzten Ratifikationsund Annahmeurkunde durch diese Staaten in Kraft. Artikel 10 Die Urschrift dieses Vertrags, dessen deutscher, englischer, französischer und russischer Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, wird bei der Regierung der Bundesrepublik Deutschland hinterlegt, die den Regierungen der anderen vertragschließenden Seiten beglaubigte Ausfertigung übermittelt. 81

I. Völkerrechtliche Grundlagen Zu Urkund dessen haben die unterzeichneten, hierzu gehörig Bevollmächtigten diesen Vertrag unterschrieben. Geschehen zu Moskau am 12. September 1990 Für die Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher

Für die Deutsche Demokratische Republik Lothar de Maìzière

Für die Französische Republik Roland Dumas

Für das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland Douglas Hurd

Für die Union der Sozialistischen Sowj etrepubliken Eduard Schewardnadse

Für die Vereinigten Staaten von Amerika James Baker

Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 1317.

1/13 Erklärung zur Aussetzung der Wirksamkeit der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten, abgegeben von den Außenministern Frankreichs, der Sowjetunion, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten am 1. Oktober 1990 in New York Die Regierungen der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika, vertreten durch ihre Außenminister, die am 1. Oktober 1990 in New York zusammengetroffen sind, unter Berücksichtigung des am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, der die Beendigung ihrer Rechte und Verantwortlichkeit in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes festlegt, erklären, daß die Wirksamkeit ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Vereinigung Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland ausgesetzt wird. Als Ergebnis werden die Wirksamkeit der entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken und die Tätigkeit aller entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte ab dem Zeitpunkt der Vereinigung Deutschlands ebenfalls ausgesetzt. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch ihren Außenminister, und die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, vertreten durch ihren Minister für Bildung und Wissenschaft, nehmen diese Erklärung zur Kenntnis. Für die Regierung der Französischen Republik Roland Dumas 82

Für die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika James Baker

14. Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 Für die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken E. Schewardnadse

Für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher

Für die Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland Douglas Hurd

Für die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik Hans-Joachim Meyer

Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 1331.

1/14 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. August 1970 (Moskauer Vertrag) a) Text des Vertrages Die Hohen Vertragschließenden Parteien IN DEM BESTREBEN, zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa und in der Welt beizutragen, IN DER ÜBERZEUGUNG, daß die friedliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten auf der Grundlage der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen den sehnlichen Wünschen der Völker und den allgemeinen Interessen des internationalen Friedens entspricht, IN WÜRDIGUNG der Tatsache, daß die früher von ihnen verwirklichten vereinbarten Maßnahmen, insbesondere der Abschluß des Abkommens vom 13. September 1955 über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, günstige Bedingungen für neue wichtige Schritte zur Weiterentwicklung und Festigung ihrer gegenseitigen Beziehungen geschaffen haben, IN DEM WUNSCHE, in vertraglicher Form ihrer Entschlossenheit zur Verbesserung und Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen ihnen Ausdruck zu verleihen, einschließlich der wirtschaftlichen Beziehungen sowie der wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Verbindungen, im Interesse beider Staaten, SIND wie folgt übereingekommen: Artikel 1 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken betrachten es als wichtiges Ziel ihrer Politik, den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und die Entspannung zu erreichen.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen Sie bekunden ihr Bestreben, die Normalisierung der Lage in Europa und die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen allen europäischen Staaten zu fördern und gehen dabei von der in diesem Raum bestehenden wirklichen Lage aus. Artikel 2 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden sich in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in Fragen der Gewährleistung der europäischen und der internationalen Sicherheit von den Zielen und Grundsätzen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, leiten lassen. Demgemäß werden sie ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und übernehmen die Verpflichtung, sich in Fragen, die die Sicherheit in Europa und die internationale Sicherheit berühren, sowie in ihren gegenseitigen Beziehungen gemäß Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten. Artikel 3 In Übereinstimmung mit den vorstehenden Zielen und Prinzipien stimmen die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Erkenntnis überein, daß der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet. - Sie verpflichten sich, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten; - sie erklären, daß sie keine Gebietsansprüche gegen irgend jemand haben und solche in Zukunft auch nicht erheben werden; - sie betrachten heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der OderNeiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Artikel 4 Dieser Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken berührt nicht die von ihnen früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen. Artikel 5 Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation und tritt am Tage des Austausches der Ratifikationsurkunden in Kraft, der in Bonn stattfinden soll. G E S C H E H E N ZU M o s k a u

am 12. August 1970 in zwei Urschriften, jede in deutscher und russischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist. Für die Bundesrepublik Deutschland Willy Brandt Walter Scheel

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Für die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken A. Kossygin A. Gromyko

15. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR (1990)

b) Brief zur deutschen Einheit Die Bundesregierung übergab anläßlich der Vertragsunterzeichnung im sowjetischen Außenministerium folgenden Brief: Sehr geehrter Herr Minister, im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken beehrt sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Genehmigen Sie, Herr Minister, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung. Walter Scheel Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1972, S. 353.

1/15 Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 9. November 1990 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Bewußtsein ihrer Verantwortung für die Erhaltung des Friedens in Europa und in der Welt, in dem Wunsch, mit der Vergangenheit endgültig abzuschließen und durch Verständigung und Versöhnung einen gewichtigen Beitrag zur Uberwindung der Trennung Europas zu leisten, überzeugt von der Notwendigkeit, ein neues, durch gemeinsame Werte vereintes Europa aufzubauen und eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung einschließlich stabiler Strukturen der Sicherheit zu schaffen, in der Uberzeugung, daß den Menschenrechten und Grundfreiheiten als Teil des gesamteuropäischen Erbes hohe Bedeutung zukommt und daß ihre Achtung wesentliche Voraussetzung für einen Fortschritt beim Aufbau dieser Friedensordnung ist, in Bekräftigung ihres Bekenntnisses zu den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und zu den Bestimmungen der Schlußakte von Helsinki vom 1. August 1975 sowie der nachfolgenden Dokumente der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, entschlossen, an die guten Traditionen ihrer jahrhundertelangen Geschichte anzuknüpfen, gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zur Grundlage ihrer Beziehungen 85

I. Völkerrechtliche Grundlagen zu machen und den historischen Herausforderungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend gerecht zu werden, gestützt auf die Grundlagen, die in den vergangenen Jahren durch die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland sowie der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken geschaffen wurden, erfüllt von dem Wunsch, die fruchtbare und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten auf allen Gebieten weiter zu entwickeln und zu vertiefen und ihrem Verhältnis zueinander im Interesse ihrer Völker und des Friedens in Europa eine neue Qualität zu verleihen, unter Berücksichtigung der Unterzeichnung des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, mit dem die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit geregelt wurden sind wie folgt übereingekommen: Artikel 1 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken lassen sich bei der Gestaltung ihrer Beziehungen von folgenden Grundsätzen leiten: Sie achten gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und ihre territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit. Sie stellen den Menschen mit seiner Würde und mit seinen Rechten, die Sorge für das Überleben der Menschheit und die Erhaltung der natürlichen Umwelt in den Mittelpunkt ihrer Politik. Sie bekräftigen das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei und ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu gestalten. Sie bekennen sich zu dem Grundsatz, daß jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, zuverlässig verhindert und der Frieden erhalten und gestaltet werden muß. Sie gewährleisten den Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in der Innen- und internationalen Politik und bekräftigen ihre Entschlossenheit, ihre vertraglichen Verpflichtungen gewissenhaft zu erfüllen. Sie bekennen sich dazu, das schöpferische Potential des Menschen und der modernen Gesellschaft für die Sicherung des Friedens und für die Mehrung des Wohlstands aller Völker zu nutzen. Artikel 2 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verpflichten sich, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten. Sie erklären, daß sie keine Gebietsansprüche gegen irgend jemand haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden. Sie betrachten heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrags verlaufen.

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15. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR (1990) Artikel 3 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bekräftigen, daß sie sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt enthalten werden, die gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit der anderen Seite gerichtet oder auf irgendeine andere Art und Weise mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen oder mit der KSZE-Schlußakte unvereinbar ist. Sie werden ihre Streitigkeiten ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und keine ihrer Waffen jemals anwenden, es sei denn zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung. Sie werden niemals und unter keinen Umständen als erste Streitkräfte gegeneinander oder gegen dritte Staaten einsetzen. Sie fordern alle anderen Staaten auf, sich dieser Verpflichtung zum Nichtangriff anzuschließen. Sollte eine der beiden Seiten zum Gegenstand eines Angriffs werden, so wird die andere Seite dem Angreifer keine militärische Hilfe oder sonstigen Beistand leisten und alle Maßnahmen ergreifen, um den Konflikt unter Anwendung der Grundsätze und Verfahren der Vereinten Nationen und anderer Strukturen kollektiver Sicherheit beizulegen. Artikel 4 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden darauf hinwirken, daß durch verbindliche, wirksam nachprüfbare Vereinbarungen Streitkräfte und Rüstungen wesentlich reduziert werden, so daß, zusammen mit einseitigen Maßnahmen, ein stabiles Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau insbesondere in Europa hergestellt wird, das zur Verteidigung, aber nicht zum Angriff ausreicht. Das gleiche gilt für einen multilateralen wie bilateralen Ausbau vertrauensbildender und stabilisierender Maßnahmen. Artikel 5 Beide Seiten werden den Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auf der Grundlage der Schlußakte von Helsinki vom 1. August 1975 nach Kräften unterstützen und unter Mitwirkung aller Teilnehmerstaaten weiter stärken und entwickeln, namentlich durch Schaffung ständiger Einrichtungen und Organe. Ziel dieser Bemühungen ist die Festigung von Frieden, Stabilität und Sicherheit und das Zusammenwachsen Europas zu einem einheitlichen Raum des Rechts, der Demokratie und der Zusammenarbeit im Bereich der Wirtschaft, der Kultur und der Information. Artikel 6 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sind übereingekommen, regelmäßige Konsultationen abzuhalten, um eine Weiterentwicklung und Vertiefung der bilateralen Beziehungen sicherzustellen und ihre Haltung zu internationalen Fragen abzustimmen. Konsultationen auf höchster politischer Ebene finden so oft wie erforderlich, mindestens jedoch einmal jährlich statt. Die Außenminister treffen mindestens zweimal im Jahr zusammen. Die Verteidigungsminister werden zu regelmäßigen Treffen zusammenkommen. 87

I. Völkerrechtliche Grundlagen Zwischen den zuständigen Fachministern beider Staaten finden nach Bedarf Zusammenkünfte zu beiderseitig interessierenden Themen statt. Die bereits existierenden gemeinsamen Kommissionen werden Möglichkeiten der Intensivierung ihrer Arbeit prüfen. Neue gemischte Kommissionen werden bei Bedarf nach gegenseitiger Absprache gegründet. Artikel 7 Falls eine Situation entsteht, die nach Meinung einer Seite eine Bedrohung für den Frieden oder eine Verletzung des Friedens darstellt oder gefahrliche internationale Verwicklungen hervorrufen kann, so werden beide Seiten unverzüglich miteinander Verbindung aufnehmen und bemüht sein, ihre Positionen abzustimmen und Einverständnis über Maßnahmen zu erzielen, die geeignet sind, die Lage zu verbessern oder zu bewältigen. Artikel 8 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sind sich darüber einig, ihre zweiseitige Zusammenarbeit, insbesondere auf wirtschaftlichem, industriellem und wissenschaftlich-technischem Gebiet und auf dem Gebiet des Umweltschutzes, wesentlich auszubauen und zu vertiefen, um die beiderseitigen Beziehungen auf einer stabilen und langfristigen Grundlage zu entwickeln und das Vertrauen zwischen beiden Staaten und Völkern zu stärken. Sie werden zu diesem Zweck einen umfassenden Vertrag über die Entwicklung der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik und, soweit erforderlich, besondere Vereinbarungen für einzelne Sachgebiete schließen. Beide Seiten messen der Zusammenarbeit in der Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften der Wirtschaft eine wichtige Bedeutung für die Ausgestaltung der bilateralen Beziehungen bei und sind bereit, sie wesentlich auszubauen und zu vertiefen. Artikel 9 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden die wirtschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen weiter ausbauen und vertiefen. Sie werden für Bürger, Unternehmen und staatliche sowie nichtstaatliche Einrichtungen der jeweils anderen Seite die günstigsten Rahmenbedingungen für unternehmerische und sonstige wirtschaftliche Tätigkeit schaffen, die nach ihrer innerstaatlichen Gesetzgebung und ihren Verpflichtungen aus internationalen Verträgen möglich sind. Das gilt insbesondere für die Behandlung von Kapitalanlagen und Investoren. Beide Seiten werden die für die wirtschaftliche Zusammenarbeit notwendigen Initiativen der unmittelbar Interessierten fördern, insbesondere mit dem Ziel, die Möglichkeiten der geschlossenen Verträge und vereinbarten Programme voll auszuschöpfen. Artikel 10 Beide Seiten werden auf der Grundlage des Abkommens vom 22. Juli 1986 über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit den Austausch auf diesem Gebiet weiter entwickeln und gemeinsame Vorhaben durchführen. Sie wollen die Leistungen moderner Wissenschaft und Technik im Interesse der Menschen, ihrer Gesundheit und ihres Wohlstands nutzen. Sie

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15. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR (1990) fördern und unterstützen gleichgerichtete Initiativen der Forscher und Forschungseinrichtungen in diesem Bereich. Artikel 11 In der Überzeugung, daß die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen für eine gedeihliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung unverzichtbar ist, bekräftigen beide Seiten ihre Entschlossenheit, die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes auf der Grundlage des Abkommens vom 25. Oktober 1988 fortzuführen und zu intensivieren. Sie wollen wichtige Probleme des Umweltschutzes gemeinsam lösen, schädliche Einwirkungen auf die Umwelt untersuchen und Maßnahmen zu ihrer Verhütung entwickeln. Sie beteiligen sich an der Entwicklung abgestimmter Strategien und Konzepte einer Staatsgrenzen überschreitenden Umweltpolitik im internationalen, insbesondere europäischen Rahmen. Artikel 12 Beide Seiten streben eine Erweiterung der Transportverbindungen (Luft-, Eisenbahn-, See-, Binnenschiffahrts- und Straßenverkehr) zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken unter Nutzung modernster Technologien an. Artikel 13 Beide Seiten werden sich bemühen, das Visumsverfahren für Reisen von Bürgern beider Länder, in erster Linie zu geschäftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Zwecken und zu Zwecken der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, auf der Grundlage der Gegenseitigkeit erheblich zu vereinfachen. Artikel 14 Beide Seiten unterstützen die umfassende Begegnung der Menschen aus beiden Ländern und den Ausbau der Zusammenarbeit von Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen, Schulen, Hochschulen, Sportorganisationen, Kirchen und sozialen Einrichtungen, Frauen-, Umweltschutz· und sonstigen gesellschaftlichen Organisationen und Verbänden. Besondere Aufmerksamkeit wird der Vertiefung der Kontakte zwischen den Parlamenten beider Staaten gewidmet. Sie begrüßen die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, Regionen, Bundesländern und Unionsrepubliken. Eine bedeutende Rolle kommt dem deutsch-sowjetischen Gesprächsforum sowie der Zusammenarbeit der Medien zu. Beide Seiten werden es allen Jugendlichen und ihren Organisationen erleichtern, an Austausch, Begegnungen und gemeinsamen Vorhaben teilzunehmen. Artikel 15 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden im Bewußtsein der jahrhundertelangen gegenseitigen Bereicherung der Kulturen ihrer Völker und deren unverwechselbaren Beitrag zum gemeinsamen kulturellen Erbe Euro89

I. Völkerrechtliche Grundlagen pas sowie der Bedeutung des kulturellen Austausches für die gegenseitige Verständigung der Völker ihre kulturelle Zusammenarbeit wesentlich ausbauen. Beide Seiten werden das Abkommen über die Errichtung und die Tätigkeit von Kulturzentren mit Leben erfüllen und voll ausschöpfen. Beide Seiten bekräftigen ihre Bereitschaft, allen interessierten Personen umfassenden Zugang zu Sprachen und Kultur der anderen Seite zu ermöglichen und fördern staatliche und private Initiativen. Beide setzen sich nachdrücklich dafür ein, die Möglichkeiten auszubauen, in Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen die Sprache des anderen Landes zu erlernen und dazu der jeweils anderen Seite bei der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften zu helfen sowie Lehrmittel, einschließlich des Einsatzes von Fernsehen, Hörfunk, Audio-, Videound Computertechnik, zur Verfügung zu stellen. Sie werden Initiativen zur Errichtung zweisprachiger Schulen unterstützen. Sowjetischen Bürgern deutscher Nationalität sowie aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stammenden und ständig in der Bundesrepublik Deutschland wohnenden Bürgern, die ihre Sprache, Kultur oder Tradition bewahren wollen, wird es ermöglicht, ihre nationale, sprachliche und kulturelle Identität zu entfalten. Dementsprechend ermöglichen und erleichtern sie im Rahmen der geltenden Gesetze der anderen Seite Förderungsmaßnahmen zugunsten dieser Personen oder ihrer Organisationen. Artikel 16 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden sich für die Erhaltung der in ihrem Gebiet befindlichen Kulturgüter der anderen Seite einsetzen. Sie stimmen darin überein, daß verschollene oder unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze, die sich auf ihrem Territorium befinden, an den Eigentümer oder seinen Rechtsnachfolger zurückgegeben werden. Artikel 17 Beide Seiten unterstreichen die besondere Bedeutung der humanitären Zusammenarbeit in ihren bilateralen Beziehungen. Sie werden diese Zusammenarbeit auch unter Einbeziehung der karitativen Organisationen beider Seiten verstärken. Artikel 18 Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, daß die auf deutschem Boden errichteten Denkmäler, die den sowjetischen Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft gewidmet sind, geachtet werden und unter dem Schutz deutscher Gesetze stehen. Das gleiche gilt für die sowjetischen Kriegsgräber, sie werden erhalten und gepflegt. Die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gewährleistet den Zugang zu Gräbern von Deutschen auf sowjetischem Gebiet, ihre Erhaltung und Pflege. Die zuständigen Organisationen beider Seiten werden ihre Zusammenarbeit in diesen Bereichen verstärken. Artikel 19 Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden den Rechtshilfeverkehr in Zivilrechts- und Familienrechtssachen auf der Grundlage

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15. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR (1990) des zwischen ihnen geltenden Haager Übereinkommens über den Zivilprozeß intensivieren. Beide Seiten werden unter Berücksichtigung ihrer Rechtsordnungen und im Einklang mit dem Völkerrecht den Rechtshilfeverkehr in Strafsachen zwischen beiden Staaten weiterentwickeln. Die zuständigen Behörden der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden zusammenwirken bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, des Terrorismus, der Rauschgiftkriminalität, der rechtswidrigen Eingriffe in die Zivilluftfahrt und in die Seeschiffahrt, der Herstellung oder Verbreitung von Falschgeld, des Schmuggels, einschließlich der illegalen Verschiebung von Kunstgegenständen über die Grenzen. Verfahren und Bedingungen für das Zusammenwirken beider Seiten werden gesondert vereinbart. Artikel 20 Die beiden Regierungen werden unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen und der beiderseits bestehenden Zusammenarbeit mit anderen Ländern ihre Zusammenarbeit im Rahmen der internationalen Organisationen verstärken. Sie werden einander behilflich sein, die Zusammenarbeit mit internationalen, insbesondere europäischen Organisationen und Institutionen zu entwickeln, denen eine Seite als Mitglied angehört, falls die andere Seite ein entsprechendes Interesse bekundet. Artikel 21 Dieser Vertrag berührt nicht die Rechte und Verpflichtungen aus geltenden zweiseitigen und mehrseitigen Übereinkünften, die von beiden Seiten mit anderen Staaten geschlossen wurden. Dieser Vertrag richtet sich gegen niemanden, beide Seiten betrachten ihre Zusammenarbeit als einen Bestandteil und ein dynamisches Element der Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses. Artikel 22 Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation; die Ratifikationsurkunden werden so bald wie möglich in Moskau ausgetauscht. Dieser Vertrag tritt am Tage des Austausche der Ratifikationsurkunden in Kraft. Dieser Vertrag gilt für die Dauer von zwanzig Jahren. Danach verlängert er sich stillschweigend um jeweils weitere fünf Jahre, sofern nicht einer der Vertragsstaaten den Vertrag unter Einhaltung einer Frist von einem Jahr vor Ablauf der jeweiligen Geltungsdauer schriftlich kündigt. Geschehen zu Bonn am 9. November 1990 in zwei Urschriften, jede in deutscher und russischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist. Für die Bundesrepublik Deutschland Dr. H e l m u t K o h l Für die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken M i c h a i l S. G o r b a t s c h o w Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1991, S. 702. 91

I. Völkerrechtliche Grundlagen

1/16 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 (Warschauer Vertrag)

Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen IN DER ERWÄGUNG, daß mehr als 25 Jahre seit Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen sind, dessen erstes Opfer Polen wurde und der über die Völker Europas schweres Leid gebracht hat, E I N G E D E N K DESSEN, daß in beiden Ländern inzwischen eine neue Generation herangewachsen ist, der eine friedliche Zukunft gesichert werden soll, IN DEM W U N S C H E , dauerhafte Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben und die Entwicklung normaler und guter Beziehungen zwischen ihnen zu schaffen, IN D E M BESTREBEN, den Frieden und die Sicherheit in Europa zu festigen, IN DEM BEWUSSTSEIN, daß die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen eine grundlegende Bedingung für den Frieden sind, SIND wie folgt übereingekommen: Artikel I (1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen stellen übereinstimmend fest, daß die bestehende Grenzlinie, deren Verlauf im Kapitel IX der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der Lausitzer Neiße und die Lausitzer Neiße entlang bis zur Grenze mit der Tschechoslowakei festgelegt worden ist, die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet. (2) Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität. (3) Sie erklären, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden. Artikel II (1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen werden sich in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in Fragen der Gewährleistung der Sicherheit in Europa und in der Welt von den Zielen und Grundsätzen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, leiten lassen.

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16. Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 (2) Demgemäß werden sie entsprechend den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen alle ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich in Fragen, die die europäische und internationale Sicherheit berühren, sowie in ihren gegenseitigen Beziehungen der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten. Artikel III (1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen werden weitere Schritte zur vollen Normalisierung und umfassenden Entwicklung ihrer gegenseitigen Beziehungen unternehmen, deren feste Grundlage dieser Vertrag bildet. (2) Sie stimmen darin überein, daß eine Erweiterung ihrer Zusammenarbeit im Bereich der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, wissenschaftlich-technischen, kulturellen und sonstigen Beziehungen in ihrem beiderseitigen Interesse liegt. Artikel IV Dieser Vertrag berührt nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen. Artikel V Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation und tritt am Tage des Austausches der Ratifikationsurkunden in Kraft, der in Bonn stattfinden soll. ZU U R K U N D DESSEN haben die Bevollmächtigten der Vertragsparteien diesen Vertrag unterschrieben. G E S C H E H E N zu Warschau am 7. Dezember 1970 in zwei Urschriften, jede in deutscher und polnischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist. Für die Bundesrepublik Deutschland

Für die Volksrepublik Polen

Willy Brandt Walter Scheel

J. Cyrankiewicz S. Jedrychowski

Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1972, S. 362.

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I. Völkerrechtliche Grundlagen

1/17 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November 1990 - Auszüge Die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen IN DEM BESTREBEN, ihre gegenseitigen Beziehungen in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen, und mit der in Helsinki unterzeichneten Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sowie den Dokumenten der Folgekonferenzen zukunftsgewandt zu gestalten, ENTSCHLOSSEN, gemeinsam einen Beitrag zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben und umfassende Zusammenarbeit zum Wohle aller sowie dauerhaften Frieden, Freiheit und Stabilität gewährleistet, IN DER T I E F E N Ü B E R Z E U G U N G , daß die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu der Friedensordnung in Europa ist, U N T E R B E R Ü C K S I C H T I G U N G des am 12. September 1990 unterzeichneten Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, E I N G E D E N K dessen, daß seit Ende des Zweiten Weltkriegs 45 Jahre vergangen sind, und im Bewußtsein, daß das schwere Leid, das dieser Krieg mit sich gebracht hat, insbesondere auch der von zahlreichen Deutschen und Polen erlittene Verlust ihrer Heimat durch Vertreibung oder Aussiedlung, eine Mahnung und Herausforderung zur Gestaltung friedlicher Beziehungen zwischen den beiden Völkern und Staaten darstellt, IN D E M W U N S C H , durch die Entwicklung ihrer Beziehungen feste Grundlagen für ein freundschaftliches Zusammenleben zu schaffen und die Politik der dauerhaften Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen fortzusetzen SIND wie folgt Ü B E R E I N G E K O M M E N : Artikel 1 Die Vertragsparteien bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze, deren Verlauf sie nach dem Abkommen vom 6. Juli 1950 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Republik Polen über die Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze und den zu seiner Durchführung und Ergänzung geschlossenen Vereinbarungen (Akt vom 27. Januar 1951 über die Ausführung der Markierung der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen; Vertrag vom 22. Mai 1989 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen über die Abgrenzung der Seegebiete in der Oderbucht) sowie dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen bestimmt. Artikel 2 Die Vertragsparteien erklären, daß die zwischen ihnen bestehende Grenze jetzt und in Zukunft unverletzlich ist und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer Souveränität und territorialen Integrität. Artikel 3 Die Vertragsparteien erklären, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden. 94

18. Deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen Artikel 4 (1) Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation; die Ratifikationsurkunden werden so bald wie möglich in Bonn ausgetauscht. (2) Dieser Vertrag tritt am Tage des Austausches der Ratifikationsurkunden in Kraft. Zu Urkund dessen haben die Vertreter der Vertragsparteien diesen Vertrag unterzeichnet und mit Siegeln versehen. G E S C H E H E N zu Warschau am 14. November 1990 in zwei Urschriften, jede in deutscher und polnischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist. Quelle: Bundesgesetzblatt, Teil II, 1991, S. 1328.

1/18 Deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung vom 21. Januar 1997 Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik eingedenk des Vertrags vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, mit dem Deutsche und Tschechen einander die Hand gereicht haben, in Würdigung der langen Geschichte fruchtbaren und friedlichen Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen, in deren Verlauf ein reiches kulturelles Erbe geschaffen wurde, das bis heute fortwirkt, in der Überzeugung, daß zugefügtes Unrecht nicht ungeschehen gemacht, sondern allenfalls gemildert werden kann, und daß dabei kein neues Unrecht entstehen darf, im Bewußtsein, daß die Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme der Tschechischen Republik in die Europäische Union und die Nordatlantische Allianz nachdrücklich und aus der Überzeugung heraus unterstützt, daß dies im gemeinsamen Interesse liegt, im Bekenntnis zu Vertrauen und Offenheit in den beiderseitigen Beziehungen als Voraussetzung für dauerhafte und zukunftsgerichtete Versöhnung erklären gemeinsam: I Beide Seiten sind sich ihrer Verpflichtung und Verantwortung bewußt, die deutsch-tschechischen Beziehungen im Geiste guter Nachbarschaft und Partnerschaft weiter zu entwickeln und damit zur Gestaltung des zusammenwachsenden Europa beizutragen. Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechische Republik teilen heute gemeinsame demokratische Werte, achten die Menschenrechte, die Grundfreiheiten und die Normen des 95

I. Völkerrechtliche Grundlagen Völkerrechts und sind den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und einer Politik des Friedens verpflichtet. Auf dieser Grundlage sind sie entschlossen, auf allen für die beiderseitigen Beziehungen wichtigen Gebieten freundschaftlich und eng zusammenzuarbeiten. Beide Seiten sind sich zugleich bewußt, daß der gemeinsame Weg in die Zukunft ein klares Wort zur Vergangenheit erfordert, wobei Ursache und Wirkung in der Abfolge der Geschehnisse nicht verkannt werden dürfen. II Die deutsche Seite bekennt sich zur Verantwortung Deutschlands für seine Rolle in einer historischen Entwicklung, die zum Münchner Abkommen von 1938, der Flucht und Vertreibung von Menschen aus dem tschechoslowakischen Grenzgebiet sowie zur Zerschlagung und Besetzung der Tschechoslowakischen Republik geführt hat. Sie bedauert das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist. Die deutsche Seite würdigt die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und diejenigen, die dieser Gewaltherrschaft Widerstand geleistet haben. Die deutsche Seite ist sich auch bewußt, daß die nationalsozialistische Gewaltpolitik gegenüber dem tschechischen Volk dazu beigetragen hat, den Boden für Flucht, Vertreibung und zwangsweise Aussiedlung nach Kriegsende zu bereiten. III Die tschechische Seite bedauert, daß durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung. Sie bedauert insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber hinaus, daß es aufgrund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und daß infolge dessen diese Taten nicht bestraft wurden. IV Beide Seiten stimmen darin überein, daß das begangene Unrecht der Vergangenheit angehört und werden daher ihre Beziehungen auf die Zukunft ausrichten. Gerade deshalb, weil sie sich der tragischen Kapitel ihrer Geschichte bewußt bleiben, sind sie entschlossen, in der Gestaltung ihrer Beziehungen weiterhin der Verständigung und dem gegenseitigen Einvernehmen Vorrang einzuräumen, wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat. Beide Seiten erklären deshalb, daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden. V Beide Seiten bekräftigen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 20 und 21 des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Februar 1992, in denen 96

18. Deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen die Rechte der Angehörigen der deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik und von Personen tschechischer Abstammung in der Bundesrepublik Deutschland im einzelnen niedergelegt sind. Beide Seiten sind sich bewußt, daß diese Minderheit und diese Personen in den beiderseitigen Beziehungen eine wichtige Rolle spielen und stellen fest, daß deren Förderung auch weiterhin im beiderseitigen Interesse liegt. VI Beide Seiten sind überzeugt, daß der Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union und die Freizügigkeit in diesem Raum das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen weiter erleichtern wird. In diesem Zusammenhang geben sie ihrer Genugtuung Ausdruck, daß aufgrund des Europaabkommens über die Assoziation zwischen der Tschechischen Republik und den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten wesentliche Fortschritte auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einschließlich der Möglichkeiten selbständiger Erwerbstätigkeit und unternehmerischer Tätigkeit gemäß Artikel 45 dieses Abkommens erreicht worden sind. Beide Seiten sind bereit, im Rahmen ihrer geltenden Rechtsvorschriften bei der Prüfung von Anträgen auf Aufenthalt und Zugang zum Arbeitsmarkt humanitäre und andere Belange, insbesondere verwandtschaftliche Beziehungen und familiäre und weitere Bindungen, besonders zu berücksichtigen. VII Beide Seiten werden einen deutsch-tschechischen Zukunftsfonds errichten. Die deutsche Seite erklärt sich bereit, für diesen Fonds den Betrag von 140 Millionen D M zur Verfügung zu stellen. Die tschechische Seite erklärt sich bereit, ihrerseits für diesen Fonds den Betrag von 440 Millionen Kc zur Verfügung zu stellen. Über die gemeinsame Verwaltung dieses Fonds werden beide Seiten eine gesonderte Vereinbarung treffen. Dieser gemeinsame Fonds wird der Finanzierung von Projekten gemeinsamen Interesses dienen (wie Jugendbegegnung, Altenfürsorge, Sanatorienbau und -betrieb, Pflege und Renovierung von Baudenkmälern und Grabstätten, Minderheitenforderung, Partnerschaftsprojekte, deutsch-tschechische Gesprächsforen, gemeinsame wissenschaftliche und ökologische Projekte, Sprachunterricht, grenzüberschreitende Zusammenarbeit). Die deutsche Seite bekennt sich zu ihrer Verpflichtung und Verantwortung gegenüber all jenen, die Opfer nationalsozialistischer Gewalt geworden sind. Daher sollen die hierfür in Frage kommenden Projekte insbesondere Opfern nationalsozialistischer Gewalt zugute kommen. VIII Beide Seiten stimmen darin überein, daß die historische Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Erforschung bedarf und treten daher für die Fortführung der bisherigen erfolgreichen Arbeit der deutsch-tschechischen Historikerkommission ein. 97

I. Völkerrechtliche Grundlagen Beide Seiten sehen zugleich in der Erhaltung und Pflege des kulturellen Erbes, das Deutsche und Tschechen verbindet, einen wichtigen Beitrag zum Brückenschlag in die Zukunft. Beide Seiten vereinbaren die Einrichtung eines deutsch-tschechischen Gesprächsforums, das insbesondere aus den Mitteln des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds gefördert wird und in dem unter der Schirmherrschaft beider Regierungen und Beteiligung aller an einer engen und guten deutsch-tschechischen Partnerschaft interessierten Kreise der deutsch-tschechische Dialog gepflegt werden soll. Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1997, Nr. 11, S. lOlff.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente

II/l Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Vom 23. Mai 1949 (BGBl. I S. 1, zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Juli 2002 (BGBl. I Nr. 53 S. 2863) - Auszüge Der Parlamentarische Rat hat am 23. Mai 1949 in Bonn am Rhein in öffentlicher Sitzung festgestellt, daß das am 8. Mai des Jahres 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossene Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der Woche vom 16.-22. Mai 1949 durch die Volksvertretungen von mehr als Zweidritteln der beteiligten deutschen Länder angenommen worden ist. Auf Grund dieser Feststellung hat der Parlamentarische Rat, vertreten durch seinen Präsidenten, das Grundgesetz ausgefertigt und verkündet. Das Grundgesetz wird hiermit gemäß Artikel 145 Absatz 3 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht: Präambel Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk. I. Die Grundrechte Art. 1 [Schutz der Menschenwürde]. (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Art. 2 [Allgemeines Persönlichkeitsrecht|. (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Art. 3 [Gleichheit vor dem Gesetz]. (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Art. 4 [Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, Kriegsdienstverweigerung]. (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Art. 5 [Recht der freien Meinungsäußerung], (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Art. 6 [Ehe, Familie, nichteheliche Kinder], (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 7 [Schulwesen]. (1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. (2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. (4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. (5) Eine private Volksschule ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht. (6) Vorschulen bleiben aufgehoben. Art. 8 [Versammlungsfreiheit]. (1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Art. 9 [Vereinigungsfreiheit]. (1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. (3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden. Art. 10 [Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis]. (1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. (2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Be101

II. Verfassungsrechtliche Dokumente standes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt. Art. 11 [Freizügigkeit]. (1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. (2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist. Art. 12 [Berufsfreiheit]. (1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. (2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig. Art. 12a [Dienstverpflichtungen]. (1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden. (2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht. (3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen. (4) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitätsund Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstlei stungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung. (6) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend. Art. 13 [Unverletzlichkeit der Wohnung]. (1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. (3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden. (4) Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. (5) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr und nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. (6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle. (7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Art. 14 (Eigentum, Erbrecht und Enteignung). (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen. Art. 15 [Sozialisierung]. Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend. Art. 16 [Staatsangehörigkeit, Auslieferung], (1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. (2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Art. 16a [Asylrecht). (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden. (3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. (4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen. Art. 17 [Petitionsrecht|. Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Art. 17a [Einschränkung von Grundrechten bei Soldaten). (1) Gesetze über Wehrdienst und Ersatzdienst können bestimmen, daß für die Angehörigen der Streitkräfte und des Ersatzdienstes während der Zeit des Wehr- oder Ersatzdienstes das Grundrecht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz), das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Artikel 8) und das Petitionsrecht (Artikel 17), soweit es das Recht gewährt, Bitten oder Beschwerden in Gemeinschaft mit anderen vorzubringen, eingeschränkt werden. (2) Gesetze, die der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung dienen, können bestimmen, daß die Grundrechte der Freizügigkeit (Artikel 11) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13) eingeschränkt werden. Art. 18 [Verwirkung von Grundrechten). Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen. Art. 19 (Einschränkung von Grundrechten). (1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. (2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. (3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. (4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt. II. Der Bund und die Länder Art. 20 (Bundesstaatliche Verfassung; Widerstandsrecht). ( 1 ) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Art. 20a [Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen]. Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Art. 21 [Parteien], (1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. (2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht. (3) Das Nähere regeln Bundesgesetze. Art. 22 [Bundesflagge]. Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold. Art. 23 [Europäische Union]. (1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3. (2) In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. (3) Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz. (4) Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären. 106

1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (5) Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich. (6) Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. (7) Das Nähere zu den Absätzen 4 bis 6 regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Art. 24 [Zwischenstaatliche Einrichtungen]. (1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. (la) Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen. (2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern. (3) Zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird der Bund Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten. Art. 25 [Völkerrecht Bestandteil des Bundesrechts]. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes. Art. 26 [Verbot des Angriffskrieges]. (1) Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen. (2) Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Art. 27 [Handelsflotte],...

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Art. 28 (Bundesgarantie für die Landesverfassungen, Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung]. (1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten. (2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle. (3) Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht. Art. 29 [Neugliederung des Bundesgebietes]. (1) Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, daß die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Dabei sind die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung zu berücksichtigen. (2) Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes ergehen durch Bundesgesetz, das der Bestätigung durch Volksentscheid bedarf. Die betroffenen Länder sind zu hören. (3) Der Volksentscheid findet in den Ländern statt, aus deren Gebieten oder Gebietsteilen ein neues oder neu umgrenztes Land gebildet werden soll (betroffene Länder). Abzustimmen ist über die Frage, ob die betroffenen Länder wie bisher bestehenbleiben sollen oder ob das neue oder neu umgrenzte Land gebildet werden soll. Der Volksentscheid für die Bildung eines neuen oder neu umgrenzten Landes kommt zustande, wenn in dessen künftigem Gebiet und insgesamt in den Gebieten oder Gebietsteilen eines betroffenen Landes, deren Landeszugehörigkeit im gleichen Sinne geändert werden soll, jeweils eine Mehrheit der Änderung zustimmt. Er kommt nicht zustande, wenn im Gebiet eines der betroffenen Länder eine Mehrheit die Änderung ablehnt; die Ablehnung ist jedoch unbeachtlich, wenn in einem Gebietsteil, dessen Zugehörigkeit zu dem betroffenen Land geändert werden soll, eine Mehrheit von zwei Dritteln der Änderung zustimmt, es sei denn, daß im Gesamtgebiet des betroffenen Landes eine Mehrheit von zwei Dritteln die Änderung ablehnt. (4) Wird in einem zusammenhängenden, abgegrenzten Siedlungs- und Wirtschaftsraum, dessen Teile in mehreren Ländern liegen und der mindestens eine Million Einwohner hat, von einem Zehntel der in ihm zum Bundestag Wahlberechtigten durch Volksbegehren gefordert, daß für diesen Raum eine einheitliche Landeszugehörigkeit herbeigeführt werde, so ist durch Bundesgesetz innerhalb von zwei Jahren entweder zu bestimmen, ob die Landeszugehörigkeit gemäß Absatz 2 geändert wird, oder daß in den betroffenen Ländern eine Volksbefragung stattfindet.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (5) Die Volksbefragung ist darauf gerichtet festzustellen, ob eine in dem Gesetz vorzuschlagende Änderung der Landeszugehörigkeit Zustimmung findet. Das Gesetz kann verschiedene, jedoch nicht mehr als zwei Vorschläge der Volksbefragung vorlegen. Stimmt eine Mehrheit einer vorgeschlagenen Änderung der Landeszugehörigkeit zu, so ist durch Bundesgesetz innerhalb von zwei Jahren zu bestimmen, ob die Landeszugehörigkeit gemäß Absatz 2 geändert wird. Findet ein der Volksbefragung vorgelegter Vorschlag eine den Maßgaben des Absatzes 3 Satz 3 und 4 entsprechende Zustimmung, so ist innerhalb von zwei Jahren nach der Durchführung der Volksbefragung ein Bundesgesetz zur Bildung des vorgeschlagenen Landes zu erlassen, das der Bestätigung durch Volksentscheid nicht mehr bedarf. (6) Mehrheit im Volksentscheid und in der Volksbefragung ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wenn sie mindestens ein Viertel der zum Bundestag Wahlberechtigten umfaßt. Im übrigen wird das Nähere über Volksentscheid, Volksbegehren und Volksbefragung durch ein Bundesgesetz geregelt; dieses kann auch vorsehen, daß Volksbegehren innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren nicht wiederholt werden können. (7) Sonstige Änderungen des Gebietsbestandes der Länder können durch Staatsverträge der beteiligten Länder oder durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates erfolgen, wenn das Gebiet, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden soll, nicht mehr als 50 000 Einwohner hat. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages bedarf. Es muß die Anhörung der betroffenen Gemeinden und Kreise vorsehen. (8) Die Länder können eine Neugliederung für das jeweils von ihnen umfaßte Gebiet oder für Teilgebiete abweichend von den Vorschriften der Absätze 2 bis 7 durch Staatsvertrag regeln. Die betroffenen Gemeinden und Kreise sind zu hören. Der Staatsvertrag bedarf der Bestätigung durch Volksentscheid in jedem beteiligten Land. Betrifft der Staatsvertrag Teilgebiete der Länder, kann die Bestätigung auf Volksentscheide in diesen Teilgebieten beschränkt werden; Satz 5 zweiter Halbsatz findet keine Anwendung. Bei einem Volksentscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wenn sie mindestens ein Viertel der zum Bundestag Wahlberechtigten umfaßt; das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Der Staatsvertrag bedarf der Zustimmung des Bundestages. Art. 30 (Funktionen der Länder]. Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt. Art. 31 [Vorrang des Bundesrechts]. Bundesrecht bricht Landesrecht. Art. 32 (Auswärtige Beziehungen]. (1) Die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten ist Sache des Bundes. (2) Vor dem Abschlüsse eines Vertrages, der die besonderen Verhältnisse eines Landes berührt, ist das Land rechtzeitig zu hören. (3) Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung mit auswärtigen Staaten Verträge abschließen. Art. 33 (Staatsbürgerliche Rechte). (1) Jeder Deutsche hat in jedem Lande die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (2) Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte. (3) Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen. (4) Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. (5) Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln. Art. 34 [Haftung bei Amtspflichtverletzungen].... Art. 35 [Rechts- und Amtshilfe].... Art. 36 [Beamte der Bundesbehörden]. (1) Bei den obersten Bundesbehörden sind Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden. Die bei den übrigen Bundesbehörden beschäftigten Personen sollen in der Regel aus dem Lande genommen werden, in dem sie tätig sind. (2) Die Wehrgesetze haben auch die Gliederung des Bundes in Länder und ihre besonderen landsmannschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Art. 37 [Bundeszwang]. (1) Wenn ein Land die ihm nach dem Grundgesetze oder einem anderen Bundesgesetze obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. (2) Zur Durchführung des Bundeszwanges hat die Bundesregierung oder ihr Beauftragter das Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und ihren Behörden. III. Der Bundestag Art. 38 [Wahl). (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. (2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt. (3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz. Art. 39 [Zusammentritt und Wahlperiode). (1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (2) Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen. (3) Der Bundestag bestimmt den Schluß und den Wiederbeginn seiner Sitzungen. Der Präsident des Bundestages kann ihn früher einberufen. Er ist hierzu verpflichtet, wenn ein Drittel der Mitglieder, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler es verlangen. Art. 40 [Präsident; Geschäftsordnung]. (1) Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. (2) Der Präsident übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Gebäude des Bundestages aus. Ohne seine Genehmigung darf in den Räumen des Bundestages keine Durchsuchung oder Beschlagnahme stattfinden. Art. 41 [Wahlprüfung]. (1) Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft verloren hat. (2) Gegen die Entscheidung des Bundestages ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig. (3) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Art. 42 (Öffentlichkeit der Sitzungen; Mehrheitsprinzip]. (1) Der Bundestag verhandelt öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Über den Antrag wird in nichtöffentlicher Sitzung entschieden. (2) Zu einem Beschlüsse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Für die vom Bundestage vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. (3) Wahrheitsgetreue Berichte über die öffentlichen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei. Art. 43 (Anwesenheit der Bundesregierung). (1) Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. (2) Die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten haben zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt. Sie müssen jederzeit gehört werden. Art. 44 (Untersuchungsausschüsse). (1) Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden. (2) Auf Beweiserhebungen finden die Vorschriften über den Strafprozeß sinngemäß Anwendung. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bleibt unberührt. (3) Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet. (4) Die Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse sind der richterlichen Erörterung entzogen. In der Würdigung und Beurteilung des der Untersuchung zugrunde liegenden Sachverhaltes sind die Gerichte frei.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Art. 45 [Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union). Der Bundestag bestellt einen Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Er kann ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen. Art. 45 a [Ausschüsse für auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung]. (1) Der Bundestag bestellt einen Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und einen Ausschuß für Verteidigung. (2) Der Ausschuß für Verteidigung hat auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder hat er die Pflicht, eine Angelegenheit zum Gegenstand seiner Untersuchung zu machen. (3) Artikel 44 Abs. 1 findet auf dem Gebiet der Verteidigung keine Anwendung. Art. 45b [Wehrbeauftragter des Bundestages], Zum Schutze der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle wird ein Wehrbeauftragter des Bundestages berufen. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Art. 45c [Petitionsausschuß des Bundestages]. (1) Der Bundestag bestellt einen Petitionsausschuß, dem die Behandlung der nach Artikel 17 an den Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt. (2) Die Befugnisse des Ausschusses zur Überprüfung von Beschwerden regelt ein Bundesgesetz. Art. 46 (Indemnität und Immunität der Abgeordneten]. (1) Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen. (2) Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird. (3) Die Genehmigung des Bundestages ist ferner bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten oder zur Einleitung eines Verfahrens gegen einen Abgeordneten gemäß Artikel 18 erforderlich. (4) Jedes Strafverfahren und jedes Verfahren gemäß Artikel 18 gegen einen Abgeordneten, jede Haft und jede sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit sind auf Verlangen des Bundestages auszusetzen. Art. 47 [Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten).... Art. 48 [Ansprüche der Abgeordneten].... Art. 49 (aufgehoben)

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland IV. Der Bundesrat Art. 50 (Aufgaben). Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Art. 51 [Zusammensetzung]. (1) Der Bundesrat besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Länder, die sie bestellen und abberufen. Sie können durch andere Mitglieder ihrer Regierungen vertreten werden. (2) Jedes Land hat mindestens drei Stimmen, Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern fünf, Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern sechs Stimmen. (3) Jedes Land kann so viele Mitglieder entsenden, wie es Stimmen hat. Die Stimmen eines Landes können nur einheitlich und nur durch anwesende Mitglieder oder deren Vertreter abgegeben werden. Art. 52 (Präsident, Geschäftsordnung], (1) Der Bundesrat wählt seinen Präsidenten auf ein Jahr. (2) Der Präsident beruft den Bundesrat ein. Er hat ihn einzuberufen, wenn die Vertreter von mindestens zwei Ländern oder die Bundesregierung es verlangen. (3) Der Bundesrat faßt seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. Er verhandelt öffentlich. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden. (3 a) Für Angelegenheiten der Europäischen Union kann der Bundesrat eine Europakammer bilden, deren Beschlüsse als Beschlüsse des Bundesrates gelten; Artikel 51 Abs. 2 und 3 Satz 2 gilt entsprechend. (4) Den Ausschüssen des Bundesrates können andere Mitglieder oder Beauftragte der Regierungen der Länder angehören. Art. 53 [Teilnahme der Bundesregierung], Die Mitglieder der Bundesregierung haben das Recht und auf Verlangen die Pflicht, an den Verhandlungen des Bundesrates und seiner Ausschüsse teilzunehmen. Sie müssen jederzeit gehört werden. Der Bundesrat ist von der Bundesregierung über die Führung der Geschäfte auf dem laufenden zu halten. IVa. Gemeinsamer Ausschuß Art. 53 a [Gemeinsamer AusschuB]. (1) Der Gemeinsame Ausschuß besteht zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages, zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates. Die Abgeordneten werden vom Bundestage entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt; sie dürfen nicht der Bundesregierung angehören. Jedes Land wird durch ein von ihm bestelltes Mitglied des Bundesrates vertreten; diese Mitglieder sind nicht an Weisungen gebunden. Die Bildung des Gemeinsamen Ausschusses und sein Verfahren werden durch eine Geschäftsordnung geregelt, die vom Bundestage zu beschließen ist und der Zustimmung des Bundesrates bedarf.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (2) Die Bundesregierung hat den Gemeinsamen Ausschuß über ihre Planungen für den Verteidigungsfall zu unterrichten. Die Rechte des Bundestages und seiner Ausschüsse nach Artikel 43 Abs. 1 bleiben unberührt. V. Der Bundespräsident Art. 54 |Wahl durch die Bundesversammlung], (1) Der Bundespräsident wird ohne Aussprache von der Bundesversammlung gewählt. Wählbar ist jeder Deutsche, der das Wahlrecht zum Bundestage besitzt und das vierzigste Lebensjahr vollendet hat. (2) Das Amt des Bundespräsidenten dauert fünf Jahre. Anschließende Wiederwahl ist nur einmal zulässig. (3) Die Bundesversammlung besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. (4) Die Bundesversammlung tritt spätestens dreißig Tage vor Ablauf der Amtszeit des Bundespräsidenten, bei vorzeitiger Beendigung spätestens dreißig Tage nach diesem Zeitpunkt zusammen. Sie wird von dem Präsidenten des Bundestages einberufen. (5) Nach Ablauf der Wahlperiode beginnt die Frist des Absatzes 4 Satz 1 mit dem ersten Zusammentritt des Bundestages. (6) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung erhält. Wird diese Mehrheit in zwei Wahlgängen von keinem Bewerber erreicht, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigt. (7) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Art. 55 [Berufs- und Gewerbeverbot].... Art. 56 [Amtseid].... Art. 57 [Vertretung]. Die Befugnisse des Bundespräsidenten werden im Falle seiner Verhinderung oder bei vorzeitiger Erledigung des Amtes durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen. Art. 58 [Gegenzeichnung]. Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister. Dies gilt nicht für die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers, die Auflösung des Bundestages gemäß Artikel 63 und das Ersuchen gemäß Artikel 69 Abs. 3. Art. 59 [Völkerrechtliche Vertretungsmacht], (1) Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten. (2) Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Für Verwaltungsabkommen gelten die Vorschriften über die Bundesverwaltung entsprechend.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 59 a (aufgehoben) Art. 60 (Ernennung der Bundesbeamten und Soldaten]. (1) Der Bundespräsident ernennt und entläßt die Bundesrichter, die Bundesbeamten, die Offiziere und Unteroffiziere, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. (2) Er übt im Einzelfalle für den Bund das Begnadigungsrecht aus. (3) Er kann diese Befugnisse auf andere Behörden übertragen. (4) Die Absätze 2 bis 4 des Artikels 46 finden auf den Bundespräsidenten entsprechende Anwendung. Art. 61 [Anklage vor dem Bundesverfassungsgericht!.... VI. Die Bundesregierung Art. 62 [Zusammensetzung], Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern. Art. 63 [Wahl des Bundeskanzlers). (1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt. (2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen. (3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen. (4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Art. 64 [Ernennung der Bundesminister!. (1) Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. (2) Der Bundeskanzler und die Bundesminister leisten bei der Amtsübernahme vor dem Bundestage den in Artikel 56 vorgesehenen Eid. Art. 65 [Verantwortung!. Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung. Art. 65 a [Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte). Der Bundesminister für Verteidigung hat die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte. 115

II. Verfassungsrechtliche Dokumente Art. 66 [Berufs- und Gewerbeverbot].... Art. 67 [MiBtrauensvotum]. (1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. (2) Zwischen dem Antrage und der Wahl müssen achtundvierzig Stunden liegen. Art. 68 [Auflösung des Bundestages). (1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. (2) Zwischen dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen. Art. 69 [Stellvertreter des Bundeskanzlers). (1) Der Bundeskanzler ernennt einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter. (2) Das Amt des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers endigt in jedem Falle mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages, das Amt eines Bundesministers auch mit jeder anderen Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers. (3) Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen. VII. Die Gesetzgebung des Bundes Art. 70 [Gesetzgebung des Bundes und der Länder). (1) Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. (2) Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern bemißt sich nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes über die ausschließliche und die konkurrierende Gesetzgebung. Art. 71 [Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes). Im Bereiche der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung nur, wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetze ausdrücklich ermächtigt werden. Art. 72 (Konkurrierende Gesetzgebung des Bundes, Begriff). (1) Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. (2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (3) Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit im Sinne des Absatzes 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann. Art. 73 [Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes, Katalog]. Der Bund hat die ausschließliche Gesetzgebung über: 1. die auswärtigen Angelegenheiten sowie die Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung; 2. die Staatsangehörigkeit im Bunde; 3. die Freizügigkeit, das Paßwesen, die Ein- und Auswanderung und die Auslieferung; 4. das Währungs-, Geld- und Münzwesen, Maße und Gewichte sowie die Zeitbestimmung; 5. die Einheit des Zoll- und Handelsgebietes, die Handels- und Schiffahrtsverträge, die Freizügigkeit des Warenverkehrs und den Waren- und Zahlungsverkehr mit dem Auslande einschließlich des Zoll- und Grenzschutzes; 6. den Luftverkehr; 6 a. den Verkehr von Eisenbahnen, die ganz oder mehrheitlich im Eigentum des Bundes stehen (Eisenbahnen des Bundes), den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes sowie die Erhebung von Entgelten für die Benutzung dieser Schienenwege; 7. das Postwesen und die Telekommunikation; 8. die Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechtes stehenden Personen; 9. den gewerblichen Rechtsschutz, das Urheberrecht und das Verlagsrecht; 10. die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder a) in der Kriminalpolizei, b) zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes (Verfassungsschutz) und c) zum Schutze gegen Bestrebungen im Bundesgebiet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, sowie die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes und die internationale Verbrechensbekämpfung; 11. die Statistik für Bundeszwecke. Art. 74 (Konkurrierende Gesetzgebung des Bundes, Katalog). (1) Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete: 1. das bürgerliche Recht, das Strafrecht und den Strafvollzug, die Gerichtsverfassung, das gerichtliche Verfahren, die Rechtsanwaltschaft, das Notariat und die Rechtsberatung; 2. das Personenstandswesen;

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente 3. das Vereins- und Versammlungsrecht; 4. das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer; 4 a. das Waffen- und Sprengstoffrecht; 5. [aufgehoben]; 6. die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen; 7. die öffentliche Fürsorge; 8. [aufgehoben]; 9. die Kriegsschäden und die Wiedergutmachung; 10. die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen und die Fürsorge für die ehemaligen Kriegsgefangenen 10 a. die Kriegsgräber und Gräber anderer Opfer des Krieges und Opfer von Gewaltherrschaft; 11. das Recht der Wirtschaft (Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Handel, Bank- und Börsenwesen, privatrechtliches Versicherungswesen); IIa. die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken, die Errichtung und den Betrieb von Anlagen, die diesen Zwecken dienen, den Schutz gegen Gefahren, die bei Freiwerden von Kernenergie oder durch ionisierende Strahlen entstehen, und die Beseitigung radioaktiver Stoffe; 12. das Arbeitsrecht einschließlich der Betriebsverfassung, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsvermittlung sowie die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung; 13. die Regelung der Ausbildungsbeihilfen und die Förderung der wissenschaftlichen Forschung; 14. das Recht der Enteignung, soweit sie auf den Sachgebieten der Artikel 73 und 74 in Betracht kommt; 15. die Überführung von Grund und Boden, von Naturschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft; 16. die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung; 17. die Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung, die Sicherung der Ernährung, die Ein- und Ausfuhr land- und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse, die Hochseeund Küstenfischerei und den Küstenschutz; 18. den Grundstücksverkehr, das Bodenrecht (ohne das Recht der Erschließungsbeiträge) und das landwirtschaftliche Pachtwesen, das Wohnungswesen, das Siedlungs- und Heimstätten wesen ; 19. die Maßnahmen gegen gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren, die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe, den Verkehr mit Arzneien, Heil- und Betäubungsmitteln und Giften;

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 19 a. die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze; 20. den Schutz beim Verkehr mit Lebens- und Genußmitteln, Bedarfsgegenständen, Futtermitteln und land- und forstwirtschaftlichem Saat- und Pflanzgut, den Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge sowie den Tierschutz; 21. die Hochsee- und Küstenschiffahrt sowie die Seezeichen, die Binnenschiffahrt, den Wetterdienst, die Seewasserstraßen und die dem allgemeinen Verkehr dienenden Binnenwasserstraßen; 22. den Straßenverkehr, das Kraftfahrwesen, den Bau und die Unterhaltung von Landstraßen für den Fernverkehr sowie die Erhebung und Verteilung von Gebühren für die Benutzung öffentlicher Straßen mit Fahrzeugen; 23. die Schienenbahnen, die nicht Eisenbahnen des Bundes sind, mit Ausnahme der Bergbahnen; 24. die Abfallbeseitigung, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung; 25. die Staatshaftung; 26. die künstliche Befruchtung beim Menschen, die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen sowie Regelungen zur Transplantation von Organen und Geweben. (2) Gesetze nach Absatz 1 Nr. 25 bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Art. 74 a [Konkurrierende Gesetzgebung für Besoldung und Versorgung im öffentlichen Dienst]. (1) Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich ferner auf die Besoldung und Versorgung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienstund Treueverhältnis stehen, soweit dem Bund nicht nach Artikel 73 Nr. 8 die ausschließliche Gesetzgebung zusteht.

Art. 75 [Rahmengesetzgebung des Bundes, Katalog]. (1) Der Bund hat das Recht, unter den Voraussetzungen des Artikels 72 Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder zu erlassen über: 1. die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienste der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechtes stehenden Personen, soweit Artikel 74 a nichts anderes bestimmt; 1 a. die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens; 2. die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse; 3. das Jagdwesen, den Naturschutz und die Landschaftspflege; 4. die Bodenverteilung, die Raumordnung und den Wasserhaushalt; 5. das Melde- und Ausweiswesen; 6. den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland. Artikel 72 Abs. 3 gilt entsprechend.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (2) Rahmenvorschriften dürfen nur in Ausnahmefällen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten. (3) Erläßt der Bund Rahmenvorschriften, so sind die Länder verpflichtet, innerhalb einer durch das Gesetz bestimmten angemessenen Frist die erforderlichen Landesgesetze zu erlassen. Art. 76 [Gesetzesvorlagen]. (1) Gesetzesvorlagen werden beim Bundestage durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht. (2) Vorlagen der Bundesregierung sind zunächst dem Bundesrat zuzuleiten. Der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu diesen Vorlagen Stellung zu nehmen. Verlangt er aus wichtigem Grunde, insbesondere mit Rücksicht auf den Umfang einer Vorlage, eine Fristverlängerung, so beträgt die Frist neun Wochen. Die Bundesregierung kann eine Vorlage, die sie bei der Zuleitung an den Bundesrat ausnahmsweise als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, nach drei Wochen oder, wenn der Bundesrat ein Verlangen nach Satz 3 geäußert hat, nach sechs Wochen dem Bundestag zuleiten, auch wenn die Stellungnahme des Bundesrates noch nicht bei ihr eingegangen ist; sie hat die Stellungnahme des Bundesrates unverzüglich nach Eingang dem Bundestag nachzureichen. Bei Vorlagen zur Änderung dieses Grundgesetzes und zur Übertragung von Hoheitsrechten nach Artikel 23 oder Artikel 24 beträgt die Frist zur Stellungnahme neun Wochen; Satz 4 findet keine Anwendung. (3) Vorlagen des Bundesrates sind dem Bundestag durch die Bundesregierung innerhalb von sechs Wochen zuzuleiten. Sie soll hierbei ihre Auffassung darlegen. Verlangt sie aus wichtigem Grunde, insbesondere mit Rücksicht auf den Umfang einer Vorlage, eine Fristverlängerung, so beträgt die Frist neun Wochen. Wenn der Bundesrat eine Vorlage ausnahmsweise als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, beträgt die Frist drei Wochen oder, wenn die Bundesregierung ein Verlangen nach Satz 3 geäußert hat, sechs Wochen. Bei Vorlagen zur Änderung dieses Grundgesetzes und zur Übertragung von Hoheitsrechten nach Artikel 23 oder Artikel 24 beträgt die Frist neun Wochen; Satz 4 findet keine Anwendung. Der Bundestag hat über die Vorlagen in angemessener Frist zu beraten und Beschluß zu fassen. Art. 77 [Gesetzgebungsverfahren]. (1) Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen. Sie sind nach ihrer Annahme durch den Präsidenten des Bundestages unverzüglich dem Bundesrate zuzuleiten. (2) Der Bundesrat kann binnen drei Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses verlangen, daß ein aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates für die gemeinsame Beratung von Vorlagen gebildeter Ausschuß einberufen wird. Die Zusammensetzung und das Verfahren dieses Ausschusses regelt eine Geschäftsordnung, die vom Bundestag beschlossen wird und der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Die in diesen Ausschuß entsandten Mitglieder des Bundesrates sind nicht an Weisungen gebunden. Ist zu einem Gesetze die Zustimmung des Bundesrates erforderlich, so können auch der Bundestag und die Bundesregierung die Einberufung verlangen. Schlägt der Ausschuß eine Änderung des Gesetzesbeschlusses vor, so hat der Bundestag erneut Beschluß zu fassen. (2a) Soweit zu einem Gesetz die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist, hat der Bundesrat, wenn ein Verlangen nach Absatz 2 Satz 1 nicht gestellt oder das Vermittlungsverfahren ohne einen Vorschlag zur Änderung des Gesetzesbeschlusses beendet ist, in angemessener Frist über die Zustimmung Beschluß zu fassen.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (3) Soweit zu einem Gesetze die Zustimmung des Bundesrates nicht erforderlich ist, kann der Bundesrat, wenn das Verfahren nach Absatz 2 beendigt ist, gegen ein vom Bundestage beschlossenes Gesetz binnen zwei Wochen Einspruch einlegen. Die Einspruchsfrist beginnt im Falle des Absatzes 2 letzter Satz mit dem Eingange des vom Bundestage erneut gefaßten Beschlusses, in allen anderen Fällen mit dem Eingange der Mitteilung des Vorsitzenden des in Absatz 2 vorgesehenen Ausschusses, daß das Verfahren vor dem Ausschusse abgeschlossen ist. (4) Wird der Einspruch mit der Mehrheit der Stimmen des Bundesrates beschlossen, so kann er durch Beschluß der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zurückgewiesen werden. Hat der Bundesrat den Einspruch mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln seiner Stimmen beschlossen, so bedarf die Zurückweisung durch den Bundestag einer Mehrheit von zwei Dritteln, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Art. 78 [Zustandekommen von Bundesgesetzen]. Ein vom Bundestage beschlossenes Gesetz kommt zustande, wenn der Bundesrat zustimmt, den Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 nicht stellt, innerhalb der Frist des Artikels 77 Abs. 3 keinen Einspruch einlegt oder ihn zurücknimmt oder wenn der Einspruch vom Bundestage überstimmt wird. Art. 79 [Änderungen des Grundgesetzes). (1) Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Bei völkerrechtlichen Verträgen, die eine Friedensregelung, die Vorbereitung einer Friedensregelung oder den Abbau einer besatzungsrechtlichen Ordnung zum Gegenstand haben oder der Verteidigung der Bundesrepublik zu dienen bestimmt sind, genügt zur Klarstellung, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der Verträge nicht entgegenstehen, eine Ergänzung des Wortlautes des Grundgesetzes, die sich auf diese Klarstellung beschränkt. (2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. (3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig. Art. 80 [ErlaB von Rechtsverordnungen|. (1) Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben. Ist durch Gesetz vorgesehen, daß eine Ermächtigung weiter übertragen werden kann, so bedarf es zur Übertragung der Ermächtigung einer Rechtsverordnung. (2) Der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung, Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers über Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Einrichtungen des Postwesens und der Telekommunikation, über die Grundsätze der Erhebung des Entgelts für die Benutzung der Einrichtungen der Eisenbahnen des Bundes, über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen, sowie Rechtsverordnungen auf Grund von Bundesgesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen oder die von den Ländern im Auftrage des Bundes oder als eigene Angelegenheit ausgeführt werden. 121

II. Verfassungsrechtliche Dokumente (3) Der Bundesrat kann der Bundesregierung Vorlagen für den Erlaß von Rechtsverordnungen zuleiten, die seiner Zustimmung bedürfen. (4) Soweit durch Bundesgesetz oder auf Grund von Bundesgesetzen Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, sind die Länder zu einer Regelung auch durch Gesetz befugt. Art. 80a [Spannungsfall]. (1) Ist in diesem Grundgesetz oder in einem Bundesgesetz über die Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung bestimmt, daß Rechtsvorschriften nur nach Maßgabe dieses Artikels angewandt werden dürfen, so ist die Anwendung außer im Verteidigungsfalle nur zulässig, wenn der Bundestag den Eintritt des Spannungsfalles festgestellt oder wenn er der Anwendung besonders zugestimmt hat. Die Feststellung des Spannungsfalles und die besondere Zustimmung in den Fällen des Artikels 12 a Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 2 bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. (2) Maßnahmen auf Grund von Rechtsvorschriften nach Absatz 1 sind aufzuheben, wenn der Bundestag es verlangt. (3) Abweichend von Absatz 1 ist die Anwendung solcher Rechtsvorschriften auch auf der Grundlage und nach Maßgabe eines Beschlusses zulässig, der von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefaßt wird. Maßnahmen nach diesem Absatz sind aufzuheben, wenn der Bundestag es mit der Mehrheit seiner Mitglieder verlangt. Art. 81 [Gesetzgebungsnotstand]. (1) Wird im Falle des Artikels 68 der Bundestag nicht aufgelöst, so kann der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates für eine Gesetzesvorlage den Gesetzgebungsnotstand erklären, wenn der Bundestag sie ablehnt, obwohl die Bundesregierung sie als dringlich bezeichnet hat. Das gleiche gilt, wenn eine Gesetzesvorlage abgelehnt worden ist, obwohl der Bundeskanzler mit ihr den Antrag des Artikels 68 verbunden hatte. (2) Lehnt der Bundestag die Gesetzesvorlage nach Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes erneut ab oder nimmt er sie in einer für die Bundesregierung als unannehmbar bezeichneten Fassung an, so gilt das Gesetz als zustande gekommen, soweit der Bundesrat ihm zustimmt. Das gleiche gilt, wenn die Vorlage vom Bundestage nicht innerhalb von vier Wochen nach der erneuten Einbringung verabschiedet wird. (3) Während der Amtszeit eines Bundeskanzlers kann auch jede andere vom Bundestage abgelehnte Gesetzesvorlage innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der ersten Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes gemäß Absatz 1 und 2 verabschiedet werden. Nach Ablauf der Frist ist während der Amtszeit des gleichen Bundeskanzlers eine weitere Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes unzulässig. (4) Das Grundgesetz darf durch ein Gesetz, das nach Absatz 2 zustande kommt, weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. Art. 82 [Verkündung und Inkrafttreten der Gesetze]. (1) Die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatte verkündet. Rechtsverordnungen werden von der Stelle, die sie erläßt, ausgefertigt und vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung im Bundesgesetzblatte verkündet. 122

1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (2) Jedes Gesetz und jede Rechtsverordnung soll den Tag des Inkrafttretens bestimmen. Fehlt eine solche Bestimmung, so treten sie mit dem vierzehnten Tage nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Bundesgesetzblatt ausgegeben worden ist. Vili. Die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung Art. 83 [Länderexekutive]. Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt. Art. 84 [Länderverwaltung und Bundesaufsicht]. (1) Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen. (2) Die Bundesregierung kann mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. (3) Die Bundesregierung übt die Aufsicht darüber aus, daß die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Rechte gemäß ausführen. Die Bundesregierung kann zu diesem Zwecke Beauftragte zu den obersten Landesbehörden entsenden, mit deren Zustimmung und, falls diese Zustimmung versagt wird, mit Zustimmung des Bundesrates auch zu den nachgeordneten Behörden. (4) Werden Mängel, die die Bundesregierung bei der Ausführung der Bundesgesetze in den Ländern festgestellt hat, nicht beseitigt, so beschließt auf Antrag der Bundesregierung oder des Landes der Bundesrat, ob das Land das Recht verletzt hat. Gegen den Beschluß des Bundesrates kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. (5) Der Bundesregierung kann durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, zur Ausführung von Bundesgesetzen die Befugnis verliehen werden, für besondere Fälle Einzelweisungen zu erteilen. Sie sind, außer wenn die Bundesregierung den Fall für dringlich erachtet, an die obersten Landesbehörden zu richten. Art. 85 [Landesexekutive im Bundesauftrag]. (1) Führen die Länder die Bundesgesetze im Auftrage des Bundes aus, so bleibt die Einrichtung der Behörden Angelegenheit der Länder, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen. (2) Die Bundesregierung kann mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. Sie kann die einheitliche Ausbildung der Beamten und Angestellten regeln. Die Leiter der Mittelbehörden sind mit ihrem Einvernehmen zu bestellen. (3) Die Landesbehörden unterstehen den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden. Die Weisungen sind, außer wenn die Bundesregierung es für dringlich erachtet, an die obersten Landesbehörden zu richten. Der Vollzug der Weisung ist durch die obersten Landesbehörden sicherzustellen. (4) Die Bundesaufsicht erstreckt sich auf Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Ausführung. Die Bundesregierung kann zu diesem Zwecke Bericht und Vorlage der Akten verlangen und Beauftragte zu allen Behörden entsenden.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Art. 86 [Bundeseigene Verwaltung]. Führt der Bund die Gesetze durch bundeseigene Verwaltung oder durch bundesunmittelbare Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechtes aus, so erläßt die Bundesregierung, soweit nicht das Gesetz Besonderes vorschreibt, die allgemeinen Verwaltungsvorschriften. Sie regelt, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, die Einrichtung der Behörden. Art. 87 [Gegenstände bundeseigener Verwaltung]. (1) In bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau werden geführt der Auswärtige Dienst, die Bundesfinanzverwaltung und nach Maßgabe des Artikels 89 die Verwaltung der Bundeswasserstraßen und der Schifffahrt. Durch Bundesgesetz können Bundesgrenzschutzbehörden, Zentralstellen für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen, für die Kriminalpolizei und zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes und des Schutzes gegen Bestrebungen im Bundesgebiet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, eingerichtet werden. (2) Als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes werden diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt. Soziale Versicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes, aber nicht über mehr als drei Länder hinaus erstreckt, werden abweichend von Satz 1 als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes geführt, wenn das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist. (3) Außerdem können für Angelegenheiten, für die dem Bunde die Gesetzgebung zusteht, selbständige Bundesoberbehörden und neue bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechtes durch Bundesgesetz errichtet werden. Erwachsen dem Bunde auf Gebieten, für die ihm die Gesetzgebung zusteht, neue Aufgaben, so können bei dringendem Bedarf bundeseigene Mittel- und Unterbehörden mit Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages errichtet werden. Art. 87a [Streitkräfte]. (1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben. (2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt. (3) Die Streitkräfte haben im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle die Befugnis, zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, soweit dies zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages erforderlich ist. Außerdem kann den Streitkräften im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle der Schutz ziviler Objekte auch zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen übertragen werden; die Streitkräfte wirken dabei mit den zuständigen Behörden zusammen. (4) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 87b [Bundeswehrverwaltung]. (1) Die Bundeswehrverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau geführt. Sie dient den Aufgaben des Personalwesens und der unmittelbaren Deckung des Sachbedarfs der Streitkräfte. Aufgaben der Beschädigtenversorgung und des Bauwesens können der Bundeswehrverwaltung nur durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, übertragen werden. Der Zustimmung des Bundesrates bedürfen ferner Gesetze, soweit sie die Bundeswehrverwaltung zu Eingriffen in Rechte Dritter ermächtigen; das gilt nicht für Gesetze auf dem Gebiete des Personalwesens. (2) Im übrigen können Bundesgesetze, die der Verteidigung einschließlich des Wehrersatzwesens und des Schutzes der Zivilbevölkerung dienen, mit Zustimmung des Bundesrates bestimmen, daß sie ganz oder teilweise in bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau oder von den Ländern im Auftrag des Bundes ausgeführt werden. Werden solche Gesetze von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt, so können sie mit Zustimmung des Bundesrates bestimmen, daß die der Bundesregierung und den zuständigen obersten Bundesbehörden auf Grund des Artikels 85 zustehenden Befugnisse ganz oder teilweise Bundesoberbehörden übertragen werden; dabei kann bestimmt werden, daß diese Behörden beim Erlaß allgemeiner Verwaltungsvorschriften gemäß Artikel 85 Abs. 2 Satz 1 nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Art. 87c [Bestimmungen über Erzeugung und Nutzung der Kernenergie]. Gesetze, die auf Grund des Artikels 74 Nr. I I a ergehen, können mit Zustimmung des Bundesrates bestimmen, daß sie von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt werden. Art. 87d [Luftverkehrsverwaltung].... Art. 87e [Verwaltung der Eisenbahnen des Bundes). (1) Die Eisenbahnverkehrsverwaltung für Eisenbahnen des Bundes wird in bundeseigener Verwaltung geführt. Durch Bundesgesetz können Aufgaben der Eisenbahnverkehrsverwaltung den Ländern als eigene Angelegenheit übertragen werden. (2) Der Bund nimmt die über den Bereich der Eisenbahnen des Bundes hinausgehenden Aufgaben der Eisenbahnverkehrsverwaltung wahr, die ihm durch Bundesgesetz übertragen werden. (3) Eisenbahnen des Bundes werden als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form geführt. Diese stehen im Eigentum des Bundes, soweit die Tätigkeit des Wirtschaftsunternehmens den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen umfaßt. Die Veräußerung von Anteilen des Bundes an den Unternehmen nach Satz 2 erfolgt auf Grund eines Gesetzes; die Mehrheit der Anteile an diesen Unternehmen verbleibt beim Bund. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt. (4) Der Bund gewährleistet, daß dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt. (5) Gesetze auf Grund der Absätze 1 bis 4 bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Der Zustimmung des Bundesrates bedürfen ferner Gesetze, die die Auflösung, die Ver-

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Schmelzung und die Aufspaltung von Eisenbahnunternehmen des Bundes, die Übertragung von Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes an Dritte sowie die Stillegung von Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes regeln oder Auswirkungen auf den Schienenpersonennahverkehr haben. Art. 87f [Verwaltung des Postwesens und der Telekommunikation]. (1) Nach Maßgabe eines Bundesgesetzes, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, gewährleistet der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen. (2) Dienstleistungen im Sinne des Absatzes 1 werden als privatwirtschaftliche Tätigkeiten durch die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen und durch andere private Anbieter erbracht. Hoheitsaufgaben im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation werden in bundeseigener Verwaltung ausgeführt. (3) Unbeschadet des Absatzes 2 Satz 2 führt der Bund in der Rechtsform einer bundesunmittelbaren Anstalt des öffentlichen Rechts einzelne Aufgaben in bezug auf die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen nach Maßgabe eines Bundesgesetzes aus. Art. 88 [Bundesbank]. Der Bund errichtet eine Währungs- und Notenbank als Bundesbank. Ihre Aufgaben und Befugnisse können im Rahmen der Europäischen Union der Europäischen Zentralbank übertragen werden, die unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet. Art. 89 [Bundeswasserstraßen] Art. 90 [Bundesautobahnen und BundesstraßenJ.... Art. 91 [Abwehr von Gefahren für den Bestand des Bundes]. (1) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder sowie Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen und des Bundesgrenzschutzes anfordern. (2) Ist das Land, in dem die Gefahr droht, nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage, so kann die Bundesregierung die Polizei in diesem Lande und die Polizeikräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes einsetzen. Die Anordnung ist nach Beseitigung der Gefahr, im übrigen jederzeit auf Verlangen des Bundesrates aufzuheben. Erstreckt sich die Gefahr auf das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, den Landesregierungen Weisungen erteilen; Satz 1 und Satz 2 bleiben unberührt. Villa. Gemeinschaftsaufgaben Art. 91a [Mitwirkungsbereiche des Bundes bei Länderaufgaben]. (1) Der Bund wirkt auf folgenden Gebieten bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder mit, wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist (Gemeinschaftsaufgaben):

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1. Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken, 2. Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, 3. Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. (2) Durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates werden die Gemeinschaftsaufgaben näher bestimmt. Das Gesetz soll allgemeine Grundsätze für ihre Erfüllung enthalten. (3) Das Gesetz trifft Bestimmungen über das Verfahren und über Einrichtungen für eine gemeinsame Rahmenplanung. Die Aufnahme eines Vorhabens in die Rahmenplanung bedarf der Zustimmung des Landes, in dessen Gebiet es durchgeführt wird. (4) Der Bund trägt in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 und 2 die Hälfte der Ausgaben in jedem Land. In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 3 trägt der Bund mindestens die Hälfte; die Beteiligung ist für alle Länder einheitlich festzusetzen. Das Nähere regelt das Gesetz. Die Bereitstellung der Mittel bleibt der Feststellung in den Haushaltsplänen des Bundes und der Länder vorbehalten. (5) Bundesregierung und Bundesrat sind auf Verlangen über die Durchführung der Gemeinschaftsaufgaben zu unterrichten. Art. 91b Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen bei der Bildungsplanung und bei der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von überregionaler Bedeutung zusammenwirken. Die Aufteilung der Kosten wird in der Vereinbarung geregelt. IX. Die Rechtsprechung Art. 92 [Gerichtsorganisation], Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt. Art. 93 [Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts]. (1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: 1. über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind; 2. bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages; 2 a. bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes; 3. bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht; 127

II. Verfassungsrechtliche Dokumente 4. in anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen dem Bunde und den Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist; 4 a. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein; 4 b. über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Artikel 28 durch ein Gesetz, bei Landesgesetzen jedoch nur, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann; 5. in den übrigen in diesem Grundgesetze vorgesehenen Fällen. (2) Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig. Art. 94 [Bundesverfassungsgericht, Zusammensetzung]. (1) Das Bundesverfassungsgericht besteht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt. Sie dürfen weder dem Bundestage, dem Bundesrate, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören. (2) Ein Bundesgesetz regelt seine Verfassung und das Verfahren und bestimmt, in welchen Fällen seine Entscheidungen Gesetzeskraft haben. Es kann für Verfassungsbeschwerden die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges zur Voraussetzung machen und ein besonderes Annahmeverfahren vorsehen. Art. 95 [Oberste Bundesgerichtshöfe]. (1) Für die Gebiete der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit errichtet der Bund als oberste Gerichtshöfe den Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, den Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht. (2) Über die Berufung der Richter dieser Gerichte entscheidet der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß, der aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Ministern der Länder und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern besteht, die vom Bundestage gewählt werden. (3) Zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist ein Gemeinsamer Senat der in Absatz 1 genannten Gerichte zu bilden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Art. 96 |Bundesgerichte|. (1) Der Bund kann für Angelegenheiten des gewerblichen Rechtsschutzes ein Bundesgericht errichten. (2) Der Bund kann Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte als Bundesgerichte errichten. Sie können die Strafgerichtsbarkeit nur im Verteidigungsfalle sowie über Angehörige der Streitkräfte ausüben, die in das Ausland entsandt oder an Bord von Kriegsschiffen eingeschifft sind. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Diese Gerichte gehören zum Geschäftsbereich des Bundesjustizministers. Ihre hauptamtlichen Richter müssen die Befähigung zum Richteramt haben.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (3) Oberster Gerichtshof für die in Absatz 1 und 2 genannten Gerichte ist der Bundesgerichtshof. (4) Der Bund kann für Personen, die zu ihm in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen, Bundesgerichte zur Entscheidung in Disziplinarverfahren und Beschwerdeverfahren errichten. (5) Für Strafverfahren auf den folgenden Gebieten kann ein Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates vorsehen, dass Gerichte der Länder Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben: 1. Völkermord; 2. völkerstrafrechtliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit; 3. Kriegsverbrechen; 4. andere Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das Zusammenleben der Völker zu stören (Artikel 26 Abs. 1); 5. Staatsschutz. Art. 97 [Unabhängigkeit der Richter], (1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. (2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes. Art. 98 [Rechtsstellung der Richter]. (1) Die Rechtsstellung der Bundesrichter ist durch besonderes Bundesgesetz zu regeln.

Art. 99 [Verfassungsstreit innerhalb eines Landes]. Dem Bundesverfassungsgerichte kann durch Landesgesetz die Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, den in Artikel 95 Abs. 1 genannten obersten Gerichtshöfen für den letzten Rechtszug die Entscheidung in solchen Sachen zugewiesen werden, bei denen es sich um die Anwendung von Landesrecht handelt. Art. 100 [Verfassungswidrigkeit von Gesetzen]. (1) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetze handelt.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (2) Ist in einem Rechtsstreite zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechtes Bestandteil des Bundesrechtes ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (Artikel 25), so hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. (3) Will das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes oder des Verfassungsgerichtes eines anderen Landes abweichen, so hat das Verfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Art. 101 [Ausnahmegerichte]. (1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. (2) Gerichte für besondere Sachgebiete können nur durch Gesetz errichtet werden. Art. 102 [Abschaffung der Todesstrafe). Die Todesstrafe ist abgeschafft. Art. 103 [Grundrechte des Angeklagten]. (1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. Art. 104 [Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung]. (1) Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden. (2) Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten. Das Nähere ist gesetzlich zu regeln. (3) Jeder wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene ist spätestens am Tage nach der Festnahme dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen, ihn zu vernehmen und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben hat. Der Richter hat unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen. (4) Von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung ist unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland X. Das Finanzwesen1 Art. 104a [Ausgabenverteilung; Finanzhilfen]. (1) Der Bund und die Länder tragen gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. (2) Handeln die Länder im Auftrage des Bundes, trägt der Bund die sich daraus ergebenden Ausgaben. (3) Bundesgesetze, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden, können bestimmen, daß die Geldleistungen ganz oder zum Teil vom Bund getragen werden. Bestimmt das Gesetz, daß der Bund die Hälfte der Ausgaben oder mehr trägt, wird es im Auftrage des Bundes durchgeführt. Bestimmt das Gesetz, daß die Länder ein Viertel der Ausgaben oder mehr tragen, so bedarf es der Zustimmung des Bundesrates. (4) Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) gewähren, die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind. Das Nähere, insbesondere die Arten der zu fördernden Investitionen, wird durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, oder auf Grund des Bundeshaushaltsgesetzes durch Verwaltungsvereinbarung geregelt. (5) Der Bund und die Länder tragen die bei ihren Behörden entstehenden Verwaltungsausgaben und haften im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung. Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Art. 105 [Gesetzgebungsrechtj. (1) Der Bund hat die ausschließliche Gesetzgebung über die Zölle und Finanzmonopole. (2) Der Bund hat die konkurrierende Gesetzgebung über die übrigen Steuern, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder die Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 vorliegen. (2 a) Die Länder haben die Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind. (3) Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder den Gemeinden (Gemeindeverbänden) ganz oder zum Teil zufließt, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Art. 106 [Verteilung des Steueraufkommens und des Ertrages der Finanzmonopole]. (1) Der Ertrag der Finanzmonopole und das Aufkommen der folgenden Steuern stehen dem Bund zu: 1. die Zölle, 2. die Verbrauchsteuern, soweit sie nicht nach Absatz 2 den Ländern, nach Absatz 3 Bund und Ländern gemeinsam oder nach Absatz 6 den Gemeinden zustehen, 1 Beachte hierzu für die Zeit nach der Herstellung der Einheit Deutschlands Art. 7 d. EVertr. v. 31.8.1990 (BGBl. II S. 889), in diesem Band S. 54 ff.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente 3. die Straßengüterverkehrsteuer, 4. die Kapitalverkehrsteuern, die Versicherungsteuer und die Wechselsteuer, 5. die einmaligen Vermögensabgaben und die zur Durchführung des Lastenausgleichs erhobenen Ausgleichsabgaben, 6. die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer, 7. Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften. (2) Das Aufkommen der folgenden Steuern steht den Ländern zu: 1. die Vermögensteuer, 2. die Erbschaftsteuer, 3. die Kraftfahrzeugsteuer, 4. die Verkehrsteuern, soweit sie nicht nach Absatz 1 dem Bund oder nach Absatz 3 Bund und Ländern gemeinsam zustehen, 5. die Biersteuer, 6. die Abgabe von Spielbanken. (3) Das Aufkommen der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer steht dem Bund und den Ländern gemeinsam zu (Gemeinschaftsteuern), soweit das Aufkommen der Einkommensteuer nicht nach Absatz 5 und das Aufkommen der Umsatzsteuer nicht nach Absatz 5 a den Gemeinden zugewiesen wird. Am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer sind der Bund und die Länder je zur Hälfte beteiligt. Die Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer werden durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, festgesetzt. Bei der Festsetzung ist von folgenden Grundsätzen auszugehen: 1. Im Rahmen der laufenden Einnahmen haben der Bund und die Länder gleichmäßig Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben. Dabei ist der Umfang der Ausgaben unter Berücksichtigung einer mehrjährigen Finanzplanung zu ermitteln. 2. Die Deckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder sind so aufeinander abzustimmen, daß ein billiger Ausgleich erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird. Zusätzlich werden in die Festsetzung der Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer Steuermindereinnahmen einbezogen, die den Ländern ab 1. Januar 1996 aus der Berücksichtigung von Kindern im Einkommensteuerrecht entstehen. Das Nähere bestimmt das Bundesgesetz nach Satz 3. (4) Die Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer sind neu festzusetzen, wenn sich das Verhältnis zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt; Steuermindereinnahmen, die nach Absatz 3 Satz 5 in die Festsetzung der Umsatzsteueranteile zusätzlich einbezogen werden, bleiben hierbei unberücksichtigt. Werden den Ländern durch Bundesgesetz zusätzliche Ausgaben auferlegt oder Einnahmen entzogen, so kann die Mehrbelastung durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, auch mit Finanzzuweisungen des Bundes ausgeglichen werden, wenn sie auf einen kurzen Zeitraum begrenzt ist. In dem Gesetz sind die Grundsätze für die Bemessung dieser Finanzzuweisungen und für ihre Verteilung auf die Länder zu bestimmen. 132

1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (5) Die Gemeinden erhalten einen Anteil an dem Aufkommen der Einkommensteuer, der von den Ländern an ihre Gemeinden auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzuleiten ist. Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Es kann bestimmen, daß die Gemeinden Hebesätze für den Gemeindeanteil festsetzen. (5 a) Die Gemeinden erhalten ab dem 1. Januar 1998 einen Anteil an dem Aufkommen der Umsatzsteuer. Er wird von den Ländern auf der Grundlage eines orts- und wirtschaftsbezogenen Schlüssels an ihre Gemeinden weitergeleitet. Das Nähere wird durch ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. (6) Das Aufkommen der Grundsteuer und Gewerbesteuer steht den Gemeinden, das Aufkommen der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern steht den Gemeinden oder nach Maßgabe der Landesgesetzgebung den Gemeindeverbänden zu. Den Gemeinden ist das Recht einzuräumen, die Hebesätze der Grundsteuer und Gewerbesteuer im Rahmen der Gesetze festzusetzen. Bestehen in einem Land keine Gemeinden, so steht das Aufkommen der Grundsteuer und Gewerbesteuer und der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern dem Land zu. Bund und Länder können durch eine Umlage an dem Aufkommen der Gewerbesteuer beteiligt werden. Das Nähere über die Umlage bestimmt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Nach Maßgabe der Landesgesetzgebung können die Grundsteuer und Gewerbesteuer sowie der Gemeindeanteil vom Aufkommen der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer als Bemessungsgrundlagen für Umlagen zugrunde gelegt werden. (7) Von dem Länderanteil am Gesamtaufkommen der Gemeinschaftsteuern fließt den Gemeinden und Gemeindeverbänden insgesamt ein von der Landesgesetzgebung zu bestimmender Hundertsatz zu. Im übrigen bestimmt die Landesgesetzgebung, ob und inwieweit das Aufkommen der Landessteuern den Gemeinden (Gemeindeverbänden) zufließt. (8) Veranlaßt der Bund in einzelnen Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) besondere Einrichtungen, die diesen Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) unmittelbar Mehrausgaben oder Mindereinnahmen (Sonderbelastungen) verursachen, gewährt der Bund den erforderlichen Ausgleich, wenn und soweit den Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) nicht zugemutet werden kann, die Sonderbelastungen zu tragen. Entschädigungsleistungen Dritter und finanzielle Vorteile, die diesen Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) als Folge der Einrichtungen erwachsen, werden bei dem Ausgleich berücksichtigt. (9) Als Einnahmen und Ausgaben der Länder im Sinne dieses Artikels gelten auch die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden (Gemeindeverbände). Art. 106a [Finanzausgleich für den Personennahverkehr). Den Ländern steht ab 1. Januar 1996 für den öffentlichen Personennahverkehr ein Betrag aus dem Steueraufkommen des Bundes zu. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Der Betrag nach Satz 1 bleibt bei der Bemessung der Finanzkraft nach Artikel 107 Abs. 2 unberücksichtigt. Art. 107 (Finanzausgleich, Ergänzungszuweisungen]. (1) Das Aufkommen der Landessteuern und der Länderanteil am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer stehen den einzelnen Ländern insoweit zu, als die Steuern von den Finanzbehörden in ihrem

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Gebiet vereinnahmt werden (örtliches Aufkommen). Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, sind für die Körperschaftsteuer und die Lohnsteuer nähere Bestimmungen über die Abgrenzung sowie über Art und Umfang der Zerlegung des örtlichen Aufkommens zu treffen. Das Gesetz kann auch Bestimmungen über die Abgrenzung und Zerlegung des örtlichen Aufkommens anderer Steuern treffen. Der Länderanteil am Aufkommen der Umsatzsteuer steht den einzelnen Ländern nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahl zu; für einen Teil, höchstens jedoch für ein Viertel dieses Länderanteils, können durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, Ergänzungsanteile für die Länder vorgesehen werden, deren Einnahmen aus den Landessteuern und aus der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer je Einwohner unter dem Durchschnitt der Länder liegen. (2) Durch das Gesetz ist sicherzustellen, daß die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen wird; hierbei sind die Finanzkraft und der Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen. Die Voraussetzungen für die Ausgleichsansprüche der ausgleichsberechtigten Länder und für die Ausgleichsverbindlichkeiten der ausgleichspflichtigen Länder sowie die Maßstäbe für die Höhe der Ausgleichsleistungen sind in dem Gesetz zu bestimmen. Es kann auch bestimmen, daß der Bund aus seinen Mitteln leistungsschwachen Ländern Zuweisungen zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs (Ergänzungszuweisungen) gewährt. Art. 108 [Finanzverwaltung]. (1) Zölle, Finanzmonopole, die bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer und die Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften werden durch Bundesfinanzbehörden verwaltet. Der Aufbau dieser Behörden wird durch Bundesgesetz geregelt. Soweit Mittelbehörden eingerichtet sind, werden deren Leiter im Benehmen mit der Landesregierung bestellt. (2) Die übrigen Steuern werden durch Landesfinanzbehörden verwaltet. Der Aufbau dieser Behörden und die einheitliche Ausbildung der Beamten können durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates geregelt werden. Soweit Mittelbehörden eingerichtet sind, werden deren Leiter im Einvernehmen mit der Bundesregierung bestellt. (3) Verwalten die Landesfinanzbehörden Steuern, die ganz oder zum Teil dem Bund zufließen, so werden sie im Auftrage des Bundes tätig. Artikel 85 Abs. 3 und 4 gilt mit der Maßgabe, daß an die Stelle der Bundesregierung der Bundesminister der Finanzen tritt. (4) Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, kann bei der Verwaltung von Steuern ein Zusammenwirken von Bundes- und Landesfinanzbehörden sowie für Steuern, die unter Absatz 1 fallen, die Verwaltung durch Landesfinanzbehörden und für andere Steuern die Verwaltung durch Bundesfinanzbehörden vorgesehen werden, wenn und soweit dadurch der Vollzug der Steuergesetze erheblich verbessert oder erleichtert wird. Für die den Gemeinden (Gemeindeverbänden) allein zufließenden Steuern kann die den Landesfinanzbehörden zustehende Verwaltung durch die Länder ganz oder zum Teil den Gemeinden (Gemeindeverbänden) übertragen werden. (5) Das von den Bundesfinanzbehörden anzuwendende Verfahren wird durch Bundesgesetz geregelt. Das von den Landesfinanzbehörden und in den Fällen des Absatzes 4 Satz 2 von den Gemeinden (Gemeindeverbänden) anzuwendende Verfahren kann durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates geregelt werden. (6) Die Finanzgerichtsbarkeit wird durch Bundesgesetz einheitlich geregelt.

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1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (7) Die Bundesregierung kann allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen, und zwar mit Zustimmung des Bundesrates, soweit die Verwaltung den Landesfinanzbehörden oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) obliegt. Art. 109 [Haushaltswirtschaft in Bund und Ländern]. (1) Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig. (2) Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. (3) Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufgestellt werden. (4) Zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts können durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, Vorschriften über 1. Höchstbeträge, Bedingungen und Zeitfolge der Aufnahme von Krediten durch Gebietskörperschaften und Zweckverbände und 2. eine Verpflichtung von Bund und Ländern, unverzinsliche Guthaben bei der Deutschen Bundesbank zu unterhalten (Konjunkturausgleichsrücklagen), erlassen werden. Ermächtigungen zum Erlaß von Rechtsverordnungen können nur der Bundesregierung erteilt werden. Die Rechtsverordnungen bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Sie sind aufzuheben, soweit der Bundestag es verlangt; das Nähere bestimmt das Bundesgesetz. Art. 110 [Haushaltsplan des Bundes).... Art. 111 [Ausgaben vor Etatgenehmigung).... Art. 112 [Überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben].... Art. 113 [Ausgabenerhöhungen, Einnahmeminderungen|.... Art. 114 [Rechnungslegung, Bundesrechnungshof]. (1) Der Bundesminister der Finanzen hat dem Bundestage und dem Bundesrate über alle Einnahmen und Ausgaben sowie über das Vermögen und die Schulden im Laufe des nächsten Rechnungsjahres zur Entlastung der Bundesregierung Rechnung zu legen. (2) Der Bundesrechnungshof, dessen Mitglieder richterliche Unabhängigkeit besitzen, prüft die Rechnung sowie die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung. Er hat außer der Bundesregierung unmittelbar dem Bundestage und dem Bundesrate jährlich zu berichten. Im übrigen werden die Befugnisse des Bundesrechnungshofes durch Bundesgesetz geregelt. Art. 115 [Kreditbeschaffung]. (1) Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz. Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe

135

II. Verfassungsrechtliche Dokumente der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt. (2) Für Sondervermögen des Bundes können durch Bundesgesetz Ausnahmen von Absatz 1 zugelassen werden. Xa. Verteidigungsfall Art. 115a [Feststellung des Verteidigungsfalles]. (1) Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Verteidigungsfall), trifft der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates. Die Feststellung erfolgt auf Antrag der Bundesregierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. (2) Erfordert die Lage unabweisbar ein sofortiges Handeln und stehen einem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegen oder ist er nicht beschlußfähig, so trifft der Gemeinsame Ausschuß diese Feststellung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit seiner Mitglieder. (3) Die Feststellung wird vom Bundespräsidenten gemäß Artikel 82 im Bundesgesetzblatte verkündet. Ist dies nicht rechtzeitig möglich, so erfolgt die Verkündung in anderer Weise; sie ist im Bundesgesetzblatte nachzuholen, sobald die Umstände es zulassen. (4) Wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen und sind die zuständigen Bundesorgane außerstande, sofort die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 zu treffen, so gilt diese Feststellung als getroffen und als zu dem Zeitpunkt verkündet, in dem der Angriff begonnen hat. Der Bundespräsident gibt diesen Zeitpunkt bekannt, sobald die Umstände es zulassen. (5) Ist die Feststellung des Verteidigungsfalles verkündet und wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen, so kann der Bundespräsident völkerrechtliche Erklärungen über das Bestehen des Verteidigungsfalles mit Zustimmung des Bundestages abgeben. Unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 tritt an die Stelle des Bundestages der Gemeinsame Ausschuß. Art. 115b [Übergang der Befehls- und Verteidigungsgewalt]. Mit der Verkündung des Verteidigungsfalles geht die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundeskanzler über. Art. 115c [Landesgesetzgebung wird konkurrierende Bundesgesetzgebung].... Art. 115d [Verfahren der Bundesgesetzgebung].... Art. 115e [Befugnisse des Gemeinsamen Ausschusses]. (1) Stellt der Gemeinsame Ausschuß im Verteidigungsfalle mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens mit der Mehrheit seiner Mitglieder fest, daß dem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder daß dieser nicht beschlußfahig ist, so hat der Gemeinsame Ausschuß die Stellung von Bundestag und Bundesrat und nimmt deren Rechte einheitlich wahr.

136

1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (2) Durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses darf das Grundgesetz weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. Zum Erlaß von Gesetzen nach Artikel 23 Abs. 1 Satz 2, Artikel 24 Abs. 1 oder Artikel 29 ist der Gemeinsame Ausschuß nicht befugt. Art. 115f (Weisungen an Landesregierungen und Landesbehörden].... Art. 115g [Bundesverfassungsgericht nach Eintritt des Verteidigungsfalles].... Art. 115 h [Neuwahlen über Eintritt des Verteidigungsfalles].... Art. 115i [Befugnisse der Landesregierungen und Landesbehörden].... Art. 115k [Geltung von Gesetzen und Rechtsverordnungen].... Art. 1151 [Aufhebung von Gesetzen des Gemeinsamen Ausschusses; Friedensschluß].... XI. Übergangs- und Schlußbestimmungen Art. 116 [Deutsche Staatsangehörigkeit!· (1) Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. (2) Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben. Art. 117 [Übergangsregelung zu Art. 3 Abs. 2 und Art. 11).... Art. 118 [Neugliederung der badischen und württembergischen Länder).... Art. 118 a (Neugliederung Berlins und Brandenburgs]. Die Neugliederung in dem die Länder Berlin und Brandenburg umfassenden Gebiet kann abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 unter Beteiligung ihrer Wahlberechtigten durch Vereinbarung beider Länder erfolgen. Art. 119 [Flüchtlinge und Vertriebene]. In Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen, insbesondere zu ihrer Verteilung auf die Länder, kann bis zu einer bundesgesetzlichen Regelung die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Für besondere Fälle kann dabei die Bundesregierung ermächtigt werden, Einzelweisungen zu erteilen. Die Weisungen sind außer bei Gefahr im Verzuge an die obersten Landesbehörden zu richten. Art. 120 [Kriegsfolgelasten].... Art. 120a [Lastenausgleich)....

137

II. Verfassungsrechtliche Dokumente Art. 121 [Begriff der Mehrheit]. Mehrheit der Mitglieder des Bundestages und der Bundesversammlung im Sinne dieses Grundgesetzes ist die Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitgliederzahl. Art. 122 [Bisherige Gesetzgebungskompetenzen].... Art. 123 [Fortgeltung des alten Rechts].... Art. 124 (Altes Recht auf dem Gebiet der ausschließlichen Gesetzgebung],... Art. 125 [Altes Recht auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung].... Art. 126 [Streit über das Fortgehen alten Rechts).... Art. 127 [Recht des Vereinigten Wirtschaftsgebietes].... Art. 128 [Fortbestehen von Weisungsrechten].... Art. 129 [Fortgeltung von Ermächtigungen zu Rechtsverordnungen].... Art. 130 [Körperschaften des öffentlichen Rechts].... Art. 131 [Frühere Angehörige des öffentlichen Dienstes].... Art. 132 [Pensionierung von Beamten]. 2 ... Art. 133 [Rechtsnachfolge, Vereinigtes Wirtschaftsgebiet],... Art. 134 [Rechtsnachfolge in das Reichsvermögen].... Art. 135 [Vermögen bei Änderung des Gebietsstandes].... Art. 135 a [Verbindlichkeiten des Reiches und anderer Körperschaften].... Art. 136 [Erster Zusammentritt des Bundesrates]. 3 ... Art. 137 [Wählbarkeit von Beamten usw.]. (1) Die Wählbarkeit von Beamten, Angestellten des öffentlichen Dienstes, Berufssoldaten, freiwilligen Soldaten auf Zeit und Richtern im Bund, in den Ländern und den Gemeinden kann gesetzlich beschränkt werden. 4 Art. 138 [Notariat],... Art. 139 [Befreiungsgesetz].... Art. 140 [Geltung von Artikeln der Weimarer Verfassung], Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Deutschen Verfassung 5 vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.

2 3 4 5

Infolge Zeitablaufs gegenstandslos. Infolge Zeitablaufs gegenstandslos. Art. 137 Abs. 2 und 3 infolge Zeitablaufs gegenstandslos. Die Artikel 136-139 und 141 der Weimarer Verfassung lauten wie folgt: „Art. 136. Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.

138

1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 141 [„Bremer Klausel"]. Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Art. 142 [Grundrechte in Landesverfassungen]. Ungeachtet der Vorschrift des Artikels 31 bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten. Art. 142 a (aufgehoben) Art. 143 [Abweichungen von Bestimmungen des GG als Übergangsrecht]. (1) Recht in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet kann längstens bis zum 31. Dezember

Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Uberzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert. Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden. Art. 137. Es besteht keine Staatskirche. Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluß von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen. Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes. Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbände zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben. Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt diese der Landesgesetzgebung ob. Art. 138. Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf. Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet. Art. 139. Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Art. 141. Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist."

139

II. Verfassungsrechtliche Dokumente 1992 von Bestimmungen dieses Grundgesetzes abweichen, soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann. Abweichungen dürfen nicht gegen Artikel 19 Abs. 2 verstoßen und müssen mit den in Artikel 79 Abs. 3 genannten Grundsätzen vereinbar sein. (2) Abweichungen von den Abschnitten II, Vili, Villa, IX, X und XI sind längstens bis zum 31. Dezember 1995 zulässig. (3) Unabhängig von Absatz 1 und 2 haben Artikel 41 des Einigungsvertrags und Regelungen zu seiner Durchführung auch insoweit Bestand, als sie vorsehen, daß Eingriffe in das Eigentum auf dem in Artikel 3 dieses Vertrags genannten Gebiet nicht mehr rückgängig gemacht werden. Art. 143 a [Umwandlung der Bundeseisenbahnen in Wirtschaftsunternehmen). (1) Der Bund hat die ausschließliche Gesetzgebung über alle Angelegenheiten, die sich aus der Umwandlung der in bundeseigener Verwaltung geführten Bundeseisenbahnen in Wirtschaftsunternehmen ergeben. Artikel 87e Abs. 5 findet entsprechende Anwendung. Beamte der Bundeseisenbahnen können durch Gesetz unter Wahrung ihrer Rechtsstellung und der Verantwortung des Dienstherrn einer privat-rechtlich organisierten Eisenbahn des Bundes zur Dienstleistung zugewiesen werden. (2) Gesetze nach Absatz 1 führt der Bund aus. (3) Die Erfüllung der Aufgaben im Bereich des Schienenpersonennahverkehrs der bisherigen Bundeseisenbahnen ist bis zum 31. Dezember 1995 Sache des Bundes. Dies gilt auch für die entsprechenden Aufgaben der Eisenbahnverkehrsverwaltung. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Art. 143b [Umwandlung der Deutschen Bundespost]. (1) Das Sondervermögen Deutsche Bundespost wird nach Maßgabe eines Bundesgesetzes in Unternehmen privater Rechtsform umgewandelt. Der Bund hat die ausschließliche Gesetzgebung über alle sich hieraus ergebenden Angelegenheiten. (2) Die vor der Umwandlung bestehenden ausschließlichen Rechte des Bundes können durch Bundesgesetz für eine Übergangszeit den aus der Deutschen Bundespost POSTDIENST und der Deutschen Bundespost TELEKOM hervorgegangenen Unternehmen verliehen werden. Die Kapitalmehrheit am Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost POSTDIENST darf der Bund frühestens fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes aufgeben. Dazu bedarf es eines Bundesgesetzes mit Zustimmung des Bundesrates. (3) Die bei der Deutschen Bundespost tätigen Bundesbeamten werden unter Wahrung ihrer Rechtsstellung und der Verantwortung des Dienstherrn bei den privaten Unternehmen beschäftigt. Die Unternehmen üben Dienstherrenbefugnisse aus. Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz. Art. 144 [Ratifizierung des Grundgesetzes]. (1) Dieses Grundgesetz bedarf der Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder, in denen es zunächst gelten soll. (2) Soweit die Anwendung dieses Grundgesetzes in einem der in Artikel 23 aufgeführten Länder oder in einem Teile eines dieser Länder Beschränkungen unterliegt, hat das Land 140

2. Ä n d e r u n g e n des Grundgesetzes o d e r d e r Teil des L a n d e s d a s R e c h t , g e m ä ß Artikel 38 Vertreter in d e n B u n d e s t a g u n d g e m ä ß Artikel 50 Vertreter in d e n B u n d e s r a t z u e n t s e n d e n . Art. 145 (Verkiindung des Grundgesetzes].... Art. 146 6 [Geltungsdauer des Grundgesetzes]. Dieses G r u n d g e s e t z , d a s n a c h V o l l e n d u n g d e r E i n h e i t u n d Freiheit D e u t s c h l a n d s f ü r d a s g e s a m t e d e u t s c h e Volk gilt, verliert seine G ü l t i g keit a n d e m Tage, a n d e m eine V e r f a s s u n g in K r a f t tritt, die v o n d e m d e u t s c h e n Volke in freier E n t s c h e i d u n g b e s c h l o s s e n w o r d e n ist. Quelle: Bundesgesetzblatt, 1949, S. 1, zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Juli 2002 (BGBl. I Nr. 53 S. 2863).

II/2 Bisherige Änderungen des Grundgesetzes Lfd. Änderndes Gesetz Nr.

Datum

Fundstelle

Geänderte Artikel

Art der Änderg.

1.

Strafrechtsänderungsgesetz

30. 8. 1951

BGBl. I 739

143

aufgeh.

2.

Gesetz zur Einfügung eines Art. 120 a in das Grundgesetz

14. 8. 1952

BGBl. 1445

120a

eingef.

3.

Gesetz zur Änderung des Art. 107 des Grundgesetzes

20. 4. 1953

BGBl. I 130

107

geänd.

4.

ÄndG 7

26. 3. 1954

BGBl. 145

73 Nr. 1 79 Abs. 1 Satz 2, 142 a

geänd.

5.

Zweites Gesetz zur Änderung des Art. 107 des Grundgesetzes

25. 12. 1954

BGBl. 1517

107

geänd.

6.

Finanzverfassungsgesetz

23. 12. 1955

BGBl. 1817

106, 107

geänd.

7.

Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes

19. 3. 1956

BGBl. 1111

1 Abs. 3, 12, 36, 49, 60 Abs. 1, 96 Abs. 3, 137 Abs. 1 17a, 45a, 45 b, 59 a, 65 a, 87 a, 87 b, 96a, 143

geänd.

8.

Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Art. 106 G G

24. 12. 1956

BGBl. I 1077

106, Abs. 2 u . 6-8

eingef.

eingef.

geänd.

6 Beachte hierzu Art. 5 d EVertr. v. 31.8.1990 (BGBl. II S. 889), in diesem Band S. 54 ff. 7 ÄndG = Änderung des Grundgesetzes; die betreffenden Artikel oder der Name des Gesetzes stehen in Klammern, wenn sie im BGBl, im Titel angegeben sind.

141

II. Verfassungsrechtliche Dokumente

Lfd. Änderndes Gesetz Nr.

Datum

Fundstelle

Geänderte Artikel

Art der Änderg.

Gesetz zur Einfügung eines Artikels 135 a in das Grundgesetz

22. 10. 1957

BGBl. 11745

135a

eingef.

10.

ÄndG

23. 12. 1959

BGBl. 1813

74 Nr. IIa, 87c

eingef.

11.

Gesetz zur Einfügung eines Artikels über die Luftverkehrsverwaltung in das Grundgesetz (11. ÄndG)

6. 2. 1961

BGBl. I 65

87 d

eingef.

12.

12. ÄndG

6. 3. 1961

BGBl. 1141

96 Abs. 3 96a

aufgeh. geänd.

13.

13. ÄndG

16. 6. 1965

BGBl. 1513

74 Nr. 10 74 Nr. 10a

geänd. eingef.

14.

14. ÄndG

30. 7. 1965

BGBl. I 649

120 Abs. 1

geänd.

15.

15. ÄndG

8. 6. 1967

BGBl. 1581

109

geänd.

16.

16. ÄndG

18. 6. 1968

BGBl. 1657

92,95,96a,Abs. 3, 99, 100 Abs. 3 96 96 a wurde 96

geänd.

10, 11 Abs. 2, 12, 73, Nr. 1,87a, 91 9 Abs. 3 Satz 3, 12a, 19 Abs. 4 Satz 3,20 Abs. 4, 35 Abs. 2 u. 3, 53 a, 80a, 115a—1151, 59 a, 65 a Abs. 2, 142a, 143

geänd.

9.

17.

Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes

24. 6. 1968

BGBl. I 709

aufgeh.

eingef.

aufgeh.

18.

18. ÄndG (Artikel 76 und 77)

15. 11. 1968

BGBl. I 1177

76 Abs. 2, 77 Abs. 2 Satz 1 u. Abs. 3

geänd.

19.

19. ÄndG

29. 1. 1969

BGBl. I 97

93 Abs. 1 Nrn. 4 a, 4 b, 94 Abs. 2 Satz 2

eingef.

20.

20. ÄndG

12. 5. 1969

BGBl. I 357

109 Abs. 3 110, 112, 113, 114,115

geänd.

21.

21. ÄndG (Finanzreformgesetz)

12. 5. 1969

BGBl. I 359

91a, 91b, 104 a, 105 eingef. Abs. 2,106, 107, geänd. 108, 115c Abs. 3,115k Abs. 3

22.

22. ÄndG

12. 5. 1969

BGBl. I 363

74 Nr. 13 u. 22, 96 Abs. 4 74 Nr. 19 a, 75

142

geänd. eingef.

2. Änderungen des Grundgesetzes

Lfd. Änderndes Gesetz Nr.

Datum

Fundstelle

Geänderte Artikel

Art der Änderg.

Abs. 1 Nr. la, Abs. 2 u. 3 23.

23. Ä n d G

17. 7. 1969

BGBl. 1817

76 Abs. 3 Satz 1

geänd.

24.

24. Ä n d G

28. 7. 1969

BGBl. I 985

120 Abs. 1 Satz 2

geänd.

25.

25. ÄndG

19. 8. 1969

BGBl. I 1241

29

geänd.

26.

26. Ä n d G (Artikel 96)

26. 8. 1969

BGBl. I 1357

96 Abs. 5

eingef.

27.

27. Ä n d G

31. 7. 1970

BGBl. I 1161

38 Abs. 2 91a Abs. 1 Nr. 1

geänd.

28.

28. ÄndG (Artikel 74a GG)

18. 3. 1971

BGBl. I 206

74 a 75, 98 Abs. 3

eingef. geänd.

29.

29. Ä n d G

18. 3. 1971

BGBl. 1207

74 Nr. 20

geänd.

30.

30. ÄndG (Artikel 74 G G Umweltschutz)

12. 4. 1972

BGBl. I 593

74 Nr. 24

eingef.

31.

31. Ä n d G

28. 7. 1972

BGBl. I 1305

35 Abs. 2, 73 Nr. 10 87 Abs. 1 Satz 2 74 Nr. 4 a

geänd.

eingef.

32.

32. Ä n d G (Artikel 45 c)

15. 7. 1975

BGBl. I 1901

45c

eingef.

33.

33. Ä n d G (Artikel 29 und 39)

23. 8. 1976

BGBl. 12381

29, 39 Abs. 1 u. 2 45, 45 a Abs. 1 Satz 2,49

geänd. aufgeh.

34.

34. Ä n d G (Artikel 74 Nr. 4 a)

23. 8. 1976

BGBl. 12383

74 Nr. 4 a

geänd.

35.

35. ÄndG (Artikel 21 Abs. 1)

21. 12.1983

BGBl. I 1481

21 Abs. 1 Satz 4

geänd.

36.

Einigungsvertrag vom 31.8. 1990 in Verbindung mit Art. 1 des Einigungsgesetzes

23. 9. 1990

BGBl. II 885

Präambel 51 Abs. 2, 146 135a Abs. 2 23

geänd. eingef. aufgeh.

37.

ÄndG

14. 7. 1992

BGBl. I 1254

87 d Abs. 1 Satz 2

eingef.

38.

ÄndG

21. 12. 1992

BGBl. I 2086

50, 115e Abs. 2 Satz 2 23, 24 Abs. la, 28 Abs. 1 Satz 3, 45, 52 Abs. 3 a, 88 Satz 2

geänd. eingef.

39.

ÄndG

28. 6. 1993

BGBl. I 1002

18 Satz 1 16a 16 Abs. 2 Satz 2

geänd. eingef. aufgeh.

40.

ÄndG

20. 12. 1993

BGBl. I 2089

73 Nr. 6, 74

geänd.

143

II. Verfassungsrechtliche Dokumente

Lfd. Änderndes Gesetz Nr.

Datum

Fundstelle

Geänderte Artikel Nr. 23, 80 Abs. 2, 87 Abs. 1 Satz 1 73 Nr. 6 a, 87 e, 106a, 143a

41.

42.

ÄndG

ÄndG

30. 8. 1994

27. 10. 1994

BGBl. 12245

BGBl. 13146

73 Nr. 7, 80 Abs. 2, 87 Abs. 1 Satz 1 87 f, 143b

Art der Änderg.

eingef. geänd.

eingef.

29 Abs. 7 Satz 1, 72, 74 Abs. 1 Nr. 5,8, 18, 24, 76 Abs. 2 u. 3 3 Abs. 2 Satz 2, 3 Abs. 3 Satz 2, 20 a, 28 Abs. 2 Satz 3, 29 Abs. 8, 74 Abs. 1 Nr. 25 u. 26, 74 Abs. 2, 75 Abs. 1 Nr. 6, 75 Abs. 1 Satz 2, 75 Abs. 2 u. 3, 77 Abs. 2 a, 80 Abs. 3 u. 4, 87 Abs. 2 Satz 2, 93 Abs. 1 Nr. 2 a, 118a, 125a

geänd.

eingef.

43.

ÄndG

3. 11. 1995

BGBl. 11492

106 Abs. 3 Sätze 5 u. 6, Abs. 4 Satz 1 zweiter Halbsatz

geänd.

44.

ÄndG

24. 10. 1997

BGBl. 12470

28 Abs. 2 Satz 3 106 Abs. 3 Satz 1, 106 Abs. 5 a 106 Abs. 6 Satz 1-3, 6

geänd. eingef. geänd.

45.

ÄndG

26. 3. 1998

BGBl. 1610

13 Abs. 3 - 6

eingef.

46.

ÄndG

16. 7. 1998

BGBl. 11822

39 Abs. 1

geänd.

47.

ÄndG

1. 12.2000

BGBl. I 1633

16 Abs. 2

geänd.

48.

ÄndG

22. 12. 2000

BGBl. 11755

12a Abs. 4

geänd.

49.

ÄndG

26. 11.2001

BGBl. I 3219

108 Abs. 2 u. 3

geänd.

50.

ÄndG (Staatsziel Tierschutz)

26. 7.2002

BGBl. 12862

20 a

geänd.

51.

ÄndG (Artikel 96)

26. 7.2002

BGBl. 12863

96 Abs. 5

geänd.

Quelle: Eigene Zusammenstellung.

144

3. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission

II/3 Synopse der Bestimmungen des Grundgesetzes und der von der Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und Bundesrates empfohlenen Änderungen

Geltendes Recht

Artikel 3 GG (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission Artikel 3 GG (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Artikel 20 a GG Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäBigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Artikel 20b GG Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten. Artikel 23 GG (1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union und Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3. (2) In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.

145

II. Verfassungsrechtliche Dokumente Geltendes Recht

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission (3) Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz. (4) Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären. (5) Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmenlinderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich. (6) Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. (7) Das Nähere zu den Absätzen 4 bis 6 regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.

Artikel 24 GG

Artikel 24 GG

(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.

(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.

146

3. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission Geltendes Recht

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission (la) Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen.

(2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.

(2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.

Artikel 28 GG

Artikel 28 GG

(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten.

(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar.

(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung.

(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaBt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung.

Artikel 29 GG

Artikel 29 GG

(7) Sonstige Änderungen des Gebietsstandes der Länder können durch Staatsverträge der beteiligten Länder oder durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates erfolgen, wenn das Gebiet, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden soll, nicht mehr als 10000 Einwohner hat. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages bedarf. Es muß die Anhörung der betroffenen Gemeinden und Kreise vorsehen.

(7) Sonstige Änderungen des Gebietsstandes der Länder können durch Staatsverträge der beteiligten Länder oder durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates erfolgen, wenn das Gebiet, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden soll, nicht mehr als 50000 Einwohner hat. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages bedarf. Es muß die Anhörung der betroffenen Gemeinden und Kreise vorsehen.

147

II. Verfassungsrechtliche D o k u m e n t e Geltendes Recht

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission (8) Die Länder können eine Neugliederung für das jeweils von ihnen umfaBte Gebiet oder für Teilgebiete abweichend von den Vorschriften der Absätze 2 bis 7 durch Staatsvertrag regeln. Die betroffenen Gemeinden und Kreise sind zu hören. Der Staatsvertrag bedarf der Bestätigung durch Volksentscheid in jedem beteiligten Land. Betrifft der Staatsvertrag Teilgebiete der Länder, kann die Bestätigung auf Volksentscheide in diesen Teilgebieten beschränkt werden; Satz 5 2. Halbsatz findet keine Anwendung. Bei einem Volksentscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wenn sie mindestens ein Viertel der zum Bundestag Wahlberechtigten umfaBt; das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Der Staatsvertrag bedarf der Zustimmung des Bundestages. Artikel 45 GG Der Bundestag bestellt einen AusschuB für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Er kann ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen.

Artikel 50 GG

Artikel 50 GG

Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit.

Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit.

Artikel 52 GG

Artikel 52 GG

(3) Der Bundesrat faßt seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. Er verhandelt öffentlich. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden.

(3) Der Bundesrat faßt seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. Er verhandelt öffentlich. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden. (3a) Für Angelegenheiten der Europäischen Union kann der Bundesrat eine Europakammer bilden, deren Beschlüsse als Beschlüsse des Bundesrates gelten; Artikel 51 Abs. 2 und 3 Satz 2 gelten entsprechend.

(4) Den Ausschüssen des Bundesrates können andere Mitglieder oder Beauftragte der Regierungen der Länder angehören.

148

(4) Den Ausschüssen des Bundesrates können andere Mitglieder oder Beauftragte der Regierungen der Länder angehören.

3. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission Geltendes Recht

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission

Artikel 72 GG

Artikel 72 GG

(1) Im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht.

(1) Im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat.

(2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil

(2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.

1. eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder 2. die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder 3. die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert.

(3) Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daB eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit im Sinne von Absatz 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann. Artikel 74 GG

Artikel 74 GG

Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete:

Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete: 5 ·

5. den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland;

8. die Staatsangehörigkeit in den Ländern; 18. den Grundstücksverkehr, das Bodenrecht und das landwirtschaftliche Pachtwesen, das Wohnungswesen, das Siedlungs- und Heimstättenwesen;

[Überfuhrung der Materie in die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes als Art. 75 Abs. I Nr. 6 (neu)| 8.

-;

18. den Grundstücksverkehr, das Bodenrecht (ohne das Recht der Erschließungsbeiträge) und das landwirtschaftliche Pachtwesen, das Wohnungswesen, das Siedlungs- und Heimstättenwesen; 25. die Staatshaftung; 26. die künstliche Befruchtung beim Menschen sowie die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen sowie Regelungen zur Transplantation von Organen und Geweben;

149

II. Verfassungsrechtliche D o k u m e n t e Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission

Geltendes Recht

(2) Gesetze nach Absatz 1 Nr. 25 bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Artikel 75 GG

Artikel 75 GG (1) Der Bund hat das Recht, unter den Voraussetzungen des Artikels 72 Rahmenvorschriften zu erlassen über:

(1) Der Bund hat das Recht, unter den Voraussetzungen des Artikels 72 Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder zu erlassen über:

l.a) die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens;

1.a) die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, soweit sie die Zulassung zum Studium, die Studiengänge, die Prüfungen, die Hochschulgrade, das wissenschaftliche und künstlerische Personal betreffen;

2.

2.

die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse;

6.

den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland.

die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse und des Films;

(2) Rahmenvorschriften dürfen nur in Ausnahmefällen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten. (3) Erläßt der Bund Rahmenvorschriften, so sind die Länder verpflichtet, innerhalb einer durch das Gesetz bestimmten angemessenen Frist die erforderlichen Landesgesetze zu erlassen. Artikel 76 GG (Einbringung von Gesetzesvorlagen) (2) Vorlagen der Bundesregierung sind zunächst dem Bundesrate zuzuleiten. Der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu diesen Vorlagen Stellung zu nehmen. Die Bundesregierung kann eine Vorlage, die sie bei der Zuleitung an den Bundesrat ausnahmsweise als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, nach drei Wochen dem Bundestage zuleiten, auch wenn die Stellungnahme des Bundesrates noch nicht bei ihr eingegangen ist; sie hat die Stellungnahme des Bundesrates unverzüglich nach Eingang dem Bundestage nachzureichen.

150

Artikel 76 GG (2) Vorlagen der Bundesregierung sind zunächst dem Bundesrate zuzuleiten. Der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu diesen Vorlagen Stellung zu nehmen. Verlangt er aus wichtigem Grunde, insbesondere mit Rücksicht auf den Umfang einer Vorlage, eine Fristverlängerung, so beträgt die Frist neun Wochen. Die Bundesregierung kann eine Vorlage, die sie bei der Zuleitung an den Bundesrat ausnahmsweise als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, nach drei Wochen oder, wenn der Bundesrat ein Verlangen nach Satz 3 geäußert hat, nach sechs Wochen dem Bundestage zuleiten, auch wenn die Stellungnahme des Bundesrates noch nicht bei ihr eingegangen ist; sie hat die Stellungnahme des Bundesrates unverzüglich nach Eingang dem Bundestage nachzureichen. Bei Vorlagen zur Änderung dieses Grundgesetzes und zur Übertragung von Hoheitsrechten nach Artikel 23 oder 24 beträgt die Frist zur Stellungnahme neun Wochen; Satz 4 findet keine Anwendung.

3. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission Geltendes Recht

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission

(3) Vorlagen des Bundesrates sind dem Bundestage durch die Bundesregierung innerhalb von drei Monaten zuzuleiten. Sie hat hierbei ihre Auffassung darzulegen.

(3) Vorlagen des Bundesrates sind dem Bundestage durch die Bundesregierung innerhalb von sechs Wochen zuzuleiten. Sie soll hierbei ihre Auffassung darlegen. Verlangt sie aus wichtigem Grunde, insbesondere mit Rücksicht auf den Umfang einer Vorlage, eine Fristverlängerung, so beträgt die Frist neun Wochen. Wenn der Bundesrat eine Vorlage ausnahmsweise als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, beträgt die Frist drei Wochen oder, wenn die Bundesregierung ein Verlangen nach Satz 3 geäußert hat, sechs Wochen. Bei Vorlagen zur Änderung dieses Grundgesetzes und zur Übertragung von Hoheitsrechten nach Artikel 23 oder 24 beträgt die Frist neun Wochen; Satz 4 findet keine Anwendung. Der Bundestag hat über die Vorlagen in angemessener Frist zu beraten und BeschluB zu fassen.

Artikel 77 GG (Gesetzgebungsverfahren)

Artikel 77 GG

(1) Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen. Sie sind nach ihrer Annahme durch den Präsidenten des Bundestages unverzüglich dem Bundesrate zuzuleiten. (2) Der Bundesrat kann binnen drei Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses verlangen, daß ein aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates für die gemeinsame Beratung von Vorlagen gebildeter Ausschuß einberufen wird. Die Zusammensetzung und das Verfahren dieses Ausschusses regelt eine Geschäftsordnung, die vom Bundestage beschlossen wird und der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Die in diesen Ausschuß entsandten Mitglieder des Bundesrates sind nicht an Weisungen gebunden. Ist zu einem Gesetze die Zustimmung des Bundesrates erforderlich, so können auch der Bundestag und die Bundesregierung die Einberufung verlangen. Schlägt der Ausschuß eine Änderung des Gesetzesbeschlusses vor, so hat der Bundestag erneut Beschluß zu fassen. (2a) Soweit zu einem Gesetze die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist, hat der Bundesrat, wenn ein Verlangen nach Abs. 2 Satz 1 nicht gestellt oder das Vermittlungsverfahren ohne einen Vorschlag zur Änderung des Gesetzesbeschlusses beendet ist, in angemessener Frist über die Zustimmung BeschluB zu fassen.

151

II. Verfassungsrechtliche D o k u m e n t e Geltendes Recht

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission

(3) Soweit zu einem Gesetze die Zustimmung des Bundesrates nicht erforderlich ist, kann der Bundesrat, wenn das Verfahren nach Abs. 2 beendigt ist, gegen ein vom Bundestage beschlossenes Gesetz binnen zwei Wochen Einspruch einlegen. Die Einspruchsfrist beginnt im Falle des Abs. 2 letzter Satz mit dem Eingange des vom Bundestage erneut gefaßten Beschlusses. In allen anderen Fällen mit dem Eingange der Mitteilung des Vorsitzenden des in Abs. 2 vorgesehenen Ausschusses, daß das Verfahren vor dem Ausschusse abgeschlossen ist. (4) Wird der Einspruch mit der Mehrheit der Stimmen des Bundesrates beschlossen, so kann er durch Beschluß der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zurückgewiesen werden. Hat der Bundesrat den Einspruch mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln seiner Stimmen beschlossen, so bedarf die Zurückweisung durch den Bundestag einer Mehrheit von zwei Dritteln, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages.

Artikel 80 GG (Erlaß von Rechtsverordnungen) (1) Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben. Ist durch Gesetz vorgesehen, daß eine Ermächtigung weiter übertragen werden kann, so bedarf es zur Übertragung der Ermächtigung einer Rechtsverordnung. (2) Der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung, Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers über Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Einrichtungen der Bundeseisenbahnen und des Post- und Fernmeldewesens, über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen, sowie Rechtsverordnungen auf Grund von Bundesgesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen oder die von den Ländern im Auftrage des Bundes oder als eigene Angelegenheit ausgeführt werden.

152

Artikel 80 GG

3. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission Geltendes Recht

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission (3) Der Bundesrat kann der Bundesregierung Vorlagen für den ErlaB von Rechtsverordnungen zuleiten, die seiner Zustimmung bedürfen. (4) Soweit durch Bundesgesetz oder auf Grund von Bundesgesetzen Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, sind die Länder zu einer Regelung auch durch Gesetz befugt.

Artikel 87 GG

Artikel 87 GG

(2) Als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes werden diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt.

(2) Als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes werden diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt. Soziale Versicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes, aber nicht über mehr als drei Länder hinaus erstreckt, werden abweichend von Satz 1 als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt, wenn das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist.

Artikel 87 d GG

Artikel 87d GG

(1) Die Luftverkehrsverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung geführt.

(1) Die Luftverkehrsverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung geführt. Über die öffentlichrechtliche oder privat-rechtliche Organisationsform wird durch Bundesgesetz entschieden.

Artikel 88 GG

Artikel 88 GG

Der Bund errichtet eine Währungs- und Notenbank als Bundesbank.

Der Bund errichtet eine Währungs- und Notenbank als Bundesbank. Ihre Aufgaben und Befugnisse können einer Europäischen Zentralbank übertragen werden.

Artikel 93 GG

Artikel 93 GG

(1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet:

(1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: 2.a) bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes;

153

II. Verfassungsrechtliche Dokumente Geltendes Recht

Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission

Artikel 115 e GG

Artikel 115 e GG

(2) Durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses darf das Grundgesetz weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. Zum Erlaß von Gesetzen nach Artikel 24 Abs. 1 und Artikel 29 ist der Gemeinsame Ausschuß nicht befugt.

(2) Durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses darf das Grundgesetz weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. Zum Erlaß von Gesetzen nach Artikel 23 Abs. 1 Satz 2, Artikel 24 Abs. 1 oder Artikel 29 ist der Gemeinsame Ausschuß nicht befugt. Artikel 118a GG Die Neugliederung in dem die Länder Berlin und Brandenburg umfassenden Gebiet kann abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 unter Beteiligung ihrer Wahlberechtigten durch Vereinbarung beider Länder erfolgen. Artikel 125a GG Recht, das als Bundesrecht erlassen worden ist, aber wegen nachträglicher Änderung dieses Grundgesetzes nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte, gilt als Bundesrecht fort. Es kann durch Landesrecht aufgehoben und ergänzt werden.

Quelle: Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: Zur Sache 5/93, S. 254 ff.

II/4 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Vom 21. Oktober 1947 (Brem. Ges.-Bl. S. 251) i.d.F. der Änderungsgesetze vom 16. Januar 1953 (Brem. Ges.-Bl. S. 7), vom 29. März 1960 (Brem. Ges.-Bl. S. 41), vom 8. September 1970 (Brem. Ges.-Bl. S. 93), vom 13. März 1973 (Brem. Ges.-Bl. S. 17), vom 9. Dezember 1986 (Brem. Ges.-Bl. S. 283), vom 8. September 1987 (Brem. Ges.-Bl. S. 233) und vom 1. November 1994 (Brem. Ges.-Bl. S. 289), 26. März 1996 (Brem. Ges.-Bl. S. 81), 1. Oktober 1996 (Brem. Ges.-Bl. S. 303), 9. Oktober 1997 (Brem. Ges.-Bl. S. 353), 16. Dezember 1997 (Brem. Ges.-Bl. S. 629), 3. März 1998 (Brem. Ges.-Bl. S. 83, 85), l.Juni 1999 (Brem. Ges.-Bl. S. 143), 1. Februar 2000 (Brem. Ges.-Bl. S. 31) - Auszüge Erster Hauptteil Grundrechte und Grundpflichten Art. 1 (Bindung der Staatsgewalt) Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung sind an die Gebote der Sittlichkeit und Menschlichkeit gebunden.

154

4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 2 (Gleichheit vor dem Gesetz) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben das Recht auf gleiche wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungsmöglichkeiten. Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache und Herkunft, seines Glaubens, seiner sozialen Stellung, seiner religiösen und politischen Anschauungen bevorzugt oder benachteiligt werden. Art. 3 (Handlungsfreiheit) Alle Menschen sind frei. Ihre Handlungen dürfen nicht die Rechte anderer verletzten oder gegen das Gemeinwohl verstoßen. Die Freiheit kann nur durch Gesetz eingeschränkt werden, wenn die öffentliche Sicherheit, Sittlichkeit, Gesundheit oder Wohlfahrt es erfordert. Niemand darf zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung gezwungen werden, wenn nicht ein Gesetz oder eine auf Gesetz beruhende Bestimmung dies verlangt oder zuläßt. Art. 4 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) Glaube, Gewissen und Uberzeugung sind frei. Die ungehinderte Ausübung der Religion wird gewährleistet. Art. 5 (Freiheit der Person, Einschränkung: Recht auf Verteidigung)... Art. 6 (Verbot von Sondergerichten)... Art. 7 (Verbot rückwirkender Anwendung von Strafgesetzen und Doppelbestrafung) . . . Art. 8 (Recht auf Arbeit, freie Berufswahl) Jeder hat die sittliche Pflicht zu arbeiten und ein Recht auf Arbeit. Jeder hat das Recht, seinen Beruf frei zu wählen. Art. 9 (Verfassungstreue, Ehrenämter) Jeder hat die Pflicht der Treue gegen Volk und Verfassung. Er hat die Pflicht, am öffentlichen Leben Anteil zu nehmen und seine Kräfte zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen. Er ist nach Maßgabe der Gesetze verpflichtet, Ehrenämter anzunehmen. Art. 10 (Hilfeleistungspflicht) Bei Unglücksfällen, Notständen und Naturkatastrophen besteht eine allgemeine Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfeleistung. Art. 11 (Kunst, Wissenschaft und Lehre) Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil. Der Staat schützt und fördert das kulturelle Leben.

155

II. Verfassungsrechtliche Dokumente Art. IIa (Schutz der natürlichen Umwelt) Staat, Gemeinden und Körperschaften des öffentlichen Rechts tragen Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen. Daher gehört es auch zu ihren vorrangigen Aufgaben, Boden, Wasser und Luft zu schützen, mit Naturgütern und Energie sparsam umzugehen sowie die heimischen Tier- und Pflanzenarten und ihre natürliche Umgebung zu schonen und zu erhalten. Schäden im Naturhaushalt sind zu beheben oder auszugleichen. Art. 12 (Mensch und Technik) Der Mensch steht höher als Technik und Maschine. Zum Schutz der menschlichen Persönlichkeit und des menschlichen Zusammenlebens kann durch Gesetz die Benutzung wissenschaftlicher Erfindungen und technischer Einrichtungen unter staatliche Aufsicht und Lenkung gestellt sowie beschränkt und untersagt werden. Jeder hat das Recht auf Schutz seiner personenbezogenen Daten. Einschränkungen dieses Rechts sind nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit oder eines Dritten durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig. Jeder hat nach Maßgabe der Gesetze ein Recht auf Auskunft darüber, welche Informationen über ihn in Akten und Dateien gespeichert sind, und auf Einsicht in ihn betreffende Akten und Dateien. Der Schutz der personenbezogenen Daten ist auch bei Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs zu gewährleisten, soweit diese Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen. Art. 13 (Eigentum, Erbrecht, Enteignung) Eigentum verpflichtet gegenüber der Gemeinschaft. Sein Gebrauch darf dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen. Unter diesen Voraussetzungen werden Eigentum und Erbrecht gewährleistet. Eigentum darf nur zu Zwecken des Gemeinwohls, auf gesetzlicher Grundlage und, vorbehaltlich der Bestimmung des Artikels 44, nur gegen angemessene Entschädigung entzogen werden. Art. 14 (Wohnung; Anspruch und Unverletzlichkeit) Jeder Bewohner der Freien Hansestadt Bremen hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Es ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden, die Verwirklichung dieses Anspruchs zu fördern ... Art. 15 (Freie Meinungsäußerung, Postgeheimnis, Informationsfreiheit)... Art. 16 (Versammlungsfreiheit)... Art. 17 (Vereinigungsfreiheit)...

156

4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 18 (Freizügigkeit)... Art. 19 (Widerstandsrecht) Wenn die in der Verfassung festgelegten Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt verfassungswidrig angetastet werden, ist Widerstand jedermanns Recht und Pflicht. Art. 20 (Verfassungsänderungen) Verfassungsänderungen, die die in diesem Abschnitt enthaltenen Grundgedanken der allgemeinen Menschenrechte verletzen, sind unzulässig. Die Grundrechte und Grundpflichten binden den Gesetzgeber, den Verwaltungsbeamten und den Richter unmittelbar. Artikel 1 und Artikel 20 sind unabänderlich. Zweiter Hauptteil Ordnung des sozialen Lebens I. Abschnitt: Die Familie Art. 21 (Schutz der Familie) Ehe und Familie bilden die Grundlage des Gemeinschaftslebens und haben darum Anspruch auf den Schutz und die Förderung des Staates. Art. 22 (Gleichberechtigung) Mann und Frau haben in der Ehe die gleichen bürgerlichen Rechte und Pflichten. Die häusliche Arbeit und die Kindererziehung werden der Erwerbstätigkeit gleichgesetzt. Art. 23 (Erziehung) Die Eltern haben das Recht und die Pflicht, ihre Kinder zu aufrechten und lebenstüchtigen Menschen zu erziehen. Staat und Gemeinde leisten ihnen hierbei die nötige Hilfe. In persönlichen Erziehungsfragen ist der Wille der Eltern maßgebend. Das Erziehungsrecht kann den Eltern nur durch Richterspruch nach Maßgabe des Gesetzes entzogen werden. Art. 24 (Uneheliche Kinder) Eheliche und uneheliche Kinder haben den gleichen Anspruch auf Förderung und werden im beruflichen und öffentlichen Leben gleich behandelt. Art. 25 (Jugendschutz) Es ist Aufgabe des Staates, die Jugend vor Ausbeutung und vor körperlicher, geistiger und sittlicher Verwahrlosung zu schützen. Fürsorgemaßnahmen, die auf Zwang beruhen, bedürfen der gesetzlichen Grundlage.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente II. Abschnitt: Erziehung und Unterricht Art. 26 (Aufgaben und Ziele) Die Erziehung und Bildung der Jugend hat im wesentlichen folgende Aufgaben: 1. Die Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung, die auf der Achtung vor der Würde jedes Menschen und auf dem Willen zu sozialer Gerechtigkeit und politischer Verantwortung beruht, zur Sachlichkeit und Duldsamkeit gegenüber den Meinungen anderer führt und zur friedlichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern aufruft. 2. Die Erziehung zu einem Arbeitswillen, der sich dem allgemeinen Wohl einordnet, sowie die Ausrüstung mit den für den Eintritt ins Berufsleben erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten. 3. Die Erziehung zum eigenen Denken, zur Achtung vor der Wahrheit, zum Mut, sie zu bekennen und das als richtig und notwendig Erkannte zu tun. 4. Die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker. 5. Die Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt. Art. 27 (Recht auf Bildung) Jeder hat nach Maßgabe seiner Begabung das gleiche Recht auf Bildung. Dies Recht wird durch öffentliche Einrichtungen gesichert. Art. 28 (Aufsicht des Schulwesens)... Art. 29 (Privatschulen)... Art. 30 (Schulpflicht)... Art. 31 (Lehrgeld- und Lernmittelfreiheit, Begabtenförderung)... Art. 32 (Gemeinschaftsschule, Religionsunterricht) Die allgemeinbildenden öffentlichen Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage. Unterricht in Biblischer Geschichte wird nur von Lehrern erteilt, die sich dazu bereit erklärt haben. Über die Teilnahme der Kinder an diesem Unterricht entscheiden die Erziehungsberechtigten . Kirchen-, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben das Recht, außerhalb der Schulzeit in ihrem Bekenntnis oder in ihrer Weltanschauung diejenigen Kinder zu unterweisen, deren Erziehungsberechtigte dies wünschen. Art. 33 (Religiöse Toleranz) In allen Schulen herrscht der Grundsatz der Duldsamkeit. Der Lehrer hat in jedem Fach auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen aller Schüler Rücksicht zu nehmen. 158

4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 34 (Hochschulen) . . . Art. 35 (Erwachsenenbildung)... Art. 36 (Jugendförderung) . . . III. Abschnitt: Arbeit und W i r t s c h a f t Art. 37 (Schutz der Arbeit) Die Arbeit steht unter dem besonderen Schutz des Staates. Jede Arbeit hat den gleichen sittlichen Wert. Art. 38 (Wirtschaftszweck) Die Wirtschaft hat dem Wohle des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen. Die Wirtschaft der Freien Hansestadt Bremen ist ein Glied der einheitlichen deutschen Wirtschaft und hat in ihrem Rahmen die besondere Aufgabe, Seehandel, Seeschiffahrt und Seefischerei zu pflegen. Art. 39 (Wirtschaftsordnung) Der Staat hat die Pflicht, die Wirtschaft zu fördern, eine sinnvolle Lenkung der Erzeugung, der Verarbeitung und des Warenverkehrs durch Gesetz zu schaffen, jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ertrag aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen. Im Rahmen der hierdurch gezogenen Grenzen ist die wirtschaftliche Betätigung frei. Art. 40 (Mittelstand, Genossenschaften) Selbständige Klein- und Mittelbetriebe in Landwirtschaft, Industrie, Handwerk, Handel und Schiflahrt sind durch Gesetzgebung und Verwaltung zu schützen und zu fördern. Genossenschaften aller Art und gemeinnützige Unternehmen sind als Form der Gemeinwirtschaft zu fördern. Art. 41 (Wettbewerbsfreiheit) Die Aufrechterhaltung oder Bildung aller die Freiheit des Wettbewerbs beschränkenden privaten Zusammenschlüsse in der Art von Monopolen, Konzernen, Trusts, Kartellen und Syndikaten ist in der Freien Hansestadt Bremen untersagt. Unternehmen, die solchen Zusammenschlüssen angehören, haben mit Inkrafttreten dieser Verfassung daraus auszuscheiden. Durch Gesetz können Ausnahmen zugelassen werden. Art. 42 (Überführung in Gemeineigentum) I.

Durch Gesetz sind in Gemeineigentum zu überführen: a) Unternehmen, die den im Artikel 41 bezeichneten Zusammenschlüssen angehört haben und auch nach ihrem Ausscheiden aus diesen Zusammenschlüssen noch eine 159

II. Verfassungsrechtliche Dokumente Macht innerhalb der deutschen Wirtschaft verkörpern, die die Gefahr eines politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Mißbrauchs in sich schließt. b) Unternehmen, deren Wirtschaftszweck besser in gemeinwirtschaftlicher Form erreicht werden kann. II. Durch Gesetz können in Gemeineigentum überführt werden: a) Unternehmen, die eine nicht auf eigener technischer Leistung beruhende Monopolstellung innerhalb der deutschen Wirtschaft einnehmen. b) Die mit öffentlichen Mitteln für Rüstungszwecke geschaffenen Betriebe und die daraus entstandenen neuen Unternehmen. c) Unternehmen, die volkswirtschaftlich notwendig sind, aber nur durch laufende staatliche Kredite, Subventionen oder Garantien bestehen können. d) Unternehmen, die aus eigensüchtigen Beweggründen volkswirtschaftlich notwendige Güter verschwenden oder die sich beharrlich den Grundsätzen der sozialen Wirtschaftsverfassung widersetzen. III. Ob diese Voraussetzungen vorliegen und welche Unternehmen davon betroffen werden, ist in jedem Falle durch Gesetz zu bestimmen. Art. 43 (Rechtsträger und Verwaltung von Gemeineigentum)... Art. 44 (Entschädigung bei Enteignungen)... Art. 45 (Raumordnung) 1. Der Staat übt eine Aufsicht darüber aus, wie der Grundbesitz verteilt ist und wie er genutzt wird. Er hat das Fortbestehen und die Neubildung von übermäßig großem Grundbesitz zu verhindern. 2. Enteignet werden kann Grundbesitz auf gesetzlicher Grundlage, a) soweit er eine bestimmte, vom Gesetz vorgeschriebene Größe übersteigt, b) soweit sein Erwerb zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung der Siedlung und Urbarmachung oder zur Hebung der Landwirtschaft nötig ist, c) soweit sein Erwerb zur Schaffung lebensnotwendiger Anlagen wirtschaftlicher und sozialer Art erforderlich ist. 3.

Eine Umlegung von Grundstücken ist nach näherer gesetzlicher Regelung vorzunehmen, a) zur Herbeiführung einer besseren wirtschaftlichen Nutzung getrennt liegender landwirtschaftlicher Grundstücke, b) zur Durchführung einer Stadt- oder Landesplanung, insbesondere auch in kriegszerstörten Gebieten sowie zur Erschließung von Baugelände und zur Herbeiführung einer zweckmäßigen Gestaltung von Baugrundstücken. Durch Gesetz kann vorgeschrieben werden, daß zu öffentlichen Zwecken, insbesondere für Straßen, Plätze, Grün- und Erholungsflächen, Wasserzüge und ähnliche öffentliche Einrichtungen, Grundflächen der Umlegungsmasse ohne Entschädigung in das Eigentum des Staates oder der Gemeinde übergehen.

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4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen 4.

Grundbesitz ist der Spekulation zu entziehen. Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.

5.

Bei Grundbesitz, der landwirtschaftlichen, forstwirtschaftlichen oder gartenwirtschaftlichen Zwecken dient, sind durch Gesetz Maßnahmen zu treffen, daß der Grundbesitz ordnungsmäßig bewirtschaftet wird. Das Gesetz kann vorsehen, daß ein Grundstück, das trotz behördlicher Anmahnung nicht ordnungsmäßig bewirtschaftet wird, von einem Treuhänder verwaltet oder einem anderen zur Nutzung auf Zeit übertragen, in besonderen Fällen auch enteignet wird.

Art. 46 (Wirtschaftskammer) Aufgehoben durch das Gesetz vom 26.3.1996 (Brem. Ges.-Bl. S. 81) Art. 47 (Betriebsvertretungen) Alle Personen in Betrieben und Behörden erhalten gemeinsame Betriebsvertretungen, die in allgemeiner, gleicher, geheimer und unmittelbarer Wahl von den Arbeitnehmern zu wählen sind. Die Betriebsvertretungen sind dazu berufen, im Benehmen mit den Gewerkschaften gleichberechtigt mit den Unternehmern in wirtschaftlichen, sozialen und personellen Fragen des Betriebes mitzubestimmen. Das hierfür geltende Recht wird das Gesetz über die Betriebsvertretungen unter Beachtung des Grundsatzes schaffen, daß zentrales Recht Landesrecht bricht. In dem Gesetz sind die öffentlich-rechtlichen Befugnisse der zuständigen Stellen des Landes und der Gemeinden sowie die parlamentarische Verantwortlichkeit bei den Behörden und bei den Betrieben, die in öffentlicher Hand sind, zu wahren. Art. 48 (Koalitionsfreiheit) Arbeitnehmer und Unternehmer haben die Freiheit, sich zu vereinigen, um die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen zu gestalten. Niemand darf gehindert oder gezwungen werden, Mitglied einer solchen Vereinigung zu werden. Art. 49 (Recht auf Arbeit oder Arbeitslosenhilfe) Die menschliche Arbeitskraft genießt den besonderen Schutz des Staates. Der Staat ist verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, daß jeder, der auf Arbeit angewiesen ist, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt erwerben kann. Wer ohne Schuld arbeitslos ist, hat Anspruch auf Unterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen. Art. 50 (Arbeitsrecht) Für alle Personen in Betrieben und Behörden ist ein neues soziales Arbeitsrecht zu schaffen. Im Rahmen dieses Arbeitsrechts können Gesamtvereinbarungen nur zwischen den Vereinigungen der Arbeitnehmer und Unternehmer oder ihren Vertretungen abgeschlossen wer-

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente den. Sie schaffen verbindliches Recht, das grundsätzlich nur zugunsten der Arbeitnehmer abbedungen werden kann. Art. 51 (Schlichtungswesen; Streikrecht) Das Schlichtungswesen wird gesetzlich geregelt. Die zuständigen staatlichen Schlichtungsstellen haben die Aufgabe, eine Verständigung zwischen den Beteiligten zu fördern und auf Antrag einer oder beider Parteien oder auf Antrag des Senats Schiedssprüche zu fallen. Die Schiedssprüche können aus Gründen des Gemeinwohls für verbindlich oder allgemein verbindlich erklärt werden. Das Streikrecht der wirtschaftlichen Vereinigungen wird anerkannt. Art. 52 (Arbeitsbedingungen) Die Arbeitsbedingungen müssen die Gesundheit, die Menschenwürde, das Familienleben und die wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse des Arbeitnehmers sichern. Sie haben insbesondere die leibliche, geistige und sittliche Entwicklung der Jugendlichen zu fördern. Kinderarbeit ist verboten. Art. 53 (Gleicher Lohn für gleiche Leistung) Bei gleicher Arbeit haben Jugendliche und Frauen Anspruch auf gleichen Lohn, wie ihn die Männer erhalten. Der Frau steht bei gleicher Eignung ein gleichwertiger Arbeitsplatz zu. Art. 54 (Mutterschutz) Durch Gesetz sind Einrichtungen zum Schutz der Mütter und Kinder zu schaffen und die Gewähr, daß die Frau ihre Aufgabe im Beruf und als Bürgerin mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinen kann. Art. 55 (1. Mai, Sonn- und Feiertag; Arbeitszeitbegrenzung) Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag als Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, zu Frieden und Völkerverständigung. Der Achtstundentag ist der gesetzliche Arbeitstag. Alle Sonn- und gesetzlichen Feiertage sind arbeitsfrei. Ausnahmen können durch Gesetz oder Gesamtvereinbarungen zugelassen werden, wenn die Art der Arbeit oder das Gemeinwohl es erfordern. Das Arbeitsentgelt für die in die Arbeitszeit fallenden gesetzlichen Feiertage wird weiter gezahlt. Art. 56 (Mindesturlaub) Jeder Arbeitende hat Anspruch auf einen bezahlten, zusammenhängenden Urlaub von mindestens 12 Arbeitstagen im Jahr. Dieser Anspruch ist unabdingbar und kann auch nicht abgegolten werden. Näheres wird durch Gesetz oder Vereinbarungen der beteiligten Stellen geregelt.

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4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 57 (Sozialversicherung) Es ist eine das gesamte Volk verbindende Sozialversicherung zu schaffen. Die Sozialversicherung hat die Aufgabe, den Gesundheitszustand des Volkes, auch durch vorbeugende Maßnahmen, zu heben, Kranken, Schwangeren und Wöchnerinnen jede erforderliche Hilfe zu leisten und eine ausreichende Versorgung für Erwerbsbeschränkte, Erwerbsunfähige und Hinterbliebene sowie im Alter zu sichern. Leistungen sind in einer Höhe zu gewähren, die den notwendigen Lebensunterhalt sichern. Die Sozialversicherung ist sinnvoll aufzubauen. Die Selbstverwaltung der Versicherten wird anerkannt. Ihre Organe werden in allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Das Nähere bestimmt das Gesetz. Art. 58 (Sozialfürsorge) Wer nicht in der Lage ist, für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen den notwendigen Lebensunterhalt zu erwerben, erhält ihn aus öffentlichen Mitteln, wenn er ihn nicht aus vorhandenem Vermögen bestreiten kann oder einen gesetzlichen oder anderweitigen Anspruch auf Lebensunterhalt hat. Durch den Bezug von Unterstützung aus öffentlichen Mitteln dürfen staatsbürgerliche Rechte nicht beeinträchtigt werden. IV. Abschnitt: Kirchen und R e l i g i o n s g e s e l l s c h a f t e n Art. 59 (Selbstverwaltung) . . . Art. 60 (Vereinigungsfreiheit)... Art. 61 (Rechtspersönlichkeit)... Art. 62 (Anstaltsseelsorger)... Art. 63 (Gemeinnützigkeiten)... Dritter Hauptteil Aufbau und Aufgaben des Staates I.Abschnitt: Allgemeines Art. 64 (Freie Hansestadt) Der bremische Staat führt den Namen „Freie Hansestadt Bremen" und ist ein Glied der deutschen Republik und Europas. Art. 65 (Bekenntnis zur Demokratie) Die Freie Hansestadt Bremen bekennt sich zu Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Schutz der natürlichen Umwelt, Frieden und Völkerverständigung. 163

II. Verfassungsrechtliche Dokumente Sie fördert die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit, die auf den Aufbau nachbarschaftlicher Beziehungen, auf das Zusammenwachsen Europas und auf die friedliche Entwicklung der Welt gerichtet ist. Die Freie Hansestadt Bremen bekennt sich zum Zusammenhalt der Gemeinden des Landes und wirkt auf gleichwertige Lebensverhältnisse hin. Art. 66 (Volkssouveränität) Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird nach Maßgabe dieser Verfassung und der aufgrund der Verfassung erlassenen Gesetze ausgeübt: a) unmittelbar durch die Gesamtheit der stimmberechtigten Bewohner des bremischen Staatsgebietes, die ihren Willen durch Abstimmung (Volksentscheid) und durch Wahl zur Volksvertretung (Landtag) äußert; b) mittelbar durch den Landtag (Bürgerschaft) und die Landesregierung (Senat). Art. 67 (Gewaltenteilung) Die gesetzgebende Gewalt steht ausschließlich dem Volk (Volksentscheid) und der Bürgerschaft zu. Die vollziehende Gewalt liegt in den Händen des Senats und der nachgeordneten Vollzugsbehörden. Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige Richter ausgeübt. Art. 68 (Symbole) Die Freie Hansestadt Bremen führt ihre bisherigen Wappen und Flaggen. II. Abschnitt: Volksentscheid, Landtag und Landesregierung a) D e r V o l k s e n t s c h e i d Art. 69 (Stimmberechtigung - Abstimmung) Beim Volksentscheid ist stimmberechtigt, wer zur Bürgerschaft wahlberechtigt ist. Die Abstimmung ist allgemein, gleich, unmittelbar, frei und geheim; sie kann nur bejahend oder verneinend lauten. Der Abstimmungstag muß ein Sonntag oder allgemeiner öffentlicher Ruhetag sein. Art. 70 (Gegenstand des Volksentscheids) Der Volksentscheid findet statt: a) wenn die Bürgerschaft mit der Mehrheit ihrer Mitglieder eine Verfassungsänderung dem Volksentscheid unterbreitet;

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4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen b) wenn die Bürgerschaft eine andere zu ihrer Zuständigkeit gehörende Frage dem Volksentscheid unterbreitet; c) wenn ein Fünftel der Stimmberechtigten die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode verlangt; d) wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren auf Beschlußfassung über einen Gesetzentwurf stellt. Soll die Verfassung geändert werden, muß ein Fünftel der Stimmberechtigten das Begehren unterstützen. Der Gesetzentwurf ist vom Senat unter Darlegung seiner Stellungnahme der Bürgerschaft zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der Gesetzentwurf in der Bürgerschaft unverändert angenommen worden ist. Ist das Gesetz durch Volksentscheid abgelehnt, so ist ein erneutes Volksbegehren auf Vorlegung desselben Gesetzentwurfes erst zulässig, nachdem inzwischen die Bürgerschaft neu gewählt ist. Ein Volksentscheid über den Haushaltsplan, über Dienstbezüge und über Steuern, Abgaben und Gebühren sowie über Einzelheiten solcher Gesetzesvorlagen ist unzulässig. Art. 71 (Inhalt)... Art. 72 (Beteiligung, Mehrheiten)... Art. 73 (Ausfertigung und Verkündung) . . . Art. 74 (Verfahrensregelung)... b) D e r L a n d t a g ( B ü r g e r s c h a f t ) Art. 75 (Zusammensetzung, WahJ) Die Mitglieder der Bürgerschaft werden in den Wahlbereichen Bremen und Bremerhaven auf vier Jahre in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt. Das Nähere, insbesondere über Wahlberechtigung und Wählbarkeit, bestimmt das Wahlgesetz. Die Zahl der Mitglieder der Bürgerschaft wird durch Gesetz festgelegt. Auf Wahlvorschläge, für die weniger als fünf vom Hundert der Stimmen im Wahlbereich Bremen bzw. im Wahlbereich Bremerhaven abgegeben werden, entfallen keine Sitze. Gewählt wird innerhalb des letzten Monats der Wahlperiode der vorhergehenden Bürgerschaft, soweit die Verfassung nichts anderes bestimmt. Der Wahltag muß ein Sonntag oder allgemeiner öffentlicher Ruhetag sein. Art. 76 (Vorzeitige Beendigung der Wahlperiode) Die Wahlperiode kann vorzeitig beendet werden: a) durch Beschluß der Bürgerschaft. Der Antrag muß von wenigstens einem Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl gestellt und mindestens zwei Wochen vor der Sitzung, auf deren Tagesordnung er gebracht wird, allen Abgeordneten und dem Senat mitgeteilt werden. Der Beschluß bedarf der Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder der Bürgerschaft.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente b) durch Volksentscheid, wenn ein Fünftel der Stimmberechtigten es verlangt (Volksbegehren). Durch Volksentscheid kann die Wahlperiode nur vorzeitig beendet werden, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten zustimmt. Die Neuwahl findet spätestens an dem Sonntag oder allgemeinen öffentlichen Ruhetag statt, der auf den siebzigsten Tag nach der Entscheidung über die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode folgt. Art. 77 (Fraktionen) ... Art. 78 (Parlamentarische Opposition) ... Art. 79 (Unterrichtung durch den Senat) ... Art. 80 (Beendigung der Mitgliedschaft in der Bürgerschaft)... Art. 81 (Konstituierung, Einberufung) . . . Art. 82 (Entschädigungen)... Art. 83 (Treue und Geheimhaltungspflicht) ... Art. 84 (Befangenheit)... Art. 85 (Ausschluß)... Art. 86 (Wahl des Präsidiums)... Art. 87 (Anträge) ... Art. 88 (Sitzungsperioden)... Art. 89 (Beschlußfähigkeit)... Art. 90 (Beschlußfassung)... Art. 91 (Öffentlichkeit)... Art. 92 (Aufgaben des Präsidenten)... Art. 93 (Verhandlungsberichte)... Art. 94 (Indemnität) ... Art. 95 (Immunität) ... Art. 96 (Zeugnisverweigerungsrecht, Durchsuchung und Beschlagnahme)... Art. 97 (Ausübung der Abgeordnetentätigkeit)... 166

4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 98 (Benachrichtigung des Senats; Teilnahme der Senatsmitglieder)... Art. 99 (aufgehoben) Art. 100 (Anfragen an den Senat)... Art. 101 (Zuständigkeit der Bürgerschaft) Die Bürgerschaft beschließt, abgesehen von den ihr durch diese Verfassung zugewiesenen sonstigen Aufgaben, insbesondere über 1. Erlaß, Änderung und Aufhebung von Gesetzen, 2. Festsetzung von Abgaben und Tarifen, 3. Übernahme neuer Aufgaben, für die eine gesetzliche Verpflichtung nicht besteht, besonders vor Errichtung und Erweiterung von öffentlichen Einrichtungen, Betrieben und wirtschaftlichen Unternehmen sowie vor Beteiligung an solchen Unternehmen, 4. Umwandlung der Rechtsform von Eigenbetrieben oder Unternehmen, an denen die Freie Hansestadt Bremen maßgebend beteiligt ist, 5. Bewilligung über- und außerplanmäßiger Ausgaben sowie Genehmigung von Anordnungen, durch die Verbindlichkeiten der Freien Hansestadt Bremen entstehen können, für die keine Mittel im Haushaltsplan vorgesehen sind, 6. Verfügung über Vermögen der Freien Hansestadt Bremen, besonders Erwerb, Veräußerungen und Belastung von Grundstücken, Schenkungen und Darlehnshingaben, soweit es sich nicht um Geschäfte der laufenden Verwaltung handelt, 7. Verzicht auf Ansprüche der Freien Hansestadt Bremen und Abschluß von Vergleichen, soweit es sich nicht um Geschäfte der laufenden Verwaltung handelt. Anordnungen, die der Gesetzesform bedürfen, können, wenn außerordentliche Umstände ein sofortiges Eingreifen erfordern, durch Verordnung des Senats getroffen werden. Die Verordnung darf keine Änderung der Verfassung enthalten; sie ist sofort der Bürgerschaft zur Bestätigung vorzulegen, und wenn die Bestätigung versagt wird, unverzüglich wieder aufzuheben. Das Nähere über die Rechte der Bürgerschaft bei der Benennung von Mitgliedern in europäischen Organen regelt das Gesetz. Die Bürgerschaft wählt die Betriebsausschüsse der Eigenbetriebe. Das Nähere regelt ein Gesetz. Art. 102 (Deckungsnachweispflicht bei Beschlüssen)... Art. 103 (Zustellung der Beschlüsse)... Art. 104 (aufgehoben) Art. 105 (Ausschüsse)... Art. 106 (Geschäftsordnung) . . .

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente c) D i e L a n d e s r e g i e r u n g ( S e n a t ) Art. 107 (Zusammensetzung, Wahl) Die Landesregierung besteht aus einem Senat. Ihm gehören Senatoren an, deren Zahl durch Gesetz bestimmt wird. Zu weiteren Mitgliedern des Senats können Staatsräte, deren Zahl ein Drittel der Zahl der Senatoren nicht übersteigen darf, gewählt werden. Diese weiteren Mitglieder stehen für die Dauer ihrer Mitgliedschaft im Senat in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis; das Nähere regelt ein Gesetz. Die Senatsmitglieder werden von der Bürgerschaft mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen für die Dauer der Wahlperiode der Bürgerschaft gewählt. Dabei wird zunächst der Präsident des Senats in einem gesonderten Wahlgang gewählt. Staatsräte als weitere Mitglieder werden auf Vorschlag des Senats gewählt. Bis zur Wahl eines Senats durch die neue Bürgerschaft führt der bisherige Senat die Geschäfte weiter. Gewählt werden kann, wer in die Bürgerschaft wählbar ist. Er braucht weder seine Wohnung noch seinen Aufenthalt in der Freien Hansestadt Bremen gehabt zu haben. Wiederwahl der Mitglieder des Senats ist zulässig. Der Gewählte ist zur Annahme der Wahl nicht verpflichtet; auch steht ihm der Austritt aus dem Senat jederzeit frei. Art. 108 (Inkompatibilität zur Bürgerschaft) Die Senatsmitglieder können nicht gleichzeitig der Bürgerschaft angehören. Ist ein Bürgerschaftsmitglied in den Senat gewählt und daraufhin gemäß Absatz 1 dieses Artikels aus der Bürgerschaft ausgetreten, so hat es, wenn es von dem Amt eines Senatsmitgliedes zurücktritt, das Recht, wieder in die Bürgerschaft als Mitglied einzutreten; wer an seiner Stelle aus der Bürgerschaft auszuscheiden hat, bestimmt das Wahlgesetz. Das gleiche gilt, wenn ein Senatsmitglied in die Bürgerschaft gewählt, aber mit Rücksicht auf diesen Artikel nicht in die Bürgerschaft eingetreten ist, für den Fall seines späteren Rücktritts von dem Amte eines Senatsmitgliedes. Art. 109 (Amtseid)... Art. 110 (Rücktritt, Vertrauensentzug) Der Senat oder ein Mitglied des Senats hat zurückzutreten, wenn die Bürgerschaft ihm durch ausdrücklichen Beschluß das Vertrauen entzieht. Ein Antrag, dem Senat oder einem Mitgliede des Senats das Vertrauen zu entziehen, muß von mindestens einem Viertel der gesetzlichen Mitgliederzahl der Bürgerschaft gestellt und mindestens eine Woche vor der Sitzung, auf deren Tagesordnung er gebracht wird, allen Bürgerschaftsmitgliedern und dem Senat mitgeteilt werden. Der Beschluß auf Entziehung des Vertrauens kommt nur zustande, wenn die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl zustimmt. Er wird rechtswirksam, wenn die Bürgerschaft einen neuen Senat oder ein neues Mitglied des Senats gewählt oder ein Gesetz beschlossen hat,

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4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen durch das die Zahl der Mitglieder entsprechend herabgesetzt wird. Satz 2 gilt nicht für die weiteren Mitglieder des Senats. Wenn sich ein Mitglied des Senats beharrlich weigert, den ihm gesetzlich oder nach der Geschäftsordnung obliegenden Verbindlichkeiten nachzukommen oder der Pflicht zur Geheimhaltung zuwiderhandelt oder die dem Senat oder seiner Stellung schuldige Achtung gröblich verletzt, so kann ihm auf Antrag des Senats durch Beschluß der Bürgerschaft die Mitgliedschaft im Senat entzogen werden. Art. 111 (Anklage der Senatoren)... Art. 112 (Rechtsstellung der Senatoren)... Art. 113 (Berufliche Inkompatibilität) Mit dem Amt eines Senatsmitgliedes ist die Ausübung eines anderen öffentlichen Amtes oder einer anderen Berufstätigkeit in der Regel unvereinbar. Der Senat kann Senatsmitgliedern die Beibehaltung ihrer Berufstätigkeit gestatten. Die Wahl in den Vorstand, Verwaltungsrat oder Aufsichtsrat industrieller oder ähnlicher den Gelderwerb bezweckender Unternehmungen dürfen Senatsmitglieder nur mit besonderer Genehmigung des Senats annehmen. Einer solchen Genehmigung bedarf es auch, wenn sie nach ihrem Eintritt in den Senat in dem Vorstand, Verwaltungsrat oder Aufsichtsrat einer der erwähnten Unternehmungen bleiben wollen. Die erteilte Genehmigung ist dem Präsidenten der Bürgerschaft anzuzeigen. Art. 114 (Bürgermeister) Der Präsident des Senats und ein weiterer vom Senat zu wählender Senator sind Bürgermeister. Art. 115 (Befugnisse des Präsidenten) Der Präsident des Senats wird zunächst durch den anderen Bürgermeister und erforderlichenfalls durch ein anderes, von ihm dazu bestimmtes Mitglied des Senats vertreten. Der Präsident des Senats hat die Leitung der Geschäfte des Senats; er hat für den ordnungsmäßigen Geschäftsgang Sorge zu tragen sowie für die gehörige Ausführung der von den einzelnen Mitgliedern des Senats wahrzunehmenden Geschäfte. Von allen an ihn für den Senat gelangenden Eingaben muß er dem Senat in der nächsten Versammlung Mitteilung machen. Art. 116 (Antragsrecht im Senat)... Art. 117 (Beschlußfassung)... Art. 118 (Aufgaben des Senats) Der Senat führt die Verwaltung nach den Gesetzen und den von der Bürgerschaft gegebenen Richtlinien. Er vertritt die Freie Hansestadt Bremen nach außen. Zur Abgabe von rechtsverbindlichen Erklärungen für die Freie Hansestadt Bremen ist der Präsident des Senats oder sein Stellvertreter ermächtigt.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Soweit die Verfassung nichts anderes bestimmt, ist der Senat Dienstvorgesetzter aller im Dienste der Freien Hansestadt Bremen stehenden Personen, er stellt sie ein und entläßt sie. Dabei hat er den Stellenplan zu beachten. Durch Gesetz kann bestimmt werden, daß der Ernennung von Personen, die Kontrollaufgaben gegenüber der vollziehenden Gewalt wahrnehmen, dabei sachlich unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind und über ihre Tätigkeit der Bürgerschaft Bericht zu erstatten haben, eine Wahl in der Bürgerschaft vorangeht. Der Senat kann seine Befugnisse nach Absatz 1 und 2 ganz oder teilweise übertragen. Zur Übernahme des ihm übertragenen Geschäfts ist regelmäßig jedes Mitglied verpflichtet. Bei Verhinderung einzelner Mitglieder ist eine Vertretung durch andere Mitglieder des Senats zulässig. Art. 119 (Ausführung von Beschlüssen, Ausgaben) ... Art. 120 (Geschäftsverteilung)... Art. 121 (Begnadigung, Amnestien, Niederschlagung)... III. Abschnitt: Rechtsetzung Art. 122 (Völkerrecht im Landesrecht) ... Art. 123 (Gesetze, Initiative, Ausfertigung und Verkündung) ... Art. 124 (Rechtsverordnungen) ... Art. 125 (Verfassungsänderung) Eine Verfassungsänderung kann nur in der Form erfolgen, daß eine Änderung des Wortlauts der Verfassung oder ein Zusatzartikel zur Verfassung beschlossen wird. Bei einer Verfassungsänderung haben drei Lesungen an verschiedenen Tagen stattzufinden. Die Bürgerschaft hat den Antrag auf Verfassungsänderung nach der ersten Lesung an einen nichtständigen Ausschuß im Sinne des Artikels 105 dieser Verfassung zu verweisen. Nach Eingang des Berichtes dieses Ausschusses haben zwei weitere Lesungen an verschiedenen Tagen stattzufinden. Ein Beschluß auf Abänderung der Verfassung kommt außer durch Volksentscheid nur zustande, wenn die Bürgerschaft mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder zustimmt. Eine Änderung dieser Landesverfassung, durch welche die in den Artikeln 143, 144, 145 Abs. 1 und 147 niedergelegten Grundsätze und die Einteilung des Wahlgebiets in die Wahlbereiche Bremen und Bremerhaven (Art. 75) berührt werden, ist nur durch Volksentscheid oder einstimmigen Beschluß der Bürgerschaft zulässig. Art. 126 (Inkrafttreten der Gesetze)... 170

4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen IV. Abschnitt: Verwaltung Art. 127 (Behördenleiter)... Art. 128 (Anstellung und Beförderung)... Art. 129 (Deputationen)... Art. 130 (Vermögen)... Art. 131 (Rechnungsjahr; Haushaltsgesetz) . . . Art. 132 (Haushaltsführung) . . . Art. 133 (Rechnungslegung) ... Art. 133 a (Rechnungshof) Der Rechnungshof prüft die Rechnung sowie die Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung. Die Mitglieder des Rechnungshofs sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Sie werden von der Bürgerschaft gewählt und sind vom Senat zu ernennen. Das Nähere wird durch Gesetz geregelt. V.Abschnitt: R e c h t s p f l e g e Art. 134 (Grundsätze)... Art. 135 (Ausübung)... Art. 136 (Richterwahlausschuß; Berufung und Abberufung der Richter)... Art. 137 (Amtsversetzung und -enthebung der Richter)... Art. 138 (Richteranklage)... Art. 139 (Staatsgerichtshof) . . . Es wird ein Staatsgerichtshof errichtet. Der Staatsgerichtshof besteht, sofern er nicht gemeinsam mit anderen deutschen Ländern oder gemeinsam für alle deutschen Länder eingerichtet wird, aus dem Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts oder seinem Stellvertreter sowie aus sechs gewählten Mitgliedern, von denen zwei rechtsgelehrte bremische Richter sein müssen. Die gewählten Mitglieder werden von der Bürgerschaft unverzüglich nach ihrem ersten Zusammentritt für die Dauer ihrer Wahlperiode gewählt und bleiben im Amt, bis die nächste Bürgerschaft die Neuwahl vorgenommen hat. Bei der Wahl soll die Stärke der Fraktionen nach Möglichkeit berücksichtigt

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente werden. Die gewählten Mitglieder dürfen nicht Mitglieder des Senats oder der Bürgerschaft sein. Wiederwahl ist zulässig. Art. 140 (Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes) Der Staatsgerichtshof ist zuständig für die Entscheidung von Zweifelsfragen über die Auslegung der Verfassung und andere staatsrechtliche Fragen, die ihm der Senat, die Bürgerschaft oder ein Fünftel der gesetzlichen Mitgliederzahl der Bürgerschaft oder eine öffentlichrechtliche Körperschaft des Landes Bremen vorlegt. Bei Organstreitigkeiten sind antragsberechtigt Verfassungsorgane oder Teile von ihnen, die durch diese Verfassung oder die Geschäftsordnung der Bürgerschaft mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Der Staatsgerichtshof ist ferner zuständig in den anderen durch Verfassung oder Gesetz vorgesehenen Fällen. Art. 141 (Rechtswege)... Art. 142 (Verfassungswidrige Gesetze) Gelangt ein Gericht bei der Anwendung eines Gesetzes, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, zu der Überzeugung, daß das Gesetz mit dieser Verfassung nicht vereinbar sei, so führt es eine Entscheidung des Staatsgerichtshofes herbei. Dessen Entscheidung ist im Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen zu veröffentlichen und hat Gesetzeskraft. VI. Abschnitt: Gemeinden Art. 143 (Gemeinde und Gemeindeverband) Die Stadt Bremen und die Stadt Bremerhaven bilden jede für sich eine Gemeinde des bremischen Staates. Die Freie Hansestadt Bremen bildet einen aus den Gemeinden Bremen und Bremerhaven zusammengesetzten Gemeindeverband höherer Ordnung. Art. 144 (Selbstverwaltung) Die Gemeinden sind Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts. Sie haben das Recht auf eine selbständige Gemeindeverfassung und innerhalb der Schranken der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Art. 145 (Gemeindeverfassungen, Bezirksvertretungen) Die Verfassungen der Gemeinden werden von den Gemeinden selbst festgestellt. Durch Gesetz können dafür Grundsätze bestimmt werden. Die Gemeinden können für die Verwaltung örtlicher Angelegenheiten bestimmter Stadtteile, insbesondere der stadtbremischen Außenbezirke, durch Gemeindegesetz örtlich gewählte Bezirksvertretungen einrichten.

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4. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen Art. 146 (Gemeindefinanzen) Für das Finanzwesen der Gemeinden gelten die Bestimmungen der Artikel 102 und 131 bis 133 entsprechend. Art. 147 (Gemeindeaufsicht) Der Senat hat die Aufsicht über die Gemeinden. Die Aufsicht beschränkt sich auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Art. 148 (Organe der Stadtgemeinde Bremen) Sofern nicht die Stadtgemeinde Bremen gemäß Artikel 145 durch Gesetz etwas anderes bestimmt, sind die Stadtbürgerschaft und der Senat die gesetzlichen Organe der Stadtgemeinde Bremen. Auf die Verwaltung der Stadtgemeinde Bremen sind in diesem Falle die Bestimmungen dieser Verfassung über Volksentscheid, Bürgerschaft und Senat entsprechend anzuwenden. Die Stadtbürgerschaft besteht aus den von den stadtbremischen Wählern mit der Wahl zur Bürgerschaft im Wahlbereich Bremen gewählten Vertretern. Der Präsident der Bürgerschaft ist, sofern die Stadtbürgerschaft nicht etwas anderes beschließt, zugleich Präsident der Stadtbürgerschaft. Seine Befugnisse in der Stadtbürgerschaft beschränken sich jedoch, wenn er nicht von den stadtbremischen Wählern in die Bürgerschaft gewählt ist, lediglich auf die Führung der Präsidialgeschäfte. Dasselbe gilt entsprechend von den übrigen Mitgliedern des Vorstandes. Art. 149 (Auftragsverwaltungen)... Übergangs- und Schlußbestimmungen Art. 150 (Abweichungen vom geltenden Reichsrecht)... Art. 151 (Abtretung von Zuständigkeiten)... Art. 152 (Verfassungsvorbehalt) Bestimmungen dieser Verfassung, die der künftigen deutschen Verfassung widersprechen, treten außer Kraft, sobald diese rechtswirksam wird. Art. 153 (Vorübergehende Eingriffe in Grundrechte) . . . Art. 154 (Nationalsozialismus und Militarismus) ... Art. 155 (Verkündung und Inkrafttreten)...

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente

II/5 Verfassung des Freistaates Sachsen

Vom 27. Mai 1992 (Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, 1992, S. 243) Auszüge Präambel Anknüpfend an die Geschichte der Mark Meißen, des sächsischen Staates und des niederschlesischen Gebietes, gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte, ausgehend von den leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft, eingedenk eigener Schuld an seiner Vergangenheit, von dem Willen geleitet, der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung zu dienen, hat sich das Volk im Freistaat Sachsen dank der friedlichen Revolution des Oktober 1989 diese Verfassung gegeben. 1. Abschnitt: Die Grundlagen des Staates Artikel 1 Der Freistaat Sachsen ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Er ist ein demokratischer, dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Kultur verpflichteter sozialer Rechtsstaat. Artikel 2 (1) Die Hauptstadt des Freistaates ist Dresden. (2) Die Landesfarben sind Weiß und Grün. (3) Das Landeswappen zeigt im neunmal von Schwarz und Gold geteilten Feld einen schrägrechten grünen Rautenkranz. Das Nähere bestimmt ein Gesetz. (4) Im Siedlungsgebiet der Sorben können neben den Landesfarben und dem Landeswappen Farben und Wappen der Sorben, im schlesischen Teil des Landes die Farben und das Wappen Niederschlesiens, gleichberechtigt geführt werden. Artikel 3 (1) Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

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5. Verfassung des Freistaates Sachsen (2) Die Gesetzgebung steht dem Landtag oder unmittelbar dem Volk zu. Die vollziehende Gewalt liegt in der Hand von Staatsregierung und Verwaltung. Die Rechtsprechung wird durch unabhängige Richter ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Artikel 4 (1) Alle nach der Verfassung durch das Volk vorzunehmenden Wahlen und Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. (2) Wahl- und stimmberechtigt sind alle Bürger, die im Land wohnen oder sich dort gewöhnlich aufhalten und am Tag der Wahl oder Abstimmung das 18. Lebensjahr vollendet haben. (3) Das Nähere bestimmen die Gesetze. Dabei kann das Wahl- und Stimmrecht von einer bestimmten Dauer des Aufenthaltes im Land und, wenn die Wahl- und Stimmberechtigten mehrere Wohnungen innehaben, auch davon abhängig gemacht werden, daß ihre Hauptwohnung im Land liegt. Artikel 5 (1) Dem Volk des Freistaates Sachsen gehören Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an. Das Land erkennt das Recht auf die Heimat an. (2) Das Land gewährleistet und schützt das Recht nationaler und ethnischer Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege ihrer Sprache, Religion, Kultur und Überlieferung. (3) Das Land achtet die Interessen ausländischer Minderheiten, deren Angehörige sich rechtmäßig im Land aufhalten. Artikel 6 (1) Die im Land lebenden Bürger sorbischer Volkszugehörigkeit sind gleichberechtigter Teil des Staatsvolkes. Das Land gewährleistet und schützt das Recht auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege und Entwicklung ihrer angestammten Sprache, Kultur und Überlieferung, insbesondere durch Schulen, vorschulische und kulturelle Einrichtungen. (2) In der Landes- und Kommunalplanung sind die Lebensbedürfnisse des sorbischen Volkes zu berücksichtigen. Der deutsch-sorbische Charakter des Siedlungsgebietes der sorbischen Volksgruppe ist zu erhalten. (3) Die landesübergreifende Zusammenarbeit der Sorben, insbesondere in der Ober- und Niederlausitz, liegt im Interesse des Landes. Artikel 7 (1) Das Land erkennt das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein, insbesondere auf Arbeit, auf angemessenen Wohnraum, auf angemessenen Lebensunterhalt, auf soziale Sicherung und auf Bildung, als Staatsziel an. (2) Das Land bekennt sich zur Verpflichtung der Gemeinschaft, alte und behinderte Menschen zu unterstützen und auf die Gleichwertigkeit ihrer Lebensbedingungen hinzuwirken.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Artikel 8 Die Förderung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern ist Aufgabe des Landes. Artikel 9 (1) Das Land erkennt das Recht eines jeden Kindes auf eine gesunde seelische, geistige und körperliche Entwicklung an. (2) Die Jugend ist vor sittlicher, geistiger und körperlicher Gefährdung besonders zu schützen. (3) Das Land fördert den vorbeugenden Gesundheitsschutz für Kinder und Jugendliche sowie Einrichtungen zu ihrer Betreuung. Artikel 10 (1) Der Schutz der Umwelt als Lebensgrundlage ist, auch in Verantwortung für kommende Generationen, Pflicht des Landes und Verpflichtung aller im Land. Das Land hat insbesondere den Boden, die Luft und das Wasser, Tiere und Pflanzen sowie die Landschaft als Ganzes einschließlich ihrer gewachsenen Siedlungsräume zu schützen. Es hat auf den sparsamen Gebrauch und die Rückgewinnung von Rohstoffen und die sparsame Nutzung von Energie und Wasser hinzuwirken. (2) Anerkannte Naturschutzverbände haben das Recht, nach Maßgabe der Gesetze an umweltbedeutsamen Verwaltungsverfahren mitzuwirken. Ihnen ist Klagebefugnis in Umweltbelangen einzuräumen; das Nähere bestimmt ein Gesetz. (3) Das Land erkennt das Recht auf Genuß der Naturschönheiten und Erholung in der freien Natur an, soweit dem nicht die Ziele nach Absatz 1 entgegenstehen. Der Allgemeinheit ist in diesem Rahmen der Zugang zu Bergen, Wäldern, Feldern, Seen und Flüssen zu ermöglichen. Artikel 11 (1) Das Land fördert das kulturelle, das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen, die sportliche Betätigung sowie den Austausch auf diesen Gebieten. (2) Die Teilnahme an der Kultur in ihrer Vielfalt und am Sport ist dem gesamten Volk zu ermöglichen. Zu diesem Zweck werden öffentlich zugängliche Museen, Bibliotheken, Archive, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten, musikalische und weitere kulturelle Einrichtungen sowie allgemein zugängliche Universitäten, Hochschulen, Schulen und andere Bildungseinrichtungen unterhalten. (3) Denkmale und andere Kulturgüter stehen unter dem Schutz und der Pflege des Landes. Für ihr Verbleiben in Sachsen setzt sich das Land ein. Artikel 12 Das Land strebt grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit an, die auf den Ausbau nachbarschaftlicher Beziehungen, auf das Zusammenwachsen Europas und auf eine friedliche Entwicklung in der Welt gerichtet ist.

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5. Verfassung des Freistaates Sachsen Artikel 13 Das Land hat die Pflicht, nach seinen Kräften die in dieser Verfassung niedergelegten Staatsziele anzustreben und sein Handeln danach auszurichten. 2. Abschnitt: Die Grundrechte (Art. 14-38) 3. Abschnitt: Der Landtag (Art. 39-58) 4. Abschnitt: Die Staatsregierung (Art. 59-69) 5. Abschnitt: Die Gesetzgebung Artikel 70 (1) Gesetzesvorlagen werden von der Staatsregierung, aus der Mitte des Landtages oder vom Volk durch Volksantrag eingebracht. (2) Die Gesetze werden vom Landtag oder unmittelbar vom Volk durch Volksentscheid beschlossen. Artikel 71 (1) Alle im Land Stimmberechtigten haben das Recht, einen Volksantrag in Gang zu setzen. Er muß von mindestens 40000 Stimmberechtigten durch ihre Unterschrift unterstützt sein. Ihm muß ein mit Begründung versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. (2) Der Volksantrag ist beim Landtagspräsidenten einzureichen. Er entscheidet nach Einholen der Stellungnahme der Staatsregierung unverzüglich über die Zulässigkeit. Hält er den Volksantrag für verfassungswidrig, entscheidet auf seinen Antrag der Verfassungsgerichtshof. Der Volksantrag darf bis zu einer gegenteiligen Entscheidung nicht als unzulässig behandelt werden. (3) Der Landtagspräsident veröffentlicht den zulässigen Volksantrag mit Begründung. (4) Der Landtag gibt den Antragstellern Gelegenheit zur Anhörung. Artikel 72 (1) Stimmt der Landtag dem unveränderten Volksantrag nicht binnen sechs Monaten zu, können die Antragsteller ein Volksbegehren mit dem Ziel in Gang setzen, einen Volksentscheid über den Antrag herbeizuführen. Dem Volksbegehren kann von den Antragstellern ein gegenüber dem Volksantrag veränderter Gesetzentwurf zugrunde gelegt werden. In diesem Falle findet Artikel 71 Absatz 2 entsprechende Anwendung. (2) Ein Volksentscheid findet statt, wenn mindestens 450 000, jedoch nicht mehr als 15 vom Hundert der Stimmberechtigten das Volksbegehren durch ihre Unterschrift unterstützen.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Für die Unterstützung müssen mindestens sechs Monate zur Verfügung stehen. Der Landtag kann zum Volksentscheid einen eigenen Gesetzentwurf beifügen. (3) Zwischen einem erfolgreich abgeschlossenen Volksbegehren und dem Volksentscheid muß eine Frist von mindestens drei und höchstens sechs Monaten liegen, die der öffentlichen Information und Diskussion über den Gegenstand des Volksentscheides dient. Diese Frist kann nur mit Einverständnis der Antragsteller unter- oder überschritten werden. (4) Bei dem Volksentscheid wird mit Ja oder Nein gestimmt. Es entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Artikel 73 (1) Über Abgaben-, Besoldungs- und Haushaltsgesetze finden Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid nicht statt. (2) Ein durch Volksentscheid abgelehnter Volksantrag kann frühestens nach Ablauf der Wahlperiode des Landtages erneut in Gang gesetzt werden. (3) Das Nähere über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid bestimmt ein Gesetz, in dem auch der Anspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten für die Organisation des Volksbegehrens und eines angemessenen Abstimmungskampfes geregelt wird.

6. Abschnitt: Die Rechtsprechung (Art. 77-81) 7. Abschnitt: Die Verwaltung (Art. 82-92) 8. Abschnitt: Das Finanzwesen (Art. 93-100) 9. Abschnitt: Das Bildungswesen (Art. 101-108) 10. Abschnitt: Die Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 109-112) 11. Abschnitt: Übergangs- und Schlußbestimmungen (Art. 113-122) Anhang zu Artikel 109 Absatz 4: Art. 136-141 Weimarer Reichsverfassung

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6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik

11/6 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik

Vom 6. April 1968 i.d.F. des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 1974, Teil 1, S. 432) a.) Gliederung Präambel Abschnitt I Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung

Artikel 1-18

Kapitel 1 Politische Grundlagen

Artikel 1 - 8

Kapitel 2 Ökonomische Grundlagen, Wissenschaft, Bildung und Kultur

Artikel 9 - 1 8

Abschnitt II Bürger und Gemeinschaften in der sozialistischen Gesellschaft Kapitel 1

Artikel 1 9 - 4 6

Grundrechte und Grundpflichten der Bürger

Artikel 19-40

Kapitel 2 Betriebe, Städte und Gemeinden in der sozialistischen Gesellschaft

Artikel 4 1 - 4 3

Kapitel 3 Die Gewerkschaften und ihre Rechte

Artikel 4 4 - 4 5

Kapitel 4 Die sozialistischen Produktionsgenossenschaften und ihre Rechte

Artikel 46

Abschnitt III Aufbau und System der staatlichen Leitung

Artikel 47-85

Kapitel 1 Die Volkskammer

Artikel 4 8 - 6 5

Kapitel 2 Der Staatsrat

Artikel 66-75

Kapitel 3 Der Ministerrat

Artikel 76-80

Kapitel 4 Die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe

Artikel 81-85

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Abschnitt IV Sozialistische Gesellschaft und Rechtspflege

Artikel 86-104

Abschnitt V Schlußbestimmungen

Artikel 105-106

b.) Auszüge In Fortsetzung der revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus hat das Volk der Deutschen Demokratischen Republik in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche sein Recht auf sozial-ökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Erfüllt von dem Willen, seine Geschicke frei zu bestimmen, unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens, der Demokratie und Völkerfreundschaft zu gehen, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diese sozialistische Verfassung gegeben.

Abschnitt I Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung Kapitel 1 Politische Grundlagen Artikel 1 Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. Die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ist Berlin. Die Staatsflagge der Deutschen Demokratischen Republik besteht aus den Farben SchwarzRot-Gold und trägt auf beiden Seiten in der Mitte das Staatswappen der Deutschen Demokratischen Republik. Das Staatswappen der Deutschen Demokratischen Republik besteht aus Hammer und Zirkel, umgeben von einem Ährenkranz, der im unteren Teil von einem schwarz-rot-goldenen Band umschlungen ist. Artikel 2 (1) Alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik wird von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt. Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Bemühungen der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates. Die weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos 180

6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität ist die entscheidende Aufgabe der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. (2) Das feste Bündnis der Arbeiterklasse mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, den Angehörigen der Intelligenz und den anderen Schichten des Volkes, das sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln, die Leitung und Planung der gesellschaftlichen Entwicklung nach den fortgeschrittensten Erkenntnissen der Wissenschaft bilden unantastbare Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung. (3) Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist für immer beseitigt. Was des Volkes Hände schaffen, ist des Volkes Eigen. Das sozialistische Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" wird verwirklicht. Artikel 3 (1) Das Bündnis aller Kräfte des Volkes findet in der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik seinen organisierten Ausdruck. (2) In der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik vereinigen die Parteien und Massenorganisationen alle Kräfte des Volkes zum gemeinsamen Handeln für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Dadurch verwirklichen sie das Zusammenleben aller Bürger in der sozialistischen Gemeinschaft nach dem Grundsatz, daß jeder Verantwortung für das Ganze trägt. Artikel 4 Alle Macht dient dem Wohle des Volkes. Sie sichert sein friedliches Leben, schützt die sozialistische Gesellschaft und gewährleistet die sozialistische Lebensweise der Bürger, die freie Entwicklung des Menschen, wahrt seine Würde und garantiert die in dieser Verfassung verbürgten Rechte. Artikel 5 (1) Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik üben ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen aus. (2) Die Volksvertretungen sind die Grundlage des Systems der Staatsorgane. Sie stützen sich in ihrer Tätigkeit auf die aktive Mitgestaltung der Bürger an der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle ihrer Entscheidungen. (3) Zu keiner Zeit und unter keinen Umständen können andere als die verfassungsmäßig vorgesehenen Organe staatliche Macht ausüben. Artikel 6 (1) Die Deutsche Demokratische Republik hat getreu den Interessen des Volkes und den internationalen Verpflichtungen auf ihrem Gebiet den deutschen Militarismus und Nazismus ausgerottet. Sie betreibt eine dem Sozialismus und dem Frieden, der Völkerverständigung und der Sicherheit dienende Außenpolitik. (2) Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet. Das enge und brüderliche Bündnis mit ihr 181

II. Verfassungsrechtliche Dokumente garantiert dem Volk der Deutschen Demokratischen Republik das weitere Voranschreiten auf dem Wege des Sozialismus und des Friedens. Die Deutsche Demokratische Republik ist untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft. Sie trägt getreu den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus zu ihrer Stärkung bei, pflegt und entwickelt die Freundschaft, die allseitige Zusammenarbeit und den gegenseitigen Beistand mit allen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft. (3) Die Deutsche Demokratische Republik unterstützt die Staaten und Völker, die gegen den Imperialismus und sein Kolonialregime, für nationale Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, in ihrem Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt. Die Deutsche Demokratische Republik tritt für die Verwirklichung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung ein und pflegt auf der Grundlage der Gleichberechtigung und gegenseitigen Achtung die Zusammenarbeit mit allen Staaten. (4) Die Deutsche Demokratische Republik setzt sich für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, für eine stabile Friedensordnung in der Welt und für die allgemeine Abrüstung ein. (5) Militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhaß werden als Verbrechen geahndet. Artikel 7 (1) Die Staatsorgane gewährleisten die territoriale Integrität der Deutschen Demokratischen Republik und die Unverletzlichkeit ihrer Staatsgrenzen einschließlich ihres Luftraumes und ihrer Territorialgewässer sowie den Schutz und die Nutzung ihres Festlandsockels. (2) Die Deutsche Demokratische Republik organisiert die Landesverteidigung sowie den Schutz der sozialistischen Ordnung und des friedlichen Lebens der Bürger. Die Nationale Volksarmee und die anderen Organe der Landesverteidigung schützen die sozialistischen Errungenschaften des Volkes gegen alle Angriffe von außen. Die Nationale Volksarmee pflegt im Interesse der Wahrung des Friedens und der Sicherung des sozialistischen Staates enge Waffenbrüderschaft mit den Armeen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten. Artikel 8 (1) Die allgemein anerkannten, dem Frieden und der friedlichen Zusammenarbeit der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts sind für die Staatsmacht und jeden Bürger verbindlich. (2) Die Deutsche Demokratische Republik wird niemals einen Eroberungskrieg unternehmen oder ihre Streitkräfte gegen die Freiheit eines anderen Volkes einsetzen. Kapitel 2 Ökonomische Grundlagen, Wissenschaft, Bildung und Kultur Artikel 9 (1) Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik beruht auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln. Sie entwickelt sich gemäß den ökonomischen Gesetzen des Sozialismus auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse und der zielstrebigen Verwirklichung der sozialistischen ökonomischen Integration.

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6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (2) Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik dient der Stärkung der sozialistischen Ordnung, der ständig besseren Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bürger, der Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen. (3) In der Deutschen Demokratischen Republik gilt der Grundsatz der Leitung und Planung der Volkswirtschaft sowie aller anderen gesellschaftlichen Bereiche. Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist sozialistische Planwirtschaft. Die zentrale staatliche Leitung und Planung der Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung ist mit der Eigenverantwortung der örtlichen Staatsorgane und Betriebe sowie der Initiative der Werktätigen verbunden. (4) Die Festlegung des Währungs- und Finanzsystems ist Sache des sozialistischen Staates. Abgaben und Steuern werden auf der Grundlage von Gesetzen erhoben. (5) Die Außenwirtschaft einschließlich des Außenhandels und der Valutawirtschaft ist staatliches Monopol. Artikel 10 1) Das sozialistische Eigentum besteht als gesamtgesellschaftliches Volkseigentum, als genossenschaftliches Gemeineigentum werktätiger Kollektive sowie als Eigentum gesellschaftlicher Organisationen der Bürger. (2) Das sozialistische Eigentum zu schützen und zu mehren ist Pflicht des sozialistischen Staates und seiner Bürger. Artikel 11 (1) Das persönliche Eigentum der Bürger und das Erbrecht sind gewährleistet. Das persönliche Eigentum dient der Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bürger. (2) Die Rechte von Urhebern und Erfindern genießen den Schutz des sozialistischen Staates. (3) Der Gebrauch des Eigentums sowie von Urheber- und Erfinderrechten darf den Interessen der Gesellschaft nicht zuwiderlaufen. Artikel 12 (1) Die Bodenschätze, die Bergwerke, Kraftwerke, Talsperren und großen Gewässer, die Naturreichtümer des Festlandsockels, Industriebetriebe, Banken und Versicherungseinrichtungen, die volkseigenen Güter, die Verkehrswege, die Transportmittel der Eisenbahn, der Seeschiffahrt sowie der Luftfahrt, die Post- und Fernmeldeanlagen sind Volkseigentum. Privateigentum daran ist unzulässig. (2) Der sozialistische Staat gewährleistet die Nutzung des Volkseigentums mit dem Ziel des höchsten Ergebnisses für die Gesellschaft. Dem dienen die sozialistische Planwirtschaft und das sozialistische Wirtschaftsrecht. Die Nutzung und Bewirtschaftung des Volkseigentums erfolgt grundsätzlich durch die volkseigenen Betriebe und staatlichen Einrichtungen. Seine Nutzung und Bewirtschaftung kann der Staat durch Verträge genossenschaftlichen oder

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen übertragen. Eine solche Übertragung hat den Interessen der Allgemeinheit und der Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums zu dienen. Artikel 13 Die Geräte, Maschinen, Anlagen, Bauten der landwirtschaftlichen, handwerklichen und sonstigen sozialistischen Genossenschaften sowie die Tierbestände der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und das aus genossenschaftlicher Nutzung des Bodens sowie genossenschaftlicher Produktionsmittel erzielte Ergebnis sind genossenschaftliches Eigentum. Artikel 14 (1) Privatwirtschaftliche Vereinigungen zur Begründung wirtschaftlicher Macht sind nicht gestattet. (2) Die auf überwiegend persönlicher Arbeit beruhenden kleinen Handwerks- und anderen Gewerbebetriebe sind auf gesetzlicher Grundlage tätig. In der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die sozialistische Gesellschaft werden sie vom Staat gefördert. Artikel 15 (1) Der Boden der Deutschen Demokratischen Republik gehört zu ihren kostbarsten Naturreichtümern. Er muß geschützt und rationell genutzt werden. Land- und forstwirtschaftlich genutzter Boden darf nur mit Zustimmung der verantwortlichen staatlichen Organe seiner Zweckbestimmung entzogen werden. (2) Im Interesse des Wohlergehens der Bürger sorgen Staat und Gesellschaft für den Schutz der Natur. Die Reinhaltung der Gewässer und der Luft sowie der Schutz der Pflanzen- und Tierwelt und der landschaftlichen Schönheiten der Heimat sind durch die zuständigen Organe zu gewährleisten und sind darüber hinaus auch Sache jedes Bürgers. Artikel 16 Enteignungen sind nur für gemeinnützige Zwecke auf gesetzlicher Grundlage und gegen angemessene Entschädigung zulässig. Sie dürfen nur erfolgen, wenn auf andere Weise der angestrebte gemeinnützige Zweck nicht erreicht werden kann.

Abschnitt II Bürger und Gemeinschaften in der sozialistischen Gesellschaft Kapitel 1 Grundrechte und Grundpflichten der Bürger Artikel 19 (1) Die Deutsche Demokratische Republik garantiert allen Bürgern die Ausübung ihrer Rechte und ihre Mitwirkung an der Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie gewährleistet die sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit. 184

6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (2) Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger. (3) Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfaltige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit. Die Beziehungen der Bürger werden durch gegenseitige Achtung und Hilfe, durch die Grundsätze sozialistischer Moral geprägt. (4) Die Bedingungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik werden durch Gesetz bestimmt. Artikel 20 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat unabhängig von seiner Nationalität, seiner Rasse, seinem weltanschaulichen oder religiösen Bekenntnis, seiner sozialen Herkunft und Stellung die gleichen Rechte und Pflichten. Gewissens- und Glaubensfreiheit sind gewährleistet. Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich. (2) Mann und Frau sind gleichberechtigt und haben die gleiche Rechtsstellung in allen Bereichen des gesellschaftlichen, staatlichen und persönlichen Lebens. Die Förderung der Frau, besonders in der beruflichen Qualifizierung, ist eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe. (3) Die Jugend wird in ihrer gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung besonders gefördert. Sie hat alle Möglichkeiten, an der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung verantwortungsbewußt teilzunehmen. Artikel 21 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten. Es gilt der Grundsatz „Arbeite mit, plane mit, regiere mit!". (2) Das Recht auf Mitbestimmung und Mitgestaltung ist dadurch gewährleistet, daß die Bürger alle Machtorgane demokratisch wählen, an ihrer Tätigkeit und an der Leitung, Planung und Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens mitwirken; Rechenschaft von den Volksvertretungen, ihren Abgeordneten, den Leitern staatlicher und wirtschaftlicher Organe über ihre Tätigkeit fordern können; mit der Autorität ihrer gesellschaftlichen Organisationen ihrem Wollen und ihren Forderungen Ausdruck geben; sich mit ihren Anliegen und Vorschlägen an die gesellschaftlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Organe und Einrichtungen wenden können; in Volksabstimmungen ihren Willen bekunden. (3) Die Verwirklichung dieses Rechts der Mitbestimmung und Mitgestaltung ist zugleich eine hohe moralische Verpflichtung für jeden Bürger.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Die Ausübung gesellschaftlicher oder staatlicher Funktionen findet die Anerkennung und Unterstützung der Gesellschaft und des Staates. Artikel 22 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, der am Wahltage das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist wahlberechtigt. (2) Jeder Bürger kann in die Volkskammer und in die örtlichen Volksvertretungen gewählt werden, wenn er am Wahltage das 18. Lebensjahr vollendet hat. (3) Die Leitung der Wahlen durch demokratisch gebildete Wahlkommissionen, die Volksaussprache über die Grundfragen der Politik und die Aufstellung und Prüfung der Kandidaten durch die Wähler sind unverzichtbare sozialistische Wahlprinzipien. Artikel 23 (1) Der Schutz des Friedens und des sozialistischen Vaterlandes und seiner Errungenschaften ist Recht und Ehrenpflicht der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Jeder Bürger ist zum Dienst und zu Leistungen für die Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik entsprechend den Gesetzen verpflichtet. (2) Kein Bürger darf an kriegerischen Handlungen und ihrer Vorbereitung teilnehmen, die der Unterdrückung eines Volkes dienen. (3) Die Deutsche Demokratische Republik kann Bürgern anderer Staaten oder Staatenlosen Asyl gewähren, wenn sie wegen politischer, wissenschaftlicher oder kultureller Tätigkeit zur Verteidigung des Friedens, der Demokratie, der Interessen des werktätigen Volkes oder wegen ihrer Teilnahme am sozialen und nationalen Befreiungskampf verfolgt werden. Artikel 24 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation. Er hat das Recht auf Lohn nach Qualität und Quantität der Arbeit. Mann und Frau, Erwachsene und Jugendliche haben das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeitsleistung. (2) Gesellschaftlich nützliche Tätigkeit ist eine ehrenvolle Pflicht für jeden arbeitsfähigen Bürger. Das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit bilden eine Einheit. (3) Das Recht auf Arbeit wird gewährleistet durch das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln; durch die sozialistische Leitung und Planung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses; durch das stetige und planmäßige Wachstum der sozialistischen Produktivkräfte und der Arbeitsproduktivität; durch die konsequente Durchführung der wissenschaftlich-technischen Revolution; durch ständige Bildung und Weiterbildung der Bürger und durch das einheitliche sozialistische Arbeitsrecht. 186

6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik Artikel 25 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das gleiche Recht auf Bildung. Die Bildungsstätten stehen jedermann offen. Das einheitliche sozialistische Bildungssystem gewährleistet jedem Bürger eine kontinuierliche sozialistische Erziehung, Bildung und Weiterbildung.

Artikel 27 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grandsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Dieses Recht wird durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis beschränkt. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. (2) Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet. Artikel 28 (1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur unbehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet. Artikel 29 Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen. Artikel 30 (1) Die Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik sind unantastbar. (2) Einschränkungen sind nur im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen oder einer Heilbehandlung zulässig und müssen gesetzlich begründet sein. Dabei dürfen die Rechte solcher Bürger nur insoweit eingeschränkt werden, als dies gesetzlich zulässig und unumgänglich ist. (3) Zum Schutze seiner Freiheit und der Unantastbarkeit seiner Persönlichkeit hat jeder Bürger den Anspruch auf die Hilfe der staatlichen und gesellschaftlichen Organe. Artikel 31 (1) Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzbar. (2) Sie dürfen nur auf gesetzlicher Grundlage eingeschränkt werden, wenn es die Sicherheit des sozialistischen Staates oder eine strafrechtliche Verfolgung erfordern.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Artikel 32 Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat im Rahmen der Gesetze das Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik. Artikel 33 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat bei Aufenthalt außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik Anspruch auf Rechtsschutz durch die Organe der Deutschen Demokratischen Republik. (2) Kein Bürger der Deutschen Demokratischen Republik darf einer auswärtigen Macht ausgeliefert werden. Artikel 34 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Freizeit und Erholung. (2) Das Recht auf Freizeit und Erholung wird gewährleistet durch die gesetzliche Begrenzung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, durch einen vollbezahlten Jahresurlaub und durch den planmäßigen Ausbau des Netzes volkseigener und anderer gesellschaftlicher Erholungs- und Urlaubszentren. Artikel 35 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und seiner Arbeitskraft. (2) Dieses Recht wird durch die planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Pflege der Volksgesundheit, eine umfassende Sozialpolitik, die Förderung der Körperkultur, des Schul- und Volkssports und der Touristik gewährleistet. (3) Auf der Grundlage eines sozialen Versicherungssystems werden bei Krankheit und Unfällen materielle Sicherheit, unentgeltliche ärztliche Hilfe, Arzneimittel und andere medizinische Sachleistungen gewährt. Artikel 36 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Fürsorge der Gesellschaft im Alter und bei Invalidität. (2) Dieses Recht wird durch eine steigende materielle, soziale und kulturelle Versorgung und Betreuung alter und arbeitsunfähiger Bürger gewährleistet. Artikel 37 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Wohnraum für sich und seine Familie entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und örtlichen Bedingungen. Der Staat ist verpflichtet, dieses Recht durch die Förderung des Wohnungs188

6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik baus, die Werterhaltung vorhandenen Wohnraumes und die öffentliche Kontrolle über die gerechte Verteilung des Wohnraumes zu verwirklichen. (2) Es besteht Rechtsschutz bei Kündigungen. (3) Jeder Bürger hat das Recht auf Unverletzbarkeit seiner Wohnung. Artikel 38 (1) Ehe, Familie und Mutterschaft stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Ehe und Familie.

Artikel 39 (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, sich zu einem religiösen Glauben zu bekennen und religiöse Handlungen auszuüben. (2) Die Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften ordnen ihre Angelegenheiten und üben ihre Tätigkeit aus in Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik. Näheres kann durch Vereinbarungen geregelt werden. Artikel 40 Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sorbischer Nationalität haben das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur. Die Ausübung dieses Rechts wird vom Staat gefördert. Kapitel 2 Betnebe, Städte und Gemeinden in der sozialistischen Gesellschaft Artikel 41 Die sozialistischen Betriebe, Städte, Gemeinden und Gemeindeverbände sind im Rahmen der zentralen staatlichen Leitung und Planung eigenverantwortliche Gemeinschaften, in denen die Bürger arbeiten und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten. Sie sichern die Wahrnehmung der Grundrechte der Bürger, die wirksame Verbindung der persönlichen mit den gesellschaftlichen Interessen sowie ein vielfältiges gesellschaftlich-politisches und kulturellgeistiges Leben. Sie stehen unter dem Schutz der Verfassung. Eingriffe in ihre Rechte können nur auf der Grundlage von Gesetzen erfolgen. Artikel 42 (1) Im Betrieb, dessen Tätigkeit die Grundlage für die Schaffung und Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums ist, wirken die Werktätigen unmittelbar und mit Hilfe ihrer gewählten Organe an der Leitung mit. Näheres regeln Gesetze oder Statuten. (2) Zur Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivität können von den staatlichen Organen, den Betrieben und Genossenschaften Vereinigungen und Gesellschaften gebildet sowie andere Formen der kooperativen Zusammenarbeit entwickelt werden.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Artikel 43 (1) Die Städte, Gemeinden und Gemeindeverbände der Deutschen Demokratischen Republik gestalten die notwendigen Bedingungen für eine ständig bessere Befriedigung der materiellen, sozialen, kulturellen und sonstigen gemeinsamen Bedürfnisse der Bürger. Zur Lösung dieser Aufgaben arbeiten sie mit den Betrieben und Genossenschaften ihres Gebietes zusammen. Alle Bürger nehmen daran durch die Ausübung ihrer politischen Rechte teil. (2) Die Verantwortung für die Verwirklichung der gesellschaftlichen Funktion der Städte und Gemeinden obliegt den von den Bürgern gewählten Volksvertretungen. Sie entscheiden eigenverantwortlich auf der Grundlage der Gesetze über ihre Angelegenheiten. Sie tragen die Verantwortung für die rationelle Nutzung aller Werte des Volksvermögens, über die sie verfügen. Kapitel 3 Die Gewerkschaften und ihre Rechte Artikel 44 (1) Die freien Gewerkschaften, vereinigt im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, sind die umfassende Klassenorganisation der Arbeiterklasse. Sie nehmen die Interessen der Arbeiter, Angestellten und Angehörigen der Intelligenz durch umfassende Mitbestimmung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wahr. (2) Die Gewerkschaften sind unabhängig. Niemand darf sie in ihrer Tätigkeit einschränken oder behindern. (3) Die Gewerkschaften nehmen durch die Tätigkeit ihrer Organisationen und Organe, durch ihre Vertreter in den gewählten staatlichen Machtorganen und durch ihre Vorschläge an die staatlichen und wirtschaftlichen Organe maßgeblich teil an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft, an der Leitung und Planung der Volkswirtschaft, an der Verwirklichung der wissenschaftlich-technischen Revolution, an der Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen, des Gesundheits- und Arbeitsschutzes, der Arbeitskultur, des kulturellen und sportlichen Lebens der Werktätigen. Die Gewerkschaften arbeiten in den Betrieben und Institutionen an der Ausarbeitung der Pläne mit. Sie leiten die Ständigen Produktionsberatungen.

Kapitel 4 Die sozialistischen Produktionsgenossenschaften und ihre Rechte Artikel 46 (I) Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sind die freiwilligen Vereinigungen der Bauern zur gemeinsamen sozialistischen Produktion, zur ständig besseren Befriedigung ihrer materiellen und kulturellen Bedürfnisse und zur Versorgung des Volkes und der

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6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik Volkswirtschaft. Sie gestalten auf der Grundlage der Gesetze eigenverantwortlich ihre Arbeits- und Lebensbedingungen.

Abschnitt III Aufbau und System der staatlichen Leitung Artikel 47 (1) Der Aufbau und die Tätigkeit der staatlichen Organe werden durch die in dieser Verfassung festgelegten Ziele und Aufgaben der Staatsmacht bestimmt. (2) Die Souveränität des werktätigen Volkes, verwirklicht auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus, ist das tragende Prinzip des Staatsaufbaus. Kapitel 1 Die Volkskammer Artikel 48 (1) Die Volkskammer ist das oberste staatliche Machtorgan der Deutschen Demokratischen Republik. Sie entscheidet in ihren Plenarsitzungen über die Grundfragen der Staatspolitik. (2) Die Volkskammer ist das einzige verfassungs- und gesetzgebende Organ in der Deutschen Demokratischen Republik. Niemand kann ihre Rechte einschränken. (3) Die Volkskammer verwirklicht in ihrer Tätigkeit den Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung. Artikel 49 (1) Die Volkskammer bestimmt durch Gesetze und Beschlüsse endgültig und für jedermann verbindlich die Ziele der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik. (2) Die Volkskammer legt die Hauptregeln für das Zusammenwirken der Bürger, Gemeinschaften und Staatsorgane sowie deren Aufgaben bei der Durchführung der staatlichen Pläne der gesellschaftlichen Entwicklung fest. (3) Die Volkskammer gewährleistet die Verwirklichung ihrer Gesetze und Beschlüsse. Sie bestimmt die Grundsätze der Tätigkeit des Staatsrates, des Ministerrates, des Nationalen Verteidigungsrates, des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts.

Kapitel 2 Der Staatsrat Artikel 66 (1) Der Staatsrat nimmt als Organ der Volkskammer die Aufgaben wahr, die ihm durch die Verfassung sowie die Gesetze und Beschlüsse der Volkskammer übertragen sind. Er ist der

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Volkskammer für seine Tätigkeit verantwortlich. Zur Durchführung der ihm übertragenen Aufgaben faßt er Beschlüsse. (2) Der Staatsrat vertritt die Deutsche Demokratische Republik völkerrechtlich. Er ratifiziert und kündigt Staatsverträge und andere völkerrechtliche Verträge, für die die Ratifizierung vorgesehen ist. Artikel 67 (1) Der Staatsrat besteht aus dem Vorsitzenden, seinen Stellvertretern, den Mitgliedern und dem Sekretär.

Artikel 70 Im Auftrage der Volkskammer unterstützt der Staatsrat die örtlichen Volksvertretungen als Organe der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht, fördert deren demokratische Aktivität bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und nimmt Einfluß auf die Wahrung sowie die ständige Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit in der Tätigkeit der örtlichen Volksvertretungen.

Artikel 73 (1) Der Staatsrat faßt grundsätzliche Beschlüsse zu Fragen der Verteidigung und Sicherheit des Landes. Er organisiert die Landesverteidigung mit Hilfe des Nationalen Verteidigungsrates. (2) Der Staatsrat beruft die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates. Der Nationale Verteidigungsrat ist der Volkskammer und dem Staatsrat für seine Tätigkeit verantwortlich. Artikel 74 (1) Der Staatsrat nimmt im Auftrage der Volkskammer die ständige Aufsicht über die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit der Tätigkeit des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts wahr. (2) Der Staatsrat übt das Amnestie- und Begnadigungsrecht aus.

Kapitel 3 Der Ministerrat Artikel 76 (1) Der Ministerrat ist als Organ der Volkskammer die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Er leitet im Auftrage der Volkskammer die einheitliche Durchführung der Staatspolitik und organisiert die Erfüllung der politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen sowie der ihm übertragenen Verteidigungsaufgaben. Für seine Tätigkeit ist er der Volkskammer verantwortlich und rechenschaftspflichtig.

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6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (2) Der Ministerrat leitet die Volkswirtschaft und die anderen gesellschaftlichen Bereiche. Er sichert die planmäßige proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft, die harmonisch abgestimmte Gestaltung der gesellschaftlichen Bereiche und Territorien sowie die Verwirklichung der sozialistischen ökonomischen Integration. (3) Der Ministerrat leitet die Durchführung der Außenpolitik der Deutschen Demokratischen Republik entsprechend den Grundsätzen dieser Verfassung. Er vertieft die allseitige Zusammenarbeit mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und den anderen sozialistischen Staaten und gewährleistet den aktiven Beitrag der Deutschen Demokratischen Republik zur Stärkung der sozialistischen Staatengemeinschaft. (4) Der Ministerrat entscheidet entsprechend seiner Zuständigkeit über den Abschluß und die Kündigung völkerrechtlicher Verträge. Er bereitet Staatsverträge vor. Artikel 77 Der Ministerrat arbeitet die zu lösenden Aufgaben der staatlichen Innen- und Außenpolitik aus und unterbreitet der Volkskammer Entwürfe von Gesetzen und Beschlüssen. Artikel 78 (1) Der Ministerrat leitet, koordiniert und kontrolliert die Tätigkeit der Ministerien, der anderen zentralen Staatsorgane und der Räte der Bezirke. Er fördert die Anwendung wissenschaftlicher Leitungsmethoden und die Einbeziehung der Werktätigen in die Verwirklichung der Politik des sozialistischen Staates. Er gewährleistet, daß die ihm unterstellten staatlichen Organe, die wirtschaftsleitenden Organe, Kombinate, Betriebe und Einrichtungen ihre Tätigkeit auf der Grundlage der Gesetze und anderen Rechtsvorschriften ausüben. (2) Im Rahmen der Gesetze und Beschlüsse der Volkskammer erläßt der Ministerrat Verordnungen und faßt Beschlüsse. Artikel 79 (1) Der Ministerrat besteht aus dem Vorsitzenden des Ministerrates, den Stellvertretern des Vorsitzenden und den Ministern.

Kapitel 4 Die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe Artikel 81 (1) Die örtlichen Volksvertretungen sind die von den wahlberechtigten Bürgern gewählten Organe der Staatsmacht in den Bezirken, Kreisen, Städten, Stadtbezirken, Gemeinden und Gemeindeverbänden. (2) Die örtlichen Volksvertretungen entscheiden auf der Grundlage der Gesetze in eigener Verantwortung über alle Angelegenheiten, die ihr Gebiet und seine Bürger betreffen. Sie organisieren die Mitwirkung der Bürger an der Gestaltung des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens und arbeiten mit den gesellschaftlichen Organisationen der Werktätigen zusammen.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (3) Die Tätigkeit der örtlichen Volksvertretungen ist darauf gerichtet, das sozialistische Eigentum zu mehren und zu schützen, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bürger ständig zu verbessern und das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Bürger und ihrer Gemeinschaften zu fördern, das sozialistische Staats- und Rechtsbewußtsein der Bürger zu heben und die öffentliche Ordnung zu sichern, die sozialistische Gesetzlichkeit zu festigen und die Rechte der Bürger zu wahren.

Abschnitt IV Sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege Artikel 86 Die sozialistische Gesellschaft, die politische Macht des werktätigen Volkes, ihre Staats- und Rechtsordnung sind die grundlegende Garantie für die Einhaltung und die Verwirklichung der Verfassung im Geiste der Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit. Artikel 87 Gesellschaft und Staat gewährleisten die Gesetzlichkeit durch die Einbeziehung der Bürger und ihrer Gemeinschaften in die Rechtspflege und in die gesellschaftliche und staatliche Kontrolle über die Einhaltung des sozialistischen Rechts. Artikel 88 Die Verantwortlichkeit aller leitenden Mitarbeiter in Staat und Wirtschaft gegenüber den Bürgern ist durch ein System der Rechenschaftspflicht gewährleistet.

Artikel 90 (1) Die Rechtspflege dient der Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit, dem Schutz und der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Staats- und Gesellschaftsordnung. Sie schützt die Freiheit, das friedliche Leben, die Rechte und die Würde der Menschen. (2) Die Bekämpfung und Verhütung von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen sind gemeinsames Anliegen der sozialistischen Gesellschaft, ihres Staates und aller Bürger. (3) Die Teilnahme der Bürger an der Rechtspflege ist gewährleistet. Sie wird im einzelnen durch Gesetz bestimmt. Artikel 91 Die allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts über die Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen sind unmittelbar geltendes Recht. Verbrechen dieser Art unterliegen nicht der Verjährung.

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6. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik Artikel 92 Die Rechtsprechung wird in der Deutschen Demokratischen Republik durch das Oberste Gericht, die Bezirksgerichte, die Kreisgerichte und die gesellschaftlichen Gerichte im Rahmen der ihnen durch Gesetz übertragenen Aufgaben ausgeübt. In Militärstrafsachen üben das Oberste Gericht, die Militärobergerichte und die Militärgerichte die Rechtsprechung aus. Artikel 93 (1) Das Oberste Gericht ist das höchste Organ der Rechtsprechung. (2) Das Oberste Gericht leitet die Rechtsprechung der Gerichte auf der Grundlage der Verfassung, der Gesetze und anderen Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik. Es sichert die einheitliche Rechtsanwendung durch alle Gerichte. (3) Das Oberste Gericht ist der Volkskammer und zwischen ihren Tagungen dem Staatsrat verantwortlich. Artikel 94 (1) Richter kann nur sein, wer dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben ist und über ein hohes Maß an Wissen und Lebenserfahrung, an menschlicher Reife und Charakterfestigkeit verfügt. (2) Die demokratische Wahl aller Richter, Schöffen und Mitglieder gesellschaftlicher Gerichte gewährleistet, daß die Rechtsprechung von Frauen und Männern aller Klassen und Schichten des Volkes ausgeübt wird. Artikel 95 Alle Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte werden durch die Volksvertretungen oder unmittelbar durch die Bürger gewählt. Sie erstatten ihren Wählern Bericht über ihre Arbeit. Sie können von ihren Wählern abberufen werden, wenn sie gegen die Verfassung oder die Gesetze verstoßen oder sonst ihre Pflichten gröblich verletzen. Artikel 96 (1) Die Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte sind in ihrer Rechtsprechung unabhängig. Sie sind nur an die Verfassung, die Gesetze und anderen Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik gebunden. (2) Die Schöffen üben die Funktion eines Richters in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Berufsrichter aus. Artikel 97 Zur Sicherung der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung und der Rechte der Bürger wacht die Staatsanwaltschaft auf der Grundlage der Gesetze und anderen Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik über die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit. Sie schützt die Bürger vor Gesetzes Verletzungen. Die Staatsanwaltschaft leitet den Kampf gegen Straftaten und sichert, daß die Personen, die Verbrechen oder Vergehen begangen haben, vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Artikel 101 (1) Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. (2) Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Artikel 102 (1) Jeder Bürger hat das Recht, vor Gericht gehört zu werden. (2) Das Recht auf Verteidigung wird während des gesamten Strafverfahrens gewährleistet. Artikel 103 (1) Jeder Bürger kann sich mit Eingaben (Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen oder Beschwerden) an die Volksvertretungen, ihre Abgeordneten oder die staatlichen und wirtschaftlichen Organe wenden. Dieses Recht steht auch den gesellschaftlichen Organisationen und den Gemeinschaften der Bürger zu. Ihnen darf aus der Wahrnehmung dieses Rechts kein Nachteil entstehen. (2) Die für die Entscheidung verantwortlichen Organe sind verpflichtet, die Eingaben der Bürger oder der Gemeinschaften innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist zu bearbeiten und den Antragstellern das Ergebnis mitzuteilen. (3) Das Verfahren der Bearbeitung der Eingaben wird durch Gesetz bestimmt. Artikel 104 (1) Für Schäden, die einem Bürger oder seinem persönlichen Eigentum durch ungesetzliche Maßnahmen von Mitarbeitern der Staatsorgane zugefügt werden, haftet das staatliche Organ, dessen Mitarbeiter den Schaden verursacht hat. (2) Voraussetzungen und Verfahren der Staatshaftung werden durch Gesetz geregelt. Abschnitt V Schlußbestimmungen Artikel 105 Die Verfassung ist unmittelbar geltendes Recht. Artikel 106 Die Verfassung kann nur von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik durch Gesetz geändert werden, das den Wortlaut der Verfassung ausdrücklich ändert oder ergänzt.

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7. Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR"

II/7 Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches - Auszüge Präambel Ausgehend von den humanistischen Traditionen, zu welchen die besten Frauen und Männer aller Schichten unseres Volkes beigetragen haben, eingedenk der Verantwortung aller Deutschen für ihre Geschichte und deren Folgen, gewillt, als friedliche, gleichberechtigte Partner in der Gemeinschaft der Völker zu leben, am Einigungsprozeß Europas beteiligt, in dessen Verlauf auch das deutsche Volk seine staatliche Einheit schaffen wird, überzeugt, daß die Möglichkeit zu selbstbestimmtem - verantwortlichem Handeln höchste Freiheit ist, gründend auf der revolutionären Erneuerung, entschlossen, ein demokratisches und solidarisches Gemeinwesen zu entwickeln, das Würde und Freiheit des einzelnen sichert, gleiches Recht für alle gewährleistet, die Gleichstellung der Geschlechter verbürgt und unsere natürliche Umwelt schützt, geben sich die Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik diese Verfassung.

Γ. Kapitel Menschen- und Bürgerrechte 1. Abschnitt Würde, Gleichheit, Freiheit, Solidarität Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die oberste Pflicht des Staates. (2) Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher. Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner sozialen Stellung, seines Alters, seiner Behinderung, seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung benachteiligt werden. Artikel 2 (1) Vor der öffentlichen Gewalt sind alle Menschen gleich. Jede Willkür und jede sachwidrige Ungleichbehandlung ist untersagt. Artikel 3 (1) Frauen und Männer sind gleichberechtigt. (2) Der Staat ist verpflichtet, auf die Gleichstellung der Frau in Beruf und öffentlichem Leben, in Bildung und Ausbildung, in der Familie sowie im Bereich der sozialen Sicherung hinzuwirken.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente Artikel 4 (1) Jeder hat das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Achtung seiner Würde im Sterben. In das Recht auf körperliche Unversehrtheit darf nur durch Gesetz eingegriffen werden. (2) Niemand darf grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und ohne seine freiwillige und ausdrückliche Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Experimenten unterworfen werden. (3) Frauen haben das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft. Der Staat schützt das ungeborene Leben durch das Angebot sozialer Hilfen. Artikel 5 Die allgemeine Handlungsfreiheit ist unter dem Vorbehalt des Gesetzes gewährleistet.

Artikel 7 (1) Keinem Bürger darf die Staatsbürgerschaft entzogen noch darf er ausgewiesen oder ausgeliefert werden. (2) Ausländer dürfen in kein Land ausgeliefert oder ausgewiesen werden, in dem ihnen die Beeinträchtigung ihrer Menschenwürde oder die Todesstrafe droht. (3) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Artikel 8 (1) Jeder hat Anspruch auf Achtung und Schutz seiner Persönlichkeit und Privatheit. (2) Jeder hat das Recht an seinen persönlichen Daten und auf Einsicht in ihn betreffende Akten und Dateien. Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung des Berechtigten dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben werden. Beschränkungen dieses Rechtes bedürfen des Gesetzes und müssen dem Berechtigten zur Kenntnis gebracht werden.

Artikel 19 (1) Die Wissenschaft ist frei. Der Staat sichert die Ausübung der Freiheit von Forschung und Lehre. (2) Durch Gesetz kann die Zulässigkeit von Mitteln oder Methoden der Forschung beschränkt werden. Es kann Informationspflichten in bezug auf besonders risikobehaftete Forschungen vorsehen. (3) Die staatlich geförderten Universitäten pflegen die Wissenschaften in Forschung, Lehre und Ausbildung. Sie sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und verfügen im Rahmen des Gesetzes in allen akademischen Angelegenheiten über das Recht der Selbstverwaltung. (4) Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber und der Erfinder genießen den Schutz des Staates.

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7. Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR" Artikel 20 (1) Die Kunst ist frei. (2) Das kulturelle Leben sowie die Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes werden gefördert. In den Haushalten des Bundes, der Länder und der Träger der Kommunalautonomie sind die dafür erforderlichen Mittel vorzusehen. Artikel 21 (1) Jeder Bürger hat das gleiche Recht auf politische Mitgestaltung. Die Verfassung und die Gesetze gestalten aus, wie das Recht unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter ausgeübt wird. (2) Jeder Bürger hat mit vollendetem 18. Lebensjahr das Recht, an allgemeinen, gleichen, freien, geheimen und direkten Wahlen zur Volkskammer, zu den Landtagen und den Kommunalvertretungen teilzunehmen und in sie gewählt zu werden. Ausländer und Staatenlose mit ständigem Wohnsitz haben Wahlrecht auf kommunaler Ebene. (3) Jeder Bürger hat den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern. Das gleiche Recht steht für die kommunale Ebene den in Absatz 2 Satz 2 genannten Personen zu. Die Rechtsstellung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die hoheitliche Befugnisse ausüben (Beamte), ist gemäß den Funktionsanforderungen einer bürgernahen Verwaltung durch Gesetz zu regeln. (4) Jeder, dessen Rechte und Belange durch die öffentliche Planung von Vorhaben, insbesondere von Verkehrswegen und -anlagen, Energieanlagen, Produktionsstätten und Großbauten betroffen werden, hat das Recht auf Verfahrensbeteiligung. Dasselbe Recht haben Zusammenschlüsse von Betroffenen. (5) Jeder hat das Recht, sich einzeln und in Gemeinschaft mit anderen mit Anregung, Kritik und Beschwerde an jede staatliche Stelle zu wenden. Es besteht Anspruch auf Gehör und begründeten Bescheid in angemessener Frist. Artikel 22 (1) Die Familie ist durch den Staat zu schützen und zu fördern. (2) Andere Lebensgemeinschaften, die auf Dauer angelegt sind, haben Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung. (3) Eltern haben das Recht und die Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder. Wer Kinder erzieht, hat Anspruch auf angemessene staatliche Hilfen und gesellschaftliche Rücksichtnahme. Der Staat fördert die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit und der beruflichen Bildung Erziehender, insbesondere durch Arbeitszeitregelungen. (4) Kindern ist durch Gesetz eine Rechtsstellung einzuräumen, die ihrer wachsenden Einsichtsfähigkeit durch die Anerkennung zunehmender Selbständigkeit gerecht wird. (5) Kinder genießen staatlichen Schutz vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung und Mißhandlung. Kinderarbeit ist verboten. Artikel 23 (1) Das Gemeinwesen achtet das Alter. Es respektiert Behinderung. (2) Jeder Bürger hat das Recht auf soziale Sicherung gegen die Folgen von Krankheit, Unfall, Invalidität, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, Alter und Arbeitslosigkeit.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (3) Das Recht wird durch öffentlich-rechtliche Versicherungssysteme gewährleistet, an denen teilzunehmen jeder berechtigt und verpflichtet ist. Bestandteile der Versicherungssysteme sind mindestens die Arbeitslosenunterstützung und eine Altersrente für jeden. (4) Bei besonderen Notlagen besteht ein Anspruch auf Sozialfürsorge. (5) Soziale Sicherung und Sozialfürsorge haben das Ziel, eine gleichberechtigte, eigenverantwortliche Lebensgestaltung zu ermöglichen. In Heimen stehen den Bewohnern Mitverantwortungs- und Mitentscheidungsrechte zu. Artikel 24 (1) Jeder Bürger hat das Recht auf gleichen, unentgeltlichen Zugang zu den öffentlichen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen. In dieses Recht kann nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. (2) Es besteht eine mindestens zehnjährige allgemeine Schulpflicht. Die Schule hat die Fähigkeiten und Begabungen der Schüler zu fördern. Das Schulwesen muß die Offenheit und Durchlässigkeit der Bildungsgänge gewährleisten. (3) Der Staat fördert die Einrichtung und Unterhaltung von Kinderkrippen und Kindergärten sowie Schulhorten. (4) Für den Schulbesuch können andere als staatliche Schulen gewählt werden, die vom Gesetz festgelegten Mindestnormen entsprechen. Die Einrichtung von Privatschulen darf nicht zur Sonderung der Schüler nach den Einkommensverhältnissen der Eltern führen. Die Privatschulen haben Anspruch auf öffentliche Finanzierung, soweit dadurch der Vorrang des öffentlichen Schulwesens nicht gefährdet wird. (5) Schüler und Studenten haben Anspruch auf staatliche Ausbildungsförderung nach Maßgabe des Gesetzes. Artikel 25 (1) Jeder Bürger hat das Recht auf angemessenen Wohnraum. Es ist ein gesetzlicher Kündigungsschutz vorzusehen. Bei der Abwägung der Interessen des Nutzers und des Eigentümers der Wohnung ist der überragenden Bedeutung der Wohnung für die Führung eines menschenwürdigen Lebens besonderes Gewicht beizumessen. Eine Räumung darf nur vollzogen werden, wenn Ersatz zur Verfügung steht. (2) Der soziale Wohnungsbau und die Wohnungserhaltung sind staatlich zu fördern. Der Staat ist besonders zur Förderung des Baus alters- und behindertengerechten Wohnraums verpflichtet.

2. Abschnitt Arbeit, Wirtschaft, Umwelt Artikel 26 Jeder hat das Recht, seinen Beruf frei zu wählen und auszuüben. In diese Freiheit kann nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. Artikel 27 (1) Jeder Bürger hat das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung.

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7. Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR" (2) Das Recht jedes Bürgers, über seine Arbeitskraft frei zu verfügen und seinen Arbeitsplatz frei zu wählen, ist gewährleistet. Öffentliche Arbeits- und Dienstpflichten sind nur für besondere, durch Gesetz festgelegte Zwecke zulässig. Sie müssen für alle gleich sein. Frauen dürfen nur zur Abwendung aktueller Notlage zu einer öffentlichen Dienstleistung verpflichtet werden. Die Wehrpflicht ist abgeschafft. (3) Der Staat schützt die Arbeitskraft durch gesetzliche Regelungen über die Arbeitssicherheit, die Arbeitshygiene und die Begrenzung der Arbeitszeit. Er fördert das Recht des einzelnen, seine Arbeitskraft zur Führung eines menschenwürdigen Lebens zu verwenden. Er hat in seiner Wirtschaftspolitik dem Ziel der Vollbeschäftigung in der Regel Vorrang einzuräumen. Jeder Bürger hat im Falle von Arbeitslosigkeit oder drohender Arbeitslosigkeit ein Recht auf öffentlich finanzierte Maßnahmen der Arbeitsförderung. Dabei ist der beruflichen Weiterbildung oder Umschulung der Vorrang vor Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe einzuräumen. (4) Für gleiche Arbeit besteht ein Anspruch auf gleichen Lohn. (5) Lehrlinge, Schwangere, Alleinerziehende, Kranke, Werktätige mit Behinderung und ältere Werktätige genießen erweiterten Kündigungsschutz. Artikel 28 Jeder in einem Betrieb oder Unternehmen beschäftigte Werktätige hat das Recht, durch Vertretungsorgane in den wirtschaftlichen, sozialen und personellen Angelegenheiten des Betriebes und auch des Unternehmens mitzubestimmen, falls dieses aufgrund der Zahl seiner Beschäftigten, seiner Marktstellung oder anderer Merkmale eine besondere Bedeutung für das Gemeinwesen hat. Das Nähere regelt das Gesetz.

Artikel 30 Die Bildung von Kartellen und marktbeherrschenden Unternehmen ist unzulässig. Ausnahmen sind nur auf gesetzlicher Grundlage im Interesse der Sicherung gefährdeter Arbeitsplätze, der Förderung strukturschwacher Regionen und der Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit möglich.

Artikel 32 (1) Die Nutzung des Bodens und der Gewässer ist in besonderem Maße den Interessen der Allgemeinheit und künftiger Generationen verpflichtet. Ihre Verkehrsfähigkeit kann durch Gesetz beschränkt werden. Die Nutzung von Grund und Boden ist nur im Rahmen einer Flächennutzungsplanung zulässig. Das Eigentum und die Nutzung von land- und forstwirtschaftlichen Flächen, die einhundert Hektar übersteigen, ist genossenschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen und den Kirchen vorbehalten. Die Veräußerung von Grund und Boden und die Überlassung von Nutzungsrechten an Ausländer bedürfen der Genehmigung. (2) Steigert sich der Wert von Boden aufgrund seiner planerischen Umwandlung in Bauland, so steht den Trägern der Kommunalautonomie ein Ausgleich für die Wertsteigerung zu. Dieser Planungswertausgleich wird in der Regel durch die entschädigungslose Abgabe eines Anteils des beplanten Bodens erbracht. Der Anteil entspricht dem Maß der Wertsteigerung, darf aber die Hälfte des Bodens nicht übersteigen.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente (3) Der Abbau von Bodenschätzen bedarf der staatlichen Genehmigung. Dabei ist dem öffentlichen Interesse an der schonenden Nutzung des Bodens besonderes Gewicht beizumessen. Artikel 33 (1) Der Schutz der natürlichen Umwelt als Lebensgrandlage gegenwärtiger und künftiger Generationen ist Pflicht des Staates und aller Bürger. Die staatliche Umweltpolitik hat Vorsorge gegen das Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen zu treffen sowie auf den sparsamen Gebrauch und die Wiederverwendung nichterneuerbarer Rohstoffe und die sparsame Nutzung von Energie hinzuwirken. (2) Eine schwere Beeinträchtigung oder Gefährdung der natürlichen Umwelt darf nur in dem Umfang zugelassen werden, in dem dies zum Schutz überragend wichtiger Interessen der Allgemeinheit unerläßlich ist. (3) Niemand darf durch nachteilige Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen in seiner Gesundheit verletzt oder unzumutbar gefährdet werden. Jedermann kann mit der Behauptung, durch nachteilige Veränderungen der natürlichen Umwelt in seinem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gefährdet oder verletzt zu sein, die Offenlegung der Daten über die Umweltbeschaffenheit seines Lebenskreises verlangen. Die Verbandsklage ist zulässig. (4) Wer Umweltschäden verursacht, haftet und ist für Ausgleichsmaßnahmen verantwortlich. (5) Der Staat und die Träger der Kommunalautonomie sind verpflichtet, der Allgemeinheit die Zugänge zu Bergen, Wäldern, Feldern, Seen und Flüssen frei zu halten und gegebenenfalls durch Einschränkungen des Eigentumsrechts frei zu machen.

4. Abschnitt Gesellschaftliche Gruppen und Verbände Artikel 35 (1) Vereinigungen, die sich öffentlichen Aufgaben widmen und dabei auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken (Bürgerbewegungen), genießen als Träger freier gesellschaftlicher Gestaltung, Kritik und Kontrolle den besonderen Schutz der Verfassung. (2) Bürgerbewegungen, deren Tätigkeit sich auf den Bereich eines Landes oder des Bundes erstreckt, haben das Recht des Vorbringens und der sachlichen Behandlung ihrer Anliegen in den zuständigen Ausschüssen der Volkskammer oder der Landtage. Sie haben, soweit die Persönlichkeit und die Privatheit Dritter nicht verletzt werden, nach Abwägung entgegenstehender öffentlicher Interessen Anspruch auf Zugang zu den bei den Trägern öffentlicher Verwaltung vorhandenen Informationen, die ihre Anliegen betreffen.

Artikel 37 (1) Die Freiheit der Parteien, gleichberechtigt an der politischen Willensbildung in der Gesellschaft mitzuwirken, ist gewährleistet. (2) Die innere Ordnung der Parteien muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Die Mitglieder haben das Recht auf die ungehinderte Ausübung der Meinungs- und Versamm-

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7. Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR" lungsfreiheit im Rahmen des Parteiprogramms sowie auf gleichberechtigte Teilnahme an der innerparteilichen Willensbildung. (3) Die Parteien haben über ihre Finanzierung öffentlich Rechenschaft abzulegen. Die Wahlkampfkostenerstattung ist an eine gesonderte Entscheidung der wahlberechtigten Bürger gebunden (Bürgerbonus). Diese Regelungen gelten auch für Bürgerbewegungen, soweit sie sich an Wahlen zur Volkskammer oder zu den Landtagen beteiligen. (4) Die Rechte von Parteien, die systematisch und nachhaltig in ihrer Programmatik die Menschenwürde angreifen oder in dieser Weise durch ihre Tätigkeit gegen die Grundsätze eines offenen und gewaltlosen politischen Willensbildungsprozesses verstoßen, können, sofern Gefahren für den politischen Willensbildungsprozeß anders nicht abgewendet werden können, von einer Wahl ausgeschlossen oder verboten werden. Die Entscheidungen sind dem Verfassungsgericht vorbehalten; ihre Wirkung ist zeitlich zu begrenzen. Vor einer Entscheidung des Verfassungsgerichts ist keinerlei Benachteiligung der Partei oder ihrer Mitglieder zulässig. Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte der Mitglieder werden auch durch die Entscheidungen des Verfassungsgerichts in keiner Weise berührt. Artikel 39 (1) Jedermann hat das Recht, Gewerkschaften zu bilden, ihnen beizutreten und sich in ihnen den Gewerkschaftszwecken gemäß zu betätigen. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig und durch Gesetz mit Sanktionen zu belegen. Die Errichtung berufsständischer öffentlichrechtlicher Vereinigungen mit Zwangsmitgliedschaft ist unzulässig. (2) Die Freiheit und Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist gewährleistet. Sie haben das Recht des Zutritts zu den Betrieben. Das Nähere über die gewerkschaftliche Tätigkeit in den Betrieben wird durch Gesetz geregelt. (3) Die Gewerkschaften müssen in tarifrechtlicher Hinsicht gegnerfrei sein. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Das Recht der Mitglieder auf die ungehinderte Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, auf Freiheit der Gruppenbildung sowie auf gleichberechtigte Teilnahme an der innergewerkschaftlichen Willensbildung ist zu gewährleisten. (4) Gewerkschaften haben das Recht, über alle die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen betreffenden Angelegenheiten Tarifverträge abzuschließen. Tarifvertragsparteien sind Gewerkschaften und ihre Dachverbände, Unternehmen aller Eigentumsformen und Unternehmensverbände, der Bund, die Länder und die Träger der Kommunalautonomie. (5) Das Streikrecht der Gewerkschaften ist gewährleistet. Bei Arbeitskämpfen ist der Schadenersatz, nicht aber die Androhung und Erhebung von Zwangsgeldern zur Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen ausgeschlossen. Der Lohnersatz bei mittelbar arbeitskampfbedingten Produktionsausfällen ist Gemeinlast der sozialen Autonomie und wird den Betrieben nach Maßgabe gesetzlicher Regelungen erstattet. (6) Eine das Arbeitsrechtsverhältnis beendende Aussperrung ist verboten. In nicht bestreikten Betrieben ist jegliche Aussperrung verboten.

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II. Verfassungsrechtliche Dokumente 5. Abschnitt Geltung Artikel 40 (1) Die Menschen- und Bürgerrechte dieser Verfassung binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt, Rechtsprechung und soweit die Verfassung dies vorsieht, auch Dritte unmittelbar. (2) Soweit Menschen- und Bürgerrechte durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden können, muß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Solche Beschränkungen dürfen in keinem Falle den Wesensgehalt eines Menschen- und Bürgerrechts antasten. (3) Die Menschen- und Bürgerrechte gelten auch für inländische juristische Personen des privaten und öffentlichen Rechts, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. (4) Wird jemand in seinen Menschen- und Bürgerrechten verletzt, so kann er sie auf dem Rechtsweg einklagen.

Quelle: Neues Deutschland, 4.4.1990, S. 7 ff.

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III. Deutschland als Bundesstaat Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung III/l Ministerpräsidentenkonferenz und Fachministerkonferenzen Ministeφräsidentenkonferenz (MPK) (Vorsitz und Geschäftsführung im jährlichen Wechsel) Ständige Konferenz der Innenminister und -Senatoren der Länder (IMK) (Vorsitz im jährlichen Wechsel, Geschäftsführung ab 1997 beim Bundesrat) Konferenz der Justizminister und -Senatoren (JMK) (Vorsitz und Geschäftsführung im jährlichen Wechsel) Konferenz der Landesfinanzminister (Vorsitz im jährlichen Wechsel, Geschäftsführung beim Bundesrat) Wirtschaftsministerkonferenz (WMK) (Vorsitz im zweijährigen Wechsel, Geschäftsführung beim Bundesrat) Agrarministerkonferenz (Vorsitz und Geschäftsführung im zweijährigen Wechsel) Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) (Vorsitz und Geschäftsführung im jährlichen Wechsel) Konferenz der für das Gesundheitswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder (GMK) (Vorsitz und Geschäftsführung im zweijährigen Wechsel) Jugendministerkonferenz (JMK) (Vorsitz und Geschäftsführung im zweijährigen Wechsel) Verkehrsministerkonferenz (VMK) (Vorsitz im zweijährigen Wechsel, Geschäftsführung beim Bundesrat) Umweltministerkonferenz des Bundes und der Länder (UMK) (Vorsitz und Geschäftsführung im jährlichen Wechsel unter den Ländern) Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Minister der Länder (ARGEBAU) (Vorsitz im zweijährigen Wechsel, Geschäftsführung beim Land Nordrhein-Westfalen) Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) (Vorsitz im zweijährigen Wechsel zwischen Bund und Ländern, Geschäftsführung beim Bund) Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) (Präsidentschaft im jährlichen Wechsel) Konferenz der Sportminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (SMK) (Vorsitz und Geschäftsführung im zweijährigen Wechsel) 205

III. Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen, -minister, -Senatorinnen und -Senatoren der Länder (GFMK) (Vorsitz und Geschäftsführung im jährlichen Wechsel) Europaministerkonferenz (EMK) (Vorsitz und Geschäftsführung im jährlichen Wechsel) Quelle: Bundesrat (Stand: Juni 2003).

III/2 Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland a.) Geschäftsordnung (gemäß Beschluß vom 19. November 1955 i.d.F. vom 5. Oktober 2000) Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz) behandelt Angelegenheiten der Bildungspolitik, der Hochschulund Forschungspolitik sowie der Kulturpolitik von überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung und der Vertretung gemeinsamer Anliegen. Sie hat sich die nachstehende Geschäftsordnung gegeben: A . ORGANE DER KONFERENZ

Organe der Konferenz sind das Plenum, das Präsidium und die Präsidentin oder der Präsident. I. Plenum

1. Das Plenum besteht aus den Kultusministerinnen oder Kultusministern und Kultussenatorinnen oder Kultussenatoren der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Mitglieder der Kultusministerkonferenz). Die Mitglieder der Kultusministerkonferenz können sich in den Plenarsitzungen vertreten lassen. An den Plenarsitzungen können aus jedem Land weitere Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter teilnehmen. 2. Das Plenum beschließt über alle Angelegenheiten der Kultusministerkonferenz, sofern die Entscheidung darüber nicht allgemein oder im Einzelfall einer anderen Stelle übertragen ist. Auch der Haushalt (einschließlich des Stellenplans) des Sekretariats und der gemeinsam finanzierten Einrichtungen sowie gemeinsame Zuschüsse werden vom Plenum beschlossen. Beschlüsse, die der Zustimmung anderer Landesstellen bedürfen, werden erst wirksam, wenn diese in jedem der betroffenen Länder herbeigeführt worden ist. 3. Das Plenum wählt die Generalsekretärin oder den Generalsekretär der Kultusministerkonferenz. 206

2. Kultusministerkonferenz (KMK) 4. Sitzungen des Plenums werden bei Bedarf oder auf Antrag von mindestens zwei Ländern von der Präsidentin oder dem Präsidenten einberufen. Bei Bedarf können getrennte Beratungen der für die Bildungspolitik, die Hochschulpolitik oder die Kulturpolitik zuständigen Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren anberaumt werden. 5. Die Einladungen mit Angabe aller Beratungspunkte sind drei Wochen vor der Sitzung den Mitgliedern der Kultusministerkonferenz zuzusenden. Die Behandlung von Beratungspunkten, die nicht fristgerecht mitgeteilt wurde, ist zulässig, wenn kein Widerspruch dagegen erhoben wird und die Beratung in der nächsten Plenarsitzung oder der nächsten Amtschefskonferenz nicht abgewartet werden kann oder eine Beschlussfassung im Schriftverfahren nicht möglich ist. Ein Beratungsgegenstand muß auf die Tagesordnung gesetzt werden, wenn dies von einem Land spätestens vier Wochen vor einer Plenarsitzung beantragt wird. Rundschreiben zur Vorbereitung der Tagesordnungspunkte sind den Mitgliedern der Kultusministerkonferenz zwei Wochen vor der Sitzung zuzusenden. Bei Nichteinhaltung dieser Frist wird der entsprechende Tagesordnungspunkt von der Tagesordnung abgesetzt, sofern kein dringender Beratungsbedarf besteht. Jeder Vorlage für das Plenum ist ein Vorblatt beizufügen, welches das Beratungsziel und den Beschlußvorschlag, den Anlaß bzw. Auftrag, den wesentlichen Sachverhalt und die Problemstellung darlegt sowie einen Abschnitt Kosten/Finanzierung enthält. 6. Bei Abstimmungen hat jedes Land eine Stimme. Die Übertragung der Stimme auf ein anderes Land ist möglich. Für Beschlüsse ist Einstimmigkeit der Länder erforderlich. Für Wahlen und Entscheidungen in Personalfragen genügt die Zustimmung von zwei Dritteln der Länder; Verfahrensbeschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. 7. Über das Ergebnis jeder Sitzung ist eine Ergebnisniederschrift anzufertigen, die vom Sekretariat spätestens zwei Wochen nach der Sitzung den Mitgliedern der Kultusministerkonferenz übersandt wird. Einwendungen gegen den Inhalt der Niederschrift sind innerhalb von zwei Wochen nach Absendung an das Sekretariat zu richten. 8. Zur Abkürzung von Verfahren können Beschlüsse der Kultusministerkonferenz im Schriftverfahren herbeigeführt werden. Das Verfahren wird durch ein Rundschreiben des Sekretariats eingeleitet, in dem auf das eingeleitete Schriftverfahren und die Ausschlußfrist hingewiesen wird. Der Beschluß ist zustande gekommen, wenn innerhalb einer Frist von vier Wochen (von der Absendung des Rundschreibens an gerechnet) keine Einwendungen gegen ihn erhoben worden sind. Das Zustandekommen und das Datum des Beschlusses werden den Mitgliedern der Kultusministerkonferenz durch Rundschreiben vom Sekretariat mitgeteilt. II. Präsidium

und

Präsident

1. Das Plenum wählt aus seiner Mitte ein Präsidium, das aus der Präsidentin oder dem Präsidenten, drei Vizepräsidentinnen oder Vizepräsidenten sowie zwei weiteren kooptierten Mitgliedern besteht. Die Mitglieder des Präsidiums können sich in Ausnahmefällen durch ihre Stellvertreterinnen oder Stellvertreter bzw. Amtschefinnen oder Amtschefs vertreten lassen.

207

III. Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung 2. Die Amtszeit der Präsidentin oder des Präsidenten dauert ein Jahr. Ihr geht grundsätzlich eine zweijährige Tätigkeit als Vizepräsidentin oder Vizepräsident voraus. An die Präsidentschaft schließt sich ein weiteres Jahr als Vizepräsidentin oder Vizepräsident an. 3. Die Präsidentin oder der Präsident stellt die Tagesordnung für die Plenarsitzungen auf. Sie bzw. er leitet die Plenarsitzungen und vertritt die Kultusministerkonferenz nach außen. Im Falle der Verhinderung wird sie bzw. er durch eine der Vizepräsidentinnen oder einen der Vizepräsidenten vertreten. 4. Den Mitgliedern des Präsidiums werden zu Beginn jeden Jahres Aufgabengebiete zugeordnet, für die sie Sprecherrollen für die Kultusministerkonferenz übernehmen. Dem 3. Vizepräsidenten ist die Übernahme einer Sprecherrolle freigestellt. Die kooptierten Mitglieder übernehmen keine Sprecherrollen. 5. Das Präsidium stellt für jedes Geschäftsjahr ein politisches Arbeitsprogramm der Kultusministerkonferenz auf, welches Vorhaben enthält, die verfassungsrechtlich notwendig bzw. wegen ihrer überregionalen Bedeutung erforderlich sind. Das Arbeitsprogramm wird vom Plenum beschlossen. 6. Das Präsidium berät wichtige Plenarangelegenheiten vor. Es kann den Gremien der Kultusministerkonferenz Aufträge erteilen. 7. Das Präsidium ist befugt, durch einstimmigen Beschluß über unaufschiebbare Angelegenheiten, insbesondere Angelegenheiten der Europäischen Union, anstelle des Plenums der Kultusministerkonferenz zu entscheiden. Für die Beschlußfassung ist die Mitwirkung der Hälfte der Präsidiumsmitglieder notwendig. Die Mitglieder des Plenums sind unverzüglich mit Rundschreiben über den Inhalt des Beschlusses zu unterrichten. 8. Das Präsidium beschließt über die Einstellung der Bediensteten des höheren Dienstes im Sekretariat. Die Zustimmung des Präsidiums zu einer Einstellung ist erteilt, wenn innerhalb einer Frist von vier Wochen nach Unterrichtung der Präsidiumsmitglieder über einen Einstellungsvorschlag des Generalsekretärs kein Einspruch gegen diesen Vorschlag erhoben wurde. Das Präsidium kann den Generalsekretär ermächtigen, über die befristete Einstellung von Bediensteten des höheren Dienstes zu entscheiden. B. A M T S C H E F S K O N F E R E N Z

Die Amtschefskonferenz besteht aus den Stellvertreterinnen oder Stellvertretern bzw. den Amtschefinnen oder Amtschefs der Mitglieder der Kultusministerkonferenz; eine Vertretung ist zulässig. Die Amtschefskonferenz berät wichtige Angelegenheiten für das Plenum der Kultusministerkonferenz vor. Sie entscheidet abschließend in Angelegenheiten, in denen sich nicht das Plenum eine Entscheidung vorbehalten hat oder mit denen das Plenum nicht befaßt werden muß. Die für das Plenum geltenden Verfahrensregelungen sind für die Amtschefskonferenz entsprechend anzuwenden. Vorsitzende oder Vorsitzender der Amtschefskonferenz ist die Stellvertreterin oder der Stellvertreter bzw. die Amtschefin oder der Amtschef der jeweils amtierenden Präsidentin oder des jeweils amtierenden Präsidenten. C . KOMMISSIONEN U N D AUSSCHÜSSE, M I N I S T E R - U N D AMTSCHEFSARBEITSGRUPPEN

Für die Bearbeitung einzelner Sachgebiete werden von der Kultusministerkonferenz Kommissionen und Ausschüsse eingesetzt. Für die Einsetzung und Arbeitsweise von Kommissionen und Ausschüssen sowie sonstiger Gremien gelten die anliegenden Richtlinien. Zur Erle208

2. Kultusministerkonferenz ( K M K ) digung spezieller Arbeitsaufträge kann das Plenum, die Amtschefskonferenz oder das Präsidium Minister- oder Amtschefsarbeitsgruppen einsetzen. Diesen Arbeitsgruppen sollen die Vorsitzenden der jeweils fachlich betroffenen Ständigen Kommissionen bzw. Hauptausschüsse angehören. Die Mitglieder der Arbeitsgruppen können sich in deren Sitzungen grundsätzlich nicht vertreten lassen. D. SEKRETARIAT 1. Die laufenden Arbeiten der Kultusministerkonferenz werden vom Sekretariat erledigt. Hierzu gehören insbesondere die Vorbereitung der Sitzungen des Plenums, der Amtschefskonferenz sowie der Kommissionen und Ausschüsse, die Bearbeitung der sich aus der Zusammenarbeit mit dem Bund und überregionalen Institutionen sowie der sich aus der internationalen kulturellen Zusammenarbeit ergebenden Vorhaben, Angelegenheiten der im R a h m e n der Kultusministerkonferenz gemeinsam finanzierten Einrichtungen und die Öffentlichkeitsarbeit. 2. Zahl und Vergütung der Bediensteten des Sekretariats bestimmt der jährlich vom Plenum zu beschließende Entwurf des Stellenplans, der gemäß § 2 des A b k o m m e n s über das Sekretariat der Zustimmung durch die Finanzministerkonferenz bedarf. 3. D a s Sekretariat wird von einer Generalsekretärin oder einem Generalsekretär geleitet. Sie bzw. er ist auch Beauftragte/r für den Haushalt. Die Generalsekretärin oder der Generalsekretär ist Vorgesetzte/r der Bediensteten des Sekretariats der Kultusministerkonferenz. Sie bzw. er ist an Weisungen der Präsidentin oder des Präsidenten gebunden. 4. Die gemäß Stellenplan vorgesehenen Bediensteten der Vergütungsgruppe I I I B A T und niedriger werden von der Generalsekretärin oder dem Generalsekretär angestellt und entlassen. 5. Die Kosten für das Sekretariat und andere von der Kultusministerkonferenz finanzierte oder unterstützte Einrichtungen und M a ß n a h m e n tragen die Länder gemeinsam. Sie werden nach dem Königsteiner Schlüssel umgelegt. Die Haushaltsführung und Rechnungslegung des Sekretariats ist vom Rechnungshof des Sitzlandes zu prüfen.

b.) Richtlinien für die Einsetzung und Arbeitsweise von Gremien der Kultusministerkonferenz - Auszüge Die nachstehenden Richtlinien dienen der Ausführung der Geschäftsordnung, Teil C.

1. Einsetzung von Gremien (1) Die Kultusministerkonferenz schüsse:

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Kommission für europäische und internationale Angelegenheiten Verwaltungskommission

209

III. Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung Kommission „Sport" Schulausschuß Ausschuß für Hochschule und Forschung Kulturausschuß Ausschuß für Fort- und Weiterbildung Filmausschuß Bund-Länder-Ausschuß für schulische Arbeit im Ausland In den Ständigen Kommissionen und Hauptausschüssen - mit Ausnahme der Verwaltungskommission - sollen alle Länder vertreten sein. Dies gilt auch für den Unterausschuß für Berufliche Bildung in seiner Eigenschaft als Gremium der Kultusministerkonferenz zur Abstimmung mit dem Bund in Angelegenheiten der Berufsausbildung. Die Vertretung in den Hauptausschüssen soll möglichst auf Abteilungsleiterinnen- oder Abteilungsleiterebene erfolgen. Dem Bund-Länder-Ausschuß für schulische Arbeit im Ausland (BLASchA) gehören außer den Vertreterinnen oder Vertretern aller Länder die Leiterin oder der Leiter des Schulreferats im Auswärtigen Amt und die Leiterin oder der Leiter der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen im Bundesverwaltungsamt als Mitglieder an. (2) Die Ständigen Kommissionen und Hauptausschüsse können mit Einwilligung der Amtschefskonferenz/des Plenums für wichtige Teilbereiche ihres Sachgebietes Ständige Unterkommissionen bzw. Unterausschüsse einsetzen. Sie können selbständig Berichterstatter bestellen. Zur Erledigung von Aufträgen des Plenums/der Amtschefskonferenz können die Ständigen Kommissionen und Hauptausschüsse selbständig auftragsbezogene Arbeitsgruppen einsetzen. Die Amtschefskonferenz ist hierüber zu unterrichten. Die Aufträge sind im Einsetzungsbeschluß festzulegen und zu befristen. Mit Erledigung des Auftrages sind die Arbeitsgruppen aufgelöst. 2. Verkürztes Verfahren* (1) Bei Beratungsmaterien, die nicht in der Amtschefskonferenz oder im Plenum erörtert werden müssen, sind die Ständigen Kommissionen und Hauptausschüsse ermächtigt, für die Kultusministerkonferenz abschließend zu entscheiden. (2) Eine Beschlußfassung im verkürzten Verfahren ist nur möglich, wenn der Beschluß ohne Gegenstimme zustande gekommen ist. Beschlüsse im verkürzten Verfahren sind in der Niederschrift über die Ergebnisse der Beratungen des Gremiums, in dem sie gefaßt wurden, als Beschlüsse der Kultusministerkonferenz kenntlich zu machen. (3) Beschlüsse im verkürzten Verfahren werden wirksam, wenn kein Land innerhalb einer Frist von vier Wochen nach Versendung der Ergebnisniederschrift schriftlich beantragt, daß die nächste Amtschefskonferenz über die Angelegenheit berät. Das Wirksamwerden des Beschlusses wird den Mitgliedern der Kultusministerkonferenz durch Rundschreiben vom Sekretariat mitgeteilt. (4) Beschlüsse im verkürzten Verfahren tragen das Datum der Beschlußfassung.

Das von der Kultusministerkonferenz am 03.12.1993 beschlossene KMK-Verfahren in Angelegenheiten der Europäischen Union bleibt unberührt.

210

2. Kultusministerkonferenz (KMK) 3. Vorsitz (1) Die Vorsitzenden der Ständigen Kommissionen und der Hauptausschüsse werden vom Plenum gewählt. Für die Unterkommissionen und Unterausschüsse wird die oder der Vorsitzende auf Vorschlag der Ständigen Kommission bzw. des Hauptausschusses vom Plenum/von der Amtschefskonferenz gewählt. Die Vorsitzenden der Unterkommissionen und Unterausschüsse sollen in der Regel Mitglieder der Hauptausschüsse sein. Die Amtszeit der Vorsitzenden oder des Vorsitzenden beträgt drei Jahre. Wiederwahl ist möglich. (2) Die Vorsitzenden für die Arbeitsgruppen werden durch die Hauptausschüsse bestimmt. Sie sollen in der Regel Mitglieder des Hauptausschusses sein. (3) Die Vorsitzenden berufen die Gremien nach Bedarf ein. Sie haben die Gremien einzuberufen, wenn mindestens zwei im jeweiligen Gremium vertretene Länder die Einberufung verlangen. (4) Soweit es sich nicht um Grundsatzangelegenheiten handelt, können die Vorsitzenden in Eilfallen geschäftsführend für das jeweilige Gremium tätig werden (ζ. B. Stellungnahmen abgeben, Benennungsvorschläge unterbreiten oder über Benennungen entscheiden). Hiervon ist das jeweilige Gremium unverzüglich zu unterrichten.* 4. Weitere Teilnehmer an Sitzungen (1) Die Ständigen Kommissionen und Hauptausschüsse können zu ihren Beratungen Sachverständige oder Vertreterinnen oder Vertreter anderer Dienststellen und Organisationen hinzuzuziehen. Bei den Unterkommissionen, Unterausschüssen und Arbeitsgruppen entscheiden hierüber die Ständigen Kommissionen bzw. die Hauptausschüsse. (2) Für Anhörungen von Verbänden und Organisationen zu Beratungsergebnissen der Ständigen Kommissionen und der Hauptausschüsse ist die Zustimmung des Plenums/der Amtschefskonferenz erforderlich. 5. Sitzungsort (1) Die Sitzungen der Gremien finden grundsätzlich am Sitzort des Sekretariats (Bonn oder Berlin) statt. 6. Tagesordnung und Vorbereitung der Sitzungen (1) Die Vorsitzenden stellen die vorläufige Tagesordnung auf. Von Mitgliedern oder von einem Land beantragte Beratungsgegenstände sind in die vorläufige Tagesordnung aufzunehmen. Die endgültige Tagesordnung stellt das Gremium fest. Der Entwurf der vorläufigen Tagesordnung der Sitzungen der Hauptausschüsse und der Unterausschüsse wird vor der Versendung an die Mitglieder der Generalsekretärin oder dem Generalsekretär vorgelegt, die oder der die Dringlichkeit der Tagesordnungspunkte, den Koordinierungsbedarf und die Verbindung zur Auftragslage prüft.

*

Das von der Kultusministerkonferenz am 03.12.1993 beschlossene KMK-Verfahren in Angelegenheiten der Europäischen Union bleibt unberührt.

211

III. Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung (2) Das Sekretariat versendet die Einladungen unter Beifügung einer vorläufigen Tagesordnung möglichst drei Wochen vor dem Sitzungstermin an die Mitglieder des jeweiligen Gremiums der Kultusministerkonferenz. (3) Die Beratung der einzelnen Tagesordnungspunkte soll schriftlich vorbereitet werden, insbesondere durch Arbeitspapiere mit formulierten Beschluß- und Verfahrensvorschlägen. Die Beratungsunterlagen sollen den Mitgliedern der Gremien spätestens drei Wochen vor dem Sitzungstermin zugesandt werden. In begründeten Ausnahmefallen können Beratungsunterlagen nachgereicht werden.

c.) Das KMK-Verfahren in Angelegenheiten der Europäischen Union (i.d.F. vom 12. Mai 1995) A.

GRUNDSATZ

1.

Anwendungsbereich Angelegenheiten der Europäischen Union (EU) sind insbesondere EU-Vorhaben im Bundesratsverfahren, Beratungsgegenstände von formellen und informellen EU-Ministerräten oder -Ausschüssen und sonstigen Beratungsgremien des Rates oder der Kommission.

2. Mandat innerhalb der KMK Die vom Bundesrat als Vertreter der Länder in EU-Ministerräten ernannten Mitglieder der K M K (im folgenden: „benannte Minister") sind auch innerhalb der K M K jeweils im Rahmen ihres Mandats Berichterstatter für EU-Angelegenheiten. Sie arbeiten dabei eng mit der oder dem Vorsitzenden der Kommission für Angelegenheiten der Europäischen Union (Europa-Kommission) zusammen. 3. Unterstützung der benannten Minister Die Bundesratsbeauftragten in den die Ministerräte vorbereitenden EU-Gremien nehmen innerhalb der K M K Beraterfunktion gegenüber den benannten Ministern wahr. Insbesondere informieren sie das Mitglied des Ministerrats zeitgerecht über relevante Vorgänge in den Gremien. Sie stimmen sich bezüglich eigener Initiativen in den Gremien der E U mit dem Mitglied des Ministerrats ab, sofern hinreichend bestimmte Bundesratsbeschlüsse nicht oder noch nicht vorliegen; sie bereiten es auf die Sitzungen des Ministerrats vor. Sie werden sich darum bemühen, Initiativen im Bundesrat, der K M K und der BLK mit dem Mitglied des Ministerrats abzustimmen. 4. Rolle des KM

K-Sekretariats

Das KMK-Sekretariat unterstützt die benannten Minister und sonstigen Bundesratsbeauftragten in den Gremien der Europäischen Union und im Verhältnis Bund-Länder. 5. Auftrag der

Europa-Kommission

Stellungnahmen der K M K in Angelegenheiten der Europäischen Union werden unter Beteiligung der Fachausschüsse von der Europa-Kommission vorbereitet und nach Beratung durch die Amtschefskonferenz vom KMK-Plenum beschlossen.

212

2. Kultusministerkonferenz (KMK) Für die fachliche Vorbereitung in Forschungsangelegenheiten ist innerhalb der K M K der Hochschulausschuß/UA Forschung zuständig. Soweit eine Behandlung unter rechtlichen oder politischen Aspekten der Europäischen Union erforderlich ist, ist die Europa-Kommission zu beteiligen. 6. Eilverfahren Bei Eilbedürftigkeit treten, je nach Terminlage und Bedarf, - an die Stelle der Fachausschüsse ihre Vorsitzenden - an die Stelle der Europa-Kommission deren Vorsitzende(r) und Stellvertretende(r) Vorsitzende(r) - an die Stelle des KMK-Plenums das KMK-Präsidium. Die Feststellung der Eilbedürftigkeit trifft die benannte Ministerin bzw. der benannte Minister. B. BUNDESRATSVERFAHREN

1. Eine EU-Vorlage, an der der Bundesrat zu beteiligen ist, soll von der K M K mit dem Ziel der Abstimmung beraten werden. Die Befassung der KMK-Gremien erfolgt auf Antrag eines ihrer Mitglieder. Vor allem die benannten Minister prüfen aufgrund der ihnen vorliegenden Informationen Bedeutung und Eilbedürftigkeit der Vorgänge und bemühen sich um ein angemessenes Verfahren. Zur Vorbereitung von Stellungnahmen können sie länderoffene ad-hoc-Arbeitsgruppen einberufen. Bei EU-Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung oder nur marginaler Auswirkung auf die Geschäftsbereiche der Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsressorts kann das KMK-Verfahren insgesamt entfallen. 2. Kommt es zu einer Stellungnahme der K M K , so soll diese im Bundesratskulturausschuß von der benannten Ministerin bzw. dem Minister oder einer anderen von ihnen mandatierten Person vertreten werden. Die Mitglieder der K M K vertreten Stellungnahmen des KMK-Plenums zu EU-Vorhaben in ihren Kabinetten. In der Europakammer sollen Stellungnahmen der K M K von den benannten Ministern, von der oder dem Vorsitzenden der Europa-Kommission oder einem anderen Amtschef im Rahmen der Teilnahme als Beauftragter einer Landesregierung vertreten werden (§ 45 g Geschäftsordnung Bundesrat). 3. Liegt kein Plenarbeschluß der K M K vor, sind die Mitglieder der K M K bei ihrer Willensäußerung im Bundesratsverfahren frei. Sie werden hierbei Stellungnahmen berücksichtigen, die bereits von KMK-Fachausschüssen beschlossen worden sind. C. VERFAHREN AUSSERHALB DES BUNDESRATES

1. Soweit eine Vorlage nicht als Bundesratsdrucksache umgedruckt ist, bildet die Stellungnahme des KMK-Plenums oder des KMK-Präsidiums die Grundlage für die weitere Verhandlungsführung oder die Mitwirkung der benannten Minister in den EU-Ministerräten.

213

III. Deutschland als Bundesstaat - Föderale Aufgabenteilung und Politikverflechtung

2. Bei EU-Angelegenheiten, die sich noch in einem frühen Vorbereitungsstadium befinden, kann die Befassung der AK und des Plenums entfallen. Dann bildet die Stellungnahme der Europa-Kommission bzw. ihres oder ihrer Vorsitzenden die Grundlage für die Verhandlungsführung oder die Mitwirkung der Ländervertreter in Ausschüssen oder sonstigen Beratungsgremien des Rates und der Kommission, soweit diese Ländervertreter auf Vorschlag der KMK oder eines Kultus- oder Wissenschaftsministeriums bestellt worden sind. 3. In EU-Angelegenheiten außerhalb des Bundesratsverfahrens soll die Abstimmung mit dem BMBF oder mit anderen fachlich zuständigen Bundesressorts durch die EuropaKommission oder im Rahmen der AK erfolgen. In EU-Forschungsangelegenheiten gilt die Absprache vom 8. März 1994. Quelle: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Handbuch für die Kultusministerkonferenz 1995, S. 31 ff.

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2. Kultusministerkonferenz ( K M K )

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